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Full text of "Allgemeine Zeitschrift Für Psychiatrie 69.1912"

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UNIVERSETY OF Ml' 



ALLGEMEINE ZEITSCHRIFT 

FÜR 

PSYCHIATRIE 

UND 

PSYCHISCH-GERICHTLICHE MEDIZIN 

HERAUSGEGEBEN VON 


DEUTSCHLANDS IRRENÄRZTEN 

UNTER DER MITREDAKTION VON 

BONHOEFFER GRAMER v.GRASHEY KREUSER PELMAN SCHULE 

BERLIN GOTTIXGEX MÜNCHEN WINXEXTAL BOXX ILLENAD 

DURCH 

HANS IAEHR 

SCHWEIZERHOF 


NEUNUNDSECHZIGSTER BAND 
LITERATURBERICHT 



BERLIN 

W. 35. GENTHINEBSTRASSK 38 

DRUCK UND VERLAG VON GEORG REIMER 




BERICHT 


ÜBER DIE 

PSYCHIATRISCHE LITERATUR 

IM JAHRE 1911 


REDIGIERT 

VON 

OTTO SNELL 

DIREKTOR DER HEIL- l’. PFLEGEANSTALT LÜNEBCRG 


ZUM 69. BANDE 

DER ALLGEMEINEN ZEITSCHRIFT FÜR PSYCHIATRIE 



BERLIN 

W. 35. GENTHINER8TRASSE 38 

DRUCK UND VERLAG VON GEORG REIMER 

19 10 


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ALL GEMEINE ZEITSCHRIFT 

FÜR 

PSYCHIATRIE 

UND 

PSYCHISCH-GERICHTLICHE MEDIZIN 

HERAUSGEGEBEN VON 

DEUTSCHLANDS IRRENÄRZTEN 

UNTER DER MITREDAKTION VON 
mOEFFER CRAMER v. GRASHEY KREUSER PELMAN SCHÜLE 

BERLIN GÖTTINGEN MÜNCHEN WINNENTAL BONN ILLENAÜ 

DURCH 

HANS LAEHR 

SCHWEIZERHOF 


NEUNUNDSECHZIGSTER BAND 
NEBST EINEM BERICHT 

UBER DIE PSYCHIATRISCHE LITERATUR IM JAHRE 1911 

REDIGIERT VON 

0. SNELL 

LÜNEBÜRG 



BERLIN 

DRUCK UND VERLAG VON GEORG REIMER 

1912 


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Inhalt 


Erstes Heft. 

Originalien. Seite 

Bericht an das Landes-Direktoriat der Provinz Schleswig-Holstein über 
die psychiatrische Untersuchung der schulentlassenen Fürsorgezöglinge 
im Burschenheim zu Rickling, im Frauenheim zu Innien und im Asyl 

Neoendeich. Von Oberarzt Dr. Hinrichs -Schleswig. 1 

Neue Aufgaben der Psychiatrie in Baden. Von Medizinalrat Dr. Max 

Fischer, Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Wiesloch. 34 

Tber den Status epilepticus und seine Bekämpfung mit hohen Dosen 
von Atropinnm sulf. Von Dr. med. Dorner, Maria Lindenhof bei 

Dorsten i. W. 69 

Zur Anwendung des Salvars&ns in der Psychiatrie. Von Dr. A. Pfunder 89 


Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 

i.\. Jahresversammlung des Vereins bayrischer Psychiater in München 
am 6. und 7. Juni 1911. 

/Toß>-Kutzenberg und SpccAf-Erlangen: Einführung der Familienpflege 


in Bayern.103 

Fischer- Prag: Über den spongiösen Rindenschwund (mit Demonstration) 107 
Stransky- Wien: Rückwirkungen der forensischen auf die klinische 

Psychiatrie.108 

■Beist-Erlangen: Die klinische Stellung der Motilitätspsychosen . . . 109 

Kraepelin: Krankenvorstellungen.113 

con Hösslin - Eglfing: Klinischer und anatomischer Beitrag zur Lehre 

von der Westphal- Strümpellschen Pseudosklerose.115 

ßiMin-München: Zur Frage der gleichartigen Vererbung bei Dementia 

praecox (mit Projektionen).115 

4. .Knauer-München: Psychologische Untersuchungen über den Meskalin¬ 
rausch .115 

Deutscher Verein für Psychiatrie. Sitzung der Kommission für Idioten¬ 
forschung und -fürsorge am 5. Oktober 1911 in Frankfurt am Main 119 
l'lti. Sitzung des psychiatrischen Vereins zu Berlin am 16. Dezember 1911 121 
Otto Jidiusburger- Steglitz -Berlin: Psychiatrische Tagesfragen . . . . 121 


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V 


JY Inhalt. 

Seite 

Kleinere Mitteilungen. 

Korsos and Kongreß für Familienforschung,Vererbungs- and Regenerations¬ 


lehre vom 9. bis 1&. April in Gießen.149 

Kongreß für experimentelle Psychologie in Berlin.149 

Fortbildongskors für Psychiater in Berlin .149 

Nekrolog Krämer .• . . . 149 

Personalnachrichten.152 


Zweites Heft. 

Originalien. 

Befreiong von Kranken aas Irrenanstalten. Von Oberarzt Dr. Mönke- 

möller, Hildesheim.153 

Ein Fall von GehirnverletzoDg im epileptischen Anfall. Von Dr. Fr. Sioli. 

Mit 2 Textfigoren.177 

Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezöglingen im Festungsgefängnis. 

Von Stabsarzt Dr. Weyert, Posen. Mit 7 Textfiguren.180 

Über eine einfache klinisch-psychologische Methode zur Prüfung der Auf¬ 
fassung, der Merkfähigkeit, des Gedächtnisses and der Ablenkbarkeit. 

Von Dr. Ernst Bischoff, Langenhorn. Mit 4 Textfiguren.249 


Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 

87. ordentliche Generalversammlung des Psychiatrischen Vereins der 
Rheinprovinz am 11. November 1911 in Bonn. Mit 3 Textfiguren. 
TFiffe-Grafenberg: Demonstrationen. 1. Gefäßveränderungen bei Gehirn¬ 
tumoren. 2. Lues cerebri mit Diabetes insipidus. 3. Angeborene 
Veränderungen des Zentralnervensystems bei Paralytikern .... 268 

Werner -Bedburg: Demonstration zweier Patente. 1. Tragbahre. 


2. Temperatursinnprüfer.269 

Raether - Andernach: Klinische Mitteilungen. 1. Encephalomalacia nach 

Schußverletzung. 2. Multiple Gehirnabszesse mit Rindenepilepsie. 

3. Endotheliom der Dura.272 

Wassermeyer-Yionn : Über Selbstmord.275 

Hühner- Bonn: Kriminalpsychologisches über das weibliche Geschlecht 276 


Kleinere Mitteilungen. 

Jahresversammlung des Deutschen Vereins für Psychiatrie in Kiel am 

30. und 31. Mai.280 

37. Wanderversammlung der südwestdeutschen Neurologen und Irren¬ 
ärzte am 8. und 9. Juni zu Baden-Baden.280 


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Inhalt- 


V 

Seite 


Nekrolog D. W. Beye .281 

Verein zum Austausch der Anstaltsberichte.•.283 

Personalnachrichten.283 


Drittes Heft. 


Originalien. 

Gehörstäuschnngen bei Ohrerkrankungen. Von Priv.-Doz. Dr. Otto Kliene- 

berger, jetzt Königsberg.285 

Über die Mechanik der Wahnbildung. Von Dr. med. et. phil. Envin v. Niessl- 

Mayendorf, Priv.-Doz. in Leipzig.294 

Nahrungsverweigerung bei Geisteskranken. Von Dr. Hermann Krueger, 

jetzt Königslutter (Braunschweig).326 

Phantastik und Schwachsinn. (Gerichtliches Gutachten.) Von Dr. Gustav 

Blume in Dalldorf.344 

Königliche Landesanstalt für bildungunfähige Kinder zu Groß-Henners- 
dorf i. Sa. Von Anstaltsvorstand Oberarzt Dr. Meitzer .362 


Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 

3. Jahresversammlung der Pommerschen Vereinigung für Neurologie und 
Psychiatrie am 17. Februar in Stettin. 


Haeckel- Stettin: Über die Foerstersche Operation .379 

Halbey- ückermünde: Über die Kombination narkotischer und Schlaf¬ 
mittel und ihre Anwendung in der Behandlung der Geisteskrankheiten 381 
Aeumcisfer-Stettin: Zur Kasuistik der Epilepsie.383 


7oiwascÄny-Treptow: Über Gehörshalluzinationen bei progress. Paralyse 386 
137. Sitzung des Psychiatrischen Vereins zu Berlin am 16. März :912. 

Weiler -Westend und Dr. jur. Werthauer (a.G.): Die Rechte der Anstalt¬ 
leiter gegenüber internierten Geisteskranken, insbesondere bei ein¬ 


geleitetem Entmündigungsverfahren.387 

Ziehen- Berlin: Fall von Atrophie olivo-ponto-cerebelleuse.405 

Kutzinski - Berlin: Fall von Dämmerzustand während der Entbindung . 410 

Kleinere Mitteilungen. 

Nekrolog Jastroicitz .412 

Nekrolog Taubert .415 

Zulassung von Rechtsanwälten zu Besuchen bei Pfleglingen der Heil- und 

Pflegeanstalten.416 

Jahresversammlung Bayerischer Psychiater am 29. und 30. Juni 1912 in 

Regensburg und Wöllershof bei Neustadt a. d. Waldnaab.417 

Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in Münster.417 

Personalnachrichten.418 


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VT Inhalt 

Seit« 

Viertes Heft. 


Originalien. 

Die Bedeutung der Anstalt Zwiefalten für das Irrenwesen Württembergs. 

Von Oberarzt Dr. A. Schott , leitender Arzt der Heil- und Pflegeanstalt 

Stetten i. R.419 

Die Lungenheilstätte der Kgl. Heilanstalt Zwiefalten. Von Medizinalrat 

Dr. Kritnmel, Direktor der Anstalt.. 426 

Die Entwickelung der familialen Verpflegung der Königl. Heilanstalt Zwie¬ 
falten. Von Oberarzt Dr. Outekunst, Zwiefalten. (Mit 7 Kurven) . . 430 

Drei Fälle von Spätgenesung. Mitgeteilt von Medizinalrat Dr. Kreuser 

in Winnental . ..448 

Die Behandlung psychopathisch minderwertiger Strafgefangener jetzt und 
nach dem Vorentwurf zu einem deutschen Strafgesetzbuch. VonSanitäts- 

rat Dr. Stetiger, Hohenasperg.458 

Psychiatrie und Fürsorgeerziehung inWürtteinberg. Von Oberarzt Dr. Schott, 

leit. Arzt der Heil- und Pflegeanstalt Stetten i. R.473 

Beitrag zu der Lehre vom Querulantenwahnsinn. Von Oberarzt Dr. Buder 

in Winnental.492 

Statistische und klinische Beobachtungen über Veränderungen im Vor¬ 
kommen und Verlauf der progressiven Paralyse in ElsaB-Lothringen. 

Von Oberarzt Dr. Hans Joachim in Stephansfeld. (Mit 7 Kurven) . 500 

Ein Fall von akuter Psychose nach chronischem Veronalgebrauch. Von 
Dr. Hans Laehr in Schweizerhof.529 


Kleinere Mitteilungen. 

Vereinigung katholischer Seelsorger an deutschen Heil- und Pflegeanstalten 668 
Internationaler Verein für medizinische Psychologie und Psychotherapie 568 


Pflegeanstalt Hördt im Elsaß.569 

Reichsverband der deutschen Presse.569 

Verein zum Austausch der Anstaltberichte.569 

Personalnachrichten.569 


Fünftes Heft. 


Originalien. 

Dementia paralytica bei den Eingeborenen von Java und Madura. Von 
P. C. J. van Brero, vorm. Direktor der Staatsirrenanstalt zu Lawang 

(Java).571 

Über Gelegenheitsursachen gewisser Neurosen und Psychosen. Von 
Dr. H. Bertschingcr, Kant. Heilanstalt Schaffhausen.588 


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Inhalt. 


vn 

Seite 


Die Bedeutung Schopenhauers für die Psychiatrie. Von Oberarzt Dr. 

Otto Juliusburger , Steglitz.618 

über das neue Irrenfürsorgegesetz und die Neuordnung des Irrenwesens 
im Königreich Sachsen vom Jahr 1912. Von Direktor Obermedizinal- 
rat Dr. flosei-Zschadraß b. Colditz.639 


Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 

47. Versammlung des Vereins der Irrenärzte Niedersachsen und West¬ 


falens am 4. Mai 1912 in Hannover. 

Hriow-Hannover: Diagnose des Kleinhirnabszesses.689 

Ders., Intradurales Fibrosarkom des Rückenmarks.690 


Cramcr-Göttingen: Rückversicherung im Zentralnervensystem . . . 691 

SneU-Lüneburg: Die Ausbildung des weiblichen Oberwartpersonales 692 
BiiMc-Uchtspringe: Gefäßveränderungen und Abbauvorgänge im Zen¬ 
tralnervensystem nach experimenteller Methylalkoholvergiftung . . 693 

Grütter-Lüneburg: Uber die bisherigen Ergebnisse der Wassermann- 
schen Reaktion an der Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg 694 
Eichelberg- Göttingen: Organische Geistes- und Nervenkrankheiten nach 

Unfall.696 

Jahresversammlung des Deutschen Vereins für Psychiatrie zu Kiel am 
30. und 31. Mai 1912. 

1. Referat. Hocke- Freiburg i. B. u. Alzheimer-München: Die Be¬ 
deutung der Symptom enkomplexe in der Psychiatrie, besonders im 


Hinblick auf das manisch-depressive Irresein. 699 

Ä'Jewf-Erlangen: Ober chronische, wahnbildende Psychosen des Rück¬ 
bildungsalters, besonders im Hinblick auf deren Beziehungen zum 

manisch-depressiven Irresein.705 

Urstein -Warschau: Manisch-depressives und periodisches Irresein als 

Erscheinungsform der Katatonie .707 

L. W. Weber-Chemnitz: Die Praxis bei der Durchführung der Pfleg¬ 
schaft nach dem BGB.713 

Süuena-Lauenburg i. P.: Die Errichtung eines biologischen Forschungs¬ 
instituts über die körperlichen Grundlagen der Geisteskrankheiten 725 
Birtershatis-Hamburg: Zur Psychologie der weiblichen Ausnahmezu¬ 
stände .731 

Pßrringer-H&mbuTg: Tierversuche über den erblichen Einfluß des 

Alkohols.734 

Zd/ka-Hambnrg: Ober. Entstehung, Zirkulation und Funktion des 

Liquor cerebrospinalis.735 

Stargardt-Kie\: Ober die Ursachen des Sebnervenschwundes bei Tabes 

und progressiver Paralyse.735 

0. Behm-Bremen: Zytologie der Zerebrospinalflüssigkeit und ihre dia¬ 
gnostische Verwertbarkeit.736 

HdAle-Uchtspringe: Zur pathologischen Anatomie der tuberösen Sklerose 737 


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VIII Inhalt. 


Seite 

2. Referat. Spielmeyer -Freiburg u. E. Meyer - Königsberg: Über die 

Behandlung der Paralyse.739 

P. Schröder- Breslau: Remissionen bei progressiver Paralyse .... 746 

Eichelberg-Göttingen: Die Bedeutung der Untersuchung der Spinal¬ 
flüssigkeit ..747 

FriedUinder-Uöhe Mark: Uber die Einwirkung fieberhafter Prozesse 
auf metaluische Erkrankungen des Zentralnervensystems .... 749 

Klemens Bergl- Prag: Über das Verhalten des Liquor cerebrospinalis 

bei Luikern.751 

Sterfz-Bonn: Über subkortikale sensorische Aphasie nebst allgemeinen 

Bemerkungen zur Auffassung aphasischer Symptome.759 

IPey^andt-Hamburg: Erweiterungen und Reorganisationen in der 

Hamburger Irrenpflege.760 

Fischer- Prag: Ein Beitrag zur Presbyophreniefrage.762 


Stier- Berlin: Die funktionellen Differenzen der Hirnhälften und ihre 
Beziehungen zur geistigen Weiterentwicklung der Menschheit . . 763 

F. Stern-Kiel: Uber die akuten Situationspsychosen der Kriminellen 764 
Bischoff'-H&mbnrg: Untersuchungen über das mittelbare und unmittel¬ 


bare Zahlengedächtnis.765 

Goldstein : Über die zentrale Aphasie.766 

Wanke-F riedrichsroda: Psychiatrie und Pädagogik in Beziehung zur 

geschlechtlichen Enthaltsamkeit.767 

GluA-Hamburg: Demonstration mikrozephaler Schädel.768 

97. Sitzung des Ostdeutschen Vereins für Psychiatrie in der Provinzial- 
Heil- und Pflegeanstalt zu Bunzlau am 24. Juli 1911.769 


98. Sitzung des Ostdeutschen Vereins für Psychiatrie im Hörsaal der 
Kgl. Psychiatrischen und Nervenklinik zu Breslau 9. Dezember 1911. 
Plathner- Liegnitz: Typhus und Ruhr in der Liegnitzer Idiotenanstalt . 770 

von Aunowsftt-Leubus: Willensfreiheit und Verantwortlichkeit.... 774 


P. Schröder: Uber PseudoparaJyse. 774 

O. Foerster: Demonstration zur Differentialdiagnose der Paralyse und 

Pseudoparalyse.776 

Kramer- Breslau: Anatomischer Befund bei kortikaler Tastlähmung . 780 

Bonhöff'er-llre$\&u : Gehirn eines Kranken mit Agnosie.780 

99. Sitzung des Ostdeutschen Vereins für Psychiatrie zu Freiburg am 
29. Juni 1912.781 


138. Sitzung des Psychiatrischen Vereins zu Berlin am 29. Juni 1912. 
Äctnc-DaUdorf: Ein Fall von Idiotie mit starker Adipositas .... 782 

Juliusburger-StegMtz: Zur Lehre von den Fremdheitsgefühlen . . . 784 

19. Versammlung des Norddeutschen Vereins für Psychiatrie und Neu¬ 
rologie zu Danzig am 8. Juli 1912. 

Semi Meyer- Danzig: Die Lehre von den Bewegungsvorstellungen . . 787 


Klieneberger-KönigsbeTg i. Pr.: Uber Intelligenzprüfungen.788 

E. .Meyer-Königsberg: a) Unfall durch Blitzwirkung.789 


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Inhalt. 


IX 

Seite 

b) Spinale Erkrankungen and psychotische Erscheinungen bei schwerer 


Anämie nebst anatomischem Befund .790 

Zuther-Lauenburg: Zur Verhütung und Behandlung von Furunkulosen 

und Dermatitiden bei Geisteskranken.791 

Boldt- Graudenz: Schutzmaß regeln gegen geisteskranke und minder¬ 
wertige Verbrecher .791 

JEetz-Schwetz: Über Anstaltabwässer .792 

Wallenberg- Danzig: Endotheliom der Dura.793 


Kleinere Mitteilungen. 

Die 18. Versammlung mitteldeutscher Psychiater und Neurologen am 


27. Oktober in Halle.794 

Eröffnung der Heilanstalt Strecknitz.794 

Lombrosopreis.794 

Nekrolog P. W. Jessen.795 

Nekrolog Böhme.796 

Personalnachrichten.797 


Sechstes Heft. 

Originalien. 

über den Einfluß des Abdominaltyphus auf bestehende geistige Erkran¬ 


kung. Von Dr. Wem. H. Becker, Oberarzt an der Landesirrenanstalt 

Weilmünster in Nassau.799 

Über die Sterblichkeit, die Todesursachen und die Sektionsbefunde bei 

Epileptikern. Von Dr. B. Hahn in Hochweitzschen.811 

Beitrag zur Frage der Fähigkeit seinen Aufenthaltsort selbst zu be¬ 
stimmen. Von Oberarzt Dr. Schott, leitendem Arzt der Heil- und 

Pflegeanstalt Stetten i. R.860 

Eine Hysterie-Analyse und ihre Lehren. Von Oberarzt Dr. Bruno Saaler 866 


Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 

88. ordentliche Generalversammlung des Psychiatrischen Vereins der 


Rheinprovinz am 16. Juni 1912 in Bonn 
Westphal-Bonn: Krankenvorstellungen. 1. Tetanie mit Hysterie? 2. Hy¬ 
sterische Pseudotetanie. 3. Akromegalie. 4. Tabes bei einer Zwergin . 912 

Äfraamann-Godesberg: Atrophie beider Vorderarme und der Hand¬ 
muskulatur . 916 

flcrtin^-Galkhausen: Über Hausindustrie in den Anstalten.916 

Dr. Pollitz: Zur Psychologie des Strafvollzuges.918 

Hübner-Bonn : Über Trugwahrnehmungen ohne Wahnvorstellungen bei 
erhaltener Krankheiteinsicht (Demonstration).920 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXIX. 6. b 


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X 


Inhalt. 


Seite 


Ennen- Merzig: Bemerkungen zu Bosai: Die gynäkologische Prophy¬ 
laxe bei Wahnsinn.922 

F. Sioli-Bonn: Ober amyloidähnliche Degeneration im Gehirn . . . 923 


Kleinere Mitteilungen. 

Jahresversammlung des Deutschen Vereins für Psychiatrie.924 

17. Internationaler medizinischer Kongreß in London.924 

Nekrolog Gutsch.925 

Nekrolog August Cramer.929 

Die frühere Irrenanstalt in Neuruppin.931 

Verein zum Austausch der Anstaltberichte.933 

Personalnachrichten...933 


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Bericht 

an das Landes • Direktorat der Proyinz Schleswig ■ Holstein 
Aber die psychiatrische Untersuchung der schulentlassenen 
Ffirsorgezöglinge im Burschenheim zu Rickling, im Frauen- 
heim zu Innien und im Asyl Neuendeich. 

Von 

Oberarzt Dr. Hinrichs- Schleswig. 

Nach dem Beispiele anderer Provinzen, insonderheit dem ziel¬ 
bewußten Vorgehen der Nachbarprovinz Hannover, beschloß der 
Provinzialausschuß von Schleswig-Holstein im vorigen Jahre die 
psychiatrische Untersuchung der schulentlassenen, in Anstalten 
untergebrachten Fürsorgezöglinge. Leider mußte sich die Unter¬ 
suchung bisher beschränken auf die Zöglinge im Burschenheim zu 
Rickling, im Frauenheim zu Innien und im Asyl Neuendeich. Zwei 
Anstalten baten, mit der Untersuchung aus bestimmten lokalen 
Gründen noch kurze Zeit zu warten, mehrere andere, überhaupt 
davon abzusehen, weil sie die psychiatrische Untersuchung aus erzieh¬ 
lichen Gründen nicht für erwünscht hielten. Mir wollen diese Gründe 
nicht einleuchten, und nach den Verhandlungen des vorjährigen 
Fürsorge -Erziehungs-Tages in Rostock zu urteilen und nach den dort 
fast einstimmig angenommenen Resolutionen scheint diese Ansicht 
auch unter den Pädagogen nur noch vereinzelt dazustehen. Auf 
jeden Fall haben die Untersuchungen in den drei erwähnten Anstalten 
in keiner Hinsicht irgendwelche nachteilige Folgen zutage treten 
lassen. Das haben mir die Vorsteher sofort und später noch einmal 
auf besondere Anfrage der Direktor des Landesvereins für innere 
Mission ausdrücklich bestätigt. Hier sind auch sie gerade es gewesen, 
die eine psychiatrische Untersuchung herbeisehnten, sie brachten ihr 
demgemäß nicht nur das weitgehendste Interesse, sondern auch 

ZtiUchrift tttr Ptychiitrir LXIX, 1 . 1 


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2 


Hinrich s, 


vollstes Verständnis entgegen. In allen drei Anstalten hat man mir 
denn auch meine Arbeit durch die freundlichste Hilfe und beständige 
Unterstützung derart erleichtert, daß ich es mir nicht versagen kann, 
allen Beteiligten auch an dieser Stelle meinen wärmsten Dank aus¬ 
zusprechen. 

Vor der Untersuchung wurde über das Vorleben der Zöglinge zum 
Teil von mir, zum größern Teil nach meiner Anleitung von einem Beamten 
der Zentralverwaltung ein Auszug aus den Fürsorgeakten genommen 
nach dem Formular 1, das sich anlehnt an das von Professor Cramer 
benutzte Formular und an einen Fragebogen für Rechercheure von Dr. Cim- 
bal, wie solcher beim Jugendgericht in Altona in Anwendung kommt und 
sich bewährt hat. Dabei hatte ich gehofft, bei der großen Kriminalität der 
Zöglinge in dem einen oder andern Fall bereits einen Fragebogen in den 
Akten ausgefüllt vorzufinden. Doch erfüllte sich diese Hoffnung nicht. 
Kurze Nachtragungen wurden dann noch von den Anstaltsleitern gemacht, 
und außerdem erstatteten die Erzieher bei jedem Zögling eine kurze Cha¬ 
rakteristik auf einem besonderen Bogen. Von weiteren Erhebungen über 
das Vorleben (bei den Eltern oder der Polizeibehörde) wurde abgesehen, 
auch in den Fällen, wo die Akten wenig oder gar keine Auskunft gaben. 
Der Zeitpunkt der Untersuchung hätte sonst noch länger hinausgeschoben 
werden müssen, was vor allem die Anstaltsleiter nicht wünschten. 

Die Untersuchung selbst wurde vorgenommen im Vorsommer 1910 
in Rickling, im Herbst in Innien und Anfang 1911 in Neuendeich. Sie bot 
im ganzen keine erheblicheren Schwierigkeiten. Die männlichen Zöglinge 
ließen sie durchweg gleichgültig über sich ergehen, wie überhaupt bei ihnen 
im Durchschnitt eine große gemütliche Stumpfheit zutage trat. Nur 
einige wenige von ihnen benahmen sich ihrem Schwachsinn entsprechend 
albern und läppisch, und einer mit ausgesprochen moralischem Defekt 
versuchte sich durch Frechheit hervorzutun. Daß dann gerade ihr Be¬ 
nehmen zur Beurteilung herangezogen werden konnte und mit verwandt 
wurde, braucht wohl nicht besonders hervorgehoben zu werden. Bei den 
weiblichen Zöglingen war die Untersuchung anfangs mit etwas mehr 
Schwierigkeit verbunden. Bei zu leichter Fragestellung fühlten sie sich 
verletzt und beleidigt, bei zu schweren Fragen verstummten sie leicht aus 
Schüchternheit und Scham. Einige zeigten auch mehr oder weniger 
Angst. Mit Vorsicht und Geduld gelangte man aber auch hier überall 
zum Ziel. Verschiedene Psychopathen erschienen umgekehrt direkt 
dankbar für das ihrem abnormen Zustande entgegengebrachte Verständnis. 

Uber den äußern Hergang der Untersuchung verweise ich auf den 
Bericht von Professor Gramer, von dem ich kaum abgewichen bin, 
allein schon aus dem Grunde, um bei der individuell immerhin ver¬ 
schiedenen Beurteilung der psychischen Grenzzustände möglichst 


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| Beritht an das Landes-Direktorat der Provinz Schleswig-Holstein usw. 3 

gleiche Vergleichsunterlagen zu erhalten. Die männlichen Zöglinge 
wurden körperlich von Kopf zu Fuß untersucht, bei den weiblichen 
beschränkte sich die körperliche Untersuchung auf die entblößt ge¬ 
tragenen Körperteile. Bei der Intelligenzprüfung ist in das For¬ 
mular II, in das die Resultate eingetragen wurden, die Fähigkeit, 
rntersehiede klarzulegen (nach Ziehen), nicht aufgenommen. Doch 
wurde diese Prüfung in fast allen Fällen mit vorgenommen. Kleinere 
Abweichungen von dem gewöhnlichen Gange der Untersuchung 
mußten selbstredend öfter eintreten, so z. B., wenn man merkte, daß 
die Zöglinge sich gegenseitig unterrichtet hatten, was übrigens gar 
nicht so häufig vorkam, als man vielleicht erwarten könnte. Im ganzen 
mußte man sich sonst der Gleichmäßigkeit halber und aus Zeitmangel 
tfhon an das Schema halten, trotz der Mängel, die einem solchen Ver¬ 
fahren anhaften. 

Zur Untersuchung kamen in Rickling 84 männliche, in Innien 
und Neuendeich je 30, zusammen 60 weibliche Zöglinge im Alter von 
14 bis zu 20 Jahren. Von ihnen stammten aus den beiden Gro߬ 
städten Kiel und Altona weit mehr als die Hälfte, nicht ganz ein Diittel 
aus den übrigen Provinzstädten, nur 20 Zöglinge vom Lande. Außer¬ 
ehelich geboren waren im ganzen 33, von denen 15 später legitimiert 
waren. Daß die Mehrzahl den niedrigsten Volkschichten entstammt, 
wird aus naheliegenden Gründen niemandem verwunderlich erscheinen. 
Zu etwa % gehörten die Eltern dem Arbeiterstande an, in Ve der Fälle 
dem Handwerker- und Gewerbestande, von denen aber nur sehr wenige 
selbständig waren, der kleine Rest dem niederen Beamtenstande und 
anderen Berufklassen. Das Einkommen der Eltern betrug dem¬ 
gemäß in keinem einzigen Fall über 3000 Mk. und nur bei 20% über 
900 Mk.; 37 mal (d. h. in 25% der Fälle) waren die ärmlichen Verhält¬ 
nisse direkt betont. Gestorben war der Vater in 27, die Mutter in 
22 Fällen, 15 mal hatte freilich der überlebende Gatte sich wieder ver¬ 
heiratet. Vollwaisen waren 3 Zöglinge. 

Die sonstigen häuslichen Verhältnisse waren meist die denkbar 
ungünstigsten. Die Akten schilderten da verschiedentlich derartig 
unglaubliche Zustände in der Großstadt, aber auch auf dem Laude, 
daß es wahrlich nicht wundernehmen kann, wenn auch ein völlig 
normales Kind in einem solchen Sumpfe versinkt. Da sind beide 
Eltern dem Tranke ergeben, roh und gewalttätig, lügen und betrügen, 

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4 


Hinrichs, 


wo und wann sich ihnen Gelegenheit bietet, sind beide bestraft, der 
Vater mit Zuchthaus, die Mutter im Verdacht der gewerbmäßigen 
Unzucht, und alle, Eltern und sieben Kinder, schlafen auf Stroh mit 
Decken zugedeckt, da Betten nicht vorhanden sind. Oder die Ehe 
ist geschieden, der Vater trank, die Mutter hat verschiedentlich unehe¬ 
lich geboren, steht im Verdacht der Kuppelei, lebt in wilder Ehe mit 
einem vielfach vorbestraften Manne und duldet, daß dieser mit ihrer 
kleinen Tochter unzüchtige Handlungen vornimmt. Jedem, der sich 
mit der Fürsorgeerziehung beschäftigt hat, werden solche Schilderungen 
trotzdem wenig Neues bieten, und der Einzelheiten wegen kann 
deshalb auf die Tabelle 2 verwiesen werden. Eine große Rolle spielt 
in ursächlicher Beziehung der Alkohol, um so verderbenbringender, 
als er nicht nur die widerlichen häuslichen Verhältnisse, Not und 
Elend schafft, sondern auch eine schwere erbliche Belastung bedingt, 
so daß dann auf der endogenen Grundlage die exogenen Schädigungen 
um so verhängnisvoller ihre Wirkung entfalten können, zumal wenn 
zum Übermaß der eigene frühzeitige Alkoholgenuß des Zöglings 
hinzutritt. Der Vater trank in 43, beide Eltern in 3 Fällen, Alkohol¬ 
mißbrauch des Zöglings wurde 11 mal erwähnt. Es waren dies 8 männ¬ 
liche und 3 weibliche Zöglinge. Fast regelmäßig war dann auch der 
Vater ein Trinker, so bei den 8 männlichen 6mal als ein ausgesprochener 
Potator zu bezeichnen. Zum Teil schien sich die unselige Leidenschaft 
direkt vererbt zu haben, so besonders bei einem Zögling, einem Imbe¬ 
zillen, dessen Großvater bereits an Trunksucht gelitten hatte, dessen 
Vater deswegen entmündigt war, nachdem er fast sein ganzes Ver¬ 
mögen vertrunken hatte. Die meiste Schuld trugen aber doch wohl 
die unverantwortlich laxen Anschauungen der bereits durch Alkohol 
degenerierten Eltern und die Verführung. So war es 2 mal direkt be¬ 
tont, daß der Zögling schon als Kind beständig mit zechenden Er¬ 
wachsenen verkehren durfte, und daß dem Kinde bereits der Alkohol 
zugänglich gemacht wurde. Da ist denn die Forderung, die Berau¬ 
schung eines Kindes als eine grausame Körperverletzung unter Strafe 
zu stellen (Weygandt 31), ganz gewiß berechtigt. Wiederholt war es 
bei den Zöglingen nach Alkoholgenuß bereits zu deliriumartigen Zu¬ 
ständen mit Selbstmordversuchen (4mal) gekommen. Daß dies alles 
nur Minimalwerte sind, ist leider sicher. Offenbar sind nur die 
schwersten Fälle erwähnt worden. 


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Bericht an das Landes-Direktorat der Provinz Schleswig-Holstein usw. 5 


Aber nicht immer erklärten die mißlichen häuslichen Verhältnisse, 
die asozialen Zustände in der Umgebung das Scheitern der jungen 
Existenzen. Schon sehr oft fand sich in den Akten nur die Bemer¬ 
kung: der Vater, resp. die Mutter hat jeglichen Einfluß auf den Zögling 
verloren, oder aber: die Eltern können nicht erziehlich auf ihn ein¬ 
wirken, wobei es unentschieden bleiben mußte, ob die Energielosigkeit 
und Willenschwäche der Erzeuger die Schuld hatte — was dann ja 
auch als erbliches Moment gewertet werden müßte — oder aber die 
abnorme Veranlagung des Zöglings allein. Ferner fehlten die An¬ 
gaben in 13 Fällen, und endlich wurden gar nicht selten die Verhält¬ 
nisse umgekehrt als durchaus günstig geschildert, so daß hier der 
Grund der Verwahrlosung in der Minderwertigkeit des Zöglings selbst 
gesucht werden mußte. 

Im ganzen wirkten so exogene und endogene Ursachen zusammen 
in 78 Fällen, nur exogene in 19, nur endogene in 31, und in 16 Fällen 
ließen sich keine von beiden nachweisen. Hierbei wurden freilich 
die eigenen Angaben der Zöglinge mit verwertet. Direkte erbliche 
Belastung von seiten der Erzeuger (Schwindsucht, leichtere geistige 
Abnormitäten, Verbrechen nicht einberechnet), also schwere erbliche 
Belastung war vorhanden nach den Akten bei 64 (d. h. bei 44%), 
nach ihren eigenen Angaben außerdem bei 27, im ganzen bei 91, d. h. 
bei 63% aller Untersuchten, doppelte Belastung von seiten beider 
Eltem im ganzen bei 26. Die Angaben der Zöglinge mögen dabei 
vielleicht nicht immer zuverlässig sein. Immerhin muß man aber in 
Erwägung ziehen, daß sie wohl ebenso gern die Mängel ihrer Eltern 
zu- wie aufdecken. Auf jeden Fall bedeuten diese Zahlen einen hohen 
Grad der Erblichkeit. Zum Vergleich möge herangezogen werden, 
daß diese bei den Aufnahmen der hiesigen Provinzialirrenanstalt 
in den letzten 10 Jahren im Durchschnitt noch nicht ganz 40% betrug 
(1410 von 3645). Im Vordergründe stand bei weitem die Trunksucht 
der Eltern. Außer den oben erwähnten 46 Fällen, die aktenmäßig 
festgestellt werden konnten, wurde vom Zögling selbst noch 19 mal 
Alkoholmißbrauch des Vaters zugestanden. Bei 65 von 91 Belasteten 
hatte also der Alkohol die erbliche Veranlagung verursacht. Weitere 
Aufschlüsse über die Erblichkeit gibt die Tabelle 3. Sie erreichte einen 
noch höheren Grad als den Durchschnitt bei den schwereren Schwach¬ 
sinnsformen und den ausgesprochenen Psychopathen: von letzteren 


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6 


Hinrichs, 


waren nur 17% (4 von 24), von ersteren nur 25% (5 von 20) erblich 
nicht belastet. 

Wieweit andere äußere Ursachen (körperliche Erkrankungen, 
Unfälle usw.) mit verantwortlich gemacht werden konnten, war 
schwer zu entscheiden. Abgesehen von den Fällen von Alkoholmi߬ 
brauch der Zöglinge, die oben bereits erwähnt wurden, war die geistige 
Entwicklung sicher ungünstig beeinflußt je lmal durch Lues hered., 
Epilepsie (wahrscheinlich), Hydrocephalus, Gehirnerschütterung, 
Trauma, allgemeine körperliche Schwäche infolge von Rhachitis und 
Skrofulöse. Sonst war in dieser Hinsicht die Ausbeute der Akten 
außerordentlich gering. So z. B. fand sich Rhachitis im ganzen nur 
3 mal, Skrofulöse nur 5 mal verzeichnet, während bei der Unter¬ 
suchung 34 mal ausgesprochene Drüsenschwellungen, Narben nach 
Drüsenoperationen 7 mal und deutliche Zeichen überstandener 
Rhachitis jetzt noch allein bei 12 männlichen Zöglingen nachgewiescn 
werden konnten. Auch die Aussagen der Zöglinge selbst vervoll¬ 
ständigten dies Bild nur wenig. Freilich muß man bedenken, daß 
infolge der zur Verfügung stehenden Zeit immer nur eine kurze Ana¬ 
mnese von ihnen aufgenommen werden konnte. 

Eine Ausnahme machten bei den weiblichen Zöglingen die Ge¬ 
schlechtskrankheiten (Tafel 7). Unter den 60 untersuchten Mädchen 
hatten nur 3 vielleicht nicht geschlechtlich verkehrt, alle übrigen 
regelmäßigen Geschlechtsverkehr gepflogen, zum Teil schon vor dem 
vollendeten 14. Lebensjahr. 26 waren der Unzucht ergeben und 16 
der gewerbmäßigen Unzucht. Manchen Schwachsinnigen hatte 
offenbar ganz das Gefühl für das Unmoralische gefehlt. Ein Mädchen 
war schon unter 14 Jahren regelmäßig von Soldaten mißbraucht 
worden, ein anderes hatte erklärt, was solle man tun, wenn man kein 
Geld habe, oder aber, das täten doch alle Mädchen, oder ein anderes, 
es sei ja nur am Sonntag geschehen. Alle vier waren imbezille Mädchen, 
deren Zurechnungfähigkeit schwer in Zweifel gezogen werden mußte. 
Bei der Untersuchung selbst wurde die Frage bei der großen sexuellen 
Erregbarkeit der Zöglinge aus naheliegenden Gründen nicht erörtert. 

Daß unter solchen Verhältnissen auch die Geschlechtskrankheiten 
stark verbreitet waren, wird niemandem erstaunlich erscheinen. 
Nur die Hälfte aller Insassen war davon verschont geblieben, 12 von 
60 waren an Lues erkrankt gewesen, 8 schon mehrmals wegen 


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Bericht an das Landes-Direktorat der Provina Schleswig-Holstein usw. 


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Lues und Gonorrhoe behandelt worden. Bei den männlichen Zög¬ 
lingen spielten dagegen die Geschlechtskrankheiten eine ganz unter¬ 
geordnete Rolle. 

Über die geistige Veranlagung in der Kindheit gaben die Akten 
gleichfalls nur dürftige Auskunft. Bei 57 fehlten jegliche Angaben. 
Es war ja freilich immer der Schulbesuch und dessen Erfolg verzeichnet. 
Dies konnte jedoch nur einen schlechten Ersatz bilden. Denn mehr¬ 
fach sollten Zöglinge eine volle Volkschulbildung genossen haben, 
die bei der Untersuchung nicht einmal das kleine Einmaleins kannten 
und zweifellos als imbezill bezeichnet werden mußten. Alle bis auf 
zwei, die eine höhere Schulbildung genossen, hatten die Volkschule 
besucht. Der Besuch war aber besonders bei den Knaben oft sehr 
unregelmäßig (47 mal), 29 waren „Schulläufer“ gewesen, während 
nur 10 Mädchen gelegentlich Neigung zum Schulenlaufen gezeigt 
hatten. Bei den weiblichen Zöglingen stellte sich das Umhertreiben 
und Vagabondieren erst mit der geschlechtlichen Reife in den Ent¬ 
wicklungsjahren ein. Von den Mädchen hatten 7s* von den Knaben 
nur etwa */« das Ziel der Volkschule erreicht. • 

Im allgemeinen beschränkten sich die Aktenangaben auf kurze 
Äußerungen wie: beschränkt, geistig zurückgeblieben, nicht ganz 
normal, und Aussagen über die verschiedensten moralischen Defekte 
von seiten der Lehrer und Erzieher. Eine ärztliche Untersuchung 
und Begutachtung hatte stattgefunden in 10 Fällen, eine ärztliche 
Beobachtung in nur 6 Fällen (Tafel 7). Meistens auch in schweren 
Fällen von Schwachsinn und Psychopathie war niemals ein Arzt 
befragt. Selbst wenn ein Zögling als ekelhaft schmutzig und viehisch 
bezeichnet worden war, so daß „der Waisenvorsteher vor einem 
Rätsel steht, das sich nur durch einen krankhaften Zustand erklären 
läßt“, war er ohne Sachverständigenurteil bestraft und alsdann in 
Fürsorge gegeben, und ähnlich war es einem hochgradigen Psycho¬ 
pathen ergangen, der viele nervöse Erscheinungen bot, in der ganzen 
Entwicklung zurückgeblieben war und dessen Zurechnungfähigkeit 
noch jetzt stark bezweifelt werden mußte, sowie einem Idioten, der 
nunmehr dauernd der hiesigen Irrenanstalt zur Pflege überwiesen ist. 
Durch die Tätigkeit der Jugendgerichtshöfe werden solche Fälle aber 
wohl immer mehr zur Seltenheit werden. Wenn freilich wie bei einem 
Zögling das ärztliche Zeugnis lakonisch lautet: „Über ihren Zustand 


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Hinrichs. 


ist nicht viel zu sagen“, trotzdem die Erzieher wegen der geistigen 
Abnormität jegliche Verantwortung ablehnen, und sich dann in Kürze 
die Notwendigkeit der Irrenanstaltpflege herausstellt, so ist damit 
der Sache wenig gedient. Über gewisse Spezialkenntnisse muß der 
Begutachter schon verfügen und etwas Verständnis den Grenzzuständen 
entgegenbringen. 

Änderungen in dem Zustandbilde treten allerdings oft ein, und 
sie sind nicht immer vorauszusehen. Mehrmals bin ich erstaunt 
gewesen, wenn ich bei einem Zögling, in dem man nach der Schilderung 
der Akten einen Idioten erwarten mußte, nur einen ganz geringen 
Grad von Schwachsinn nachweisen konnte, so daß einer sogar als 
fast normal bezeichnet wurde. Während der Fürsorgeerziehung hatte 
bei ihnen eine Spätentwicklung eingesetzt. Umgekehrt tritt bekannt¬ 
lich vielfach in den Entwicklungsjahren ein Stillstand oder eine Ver¬ 
schlimmerung ein. So hatte besonders bei 10 von den untersuchten 
Knaben die Verwahrlosung erst nach oder kurz vor der Konfirmation 
begonnen. Unter ihnen befanden sich 4 Psychopathen, deren geistige 
Minderwertigkeit jetzt in Zunahme begriffen war, und 3 Imbezille, 
die beim Hinaustreten ins Leben dem Kampf ums Dasein nicht ge¬ 
wachsen waren, von denen zwei um so rascher versagten, als sie dem 
Alkohol verfielen. Ein geistig Normaler scheiterte gleichfalls infolge 
des Alkohols, und bei den beiden letzten, die auch als normal be¬ 
zeichnet werden mußten, war eine Ursache nicht ersichtlich. Viel¬ 
leicht waren sie in schlechter Gesellschaft der Verführung zum Opfer 
gefallen. 

Bei den Mädchen zeigte sich die Verschlimmerung oft durch 
Häufung von Wutanfällen und Erregungszuständen, die zu wieder¬ 
holten Malen auch die Irrenanstaltspflege erforderlich machten, noch 
öfter aber wurden sie jetzt nach erreichter Keife bei ihrer sexuellen 
Erregbarkeit durch die äußern Verhältnisse der Unzucht in die Arme 
geführt, und manche Imbezille erlagen nur gar zu bald willenlos der 
Verführung. Weitere Angaben über die Entwicklungsjahre enthält 
Tabelle 7. 

In die Zeit der Pubertät fielen auch erklärlicherweise die meisten 
Konflikte mit dem Strafgesetz. Bei einem Teil der weiblichen Zöglinge 
fehlten nähere Angaben, alle übrigen hatten die verschiedensten Ver¬ 
gehen und öfter schwere Verbrechen auf dem Gewissen, die meisten 


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Bericht an das Landes-Direktorat der Provinz Schleswig-Holstein usw. 9 


waren vorbestraft, eine ganze Anzahl bereits unter 14 Jahren, mehrere 
Knaben bis zu 5 mal, bevor sie in Fürsorge gegeben wurden. Da 
die beigefügte Tafel (8) nur die Strafen enthält, ergeben die Zahlen 
naturgemäß nur Minimalwerte aller begangener Verbrechen. Auch 
während der Fürsorgeerziehung waren noch viele bestraft worden. 
Ein Strafaufschub war, soweit sich dies feststellen ließ, in 29 Fällen 
eingetreten. 

Die Strafen überwogen ganz erheblich bei den Knaben, besonders 
die Eigentumvergehen, bei den Mädchen traten dafür die unzähligen 
Fälle von Unzucht, über die aber nur ganz selten eine Strafe verhängt 
war. Wie bei jenen die Konflikte mit dem Strafgesetz, so waren bei 
diesen die sexuellen Verfehlungen fast regelmäßig die Ursache für die 
Einleitung der Fürsorgeerziehung gewesen. Diese war immer und 
immer wieder als die ultima ratio, leider nicht vorbeugend in Wirk¬ 
samkeit getreten. Bei 75 von den 84 männlichen Zöglingen war sie 
eingeleitet auf Grund des § 1 Abs. 3 des Gesetzes vom 2. Juli 1900, 
bei 7 auf Grund des Abs. 2, nur bei 2 nach Abs. 1 (Tafel 9). Trotz der 
größten Verwahrlosung der Kinder hatten sich aber noch oft genug 
die Eltern ablehnend verhalten und alle Mittel in Bewegung gesetzt, 
um die Fürsorge zu verhindern. Nur 10 mal hatten die Eltern selbst 
den Antrag gestellt. Es wird also wohl noch lange Zeit verstreichen, 
bis das Vorurteil über die Fürsorgeerziehung überwunden ist. 

Dementsprechend war sie leider auch immer erst sehr spät, zu 
spät in die Wege geleitet. Nur 7 Zöglinge waren im Alter von 6 bis 
10 Jahren, 22 weitere vor vollendetem 14. Lebensjahr, alle übrigen 
später und 19 sogar erst nach vollendetem 18. Lebensjahr in Fürsorge 
gekommen. Dabei betrug die Zeit zwischen Antrag und Unterbringung 
noch oft genug über 1 / 2 Jahr. So war es denn auch notwendig ge¬ 
worden, daß 59 von 84 männlichen Zöglingen — nur bei diesen wurden 
diese Zahlen verfolgt — sogleich in einer Erziehungsanstalt unter¬ 
gebracht werden mußten, und von ihnen hatten in der Zwischenzeit 
nur 24 vorübergehend versuchsweise in Familienpflege gegeben werden 
können. Daß mit solchen Elementen die Erziehung noch glänzende 
Resultate erzielen soll, kann man füglich kaum verlangen. 

Aus der Zeit der Fürsorgeerziehung interessieren hier zunächst 
die zahlreichen Entweichungen (Tafel 11), die (wohl zur Hauptsache 
aus äußern Gründen) bei den männlichen Zöglingen ungemein viel 


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10 


Hinrichs, 


häufiger Vorkommen als bei weiblichen (dort Feldarbeit, hier Haus¬ 
arbeit). Am .meisten beteiligt waren von jenen dann wiederum die 
Psychopathen und die Imbezillen, während die leichteren Grade von 
Schwachsinn unter dem Durchschnitt blieben. Als eine triebartige 
Neigung wurde das Entweichen besonders in drei Fällen von den 
Zöglingen selbst geschildert: sie wurden verstimmt, bekamen Angst 
und Herzklopfen, liefen plötzlich auf und davon, fühlten sich hinterher 
von der Unruhe und Spannung befreit und möchten dann am liebsten 
wieder umkehren. Zwei waren ausgesprochene Psychopathen, bei 
dem dritten ließ sich bei der Untersuchung sonst nichts Besonderes 
feststellen. Die meisten Zöglinge wußten dagegen für ihr Fortlaufen 
keine nähere Erklärung zu geben. Später beschuldigten mehrere die 
Erziehungsanstalt und die schlechte Behandlung. Hierauf sowie auf 
die Selbstmordversuche und Erregungszustände werde ich weiter 
unten zurückkommen. 

Der Ernährungszustand der untersuchten Zöglinge war durchweg 
gut, insonderheit bei den weiblichen, und wo nicht, erklärten körper¬ 
liche Leiden die Magerkeit zur Genüge. Verschiedene Male konnte 
man beobachten, in welch dürftigem und heruntergekommenem Zu¬ 
stande dagegen einige kurz zuvor Entwichene nach den Strapazen 
eines unregelmäßigen, auf der Landstraße oder im Bordell verbrachten 
Lebens in die Anstalt zurückgekehrt waren. Die körperlichen Er¬ 
krankungen sind in Tabelle 12 aufgeführt. 

Den Entartungszeichen und Innervationstörungen (vgl. die Tafeln 
13 u. 14) wurde bei der Beurteilung nur dann ein Wert beigelegt, 
wenn sie gehäuft vorkamen und in ausgesprochenem Maße vor¬ 
handen waren. Ganz frei von ihnen waren nur wenige. 

Mit Tätowierungen (bis zu 10 verschiedenen, s. Taf. 12), auf die 
im übrigen gar kein Gewicht gelegt wurde, hatte sich reichlich die 
Hälfte der männlichen Zöglinge geziert. Es waren fast ausnahmlos 
rohe, gewalttätige Burschen oder solche, die eine sexuelle Laufbahn 
hinter sich hatten, zum größten Teil geistig Minderwertige. 

Bei der Prüfung der geistigen Fähigkeiten wurden die Anforderun¬ 
gen möglichst niedrig gestellt, schwierigere Fragen nur, um die richtige 
Beantwortung in positivem Sinne verwerten zu können. Trotzdem 
war der negative Ausfall ein großer, so daß selbst die Schwestern sich 
oft über die Unkenntnisse der Zöglinge wunderten, obwohl sie sich 


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Bericht an das Landes-Direktorat der Provinz Schleswig-Holstein usw. H 


doch allmählich an ein so schwach begabtes Material gewöhnt und 
wohl auch ihre Anforderungen bereits recht heruntergeschraubt 
haben. Verschiedene kannten nicht ihren Geburtstag, nicht alle 
Farben — Farbenblindheit bestand dabei nicht —, nicht die Uhr, 
von den vorgezeigten Bildern nur den Löwen, konnten einstellige 
Zahlen nicht richtig addieren u. a. m. Eine ganze Reihe von Zög¬ 
lingen in Rickling kannte die Pastoren, den Hausvater und die 
Schwestern nicht mit Namen. Es ist dies jedoch weniger als ein 
Intelligenzdefekt zu deuten, als vielmehr eine Folge von außerordent¬ 
licher Teilnahmlosigkeit und Gleichgiltigkeit. Bei den Mädchen 
wurde dies nur dreimal beobachtet. Bei ihnen überwog das lebhafte, 
erregte Element, und die Indolenz erreichte bei ihnen auch nie einen 
so hohen Grad. Dafür versagten sie wiederum öfter auf andern Ge¬ 
bieten, zeigten verhältnismäßig öfter Störungen des Gedächtnisses, 
der Merkfähigkeit, leichtere Ermüdbarkeit, Flüchtigkeit, Zerstreut¬ 
heit u. a., geringere Schulkenntnisse. Weiterer Einzelheiten wegen 
verweise ich auf die Tafel 15 und auf die Berichte über die Unter¬ 
suchungen in andern Provinzen. 

Wahnideen wurden nicht festgestellt, dagegen mehrmals krank¬ 
hafte Eigenbeziehung und auch zeitweilige Sinnestäuschungen, die 
freilich bei den Betreffenden erst in der späteren Anstaltsbeobachtung 
mehr zutage traten. Moralische Defekte als Teilerscheinung der 
ganzen geistigen Minderwertigkeit waren, wie zu erwarten, oft vor¬ 
handen; ein ausgesprochener Defekt auf moralischem Gebiete ohne 
sonstige, insonderheit Intelligenzstörungen wurde dagegen nur einmal 
beobachtet. Affektstörungen (Tafel 16) waren nicht selten, und be¬ 
sonders bei den weiblichen Zöglingen waren oft infolge der leichten 
Erregbarkeit Tobsuchtsanfälle (mit Selbstmordversuchen) aufgetreten, 
die mehrmals Irrenanstaltspflege erforderlich machten. Leichtere 
Hemmungen konnten wiederholt beobachtet werden, eine schwerere 
Hemmung bestand bei einem nach seinem Entweichen kurz zuvor 
zurückgebrachten Mädchen. An Bettnässen litten noch drei Zöglinge 
in Rickling, an Nachtwandeln einer. An Handlungstörungen sei hier 
noch erwähnt, außer dem bereits oben angeführten triebartigen Ent¬ 
weichen, die zweimal beobachtete Neigung zu ekelhaften Schmutze¬ 
reien, wie sie bei Hysterie zuweilen besteht. Beides waren aus - 
gesprochene Psychopathen, die wohl auch sonst hysterische Charakter- 


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12 


Hinriclis, 


eigenschaften darboten, aber keine hysterischen Stigmata. Der eine 
von ihnen war auch längere Zeit in der Irrenanstalt. Wie das Ent¬ 
weichen wurde dann auch gar nicht selten das Stehlen als triebartig 
geschildert, sowohl in den Akten, wie von den Zöglingen selbst (vgl. 
Taf. 7 u. 15). So behauptete einer, vorher jedesmal ein Gefühl der Be¬ 
klemmung, Zittern und Herzklopfen, Unruhe und Angst zu bekommen, 
hinterher von einem Gefühl der Starre befallen zu werden. Meistens 
handelte es sich um Schwachsinnige oder Psychopathen mit mehr oder 
weniger Schwachsinn. Zwei von ihnen mußten aber als normal be¬ 
zeichnet werden: der eine erklärte, er sei früher „schwächer“ gewesen, 
der andere erzählte, seine Mutter habe das Stehlen bei ihm für eine 
Krankheit gehalten, er sei aber durch Hypnose, geheilt. In der Tat 
hatte er sich seit 1907 keinen Diebstahl mehr zuschulden kommen 
lassen. 

Bei der Diagnose (Tafel 17) wurde unterschieden: normal, psycho¬ 
pathisch mit oder ohne Schwachsinn, debil (Schwachsinn leichteren 
Grades), imbezill (Schwachsinn schwereren Grades), Idiotie und Epi¬ 
lepsie, von der Stellung weiterer Differenzialdiagnosen dagegen ab¬ 
gesehen. 

Der Beurteilung des Geisteszustandes wurde selbstredend nicht 
nur die Intelligenzprüfung, sondern alles: das Aktenergebnis, die 
schriftlichen und mündlichen Angaben der Erzieher, die somatische 
und psychische Untersuchung zugrunde gelegt, auch die Auskunft der 
Zöglinge mit Vorsicht mit verwertet, und die Grenzen der geistigen 
Gesundheit dann immer möglichst weit gezogen. Trotzdem konnten 
von den männlichen Zöglingen nur 16 als einwandfrei normal bezeichnet 
werden. 22 weitere boten allerhand nervöse Erscheinungen, moralische 
Defekte, mehr oder weniger geistige Schwäche, so daß bei 9 von diesen 
die Diagnose normal mit einem großen Fragezeichen versehen werden 
mußte. Immerhin müssen aber auch sie für das Resultat der Unter¬ 
suchung als normal gelten, zusammen also 38 = 45%, Ausgesprochene 
Psychopathen (ohne Intelligenzdefekt) waren 5 = 6%, als debil 
mußten im ganzen 27 = 32%, als imbezill 12 = 14% bezeichnet 
werden. Ein Zögling litt wahrscheinlich an Epilepsie, einer an Idiotie. 
Bei den weiblichen Zöglingen stellt sich das Eigebnis, wie folgt: 
einwandfrei normal 17, normal (?) 7, zusammen 24 = 40%, aus¬ 
gesprochen psychopathisch 3 = 5%, debil im ganzen 21 = 35%, 


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Reicht an das Landes-Direktorat der Provinz Schleswig-Holstein usw. 13 


imbezill 12 = 2C% In Neuendeich überwogen etwas die Psycho¬ 
pathen, in Innien die Schwachsinnigen. Hinterher wurde auch von 
der Vorsteherin in Neuendeich bestätigt, daß gegenwärtig verhältnis¬ 
mäßig intelligente Zöglinge in ihrer Anstalt untergebracht seien. 
Unter den Schwachsinnigen befand sich dann noch, wie auch aus der 
Tabelle 17 zu ersehen ist, eine ganze Anzahl von Zöglingen, die neben 
ihrer geistigen Schwäche schwere nervöse Erscheinungen darboten. 
An Psychopathen fanden sich somit im ganzen (mit oderohne Schwach¬ 
sinn): unter den Knaben 13 = 15%, unter den Mädchen 10 = 17%. 

Diese hohen Prozentsätze mögen zunächst gewiß Staunen erregen. 
Im Grunde genommen braucht man sich aber nicht zu wundern. Denn 
man muß doch bedenken, daß erstlich einmal das, was in Fürsorge 
kommt, durchw r eg kein normales Material darstellt, und in zweiter Linie 
scheitern hiervon in der Außenwelt, in der Familienpflege immer 
wieder die geistig Minderwertigen. Gerade sie müssen in die Erziehungs¬ 
anstalten zurückversetzt werden und drücken das Durchschnittniveau 
so herunter. 

Zur Fürsorgeerziehung weiter geeignet erschienen nach ärzt¬ 
lichem Standpunkte 64 männliche (= 76%) und 44 weibliche Zög¬ 
linge (= 73%). Diese Zahlen scheinen mir aber jetzt entschieden 
noch zu hoch gegriffen zu sein. Denn seit der Untersuchung wurden 
aus Rickling bereits drei der Irrenanstalt zur Beobachtung und vor¬ 
übergehenden Behandlung überwiesen, die damals als durchaus 
geeignet bezeichnet waren trotz der nicht übersehenen geistigen 
Minderwertigkeit. Alle übrigen passen in die Fürsorgeerziehung, 
d. h. in ihrer jetzigen Form, nicht hinein. Sie gehören sowohl in ihrem 
Interesse, wie vor allem mit Kücksicht auf die übrigen Zöglinge in 
besondere Zwischenanstalten, in denen neben der pädagogischen Er¬ 
ziehung vor allem auch die ärztlich notwendigen Gesichtspunkte zu 
ihrem Recht kommen können. Das wird gegenwärtig wohl allgemein 
anerkannt und kam auch in den Leitsätzen auf dem vorjährigen Für- 
sorge-Erziehungs-Tag sowohl von ärztlicher, wie von pädagogischer 
Seite voll zum Ausdruck und zur Annahme. Eine nähere Begründung 
ist deshalb hier kaum mehr am Platze. 

Die Zahl der zur Fürsorge Ungeeigneten ist erheblich geringer 
als die der geistig Minderwertigen. Denn viele von diesen, besonders 
die, bei denen zur Hauptsache nur eine Schwäche des Intellekts besteht, 


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14 


Hinrichs, 


sind sehr oft leicht zu lenken und ohne Schwierigkeit in den bisherigen 
Erziehungsanstalten zu behandeln. 

Die Frage nach der Besserungfähigkeit habe ich mir bei den ein¬ 
zelnen Zöglingen nicht gestellt, da die Prognose zu unsicher ist. Auch 
ist die Frage nach der Militärtauglichkeit bei den männlichen nicht 
beantwortet, da die Zwischenzeit bis zum Diensteintritt meistens noch 
zu lang war. Bei allen nicht Normalen wird sie aber später ernstlich 
zu prüfen sein, da gerade die Psychopathen und Schwachsinnigen 
beim Mili tär sehr bald versagen, geistig erkranken oder durch Fahnen - 
flucht u. a. mit den Militärstrafgesetzen in Konflikt geraten. 

Wichtiger erschien es dagegen, schon jetzt die Frage der Ent¬ 
mündigung zu erörtern, damit sie rechtzeitig genug vor Ablauf 
der Fürsorgeerziehung eingeleitet werden kann, vor allem bei den 
Mädchen, die wohl noch mehr der Versuchung ausgesetzt sind (in 
sexueller Hinsicht) als die männlichen Zöglinge. So wird besonders 
bei 12 weiblichen Insassen, je 6 von Neuendeich und Innien, die 
Entmündigung voraussichtlich erforderlich sein. In Betracht kommen 
dabei in erster Linie Imbezille, die sich willenlos lenken und vor allem 
nach der schlechten Seite hin beeinflussen lassen, die ohne Stütze in 
der Außenwelt sich nicht halten können. 

Auf die Untersuchung hin wurde zunächst bei 6 Zöglingen aus 
Rickling, bei denen eine längere Anstaltsbeobachtung, bzw. -pflege 
durchaus notwendig erschien, die Überführung in die Irrenanstalt 
beantragt und ausgeführt. Eis stellten sich dann aber bald bei ihrem 
Aufenthalt in der Irrenanstalt allerhand Schwierigkeiten heraus, 
insonderheit auch bei der später wiederholt beantragten Zurückver¬ 
setzung in die Fürsorge. Die Provinz besitzt keine eigenen Anstalten, 
und die Vorstände der Fürsorgeanstalten lehnten die Wiederaufnahme 
der Zöglinge ab. Deshalb wurde fortan auf Grund der Untersuchung 
keine weitere Überführung zwecks längerer Beobachtung befür¬ 
wortet, sondern nur den Fürsorgeanstalten anheimgegeben, bei den 
pathologischen Zöglingen bei eintretender Verschlimmerung eine 
solche zu beantragen, obwohl bei einer ganzen Reihe eine längere 
Beobachtung wünschenswert gewesen wäre. Um so mehr wäre des¬ 
halb bei ihnen eine Wiederholung der psychiatrischen Untersuchung 
in gewissen Zeitabständen angebracht. 

Auf diese Weise wurden dann im Laufe der Zeit (5 Zöglinge mit- 


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Bericht an das Landes-Direktorat der Provinz Schleswig-Holstein osw. 15 

gerechnet, die sich bereits vorher hier befanden ) % im ganzen 16 männ¬ 
liche und 6 weibliche Zöglinge in der hiesigen Provinzialirrenanstalt 
ontergebracht. Von diesen hatten drei aus Rickling kurz zuvor 
einen ernstgemeinten Selbstmordversuch gemacht. Sie waren daselbst 
vor nicht langer Zeit in die Falkenburg, das feste Haus fttr schwer¬ 
erziehbare Zöglinge, das im vorigen Sommer gerade zur Zeit der 
psychiatrischen Untersuchung bezogen war, in dem eine eiserne 
Disziplin gehandhabt wird und auch wohl herrschen muß, zur Haupt¬ 
sache ihrer Entweichungen wegen verlegt worden. Es bestätigte sich 
von neuem die Erfahrung, die im Heere schon längst gemacht worden 
ist: geistig defekte Menschen versagen, sowie größere Anforderungen 
an sie gestellt werden, und einer zu straffen Disziplin sind sie nicht 
gewachsen. Die meisten Entweichungen (im Heere Fahnenflucht) 
sind ja nicht durch äußere Umstände veranlaßt, sondern durch innere 
Voigänge bedingt. Dies gilt noch mehr von Selbstmordversuchen. 
Freilich alle drei genannten Zöglinge bekundeten gleichlautend, nur 
durch Verzweiflung infolge der schlechten Behandlung und Mi߬ 
handlung durch Schimpfen und Prügel seien sie zu der Tat getrieben. 
Aber abgesehen davon, daß eine eingeleitete Untersuchung für diese 
Angaben keine Anhaltspunkte eigab, zeigte es sich in der Anstalts- 
beobachtung bald, daß der eigentliche Grund sicher in krankhaften 
Verstimmungen zu suchen war. Auf eine ganz geringe Veranlassung 
hin, oft ohne ersichtlichen Grund traten Depressionszustände, öfter 
von tagelanger Dauer auf. So weinte einer von ihnen stundenlang, 
als seine Mutter, durch äußere Gründe verhindert, einen in Aussicht 
gestellten Besuch an dem bestimmten Tage nicht ausführte; der zweite 
sprach ein bis zwei Tage lang kein einziges Wort zu seiner ganzen Um¬ 
gebung, nachdem es ihm untersagt worden war, ältere Patienten durch 
Schneeballwerfen zu belästigen, und der dritte wußte oft selber keinen 
triftigen Grund für seine langandauemden Verstimmungen anzu- 
führen. 

Leider wird dies an der Tatsache nichts ändern, daß das Durch¬ 
schnittpublikum immer wieder den Aussagen der Zöglinge allein 
Glauben schenken und den Fürsorgeanstalten die ganze Schuld auf¬ 
bürden wird und daß dann eine sensationslüsterne Presse solche Vor¬ 
kommnisse mit Vergnügen aufgreifen und aufbauschen wird, wie dies 
ja in ähnlichen Fällen auch in unserer Provinz zur Genüge geschehen 


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16 


Hinrichs. 


ist. Will man da rechtzeitig Vorbeugen und die Fürsorgeerziehung vor 
unbegründeten Angriffen und Schaden bewahren, so wird man bei der 
Versetzung in das feste Haus bei pathologischen Zöglingen außer¬ 
ordentlich vorsichtig Vorgehen müssen. Eine spezialärztliche Unter¬ 
suchung und Beratung wäre da jedesmal sehr am Platze. Noch besser 
aber wäre es, wenn alle diese Psychopathen, die in der freieren Behand¬ 
lung zu große Schwierigkeiten machen, gar nicht erst in das Haus 
für schwer erziehbare Zöglinge hineinkämen, sondern daß für sie be¬ 
sonders geeignete Zwischenanstalten errichtet würden. Diese Not¬ 
wendigkeit wird sich mit der Zeit immer mehr herausstellen. In 
Hannover ist man auch bereits in dieser Hinsicht vorgegangen. 

Die Überführung in die Irrenanstalt ist wohl in einzelnen Fällen 
zum Zwecke der Beobachtung gerechtfertigt, zum Zwecke der Pflege 
aber meistens nur ein Notbehelf und auf die Dauer nicht haltbar. 
Denn nur die allerwenigsten sind als dauernd irrenanstaltspflege¬ 
bedürftig anzusehen. Von den oben erwähnten 22 Zöglingen sind dies 
nur 2 männliche, ein Idiot und ein Imbeziller, die beide zeitweilig 
halluzinieren. 5 männliche sind inzwischen großjährig geworden, 
von ihnen nur 1 in der Anstalt verblieben, 4 entlassen. Weiter sind, 
weil nicht anstaltspflegebedürftig, in Familienpflege entlassen 3 männ¬ 
liche und 2 weibliche Zöglinge, 1 männlicher ist entwichen. Die 
übrigen 9 (5 männliche und 4 weibliche) befinden sich noch in der 
Anstalt. Diese 5 männlichen sind sämtlich nicht mehr irrenanstalts- 
pflegebedürftig, bei den 4 weiblichen ist nur ein vorübergehender Auf¬ 
enthalt in der Irrenanstalt infolge ihrer heftigen Erregungszustände 
zu rechtfertigen, ihre Behandlung wäre aber auch in einer geeigneten, 
ärztlich geleiteten Zwischenanstalt möglich. Es ergibt sich also, daß 
alles in allem nur drei Zöglinge als dauernd geisteskrank anzusehen 
waren, sie müßten denn auch auf das Gesetz vom 11. Juli 1891 über¬ 
nommen werden. 

Alle übrigen passen auf die Dauer nicht in die Irrenanstalt hinein, 
zunächst einmal nicht in ihrem eigenen Interesse. Sie müssen hier 
naturgemäß ganz wie Kranke und dementsprechend stets mit Nach¬ 
sicht behandelt werden. Solche dauernde Milde können sie aber 
ebensowenig vertragen wie die zu straffe Disziplin. Bei ihren vielen 
moralischen Defekten, die nicht alle ohne weiteres als krankhaft 
anzusehen sind, haben sie ganz gewiß eine ernste Erziehung nötig, 


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Bericht an das Landes-Direktorat der Provinz Schleswig-Holstein usw. 17 


wie sie ihnen in der Irrenanstalt nicht zuteil werden kann, wenn 
anders sie später den Ansprüchen des Lebens gewachsen sein sollen. 
Daß sie das hier nicht lernen, lehren die Erfahrungen, die mit der 
Familienpflege bisher gemacht wurden. Um nämlich die Zöglinge, 
die nicht irrenanstaltspflegebedürftig waren, anderweitig unterzubrin- 
?en, wurden 7 männliche, einer von ihnen 2 mal in Familienpflege 
gegeben. 2 entwichen sehr bald und wurden in verwahrlostem Zustande 
nach einigen Wochen wieder eingeliefert, 1 mußte wegen Straßenraubs 
in Haft genommen werden, 3 mal kehrte der Zögling nach kurzer Zeit 
von selber zurück und bat um seine Wiederaufnahme, angeblich 
natürlich, weil er zu schlecht und zu grob behandelt worden sei. Dabei 
ließ es sich aber nur einmal hinterher feststellen, daß die Stelle in der 
Tat nicht passend gewählt war. Die mildere Behandlung in der 
Irrenanstalt bei verhältnismäßig viel Freiheit und nicht so anstren¬ 
gender Arbeit gefiel ihnen eben besser. Für ihr späteres Leben ist 
der Gewinn aber recht zweifelhaft. Nur zwei von den letztgenannten 
haben sich bisher y 2 , bzw. y 4 Jahr lang gut gehalten, ohne ihrem 
Dienstherrn Anlaß zu Klagen zu geben. Freilich muß man hierbei 
in Betracht ziehen, daß gerade die Psychopathen zu den am schwersten 
erziehbaren Zögüngen rechnen, zum Teil wohl leider als unerziehbar 
gelten müssen, und es soll deshalb auch nicht behauptet werden, 
daß nun neue Zwischenanstalten auf einmal alle Schwierigkeiten 
aus dem Wege räumen und glänzende Resultate werden erzielen 
können. 

Was aber vor allem betont werden muß, ist der Umstand, daß die 
Rücksicht auf die übrigen Kranken die Unterbringung solcher Für¬ 
sorgezöglinge in der Irrenanstalt auf die Dauer als unhaltbar erscheinen 
läßt. Durch ihre asozialen Neigungen wirken sie zu ungünstig auf 
ihre Umgebung: durch Frechheit und Unverschämtheit, Rücksichts¬ 
losigkeit, Albernheit und Neckereien, die oft mit Schlägereien ein Ende 
nehmen, gegenseitige Beeinflussung und Hetzereien, durch maßlose 
Wutausbrüche und Erregungzustände, dies besonders bei den Mädchen, 
oft auch ein Gemisch von Ungezogenheit und Krankheit, wie dies 
alles in den Berichten der Anstaltdirektion immer wieder hervor¬ 
gehoben ist. Durch eine weitere Anhäufung solcher Elemente würde 
der Charakter der Irrenanstalt als eines Krankenhauses schwer leiden, 
nachdem sie eben durch die Erbauung des festen Hauses von den 

Zeitschrift für PcyohUtrie. LX1X. 2 


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18 


Hinrichs, 


geisteskranken Verbrechern befreit worden ist, sie würde sehr zum 
Nachteil der übrigen Kranken immer mehr den Charakter einer reinen 
Detentionsanstalt annehmen müssen. Schließlich ist auch wohl zu 
überlegen, ob es rein rechtlich zu verantworten ist, solche Zöglinge, 
die ärztlicherseits nicht als geisteskrank im engeren Sinne und nicht 
als unzurechnungfähig im Sinne des Gesetzes zu bezeichnen sind, 
sondern nur als vermindert zurechnungfähig, dauernd der Irren¬ 
anstalt zur Pflege zu überweisen. 

Immer von neuem drängt sich also die Notwendigkeit auf, für 
pathologische Zöglinge geeignete Zwischenanstalten zu errichten oder 
zum mindesten besondere selbständige Abteilungen, die rein wirt¬ 
schaftlich anderen Anstalten angegliedert werden könnten. Die 
Provinz würde sich dadurch auch in gewisser Weise von den Er¬ 
ziehungsanstalten unabhängig machen, während die Unterbringung 
gerade bei diesen Zöglingen bisher allerhand Schwierigkeiten machte, 
indem sie von Anstalt zu Anstalt geschoben werden mußten, entschie¬ 
den nicht zu ihrem Vorteil. 

Hiergegen wird allerdings der Einwand erhoben werden können, 
daß sich in unserer besonders kleinen Provinz für solche Anstalten 
nicht die nötige Anzahl von Zöglingen wird finden lassen. Ich glaube 
jedoch, diese Befürchtung wird sich mit der Zeit als unbegründet 
erweisen. In Betracht kommen zunächst alle Zöglinge, die bei der 
Untersuchung als ungeeignet zur Fürsorgeerziehung in der jetzigen 
Form bezeichnet sind, 20 männliche und 16 weibliche. Diese Zahl ist 
aber, wie oben ausgeführt, noch zu niedrig gegriffen. Ferner ist ein 
Teil der männlichen und reichlich die Hälfte der weiblichen erwachsenen 
Anstaltzöglinge bisher nicht zur Untersuchung gekommen. Es wäre 
sehr erwünscht, dies nachzuholen, um genaue Resultate zu erhalten. 
Da man annehmen darf, daß bei den übrigen Zöglingen der Prozentsazt 
der Psychopathen und Schwachsinngen ungefähr die gleiche Höhe 
erreichen wird, so wird man von vornherein mit etwa 30 männlichen 
und reichlich so viel weiblichen Zöglingen für die neue Anstalt rechnen 
können, die wenigen, die wirklich geisteskrank und irrenanstaltpflege¬ 
bedürftig sind, abgerechnet. Dann werden diese Anstalten alle auf¬ 
nehmen können, die vor Einleitung der Fürsorgeerziehung psychische 
Abnormitäten dargeboten haben, die eine längere Beobachtung 
wünschenswert erscheinen lassen. Es würde ihnen dann nicht ohne 


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Bericht an das Landes-Direktorat der Provinz Schleswig-Holstein usw. 19 


weiteres der Stempel der Irrenanstalt aufgedrückt, gegen die doch 
leider immer noch ein Vorurteil besteht. 

Schließlich wird in Zukunft nach Errichtung einer Zwischenanstalt 
das Bedürfnis nach weiteren Plätzen ganz entschieden sehr bald 
steigen, da die Fürsorgeanstalten die Wohltat, von solch schwierigen 
Elementen befreit zu werden, im Interesse der normalen Zöglinge 
immer mehr empfinden werden und die Zahl der Fürsorgezöglinge 
im allgemeinen noch im Steigen begriffen ist. Es wird da denselben 
Gang gehen, wie einst mit dem festen Hause für geisteskranke Ver¬ 
brecher. Das Bedürfnis hierfür war längst anerkannt, man fürchtete 
aber allgemein, die Zahl würde zu niedrig sein, um einen Bau für die 
Provinz allein zu rechtfertigen. Selbst von sachverständiger Seite 
wurden anfangs 25 bis 30 Plätze für ausreichend gehalten. Dann 
wurde das feste Haus in Neustadt errichtet mit 40 Plätzen, und jetzt 
nach wenigen Jahren reichen auch diese nicht mehr aus. 

Auf Grund der vorliegenden Resultate der bisherigen Unter¬ 
suchung halte ich mich zu folgenden kurzen Schlüssen 
berechtigt: 1. Es ist sehr erwünscht, daß die psychiatrische 
Untersuchung auf die übrigen Fürsorgezöglinge, zunächst auf die 
in Anstalten für Erwachsene untergebrachten ausgedehnt werde. 

2. Es ist dringend erforderlich, daß sie in gewissen Zeitabständen 
wiederholt werde; sie kann sich dann aber beschränken auf die früher 
als pathologisch erkannten und solche, bei denen inzwischen auf¬ 
fallende Veränderungen eingetreten sind; vor allem wäre sie erwünscht 
vor Verlegung von Psychopathen in das feste Haus für schwererzieh¬ 
bare Zöglinge. 

3. Die Errichtung einer geeigneten Zwischenanstalt ist auch für 
unsere Provinz auf die Dauer nicht zu umgehen. 


Fragebogen 1. Vorgeschichte (nach Auskunft der 

Akten etc.) 

1. Personalien'. Vor- und Zuname. Geburtsort (Kreis). Geburts¬ 
tag- Ehelich oder unehelich. 

2. Äußere Verhältnisse : Der Eitern Wohnort, Stand, Vermögens¬ 
und sonstige Verhältnisse. Sind die Eltern noch am Leben? (ev. wann 
verstorben?) Wo wurde der Zögling früher erzogen? Unter weichen 
Verhältnissen? Frühere Arbeitstellen? Seit wann Erwerbsarbeit? 

2 * 


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20 


Hinrichs, 


3. Erbliche Belastung’. Sind bei den Eltern, Großeltern, Geschwistern 
oder sonst in der Familie vorgekommen: Geisteskrankheiten, Nerven¬ 
krankheiten (Epilepsie), Selbstmord, Trunksucht, auffallende Charaktere, 
Verbrechen, Schwindsucht, Syphilis (Aborte). 

4. Frühere Entwicklung, a) körperliche: Erkrankungen der Mutter 
während der Schwangerschaft; Geburt (abnorme Verhältnisse); Ent¬ 
wicklung bei der Geburt; Zahnen; Gehen; Sprechen; Krämpfe (Bett¬ 
nässen, Nachtwandeln); Rachitis und Skrofulöse; Infektionskrankheiten; 
Hautausschläge; Traumen. 

b) Geistige Entwicklung: Als Kind; Schulbesuch; Erfolg desselben; 
Fähigkeit zum Aufmerken und Beobachten; Gedächtnis; Leichte Ermüd¬ 
barkeit; Kenntnisse; Urteilsbildung; Gemütsstimmung; Auffallende 
Eigenschaften; Frühzeitige sexuelle Regungen; Ethische Defekte; Ver¬ 
brecherische Neigungen; Neigung zum Umhertreiben; zum Alkohol. 

5. Besonderheiten aus den Entwicklungsjahren ; 

6. Vorstrafen; 

7. Beginn der Fürsorgeerziehung; Grund: 

8. Weitere Entwicklung in der Fürsorgeerziehung: Körperliche 
Krankheiten (Krämpfe); Führung; Besondere Eigenschaften; Wie oft 
bestraft und weshalb? Entweichungen; Erregungszustände; Beschäfti¬ 
gung; Leistungen; Sonstige Bemerkungen. 

Fragebogen 2. Ärztliche Untersuchung. 

1. Körperlich : Größe, Gewicht. Körperbau; Hautbeschaffenheit; 
Drüsen; Abnormer Haarwuchs. 

Schädel: Kopfmaße; Narben des Schädels; Degenerationszeichen 
am Schädel; am Gesicht; an den Ohrmuscheln; Innervationsstörungen 
der Hirnnerven; Augenlider; Augenbewegungen; Pupillen; Facialis; 
Nase nerkr anku nge n. 

Mundhöhle: Gaumen; Zäpfchen; Rachen; Rachenreflex; Zähne; 
Zunge (Narben). 

Rumpf: Herz; Lungen; Bauchorgane; Reflexe, Bauchdecken-; 
Crema'ster-; Muskelerregbarkeit; Geschlechtsorgane; Urin. 

Extremitäten: Abnorme Stellungen; Spitzfuß, Klumpfuß; Degene¬ 
rationszeichen; Atrophien; Paresen; Kontrakturen; Reflexe der oberen 
Extremitäten; der unteren; Spasmen; Hypo- und Hypertonie; Sensi¬ 
bilitätstörungen; Dermographie; Koordinationstörungen; Ataxie: Augen- 
fußschluß, Kniehackenversuch; Sonstige Bewegungstörungen; Gang und 
Haltung; Sprachstörungen; Sinnesorgane. 

2. Psychisch: Orientiertheit über Ort, Zeit, eigene Person, andere 
Personen, weitere Umgebung: Erkennen von Gegenständen, Farben, 
Bildern; Sinnestäuschungen; Gedächtnis für frische Aufnahme (Merk¬ 
fähigkeit), Gegenstände, Farben. Bilder, Zahlen und Worte, Sätze, ältere 
Vergangenheit; Schulkenntnisse; Rückläufige Assoziationen: Ebbing- 


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UNIVERSITY 0F MICHIGAN 




fWit'hi Mi das Lüodcs-Direktmat der Proviiu dsw 


Wi-Mu-h, M&£«eipwseli<*t: Verpuel». Fähigfctüf ?,u beschreiben. tu 
ein Sprich wyt .zu ÜrHi#6nJ Besitz air Vöar«t«iUiiij|f«^. allgemeinen 
Inhalts. ethischer Vorstellungen. spezifi 


Wahnideen; 

^w:»tti»AoKMhingcii»; t! , tl<riilsfAb%k6it; \'*ärla»gSÄräOüu.g des Ylftreteitimgs- 
• i 1 * miN r.>‘:-i.;':i.li:uttigunv: des Vorst^lmigsahlaufe, Inkohärccjit; Slandhntgs- 
M»*rw«gv.n; !Vrigi»ngen und (iem'hoheitert; XliWUtssUmmong. 


T a f e i 1. AliKwnetrivei hältniHse 


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UNLVERSITY OF-MiCHIGAN' 


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22 


Hinrichs, 


Tafel 2. Häusliche Verhältnisbe. 



3 

Innien II 

Neuendeioh || 

zusammen 


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Neuendeioh | 

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Eltern haben jeglichen Ein* 





Beide Eltern tranken. 

_ 

2 

i 

3 

fluß verloren . 

15 

10 

6 

31 

Alkohol dem Kind zugängl. 

i 

— 

— 

1 

Eltern können nicht erziehe- 





Stiefvater trank . 

i 

— 

— 

1 

risch einwirken . 

12 

2 

1 

15 

Mutter Kupplerin, lebt in 





Eltern kümmern sich nicht 





wilder Ehe. 

— 

1 

i 

2 

um Zögling. 

5 

1 

1 

7 

Mutter der Unzucht ergeb. 

4 

2 

i 

i- 

i 

Eltern tagüber au! Arbeit 

26 

5 

4 

34 

Mutter hat trotz Alters un- 





Eltern beständig auf Reisen 





ehelich geb. 

2 

— 

— 

2 

(Artisten) . 

— 

— 

1 

1 

Mutter hat in der Ehe un- 





Eltern wechseln jede Woche 





ehelich geb. 

1 

— 

— 

i 

die Wohnung. 

— 

1 

— 

1 

Eltern in schlechtem Ruf in 





Eltern beide kränklich.... 

1 

1 

— 

1 

sittl. Bez. 

5 

1 

2 

8 

Mutter kränklich. 

2 

1 

— 

3 

Mutter sittlich verkommen 

1 

— 


1 

„ nimmt Kind in 





Mutter schmutzig u. unsaub. 

1 

1 

2 

4 

Schutz. 

2 

— 

— 

2 

Schmutziges Haus . 

1 

— 


1 

Mutter energielos . 

3 

1 

— 

4 

Ärmliche Verhältnisse betont 

19 

6 

12 

37 

Vater kränklich u. willens¬ 





Große Kinderschar betont 

1 

— 

— 

1 

schwach . 

2 

— 

— 

2 

Eltern verleiten Kinder zum 





Eltern wechseln unvernünf¬ 





Schlechten . 

1 

— 

— 

1 

tig mit Strenge u. Milde 

1 

— 

— 

1 

Eltern halten Kind von der 





Eltern leben getrennt .... 

8 

2 

5 

16 

Schule ab. 

— 

1 

— 

1 

Vater wohnt nur im Logis 

— 

— 

1 

1 

Eltern halten Kinder zum 





Eltern sind geschieden.... 

7 

2 

4 

13 

Diebstahl an . 



] 

1 

Mutter zweimal geschieden 


1 


1 

Vater begeht Sittenverbr. an 





Vater mißhandelt Mutter u. 





den Kindern. 

1 

2 

2 

5 

Kinder. 

1 

— 

- 1 

1 

Kind wurde zu Hause nicht 


1 



Vater lebt in wilder Ehe . 

2 

— 

— 

2 

satt. 

1 

— 

— 

1 

Eltern schlugen sich. 

1 

— 

— 

1 

Verhältn. denkbar ungünst. 

— 

1 

— 

1 

Kind von den Eltern mi߬ 





Verhältnisse günstig. 

— 

3 

1 

4 

handelt . 

3 

— 

2 

6 

Eltern ordentliche Leute .. 

8 

5 

1 

14 

Vater trank . 

22 

9 

12 

43 

Es fehlen jegliche Angaben 

7 

1 

6 

13 

Tafel 

3. 

Erbliche Belastung. 





Direkte erbl. Belastung nach 





Indirekte erbl. Belastung 





den Akten . 

39 

10 

15 

64 

nach den Akten . 

3 

2 

1 

G 

Nach Angabe des Zöglings 





Nach Angabe des Zöglings 





außerdem . 

18 

5 

4 

27 

außerdem .. 

1 

1 

— 

2 


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UNIVERSITY OF MICHIGAN 

































Bericht an das Landes-Direktorat der Provinz Schleswig-Holstein nsw. 23 



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0 

M 

Belastung von beiden Eltern 





Geschwister geisteskrank .. 

1 

— 

— 

1 

nach den Akten . 

9 

6 

4 

18 

verkommen ... 

1 


— 

1 

Nach Angabe des Zöglings 





„ Unzucht. 

1 

2 

1 

4 

außerdem . 

6 

1 

1 

8 

Cousine Krämpfe . 

— 

— 

1 

1 

Nach den Akten: 





Nach eigener Angabe 





Vater Trunksucht. 

22 

9 

12 

43 

außerdem: 





Nervenleiden. 

1 

— 

— 

1 

Vater Trunksucht. 

16 

1 

3 

19 

„ jähzornig, toh, Vaga- 





„ Schwermut . 

1 

— 

— 

1 

bund, gewalttätig, ener- 





„ Schlaganfall . 

— 

2 

1 

3 

gielos usw. .. 

10 

6 

_ 

16 

Schwindsucht. 

3 


2 

ß 

Vater bestraft . 

H 


G 

30 

Mutter gemütskrank. 

2 

— 


2 

schwindsüchtig. 

3 


9 

4 

„ Krämpfe . 

2 

2 

— 

4 

Mutter Trunksucht. 

— 

2 

1 

3 

„ nervös, nervenkrank, 





geisteskrank . 

— 


l 

1 

Weinkrämpfe. 

6 

6 

2 

13 

,, geistesschwach .... 

1 

E 

fl 

1 

Mutter Schwindelaniälle .. 

1 

— 

—* 

1 

nervös, hyster. usw. 

1 

W 


3 

„ Schwindsucht. 

1 

1 

2 

4 

abnorm. Charakter 

9 

W 


12 

Geschwister abnorm . 

3 

1 

— 

4 

., bestraft . 


3 

4 

14 

„ nervenkrank... 

4 

1 

— 

5 

.. Unzucht. 

E 

3 

2 

11 

„ Krämpfe . 

7 

2 

2 

11 

schwindsüchtig .... 

1 


— 

1 

,, Trunksucht ... 

6 

1 

— 

6 

(iroßvater Trunksucht .... 


1 

— 

2 

„ in Fürsorge ... 

3 

1 

1 

6 

Geschwister bestraft. 


— 

1 

8 

„ Zuhälter. 

— 

1 

— 

1 

Geschwister in Zwangserz. 

E 

1 

1 

9 

„ Krüppel. 

1 

1 

— 

2 

., Trunksucht ... 

fi 

— 

— 

1 

Onkel geisteskrank. 

1 

— 

— 

1 

schwachsinnig . 

LL 


— 

1 

Urgroßmutter Krämpfe ... 

— 

1 

— 

1 


Tafel 4. Körperliche Erkrankungen vor Einleitung der Fürsorge¬ 
erziehung (außer Geschlechtskrankheiten, s. Tafel 7). 


Nach den Akten: 

\ ükat hpi . 

51 

22 

l_ 

22 

95 

Spätes Gehen. 

Späte Entwicklung. 

1 

— 

1 

1 

1 

Hvfiroronlinlim 

i' 

1 

Spätes Sprechen. 

1 

_ 

_ 

1 

•Ms Kind Krämpfe . 

ij 

1 

2 

3 

In der Entwickl. zurückgebl. 

4 

— 

1 

5 

.. Bettnässen . 

7 

4 

s 

11 

Körperlich schwächlich ... 

2 

— 

— 

2 

.. „ Nachtwandeln ... 

2 

— 

B 

2 

Rhachitis. 

2 

1 

— 

3 

., „ Schwindelanfälle 

1 

— 


2 

Skrofulöse. 

4 

1 

— 

5 

*tark u. früh entwickelt.. 

— 

1 

B 

1 

Plattfuß. 

1 

— 

— 

1 

Körperl, gut entwickelt... 

1 

! — ( 

B 

1 

Blutarmut. 

— 

2 

1 

3 


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Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 




































































24 


Hinrichs, 



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Gehirnerschütterung. 

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Als Kind Nachtwandeln .. 

2 

1 

— 

3 

Kopfschmerz m. Erbrechen 

1 

— 

— 

i 

„ „ Bettnässen . 

1 

— 

— 

1 

Hysterie . 

— 

— 

i 

i 

„ „ Ohnmächten .... 

B 

— 

2 

2 

Akute Infektionskrankheit. 

18 

— 

i 

19 

Spätes Gehen. 

E 

— 

— 

1 

Rheumatismus. 

1 

— 

— 

1 

Späte Entwicklung. 

s 

1 

— 

1 

Hals- u. Nasenleiden. 

2 

— 

— 

2 

Spätes Sprechen. 

1 



1 

Augenleiden . 

3 

— 

i 

4 

Rhachitis. 

2 

— 


2 

Ohrenleiden . 

2 


— 

2 

Skrofulöse.. 

S 

1 

2 

o 

o 

Bronchialkatarrh. 

1 


— 

i 

Gehirnerschütterung. 

E 

— 

— 

1 

Blutvergiftung. 

1 


— 

i 

Oft Kopfschmerzen. 

i 

3 

6 

13 

Furunkulose. 

1 

i_ 

— 

i 

Akute Infektionskrankheiten 

6 

11 

17 

34 

Knochenbrüche . 

2 

,— ; 

— 

2 

Gelenkrheumatismus. 

3 

1 

1 

5 

Lues hered. 

— 

i 

; i 

— 

1 

Augenleiden . 

■ 

H 

1 

1 

Mastdarmvorfall. 

1 

i- 

— 

1 

Ohrenleiden . 


B 

1 

1 



i 

1 

i 


Magenleiden. 


1 

1 

2 

Nach eigener Angabe 



i 

! 


Blinddarmentzündung .... 

3 

— 

; i 

4 

außerdem: 


1 

1 



Knochenbrüche . 

1 

— 

— 

1 

Als Kind Krämpfe . 

211 

— 

3 

Kopfverletzungen . 

8 

— 

— 

8 

„ ängstliche Träume 

ü 

— 

i 

5 

Nierenentzündung . 

1 

— 

— 

1 

Tafel 

5. 

Schulbesuch und Erfolg. 





Regelmäßig. 

37(25 

23 

86 

rechnen im Zahlenkreise v. 





Unregelmäßig. 

47 

5 

7 

59 

1—100. 

49 

16 

18 

83 

Nicht fertig lesen usw. ... 

8 

* 3 

1 

12 

Volle Volksschulbildung ... 

23 

m 

m 

43 

Fertig lesen, schreiben und 


| 

1 


Höhere Schulbildung. 

1 

— 

i 

2 



1 

i 


Unbekannt. 

3 

i 

u 

4 


Tafel 6. Geistige Abnormitäten u. a. in der Kindheit. 


Angaben fehlen . 

2ll20'l6 

57 

Lernte schlecht (eigene Ang.) 

8 

2 

6 

15 

Begabt n. aufgeweckt . 

4 - 

i 

5 

Rasche Ermüdbarkeit .... 

1 

— 

— 

i 

Beschränkt resp. schwach- 

1 



Zerstreut u. unaufmerksam 

3 

— 


•> 

o 

sinnig. 

15 5 

4 

24 

G edäclitnissch wäche . 

1 

— 

— 

1 

Geistig minderwertig . 

l 1 2 

1 


3 

Teilnahmlos u. stupide ... 

1 



1 

Für nicht normal gehalten 

3 1 

m 

5 

Nachlässig u. unsauber.... 

0 

— 


5 

„Einmal von Verstand“ (ei¬ 

. 



Mit Ungeziefer behaftet .. 

ll 

I 1 

I_ 

| 

2 

gene Angabe) . 

ll — 


i 

Ekelhaft u. viehisch schmutz. 

1 

1 

f- 

1 

1 

Geistig zurückgeblieben ... 

2 — 

m 


Sehr lauec unsauber . 

1 

1 

I- 

| 

| 

l 

Oft eigentümlich . 


_ 

2 

Rascher Wechsel der Stim¬ 



1 


Rechnen fiel besonders 

; 



mung . 

1 



1 

schwer . 

v- 

1“ 

1 

Weinte viel als Kind . 

1 

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Bericht an das Landes-Direktorat der Provinz Schleswig-Holstein usw. 27 



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8 

Eltern beantragen wiederholt 

■ 

■ 

■ 

■ 

Verzögerung infolge Ent- 





die Wiederaufhcbung 

E 

1 

1 

I 

weichung. 

7 




Eltern sehen ihren Sohn 

* 

I 

I 

I 

Verzögerung wegen Ver- 





lieber auf dem Kirchhof. 

E 

■ 

1 

1 

büßung einer Strafe .... 

5 




Antrag früher 1 x ab- 




Ü 

Verzögerung durch Schuld 





geleimt. 

6 




der Polizei . 

i 




Antrag früher 2 x abgelehnt 

3! 

I 


■ 






Tafel 10. Erkrankungen etc. während der Unterbringung. 


Angaben fehlen bei . 

39 

n 

21 

71 

Ekzem. 

3 


__^ 

3 

Blutarmut, Bleichsucht... 

1 

i 

2 

4 

Hautausschlag. 

2 

— 

— 

o 

Drüsen. 

— 

i 

— 

1 

Krätze. 

9 

i 

— 

10 

Halsentzündung. 

2 

8 

— 


Gehirnentzündung . 

— 

— 

1 

1 

Diphtherie. 

— 

2 

— 

2 

Viel Kopfschmerzen. 

2 



2 

Nasenpolypen. 

— 

1 

— 

1 

Halbseitige Kopfschmerzen 

— 

i 


1 

Mittelohreiterung . 

1 


— * 

1 

Nachtwandeln .. 

1 

— 


1 

Augenleiden . 

ö 

1 

— 

6 

Bettnässen . 

4 

— 

— 

4 

Herzleiden . 

1 

1 

— 

2 

Heimweh . 

4 

— 

— 

4 

Lungenleiden . 

4 

1 

— 

5 

Schwermut nach Entbindg. 

— 

l 

— 

1 

Influenza . 

1 


— 

n 

Ohnmächten . 

— 

— 

1 

1 

Kippenfellentzündung . 

— 

1 

— 

ii 

Simulation . 

— 

i 

— 

1 

Darmgeschwür . 

1 

— 

— 

D 

Anlage zu Größenwahn ... 

— 

i 

— 

1 

Bruchoperation . 

1 

-- 

— 

Bl 

Droht sich das Leben zu 





Hämorrhoiden . 

1 

— 

— 

n 

nehmen. 

1 

— 

— 

1 

l’nterleibsleiden. 

— 

— 

2 

2 

Selbstmordversuche . 

5 

— 

1 

6 

Fehlgeburt . 

-- 

— 

1 

m 

Periodisch von schlechtem 





>chleimbeutelent.zündung . 

1 

— 

— 

Kj 

Charakter . 

1 



l 

Knieleiden. 

1; 

I- 

! 

H 

Brutal u. gewalttätig. 

3 

— 

1 

4 

Beingeschwür. 

— 

— 

1 

H 

Tobsuchtsanfälle . 

1 

6 

7 

13 

Rheumatismus. 

1 

1 o 

1 “ 

i 

3 



i 

1 

1 


Tafel 

11. Entweichungen. 












































































28 


Hinricbs, 


Tafel 12. Körperlicher Befund. 



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m 

3 





M 





M 

Ernährungszustand: 

58 

1 



Narbe nach Bruchoperat.. 

2 

_ 


2 

Gut. 

2ö|23 

106 

„ „ Blinddarmop. 

2 

i 

— 

3 

Mittel. 

23 

4 

5 

32 

Narbe am Knöchel (nach 




— 

Mäßig. 

3 

1 

2 

6 

Überfahren). 

1 

— 

— 

1 

Schwächlich u. blutarm .. 

9 

3 

6 

18 

Narben nach Messerstichen 

2 

— 

i 

3 

Drösenschwellung . 

Narben nach Drüsenoperat. 

21 

3 

5 

2 

8 

2 

34 

7 

Tätowierungen 1—3. 

4—6. 

29 

8 


i 

29 

Q 

Sonstige Zeichen vor Skro¬ 
fulöse .. 

3 


1 

4 

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,, mehr. 

5 

2 



5 

2 

Spitzfuß angedeutet. 

1 



1 












Plattfuß . 

9 

— 

— 

9 

Klagen über Herzklopfen.. 

5 

8 

3 

16 

X-Beinc . 

7 

— 

_ 

7 

Veränderungen am Herzen 

15 

— 


15 

Kyphoskoliose . 

1 


— 

1 

Flache, schmale Brust.... 

8 

— 

— 

8 

Sonstige Zeichen von 





Lungenkatarrh. 

7 

— 

— 

7 

Rhachitis . 

11 


2 

13 

Asthma . 

1 

— 

1 

2 

Kariöse Zähne in größerer 





Kurzsichtigkeit . 

8 

1 

3 

12 

Zahl . 

18 

4 

6 

28 

Weitsichtigkeit . 

1 

— 

— 

1 

Zeichen von Lues bered... 

— 

2 

1 

3 

Sonstige Augenleiden. 

4 

4 

4 

12 

Zeichen von frischer Lues .. 

— 

1 

2 

3 

Schwerhörigkeit . 

3 

— 

2 

o 

Unbedeutende Kopfnarben 

9 

1 

1 

11 

Sonst Ohrenleiden . 

7 

1 

1 

9 

Empfindl. Kopfnarben .... 

2 


— 

2 

Nascnleidcn . 

12 

2 

5 

19 

„ „ mit 





Halsleiden, chronisch . 

9 

9 

6 

24 

Knochenimpression . 

3 

j — 

— 

3 

„ akut . 

10 

3 

2 

15 

Unbedeutende Narben im 


! 



Mandeln entfernt . 

— 

2 

1 

O 

O 

Gesicht . 

5 

: 2 

4 

11 

Hydrocele . 

1 

— 

— 

l 

Erheblichere Narben im 





Krampfadern . 

1 

— 

— 

l 

Gesicht . 

2 


— 

2 

Ekzem . 

— i 

1 

— 

l 

Narbe nach Operation des 





Alopecia arcata . 

i! 

— 

— 

l 

Warzenfortsatzes . 

Eingesunkene Nase mit 

2 

' 1 

i 

1 

— 

3 

Starke Obstipatio . 


1 


l 

Narbe (nach Unfall) ... 

2 

|— 

— 

2 







In der Entwicklung allge¬ 
mein zurückgeblieben ... 

6 

1 

1 

1 1 

8 

Andeutung von Azteken¬ 
schädel . 

2 

1 

2 

Schädelumfang unter 53 cm 

9 

41 3 

16 

Sehr niedrige Stirn. 

i 

2j 2 

5 

„ über 58 cm 

4 

-1 1 

5 

Fliehende Stirn. 

12 

3| 2 

17 

Hydrocephalus. 

5 

r- 1 

6 

Hinterhaupt abgeflacht.... 

3 

l 

9 


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Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 











































Wdrt «•« »lA« f*«Ue$>nit*Vtorat der Prornnz Schleswjg-Holsttjin aaw. 20 


rfa?<>n-.i-.luuU'. ............ j 

angoJeutet.. ' — j— ] 
Ohrläppchen.. afige\\'ach'«(\o; :V 2Ö! ?b 
Ohrmuschel \voH. iihsU-li«rxi 

wohig. 

DMWillSiciiiir^ • 1^/:; 6j 

firHcUanfag»? • np-4 

Fiwise .... VirW^VV:*-*'*' 1 U* <r4 

HypnspacU«* ... -J 

Iüyptojt&Lsmu» . . . . . v , i 5 v -3 — \ 
GesehJeebtsergaac Auffallend I 
wenig ontwiritelt..,,. -i —| 
Gehäuft* ‘Eiitariuilgszeidiön j$j'|| 


Vggdft wrät aasf‘inn.H«Hvnil«ii 
SfäshEsker . .....,..,...... 

:*ip enge lifcpatiwr 

.. . : . 

' f-rt-aiii Ui'ir .. 


.'tfebneppe ......... 

yswrttfabCb. verwachse« . 

: /'»*. ht ... i......... 

i'ijrrJtift&f »i&tb. v»t*p.rt>ig. 


,-ettß«j iiwh (t: schmal 


T a i »-:j; 2 4. Inuervationsstorungen 


.•Itösmet««; jfleigcifnn^ ilib 
Beften» .''.:i *' . 

Trip itefks* . .,,. 

r »atr«äex<i gesteigert ... 
MtfellMifißexfe .?cbr -ge-sW'%. 
^iWUmflexe »kififc *<n*ico* 
toten 

^<!?ÜWfcioiUV* .. 

’;iä$öüü*. «ucHleutet..... 
Oskbs UagMcb iitnervim 
%*fsa> «tsw«. (inirkemp- 


K&bhipuulies; fohlt........ 

Zäpfchen schief ....... ( >.. 

Auflstelgende Rote......p.: 

Demographie ,. ü *Vgr i>; 
Muskeleiregbarkeit lebhaft 
Allg. Hypotonie .......... 

Schmerzet«pfin«uns herab - 
. g«t«<G-.r t .. .. 

OV*-i<f U. .. ... ......... . 

{(•ürtfelsdi atme»? .. . . .. >.. 
t)piaÜintoi\«t- .»*.... *... * 
äuget hmt/d.... 

it?vind»{gy:ftUtl ... . . -- 

füituhen» voi •io« Am;:' <• 
Lt>}flHt;,rni ....... , 

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^n?rtr’trstoruM.gCl9 (StCtfejhfil 
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Gebäutte 
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;, ^Ö«s. «reff. v'.. 


4vr ZtUigv 

' 'A; . .%' HATjIJc ...v. ..'. 

vdlflni, äjü gstnißB Körper 
•^eareflex sehr lebhaft . 

?. träge • •. v. *■.. i 


UoieivatKiiusst-ij 


Go gle 














30 


Hinrichs. 


Tafel 15. Geistige Abnormitäten. 



© 

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§ 

I 

Neuendeich 

zusammen 


Üf 

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S 

Innien 

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S 

s 

«i 

s 

M 

Orientiertheit über eigene 





Ethische Vorstellungen man- 





Person ungenau. 

2 

1 

i 

4 

gelhaft. 

35 

15 

l2 l 

62 

Orientiertheit über andere 





Krankhafte Eigenbeziehung 

2 

_ 

i 

3 

Personen ungenau. 

25 

2 

i 

28 

Zeitw. Sinnestäuschungen.. 

3 


i 

4 

Orientiertheit über weitere 





Konfabulieren . 

1 

1 

3 

5 

Umgebung ungenau. 

12 

6 

7 

25 

Ängstl. Vorstellungen. 

1 


— 

i 

Zeitl. Orientiertheit nicht 





Zwangsvorstellungen. 

1 

— 

— 

i 

vorhanden . 

3 

1 

— 

4 

Zwangsmäß. Lachen. 

1 

— 


i 

Zeitl. Orientiertheit ungenau 

22 

10 

6 

38 

Triebartiges Fortlaufen (nach 





Erkennen von Gegenständen 





Angabe des Zöglings) ... 

3 

_ 

— 

3 

mangelhaft. 

18 

3 

5 

26 

Triebartiges Stehlen (nach 





Erkennen von Farben man- 





Schilderung des Zöglings) 

4 

— 


4 

gelhaft '.. 

11 

— 

— 

11 

Gezwungene Stellungen ... 

1 

— 

— 

1 

Erkennen von Bildern rann- 





Unbeholfenheit. 

3 

— 


3 

gelhaft. 

13 

10 

7 

30 

VArlocrpno TTnmViA „ . 

4 

1 

1 

6 

Merkfähigkeit herabgesetzt 

21 

8 

9 

38 

Zappeligkeit. 

i 



i 

Gedächtnis mangelhaft ... 

8 

6 

5 

19 

Ängstlichkeit . 

i 

3 

3 

f - * 

4 

Schulkenntnisse: Addieren 





Albernheit. 

2 

3 

2 

4 

fehlerhaft . 

4 

3 

3 

10 

Kindliches Lächeln. 

3 

1 


4 

Einmaleins fehlerhaft. 

14 

9 

10 

33 

Flegeleien (während der 



1 


„ immöglich. 

3 

4 

— 

7 

Untersuchung). 

4| 

— 

— 

4 

Dividieren richtig. 

48 

11 

13 

72 

Verlangsamung des Vorstel¬ 





Bruchrechnung richtig.... 

22 

— 

2 

24 

lungsablaufs. 

23 

7 

5 

35 

Lesen mangelhaft. 

17 

8 

j 

5 

: 

30 

Leichte Hemmung . 

4 

1 

i 

6 

Rückl. Assoziationen man¬ 





Stärkere Hemmung . 

"| 

1 

— 

1 

gelhaft . 

20 

?! 

9 

36 

T.oinliffl FnniidhjH’lfftil'_ 

3 

4 

3 

10 

Ebbinghaus mangelhaft ... 

31 

ll|ll 

53 

Flüchtigkeit . 

7, 

3 

2 

12 

Masseion ,. 

22,10 

6 

38 

Zerstreutheit. 


2 

— 

2 

Ziehen 

16 

5 

7 

28 

Geschwätzigkeit. 

2 

— 

— 

2 

Fähigkeit zu beschreiben 





Stärkere Inkoliärenz. 

3 

— 

2 

5 

mangelhaft. 

30; 14 13 

57 

Moralische Defekte stark 





Fähigkeit zu definieren man- 





hervortretend. 

10 

11 

7 

28 

gelhaft. 

28; 14 10 

52 

Erregungszustände . 

1 

6 

7 

13 

Fähigkeit ein Sprichwort zu 





Noch Krämpfe . 

1 

1 


o 

erklären mangelhaft .... 

301310 

53 

Nachtwandeln. 

1 

—1 

1 

1 

Vorstellungen allg. Inhalts 




7 

„ plötzliches Aufschreien 

1 


1 

l 

mangelhaft. 

18 16 13 

47 

Alpdrücken, ängstl. Träume 

1 

1 

2 

4 

Fachkenntnisse mangelhaft. 

11 

4 


19 

Noch Bettnässen. 

3 

l 

! 

3 

Urteilfähigkeit mangelhaft 

3114 13 

5S 

Nägelkauen. 

— 

— 1 

2 

2 


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UNIVERSITY OF MICHIGAN 
















































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32 


II inrichs. 


3. Cramer, Bericht an das Landesdirektoriutn in Hannover über die 

Ergebnisse der psych.-neurol. Untersuchungen der Fürsorge - 
Zöglinge. Klin. Jahrbuch 1907, Bd. 18, S. 1. 

4. Derselbe, Bericht an das Landesdirektorium über die psych.-neurol. 

Untersuchung der schulentlassenen Fürsorgezöglinge. Allg. 
Ztschr. f. Psychiatrie 1910. Bd. 67, S. 493. 

5. Cimbal, Die vorbereitenden Ermittelungen beim Jugendgerichts- und 

Fürsorgeverfahren. Sonderabdruck aus Zentralbl. f. Vormund¬ 
schaftswesen, Jugendgerichte u. Fürsorgeerziehung. 

6. Dannemann, Psychiatrie u. Hygiene in den Erziehungsanstalten. 

Hamburg 1910. 

7. Derselbe, Die Fürsorge-Erziehung. Juristisch-psychiatr. Grenz- 

fragen 1906. Bd. 3, Heft 8. 

8. Fuld, Die Zwangserziehung. Ebendaselbst. 

9. Gaupp, Über moralisches Irresein u. jugendliches Verbrechertum. 

Jurist, -psych. Grenzfragen. 1904. Bd. 2, Heft 1/2. 

10. Heller, Schwachsinnigenforschung, Fürsorgeerziehung und Heilpäda¬ 

gogik. Zwanglose Abhandlungen aus dem Gebiete der Nerven- 
u. Geisteskr. 1909. Bd. 8, Heft 6. 

11. Kluge, Über die Mitwirkung des Psychiaters bei der Fürsorgeerziehung. 

Allg. Zeitschr. f. Psych. 1907. Bd. 64, S. 473. 

12. Derselbe, Über die Unterbringung u. Behandlung psych. abnormer 

Fürsorgezöglinge. Vortrag, geh. a. d. Jahresvers. des Deutsch. 
Vereins für Psych. zu Dresden 1905. Monatsschr. f. Kriminal- 
psych. u. Strafrechtsref. 1905, II, 4. 

13. Derselbe, Die Behandlung der schwer erziehbaren Fürsorgezöglinge. 

Vom psychiatr. Standpunkt. Vortrag, geh. a. d. allg. Fürsorge- 
Erziehungs-Tag zu Rostock 1910. 

14. Knecht, Die Fürsorge-Erziehung in Pommern. Psych.-neurol. Wochen¬ 

schrift 1910/11. Jahrg. 12, S. 179. 

15. Laquer, Über die Bedeutung der Fürsorgeerziehung für die Behand¬ 

lung Schwachsinniger (nebst Diskussion: Moeli, Neisser). Vor¬ 
trag a. d. Jahresvers. d. Deutsch. Vereins für Psych. Jena 1903. 
Allg. Ztschr. f. Psych. Bd. 60, S. 961. 

16. Derselbe, Die ärztl. Feststellung der verschiedenen Formen des 

Schwachsinns in den ersten Schuljahren. München 1909. 

17. Mönkemöller, Korrektionsanstalt und Landarmenhaus. Leipzig 1908. 

18. Derselbe, Bericht an das Landesdirektorium über die Ergebnisse der 

psych.-neurol. Untersuchung der schulpflichtigen Fürsorge¬ 
zöglinge. Ztschr. f. d. Erforschung u. Behandlung des jugendl. 
Schwachsinns 1910. Bd. 4. 

19. Derselbe, Geistesstörung u. Verbrechen im Kindesalter. Sammlung 

von Abh. a. d. Gebiete der pädag. Psychologie u. Physiologie 
1903. Bd. 6, Heft 6. 


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Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Bericht an das Landes-Direktorat der Provinz Schleswig-Holstein usw. 33 

20. Piek, Über einige bedeutsame Psycho-Neurosen des Kindesalters. 

Zwangl. Abh. a. d. Geb. der Nerven - u. Geisteskr. Bd. 5 Heft 1. 

21. Redepenning, Die psych. Beobachtungstation für Fürsorgezöglinge 

in Göttingen. 1910. Allg. Ztschr. f. Psych. Bd. 67, S. 520. 

22. Rixor, Ergebnisse der psych.-neurol. Untersuchung der in den An¬ 

stalten befindl. über 14 J. alten Fürsorgezöglinge Westfalens. 

1909. Ztschr. f. d. Erforschung u. Behandl. des jugendl. Schwach¬ 
sinns Bd. 3 Heft 2. 

23. Schultz, A., Der Meineidprozeß Kolander u. die Fürsorgeerziehung. 

1910. Monatsschr. für Kriminalpsych. u. Strafrechtsreform. 
Jahrg. 6 Heft 10. 

24. Seelig, Psychiatrische Erfahrungen an Fürsorgezöglingen. Vortrag, 

geh. a. d. Sitz, des psych. Vereins zu Berlin. 1906. Allg. 
Zeitschr. für Psych. Bd. 63, S. 506. 

25. . Seiften, Wie weit ist die Mithilfe des Psychiaters in der Fürsorge¬ 

erziehung notwendig usw.? Vortrag, geh. auf dem internal. 
Kongreß der Fürsorge für Geisteskranke zu Berlin 1910. 
Psych.-neurol. Wochenschr. Jahrg. 12, S. 363. 

26. Siefen, Über die unverbesserlichen Gewohnheitsverbrecher. 1905. 

Jurist.-psych. Grenzfragen. Bd. 3 Heft 5. 

27. Stelzner, Die psychopathischen Konstitutionen. Berlin 1911. 

28. Tippei, Fürsorgeerziehung und Psychiatrie. Vortrag, geh. a. d. 

Jahresvers. des Deutsch. Vereins f. Psych. zu Dresden 1905. 
Allg. Zeitschr. f. Psych. Bd. 62, S. 583. 

29. Vogt, H., Über die Fürsorge, Pflege u. Unterbringung Schwachsinniger, 

Epileptischer u. geistig Minderwertiger. Vortrag a. d. 3. internat. 
Kongreß für Irrenpflege in Wien 1908. Auszug. Neurol. 
Zentralblatt Jahrg. 27, S. 1166. 

30. Weygandt, Leicht abnorme Kinder. Zwangl. Abhandl. a. d. Geb. der 

Nerven- u. Geisteskr. 1905. Bd. 6, Heft 1. 

31. Derselbe, Der Entwurf einer Strafprozeßordnung usw. in ihren Be¬ 

ziehungen zur Fürsorge für normale u. schwachsinnige Kinder. 
1909. Zeitschr. f. d. Erf. u. Beh. des jugendl. Schwachsinns. 
Bd. 3 Heft 2. 

32. Ziehen, Die Geisteskrankheiten das Kindesalters. Berlin 1902. 


Zeilaobrüt für Psychiatrie. LXli. 1. 


3 


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Nene Aufgaben der Psychiatrie in Baden. 1 ) 

Von 

Medizinalrat Dr. Max Fiseher, 

Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Wiesloch. 

Ln Jahre 1858, als die „Gesellschaft Deutscher Naturforscher 
und Ärzte“ zum erstenmal in Karlsruhe sich zusammenfand — es war 
die 34. Tagung — war die Irrenfürsorge des Landes auf die beiden An¬ 
stalten Pforzheim, eröffnet im Jahre 1322 als „ein Asyl für arme und 
sieche Kranke und Irren“ — also eines der ehrwürdigsten Denkmäler 
des Irrenwesens überhaupt — und die damals neue Irrenanstalt 
Illenau, eröffnet 1842, gestellt. Illenau stellte zu jener Zeit die mo¬ 
derne Heilanstalt dar; nach ihrem Muster, dem einer Korridoranstalt 
und sogenannten relativ verbundenen Heil- und Pflegeanstalt, wurden 
Jahrzehnte hindurch weiterhin die Anstalten in Deutschland und 
darüber hinaus gebaut. Ihr Schöpfer war der große Reformator und 
Organisator des Irrenwesens in Baden, Christian Friedrich Wilhelm 
Boiler, dessen Einfluß nicht nur über Deutschland, sondern über 
ganz Europa sich erstreckte. Auf der damaligen Karlsruher Tagung 
hielt Roller seinen berühmten Vortrag „Über Seelenstörungen in ihrer 
Beziehung zur Strafrechtspflege“. Die Anstalt Illenau wurde im 
Anschlüsse an die Versammlung von der elften Sektion: „für Psychia- 
trik“ besucht. 

Seitdem, also im Verlauf von über 50 Jahren, hat wie überall 
so auch in Baden die Irrenfürsorge und speziell das Anstaltweeen 
einen enormen Aufschwung genommen. Während im Jahre 1858 
zwei staatliche Anstalten mit 900 Plätzen zur Verfügung standen, 

x ) Vortrag, gehalten auf der „83. Versammlung Deutscher Natur¬ 
forscher und Ärzte“ in Karlsruhe am 25. September 19H, in erweiterter 
Form. 


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UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Neue Aufgaben der Psychiatrie iu Baden. 


35 


sind es jetzt sechs Asyle mit rund 4000 Plätzen, also eine Steigerung 
auf das 4*4fache. Und zwar sind unterdessen zu jenen beiden An¬ 
stalten, abgesehen von deren eigener Erweiterung, neu hinzugekommen: 
die Schaffung der beiden Irrenkliniken in Heidelberg (1878) und in 
Freiburg (1886), mit die ersten ihrer Art, ferner die große Heil- und 
Pflegeanstalt im Pavillonstil bei Emmendingen (1889) und die letzte 
Schöpfung auf diesem Gebiete, die Anstalt bei Wiesloch, eröffnet 1905, 
deren völliger Ausbau gegenwärtig noch betrieben wird. 

Auf die übrigen Errungenschaften der neueren Zeit im Irren¬ 
fürsorgewesen — Irrenfürsorgegesetz mit VollzugsverOrdnung, neue 
Regelung des Aufnahmewesens und der Aufnahmebezirke, Verbesse¬ 
rung der Gehaltverhältnisse der Anstaltbeamten usw. — kann hier 
nicht näher eingegangen werden; sie sind von mir schon an anderen 
Orten behandelt worden. 

Damit wenden wir uns den künftigen Notwendigkeiten der Irren¬ 
fürsorge in unserem Lande zu. Nach wiederholten Untersuchungen 
(vgl. die Denkschriften von 1901 und 1909) haben wir in Baden, um 
uur zu einigermaßen geordneten Zuständen in der Irrenversorgung, 
die etwa bei einem Verhältnis von 3 Plätzen in wirklichen Irren¬ 
anstalten auf 1000 Landeseinwohner zu erwarten wären, zu gelangen, 
noch eine große Anzahl von Anstaltplätzen, einige Tausende, nötig. 

Das nächste Projekt, das solche schaffen soll, ist die Heil- und 
Pflegeanstalt bei Konstanz, die gegenwärtig im Bau begriffen 
ist und im Herbst 1913 mit 500 Betten eröffnet werden soll, während 
ihr im Jahre 1917 zu erwartender Ausbau eine Anstalt von im ganzen 
910 Plätzen bringen wird. Die neue Anstalt liegt etwa l 1 /* Stunden 
westlich von Konstanz bei dem Dorfe Wollmatingen, nördlich der 
Bahnlinie Konstanz-Singen, gerade oberhalb der Station Reichenau, 
auf sanft ansteigendem Gelände in prachtvoller Gegend am Untersee — 
gegenüber die Insel Reichenau mit ihren alten Kirchenbauten, unten 
der herrliche See, östlich die Stadt Konstanz und die Schweizer Alpen, 
westlich die Berge des Hegaus - kurz, wohin das Auge schweift, land¬ 
schaftlich ungemein schöne und liebliche Eindrücke. In nächster 
Nähe der Anstalt sind außerdem schöne Waldbestände vorhanden. 

Die Situation schmiegt sich dem Gelände an und ist bedeutend 
regelmäßiger angeordnet als die der Wieslocher Anstalt. Sie ist wieder 
eine Pavillonanstalt nach dem Wieslocher Muster; die Bautypen weisen 

3 * 


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36 


Fischer, 


jedoch eine geschlossenere, vielfach rechteckige Form auf. Die Anstalt 
besteht aus 26 einzelnen Pavillons für die verschiedenen Krankenkate¬ 
gorien mit im einzelnen 10 bis 25 bis 60 Betten. 

Das Verwaltungsgebäude enthält im Obergeschoß zugleich den Fest¬ 
saal, während die Kirche als ein besonderes Gebäude erstellt wird. Koch- 
und Waschküche, ein sehr schönes und zweckmäßiges Projekt, sind in ein 
Haus zusammengebaut; das Werkstättengebäude ist mit der Bäckerei 
verbunden. Das Wasser wird aus dem Überlinger See durch ein Pump¬ 
werk herangeholt, da eine andere Wasserversorgung nicht möglich war. 
Die Abwässer werden in den Untersee geführt. Zu diesen und den übrigen 
Verwaltungs- und Wirtschaftgebäuden kommen noch hinzu; 7 Beamten¬ 
wohnhäuser mit etwa 22 Dienstwohnungen für Direktor, Ärzte, Ober¬ 
personal, Wartpersonal und Werkmeister. Im ganzen sind es 26 Kranken- 
bauten, 11 Verwaltungs- und Wirtschaftbauten, 7 Beamtenwohngebäude, 
also zusammen 44 Anstaltgebäude. Die Bausumme ist nach dem end¬ 
gültigen Projekte auf 5,8 Millionen Mark veranschlagt, also auf etwa 
6000 Mk. pro Bett. 

Die neue Anstalt soll zugleich als Aufnahmeanstalt für die See- 
gegend, Kreise Konstanz und Viilingen, wie auch als Übernahmeanstalt 
für die weiterhin anschließenden Kreise Offenburg, Waldshut, Lörrach und 
Freiburg und dadurch zur Entlastung der Irrenklinik in Freiburg und 
der Anstalt Illenau dienen. 

Bei diesem Anstaltneubau, der uns, wie gesagt, bis 1913:500 und 
bis 1917 weitere 400, im ganzen 900 Anstaltplätze schafft, sind wir 
jedoch nicht stehen geblieben. Wir haben uns vielmehr sofort an ein 
neues Projekt, das einer großen Anstalt fttr das Mittelland, 
die Kreise Baden und Karlsruhe, gemacht, für welche Gegend eine 
Erweiterung der Anstaltfürsorge vom regionären Standpunkte aus 
dringend nötig ist, da Illenau allein hier nicht ausreichen kann. Außer¬ 
dem soll damit die veraltete Pforzheimer Anstalt, zu deren Ersatz 
bisher die neuen Anstalten Emmendingen und Wiesloch nicht aus¬ 
gereicht haben und auch die neue Anstalt in Konstanz sicher nicht 
ausreichen wird, endlich einmal aufgehoben werden. Schließlich gilt 
es die seit lange angestaute Überfüllung sämtlicher anderen Anstalten 
endgültig zu beheben. 

Für alle diese Zwecke waren allein schon auf das Jahr 1920: 
1700 neue Anstaltplätze erforderlich. W r ollte man auch für die weitere 
Zukunft etwas vorbauen, so kam man auf 2000 Plätze, also zwei voll¬ 
ständige weitere Anstalten. 

Dabei drängte sich angesichts der Überlegung, daß diese beiden 
Anstalten, sollten sie ihren Zweck fttr ihr Aufnahmegebiet richtig 


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Neue Aufgaben der Psychiatrie in Baden. 


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erfüllen, doch nur auf geringe Entfernung voneinander hätten an¬ 
gelegt werden dürfen, sofort der Gedanke auf, die beiden Anstalten 
in e i n e m großen Komplex, einer ausgedehnten Zentrale 
für Irrenversorgung zu vereinigen. 

Wir haben dies durchaus nicht gerne getan; auch wir sind durch¬ 
aus der Ansicht, daß kleinere Asyle sowohl wegen der regionären Ver¬ 
teilung der Irrenfürsorgeaufgaben wie auch wegen des inneren ärzt¬ 
lichen Betriebs eigentlich den Vorzug verdienen. Hier aber zwangen 
die Verhältnisse mit aller Macht zu der bezeichneten Lösung; sie ist 
für diesen speziellen Fall als die richtige anzusehen. 

Für ein engumgrenztes und dichtbevölkertes Gebiet mußte eine 
große Plätzezahl in raschem Tempo geschaffen werden: vom regio¬ 
nären Standpunkt aus war also eine Trennung in zwei gesonderte 
Anstalten nicht nötig. 

Ein Hauptgrund für diese Entscheidung sind dann aber auch die 
finanzpolitischen Erwägungen gewesen. 

Ein kleines Land von 2,14 Millionen Einwohnern, das in der 
relativ kurzen Zeit von 20 Jahren drei Anstaltprojekte von zusammen 
3000 Plätzen mit einer Bausumme von etwa 17 Millionen Mark ins 
Leben ruft und sich nun nochmals vor beinahe die gleich große Auf¬ 
gabe gestellt sieht, muß sich ein solches Unternehmen unter größter 
Rücksichtnahme auf die Steuerkraft seiner Bevölkerung zurechtlegen. 
D. h., das ganze Projekt muß so einfach und so sparsam, als es ohne 
Hintansetzung der ärztlichen Notwendigkeiten überhaupt möglich ist, 
gestaltet werden. 

Auch dadurch ergab sich die Notwendigkeit der Zusammen¬ 
legung der beiden Anstalten in ein großes Ganze von selbst. Denn 
eine derartige Projektgestaltung mußte, besonders in den technischen 
und wirtschaftlichen Anlagen der Anstalt, eine wesentliche Verein¬ 
fachung und Verbilligung bringen. Wir sehen diese Entwicklung 
auch an großen allgemeinen Krankenhäusern für körperlich Kranke, 
so z. B. in Großstädten. 

So sehr man sich von jeher in der praktischen Psychiatrie gegen 
derartige Riesenanstalten gesträubt hat, überall ist man trotz aller 
Bedenken in der Wirklichkeit zu ihrer Ausführung gedrängt worden 
und zwar aus denselben Gründen. Und gerade Psychiater, die am 
meisten dagegen waren — ich selbst gehöre dazu — sind Leiter solcher 


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Fischer. 


großen Betriebe geworden. Irrenasyle von 1200 bis 1700 Betten 
werden in großen Provinzen immer mehr zur Regel, und, wo noch 
größere und drängendere Aufgaben der Irrenfürsorge bestehen, z. B. 
bei Großstädten und in dichtbevölkerten Provinzen, gelangt man 
zu Anstaltgebilden von 2000 und 2400 Plätzen. 

Meiner Ansicht nach kommt es bei der Schaffung solcher großen 
Komplexe, wo einmal die Notwendigkeit dazu geführt hat, sehr 
wesentlich auf die Form der inneren Einteilung und auf 
die Organisation des Ganzen an. Hier stand man nun 
vor der Wahl, entweder zwei völlig selbständige Anstalten von je 1000 
Plätzen, jede mit Frauen- und Männerseite zu je 500 Betten, zu bauen 
oder aber ein mehr einheitliches Ganze zu schaffen, bestehend aus 
einer Männeranstalt zu 1000 Plätzen und einer Frauenanstalt zu 
1000 Plätzen. Jedes Projekt hatte seine Vorzüge und Nachteile; war 
bei dem ersten, das nur in einigen zentralen Einrichtungen eine Ge¬ 
meinsamkeit bot, jede Unteranstalt ganz auf sich gestellt und in sich 
abgeschlossen, wie es mehr unsem auf individuelle Behandlung ge¬ 
richteten ärztlichen Intentionen entsprochen hätte, so bot dagegen 
der Betrieb nach außen, die Abteilung der Aufnahmebezirke, die 
praktische Ausübung des Aufnahme Verfahrens, der Verkehr mit dem 
Publikum usw. bei dieser Form der doppelten Anstalt nicht unbedenk¬ 
liche Schwierigkeiten und Komplikationen, die bei der zweiten Form 
der Projektgestaltung von vornherein wegfielen; auch die bauliche 
Anlage erlaubte bei dieser noch eine wesentlich größere Vereinfachung. 
Je mehr man sich mit dem ganzen Projekte beschäftigte, desto über¬ 
zeugender trat die Unmöglichkeit der ersteren Form und die Über¬ 
legenheit der zweiten in der Vereinheitlichung des ganzen Betriebs im 
Innern sowohl wie anch nach außen vor Augen; sie wurde für uns 
die einzig mögliche. 

Bei der weiteren Projektbearbeitung unserer Anstalt hat man 
sich denn auch darauf geeinigt, daß die Anstalt zu teilen sei in zwei 
vollständige Unteranstalten, die eine für 1000 Männer, die andere 
für 1000 Frauen, jede unter einem eigenen Direktor. In der Mitte 
zwischen den beiden Anstalten liegen die gemeinsamen wirtschaft¬ 
lichen und technischen Anlagen und Gebäude. Über dem Anstalt¬ 
ganzen, also über den beiden Unteranstalten und den zentralen Ein¬ 
richtungen steht ein übergeordneter ärztlicher Direktor. Ihm 


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Neue Aufgaben der Psychiatrie in Baden. 


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fällt die einheitliche Führung der Direktions- und Verwaltungs¬ 
geschäfte zu, die sich beschränkt auf die allgemeinen ärztlichen Direk¬ 
tiven und die innere Organisation, auf die oberste zentrale Leitung 
und Administration, auf die hygienische und allgemein psychiatrische 
Durchdringung und Fortentwicklung des ganzen großen Unter¬ 
nehmens. 

Es ist also trotz der Unterteilung in zwei Anstalten von je 1000 
Plätzen die einheitliche ärztliche Leitung des Ganzen, wie sie bei 
einer Krankenanstalt, und sei sie noch so groß, unbedingtes Erfordernis 
ist, gewährleistet, andererseits aber den Direktoren der beiden An¬ 
stalten für Männer und für Frauen die nötige Selbständigkeit durchaus 
gewahrt. 

Man wird einwenden, daß diesem obersten Direktor eigentlich 
eine ärztlich unbefriedigende Stellung zugeteilt wird; dies ist sicher 
zum Teil richtig, aber unvermeidlich. Mit dem eigentlichen Ab¬ 
teilungsdienst, mit der Untersuchung und Behandlung interessanter 
Fälle wird er sich kaum abgeben können. 

Wir glauben aber trotzdem, daß es zu jeder Zeit unter den Irren¬ 
ärzten auch Männer geben wird, die gerade für diese Seite großer 
organisatorischer und administrativer Tätigkeit Verständnis, Neigung 
und Tatkraft genug haben. Wir würden uns ja sonst — von allem 
anderen abgesehen --- vor den juristischen Beamten, die sich in. der 
Staatsverwaltung sowohl wie auch sonst in leitenden Stellungen 
z. B. in der Industrie, in Handel und Verkehr, im Finanz- und Bank¬ 
wesen hervortun, selbst ein Minderwertigkeitszeugnis ausstellen. 
Davor müssen wir uns aber, besonders angesichts der mehrfach zutage 
getretenen Ansicht von dem Rückgänge des Ansehens des ärztlichen 
Standes, in unserem eigensten Interesse sehr hüten. Wir werden 
gegenteils beweisen, daß wir auch diesen organisatorischen und ad¬ 
ministrativen Aufgaben im Krankenfürsorgewesen, die durchaus 
Sache der Ärzte sind und bleiben müssen, vollauf gewachsen sind. 
Im übrigen zeigen die Verhältnisse an allen großen Anstalten, daß 
wir in dieser Entwicklung schon mittendrin stehen und nicht mehr 
zurück können. 

Wir glauben aber auch, daß sich der Direktor eines so großen 
Betriebs je nach seiner Eigenart ein spezielles Gebiet, das ihn inter¬ 
essiert, jederzeit reservieren kann, um es selbst zu bearbeiten; seien 


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Fischer, 


es nun wichtige Verwaltungsfragen, bautechnische oder hygienische 
Probleme, seien es statistische oder ätiologische, z. B. Erblichkeit» - 
forschungen, seien es mehr ärztlich-juristische Untersuchungen z. B. 
in der forensen Psychiatrie, der Gesetzgebung oder aber solche der 
immer wichtiger werdenden sozialen Psychiatrie — kurz an Stoff 
wird es ihm sicher nie fehlen, weit eher an der nötigen Muße. 

Für einen Nachteil dieser großen Anstalt wird man auch die 
Einförmigkeit des ärztlichen Dienstes ansehen; 
die einen Ärzte wären fortdauernd nur auf Männerabteilungen be¬ 
schäftigt, die andern bei den Frauen; man kann davon eine Einseitig¬ 
keit in der Ausbildung und Betätigung der ärztlichen Kräfte be¬ 
fürchten. Wir sind der Ansicht, daß diesem Nachteil sehr wohl durch 
bestimmte Richtlinien in der ärztlichen Dienstorganisation entgegen¬ 
gewirkt werden kann. Wir meinen damit hauptsächlich einen regel¬ 
mäßigen Wechsel der Ärzte zwischen den beiden Anstalten, bei den 
älteren Ärzten in einem längerfristigen Turnus, während die Hilfe¬ 
ärzte schon alle ein bis zwei Jahre getauscht werden könnten. Auf 
diese Weise käme vielleicht sogar ein rascherer Wechsel zustande 
als vielfach bei den bestehenden Anstalten; bleiben doch hier manche 
Ärzte auf viel längere Zeit, ja sogar zeitlebens bei einer Geschlechts¬ 
seite oder sogar auf derselben Abteilung haften. Auf der anderen 
Seite hat ein so großes Ärztekollegium — man wird auf 18 bis 20 Ärzte 
kommen — auch seine großen Vorteile in der Vielheit der vorhandenen 
ärztlichen Individualitäten und Fähigkeiten, in dem Austausch und 
dem Reichtum an täglichen Erfahrungen, in der Arbeit an einem 
nicht zu erschöpfenden Krankenmateriale, in der Erziehung und Zu¬ 
sammenfassung aller Kräfte zu einem großen Werke der Kranken¬ 
fürsorge. 

Daß ein derartiger Großbetrieb, gerade bei einer Krankenanstalt 
und besonders bei einem Irrenasyl, auch große Schattenseiten haben 
kann, das wird sich niemand verhehlen. Wir halten es aber für mög¬ 
lich, daß durch eine gesunde und wohldurchdachte Organisation im 
Innern und nach außen diese mancherlei Schwierigkeiten ausgeschaltet 
oder doch wenigstens auf ein Maß, wie es auch andere kleinere Insti¬ 
tutionen dieser Art zu bekämpfen haben, gemindert werden können. 
Und es wird vor allen Dingen gerade die vornehmste Aufgabe des 
übergeordneten ärztlichen Direktors sein müssen, unausgesetzt darauf 


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Neue Aufgaben der Psychiatrie in Baden. 


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zu denken und daran zu arbeiten, wie derartige üble Folgen überhaupt 
zu vermeiden seien, oder, wo sie dennoch zutage treten, ihren Ursachen 
nachzugehen und sie auszumerzen. Wenn darauf der Schwerpunkt 
der Leitung gelegt wird, dann können wir hoffen, daß unser Unter¬ 
nehmen eine gesunde und fortschrittliche Entwicklung nehmen wird. 

Als geeignetste Lage für diese unsere neue, die siebente badische 
Heil- und Pflegeanstalt käme etwa die Gegend um Rastatt, weil 
ungefähr der Mitte des Fürsorge- und Aufnahmegebiets entsprechend, 
in Betracht 1 ). Wir legen die Anstalt absichtlich an die Hauptbahnlinie 
des Landes, in die Nähe einer Schnellzugstation und eines Eisenbahn¬ 
knotenpunktes, in die weitere Umgebung einer größeren Stadt (Ra¬ 
statt); auch die Großstadt Karlsruhe ist leicht erreichbar. Sie liegt 
zwar auf dem Lande, wir vermeiden aber eine allzu abgeschiedene 
ländliche Lage; so verlangen es die mancherlei materiellen und ide¬ 
ellen Interessen der Anstalt, ihrer Bewohner und ihrer Beamten¬ 
schaft. 

Als Bausumme wird man auch bei sparsamer Projektgestaltung 
mindestens 10 Millionen Mark vorsehen müssen. 

Was nun die bauliche Anlage unseres Projektes für 2000 
Kranke anlangt, so haben wir in die Mitte als Achse zwischen beiden An¬ 
stalten — einer Männeranstalt zu 1000 Betten und einer Frauenanstalt 
zu 1000 Betten — die beiden gemeinsamen Verwaltungs- und Wirtschaft¬ 
gebäude, technische Anlagen usw. gelegt. 

Als solche zentralen gemeinsamen Einrichtungen können gelten: 
i. Pförtnerhaus, 2. Verwaltungsgebäude, 3. Kirche, 4. Gesellschafthaus, 
5- Kochküche, 6. Waschküche, 7. Magazingebäude, 8. Werkstätten, 9. 
Bäckerei, 10. Schlachthaus, 11. Kühlanlage, 12. Feuerlöschgerätehaus, 
13. Fernheizwerk, 14. Elektrizitätswerk, 15. Gutshof, 16. Gemüsegärtnerei, 
17. Gewächshaus, 18. Wasserversorgung und Hochbehälter, 19. Klär¬ 
anlage und Abwässerleitung, 20. Friedhof, 21. Sektionshaus. 

Es ist also eine ganz erkleckliche Anzahl von Anlagen und Gebäuden, 
die man bei der Ausgestaltung eines solchen Doppelprojekts nur einmal, 
wenn auch in vergrößerten Maßen, zu erstellen hat. 

Dazu kommen sodann die zahlreichen Beamtenwohnge¬ 
bäude, die wenigstens zum Teil beiden Anstalten gemeinsam an* 
gehören. 

Wir gelangen zum wichtigsten Teile unserer Anstalt, den Kranken¬ 
häusern, deren Anlage bei beiden Unteranstalten ungefähr gleich sein 
kann. 

') Unterdessen ist bei Station Muggensturm in der Nähe von 
Rastatt ein großes u. schönes Gelände gewählt u. angekauft worden. 


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Fischer, 


Selbstverständlich können wir ein solches Riesenunternehmen nicht 
in lauter kleine Pavillons von 20 bis 30 Plätzen auflösen; wir kämen sonst 
auf eine Anzahl von 80 bis 100 Krankenhäusern. Wir müssen vielmehr 
an die Erstellung größerer Krankenpavillons und selbst langgestreckter 
Bautrakte herangehen, wie ich sie früher schon empfohlen habe. 

Welche Krankenkategorien in diesen größeren Häusern, die wir 
auf etwa 80 bis 100 bis 150 Plätze ansetzen möchten, am besten beherbergt 
werden, mag dahingestellt bleiben. Man kann an eine größere kli¬ 
nische Zentrale, ähnlich den Irrenkliniken selbst, mit Unterteilung 
in mehrere Wachstationen und Aufnahmeabteilungen denken; ebenso 
kann man die große Menge der mehr chronischen und stumpfen Kranken, 
die aber arbeitfähig sind und meist unter dem Namen der Halbruhi- 
gen laufen, in diesen größeren Pavillons ohne jedes ärztliche Bedenken 
unterbringen, wenn nur eine geschickte Raum Verteilung und Grundri߬ 
anordnung mit getrennten selbständigen Unterabteilungen stattündet. 

Und drittens kann ein derartiger großer Bautrakt verwendet werden, 
um eine größere Anzahl von Unterabteilungen für Bettlägerige 
jeder Art aufzu nehmen. Wir denken dabei an Katatoniker, Abstinierende, 
Gebrechliche, Sieche, Paralytiker, Alterskranke, an körperlich Kranke 
jeder Art, insbesondere an Tuberkulöse, Typhusbazillenträger usw. An 
das gleiche Haus könnten aber auch kleine getrennte Abteilungen für 
akute Infektionskrankheiten angegliedert werden, ebenso eine Abteilung 
für erkranktes Personal, und schließlich dürfte auch eine Operations- 
abteilung für chirurgische Fälle nicht fehlen. Damit kommen wir leicht 
auf einen großen Krankenhauskomplex, der bei der Ausdehnung unserer 
Anstalt kaum unter 150 bis 200 Betten für jede Geschlechtseite zu halten 
sein wird. 

Dieses letztere Projekt haben wir für das Bauprogramm ausgearbeitet. 

Im übrigen haben wir in das Programm hauptsächlich das System 
der Doppelpavillons von im ganzen 50 bis 80 Betten Belegzifler 
aufgenommen, und zwar einerseits für Aufnahme- und Wachabteilungen, 
andererseits für die Unterbringung von Unruhigen und sogenannten Halb- 
ruhigen. Diese Häuser scheiden sich horizontal oder vertikal in zwei 
vollkommen oder annähernd gleiche Unterabteilungen für den gleichen 
Zweck. Einige Doppelpavillons für Unruhige und Halbruhige haben 
dagegen in der Mitte eine gemeinsame Wachabteilung, zu beiden Seiten 
je eine Tagsaalabteilung, im Obergeschoß die Schlafsäle ohne Wachbetrieb. 

Aber auch einfache kleine Pavillons von 20 bis 35 Plätzen im Land¬ 
hauscharakter werden erstellt werden; sie dienen zur Unterbringung der 
ruhigen, harmlosen, frei zu verpflegenden Kranken, denen wir gern ein 
behagliches Heim und ein Milieu in kleinerem Kreise gewähren wollen. 

Im ganzen sind es nach dem vorläufigen Bauprogramm 39 Kran- 
kenpavillons, 17 Gebäude für gemeinsame zentrale Einrichtungen 


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Neue Aufgaben der Psychiatrie in Baden. 


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und ungefähr 20 Beamtenwohngebäude mit 52 Familienwohnungen. 
Die ganze Anstalt besteht somit aus etwa 76 Gebäuden, wovon 39 
Krankenpavillons sind. Man wird danach wohl sagen dürfen, daß 
im ganzen genommen, wenn sich auch verschiedene größere Bau¬ 
komplexe darunter befinden, der Charakter einer Pavillonanstalt 
gewahrt worden ist. 

Bei diesem Projekt haben wir auch daran gedacht, eine 
K i n d e r a b t e i 1 u n g , die bei uns in Baden noch fehlt, zu gründen; 
der einen Anstalt wäre eine Station für Knaben, der anderen eine für 
Mädchen einzureihen. 

Nicht minder sollte aber bei einer derartigen Riesenanstalt auch 
daran gedacht werden, in den Bauplan für jede Geschlechtseite einen 
besonderen, wenn auch kleinen Pavillon für Nervöse (Neurasthe¬ 
niker, Psychastheniker, psychisch Nervöse und Erschöpfte) auf¬ 
zunehmen. Derartige Kranke suchen als freiwillige Aufnahmen 
unsere Anstalten immer häufiger auf. Es ist daher notwendig, auch 
für sie zu sorgen und ihnen, gesondert von den schwerer Kranken, 
ein ruhiges und wohnliches Heim zu bieten; auf eine geschickte Grund¬ 
rißeinteilung mit vielen kleineren Räumen wäre dabei besonderer Wert 
zu legen. 

Des weiteren habe ich Antrag gestellt zu erwägen, ob nicht 
bei dieser Anstalt große Stationen für Tuberkulöse 
und andererseits für Typhuskranke resp. Typhus¬ 
bazillenträger gegründet werden sollen. Und zwar sollen 
diese Krankenhäuser die bezeichneten Krankenkategorien aus dem 
ganzenLand,d. h. aus sämtlichen Irrenanstalten, 
die dann gänzlich davon entlastet würden, vereinigen. Selbstver¬ 
ständlich würden trotzdem bei den vorhandenen anderen Asylen kleine 
Krankenstationen für auftretende Krankheitfälle dieser Art bestehen 
bleiben müssen, bis jeweils die Überführung der Kranken nach der 
Zentrale stattfinden kann. 

Wir versprechen uns von der geplanten Einrichtung trotzdem 
einen großen Gewinn, weil dann für die große Zahl dieser infektiösen 
Kranken nur einmal gesorgt werden muß, und weil zweitens die 
ärztliche Prophylaxe mehr zu ihrem Rechte kommt, wenn sämtliche 
andere Anstalten von diesen Seuchen, die gegenwärtig einen immer 
größeren Umfang in unseren Anstalten anzunehmen drohen, befreit 


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Fischer, 


werden können. Immerhin schien es mir von Wert, dieses Problem 
einmal anzuregen. 

Ein unter diesen Gesichtspunkten ausgestaltetes großes Anstalt¬ 
projekt muß aber nach allen Erfahrungen des Anstaltbaus in Bau und 
Betrieb ganz wesentlich rationeller zu stehen kommen, als wenn wir 
statt dessen zwei oder gar drei getrennte Anstalten in kleineren Pa¬ 
villons, jede mit den gleichen hier gemeinsam angenommenen zentralen 
technischen und wirtschaftlichen Einrichtungen, an verschiedenen 
Orten im Lande für sich aufstellen würden. 

Als eine selbstverständliche Forderung bei der Neuschöpfung 
solcher Asyle, wo neue bauliche Probleme zur Durchführung kommen 
sollen, muß es gelten, daß der Arzt d. h. der Facharzt (Psychiater) bei 
der Ausgestaltung in maßgebender oder richtiger dominierender 
Stellung beteiligt sei. Je mehr wir Irrenärzte selbst uns auf einen 
billigeren Anstaltbau einstellen, desto wichtiger ist es, daß die unerlä߬ 
lichen ärztlichen Anforderungen durch den Sachverständigen in 
Person unausgesetzt verfochten und zur Geltung gebracht werden. 
Das kann nur geschehen, wenn der Facharzt von Beginn an und 
dauernd mit den Arbeiten im Hauptamt betraut ist. Es sind das 
eigentlich Selbstverständlichkeiten; es wird aber nicht immer danach 
gehandelt. Wo es sich um die Gründung von Krankenhäusern für 
die uns anvertrauten Pfleglinge handelt, muß der fachkundige Arzt 
das ausschlaggebende Wort haben. Dieser schon wiederholt von mir 
vertretene Standpunkt hat auf dem vorletzten „Kongreß für Irren- 
fürsorge“ in Wien (1908) durch eine einstimmig angenommene Reso¬ 
lution seine klare und volle Bekräftigung erhalten. 

Allerdings gehört dazu seitens des die Arbeiten leitenden Arztes 
eine unbeschränkte Vertiefung in seine Aufgabe, eine große, haupt¬ 
sächlich durch Anstaltreisen gewonnene Erfahrung und ein gewisses 
Geschick und Talent für diese wichtige Seite des ärztlichen Wirkens 
im Krankenhausbau. 

Nur bei einer derartigen ärztlichen Durchdringung des ganzen 
Bauprogramms kann die moderne Irrenanstalt das werden, was sie 
sein soll — eine Heilstätte für Nerven-, Gemüts- und Geisteskranke 
aller Entwicklungs- und Zustandformen, jeden Alters, also auch für 
Bänder und Jugendliche, und jeden Standes, also auch für Kranke der 
vermöglichen Klassen, für Anfang- und Endzustände, also auch für 


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Neue Aufgaben der Psychiatrie in Baden. 


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psychisch Nervöse, wie nicht minder für alle schon in der Anlage 
Defekte und Geschwächte, für Grenzzustände und Minderwertige aller 
Art, ferner für Epileptische, Imbezille und Idioten jeden Grades, 
schließlich überhaupt für alle chronischen Kranken bis zur stärksten 
Verblödung, kurz für jeden Kranken, soweit und sofern er einer fach¬ 
ärztlichen Behandlung in irgendeiner Hinsicht bedarf. Allen diesen 
Aufgaben muß die Heilanstalt gerecht werden können, und der Psychia¬ 
ter muß und nur er kann dafür sorgen, daß für alle Krankenkategorien 
auch die für sie zweckmäßigsten Behandlungs- und Pflegebedingungen 
und die richtige Unterkunft in ärztlich durchdachten und praktisch 
gegliederten Krankenabteilungen (Pavillons) durch eine reiche Diffe¬ 
renzierung der ganzen Anstaltanlage geschaffen werden. 

Der Kostenaufwand — um auch hierüber zum Schlüsse 
nochmals ein Wort zu sagen —, den der badische Staat für den Bau 
seiner Irrenanstalten insgesamt sich auferlegt, ist für unser kleines 
Land ein ganz außerordentlich großer. Sind schon seit dem Jahre 1884 
bis 1911 für den Bau von Emmendingen und Wiesloch, für bauliche 
Neuerungen in Illenau und Pforzheim im ganzen 15,59 Millionen Mark 
nötig gewesen, so sieht eine Aufstellung des Großh. Ministeriums des 
Innern für jede nun folgende zweijährige Budgetperiode ungefähr 
2 bis 2,5 weitere Millionen und für das ganze nächste Jahrzehnt — 
1912 bis 1921 — eine Gesamtsumme von 12,63 Millionen Mark im 
Ausbau der Irrenanstalten vor; darin erscheinen außer bedeutenden 
Posten für notwendige Herstellungen in Illenau und Emmendingen, 
ferner für den völligen Ausbau von Wiesloch, vor allem noch 4,2 Millio¬ 
nen für den Bau der in der Entstehung begriffenen neuen Anstalt 
bei Konstanz und zunächst 7 Millionen für die Erstellung der Anstalt: 
Ersatz Pforzheim; die weiteren 3 Millionen gehören einer noch späteren 
Periode des völligen Ausbaues dieser Anstalt im Mittellande an; also 
wiederum zusammen 15,63 Millionen und zwar in der halben Zeit, was 
einer doppelten Leistung seitens der staatlichen Finanzen gleichkommt. 

Wenn unser Projekt die Zustimmung der Landstände, die bisher 
immer eine sehr liberale und humane Stellung zu unseren durch die 
Notwendigkeit gebotenen Forderungen eingenommen haben, findet, 
so dürfen wir hoffen, daß die Erstellung der Anstalt: Ersatz Pforzheim 
schon in den nächsten Jahren (ab 1914) begonnen und so gefördert 
werden wird, daß etwa im Jahre 1919 die Hälfte der Anstalt betrieb- 


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Fischer, 


f&hig dasteht; den Ausbau werden dann die folgenden Jahre je nach 
dem sich weiterhin einstellenden Bedarfe bringen. 

Wir werden damit von jetzt 3070 Plätzen auf künftig 5600 Plätze 
(im Jahre 1921) in staatlichen Heil- und Pflegeanstalten kommen 
und dadurch den Grad der staatlichen Anstalt Versorgung der Geistes¬ 
kranken in unserem Lande steigern von jetzt 1,43 auf künftig 2,24 zu 
1000 Einwohnern. 

Bis diese großen Neuerstellungen in Wirksamkeit treten können, 
werden aber die vorhandenen Anstalten Illenau, Pforzheim, Emmen¬ 
dingen und das neue Wiesloch mit den beiden Irrenkliniken zusammen 
keinen leichten Stand haben; sie werden gegenteils, nach dem bis¬ 
herigen Anwachsen der Krankenbevölkerung in unseren Anstalten — 
der jährliche Zuwachs des Krankenstandes beträgt im ganzen rund 
150 Kranke — zu schließen, aufs äußerste in Anspruch genommen 
werden müssen und aus der Überfüllung erst herauskommen, wenn 
zu dem neuen Konstanz auch das neue Rastatt, wenigstens in seiner 
ersten größeren Hälfte hinzugekommen sein wird. Erst dann, also 
etwa im Jahre 1921, wird auch die Stunde schlagen, wo die altersgraue 
Pforzheimer Anstalt nach gerade sechshundertjährigem Bestehen ihre 
unter den widrigsten Verhältnissen treu geleistete psychiatrische 
Arbeit endgiltig beschließen kann. 

Bis dahin ist noch viel Geduld und Ausdauer, viel Arbeit und viel 
Geld nötig. 

Wenn Sie nun vielleicht auch nicht mit allem, insbesondere nicht 
mit dem großen Anstaltprojekte im Mittellande sympathisieren 
werden, so müssen Sie doch zugeben, daß Baden im letzten Jahrzehnt 
ganz gewaltige Anstrengungen im Anstaltbauwesen gemacht hat. Sie 
haben des weiteren ersehen, daß wir auf diesen Taten nicht ausruhen 
werden, sondern uns vielmehr, allerdings durch die Macht der Ver¬ 
hältnisse gezwungen, nochmals zu einem neuen großen Werke, dem 
beschriebenen, aufmachen wollen. 

Daraus, d. h. aus den auf einen verhältnismäßig kurzen Zeitraum 
gehäuften Anforderungen, erklärt sich auch die ungewöhnliche Form 
der Ausführung, die Doppelanstalt im Mittellande. Wir müssen und 
wollen einmal glatte Lage in der Anstaltfürsorge bekommen und dazu 
müssen wir uns auch dieses heroischen Mittels bedienen. 


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Neue Aufgaben der Psychiatrie in Baden. 


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Mit der damit gewonnenen, enormen, aber nötigen Plätzebeschaf- 
fung von 2000 Betten hoffen wir dann auf geraume Zeit Ruhe im 
Anstaltbau zu bekommen. Wir verhehlen uns aber nicht, daß wir zur 
Vervollständigung unserer Landesirrenversorgung nach dem regio¬ 
nären Prinzip späterhin auch im nordöstlichen Teil des Großherzog¬ 
tums, im Kreise Mosbach, ein weiteres Landesasyl nötig haben werden. 
Wir möchten indes wünschen und hoffen, daß diese Aufgabe erst der 
nächsten Generation zufallen möge. Eine Gewähr für die Ausführ¬ 
barkeit dieses Aufschubs möchte ich allerdings in keiner Weise über¬ 
nehmen. 

Das sind in kurzem Überblicke die Ziele, die sich die staatliche 
Irrenfürsorge in Baden für den Ausbau ihres Anstaltwesens ge¬ 
steckt hat. 

Zugleich sind damit aber auch die Wege vorgezeichnet, wie wir 
nach und nach die endgültige regionäre Ordnung der ge¬ 
samten Irrenversorgung des Landes nach den ein¬ 
zelnen Landesdistrikten erreichen wollen: Die Irrenklinik in Heidel¬ 
berg, die Heil- und Pflegeanstalten in Wiesloch und später in Mosbach 
für das Unterland, davon die letztere Anstalt für den äußersten Nord- 
osten des Landes; Illenau und Rastatt für das Mittelland, die Irren- 
klinik in Freiburg und die Anstalten Emmendingen und Konstanz 
für das Oberland, davon die letztere hauptsächlich für den Südostteil, 
d. h. den Seekreis. 

Außerdem ist aber auch nach der neuen Vollzugsverordnung zum 
Irrengesetz die Teilung in Aufnahme- und Ubernahmeanstalten 
noch weiter beibehalten worden, wonach die frischen Aufnahmen 
aus dem Lande vorzugsweise Illenau und den beiden Kliniken Heidel¬ 
berg und Freiburg zukommen, während die großen Asyle: Emmen¬ 
dingen, Wiesloch, Rastatt, Konstanz und Mosbach hauptsächlich 
die Fälle mit längerem Krankheitverlaufe aus den Aufnahmeanstalten 
(der solche, die von ihnen abgelehnt werden, übernehmen sollen; 
nur Konstanz wird beiderlei Zwecken dienen, indem es aucli die 
Frischerkrankten aus dem Seekreis aufnehmen soll. 

Bezüglich der freiwilligen Aufnahmen und der v e r - 
möglichen Kranken (der Selbstzahler aller Klassen) ist aller¬ 
dings eine generelle Ausnahme gemacht worden; sie können nach der 
neuen Vollzugsverordnung die Anstalt frei wählen. Dieses Zugeständnis 


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Fischer. 


ist von den Übernahmeanstalten freudig begrüßt worden; es wäre 
nur zu wünschen, daß die Neuerungen, insbesondere auch die frei¬ 
willigen Aufnahmen, sich rascher, als bisher geschehen, einbürgerten. 
Da jedoch die Anzahl dieser Aufnahmen überhaupt im Vergleich zur 
Summe aller Jahresaufnahmen verhältnismäßig gering ist und bleiben 
wird, so kann auch an der Gesamtlage, daß nämlich den großen Landes¬ 
anstalten nur verschwindend wenig Neuaufnahmen zukommen, kaum 
etwas geändert werden. 

Nach unserer Überzeugung kann dies kein Dauerzustand bleiben. 
Freilich werden die großen Asyle den kleiner angelegten Kliniken 
und Ulenau immer als Abnehmer für die von jenen auszuscheidenden 
Kranken zu dienen haben. Daneben muß ihnen aber gleichwohl mit 
der Zeit die Freiheit der Aufnahme von frischen Kranken aus dem 
Lande ohne Einschränkung zugestanden werden, wie nicht minder dem 
Publikum die vollständige Freiheit in der Wahl der Anstalt, so daß 
späterhin jede Anstalt alle diejenigen Kranken aufnimmt, die ihr auf 
eigene Wahl der Kranken oder auf Bestimmung der Angehörigen 
zugeführt werden. Nur dadurch kann der befremdliche Zustand nach 
und nach aufgehoben oder doch einigermaßen ausgeglichen werden, 
daß fast sämtliche frischen Aufnahmen und damit das Interessanteste 
in unserem Berufe Illenau und den beiden Kliniken zufallen, die zu¬ 
sammen nur 25% der Belegschaft aller badischen Anstaltplätze aus¬ 
machen, während die großen Landesanstalten mit einer Belegschaft 
von 76% sämtlicher Anstaltplätze bezüglich der Neuaufnahmen 
beinahe leer ausgehen; später nach der Erstellung der neuen Anstalten 
würde das Mißverhältnis noch viel größer werden. Man mag mit 
Gegengründen welcher Art auch immer kommen, niemand wird be¬ 
streiten können, daß auf diese Weise d. h. mit dem Entzug der Neuauf¬ 
nahmen die großen Landesanstalten in eine zweite Beihe der Irren¬ 
fürsorgeinstitute gerückt werden, und man wird es uns nicht verübeln 
können, wenn wir dagegen immer wieder ankämpfen. 

Von der angestrebten Neuordnung befürchten wir nun aber keiner¬ 
lei Unzuträglichkeiten und auch keine Beeinträchtigung der Interessen 
der einzelnen Anstalten. Das Aufnahmewesen wild sich ganz von 
selbst aus Gründen der einfachsten Zweckmäßigkeit so regeln, daß die 
Aufnahmen im ganzen genommen doch nur regionär erfolgen, d. h. 
in die dem Wohnsitz des Kranken zunächst gelegene Anstalt und 


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Neue Aufgaben der Psychiatrie in Baden. 


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damit auch in die Anstalt, die für die Irrenfürsorgezwecke des be¬ 
treffenden Bezirks in Wirklichkeit vorgesehen ist. Der beständig 
wachsende Zudrang von Kranken zu den Anstalten wird aber ganz 
allein mit Bestimmtheit dafür sorgen, daß keine der bisher bevor¬ 
zugten Institutionen an Krankenmaterial geschmälert wird; der 
Ausgleich, der daneben auch unseren berechtigten Ansprüchen einiger¬ 
maßen gerecht wird, wird sich dadurch von selbst ergeben. 


Nachdem wir so die Aufgaben der staatlichen Irrenfürsorge 
sowohl im Ausbau des Anstaltwesens wie auch in der ganzen Organi¬ 
sation des Irrenw’esens überhaupt beleuchtet haben, gehen wir zur 
Besprechung einiger andern wichtigen und aktuellen Fragen der all¬ 
gemeinen praktischen Psychiatrie in unserm Lande über. 

1. Zunächst wollen wir die mit dem Anstaltleben aufs engste 
zusammenhängende Familienpflege der Geisteskran¬ 
ken streifen. 

Durch das neue Irrenfürsorgegesetz resp. durch die dazu erlassene 
Vollzugsverordnung ist auch die von den Anstalten aus organisierte 
Familienpflege behördlich geregelt und sanktioniert worden. 

Der betreffende Paragraph (§31) der Vollzugs Verordnung lautet: 

Die Anstaltdirektionen sind ermächtigt, mit Zustimmung desjenigen, 
der den Antrag auf Unterbringung gestellt hat. geeignete Kranke bei 
•■iner in der Umgebung der Anstalt wohnenden zuverlässigen Familie 
Kegen eine zu vereinbarende Vergütung in Pflege zu geben. 

Der Kranke bleibt hierbei im Verbände der Anstalt, wird von dieser 
•ius ärztlich behandelt und beaufsichtigt und kann ohne weiteres in die 
Anstalt zurückversetzt werden, wenn eine Veränderung des Zustandes oder 
di- Verhältnisse der Pflegefamilie es erforderlich erscheinen lassen. 

Auf die Vergütung (§ 27) ist die Unterbringung in Familienpflege 
ohne Einfluß. 

Leider ist bis jetzt, wie unseres Wissens übrigens in ganz Süd¬ 
deutschland, auch bei uns in Baden zum Unterschied von Nord¬ 
deutschland in der Familien Versorgung der Geisteskranken trotz 
mehrfach unternommener Anläufe noch kein durchschlagender Erfolg, 
der zu einer merklichen Entlastung der Anstaltpflege geführt hätte, 
erzielt worden. 

Zu einem nicht geringen Teil mag dies daran liegen, daß unser 
Und in den noch zu besprechenden Kreispflege- und Wohltätigkeits- 
anstalten Institutionen besitzt, wo gerade Kategorien von Kranken, 

Zeitschrift ftlr Psychiatrie. LX1X. 1 . 4 


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Fischer. 


die anderwärts in Familienpflege gegeben werden, um ein billiges Ver¬ 
pflegungsgeld dauernde Unterkunft finden; in den Kreispflegeanstalten 
sind es erwachsene Imbezille, Idioten, Epileptische und chronische 
Geisteskranke, in den Wohltätigkeitsanstalten jugendliche Kranke 
derselben Krankheitformen. 

Wir halten diesen Zustand schon darum für keinen glücklichen, 
weil so eine große Anzahl von chronischen Geisteskranken aus der 
irrenärztlichen Fürsorge, Aufsicht und Kontrolle gänzlich ausscheidet. 
Der Bevölkerung in Stadt und Land werden diese Kranken, die man 
gewöhnlich gerne aus der Familie weggibt, zwar auf diese Weise ab¬ 
genommen; sie gelangen aber auch nicht vorübergehend in die staat¬ 
lichen Irrenasyle, entgehen so der psychiatrischen Behandlung und 
können deshalb von uns auch nicht der organisierten Familienpflege, 
selbst wenn sie sich dafür eignen würden, überantwortet werden. 

Unsere Landesbevölkerung steht denn solchen Aufgaben auch 
gänzlich fremd und interesselos gegenüber. Sie ist ohnehin an ein 
größeres Maß von Freiheit und Selbständigkeit in ihrer Lebensführung 
gewöhnt und wird sich zu einer Aufopferung für andere, Fremde, 
und gar zu deren Aufnahme in den eigenen Familienkreis wenig hin- 
gezogen fühlen. Es wird daher auch sehr schwer halten, sie zu diesen, 
einen nicht geringen Grad von Altruismus erfordernden Aufgaben der 
Krankenfürsorge zu erziehen. 

Nicht zu leugnen ist aber auch, daß andererseits der ganze Cha¬ 
rakter unseres Menschenschlags lebhaftere Krankheiterscheinungen 
zeitigt als anderswo, so daß schon darum unsere Kranken vom Arzte 
gewissenhafterweise nicht so leicht in Familienpflege gegeben und dort 
gehalten werden können. 

Schließlich kommt es auch sehr auf die Anforderungen an, die 
ärztlicherseits an eine wirklich geordnete Familienpflege gestellt 
werden. 

Häufig lehnen aber auch Kranke, für die wir selbst statt der Ent¬ 
lassung eine Zeitlang die Familienpflege für gut und nötig hielten und 
einrichten wollten, den Übergang in die Familienpflege einfach ab; 
sie drängen auf unmittelbare Entlassung in die Freiheit, in Stellen, 
„wo sie etwas verdienen“, und müssen dann häufig, zumal bei der 
Überfüllung unserer Anstalten, wenn es ärztlich einigermaßen gerecht¬ 
fertigt werden kann, auch entlassen werden. Nicht selten werden 


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sie darin von ihren Angehörigen bestärkt, oder diese verweigern über¬ 
haupt die nach den bestehenden Bestimmungen erforderliche Zu¬ 
stimmung zu unserem Vorhaben. 

So ist denn die Familienpflege bei uns über kümmerliche An¬ 
fänge nicht hinausgekommen. In Emmendingen und Wiesloch sind 
etwa ein Prozent des Krankenstandes auf diese Weise versorgt worden. 
Oie Resultate bei diesen wenigen Fällen sind allerdings günstig und 
mahnen zur Weiterarbeit. 

Es kann darum auch hier nur von neuem die Anregung gegeben 
werden, daß wir auch in dieser Sparte der Irrenfürsorge vorwärts zu 
kommen suchen müssen; die norddeutschen Vorbilder mahnen ein¬ 
dringlich dazu. Wenn dadurch auch der Ausbau des Anstaltwesens 
nicht aufgehalten werden darf, so kann uns doch die Familienpflege 
mit jedem neuen Zuwachs eine Erleichterung im Anstaltbetriebe, 
eine Abwehr gegen die Überfüllung einer jeden einzelnen Anstalt 
bringen; schon aus diesem praktischen Grunde allein, ganz abgesehen 
von ihrer prinzipiellen Bedeutung als notwendige Ergänzung der 
“«entliehen Anstaltfürsorge, empfiehlt sich deren Ausbau. 

Bezüglich der Unterbringung von Familienpfleglingen bei ver¬ 
heirateten Angestellten (Wärtern, Werkmeistern usw.) der 
Anstalt haben wir zum Unterschied von der Gepflogenheit an anderen 
Anstalten von Anfang an den Standpunkt eingenommen, daß hierin 
kein Zwang irgendwelcher Art, zum Beispiel in der Einräumung oder 
Aberkennung einer Dienstwohnung, ausgeübt werden solle. Wir 
sind vielmehr der Ansicht, daß den Beamten, die tagüber in ihrem 
aufreibenden Berufe ständig mit den Kranken zu tun haben, der Um¬ 
gang mit ihnen zu Hause, innerhalb der Familie, nicht noch zugemutet 
werden darf, außer wenn sie diese Verpflichtung freiwillig übernehmen. 

Wie schon gesagt, bereitet bei uns die Entlassung auch 
nicht geheilter Kranker in die eigene Familie 
mitunter weniger Schwierigkeiten als die Überführung in die eigent¬ 
liche, von der Anstalt aus organisierte Familienpflege. Sind es auch 
^hr oft nur materielle Gründe (Last der Kostentragung), die dazu 
fuhren, so kommen doch dadurch jährlich eine große Anzahl von Ent¬ 
lassungen zustande mit oft überraschend gutem Erfolge; manche 
dieser Kranken, bei denen wir selbst es nicht gehofft hatten, bleiben 
längere Zeit oder sogar dauernd entlassen. 

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Leider fehlt uns aber außer den meist dürftigen Antworten auf 
unsere Erkundigungen hin jede genauere Nachricht über deren Er¬ 
gehen und über den weiteren Krankheitverlauf. 

In dieser Hinsicht außerordentlich wertvoll könnten daher die 
von Roller , dem ersten Direktor von Illenau, schon vor mehr als 70 Jah¬ 
ren angeregten Besuchsreisen der Irrenärzte im Lande 
wirken. Die Anstaltärzte würden alle diese, dem Aufnahmegebiet 
der jeweiligen Anstalt angehörigen, aber bei ihren Familien befind¬ 
lichen Kranken in regelmäßigem Turnus aufsuchen, deren Gesund¬ 
heitzustand von neuem feststellen, aber auch zugleich die Pflege- und 
Unterkunftverhältnisse untersuchen und sodann ihren ärztlichen Rat 
nach der einen wie der anderen Richtung erteilen. .Es ist anzunehmen, 
daß auf diesem Wege die Irrenfürsorge außerhalb der Anstalten 
wesentlich gefördert, manches Nützliche erreicht, nicht selten übel¬ 
stände abgestellt oder verhütet werden können. 

2. Wiederholt war, um der Überfüllung der staatlichen Asyle zu 
steuern, davon die Rede, die Kreispflegeanstalten des 
Landes, unter der Selbstverwaltung der Kreise stehende Armen¬ 
spitäler für Sieche und Gebrechliche, auch mehr für Zwecke der Irren¬ 
fürsorge heranzuziehen und auszubilden. Wir Irrenärzte haben uns 
dem gegenüber jederzeit ablehnend verhalten ( Roller , Schüle, Kraepelin . 
M. Fischer). Wir haben davon abgeraten, diesen Instituten andere 
als chronische und vollständig abgelaufene Krankheitfälle zuzuweisen, 
weil sie einer eigentlichen irrenärztlichen Dienstorganisation ent¬ 
behren und deshalb vor Aufgaben gestellt würden, denen sie nicht 
gewachsen sein könnten. Damit läge aber die Gefahr vor, daß, wenn 
Arzt und Personal nicht psychiatrisch vorgebildet sind, eine ver¬ 
derbliche Form der Winkelpsychiatrie sich einbürgerte. Wir sind 
sogar der Ansicht, daß diese Anstalten Aufnahmen aus dem freien 
Lande zu vollziehen überhaupt nicht berechtigt sein sollten, sondern, 
daß nur solche Geisteskranke dahin kommen können, die längere Zeit 
in einer staatlichen Heil- und Pflegeanstalt behandelt und dann nach 
gründlicher Beobachtung und Prüfung zur Übergabe in Kreispfiege 
für geeignet befunden worden waren. Natürlich müssen Fälle von 
Geisteskrankheit, wenn sie dann in der Kreisanstalt einer Verschlimme¬ 
rung ihres Zustandes anheimfallen, die in irgendeiner Beziehung 
irrenärztliche Behandlung und Anstaltfttrsorge nötig macht, unver- 


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züglich der staatliehen Heil- und Pflegeanstalt zurückgegeben werden, 
da ja die Kreisanstalt für solche Aufgaben nicht vorbereitet und nicht 
eingerichtet ist. 

Dazu gehört dann noch eine genügende Aufsichtführung des 

Staates, die bezüglich der geisteskranken Insassen einem erfahrenen 

Psychiater anvertraut sein muß. 

* 

Für diesen Zweck einer Siechenanstalt für völlig ab¬ 
gelaufene, harmlos gewordene Fälle von Geisteskrankheit, also für 
verblödete chronische Irre, Idioten, Kretinen und Epileptische, 
halten wir dagegen die Kreisanstalten für ebenso geeignet wie für 
körperlich Sieche und Gebrechliche und für Krankheitzustände, wo 
sich beiderlei Erscheinungen mischen. Hier ist das eigentliche Gebiet 
dieser Art von Krankenanstalten; hierin leisten sie Gutes und können 
cs zu einer billigen Verpflegungsnorm leisten. Sie sind so zu einer 
Wohltat für die Kreisverwaltungen und für die Armen des Landes 
geworden; zurzeit sind darin unter insgesamt 2700 Insassen auch 
etwa 1400 Geisteskranke, Idioten und Epileptiker untergebracht. 

Für Zwecke der eigentlichen Irrenfürsorge aber können sie nach 
unserer Überzeugung aus den angeführten Gründen nicht stärker 
herangezogen werden. 

3. Eine der allerwichtigsten psychiatrischen Bestrebungen, die 
uns wie nicht minder dem Staate zukommt, ist die F ü r s o r g c f ü r 
geistig abnorme und geisteskranke Kinder 
undJugendliche. Sie liegt bei uns in Baden noch nicht durch¬ 
aus in den Händen der Psychiater, und auch die Regierung hat sich 
ihrer noch nicht völlig bemächtigt. Bis jetzt treten bei uns dafür 
hauptsächlich die sogenannten charitativen Anstalten 
in Herthen, Kork und Mosbach ein, wo schwachsinnige, epileptische 
und idiotische Jugendliche verpflegt und, soweit möglich, unterrichtet 
und erzogen werden. Gegenwärtig beherbergen diese Anstalten 
zusammen ungefähr 820 Pfleglinge. 

An den staatlichen Heil- und Pflegeanstalten fehlen bis jetzt 
besondere Kinderstationen. Erst das neueste Projekt für die große 
Anstalt im Mittelland sieht zwei Kinderpavillons vor. 

Im neuen badischen Irrengesetze ist allerdings kein Unterschied 
in der Aufnahmefähigkeit nach dem Alter der Kranken gemacht, so 
daß hiernach die staatlichen Heil- und Pflegeanstalten berechtigt sind, 


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Fischer. 


auch Kinder und Jugendliche aulzunehmen; es müssen also den An¬ 
stalten nur noch die dafür nötigen besonderen Abteilungen zuteil 
werden. 

Und in der Tat will es uns scheinen, daß in einem Lande, wo die 
gesamte Irrenfürsorge staatlich geordnet ist, der Staat auch nicht bei 
einer bestimmten Altersgrenze Halt machen darf. Es muß den Staats¬ 
bürgern ermöglicht werden, erkrankte minderjährige Angehörige 
ebensogut in die staatlichen Institute in Behandlung zu geben wie die 
Erwachsenen. Ich bin daher seit Jahren dafür eingetreten, daß, 
ganz im Sinne der nunmehrigen Bestrebungen des Deutschen Vereins 
für Psychiatrie und des bekannten A11 sehen Vortrags auf diesem 
Gebiete, an unseren staatlichen Landesasylen, vorerst an einigen, 
später, sofern nötig, an allen, Kinderstationen gegründet 
werden, wo geisteskranke, aber auch in schwererem Grade geistig 
minderwertige und psychopathische Kinder und Jugendliche die 
richtige, das heißt fachärztliche Untersuchung, Beobachtung, Behand¬ 
lung und Leitung, einschließlich der Erziehung und, wo angängig, 
beruflichen Ausbildung, finden. Dazu gehören aber auch die Imbe¬ 
zillen, Idioten, Kretinen und Epileptischen, sofern und soweit sie beson¬ 
derer psychiatrischer Behandlung und Fürsorge bedürfen. Es müßte 
überhaupt zum Grundsatz erhoben werden, daß keiner von diesen 
Zuständen allen in eine andere Anstalt, sei es zur Behandlung, sei es 
zur Erziehung aufgenommen wird, bevor er nicht auf kürzere oder 
längere Zeit in einer staatlichen Irrenanstalt zur Beobachtung ge¬ 
wesen ist. Diese Untersuchung erst soll feststellen, ob und für welche 
weitere Fürsorge der Fall im speziellen geeignet ist. 

Für ganz besonders wuchtig halten wir diese Voruntersuchung 
aber, wo es sich um die Frage der Zwangserziehung (Fürsorge¬ 
erziehung) verwahrloster Kinder handelt. Solche Kinder sollten, 
wenn nur der geringste Zweifel über ihre psychopathische Konstitution 
besteht, zunächst der Irrenanstalt zur Voruntersuchung übeigeben 
werden, ob die Zwangserziehung wirklich die richtige Maßnahme dar- 
stellt. oder ob vielleicht eine andere ärztliche und besonders psychia¬ 
trische Fürsorge besser am Platze w T äre. Wir sind überzeugt, daß 
dadurch manchem Fehlgriffe vorgebeugt werden würde; vielleicht 
kann dadurch sogar die Erstellung besonderer psychiatrischer Stationen 
bei den Zwangserziehungsanstalten selbst entbehrlich gemacht werden. 


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Aber auch wo sich eine Psychose oder ein psychisch zweifelhafter 
Zustand eist während der Zwangserziehung herausstellt, ist eine Über¬ 
führung des Zöglings in die eigentliche Heil- und Pflegeanstalt zur 
längeren Beobachtung anzustreben. Sind hier etwa Bestimmungen 
des Zwangserziehungsgesetzes hinderlich, so wäre deren Abänderung 
herbeizuführen, oder es müßte die Zwangserziehung für die Zeit der 
irrenärztlichen Obsorge ausgesetzt werden. 

Die Mitarbeit des Psychiaters darf jedenfalls in diesem wichtigen 
Kürsorgezweige nicht mehr hintangesetzt werden. Dazu gehört 
natürlich noch des weiteren, daß der Psychiater in allen Institutionen 
für Jugendfürsorge, Jugendschutz, Zwangserziehung, in den Jugend¬ 
gerichtshöfen, Sitz und Stimme hat und in jedem zweifelhaften Falle 
befragt wird. Gerade in der Zwangserziehung halten wir es für beson¬ 
ders wichtig, wenn der Irrenarzt eine regelmäßige ärztliche Kontrolle 
über die Zöglinge, darunter besonders über diejenigen von irgendwie 
abnormem Geisteszustände ausübt und zwar während der ganzen 
Dauer der Zwangserziehung, ja sogar, wo nötig, auch darüber hinaus. 
Nicht minder wichtig ist eine derartige ärztliche Obsorge auch bei 
allen jugendlichen resp. minderjährigenKrimi- 
nellen überhaupt. Sehr oft wird der Arzt imstande sein, einer 
schlimmen Entwicklung im Leben derartiger, doch meist psycho¬ 
pathischer Individuen vorzubeugen, sei es durch rechtzeitige Erziehungs¬ 
maßnahmen, sei es durch frühzeitige Anstaltunterbringung. 

Die Zentrale für alle solche Bestrebungen der psychiatrischen 
Jugendfürsorge und die Beratungstelle für alle auftauchenden ärzt¬ 
lichen Fragen soll für ihren Aufnahmebezirk jede Heil- und Pflege¬ 
anstalt des Landes sein; mit ihr sollen sich die in diesem Fürsorge- 
wesen beschäftigten Behörden jederzeit in Verbindung halten. 

Die Durchführung der richtigen Irrenfürsorge für Kinder und 
Jugendliche in einer einheitlichen Organisation über das ganze Land 
hin halten wir — um es nochmals zu sagen — für eine unserer drin- 
eendsten und aktuellsten Aufgaben, der Irrenärzte sowohl wie des 
Staates. Handelt es sich doch um die edelste Seite des ärztlichen 
Wirkens: um die ärztliche Prophylaxe und zwar zugleich in mehr¬ 
fachen, sehr bedeutsamen Beziehungen zum ganzen Staatsleben! 

4. Die Fürsorge fftrkriminelleGeisteskranke — wir 
verstehen darunter sowohl die geisteskranken Verbrechernaturen 


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Fischer, 


wie auch die verbrecherischen Geisteskranken jeder Art lind jeden 
Alters, also auch die in diese Kategorie gehörigen Grenzzustände, 
geistig Minderwertige und Psychopathen schwereren Grades — ist 
gerade für ein kleines Land ein außerordentlich schwieriges Kapitel. 

Für akut-psychisch erkrankte Sträflinge besteht nun in Baden 
bei der Zentralstrafanstalt in Bruchsal ein neues, recht zweckmäßiges 
Asyl. Für alle verbrecherischen Geisteskranken nach Ablauf oder Auf¬ 
hebung ihrer Strafe müssen aber die großen Landesanstalten und, da 
es sich meist um dauernde Verwahrung handelt, die sogenannten 
Übernahmeanstalten, d. h. Emmendingen und Wiesloch, herhalten, 
die auf diese Weise ein sehr großes Kontingent höchst unangenehmer 
und den ganzen Krankenhauscharakter störender Kranker zugewiesen 
bekommen. So hat zum Beispiel Wiesloch in seinem Krankenstände 
auf der Männerseite gegenwärtig 28,5% Kriminelle, d. h. mit dem 
Strafgesetz in Konflikt Gekommene und Vorbestrafte, zu verpflegen. 
Und zwar sind davon wieder 71,8% d. h. 20,49% des gesamten Männer¬ 
krankenstandes Rückfall- und Gewohnheitsverbrecher. Diese geistig 
abnormen oder geisteskranken Elemente nun müssen nach der neuesten 
Vollzugsverordnung zum Irrengesetz in unsern Anstalten verbleiben, 
selbst wenn sie einer psychiatrischen Behand¬ 
lung nicht bedürfen; es genügt die Feststellung ihrer Ge¬ 
meingefährlichkeit. Auf diese Weise erhalten wir aber auch als dau¬ 
ernde Bewohner eine nicht geringe Anzahl von Kriminellen, die eine 
ausgesprochene Geisteskrankheit nicht haben, sondern psychopathische 
oder geistig minderwertige Persönlichkeiten, eigenartige Charaktere 
mit dem Hauptmerkmal der Insozialität und Verbrecher- 
haftigkeit sind. 

Ihre Behandlung ist um so schwieriger, als sie sich selbst einer¬ 
seits nicht für geisteskrank halten und andererseits ihnen auch vom 
Arzte eine wirkliche Form der Geisteskrankheit schwer nachgewiesen 
werden kann. So werden sie mit der Zeit verbitterte, zu Intriguen, 
Komplotten und Ausbruchsversuchen stets bereite Menschen, denen 
der Anstaltaufenthalt und alle ärztlichen Behandlungsbestrebungen 
oft nur zum Schaden ausschlagen. 

Mit Notwendigkeit führt dies zur Schaffung gesicherter Ab¬ 
teilungen und Verwahrungshäuser, die eigentlich in den Rahmen 
unserer modernen Anstalten nicht recht passen. Auch an unseren 


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Neue Aufgaben der Psychiatrie in Baden. 


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badischen Anstalten ist — zum Beispiel in Emmendingen durch 
Herrichtung einer gesicherten Abteilung im Zentralbau, in Wieslocli 
durch Erstellung eines eigenen gesicherten Hauses mit 4 Unterabtei¬ 
lungen für insgesamt 46 Pfleglinge — staatlicherseits für die Unter¬ 
bringung solcher Elemente gesorgt worden oder wird gesorgt 
«erden. 

Wir sind aber der Überzeugung, daß selbst Anstalten mit solchen 
Verwahrungshäusern zur richtigen Behandlung der Kriminellen nicht 
.iiisreiehen. Es fehlt ein Glied in der Fürsorge für diese unglücklichen 
und zugleich schwierigen Elemente. Und zwar halten wir für eine 
jroße Anzahl von ihnen eine weitere Art der Anstaltversorgung 
außerhalb der eigentlichen lrrenanstaltfürnötig, 
«in Mittelding zwischen Krankenhaus und Arbeitshaus. Es müßte 
also getrennt von der Irrenanstalt, am besten im Anschluß an ein 
wirkliches Arbeitshaus, eine Station für verbrecherische Charaktere 
gegründet werden als ein wertvoller weiterer Faktor in ihrer Unter¬ 
bringung und Behandlung. 

Auch für diese Station müßte natürlich eine irrenärzt- 
iche Kontrolle und Behandlung der Insassen ein¬ 
gerichtet werden; sie käme auf diese Weise auch den übrigen psychisch 
nicht direkt affizierten Insassen zugute, bei denen sie nach manchen 
bisherigen Erfahrungen gleichfalls sehr angebracht ist. 

Wir denken uns den Gang der Fürsorge dann im einzelnen Falle so, 
'laß jeder Kriminelle dieser Art zunächst der Irrenanstalt, sei es dem 
Verwahrungshause, sei es einer anderen Abteilung zugeführt wird. 
Krweist er sich nach längerem gewissenhaften Studium als ungeeig¬ 
net für die weitere Anstaltbehandlung und kommt man danach zu der 
Kntscheidung, daß er nach seiner ganzen Eigenart sich selbst besser 
befinden würde in einer Versorgung außerhalb der eigentlichen Irren- 
mstalt, so erfolgt seine Versetzung indieKriminellenstation 
beim Arbeitshause; lediglich das Interesse des Kranken soll 
hierbei maßgebend bleiben. Ebenso müssen natürlich auch aus dieser 
Nation in geeigneten Fällen Rückversetzungen in die Irrenanstalt 
jederzeit möglich sein. 

Mit der Einführung der verminderten Zurechnungfähigkeit 
nach dem neuen Strafg fw '‘' + '’" r ' + " i'rf und der sogenannten „sichernden 
Maßnahmen" würde tige Kombination von Arbeitshaus 


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Fischer, 


mit Verbrecherstation, auf deren Notwendigkeit ich bereits im Jahre 
1897 („Fürsorge für irre Verbrecher“) hingewiesen habe, ohnehin gar 
nicht mehr länger zu umgehen sein. Es scheint uns aber sicherer 
und klüger, solche Einrichtungen und Notwendigkeiten, zumal sie 
schon gegenwärtig von Nutzen sein können, bei Zeiten vorzubereiten; 
dann wird man später auch nicht noch größeren Kalamitäten und 
Unzulänglichkeiten gegenüberstehen. 

Wir würden nach unserem Vorschläge für erwachsene Schädlinge 
der menschlichen Gesellschaft ähnliche Institutionen bekommen wie 
die Zwangserziehungsanstalten bei den Jugendlichen, und zwar für 
Fälle, die einer besonderen psychiatrischen Obsorge in der Irren - 
Instalt nicht mehr bedürfen, oder wo sie sich sogar als schädlich erweist, 
an anderer Richtung wären diese Stationen aber für gemeingefährliche 
Elemente ein notwendiges Korrelat zu den Kreispflegeanstalten für 
Erwachsene und ebenso zu den Pflegeanstalten charitativen Charakters 
für Jugendliche, wo bis jetzt nur nicht gemeingefährliche, harmlose, 
chronische Kranke, die keiner besonderen psychiatrischen Obsorge 
bedürfen, untergebracht werden sollen. 

Den Hauptwert der Einrichtung sowohl für die Pfleglinge wie 
für den Betrieb und den ärztlichen Dienst erkennen wir, wie gesagt, in 
der Möglichkeit des Aufenthaltwechsels zwischen Irrenanstalt und 
Arbeitshaus und in der damit geschaffenen weiteren Verwahrungsform, 
die keine Irrenanstalt und keine Strafanstalt darstellt; sie erscheint 
uns als eine notwendige Ergänzung der bisherigen Art der Fürsorge. 

Für unbedingt erforderlich müssen wir es aber nochmals erklären, 
daß alle derartigen Zustände zuerst in psychiatrische 
Beobachtung an einer eigentlichen Irrenanstalt kommen und 
erst von hier aus nach kürzerer oder längerer Zeit unter genauer 
Stellung der Indikation in das Arbeitsasyl verwiesen werden; das 
gleiche gilt für die Rückversetzungen in die Irrenanstalt. 

, Ein ganz besonders heikler Punkt ist die Entlassung psy¬ 
chisch gebesserter und sogar geheilter, früher gemeingefährlich oder 
kriminell gewesener Geisteskranker aus der Irrenanstalt. Bei ihnen 
wird man ja in der Stellung der Prognose und der Indikation der Ent¬ 
lassung gerade im Hinblick auf ihr Vorleben und auf die Gefahr für 
die Allgemeinheit immer ganz besonders vorsichtig verfahren. 


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Neue Aufgaben der Psychiatrie in Baden. 


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Wie begreiflich hält es nun, auch wenn wir eine weitgehende 
Besserung verbärgen und einen Entlassungsversuch, meist nach langem 
Anstaltaufenthalt, unter den auch dann noch erforderlichen Kautelen 
durchaus empfehlen können, außerordentlich schwer, für solche Ele¬ 
mente eine in jeder Beziehung geeignete Unterkunft und sichere 
Arbeitgelegenheit zu finden. Gewöhnlich lehnt man es wegen ihrer 
Vergangenheit von vornherein ab, sich mit ihnen zu befassen, oder 
man macht unter Umständen einen kurzen Versuch, aber ohne ernsten 
Willen und humane Rücksichtnahme oder ohne die richtige Leitung 
über die Kranken, Dinge, die gerade hier am nötigsten und zugleich 
lohnendsten sind; mit Vorliebe wirft man ihnen sogar ihre kriminelle 
Vergangenheit bei jedem geringsten Anlasse vor. 

Haben solche Entlassenen aber dann doch einmal in der Freiheit 
Fuß gefaßt, und kommen sie unter dieser Ungunst der Verhältnisse, 
durch verkehrte und aufreizende Behandlung nach kürzerer oder 
längerer Zeit wieder in neue Konflikte mit der öffentlichen Ordnung 
und dem Strafgesetze, so wird gewöhnlich ohne viele Umstände, 
einfach auf Grund ihres Vorlebens, ihre alsbaldige Rückverbringung 
in die Anstalt veranlaßt. Es liegt nun allerdings sehr nahe, anzuneh¬ 
men, daß diesen Personen der Schutz des § 51 auch weiterhin zu- 
komme, und daß sie als gemeingefährlich am besten unverzüglich 
wieder in Anstaltpflege eingeliefert würden, nachdem und weil sie 
«•ben schon einmal wegen Geisteskrankheit dort untergebracht waren. 

Sehr oft ist in diesen Fällen aber die Sachlage unterdessen insofern 
eine andere geworden, als der gewesene Kranke nach fachärztlichem 
Urteil jetzt gar nicht mehr unter den § 51 fallen würde; oder er kann 
doch eine so weitgehende Besserung seines psychischen Zustandes 
erfahren haben, daß die Frage seiner Zurechnungfähigkeit zum 
mindesten strittig geworden ist. Unter Umständen kann er also 
recht wohl zur Rechenschaft gezogen und ohne Gefahr für seine Ge¬ 
sundheit auch in Haft und Strafe genommen werden. Dem allem 
entgeht er durch die Verbringung in die Anstalt — gewöhnlich 
?ar nicht zum Behagen des Rechtbrechers selbst; ihm wäre es viel 
angenehmer, wenn er vor Gericht käme und seine Strafe absitzen 
könnte; er glaubt so besser wegzukommen als durch einen längeren 
Aufenthalt in der Anstalt wegen Geisteskrankheit. 


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Fischer, 


Hier ist also zweierlei nötig: 

Erstens, wenn derartig gebesserte und beruhigte, aber immerhin 
etwas zweifelhafte Elemente aus der Zahl der Kriminellen aus der 
Irrenanstalt in die Freiheit entlassen werden, so muß bei ihnen mit 
besonderer Umsicht und Vorsicht vorgegangen; sie müssen mit größter 
Aufmerksamkeit, Festigkeit und Geduld zugleich behandelt und ge¬ 
leitet werden. 

Werden sie aber dann trotzdem entschieden rückfällig in Straf¬ 
taten, so ist eine neue amtsärztliche oder gerichtsärztliche Prüfung, 
unter Umständen im Benehmen mit der Anstaltdirektion, darüber 
unbedingt nötig, ob der Betreffende tatsächlich wieder geisteskrank 
und zugleich anstaltbedürftig ist oder aber ob er für seine Straftaten 
verantwortlich gemacht und in ein gerichtliches Verfahren genommen 
werden darf und muß. Je nach Lage des Falls wird für manchen 
von ihnen jedoch entweder nach der Strafverbüßung oder statt ihrer 
die langfristige Einweisung ins Arbeitshaus die richtige Maßnahme 
darsteilen. Andere wiederum werden allerdings trotz aller Bemühun¬ 
gen auch weiterhin zwischen der Freiheit, der Irrenanstalt oder der 
Strafanstalt hin- und herwechseln. 

Eine individuelle Behandlung dieser Leute in unserem Sinne 
außerhalb der Anstalt würde aber sicher auch nicht wenige vom un- 
rechten Wege abhalten und sie dauernd in die richtigen Bahnen lenken 
können. Wir werden daher auf die weitere Ausbildung dieser Fürsorge 
für entlassene kriminelle Geisteskranke ein sorgsames Augenmerk 
richten sollen, wobei der Entlassene in beständiger Aufsicht und 
unter dem Schutz besonderer gut informierter Vertrauenspersonell 
gehalten werden müßte. 

5. Die Behandlung der Trinker ist in Baden ermöglicht worden 
durch die vom „Verein gegen den Mißbrauch geistiger Getränke* 1 
(Bezirksverein Karlsruhe E. V.) gegründete eigene „Heilstätte 
für A1 k o h o 1 k r a n k e“ in Kenchen, deren ärztliche Obsorge 
dem Arzte der Heil- und Pflegeanstalt Illenau, Medizinalrat 
1) r. T h o m a an vertraut ist. Die Anstalt, die aus einem Bau im 
Landhausstil mit 35 Plätzen besteht, ist eröffnet worden am 1. Mai 
1905 und blickt trotz ihres kurzen Bestehens auf schöne Erfolge 
zurück. Ihre nahe und trotzdem nicht allzunahe Verbindung 


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Neue Aufgaben der Psychiatrie in Baden. 


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mit einer Irrenanstalt muß als glücklicher Umstand angesehen 
werden. 

Ob sie für die Dauer ausreichen wird, und ob nicht späterhin der 
•Staat selbst aus Gründen der allgemeinen Organisation dazu kommen 
muß, eine eigene Trinkerheilstätte in direkter Verbindung mit einer 
meiner Heilanstalten, etwa nur in Form eines besonderen Pavillons, 
zu errichten, ist eine offene Frage. 

In den Irrenanstalten befinden sich eine große Anzahl chronischer 
Trinker mit psychischen Störungen oder Defekten, für die bei ihrer 
Eigenart einerseits auf kürzere oder längere Zeit der Aufenthalt inner¬ 
halb der geschlossenen Anstalt vonnöten ist, während andererseits 
für einen Teil von ihnen nach erreichter Besserung auf einige Zeit 
vor der Entlassung die freiere Behandlung in der mit der Anstalt ver¬ 
bundenen Trinkerheilstätte von Vorteil wäre. Umgekehrt wäre damit 
aber auch für Fälle, die in der Heilstätte rückfällig werden oder sich 
als ungeeignet für die offene Behandlung erweisen oder aber inten¬ 
sivere Krankheiterscheinungen psychischer Art, wie sie mitunter 
plötzlich auftreten, eingehen, die Möglichkeit gegeben, sie ungesäumt 
und ohne weitere Formalitäten als die gesetzlich festgelegten in die 
erschlossene Anstalt zurückzuversetzen oder neu aufzunehmen. Wir 
könnten somit aus dieser Überlegung der Kombinierung der staat¬ 
lichen Trinkerheilstätte mit der staatlichen Irrenanstalt nur das Wort 
reden. 

Daß etwa die Frequenz der Heilstätte oder des Pavillons für 
Alkoholkranke durch die direkte Verbindung mit der Irrenanstalt 
geschädigt werden könne, diese Befürchtung mag vielleicht für die 
erste Zeit zutreffen, für später, wenn die Einrichtung sich einmaf 
ringelebt hat, teilen wir sie nicht. 

6. Die Frage der Unterbringung und Behandlung Nervöser 
befindet sich bei uns in Baden noch ganz in der Schwebe. Wohl ist 
der Irrenklinik in Freiburg ein Pavillon für Nervenkranke angegliedert 
worden; auch besteht in St. Blasien eine kleine aus Sammelbeiträgen 
hervorgegangene private Heilstätte für Nervöse der gebildeten Stände 
mit mäßigen Verpflegungsätzen. 

Ebenso können an allen Landesanstalten Nervöse, die sich nach 
Ansicht des Direktors zur Aufnahme eignen, freiwillig aufgenommen 


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Fischer, 


werden; allerdings müssen sie sich in die vorhandenen Verhältnisse 
schicken und auf den Abteilungen mit den leichter Geisteskranken 
zusammenwohnen, was nicht Jedermanns Sache ist. Es wäre daher 
anzustreben, daß jede größere Landesanstalt einen eigenen, besonders 
gelegenen und im Grundriß gut durchdachten, nicht zu großen Pa¬ 
villon für Nervenschwache, insbesondere für die sogenannten Psychisch - 
Nervösen und Übergangszustände erhielte. 

Ein Verein zur Gründung einer eigenen Volksnervenheil- 
.statte besteht zwar bei uns; seine Mittel sind aber leider noch sehr 
bescheiden. Es fehlt also zurzeit noch in Baden eine richtige Für¬ 
sorge für unbemittelte Nervöse gänzlich, so dringend nötig sie uns 
auch wäre. Die Fälle, wo wir trotz der reichen Auswahl von Kur¬ 
orten und Bädern in unserem Lande nicht wissen, wohin wir nervöse 
Kranke, seien sie nun gänzlich mittellos oder aber Mitglieder von 
Krankenkassen, in die richtige fachärztliche Behandlung eines er¬ 
fahrenen Nervenarztes geben sollen, mehren sich zusehends. Es wäre 
daher aufs lebhafteste zu wünschen, daß dem Verein reichlichere 
Mittel zufließen, damit der Bau der Heilstätte wenigstens mit einem 
ersten Teil der ganzen Anlage möglichst bald begonnen werden könnte. 
An der Unterstützung seitens der Regierung fehlt es nicht; es sind 
auch schon anerkennenswerte Stiftungen und Beiträge zugegangen; 
aber sie reichen bei weitem noch nicht zur Verwirklichung des Unter¬ 
nehmens aus. 

Was wir ärztlicherseits von unserer Nervenheilstätte verlangen, 
ist unter anderem eine entsprechende mittlere Höhenlage mit 
ihrem für die Kräftigung des Nervensystems erprobt günstigen Ein¬ 
flüsse; man sollte auf diesen Faktor nicht verzichten, er läßt sich auch 
in unserem Lande zum Beispiel im Schwarzwaldgebiete unschwer 
verwirklichen. Ferner sollte in der Heilstätte neben dem Sommer¬ 
betrieb auch der Winterbetrieb zur Ausnützung der winter¬ 
lichen Klimaverhältnisse (Wintersport) eingeführt werden. Und 
schließlich muß neben allen sonstigen Erfordernissen der Nerven- 
behandlung insbesondere ein reichlich ausgestalteter Beschäfti¬ 
gungsbetrieb von vornherein in Aussicht genommen werden. 

Wir Anstaltdirektoren haben noch ein besonderes Interesse an 
der Nervenheilstätte insofern, als wir es sehr oft mit nervös erschöpftem 


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Neue Aufgaben der Psychiatrie in Baden. 


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Personal, insbesondere unter den Wärterinnen, zu tun haben, bei 
denen ein Erholungsaufenthalt in der Heilstätte nicht nur sehr an¬ 
gebracht, sondern direkt nötig und durch nichts anderes ersetzbar 
wäre. 

Der Gedanke, ein eigenes Erholungsheim für im Beruf er¬ 
schöpftes Personal aus den Heil- und Pflegeanstalten zu begründen, 
ist wohl sehr schön und der Ausführung wert; wir befürchten aber, 
daß wir hierfür auf allzulange hinaus keine Mittel zur Verfügung haben 
werden. 

7. Eines der wichtigsten Kapitel der praktischen Psychiatrie, 
das, wie überall, so auch bei uns in Baden noch sehr der Förderung 
und Ausbildung bedarf, istdiePsychiatrieaußerhalbder 
Anstalten oder, wie wir sie nach ihrem Hauptcharakter auch 
nennen können, die soziale Psychiatrie. Für sie bin ich 
schon seit vielen Jahren in immer wiederholten Anläufen eingetreten; 
hier können ihre Ziele nur kurz gestreift werden. Diese außerordent¬ 
lich vielseitige und vielseitige Arbeit erfordernde Sparte der Irren- 
iürsorge, die besonders in England durch die Gesetzgebung staat- 
licherseits in dem Institute der „Commissioners“ eine allgemeine 
Ausbildung erfahren hat, zeigt bei uns noch große Lücken, wie ich 
insbesondere in: „Wirtschaftliche Zeitfragen auf dem Gebiete der 
Irrenfürsorge“ (1901) und „Schutz der Geisteskranken in Person und 
Eigentum“ (1902) eingehend dargetan habe. Dort wurde auch von 
mir die Einführung besonderer Fürsorger, Berufspfleger 
"der Generalpfleger für unsere Kranken als generelle Ein¬ 
richtung gefordert, ein Thema, das neuerdings von Starlinger-Mmer- 
Oehling in einem Aufsatze: „Zur Reform des Irrengesetzes“ (Zeit¬ 
schrift für Kranken- und Humanitätsanstalten, 1911, Nr. S—11) 
wieder aufgenommen worden ist. 

Bis eine derartige allgemeine Organisation geschaffen sein wird, 
werden wir uns bemühen, den badischen Hilfsverein für 
'»eisteskranke, der bereits von Roller im Jahre 1872 gegründet 
worden und in den letzten Jahren auf meine wiederholten Anregungen 
hin neu in fühlbarere Wirksamkeit getreten ist, im Sinne der Sozial- 
peychiatrie weiter zu entwickeln und zu vervollkommnen. Hier 
handelt es sich im besonderen um die ärztliche und soziale Fürsorge 
für die aus den Anstalten zur Entlassung Kommenden, vor allem 


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Fischer. 


auch die ungeheilt Entlassenen, wie überhaupt für alle außerhalb der 
Anstalten lebenden Geisteskranken. Die Hauptaufgabe ist dabei die 
Bereitstellung von für jeden einzelnen Fall ausgesuchten Unterkunft - 
stellen und Arbeitgelegenheiten, wie sie zum Beispiel in neuester Zeit 
in Mannheim von der dortigen Hilfsvereinstelle durch Einteilung der 
.Stadt in besondere Fürsorgebezirke und durch Nachweis geeigneter 
Arbeitstellen in Verbindung mit den Oiganen der Industrie, des 
Handels und des Handwerks eingerichtet worden ist. Besonderes 
Gewicht ist vor allem auf eine regelmäßige Kontrolle des Zustandes 
des Kranken selbst wie nicht minder seiner Pflege- und Arbeitverhält¬ 
nisse durch Arzt und Fürsorger zu legen. 

Ferner kann an die Gründung von Genesungsheimen, 
wo die Kranken von der Anstalt aus die erste Unterkunft und auch 
Beschäftigung, sei es im Hause selbst, sei es aber außerhalb, angewiesen 
bekommen, als Ubergangsaufenthalt aus dem Anstaltleben in die völlige 
Freiheit gedacht werden. 

Die Pflegeversicherung der Geisteskranken 
nach Nürnberger Muster ist, wie ich andernorts nachgewiesen habe, 
insofern eine überaus segensreiche Einrichtung, als sie die Kranken 
und ihre Familien wenigstens vor den materiellen Schäden der Er¬ 
krankung sicherstellt; sie sollte überall nachgeahmt werden. 

Weiterhin müßte zu allen diesen Fürsorgebestrebungen aber auch 
noch ein aktives Aufsuchen der Bedürftigen in den ärmeren 
Schichten des Volkes hinzukommen, um schon beim Beginne nervöser 
und geistiger Erkrankungen jeder Art, sei es beim Kinde oder beim 
Erwachsenen, frühzeitig eingreifen und abhelfen zu können; hier fehlt 
es meist am nötigsten, an der Erkennung der Krankheitzeichen sowohl 
wie an den Beratern und an den Mitteln zur richtigen Fürsorge. 

Die Heil- und Pflegeanstalt selbst muß aber für ihren Aufnahme - 
bezirk die poliklinische Zentrale und Beratung¬ 
stelle für alle vorkommenden psychiatrischen Fragen und sozial - 
medizinischen Fürsorgebestrebungen bilden. 

An meine Fachkollegen möchte ich bei dieser Gelegenheit den 
Appell richten, daß sie sich mehr wie seither den sozialpsychiatrischen 
Aufgaben zu wenden mögen. Die klinische Forschung, die anato¬ 
mischen Untersuchungen sind schön und notwendig; wer wollte es 
verkennen, wer nur im mindesten sie einschränken 1 Nicht minder 


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Neue Aufgaben der Psychiatrie in Baden. 


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wichtig und nötig aber ist unsere ärztliche Arbeit auf diesem Felde 
der praktischen sozialen Irrenfürsorge. 

Wie man sieht, sind hier noch weite Gebiete zu bestellen. Die 
Aufgabe wird zwar zunächst den Hilfsvereinsbestrebungen zufallen; 
der Staat kann aber seine mächtige Hilfe und Förderung nicht ver¬ 
sagen, da es sich um seine ureigensten Interessen, um das wichtige 
Problem der Prophylaxe und Bekämpfung einer der verbreitetsten 
aad sozial schädigendsten Volkskrankheiten handelt und damit um 
die Hebung des Volkswohls und der Volkskraft im ganzen. 

8. Wir haben uns in Baden noch eine unserer Ansicht nach sehr 
bedeutungsvolle Aufgabe in anderer Richtung, die aber mit den 
seither behandelten eng zusammenhängt, gestellt: Wir wollen mit 
der Zeit eine statistische Aufnahme aller Geistes¬ 
kranken des Landes herbeiführen zu dem Zwecke 
einer allgemeinen Erforschung der Geisteskranheiten und ihrer Ur¬ 
sachen; hier tappen wir bekanntlich in den wichtigsten und einfachsten 
Fragen noch vielfach im Dunkeln. Es handelt sich insbesondere um 
die Ätiologie der Psychosen in den verschiedensten Richtungen, vor 
iflem auch um das Erblichkeitsproblem und ferner um die Frage der 
Zunahme der Geisteskranken, Ziele, aiif die ich schon seit 10 Jahren, 
»letzt in der „Denkschrift über den Stand der Irrenfürsorge in Baden“ 
( 1909 ) und auf dem „ 3 . internationalen Kongreß für Irrenfürsorge“ 
in Wien (1908) in dem Vortrage: „Die einheitliche Gestaltung der 
Jahresberichte der Irrenanstalten“ eingehender hingewiesen habe. 
Dort ist auch von mir der Vorschlag auf Einsetzung einer „psychia¬ 
trisch-statistischen Landeszentralstelle“ zur wissenschaftlichen Unter¬ 
suchung und Verarbeitung des Krankenmaterials gemacht worden. 

In jüngster Zeit hat die Frage der psychiatrisch-sta¬ 
tistischen Sammelforschung erneute Anregung er¬ 
fahren, so daß sie nicht mehr so schnell zur Ruhe kommen wird; die 
Anläufe dazu mehren sich vielmehr von Jahr zu Jahr, und auch früher 
Fanerstehende sind jetzt zu Anhängern geworden. An derartigen 
wissenschaftlich begründeten Vorschlägen, die alle die Notwendigkeit 
vertiefter statistischer Untersuchungen dartun, nennen wir vor allem 
Front, Tamburini („Internationales Institut zur Erforschung der 
Geisteskrankheiten “), Sommer („Psychiatrische Abteilung beim Reichs- 
graundheitsamt“), Kraepelin (Antrag auf dem Berliner internationalen 

Zdtwhrtft ftr Payohiatrie. LXLX. 1. O 


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Fischer, 


Kongreß auf Einführung einer eingehenden Bevölkerungstatistik und 
seine weitere Anregung auf der Stuttgarter Versammlung des Deut¬ 
schen Vereins für Psychiatrie (1911) über die Einsetzung einer Kom¬ 
mission zur Untersuchung der Frage der Zunahme der Geisteskrank¬ 
heiten) und Schüle durch seine bekannten Bestrebungen für diese Art 
ätiologischer Sammelforschung, insbesondere die Erblichkeitsfrage. 

In England besteht bekanntlich schon lange eine Evidenzerhaltung 
sämtlicher Geisteskranken, und in Ungarn soll sie nach dem neuen 
Entwürfe des Irrengesetzes in der gleichen Weise eingeführt werden. 

Den Weg der statistischen Landesaufnahme der Geisteskranken 
gedenken wir nun in Baden in der Weise zu beschreiten, daß zunächst 
für sämtliche in den Anstalten befindlichen und dahin neu aufgenom¬ 
menen, aus ihnen entlassenen Kranken eine Zählkarte mit allen 
für die statistische Forschung nötigen Fragepunkten ausgefüllt wird. 
Eine derartige Zählkarte ist an der Anstalt Wiesloch bereits vor 
6 Jahren ausgearbeitet worden und befindet sich seitdem, also seit 
Eröffnung der Anstalt, im Gebrauch. Sie enthält sämtliche Daten 
1. für die Ausfüllung der Reichsmedizinalstatistik, 2. für die vom 
badischen statistischen Landesamt aufgestellte Fragekarte, 3. für 
die Bearbeitung des Krankenbestandes nach dem statistischen Schema 
unserer Anstaltjahresberichte und 4. außerdem eine große Reihe 
von für die wissenschaftliche Ursachenforschung unerläßlichen Einzel¬ 
fragen. Sie ist dadurch für uns ein sehr wichtiges Requisit sowohl 
in der ätiologischen Festhaltung eines jeden einzelnen Falles wie 
auch für die größeren Zusammenstellungen über unser gesamtes 
Krankenmaterial geworden. In gleicher Weise würde sie sich nach 
Vornahme etwa nötiger Abänderungen auch für die allgemeinere 
Einführung zum Zwecke der statistischen Sammelforschung über ein 
ganzes Land wohl eignen. 

Außer der Anstaltbevölkerung selbst soll aber fernerhin noch 
eine möglichst große Anzahl der außerhalb der Anstalten 
befindlichen Geisteskranken in den gleichen Zähl¬ 
karten festgehalten werden. In welcher Weise dieses Vorgehen und 
weiterhin das Anlegen von sogenannten Stammlisten beim Statisti¬ 
schen Landesamt gedacht ist und welche Kategorien von Personen 
hierbei in Betracht kommen, ist in der Fachpresse bereits behandelt 
worden; vergleiche hierzu Römer: „Eine Stammliste aller amtlich 


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Neue Aufgaben der Psychiatrie in Baden. 


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bekannt werdenden Fälle von Geisteskrankheit“ (Psych.-Neur. 
Wehnschr. 1911/12, Nr. 10) und Römer : „Zur Methodik der psychia¬ 
trischen Ursachenforschung“ (Vortrag auf der 83. Vers. Deutscher 
Naturf. u. Ärzte in Karlsruhe im Sept. 1911). 

Wir täuschen uns keineswegs darüber, daß mit diesem Vorgehen 
nur ein allererster Anfang geschaffen wird, daß wir dadurch noch lange 
nicht einen vollständigen Stand aller Geisteskranken des Landes 
erhalten werden. Wir sind aber ebenso fest überzeugt davon, daß wir 
mit der Zeit, insbesondere durch den Vergleich der Zählungen 
aus den verschiedenen Perioden zu verwertbaren und bedeutsamen 
Resultaten kommen werden. 

Als Endpunkt dieser Bestrebungen stellen wir uns eine allgemeine 
Zählung der Geisteskranken nach der eingeführten Zählkarte bei jeder 
Volkszählung vor. Man wird dadurch zugleich das beste Vergleichs¬ 
material zu den in den Stammlisten festgestellten Zahlen erhalten. 

Nur durch positive Arbeit aber können die von mancher Seite 
gemachten Bemängelungen über die jetzige Unsicherheit in allen 
psychiatrisch -statistischen Fragen behoben werden. Die Erfolge 
eines solchen gemeinsamen Unternehmens werden sich allerdings nicht 
sofort, sondern erst nach und nach einstellen. Gerade darum aber 
wäre es Pflicht auch gegen die Zukunft, möglichst bald mit dieser 
Arbeit zugunsten der sozialen und gesundheitlichen Wohlfahrt des 
Volkes zu beginnen und keine Zeit mehr zu versäumen, damit die 
Ergebnisse und Vorteile der Forschung um so eher zur Geltung gelangen 
können. 


Wir haben hier ein sehr weitläufiges und reiches Programm für 
die fernere Ausgestaltung des badischen Irrenwesens entwickelt. Bei 
seiner Verwirklichung werden wir nach dem Grundsätze verfahren: 
Das Nötigste zuerst. D. h. zunächst Plätze, neue Anstalten zur 
Beherbergung des immer stärker werdenden Krankenzudranges, 
Vervollkommnung der inneren Organisation nach dem Prinzip der 
regionären und zugleich freieren Verteilung der Irrenfürsorgeaufgaben, 
sodann Verfolgung der übrigen dargelegten Programmpunkte nach 
ihrer Dringlichkeit, worin insbesondere die Jugendfürsorge 
und die Ausgestaltung der sozialen Psychiatrie eine füh- 

6 * 


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Fischer, Neue Aufgaben der Psychiatrie in Baden. 


rende Rolle spielen muß. Manche anderen Punkte werden daneben 
noch gefördert werden können, andere gleichfalls wichtige werden 
dagegen liegen bleiben müssen, bis wir auch dafür Zeit und Mittel 
aufbringen können. Im Zeichen eines stetigen und doch energischen 
Fortschritts hoffen wir im Laufe der Jahre die Erfüllung unserer Ziele 
in ihrer Gesamtheit durchzusetzen. 


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Über den Status epilepticus und seine Be¬ 
kämpfung mit hohen Dosen von Atropinum sulf. 

Von 

Dr. med. Domer, Maria Lindenhof bei Dorsten i. W. 

Es würde die Grenzen der Urteilsmöglichkeit auf medizinischem 
Gebiete überschreiten, wollte man jeden Status epilepticus auf eine 
vermeidbare Schädlichkeit zurückführen. Es wird immer eine Gruppe 
von Kranken geben, die zum Status neigen, während andere, trotz 
aOer schädlichen Einflüsse nie von einem Status befallen werden, 
freilich hat Forschung und Erfahrung das Resultat gezeitigt, daß 
bestimmte Ursachen auf das Auftreten eines Status auslösend ein¬ 
wirken können. So bezeichnet Oowers die plötzliche Unterbrechung 
der Brombehandlung als die häufigste Ursache für die lebensgefähr¬ 
liche Häufung der Anfälle; von andern wurde diese Beobachtung 
bestätigt, Peterson wendet sich allerdings gegen diese Ansicht. Er hat 
durch plötzliche Bromentziehung keinen Schaden gesehen, sondern 
bei einigen Kranken sogar Besserung dadurch erzielt. Es handelt 
sich hierbei sicher um Ausnahmefälle, die plötzliche Bromentziehung 
dürfte immerhin ein gefährliches Experiment bleiben. Ich kann diese 
Beobachtung durch eigene Erfahrung in drei Fällen unterstützen. 
Einer dieser Kranken war nach Hause beurlaubt, ein anderer ent¬ 
wichen; der dritte kam innerhalb der Anstalt zur Beobachtung. Bei 
allen Dreien trat einige Tage nach Unterbrechung der Brombehandlung 
Status epilepticus schwerster Art auf. Andere auslösende Ursachen, 
die für das Auftreten eines Status verantwortlich gemacht worden 
sind, wie Alkoholgenuß, Obstipatio, sexuelle Exzesse, strahlende 
Sonnenhitze {AU), werden in erster Linie für die außer Anstaltbehand¬ 
lung stehenden Fälle ihre Geltung behaupten, innerhalb der Anstalt 
doch nur zu Seltenheiten gehören. Alle seelischen und körperlichen 


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D o rn e r, 


Reizpotenzen ( Böckelmann ) können natürlich auch in der Anstalt 
nicht ganz vermieden werden und werden sich immer bei dem einen 
oder andern als auslösendes Moment anführen lassen. Das beste — 
wenn auch nicht absolut wirksame — Mittel zur Vermeidung eines 
Status ist innerhalb der Anstalt aufmerksamste Pflege; denn bekannt¬ 
lich sind gerade die Siechen und Elenden unter den Epileptikern 
am meisten gefährdet. Doch auch der geschulteste Pfleger wird bei 
dem sich täglich gleichenden Ablauf der Geschehnisse nicht imstande 
sein, immer die ersten Anfänge eines Rückgangs in dem Befinden 
der Kranken zu bemerken. Hier ist es in erster Linie das geübte Auge 
des Arztes, das die besonderer Pflege Bedürftigen herausfindet. Eine 
auffallende Müdigkeit, schlaffe Haltung der Kranken, angegriffenes 
Aussehen bilden den ersten Anlaß für eine eingehendere Behandlung. 
Ernstere Fälle, wie verminderte Nahrungaufnahme, häufigeres Auf¬ 
treten von Anfällen im Gegensatz zu früher, werden ja ohne weiteres 
zur Kenntnis des Arztes gelangen. Behandlung dieser Kranken 
mit Bettruhe, Kostzulagen, Regelung der Körperfunktionen neben 
Verabreichung der gebräuchlichen Arzneimittel kann manchem 
Status Vorbeugen. Auch die vorsichtige Verabreichung salzloser oder 
salzarmer Kost wird in geeigneten Fällen Erfolg zeitigen, und nur 
mit dieser Einschränkung wird man Kiuberg in seiner Ansicht bei¬ 
stimmen können, daß die Kur nach Toulouse den Ausbruch eines 
Status verhindern könne. Denn manche trübe Erfahrung hat gelehrt, 
daß gerade bei einer Kur nach Toulouse Status in seiner schwersten 
Form auftreten kann. 

Trotz aller dieser Vorsichtsmaßregeln werden sich die Fälle von 
Status epilepticus wohl einschränken, nicht aber vermeiden lassen, 
und nur ein allzu häufiges Auftreten in einer Anstalt wird den Ver¬ 
dacht auf Unterlassungsünden in der Pflege erregen. Solange wir die 
Ursache der Epilepsie nicht kennen, werden wir auch mit unsem 
Abwehrmitteln mehr oder minder im Dunkeln tappen. Denn gerade 
hier läßt uns der pathologische Befund, der in erster Linie Aufschluß 
geben könnte, fast völlig im Stich. Abgesehen von durch Trauma 
hervorgerufenem Status, wo z. B. Luce in zwei Fällen große Blut¬ 
extravasate in der Schädelhöhle als Ursache nachweisen konnte, 
sehen wir nirgends Ursachen, nur die Folgen des Status in seiner 
ganzen verheerenden Wirkung. Die Ergebnisse der Obduktionen, 


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über den Status epilepticus und seine Bekämpfung usw. 


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die Weber bei allen innerhalb vier Jahren in der Anstalt Uchtspringe 
im Status Gestorbenen vornahm, können hier als maßgebend betrachtet 
werden. Er fand in fast allen Organen Stauungserscheinungen, Blut¬ 
extravasate, frische fettige Degeneration in Herz, Leber und Nieren, 
schwere Erkrankung der Blutgefäße, durch Blutaustritt zerstörte 
Gehirn- und Oblongatapartien. Wohl wurde auch die Giftwirkung 
von Organextrakten und Sekreten der im Status Gestorbenen konstatiert 
(Tiburtius, Gobüto), doch des Wesens eigensten Kern zu ergründen 
ist noch nicht gelungen. 

Durch Beobachtung der oben angegebenen Regeln ist es immerhin 
geglückt, die Zahl der im Status Sterbenden gegen früher bedeutend 
herabzusetzen; doch ist die Anzahl der Todesfälle immer noch eine 
recht erhebliche. Nach Wüdermuth stirbt die Hälfte aller Epileptiker 
an gehäuften Anfällen, nach Worcester 64%; Binswanger bezeichnet 
den Status als die häufigste Todesursache der Epileptiker, ähnlich 
spricht sich Fere aus; Habermaas bezeichnet innerhalb der Anstalt 
in 47,6%, außerhalb in 59% Status als Todesursache bei Epilepsie. 
Der Prozentsatz in unserer Anstalt bleibt bedeutend hinter diesen 
Zahlen zurück. So starben im Jahre 1911 einer, 1910 vier, 1909 
drei im Status bei einer durchschnittlichen Verpflegungszahl von 320. 
Doch ermöglichen ja diese statistischen Angaben keine einheitliche 
Beurteilung. Ja es ist sogar der Fall möglich, daß sich bei Beziehung 
auf die Sterbefälle in der Anstalt überhaupt in alten Anstalten mit 
weniger günstigen hygienischen Einrichtungen und solchen mit 
ungünstigeren klimatischen Lagen die Prozentzahlen für im Status 
Gestorbene infolge der höheren allgemeinen Sterblichkeitsziffer günsti¬ 
ger stellen, im Gegensatz zu modern eingerichteten Anstalten mit 
allem hygienischen Komfort. Eine Berechnung im Verhältnis zur 
Verpflegungsziffer würde hier ein klareres Bild geben. Auch werden 
kleinere Anstalten, die nur die dringlichsten Fälle aufnehmen können, 
also in erster Linie Sieche und Pflegebedürftige, bei der größeren 
Neigung zu gehäuften Anfällen gerade dieser Kranken mehr Todes¬ 
fälle im Status aufweisen wie große Anstalten, in denen viele körper¬ 
lich Rüstige und geistig Gesunde Aufnahme finden können. 

Bei den mit dem Tode endenden Status handelt es sich ja fast 
immer um Status schwerster Art, obwohl ja bei nebenhergehenden 
andern Erkrankungen wie besonders schweren Herzleiden auch leicli- 


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Dorner, 


tere gehäufte Anfälle den Tod herbeiführen können. Sonst wird der 
Begriff des Status epilepticus von manchen Autoren enger, von andern 
weiter gefaßt. So sagt Qotoers : Folgen schwere Anfälle so häufig 
einander nach, daß in den Intervallen das Bewußtsein nicht wieder¬ 
kehrt, oder nur unvollkommen erwacht, dann besteht jener Zustand, 
der als Status epilepticus bezeichnet 1 wird. Redlich schreibt: Status 
epilepticus.... wobei zwischen den Anfällen das Bewußtsein nicht 
wiederkehrt, Fieber sich einstellt und oft sogar der Exitus letalis ein- 
tritt. Böckelmann führt die Definition von Cdmeü als prägnant an: 
„Es gibt Fälle, wo schon vor Ende des einen Anfalls ein anderer be¬ 
ginnt und so immer weiter Schlag auf Schlag, so daß man 40, ja 60 An¬ 
fälle ohne jede Unterbrechung zählen kann. Es ist das jener Zustand, 

den die Kranken unter sich fitat de mal nennen.“ Doch erwähnt 

Böckelmann auch Anfallserien, die in den Status epilepticus im engem 
Sinne übergehen können. Als Unterscheidungsmerkmal stellt er die 
zeitweise Bewußtseinsaufhellung in einem Fall der steten Bewußt¬ 
losigkeit im andern gegenüber. Bei allen Definitionen bildet die an¬ 
dauernde Bewußtlosigkeit zwischen den einzelnen Anfällen das Haupt¬ 
unterscheidungsmerkmal. Doch rechnet Gowers noch Anfallserien, 
in deren Zwischenpausen das Bewußtsein unvollkommen erwacht, 
zum Status, während Böckelmann diese Attacken vom eigentlichen 
Status als Anfallserien abtrennt. Böckelmann faßt den Begriff des 
Status offenbar zu eng, denn bei einem Übergang der Serien in einen 
schweren Status ist es nicht leicht, eine Grenze festzustellen. Diese 
Serien können aber nicht nur die Einleitung zum Status bilden, son¬ 
dern selbst durch ihre lange Dauer eine schwere Form darstellen. Ich 
habe unter andern einen Fall behandelt, bei dem 10 Tage lang Tag 
und Nacht alle 1 / 2 bis 1 Stunde ein leichterer Anfall auftrat, in den 
Zwischenpausen das Bewußtsein sich immer wieder aufhellte und 
trotzdem der Kranke am Ende der Anfallserien aufs äußerste erschöpft 
war, in demselben Grade wie Kranke nach einem kürzeren schweren 
Status. Derartige Anfallserien gehören meines Erachtens zum Be¬ 
griff des Status epilepticus. Mag es auch bei oberflächlicher Betrach¬ 
tung nicht von besonderer Wichtigkeit erscheinen, ob ein Autor noch 
leichtere Anfallserien als Status bezeichnet oder nicht, so ist es doch 
von großer Bedeutung für die Beurteilung der Wirkung der einzelnen 
Arzneimittel, ob die geheilten Fälle Serien oder schweren Status 


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Ober den Status epilepticus und seine Bekämpfung uaw. 


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betrafen. Es wäre jedenfalls wünschenswert, hier nach einheitlichen 
Gesichtspunkten urteilen zu können. Ich habe mich in der hiesigen 
Anstalt gewöhnt, die Beurteilung der Schwere des Status von dem 
Verhalten des Herzens abhängig zu machen und alle Anfallserien 
von diesem Gesichtspunkte aus als leichte, mittelschwere und schwere 
Formen zu unterscheiden. Die leichte Form bestände demnach 
in Anfallserien mit größeren Zwischenpausen, in denen das Bewußtsein 
ganz oder zum Teil erhalten ist; der Puls ist in den Anfallpausen 
annähernd normal. Die mittelschwere Form bestände in Anfallserien 
mit schweren Anfällen, die häufig aufeinander folgen, mit größten¬ 
teils geschwundenem Bewußtsein in den Pausen, doch ohne ernstere 
Herzstörung, Pulsbeschleunigung in der Anfallpause bis höchstens 
110 bis 120 in der Minute. Bei der schweren Form folgen sich An¬ 
fälle häufig, Störung der Herzfunktion zeigt sich in kleinem oder un¬ 
regelmäßigem Puls oder Beschleunigung von 120 bis 180 und mehr 
in der Minute während der Anfallpause. Völliger Bewußtseinschwund. 
Herzinsuffizienz stempelt jede Anfallserie zur schweren Form. Also 
nicht die Schwere oder Häufigkeit der Anfälle allein sollte für die Be¬ 
oteilung ausschlaggebend sein, sondern auch das Verhalten des Her¬ 
tens den Attacken gegenüber in Betracht gezogen werden. Eine 
Sonderstellung nimmt jener Zustand ein, den ich als subakuten Status 
epilepticus bezeichnen möchte. Ich verstehe darunter ein allmählich 
läufigeres Auftreten der epileptischen Anfälle leichterer oder schwe¬ 
rerer Natur, die jeder Therapie trotzen. Bei Kranken, die früher 
vielleicht alle 8 Tage oder seltener Anfälle bekommen, treten nach 
und nach 2 bis 3 leichtere Anfälle täglich auf, die trotz Bettruhe, 
Ausschaltung aller Schädlichkeiten, Verabreichung der bewährten 
Arzneimittel nicht zurückgehen, sondern an Intensität und Häufig¬ 
keit — vielleicht nach Pausen scheinbarer Besserung — zunehmen 
and schließlich in einem schweren Status enden. Man hat den Ein¬ 
druck, daß das Epilepsiegift — wenn wir ein solches annehmen — 
derartig dominierend auftritt, daß der Körper dem gegenüber jede 
Widerstandkraft einbüßt. 

Die leichten und mittelschweren Formen des Status epilepticus 
können ohne medikamentöse Therapie auch zur Abheilung kommen. 
Bettruhe, Fernhaltung aller Reize, Eisbeutel auf dem Kopfe und vor 
allem gehörige Darmentleerung durch Einläufe oder Rizinus sind die 


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Dorner, 


im allgemeinen genügenden Maßnahmen. Vielleicht, daß man die 
gewöhnliche Bromdosis erhöht und Kranken, die nicht unter Brom¬ 
behandlung stehen, 6 bis 8 g Bromsalz verabreicht. Ich habe eine 
Reihe derartiger mittelschwerer Fälle in der geschilderten Weise be¬ 
handelt und bin überall gut zum Ziel gekommen. Ich richtete mich 
bei der Beurteilung nur nach dem Verhalten des Pulses, obwohl in 
verschiedenen dieser Fälle die Anfälle sehr schwerer Natur waren, 
rasch sich folgten und das Bewußtsein auch in der Zwischenzeit er¬ 
loschen war. Es ist daher erklärlich, daß wir so vielfach von erfolg¬ 
reichen Behandlungsmethoden hören, wenn die Arzneimittel bei dieser 
Form des Status ihre Probe bestehen müssen. Es soll aber durchaus 
nicht damit gesagt sein, daß nur die schweren Fälle des Status be¬ 
handelt werden sollen. Denn auf jeden Fall kann durch sachgemäße 
Behandlung auch ein leichterer Fall abgekürzt werden und — was 
das Wichtigste ist — ein Fortschreiten bis zur schweren Form ver¬ 
mieden werden. Es sollen auch in diesen Fällen neben der oben 
erwähnten allgemeinen Maßnahme mit Auswahl die therapeutischen 
Hilfsmittel zur Anwendung kommen, wie sie in großer Zahl zur 
Bekämpfung des Status von vielen Autoren empfohlen sind, 
begeisterte Anhänger und skeptische Beurteiler gefunden 
haben. — Zu den wirksamsten gehört das von Wüdermuth 
eingeführte Amylenhydrat, das von Ackermann, Naab, Strwmpd, 
Kraepelin, Flügge, AU, Redlich, Böckelmmn u. a. nachgeprüft und zum 
Teil dringend empfohlen wurde. Stvntzmg nennt es unsicher, Gowers 
und Fere legen ihm keinen Wert bei. Binswanger und Ziehen empfehlen 
zuerst das Chloralhydrat, das sich ebenfalls bewährt hat, doch auch — 
insbesondere wegen seiner schädlichen Wirkung auf das Herz — 
seine Gegner hat. An seiner Stelle wurde von Hoppe das Dormiol, 
eine Verbindung des Chloralhydrats und des Amylenhydrats empfohlen, 
das sich auch weiter viele Freunde erworben hat (Alt, Böckelmatm , 
Redlich). Alt und Gotoers wenden auch Chloroformnarkose an; Alt 
neben Sauerstoffinhalation, Gowers nur solange zur Unterdrückung 
der Anfälle, bis die andern Arzneimittel ihre Wirkung ausüben. Da¬ 
neben werden auch von andern Methoden günstige Erfolge berichtet, 
so von Entgiftung mittels Magendarmspülungen ( Barham), Ergotin- 
injektionen (White Emest), Hyoscin. hydrobromicum (Gowers), Bäder, 
daneben Bekämpfung der Herzschwäche durch Strophant., Digitalis, 


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Uber den Status epilepticus and seine Bekämpfung usw. 


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Kampfer, Strychnin. Redlich spricht neben andern der Venaesectio 
mit Kochsalzinfusion das Wort. Besonders dringend empfiehlt 
Böckelmann die unbeirrte Anwendung hoher Dosen von Narkoticis, 
Dormiol bis 30 g., Chloralhydrat 9 g. Alle haben ihre Erfolge, viele 
ihre Gegner, so besonders Chloralhydrat, Morphium, Chloroform. 
In den mittelschweren und leichten Fällen wirken diese Mittel prompt, 
versagen jedoch oft gerade in den schwersten Fällen und zeigen vielfach 
nicht einmal eine Verminderung oder Abschwächung der Anfälle. 
Ein jeder Arzt, der Status epilepticus zu behandeln Gelegenheit hat, 
kennt die Ohnmacht unserer Hilfsmittel in vielen solcher Fälle. Es 
mag daher genügen, einige Krankengeschichten zur Illustration 
herauszugreifen. 

K. A., 32 Jahre alt, durchschnittlich 4 bis 5 Anfälle im Monat. 
26. 3. 1906 Beginn des Status, alle 2 bis 3 Minuten sehr schwere An¬ 
fälle. Neben Bettruhe kühle Umschläge um den Kopf, Einlauf, im Laufe 
des Tages 8 g Amylenhydrat subkutan. Daneben dreimal täglich 10 
Tropfen Tct. Strophanti und Digitalis, abends 3 g. Chloralhydrat per 
rectum, in der Nacht 11 Uhr 0,0005 Skopolamin subkutan. Trotzdem 
'lauern die Anfälle ununterbrochen bis 28. morgens. Dann totale Er- 
aattung, große Herzschwäche; trotz stündlichen Kampferinjektionen 
jud zwei Nähreinläufen in der folgenden Nacht Exitus letalis. 

H., 16 Jahre alt, in der Nacht vom 13. auf 14. 5. 08 Auftreten 
■•iDes Status epilepticus, % stündlich schwerer Anfall, in Zwischenpausen 
völliger Bewußtseinschwund. Chloroforminhalation, im ganzen 40 g. 
Trotzdem % stündlich 1 bis 2 Anfälle und mittags 1 Uhr Exitus letalis 
direkt nach einem Anfall. 

Auch verhältnismäßig große Dosen zeigen hier gar keine Wirkung. 
!>as spätere Schwinden der Anfälle tritt sehr häufig ein und zwar 
«hne jede Verabreichung eines Arzneimittels. Nur wenn die Anfälle 
»nz kurze Zeit nach der Einnahme der Arzneimittel stehen und sich 
dieser Vorgang des öfteren demonstrieren läßt, ist dies für die Wirkung 
dieser Mittel beweisend. Zudem verbieten sich Mittel wie Chloral- 
fiydrat, Morphium, Chloroform in allen Fällen, die mit Herzstörungen 
nnhergehen, also gerade in den Fällen, die am meisten gefährdet sind. 
Bei diesen Kranken steigt die Herzschwäche ja bekanntlich in kurzer 
Zeit so enorm, daß sie in späteren Stadien durch nichts mehr zu be¬ 
kämpfen ist. Auch unser bestes Rüstzeug, Kampfer, Koffein, Stro- 
phant. Strophantin, Digalen subkutan und intravenös, Aderlaß ver¬ 
mögen auf die Dauer nicht das Sinken der Herztätigkeit hintanzuhalten, 


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76 


Dorner, 


selbst wenn die Anfälle zum Stehen gekommen sind. Am meisten 
nützt noch Kampfer und Digalen, von'den gerühmten Strophantin¬ 
injektionen habe ich hierbei gar keinen Erfolg gesehen. Bei der 
Häufigkeit dieses Ausgangs kann ich mich darauf beschränken, einige 
besonders markante Fälle anzuführen. 

1. B. 30. 7. 1907 im Status epilepticus eingeliefert. 4 Spritzen 
Amylenhydrat k 1 ccm, Skopolamin 0,0005 subkutan. Nähreinläufe. 
Anfälle stehen nach 24 Stunden nach der Einlieferung, Herzschwäche, 
160 Puls. Digalen, Tct. Strophanti, Koffein, Kampfer abwechselnd 
y 2 stündlich eine Spritze zeigen vorübergehende Wirkung. 7. 8. 07 
Exitus unter den Erscheinungen der Herzinsuffizienz. 

2. B. J., Fr. Ab 9./7. nachmittags bis 10./7. vormittags schwerer 
Status epilepticus. 10 g Bromkali auf einmal, neben Abführen, Ruhe 
usw. Anfälle stehen. Große Herzschwäche. Puls 160. Kühle Extremi¬ 
täten, beschleunigte Atmung. 20 gtt. Digalen innerlich, später 4 Pravaz 
Digalen intravenös, 1 subkutan sind ohne jede Wirkung. 11./7. nachts 
Exitus letalis. 

3. B., Bd. 13. 12. 08. Nachts 5 Anfälle; Bett, Rizinus; 8 g Brom¬ 
kali; in den nächsten beiden Tagen schwerer Status, am 15. 12. morgens 
letzter Anfall. Puls klein, aussetzend, 160. Digalen dreimal täglich 
1 Pravaz; Kampfer, strophant. bringt bedeutende Besserung. Will auf- 
stehen, ist bei klarem Bewußtsein. Puls auf 120 zurück, doch klein. 
Am 16. 12. nachm, geht Patient auf den Nachtstuhl, darauf plötzlich 
Exitus. Durch die intensive Herzbehandlung erholte sich das Herz und 
funktionierte leidlich bei Ruhelage. Doch die Lageveränderung und 
geringe Anstrengung bei der Defäkation genügen, um das Herz erlahmen 
zu lassen. Es zeigten sich hierbei keine Störungen von seiten des Gehirns, 
die auf apoplektische Insulte hinwiesen. 

Es ist ja wohl nicht nur die toxische Wirkung des epileptischen 
Krankheitstoffes als Ursache für diese Herzinsuffizienz anzusprechen, 
sondern in erster Linie die enormen mechanischen Anforderungen 
an die Herzkraft während der Dauer der Anfälle. Fällt doch auch 
sonst bei allen Krankheiten, so insbesondere bei Pneumonie, Influenza, 
septischen Prozessen das raschere Versagen der Herzkraft bei den 
Epileptikern auf, im Gegensatz zu Nichtepileptikern, und bei den 
meisten Sektionen ist die Degeneration des Herzmuskels nachweisbar. 
Ich gebe deshalb seit Jahren bei allen ernsteren Erkrankungen der 
Epileptiker von vornherein Digitalis, wie ich glaube, mit bestem Er¬ 
folge. Diese Erfahrung führt notwendigerweise zu der Annahme, 
daß die von Weber festgestellte fettige Degeneration des Herzmuskels 


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Über den Status epiiepticns and seine Bekämpfung usw. 


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bei im Status Verstorbenen, im geringeren Grade bei allen Epileptikern 
vorhanden ist. Die Schädlichkeiten, die beim Status vervielfacht 
auf das Herz einwirken, bilden im geringeren Grade eine stetige Noxe 
bei allen Epileptikern. 

Wenn wir also das Erlahmen der Herztätigkeit als das gefahr¬ 
drohendste Moment beim Status epilepticus erkannt haben, so ist es 
auch unsere erste Aufgabe bei jedem Status, von Anfang an die Herz¬ 
kraft zu erhalten zu suchen, alles zu vermeiden, was diese schädigen 
kann, und keinesfalls so lange mit Verabreichung von Herzmitteln 
ru warten, bis ernste Störungen auftreten. Wohl wird es immer erste 
Aufgabe bleiben, die Anfälle ab die schädigendsten Momente zu be¬ 
kämpfen, doch nie auf Kosten des Herzens. Denn was nützt es uns, 
wenn die Anfälle zum Stehen kommen und die Kranken nachher an 
Herzinsuffizienz zugrunde gehen? Deshalb können Mittel mit schäd¬ 
licher Nebenwirkung auf das Herz nur im allerersten Anfang und in 
nicht allzu großen Dosen gegeben werden. Denn wir können nie 
wissen, bei welcher Dosis das schädigende Moment das therapeutbche 
iberwiegt. 

Das ideale Mittel bei Bekämpfung des Status wäre demnach ein 
solches, das möglichst stark auf die Anfälle wirkt, ohne das Herz zu 
schädigen, oder noch besser, das zugleich die Herztätigkeit hebt. Diese 
Gesichtspunkte waren es, die mich bei meinen Versuchen mit hohen 
Dosen von Atropin, sulf. leiteten. Und berechtigen die Erfolge auch 
nicht zu dem Schlüsse, daß die hohe Atropindosis jeden Status zu be¬ 
kämpfen imstande ist, so versprechen sie doch die Erfüllung der zwei¬ 
fachen Forderung: intensive Wirkung auf die Anfälle und zu gleicher 
Zeit Hebung der Herzkraft. 

Die für uns in Betracht kommende Atropinwirkung innerhalb 
der gewöhnlichen Dosen besteht nach den Lehrbüchern ( Tappeiner , 
Sekmiedeberg) in Erhöhung des Blutdrucks — Tappeiner stellt es ab 
zweifelhaft hin, ob diese nicht auch auf Erregung des verlängerten 
Marks beruht —, des weiteren in Lähmung der Hemmungswirkung des 
Vagus, in Beschleunigung der Peristaltik — auch bei sehr großen Dosen 
ist noch die Erregbarkeit des Peristaltik auffallend — bei Krampf- 
zoständen der glatten Muskulatur tritt jedoch Lähmung ein. Außer¬ 
dem Pupillenerweiterung, Behinderung oder Einstellung der Drüsen- 
iekretion. Bei ganz hohen Dosen werden immer Erregungszustände 


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Dorner, 


und nachher Lähmung und Sopor beschrieben. Doch hat die Er¬ 
fahrung in der allgemeinen Praxis gelehrt, daß erst Beruhigung, mehr- 
ständiger Schlaf eintritt und dann später Delirien. 

Schon längere Zeit wurden die hohen Atropindosen in der all¬ 
gemeinen, besonders jedoch in der chirurgischen Praxis bei para¬ 
lytischem und mechanischem Deus mit Erfolg verabreicht; es handelt 
sich hier um das Drei- bis Fünffache der Maximaldosis. In erster 
Linie war hier die Wirkung des Atropins auf die glatte Muskulatur 
des Darms ausschlaggebend. Eine Dosis von 0,003 bis 0,005 Atropin, 
sulf. bewirkt hier vielfach 3 bis 4 ständigen Schlaf mit nachfolgender 
reichlicher Darmentleerung. Außer Pupillenerweiterung, Trockenheit 
der Schleimhaut und der Haut werden keine Vergiftungserscheinungen 
beobachtet. Der vorher gewöhnlich schlaffe und unregelmäßige Puls 
wird kräftig, voll und regelmäßig. Muß die Dosis mehrmals angewen¬ 
det werden, so kann es wohl zu leichten Delirien kommen, die völlig 
ungefährlich und durch Morphium leicht zu bekämpfen sind. Irgend¬ 
welche gefahrdrohende Vergiftungserscheinungen sind hierbei in der 
Literatur nicht bekannt geworden. Es ist deshalb kein Grund vor¬ 
handen, ängstlich zu sein. Rudisch gab sogar bei einem 9jährigen 
Kinde bis 0,006 pro die; also die doppelte Maximaldosis und von 
Methylatropin, dem weniger giftigen Salz, bis 0,032 und einmal sogar 
bis 0,06 3mal täglich. Das wäre das 60fache der Maximaldosis von 
Atropin, sulf.; diese Dosis gab er allerdings erst nach allmählicher 
Steigerung. Er betont die gute Verträglichkeit und hat nur Trocken¬ 
heit im Halse als Nebenerscheinung beobachtet. Immer wieder wird 
die beruhigende Wirkung und die Hebung der Herztätigkeit nach der 
Atropininjektion gerühmt; so sagt Reitzenstein : „Der bisher unruhige 
Patient verfällt in tiefen Schlaf, die Kollapserscheinungen schwinden, 
der Puls erholt sich und wird voller.“ Die Nebenwirkung auf den Darm 
kann bei Epileptikern nur erwünscht sein, um so mehr, wenn nach 
Götze während des Anfalls die glatte Muskulatur in Kontraktion gerät. 
Reüzenstein bezeichnet gerade in Hinsicht auf diese Eigenschaft des 
Atropins dessen pharmakodynamische Wirkung als äußerst kompliziert, 
da es einerseits die Peristaltik anregt, andrerseits erhöhte Peristaltik 
und Krampf im Darmsystem durch Lähmung des Splanchnikus be¬ 
seitigt. Für unser therapeutisches Handeln beim Status mag ma߬ 
gebend sein, was Penzoldt sagt: Atropin beseitigt nutzlos störende 


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Über den Status epilepticns und seine Bekämpfung nsw. 


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Peristaltik und regt fehlende an. Am interessantesten ist wohl die 
Schilderung, die G. Schulz, der wegen Heus die Wirkung der hohen 

Atropindosen am eigenen Körper probierte, gibt: „.selbst 

hochgradige Vergiftungserscheinungen, die sich hauptsächlich in Delirien 

äußern, sind völlig ungefährlich;.aber auch in verzweifelten 

Fällen muß gleichzeitig (d. h. neben der Operation) Atropin injiziert 
werden, um die Herztätigkeit zu heben, die Blutzirku¬ 
lation zu bessern.“ Die Wirkung des Atropins an sich selbst 

schildert er folgendermaßen: ..Nach 5 bis 10 Minuten beginnt 

man am ganzen Körper eine angenehme Wärme zu fühlen, welche 
dekhsam vom Abdomen ausgeht Allmählich lassen die Atem- 
b«chwerden nach. Die Inspiration wird tiefer, die Schmerzen he¬ 
rinnen zu weichen. Die schmerzhaft kontrahierte Muskulatur des 
nnzen Körpers erschlafft gruppenweise, man nimmt ein fibrilläres 
Zittern der Muskeln wahr, welche sich aber imm er mehr beruhigen. 
Es verschwindet das widerwärtige Gefühl der Übelkeit, statt dessen 
ritt vollständige Euphorie, das Gefühl absoluter Ruhe ein.... Die 
'jedanken werden von einem Nebel umzogen und schließlich verfällt 
» Kranke in tiefen Schlaf“. 

Aas all diesen Berichten von der Wirkung großer Atropindosen 
Rta die dreifache Tatsache hervor: 

L Die narkotisierende Wirkung, die so groß ist, daß sie die Mor- 
•Auswirkung in den möglichen Dosen übertrifft, die heftigsten 
Faunen werden betäubt, es tritt Schlaf ein. 

1 Die erregende Wirkung auf das Herz. 

-1 Die regulierende Wirkung auf den Darm. 

Dabei völlige Gefahrlosigkeit. 

Innerhalb der gebräuchlichen Dosen wird Atropin und besonders 
schon länger in der Epilepsiebehandlung benutzt. Doch 

ri* Berichte darüber noch spärlich und zurückhaltend. Gowers 
wum dm Nutzen der Belladonna und des Atropins 0,0006 bis 0,001 
1 Tgrtrindnng mit Brom. Ebenso Wulff, Leury, Büro. Doch kennt 
- Kbm keinen Fall, wo Anfälle dadurch ganz ausbleiben. Im Gegen- 
soe daza hat Gerhartz auch bei einem Fall von Hysteroepilepsie mit 
mehrmals auftretenden Krämpfen Genesung gesehen. Er gab 
Baim* lie&ch 0,001 Atropin sulf. subkutan, langsam nachlassend 
b» «mm; üblich 0,001. Dadurch schwanden die Krämpfe für längere 


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Dorner, 


Zeit. Als sie wieder auftraten, war Atropin ohne Erfolg. Sp&ter 
sistierten die Anfälle unter Atropinbehandlung noch einmal für längere 
Zeit, bis zuletzt völlige Heilung eintrat. Doch verliert der Fall an 
Beweiskraft durch den Umstand, daß es sich nicht um reine Epilepsie, 
sondern um Hysteroepilepsie handelte. Auch läßt das teilweise völlige 
Versagen der Atropinbehandlung den Gedanken einer Spontanheilung 
nicht ohne weiteres ausschließen. 

Modi gab Brom abwechselnd mit Atropin, mit Vs mg 1 bis 2 mal 
täglich beginnend. Bei 13 Kranken von 37 wurden die Anfälle nach 
diesen Atropinkuren durch Brom verringert, bei ö hörten sie vorüber¬ 
gehend atif, bei 5 wirkte Brom nach Atropin schlechter. Er schreibt 
also die günstige Wirkung Brom zu, Atropin soll nur eine vorbereitende 
Tätigkeit ausüben. 

Auch Runge erwähnt die Behandlung mit Atropin und zwar 
gibt er bei Kindern Vs mg* bei Erwachsenen 0,002; Oppenheim sah 
zuweilen hier gute Erfolge, wo Brom nicht mehr nützte, ebenso spricht 
sich Böckdmunn aus; nach Albertoni steigert Atropin die Erregbarkeit 
des Zentralnervensystems, nach v. Besold, Biobaum , Wood, Cemer 
erregt es das Atemzentrum; nach Husemann steigern kleine Dosen 
den Blutdruck, große mindern ihn herab. Bvnsuxmger stimmt Albertoni 
darin bei, daß Atropin bei Beflexepilepsie sowohl innerlich wie sub¬ 
kutan im Bereich der Läsion, wo es die Erregbarkeit der peripheren, 
sensibeln und motorischen Nerven abstumpft, mit Erfolg anzuwen¬ 
den sei 

Ich kann diese Erfahrungen durch 5 Fälle eigener Beobachtung 
stützen, bei denen Atropin in seiner Wirkung sich jedesmal stärker 
erwies wie Brom und Amylenhydrat. Es handelte sich um Kranke, 
die ohne erkennbare Ursache allmählich häufigere Anfälle bekamen, 
täglich 1 bis 2 bis 10 leichte, während solche früher alle 8 bis 14 Tage, 
auch noch seltener auftraten. Diese häufigen Anfälle bestanden 
wochen-, zum Teil monatelang. Bettruhe, erhöhte Bromdosis blieb 
wirkunglos, Amylenhydrat, dreimal täglich eine Pravazspritze sub¬ 
kutan oder 20 Tropfen innerlich brachte für 8 Tage Verminderung 
der Anfälle. Erst Atropin, sulf. dreimal täglich 10 bis 20 Tropfen 
einer Lösung von 0,03 :10, also dreimal täglich 0,0015 bis dreimal 
täglich 0,003 brachte prompt Besserung. Die häufigeren Anfälle 
blieben aus und gingen auf die frühere Anzahl zurück. Von Interesse 


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über den Status epilepticus und seine Bekämpfung usw. 


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sind dabei besonders zwei Fälle, bei denen nach mehrjnaligem Aus¬ 
sehen des Atropins die häufigen Anfälle sofort auftraten, um ebenso 
prompt bei Atropingabe zu schwinden. In einem dieser Fälle mußte 
ich von dreimal täglich 20 Tropfen auf dreimal täglich 10 herabgehen, 
da heftige Leibschmerzen auftraten, die auf Morphium nach reichlicher 
mehrmaliger Stuhlentleerung Und viel Gasentweichung schwanden. 
Es handelte sich hierbei offenbar um schmerzhaften Spasmus der 
Daraunu8kulatur. 

Diese günstige Wirkung kleinerer Dosen bei Epilepsie, ganz 
insbesondere jedoch die oben geschilderte Wirkungsweise der die 
Marimaldosis weit überschreitenden Atropindosen veranlaßten mich 
zu Versuchen mit diesen hohen Dosen beim Status epilepticus. Es 
handelt sich um Versuche in 11 ganz schweren Fällen; ich verwendete 
dabei Atropin, sulf. subkutan bis zur Dosis von 0,006 mehrmals täglich. 
Ich lasse hier die betreffenden Krankengeschichten folgen. 

1. Sp., W., 20 Juhre. Seit ungefähr 9 Jahren Epilepsie. In anfall- 
freier Zeit geistig normal. Hat alle 4 Wochen, später seltener einige Tage 
.«heinander 1 bis 2 Anfälle mit nachfolgendem ungefähr 8tägigen Zustand 

Erregung. Am 3. 4. 09 über Tag 4 Anfälle schwerer Natur; dann die 
nnieNacht hindurch ungefähr alle Vz Stunde schwerer Anfall, in Zwischen- 
Mit volle Bewußtlosigkeit. Gegen Morgen wird der Puls schwach. Um 
9 Uhr vorm. 1 Pravaz Atropin, sulf. 0,003 subkutan, darauf Anfälle wie 
angeschnitten. Er schläft bis Nachmittag, ist dann bei Bewußtsein, 
'f kennt dann den Arzt; guter regelmäßiger Puls, nur noch etwas be- 
^hleunigt. Daran anschließend länger dauernder Erregungszustand, der 
y|r h von den übrigen postepileptischen Erregungen nicht unterscheidet. 

2. H., H., 32 Jahre. Seit Jahren Epilepsie, 1 bis 4 Anfälle im Monat, 
'•hwere postepileptische Erregungszustände, vorgeschrittener Schwach- 
'iiin. In letzter Zeit sehr hinfällig, muß viel zu Bett liegen. 14. 8. 09 
>Utus epilepticus. Alle y t Stunde und öfter ein schwerer Anfall, völlige 
Bewußtlosigkeit in der Zwischenzeit, andauernd von 8 Uhr morgens bis 
■•4 Uhr nachmittags. Puls schlecht. Um 2 Uhr 0,003 Atropin subkutan, 

Stunde nachher stehen die Anfälle. Bis 1 Uhr abends Schlaf. Dann 
notorische Erregung, die durch Morphium nicht gemildert wird. Am 
•adern Tag ist diese Erregung geschwunden. Der Puls erholt sich nach 

Aufhören der Anfälle rasch. 

3. Derselbe. 9. 11. 09 stündlich ein schwerer Anfall. Ungefähr 
lö im ganzen. Am 9. 11. nachts y 4 stündlich schwerer Anfall, völliger 
kwußtseinschwund. Um 12 Uhr nachts Atropin, sulf. 0,003 subkutan; 
^*nso morgens 8 Uhr. In der Nacht Anfälle unverändert, nach der 
I *«ten Injektion nur noch leichte Schwindel, die aber sehr häufig auf- 

Zenachrilt für Psychiatrie. LXIX 1. {} 


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Dorner. 


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treten. Im Laufe des Nachmittags hören sie ganz auf. Abends wieder 
Status schwerer Natur mit Pulsschwäche. Um 12 Uhr nachts Atropin, sulf. 
0,003 subkutan. Nachher wegen Erregung Morphium. Am 11./II 
Vfc stündlich Schwindelanfälle, deliriert. Diese Schwindel werden immer 
seltener; am Nachmittag tritt nur noch einer auf. 12./11. anfallfrei, erregt. 
Chloralhydrat. Puls während der Atropinbehandlung voll und gut, nur 
beschleunigt. Für Stuhlgang war gesorgt. Bromlösung mit Spray ge¬ 
geben. 

4. E., F., 39 Jahre alt. Seit 16 Jahren Epilepsie. Anfälle ver¬ 
einzelt. 1 bis 3 im Monat. Geistig frisch. Ziemlich starker Fettansatz. 

Am 29. 3. 10 einige Anfälle. Am 30. 3. 10 den ganzen Tag ungefähr 
alle */ 2 Stunden schwere Anfälle. Auch in der Anfallpause Bewußtsein¬ 
schwund. Puls im Laufe des Nachmittags schnell und weich. } 2 6 Uhr 
nachmittags Atropin, sulf. 0,003 subkutan. Darauf noch 3 Anfälle. Nachts 
Uhr nochmals dieselbe Injektion. Anfallfrei. 

Die zweite Injektion war wohl nicht mehr nötig. Sie war verordnet 
worden für den Fall, daß die Anfälle wieder gehäuft auftreten sollten. 

5. M., A., 10)4 Jahre alt. 4 bis 10 Anfälle im Monat. Ruhiger, 
bildungunfähiger Idiot. Sehr schwächlicher Habitus. Am 16. 7. 09 
Status epilepticus schwerer Natur; 3 Tage vorher schon schlechtes Be¬ 
finden, Durchfall, Müdigkeit, 2 bis 3 Anfälle im Tag, Rizinus, erhöhte 
Bromdosis, Bettruhe jedoch erst bei Eintritt des Status epilepticus. Die 
Nacht hindurch und den Vormittag alle 1 bis 2 Minuten schwerer Anfall. 
Die ganze Zeit über tiefer Sopor. Puls sehr klein, 180 in der Minute. 
Atem kurz. \' 2 11 Uhr Aderlaß, gut ! 4 1; nachher \' 2 Pravaz Atropin, sulf. 
0,03 : 10 (= 0.0015). Darauf sofortiges Sistieren der Anfälle bis 3 Uhr 
nachmittags. Von da wieder Anfälle leichterer Natur, in größeren 
Zwischenräumen. Puls kräftiger, doch 180 in der Minute. y t 5 Uhr 
nachmittags Atropin, sulf. 0,0015 subkutan. Ab 7 Uhr stehen Anfälle, 
die Nacht hindurch anfallfrei; aufgeregt. \\4 Uhr nachts noch dieselbe 
Dosis Atropin. Am 17. 7. vorm. Vs 10 Uhr noch ein Anfall. Puls 144, 
kräftiger. Lebendig. Wassereinläufe, gewohnte Bromdosis (4 g mit 
Spray; 6 g auf 1 Glas). Nimmt wenig Nahrung. Noch ein Anfall im Laufe 
des Tages. Puls 140. Am 18. 7. allmähliche Erholung, ein leichter An¬ 
fall. Puls 120, von da ab Puls 100. Nimmt gut Nahrung und erholt sich 
innerhalb 8 Tagen völlig. 

6. L., A., 16Vi Jahre alt. Epilepsie seit dem 10. Lebensjahre. Im 
Anfang seines Anstaltaufenthalts täglich mehrere SchwindelanfäUe. 
später 10 bis 12 Anfalltage im Monat, an mehreren Tagen 2 bis 5 Anfälle 
leichterer Art. 

Am 8. 6. 10 den ganzen Tag hindurch und die Hälfte der vorher¬ 
gehenden Nacht alle Vi Stunden schwere Anfälle. Die Nacht hindurch 
5 Anfälle. Puls unregelmäßig, 120 in der anfallfreien Pause. Rizinus» 
Eis auf Kopf und Herz. Gegen Mittag den 9. 6. alle 1 ' 4 Stunden schwerer 


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Ober den Status epilepticus und seine Bekämpfung usw. 


83 


Anfall. Puls aussetzend, t20—130. Atropin, sulf. alle 8 Stunden 0,0015, 
zweimal 0,003 subkutan. Anfälle halten an bis 10. 6. abends %9 Uhr. 
Seit Mittag 10. 6. 10 Kampfer und Koffein. Doch vorher schon Puls 
regelmäßig, aber beschleunigt. 160 bis 170. In der Nacht nach großer 
Pause noch 13 Anfälle. Am 11.6. alle l / t Stunden 2 schwere Anfälle direkt 
nacheinander bis 12. 6. nachts 4 Uhr. Bis 6 Uhr noch 2 Anfälle, dann 
keiner mehr. Vom 13. auf 14. nachts noch 2 Anfälle und 1 Schwindet. 
Keine Vergiftungserscheinungen außer großer Pupille und Konjunktivitis, 
die nach einigen Tagen abheilt. Puls hält sich lange auf 120. 

7. K.. C., 20 Jahre. Mit ungefähr 7 Jahren Polioenzephalitis mit 
nachfolgender Epilepsie, rechtseitige Kinderlähmung, kindlicher Habitus. 
Anfälle jeden 2. bis 3. Tag, zeitweise gehäuft, Neigung zu Status. Am 
6. 3. 09 schw erer Status. Anfälle Schlag auf Schlag von 3 Uhr nachmittags 
ab. Sopor, schneller, kleiner Puls auch in den kurzen Anfallpausen. 
5 Uhr 0.0015 Atropin, sulf. subkutan. 8 Uhr Stillstand der Anfälle. Dann 
nochmaliges Auftreten des Status von nachts 12 Uhr bis 3 Uhr. Nachher 
rasche Erholung. 

Nebenbei erwähnen möchte ich noch 2 Fälle, bei denen es zweifelhaft 
war. ob wir es mit der schweren Form des Status zu tun haben. 

2. 2. 11. D. Einige Tage gehäufte Anfälle trotz erhöhter Brom* 
•tosi«i und dreimal täglich 2 Pravaz Amylenhydrat, nachts 10 schwere 
Anfälle, die sich direkt folgten. Auf % Pravaz Atropin ( = 0,0015) sofort 
Stillstand bis zum Morgen. In den nächsten Tagen noch einzelne Anfälle. 

5. 2. 11. L. Häufige Anfälle in den vorhergehenden Tagen, 
trotz Brom und Amylenhydrat. In der Nacht 8 sich direkt folgende An¬ 
fälle, die auf 0,003 Atropin, sulf. subkutan sofort standen. 

Ich schließe hier die Krankengeschichten von 4 Fällen mit letalem 
Ausgang an. 3 dieser Fälle gehören zu der Gruppe, die ich oben als 
Jakuten Status epilepticus bezeichnete; einer litt an einem Herz¬ 
fehler. 

8. B., Fr., 41 Yt Jahre. Hinfällig. Epilepsie seit 14. Lebensjahre, 
vielfach Erregungszustände, neigte immer zu gehäuften Anfällen. In den 
letzten 4 Wochen fast täglich gehäufte Anfälle, 3 bis 4 im Tage, dabei 
benommen, delirierend. Bettruhe und die üblichen Behandlungsmethoden 
f 'hne Erfolg. 17. 11. 09: Nachts alle halben Stunden schwerer Anfall, 
absoluter Bewußtseinschwund, ebenso vormittags. 11 Uhr Atropin, sulf. 
».003 subkutan. Anfälle stehen sofort bis 2 Uhr nachmittags. Dann bis 
■> Uhr 10 Anfälle äußerst schwerer Natur, schlechter Puls. Aderlaß \\ 1. 
Darauf Stunde Ruhe. Der vorher schnelle, röchelnde Atem (beginnen¬ 
des Lungenödem) wird ruhiger. Röcheln schwindet. Nach y 2 Stunde 
leichter, dann sofort schwerer Anfall. Weiter bis 10 Uhr 13 schwere An¬ 
fälle. Um 9 Uhr Atropin 0,003 subkutan. Von 10 Uhr bis 1 Uhr anfallfrei. 
Schlaf. 18. 11: Von 1 Uhr bis 3 Uhr 12 schwere Anfälle, x/ 2 3 Uhr nochmal 

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Dorn er, 


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Atropin. sulf. 0,003. 3 Uhr Exitus kurz nach Anfall. In der letzten Zeit 
noch Digalen und Kampfer ohne weitere Wirkung. Puls von 1 Uhr bis 
3 Uhr sehr schnell und schwach. 

9. E. J., 20% Jahre. Immer hinfällig, lag wegen vieler Anfälle 
häufig zu Bett, Kur nach Toulouse mit nur kurzer, vorübergehender Wir¬ 
kung. Liegt jetzt seit Wochen zu Bett wegen gehäufter Anfälle, 4 bis 6 
im Tage, immer sehr benommen. Die üblichen Behandlungsmethoden 
ohne Erfolg. Am 29. 6. 10 morgens ab 8 Uhr gehäufte Anfälle. Dann 
2 Stunden Ruhe, dann alle % Stunden schwerer Anfall, völliger Bewußt¬ 
seinschwund, schlechter Puls. Abends 7 Uhr Atropin, sulf. 0,006 subkutan, 
ebenso gegen Morgen des 30. 6. Nach der zweiten Injektion stehen Anfälle, 
Puls 170. Sehr elend. Gegen Abend 5 Uhr wieder Auftreten des Status, 
9 Uhr Atropin, sulf. 0,006. Dann wegen völliger Aussichtlosigkeit auf 
Rettung keine Injektion mehr. 1. 7. morgens Exitus letalis in den An¬ 
fällen. Auffallende Vergiftungserscheinungen waren nicht zu konsta¬ 
tieren. 

10. K.,,H., 38 Jahre. Seit 22. Lebensjahre Epilepsie, häufig Anfälle. 
Geistig sehr geschwächt, körperlich hinfällig. In den letzten 4 Wochen 
täglich 1 bis 3 Schwindelanfälle. Am 19. 6.10 Status epilepticus schwerster 
Art, % stündlich schwerer Anfall. Bewußtseinschwund. Puls 140, klein. 
2 Pravaz 0,003 Atropin, sulf. ( = 0,006), Koffein natr. salicyl. und Kampfer. 
Die Anfälle treten von 12 Uhr ab nur alle a / 4 Stunden und bedeutend 
leichter auf. 3 Uhr noch eine Pravaz 0,003 Atropin, %4 Uhr stehen die 
Anfälle bis % vor 9 Uhr morgens am 20. 6. 10. Von da ab Anfälle alle 
% bis 3 / 4 Stunden, leichter. Puls 130, gespannt. Unruhe, der Kranke 
wälzt sich im Bett umher. Um 11 Uhr 1 Pravaz 0,003 Atropin, ebenso 
12% Uhr. Darauf Stillstand der Anfälle bis 3 Uhr. Dann % bis ^stünd¬ 
lich Anfall leichterer Art. Bewußtsein in der ganzen Zeit völlig geschwun¬ 
den. Abends 8 Uhr Atropin 0,006 ohne Erfolg, 3 Uhr morgens 21. 6. noch 
eine, darauf stehen die Anfälle sofort, nur noch einige leichte Schwindel 
treten auf. Starke motorische Unruhe, Zunge, Rachenschleimhaut sehr 
trocken. Milch kann eingeflößt werden. Wasser-Spray. Morgens 9 Uhr 
macht Patient guten Eindruck. 120 Puls. Keine Anfälle. Puls wird 
im Laufe des Nachmittags schlechter 150 bis 160, 11 Uhr Atropin 0,006, 
Abends 7 Uhr wegen Unruhe 0,01 Morphium subkutan. Nun rascher 
Rückgang und 11 Uhr nachts Exitus letalis. 

11. L., F., 51% Jahre alt. Epilepsie seit ungefähr 20 Jahren, 
Neigung zu Status, mit nachfolgenden, heftigen deliriösen Zuständen; 
sonst Anfälle vereinzelt. Geistige Schwäche vorgeschrittenen Grades. 
Bei der Aufnahmeuntersuchung (15. 5. 08), ist bemerkt: Herztöne sehr 
leise, über Aorta und Pulmonalis Schwirren. Verbreiterung des Herzens 
bis zum rechten Sternalrand. Puls klein, 70 bis 80 Schläge in der Minute. 
Ziemlicher Fettansatz. In der Nacht vom 3. zum 4. Juni 9 schwere An¬ 
fälle, nachdem er tags vorher 3 Schwindelanfälle gehabt hat. Am 4. Juni 


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Ober den Status epilepticus und seine Bekämpfung usw. 


85 


regelmäßig alle 3 / 4 Stunden schwerer Anfall; in der Zwischenzeit auch 
völliger Bewußtseinschwund. Da er nicht unter Brombehandlung stand 
— er hatte nur alle 4 bis 6 Wochen einen Anfall — 6 g Bromkali; Rizinus 
und Einlauf ohne Erfolg. Da Anfälle andauern. Puls auf 140 steigt und 
sehr dünn ist, dabei röchelnder Atem, >44 Uhr nachmittags 1 Pravaz 
0,003 Atropin. Da sich kein Erfolg zeigt, abends >48 Uhr dieselbe Dosis 
nach einem Aderlaß (>41) zur Herzentlastung. Von 9 Uhr ab stehen die 
Anfälle. 1 >4 Uhr Exitus letalis unter zunehmender Herzschwäche. 

Fall 1,2 und 4 bedürfen keiner weiteren Erörterung. Die Wirkung 
des Atropins tritt hier in ähnlicher Weise hervor, wie wir es von den 
Deusfällen gehört haben. Prompt nach der Injektion stehen die An¬ 
fälle, es tritt 3- bis 4stündiger Schlaf ein, beim Erwachen klares Be¬ 
wußtsein. Bei Fall 1 und 2 schließt sich ein kurz dauernder Erre¬ 
gung zustand an, der sich nicht als Atropinwirkung, sondern als post¬ 
epileptischer charakterisiert. Er unterscheidet sich einesteils in nichts 
von aus früherer Zeit bekannten derartigen Zuständen und wird durch 
Morphiuminjektion — im Gegensatz zu den sonstigen Erfahrungen 
bei Atropindelirien — nicht beeinflußt. 

Bei Fall 3 genügte die Dosis von 0,003 nicht, erst nach noch¬ 
maliger Anwendung derselben Dosis gehen die Anfälle in leichte 
Schwindel über, die dann rasch zum Stehen kommen. Bei dem 
späteren Auftreten der Anfälle genügt jedoch die einmalige Injektion 
von 0,003, um zum Ziele zu gelangen. Auch in einigen andern Fällen 
(9,10 u. 11) kann man deutlich die Wirkung erst der zweiten In¬ 
jektion beobachten. Das Versagen nach der ersten lag also nur an der 
zu geringen Dosis. 

Am bemerkenswertesten ist wohl Fall 5 und 6. Es handelt sich 
hier um äußerst schwächliche Knaben von IO 1 /* bzw. 16 Jahren; 
in dem einen Fall eine Pulsfrequenz von 180 pro Minute sofort im Be¬ 
ginn des Status, im andern ein kleiner, dünner, unregelmäßiger, aus- 
Jctzender, nicht besonders beschleunigter Puls. Also beides Fälle, 
die die denkbar geringste Aussicht auf Bestehen eines schweren Status 
bieten, bei denen sich die Anwendung irgendwelcher das Herz schädi¬ 
gen Mittel von vornherein verbot. Bei diesen, wie auch bei den 
übrigen Fällen, hob sich der Puls, wurde kräftiger, die unregelmäßige, 
»««setzende Herzaktion wurde regelmäßig. Ich möchte hierbei er¬ 
mähnen, daß bei Beurteilung des Pulses nach Atropin nicht die Zahl 
'l p r Schläge in Betracht kommt — Atropin bedingt Vaguslähmung 
>ud dadurch immer Pulsbeschleunigung — sondern der volle, regel- 


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86 


Dorner. 


mäßige Schlag, mit andern Worten, die durch Atropin bedingte Er¬ 
höhung des Blutdrucks. Diese Tatsache beweist schon der bloße 
Anblick atropinisierter Kranken. Vorher in den Anfallpausen bleich 
oder livide und verfallen, bekommen sie rote Lippen und frische 
Gesichtsfarbe. 

Die Gefahrlosigkeit der Methode — die ja schon hinreichend 
durch die Versuche bei Nichtepileptikern erwiesen ist — erhellt am 
besten aus diesen beiden Fällen. Der KF/sjährige, schwächliche 
Knabe verträgt innerhalb 24 Stunden dreimal das D/gfache der 
Maximaldosis ohne jede Nebenerscheinung außer erweiterten Pupillen, 
der 16jährige verträgt mehrere Tage lang alle 8 Stunden die l 1 /*- 
und 3fache Maximaldosis, als einzige Nebenerscheinung Pupillen¬ 
erweiterung und einige Tage anhaltende Konjunktivitis. Erwachsene 
vertrugen das 6 fache der Maximaldosis mehrmals täglich ohne be¬ 
drohliche Folgeerscheinung. 

Wenn auch in einigen Fällen die erwünschte Wirkung erst bei 
diesen Gaben von 0,006 eintrat, so würde ich doch als erste Dosis 
0,003 empfehlen und erst bei deren Wirkunglosigkeit die Erhöhung. 
Über 0,006 als Einzeldosis hinaus habe ich trotz der oben erwähnten 
höheren Gaben von Rudiseh keinen Versuch gemacht. Bei 0,006 
kann schon sehr lästige Trockenheit des Schlundes auftreten, die den 
Schluckakt ungünstig beeinflußt. Auch könnte es Vorkommen, daß 
man nicht mehr unterscheiden kann, was auf Kosten des Atropins 
und was auf Kosten des Status zu setzen ist. In der Regel wird man 
gut tun, über 0,005 dreimal täglich nicht hinauszugehen, ebenso 
sollen aber auch Dosen unter 0,003 nur ausnahmsweise bei ganz 
jugendlichen Kranken Anwendung finden. Doch ist es das Wichtigste, 
zwischen diesen Grenzwerten die Höhe der Dosis, die die Anfälle eben 
zum Schwinden bringt, rasch herauszufinden, da gerade in der richtigen 
Dosierung die beste Gewähr für die Wirksamkeit liegt. 

Auch bei den vier Fällen mit letalem Ausgang liegt eine vorüber¬ 
gehende Besserung durch Atropin offen zutage. In Fall 8 stehen jedes¬ 
mal sofort oder kurz nach der Injektion die Anfälle für 3 Stunden. 
Im Fall 9 stehen die Anfälle erst nach der zweiten Atropininjektion 
für 12 Stunden, ähnlich im Fall 10. Nach der ersten Injektion läßt 
die Intensität und Frequenz der Anfälle sofort nach, nach der zweiten 
Injektion stehen sie für 17 Stunden. Nun treten sie wieder auf, um 
nach zwei Injektionen von je 0,003 innerhalb einer Stunde für 3 Stun- 


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Ober den Status epilepticus und seine Bekämpfung usw. 87 


den zu sistieren. Auch nachher beendet erst wieder die zweite In¬ 
jektion die AnfaUreihe. Bei diesem Fall hätte vielleicht die letzte 
Injektion in der Anfallpause gespart werden können. Im übrigen 
hielt sich dieser Kranke leidlich gut, erst nach der Morphiuminjektion 
trat rascher Rückgang ein. Hier machte sich die Trockenheit des 
Schlundes sehr störend geltend. Bei Fall 11 — dem Herzkranken — 
rtehen die Anfälle nach der zweiten Injektion, doch stirbt der Kranke 
kurze Zeit nachher. 

Die deutliche Besserung durch Atropin ist also auch hier außer 
Zweifel, wenn der letale Ausgang auch nicht abwendbar war; sei es 
nun, daß bei dem Herzkranken die Herzmuskeldegeneration zu weit 
vorgeschritten war, sei es, daß bei den übrigen die nachteilige Wir¬ 
kung der längere Zeit vorausgehenden gehäuften Anfälle auf Herz, 
Gehirn, Oblongata schon zu weit gediehen war. Auch an eine in¬ 
dividuell verschiedene Wirksamkeit des Atropins muß gedacht werden. 

Wenn ich nun die Ergebnisse obiger Beobachtungen zu- 
saminenfasse, so können folgende Tatsachen als erwiesen gelten: 
Das Atropin, sulf. wird auch vom Epileptiker in der 3- bis öfachen 
Maximaldosis — in der 3fachen Dosis auch von jugendlichen Kran¬ 
ken — ohne Schädigung vertragen. Es ist in diesen Dosen imstande, 
in einzelnen Fällen von Status epilepticus die Anfälle zu kupieren, 
in andern sie nach Zahl und Intensität abzuschwächen, so die Lebens¬ 
gefahr zu beseitigen und sie allmählich ganz zum Schwinden zu bringen; 
auch bei aussichtlosen Fällen zeigt es noch vorübergehende Wirk¬ 
samkeit. In allen Fällen hat es sich als Herztonikum bewährt. Es 
ist daher als ein empfehlenswertes Mittel zur Bekämpfung des Status 
epilepticus zu betrachten. Wegen seines günstigen Einflusses auf die 
Herztätigkeit empfiehlt es sich besonders da, wo sich wegen vor¬ 
handener oder zu erwartender Herzschwäche andere sonst erprobte 
Mittel (Chloralhydrat) verbieten. 

Eine Kombination von Atropin mit andern Antiepilepticis könnte 
Jessen Wirksamkeit noch erhöhen. Bei gleichzeitiger Anwendung von 
Amylenhydrat und Atropin hatte ich den Eindruck, als ob die Anfall¬ 
pausen verlängert würden. 

Literatur. 

1. Wiidermuth, Handbuch der Krankenversorgung und Fürsorge für 
Nervenkranke, Epileptische und Idioten. 

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88 Dorner, Ober den States epilepticus and seine Bekämpfung usw. 


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2. Luce, Hans, Deutsche Zeitschrift für Nervenheilkunde Bd. 14: Kli¬ 

nisch-anatomischer Beitrag zu den intermeningealen Blutungen 
und zur JocArsonschen Epilepsie. 

3. Kinberg, Om den metatrophiska behandlingen af epilepsi. Allmänna 

Svenska Läkartidningen 1904. 

4. Alt, Bekämpfung des Status epilepticus. M. M. W. 13, 1905. 

5. Barham, G. F., Journal of Mental Science: Notes on the management 

and treatment of the epileptic insane etc. 

6. Ackermann, Das Amylenhydrat im Status epilepticus. Zeitschr. f. 

Behandlung Schwachsinniger Nr. 4 1906. 

7. Peterson, P., Beneficial effects of the withdrawal of bromides in the 

treatment of epilepsy. New York Medical Journal, Sept. 1897. 

8. White, Ernest, Epilepsy associated with insanity. The journ. of 

ment. Science, January. 

9. Götze, H., Über Kotbrechen während des Status epilepticus. Neuro). 

Zentralbl. 

10. Tiburtius, Einiges zur Epilepsiefrage. Psych. -neurol. Wochenschr. 

11. Weber, Uchtspringe, Obduktionsbefunde beim Tode durch Status epi). 

Wiener med. Wochenschr. Nr. 4 1899. 

12. Naab, Zur Behandlung des Status epilepticus. Ztschr. f. Psych. 

Bd. 57, S. 1. 

13. Habermaas, Über die Prognose der Epilepsie. Zeitschrift f. Psych. 

Bd. 58, S. 251. 

14. Krainsky, Zur Pathologie der Epilepsie. Ztschr. f. Psych. Bd. 54. 

15. Flügge, Beiträge zur modernen Epilepsiebehandlung. Vortrag, geh. 

in der 59. ordentl. Vers, des psych. Vereins der Rheinprovinz 
äm 19. Juni 1897 zu Bonn. Allg. Ztschr. f. Psych. Bd. 54, S. 669. 

16. Gerftara-Rheinbach, Beitrag zur Epilepsiebehandlung. Vortrag, geh. 

im psych. Verein am 19. Juni 1897 zu Bonn. Ebendort. S. 681. 

17. Redlich, Die Behandlung der Epilepsie, Deutsche med. Wochenschr. 

Nr. 37, 1906. 

18. Runge, Die Therapie der genuinen Epilepsie. Zentralbl. f. d. gesamte 

Therapie. 1906. Heft 5 u. 6. 

19. Böckelmann, Über die Behandlung des Status epilepticus und von 

Zuständen verwandter Art. Therap. Monatshefte 1906, Novem¬ 
berheft. 

20. Derselbe, Epilepsie und Epilepsiebehandlung. Würzburger Ab¬ 

handlungen Bd. VII, Heft 12, 1907. 

21. Edinger, Über den heutigen Stand der Therapie der Nervenkrank¬ 

heiten. Ztschr. f. Ärztl. Fortbildung Nr. 8, 1906. 

22. Rudisch, Über den Einfluß von Atropinsulfat und Atropin, methyl- 

bromatum bei Diabetes mellitus. Arch. f. Verdauungskrank¬ 
heiten Bd. 15 Heft 4 (Zeitschr. Ä. F. 20, 1909). 

23. Reitzenstein, Über Ileus. Daselbst Ä. F. Nr. 9, 1907. 

24. Schulz, ('. (Mitteilungen aus den Grenzgebieten der Medizin u. Chirurgie 

Bd. 17 Heft 5 [Ä. F. 16, 1907].) 


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Zur Anwendung des Salvarsans in der Psychiatrie. 

Von 

Dr. A. Pfänder. 

Der Vortrag Ehrlich s und die anschließende Diskussion auf der 
Naturforscherversammlung zu Karlsruhe gewährten einen willkomme¬ 
nen Überblick über den Stand der Salvarsanbehandlung. Aufs neue 
wurden die ausgezeichneten Erfolge bei der Frühsyphilis an einem 
sehr großen Material dargetan und die absolute Spezifität des Mittels 
gegen Frambösie und Recurrens hervorgehoben. Eine Reihe von 
Forschem wiesen auf die Überlegenheit einer kombinierten Queck- 
sübersalvarsanbehandlung hin, welche die Methode der nächsten Zu¬ 
kunft sein dürfte. 

Nachdem AU , der als erster die Wirkung des neuen Mittels auf 
den Menschen erprobte, über bemerkenswerte Besserungen bei einer 
so aussichtlosen Krankheit wie der Paralyse — wenn auch mit be¬ 
sonderem Vorbehalt und Einschränkungen — berichtet hatte, begannen 
in der Psychiatrie allgemein die Behandlungsversuche der Paralytiker 
mit Salvarsan. Was ist nicht schon alles gegen die Paralyse versucht 
worden! Auch Arsenpräparate spielten frühe eine Rolle (vgl. die 
Arbeit von Plange, Zeitschr. f. Psych. 38. Bd., II. Heft). Man konnte 
ja nicht so weit gehen, Heilwirkungen oder dauernde Besserung bei 
Krankheiten zu erwarten, welche die organische Struktur so kompli¬ 
zierter, lebenswichtiger und empfindlicher Organe wie das Zentral¬ 
nervensystem verändert haben. Und trotzdem sind noch manche 
Hoffnungen getäuscht worden. Ehrlich selbst hatte schon in den 
Anfängen der Salvarsantherapie eine besonders sorgfältige Auswahl 
bei der Anwendung auf luische bzw. metaluische Erkrankungen 

‘) Aus der Großh. Bad. Heil- und Pflegeanstalt Illenau, Direktor 
Geheimrat Dr. Schule. 


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90 


Plunder, 


des Zentralnervensystems empfohlen. Man fürchtete zuerst eine 
neurotoxische, unter Umständen deletäre Wirkung des Arsenpräpa¬ 
rates. Auch später, nachdem sich gezeigt hatte, daß Tabiker und 
Paralytiker das Mittel keineswegs schlecht, viele sogar auffallend gut 
vertrugen, stand der Entdecker der besondern Eignung seines ja in 
erster Linie als Sterilisans gegen die spirochätenreichen Frühformen 
der Lues bestimmten Präparats namentlich für metaluische Prozesse 
skeptisch gegenüber. 

Trotzdem die Ergebnisse bei den Behandlungsversuchen keine 
einheitlichen sind, nähern wir uns anscheinend doch einem gewissen 
Abschluß in der Salvarsanbehandlung der Paralyse, wie dies auch 
auf der 5. Jahresversammlung der Nervenärzte in Frankfurt zutage 
trat. Es ist daher wohl am Platze, die Erfahrungen, die wir hier 
sammeln konnten, wenn sie auch verhältnismäßig wenige Fälle um¬ 
fassen, zu veröffentlichen. 

Herr Geheimrat Ehrlich hatte uns in liebenswürdiger Weise eine 
Anzahl Röhrchen des 606 zur Verfügung gestellt, und wir konnten 
im September 1910 mit deren Anwendung bei unsern Kranken be¬ 
ginnen. 

Vorausschicken möchte ich, daß wir auch Gelegenheit hatten, 
die Wirkung des neuen Mittels an einigen Fällen sekundärer 
und tertiärer Lues, die uns von auswärtigen Kollegen über¬ 
wiesen waren, zu beobachten. 

Wir sahen bei einem Manne mit sekundären Papeln am Skrotum 
schon 8 Tage nach der Injektion (0,5 subkutan) einen überraschenden 
Erfolg. Am ersten Tag traten ziemlich starke Nebenerscheinungen auf, 
Schwindel, Erbrechen und Fieber. Die Papeln aber waren in der genannten 
Zeit bis auf undeutliche Reste verschwunden, auch war das Allgemein¬ 
befinden deutlich gehoben. 

In einem weiteren Fall mit leichten tertiären Erscheinungen wurden 
die Schleimhautplaques im Munde durch einmalige, ebenfalls subkutane 
Injektion von 0,5 deutlich gebessert. 

Ein Patient mit ausgedehnter langjähriger Psoriasis erfuhr auf 0,45 
subkutan nur eine vorübergehende Besserung. 

Alle andern Fälle betrafen Kranke unserer Anstalt. Die An¬ 
gehörigen gaben nicht nur gern ihre Zustimmung, sondern verlangten 
zum Teil selbst unter dem Eindruck des allgemeinen Enthusiasmus 
dringend die Injektion ihrer Verwandten. 


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Zur Anwendung des Saivarsans in der Psychiatrie. 91 

Diese wurde anfangs ausschließlich in Form der neutralen Suspen¬ 
sion subkutan nach Wechselmann, später intravenös vorgenommen. 
Die subkutanen Injektionen von 0,3 bis 0,5 g, bei mehreren Patienten 
wiederholt, gingen mit den bekannten leichten Nebenerscheinungen 
(geringe Temperatursteigerung, örtliche Schmerzen) einher. Störend 
waren hauptsächlich die Infiltrate, die sich nur unvollkommen zurück - 
bildeten und zum Teil heute noch schmerzhaft sind. Einmal kam es, 
bei einem Paralytiker mit Aorteninsuffizienz, zu ausgedehnter, nur 
sehr langsam abheilender Nekrose. Die Dosis war 0,3. Seit wir die 
Injektionen intravenös machen (Methode von Wemtraud) hatten wir 
auch bei Gaben von 0,6 keinerlei Nebenerscheinungen mehr. Ich 
möchte dies darauf zurückführen, daß wir gleich von Anfang an, 
schon bevor man auf den „Wasserfehler“ aufmerksam wurde, jeweils 
frisch destilliertes steriles Wasser zur Herstellung der schwach alka¬ 
lischen Lösung verwendeten. Die gefürchteten Neurorezidive, welche 
allerdings fast nur bei den frühen Formen der Lues beobachtet wurden, 
sahen wir niemals. 

Zur Behandlung kamen im ganzen 16 Patienten, darunter 7 Para¬ 
lytiker. Vor der Injektion wurde in unserem serologischen Labora¬ 
torium jedesmal die Wassermanns^ Reaktion vorgenommen. 
Nur bei einigen wenigen konnte die Nachprüfung aus äußern Gründen 
nicht mehr gemacht werden *). 

Diejenigen Patienten, welche sich zu einer besonders eingehenden, 
speziell neurologischen Untersuchung eigneten, sollen ausführlicher, 
die übrigen mehr summarisch erwähnt werden. 

Es handelt sich um folgende Fälle progressiver Para¬ 
lyse: 

1. Sch., Karl, 51 Jahre, Ministerialbeamter. Auf genom¬ 
men: 23. 2. 1910. 

Anamnese: Von luischer Infektion nichts bekannt. Vor 
2 Jahren Aufregungszustand. War zweimal im Sanatorium und psychia¬ 
trischen Klinik. Damals schon Sprachstörung, Pupillenstarre, Aufhebung 
der Patellarreflexe und ein paralytischer Anfall. 4 gesunde Kinder. 

Status bei der Aufnahme: Reflektorische Pupillenstarre 
(völlig). Deutliche Sprach- und Schriftstörung. Ataxie ausgesprochen. 

*) Die Untersuchungen wurden durch Herrn Anstaltarzt Dr. Bund¬ 
schuh angestellt. 


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Pfänder, 


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Rombergsches Zeichen positiv. Sensibilität am Rücken im Bereich des 
5. bis 7. Brustwirbels fast aufgehoben. Urin: E—, Z—. 

Unordentlich in der Kleidung. Starke Merkstörung, große Ur¬ 
teilschwäche, Größenideen. Stimmungwechsel sehr ausgesprochen, völliger 
Mangel des Krankheitgefühles. 

Verlauf und Behandlung: Zunehmende Demenz. Die 
Untersuchung des Augenhintergrundes ergibt links nasale graue Ab¬ 
blassung der Pupille. Urin: Z + (Nylander). Körperlicher Befund 
sonst gleich. Am 25. 7. paralytischer Anfall. 

Am 21. 9. 10 subkutane Injektion von 0,45 Ehr¬ 
lich - H a t a. Dabei kein besonderer Schmerz. An den folgenden 
Tagen ungestörte Euphorie. Patient ist nicht im Bett zu halten. Am 
zweiten Tage abends 37,8 Temperatur, Puls 100. 

Kein unmittelbarer Erfolg im körperlichen und geistigen Zustand. 
E —, Z- -f (Nylander). 

Status vom 2 2. t 0. 10: Die Sensibilitätstörung 
an der Wirbelsäule ist bis auf eine kleine Un¬ 
sicherheit zurückgegangen. Psychisch scheint der Stim¬ 
mungswechsel günstig beeinflußt. Im übrigen keine 
Besserung. Merkfähigkeit eher geringer. Infiltrat schmerzlos, über 
J /2 verkleinert. Gewichtzunahme 2,5 kg. Augenhintergrund unver¬ 
ändert. 

Wassermonrtsche Reaktion im Blutbzw. Liquor cerebrosp. vor der 
Injektion: positiv. Nonne: positiv. 

4 Wochen später etwas schwächer im Blut. Liquor nicht unter¬ 
sucht. 

Weiterer Verlauf: Patient Sch. hatte in der Folgezeit 
(nach mehreren Monaten, am 22. 4. 11) einen schweren Anfall, der eine 
Lähmung der rechten Seite und eine sehr bedeutende Sprachstörung 
hinterließ. Beides hat sich seither wieder wesentlich gebessert, jedoch 
ist der progrediente Gesamtverlauf unverkennbar. 

2. v. H., Otto, 57 Jahre, Ministerialbeamter. 

Aufgenommen: 24. 8. 10. 

Anamnese: Von luischer Infektion nichts bekannt. Seit 

2 Jahren „Nervosität“ mit Depressionszuständen, verließ plötzlich ohne 
Urlaub sein Amt. 

2 gesunde Kinder. 

Status bei der Aufnahme: Pupillen reagieren träge, 
Patellarreflex fehlt rechts, ist links herabgesetzt. Gang ataktisch. Böm¬ 
berg nicht deutlich positiv. Sensibilität nicht einwandfrei (spitz, stumpf)- 
Keine deutliche Zone. Schrift: paralytisch (deutliche Zitterschrift). 
Sprache: nachlässig, leicht verwaschen und hesitierend. 

Starker Defekt des intellektuellen und besonders des Gemütlebens. 
Auffallende Apathie und Vergeßlichkeit. Nachlässigkeit in der Kleidung, 


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Zur Anwendung des Salvarsans in der Psychiatrie. 93 

Unsauberkeit. Rasche körperliche und geistige Ermüdbarkeit. Neigt 
:u triebhaften Erregungszuständen. 

Verlauf in den ersten Wochen: Gang besser. Rom - 
berg —. Keine deutliche Sensibilitätstörung. Schrift sehr gebessert, nicht 
mehr als paralytisch erkennbar. Sprache ebenfalls besser. Urin:E —, Z —. 

Besteht auf seiner Entlassung. Hält sich geordneter, schreibt klare 
Briefe nach Hause, beginnt sich andern Patienten anzuschließen. 

Am 2 9. 9. subkutane Injektion von 0,5 Ehrlich- 
H a t a. Momentan nicht schmerzhaft. Auch nachher wurde nichts von 
Schmerzen geäußert. Temperatur und Puls dauernd normal, keinerlei 
nachteilige Erscheinungen. Im physischen und psychischen Status 
keine mittelbar auffallenden Veränderungen. Urin: E—, Z—. 

Status vom 13. 11. (Überführung nach Hause): Infiltrat 
schmerzfrei, % verkleinert. Pupillenreaktion wie bei der Aufnahme, 
ebenso das Verhalten der Reflexe. Gang seit der Injektion noch mehr 
gebessert. Sehr gutes Aussehen. Viel geordneter in seinem 
Verhalten, Stimmung gleichmäßig. Nimmt auf seinem Gut wieder an 
Beratungen teil. Diese bedeutende Besserung blieb jedoch nicht lange 
auf der gleichen Höhe. Bis zu welchem Grade sie im Lauf der Zeit wieder 
verloren ging, entzieht sich unserer Kenntnis 1 ). 

18. 8. 10: Nonne. Phase I + Trübung, Zellvermehrung. Wasser - 
■<mn ~ in Blut und Liquor. 

24. 10. 10 (5 Wochen nach der Injektion): Wassermann im Blut und 
Liquor cerebrosp. unverändert. Nonne — Phase 1 = 4- Zellvermehrung. 

3. Taboparalyse: Br., Oswald, 40 Jahre, Postinspektor. 

A u f g e n o m m e n: 9. 5. 10. 

Anamnese: Von luischer Infektion nichts bekannt. Will 
sich überarbeitet haben. 1908 Anfall von Bewußtlosigkeit. Fortschrei¬ 
tende Demenz, Alcohol. abusus. Einmal im Sanatorium. 1 gesundes Kind. 

Status bei der Aufnahme: Pupillen different, die linke 
weiter und träger reagierend. Typische Sprachstörung (Silbenstolpern). 
Schrift nachlässig, nicht deutlich paralytisch. Starke allgemeine Hy¬ 
perästhesie, zuckt bei jeder Berührung zusammen. Schmerzgefühl erhöht, 
Patellarreflexe sehr gesteigert. Romberg nicht deutlich. Gang unsicher, 
Ubisch. 

Deutlicher Intelligenzdefekt, starke Apathie, Merkfähigkeit erhalten, 
nieist euphorisch bei völligem Mangel von Krankheiteinsicht, oft sehr 
reizbar. 

Verlauf und Behandlung: Im Oktober: Augen- 
Hintergrund rechts vollständige weiße Atrophie der Papille, links 
»och geringer. Sehschärfe rechts 4/20, links 2/20, ziemlich rasch zurück- 


l ) Nach neueren Mitteilungen hat die psychische Schwäche erheb¬ 
liche Fortschritte gemacht. 


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Pfundcr. 


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gehend. Dabei Stimmung gehoben in Hinsicht der „völligen Gesundheit“. 
Urin: E—, Z +. Reizbarkeit etwas geringer. 

Am 2 1. 10.: Subkutane Injektion von 0,5 S a 1 - 
v a r s a n. Angeblich starker Schmerz (Hyperästhesie), der gegen Abend 
noch zunahm, dabei jedoch gleichmütige Stimmung. Kein unmittelbarer 
Erfolg der Injektion. Infiltrat stark empfindlich, sonst gleich. Tempe¬ 
ratur: 2. Tag: 37.2; 3. Tag: 37.3. Urin: E—, Z + {Nylander). 

Status vom 2 0. 11. 10: Infiltrat gut zurückgegangen. D i e 
Hyperästhesie hat sich an den Extremitäten und an Brust 
und Bauch gebessert, ist aber am Rücken unbeeinflußt. Psychischer 
und physischer Status sonst ohne Veränderung. Visus ebenfalls nicht ge¬ 
bessert. Augenhintergrund unverändert. 

2 3. 1 1.: Anfall mit Aphasie und Paresis des rechten Arms. 

Vor der Injektion 7. 10. bzw. 17. 10. Wassermannsche Reaktion im 
Blut und Liquor positiv. Blut > Liquor. 

Wassermann in Blut und Liquor blieb unverändert. 

I m w e iteren Verlauf wurde das Sehvermögen eher noch 
schlechter. Die Krankheit nahm im übrigen einen langsamen Verlauf. 

Br. starb 1 am 5. 8. 11 an Pneumonie. 

Der makroskopische und mikroskopische Sektionsbefund entsprachen 
dem einer typischen Paralyse. 

4. Ein Fall von hereditärer Paralyse. 

K., Ludwig, 19 Jahre, ohne Beruf. Vater luisch, Mutter in 
der Schwangerschaft infiziert, als Kind Schmierkur, erkrankte im Mai 
1910 fast plötzlich (war sehr verändert, zeigte unsichern Gang, zahlreiche 
Größenideen). Aufnahme am 21. 5. 10. Nach der subkutanen Injektion 
von 0,4 war Patient vorübergehend zugänglicher und körperlich kräftiger. 
Der im allgemeinen progrediente Verlauf wurde aber nicht nachhaltig 
beeinflußt. 

5. J., Albert, 54 Jahre, Former, Infektion vor 12 Jahren in 
Indien. Damals Schmierkur. Krank seit Mai 1910, Aufnahme am 10. Sep¬ 
tember 1910, Entlassung am 20. Oktober 1911. Depressiver Zustand 
mit motorischen Ausfallerscheinungen, Injektion von 0,3 subkutan. Es 
mag zweifelhaft erscheinen, ob die Injektion an der schon vorher ein- 
setzenden Besserung einen besondern Anteil hat. 

6. R., Franz, 46 Jahre, Rechtsanwalt. Über Infektion nichts 
bekannt. Rascher Beginn der Krankheit mit Größenideen und starker 
Erregung. Aufnahme am 19. 4. 10. Fast gleichzeitig mit der zweiten 
subkutanen Injektion von 0,45 bedeutende Beruhigung, so daß Patient 
in die Gesellschaftsabteilung versetzt werden konnte. Er verfiel aber nach 
wenigen Wochen in eine vollständige, einige Monate anhaltende Apathie 
und ging körperlich stark zurück. R. ermangelte dabei zeitweise nicht 
einer gewissen Krankheitseinsicht. Später entwickelte sich allmählich 
wieder der frühere erregte Zustand, der heute noch anhält. Die psychische 
Schwäche hat deutlich zugenommen. 


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Zur Anwendung des Salvarsan» in der Psychiatrie. 


95 


7. M., Karl, 44 Jahre, Oberstabsarzt. Infektion mit 23 Jahren, 
■lamals Quecksilberkur. Beginn der Krankheit Spätjahr 1909, Wasser¬ 
mann nach nochmaliger energischer Kur vorübergehend negativ (1910). 
Aufnahme am 8. 8. 10. Wir sahen eine leichte Besserung des Krankheit- 
hildes, bei dem auf dringenden Wunsch der Frau zweimal mit 0,45 sub¬ 
kutan injizierten Patienten, der draußen und hier mehrere rasch vorüber¬ 
gehende Anfälle gehabt hatte. M. war etwas komponierter und körper¬ 
lich erholt. Er erlag jedoch bald nach der am 6. April erfolgten Ent- 
U'sung zu Hause einem neuen schweren Anfall. 

Aus den mitgeteilten Fällen geht hervor, daß wir bei der Paralyse 
mehrfach — wenigstens vorübergehend — eine günstige, wohl spezi¬ 
fische Beeinflussung der neurologischen Ausfallerscheinungen 
sahen. Ob die beobachtete Besserung der psychischen Symp¬ 
tome als unmittelbare Salvarsanwirkung aufzufassen ist, oder ob es 
sich hierbei nicht vielmehr um einfache Remissionen handelt, läßt 
sich bei dem bekannten wechselnden Verlauf der Paralyse namentlich 
mit Rücksicht auf unsem, doch relativ kleinen Kreis von Erfahrungen 
mit Sicherheit nicht entscheiden. Diese schwierige Frage wird aber 
auch bei einem größeren Material mit Bestimmtheit kaum zu beant¬ 
worten sein, zumal auch noch die allgemein roborierende Eigenschaft 
les Arsens in Betracht gezogen werden muß. Jedenfalls können wir 
inkeinem der Fälle dem Salvarsan einen deut¬ 
lich merkbaren Einfluß auf den Gesamt verlau f 
e i n r ä u m e n. Bemerken möchte ich noch, daß die jeweils positive 
Wassermannsche Reaktion, die ja bei den Spätformen besonders 
^hwer zu beseitigen ist, nie ganz zum Verschwinden gebracht wurde. 

Verschlimmerungen, wie sie von anderer Seite, be¬ 
sonders von Fischer in Prag mitgeteilt wurden, sahen wir inkeinem 
Fall und können somit, geeignete Auswahl der Patienten und vor¬ 
sichtige Dosierung vorausgesetzt, die Paralyse nicht allgemein als 
Kontraindikation der Salvarsanbehandlung ansehen. 

Neuerdings gingen wir, namentlich auf die Empfehlung Donaths, 
zur Behandlung mit Natrium nuclein. über, da diese Methode eine 
unmittelbarere Beeinflussung des Krankheitprozesses zu ermöglichen 
scheint. 

Es ist dem Salvarsan nicht gelungen, bei der Behandlung der 
Paralyse einen ähnlich hervorragenden Platz zu erobern, wie bei den 
andern Formen der Lues. Nach wie vor wird hier der Hauptgewinn 


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96 


Pfunder. 


in der Prophylaxe zu erblicken sein. Wenn es sich künftig be¬ 
stätigen sollte, daß das Salvarsan, allein oder in Verbindung mit dem 
bewährten Quecksilber, eine radikale Heilung der Lues ermöglicht, 
so wäre damit eine wirkungvollste Vorbeugung dieser gefürchteten 
Gehirnkrankheit erreicht. 

Unter den ersten mit Salvarsan behandelten Patienten befand sich 
noch folgend«* Fall von 

8. Lues cerebri (Korsakoffwher Symptomenkomplex). 

Sch., Leopold, 42 Jahre, Rechtsagent. Aufgenommen am 
2. 6. 10. Anamnese: 1897 Commotio cerebri. Lues vor 10 Jahren. 
Haarausfall vor 4 Jahren, längere Zeit mit Quecksilberpillen behandelt, 
erheblicher Abusus alcohol. 2 gesunde Kinder. Seit 3 Wochen verwirrt 
und erregt. Klagt über nächtliche Kopfschmerzen. 

Status bei der Aufnahme, soweit zu erheben: Augen¬ 
hintergrund o. B. Papille links unscharf begrenzt, Lidflattern. Pupillen¬ 
reaktion links > rechts. Sehschärfe herabgesetzt. Romberg nicht deut¬ 
lich. Schmerzhafter luischer Hodentumor. Keine Atrophien. Sen¬ 
sibilität anscheinend rechts herabgesetzt. Urin: E—, Z—. Keine 
Sprach-, Schreib- und Lesestörung. Psychisch ausgesprochen amnesti¬ 
scher Symptomenkomplex: völlige örtliche und zeitliche Desorientiert¬ 
heit, starker Merkdefekt, lebhafte Konfabulation, außerdem bedeutende 
Störung der Aufmerksamkeit. Starker Wechsel zwischen euphorischer 
Witzelsucht und rührseliger Weinerlichkeit. Häufig psychomotorisch 
erregt. Intelligenzprüfung anfangs unmöglich. 

Verlauf und Behandlung: Im Juli 1910 Inunktionskur, 
danach Jodkali. Hodentumor unverändert. Sehschärfe besser, 6/8 beider¬ 
seits. Keine Differenz der Sensibilität. Patellarreflexe beide erhöht, 
rechts etwas stärker wie links. Fußklonus positiv, Babinski positiv, 
Romberg schwach positiv. Urin: Z positiv. Temperatur öfters erhöht bis 
37.6, Puls 80 erhöht bis 96. Aufmerksamkeitstörung deutlich, Labilität 
der Stimmung etwas gebessert. Der amnestische Symptomenkomplex 
besteht unverändert fort. Die Intelligenzprüfung ergibt keinen Defekt. 

Am 2 1. 9. 10 subkutane Injektion von 0,5 Sal¬ 
varsan. Keine wesentlichen Nebenerscheinungen. Hodentumor vom 
zweiten Tage an entschieden zurückgegangen, auch weniger schmerzhaft. 
Urin: Z—. Am 21. 10. subkutane Injektion von 0,4. Der Hodentumor 
ging vom zweiten Tage an noch mehr zurück. Neurologisch und psychisch 
unmittelbar keine Veränderung. 

Status vom 2 1. 11. 10: Hodentumor etwa um die Hälfte 
verkleinert seit der ersten Injektion. Körpergewicht um 1,5 kg gestiegen. 
Nervenstatus unverändert. Merkfähigkeit deutlich gebessert, desgleichen 
ist der Stimmungswechsel seltener, die Desorientierung (Ort und Zeit) 
besteht noch in gleicher Weise, ebenso die Konfabulation. 


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Zur Anwendung des Salvarsans in der Psychiatrie. 


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Vor der ersten Injektion positive Wassermannsche Reaktion im 
Blut. 5 Wochen nach der zweiten Injektion Wassermann im Blut 
unverändert positiv, im Liquor cerebrosp., der unter mäßig erhöhtem 
Druck ausströmt, mit 0,1 negativ, von 0,2 an positiv, bei 0,6 stark 
positiv. Keine Zellvermehrung. Nonne, Phase I negativ. 

Weiterer Verlauf: Eine dauernde Besserung wurde hin - 
sichtlich der Orchitis erzielt. 

Auch ist der Urin frei von Zucker. 

Im übrigen bietet Sch. heute noch dasselbe an Korsakoff erinnernde 
Bild. In letzter Zeit tritt wieder größere Reizbarkeit zutage. Möglicher¬ 
weise wird durch eine kombinierte Behandlung (die Hg-Kur lag 2 Monate 
zurück) doch noch mehr zu erreichen sein. Übrigens ist vielleicht der 
geringe Erfolg der antiluischen Kuren darauf zurückzuführen, daß 
in der Ätiologie auch der Alcohol. abusus eine beträchtliche Rolle spielt. 

Ferner veranlaßten uns tertiäre Haut-, Schleimhaut- und Knochen- 
prozeeee, die zum Teil auf Jod und Quecksilber nicht genügend rea¬ 
gierten, zur Salvarsaninj ektion bei 

9. Einem Psychopathen mit Depressionszuständen und 
\Ikoholismu8. 

H., H e r ra a n n , 35 Jahre, cand. med. Aufgenommen am 19. 5.10. 

Anamnese: Lues 1902. 2 Inunktionskuren und Hg-Pillen. 

In den letzten Jahren Okzipitalneuralgien, abusus alcohol. Neuerdings 
Depressionszustände und Suizidgedanken. 

Status bei der Aufnahme: Acne rosacea (spezifisch?). 
Tremor der Zunge und Hände, Schleimhautplaques am rechten Mund¬ 
winkel, strahlige Narben am rechten Unterarm, luische Geschwüre und 
schmerzhafte Periostitis luica am rechten Unterschenkel. Depression 
im Anschluß an die fortwährenden Rückfälle in den Alkoholmißbrauch 
und wegen der Folgen der Infektion. 

Verlauf und Behandlung: Mit Jodkali gelangten die 
l'nterschenkelgeschwüre zur Abheilung, jedoch blieb eine Verdickung des 
rechten Unterschenkels von 3 cm. Die Okzipitalschmerzen, ebenso die 
Beschwerden von seiten der Periostitis verschwanden. Patient konnte 
größere Touren unternehmen und beschäftigte sich regelmäßig mit schrift¬ 
lichen Arbeiten. Schleimhautplaques unverändert. Mitte August Schmer¬ 
zen in der Lebergegend ohne Ikterus, die auf Karlsbader Salz zurück- 
gingen. 

Am 21. 9. 10 mittags subkutane Injektion von 
0,5 E. - H. Unmittelbar geringer Schmerz, der sich abends steigerte 
(neuralgisch, den Rippen entlang). Zudem Schweißausbruch und Kribbeln 
■m linken Arm (Injektion unter dem linken Schulterblatt). Urindrang 
bei nicht vermehrter Urinmenge. Leichte motorische Unruhe. Die 
Temperatur stieg nicht über 37.6. Die Nebenerscheinungen waren am 

Zeitschrift für Psychiatrie. LI1X. 1. 7 


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Pfunder, 


dritten Tag zurückgegangen, nur das Infiltrat blieb ziemlich schmerzhaft. 
Am zweiten Tag Plaques subjektiv glatter, nach drei Tagen entschieden 
kleiner geworden. Abblassen der blauroten strahligen Narben in der¬ 
selben Zeit. Subjektives Wohlbefinden vom vierten Tage an. Gewicht¬ 
abnahme 2,5 kg. Nachträglich vorübergehende Entzündung des Stich¬ 
kanals. 

Status vom 3 0. November 1910: Schleimhautplaques 
um */ 3 verkleinert. Umfang des rechten Unterschenkels nur noch 1,5 cm 
größer wie links. Narben deutlich abgeblaßt. Körpergewicht um 4 kg 
gestiegen. Akne vorübergehend entschieden gebessert. Die Rötung 
und teigige Schwellung der Nase ist in letzter Zeit wieder aufgetreten, 
leichtes ödem und Sekretion, keine Spirochäten. 3 Wochen nach der 
Injektion Anfälle von Cholelithiasis mit leichtem Ikterus (14 Tage lang). 
Vor 8 Tagen schmerzhafte Verdickung am Gapitul. fibul., die jetzt wieder 
zurückgegangen ist. Die Okzipitalschmerzen sind zeitweise wieder auf¬ 
getreten (spezifische Salvarsanreaktionen ?). 

Wassermann : vor der Injektion im Blut positiv, 5 Wochen nach der 
Injektion unverändert. 

Weiterer Verlauf: H. wurde nach 3monatiger Pause, 
da die TPossermannsche Reaktion auch bei nochmaliger Untersuchung 
keine Veränderung zeigte, innerhalb von 2 Wochen dreimal intravenös 
injiziert. Zuerst mit 0,3, dann zweimal mit 0,6 Salvarsan. Hierdurch 
konnte eine erhebliche Abschwächung der Blutreaktion erzielt werden. 
Das Mittel wirkte im übrigen noch weiter auf die lokalen Erscheinungen 
und als Roborans. Nebenerscheinungen, vor allem Fieber, traten nicht 
auf, einmal vermehrte Diurese (ohne pathologischen Harnbefund). Pat. 
war inzwischen entlassen worden und in einem kaufmännischen Geschäft 
tätig. Erneute Aufnahme am 2. 12. 11. wegen Depressionszustandes mit 
Suizidgefahr. Von den luischen Aflektionen ist nur ein fibröser Rest 
der Schleimhautplaques noch deutlich. Die Akne ist abgeheilt, ebenso 
die Periostitis. Okzipitalschmerzen sind nicht mehr aufgetreten. 

Waren bei den besprochenen Kranken durchweg klinische Symp¬ 
tome luischer oder metaluischer Prozesse vorhanden, so wies bei 
den folgenden nur die Anamnese auf eine vorausgegangene Infektion 
hin. Nach deren Bestätigung durch positive TFossemannsche Reaktion 
im Blut (Liquor dabei in einfachen und steigenden Mengen negativ) 
unterwarfen wir der Salvarsanbehandlung: 

10. Einen Fall von paranoider Demenz (0,6 intra¬ 
venös). 

B., Max, 45 Jahre, Küchenchef. Infektion 1890. 3 Schmier¬ 

kuren. Krank seit Frühjahr 1911 (Beeinträchtigungs- und Verfolgungs* 
ideen). Die bald nach der Injektion erfolgte Entlassung entzog den 
Patienten weiterer Beurteilung. 


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Zar Anwendung des Salv&rs&ns in der Psychiatrie. 


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11. Einen weiteren Patienten derselben Krankheit¬ 
gruppe (zweimal 0,3 subkutan). 

Sch., Franz, 38 Jahre, Bahnassistent. Infektion 1902. Er¬ 
krankt 1906 mit phantastischen Wahnideen und hypochondrischen Vor¬ 
stellungen. Seit 26. April 1907 zum zweiten Male in der Anstalt. Schmier¬ 
kur 1908. Die Krankheit blieb unbeeinflußt, ebenso die Wassermanns che 
Reaktion. 

12. Einen konstitutionellen Psychopathen (0,3 
intravenös). 

D r. Ferdinand C., 39 Jahre, Konsulatsbeamter. Infektion 
mit 14 Jahren. Regelmäßig mit Hg behandelt. Krank seit April 1911 
(psychogene Depressionszustände mit schweren Suizid versuchen). Keine 
unmittelbare Beeinflussung der Krankheit. Weitere Kontrolle war wegen 
der Entlassung nicht möglich. 

13. Einen weiteren schweren konstitutionellen Psy¬ 
chopathen mit ausgesprochen hysterischen Zügen und hypochon¬ 
drischen Verstimmungen (0,3 intravenös). 

B., Landolin, 26 Jahre, Hilfsarbeiter. Vater Trinker. In¬ 
fektion 1908. Eine Hg-Kur. Wegen Geisteskrankheit vom Militär als 
iienstuntauglich entlassen, wurde B., nachdem er wegen Bedrohung 
^geklagt war, hier exkulpiert. Der psychische Zustand blieb derselbe. 
Patient, der noch anstaltbedürftig ist, will sich einer nochmaligen Behand¬ 
lung unterziehen. 

Hinsichtlich derartiger Patienten mit klinisch latenter Lues 
möchte ich hervorheben, daß bei ihnen eine energische Kur, wenn 
irgend möglich, bis zur Beseitigung der positiven tPossermonnschen 
Reaktion vorgenommen werden sollte. Es kommt hier wohl die wirk¬ 
same kombinierte Anwendung in Betracht. Ob und welche Zusammen¬ 
hänge zwischen der Geisteskrankheit und der Lues bestehen, ob die 
Lues tatsächlich als wesentlicher ätiologischer Faktor in Betracht 
kommt oder der psychischen Affektion zufällig parallel geht, läßt sich 
in solchen Fällen erfahrunggemäß sehr oft nicht sicher entscheiden. 
Jedenfalls ist aber die Gefahr einer späteren Paralyse nie zu unter¬ 
schätzen. Vor nicht langer Zeit kam in hiesige Anstalt ein Patient 
zur Wiederaufnahme, der früher das typische Bild einer primären 
Demenz ohne irgendwelche nervösen Ausfallerscheinungen geboten 
hatte. Die klinische Untersuchung stellte jetzt übereinstimmend mit 
der serologischen eine beginnende Paralyse fest, bei der wir mit Natr. 
nuclein. einen deutlichen Erfolg erzielten. 

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100 Pfunder, Zur Anwendung des Salvarsans in der Psychiatrie. 


Hier bietet sich auch dem Psychiater, dem das Ehrlich&che Mittel 
nicht so viele Hoffnungen erfüllte, wie den meisten andern Kollegen, 
Gelegenheit, an der wirksamen Bekämpfung der Lues mitzuarbeiten, 
besonders im Hinblick auf die möglichste Verhütung einer der schwer¬ 
sten und traurigsten Krankheiten, die seiner Behandlung zugeführt 
werden. 

Zum Schluß sei die praktische Wichtigkeit der TFossermafmschen 
Reaktion auch für die Psychiatrie nochmals hervorgehoben, welche 
es allein gestattet, die wichtigen Fälle latenter Lues zu erkennen. 
Sie sollte deswegen auch in den Irrenanstalten möglichst allgemein 
zur Anwendung kommen. 


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Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 


IX. Jahresversammlung des Vereins bayrischer 
Psychiater in München am 6. und 7. Juni 1911. 

1. Sitzungstag. 

Dienstag, den 6. Juni 1911. 

Die Sitzung findet in dem Hörsaal der psychiatrischen Klinik statt. 

Den Vorsitz führen: FoeAe-Eglfing und Alzheimer -München. 

Als Schriftführer fungieren: Hrandf-Eglßng und Isserlin -München. 

Anwesend sind: AUers -München, AIzheimer -München, Ast-Eglflng, 
Bausewein -München, Brandt-Eglfing, Brodmann -Tübingen, Dees -Gabersee, 
OrescA/eM-München, üccard-Frankenthal, Ellmann -Wöllershof, Fauser- 
Stuttgart, Feldkirchner -Regensburg, Fischer-Prag, Gaupp -Tübingen, Glas- 
München, Gudden -München, Herfeldt -Ansbach, Hillin »ScAmid-München, 
Hirt-München, Hock, Josef- Bayreuth, Hock, Valentin - Bayreuth, von Höss - 
lin -Eglfing, Horwitz, /famiWa-München, Isserlin -München. Jahrmärker, 
Marburg, Jakob -München, JemscA-München, Kaiser -Neufriedenheim b. 
München Karrer- Klingenmünster, Kaufmann -Werneck, /fern-Kennen - 
bürg i. Württemberg. Afeist-Erlangen, /Tnauer-München, Koberlin - 
Erlangen, ÄoJA-Kutzenberg, JTorie-Eglfing, Kraepelin -München, Krapf- 
Kaufbeuren, Äundr-Deggendorf, Itmberg- Eglfing, Zeoy-München. Lößl- 
Rabersee, Mager- Gabersee, Afarggra^-Homburg, Mattem -Winnental, Meg¬ 
gendorf er-München, AfensAurger-Innsbruck, Müller, CAmrt’an-München, 
Müller-Dösen, iVenning-Eglfing, Oerter-Ansbach, Ossen-Hall i. Tirol, 
Plaut -München, Prinzing- Kaufbeuren, Pütterich-Homburg, Ranke- Ober* 
Endling b. München, /feAm-Neufriedenheim b. München, Renninger- Re¬ 
gensburg, //osentaLMünchen, /?o<A-Landau i. d. Pfalz, Rüdin -München, 
Schnorr von Carolsfeld -Obersendling b. München, Schwarz -Ansbach, 
Schweighofer -Salzburg, von Seidlitz- Tapiau i. Ostpreußen, Sercko -München. 
•S/xcAf-Erlangen, *S7öcWe-Eglfing, Storz- Kutzenberg, Stransky- Wien, Tes- 
<torp/-München, FrtA-Erlangen, KocAe-Eglfing, Kogler-Dedendorf, Wacker- 
München, Weiter-München. 76 Teilnehmer. 

1’ocAe-Eglfing eröffnet die Versammlung um 9 Uhr und begrüßt die 


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102 


Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 


Anwesenden. Begrüßungschreiben sind eingelaufen von den Mitgliedern 
W iirschmidt - Erlangen und von Rad. -Nürnberg. 

Die Mitgliederzahl des Vereins betrügt 93, gegen 100 im 
Vorjahre. 2 Mitglieder (Hofmann -München und Eisenhofer- Bayreuth) 
hat der Verein durch Tod verloren. Die Versammlung ehrt das Andenken 
der Verstorbenen durch Erheben von den Sitzen. 5 Mitglieder sind durch 
Wegzug ausgeschieden, 1 Mitglied wegen Verweigerung der Beitrags - 
leistung. 1 Mitglied ist zugegangen. 

Hierauf erstattet Brandt -Eglfing den Rechenschaftsbericht 
über das Vereinsjahr 1910/11: 

Summe der Einnahmen: 894 Mk. 76 Pf. 

Summe der Ausgaben: 106 Mk. 47 Pf. 

Vermögensbestand: 788 Mk. 29 Pf. 

Hiervon wurde ein Teil (600 Mk.) in verzinslichen Papieren an¬ 
gelegt. 

Prinzing- Kaufbeuren und Hock- Bayreuth prüfen die Rechnung und 
bestätigen die Richtigkeit derselben. 

Vocke -Eglfing berichtet sodann über die Tätigkeit der statistischen 
Kommission, welcher die Herren Herfeldt, Kraepelin, Specht, Vocke an- 
gehören, und beantragt im Namen derselben: 

„Der Verein wolle beschließen 

I. das Kgl. Staatsministerium des Innern zu ersuchen, die Aus¬ 
füllung und Vorlage der Jahrestabellen II—X für Irrenanstalten 
zu erlassen, bis eine zeitgemäße Änderung der Reichsstatistik vor- 
genommen ist, 

II. an den Deutschen Verein für Psychiatrie mit der Anregung 
einer Änderung der psychiatrischen Reichsstatistik heranzutreten.“ 

Der Antrag wird ohne Debatte einstimmig angenommen. 

DerVorsitzende konstatiert, daß durch die Verordnung vom 
4. August 1910 dieGebührenderpsychiatrischen Sach¬ 
verständigen (für die Untersuchung und Beobachtung zum Zwecke 
der Erstattung eines Gutachtens 5 bis 50 Mk.; für Studium der Akten 
10 bis 50 Mk.; für Gutachten über den Geisteszustand einer Person 10 bis 
100 Mk.) nunmehr die längst ersehnte Erhöhung erfahren haben, und zwar 
aus eigener Initiative der Kgl. Staatsministerien der Justiz und des Innern, 
was der Verein um so mehr dankbar anerkennt. 

Vorsitzender bringt endlich eine Eingabe des „Münchener 
Zentralverbandes zur Bekämpfung des Alkoholismus“ zur Kenntnis be¬ 
treffend die möglichste Beseitigung der geistigen Getränke als Genu߬ 
mittel aus den Irrenanstalten Bayerns. i 

Es wird beschlossen, dem Zentralverband mitzuteilen, daß der 
Verein bayerischer Psychiater seinen Bestrebungen lebhafte Sympathien 


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Verein bayerischer Psychiater. 


103 


entgegenbringt und es für wünschenswert erachtet, daß die Anstaltleiter 
bei ihren Maßnahmen zur Beseitigung des Alkoholgenusses aus einzelnen 
Abteilungen oder zur Einführung allgemeiner Abstinenz_die Unterstützung 
ihrer Vorgesetzten Behörden finden. 

Hierauf erstatten 

Kolb -Kutzenberg und Specht-Erlangen das Referat über „Ein¬ 
führung der Familienpflege in Bayer n.“ 

(Veröffentlicht in der Zeitschr. f. d. ges. Neurologie u. Psychiatrie 
1911 Bd. VI, Heft 3, S. 274 u. 305). 

Diskussion (über beide Referate gemeinsam). — Kolb weist 
den Ausführungen des Konreferenten gegenüber darauf hin, daß Preußen 
in gewisser Weise durch die Wirkung des Gesetzes 1891 überrascht wurde. 
Das Rehm-Kolbsche Referat 1908 wollte für Bayern dem Vorbeugen. — 
Der geringe Prozentsatz der in Erlangen geeigneten Kranken dürfte z. T. 
eine Folge des notgedrungenerweise ganz geschlossenen Erlanger Be¬ 
triebes sein. Ein Beweis ist bis zu einem gewissen Grade der Erfolg 
Stamms in Ilten, der 22 % eines ausgesuchten Krankenmaterials aus 
den Irrenanstalten Hannovers in Familienpflege brachte. — Die Hospi- 
talisierungquote Bayerns ist zurzeit 1 : 700 und wird auf 1 : 550 (in öffent¬ 
lichen Anstalten) steigen; Ungarn hat bei geringerer Quote über 1000 
Familienpfleglinge. Auch bemittelte Kranke sind zuweilen geeignet für 
Familienpflege. Man hat auch behauptet, Bayern sei für offenen Betrieb 
nicht geeignet, und doch haben Gabersee und Kutzenberg großen offenen 
Betrieb. — Im übrigen scheinen K. die Ausführungen Spechts die Zweck¬ 
mäßigkeit und Notwendigkeit der Pflege in der eigenen Familie zu be¬ 
weisen. 

Dees-Gabersee sieht sich genötigt, den Ausführungen Spechts in 
einem Punkte zu widersprechen, nämlich dem Vorschläge, die einschlägige 
neue Gesetzgebung abzuwarten und dann danach zu handeln. Was die 
rein ärztliche, psychiatrische Seite betrifft, dürfen wir die Hände nicht in 
den Schoß legen. Wir müssen, wie Kolb sagt, die Bahn für die Familien- 
pflege frei machen. — Pfleglinge für Familien hat Gabersee genügend, aber 
es fehlt an geeigneten Familien. In Wasserburg lehnt man Geisteskranke 
ab wegen der dort bestehenden, feuergefährlichen Bauart der Stadt; 
die in der Umgebung der Anstalt lebenden Bauern sind zumeist wohl¬ 
habend und mögen sich mit Geisteskranken nicht befassen. Wie sollen 
wir nun aber Vorgehen ? Man hat Pflegerdörfer in Anstalten eingerichtet; 
diese mögen als Ubergangstationen ganz gut sein, nach meiner Meinung 
ist aber das gar keine Familienpflege, sondern Anstaltpflege. Wenn wir 
ni einer richtigen Familienpflege kommen wollen, brauchen wir das Pflege¬ 
personal dazu, denn die Pfleger, besonders solche, die mit Pflegerinnen 
verheiratet sind, sind die wirksamsten Propagandisten für die Irrenpflege, 


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104 


Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 


wenn sie außerhalb der Anstalt in Dörfern oder Märkten frei angesiedelt 
werden, wenn ihnen rechtzeitig Vorteile gewährt werden, die sie in der 
Anstalt nicht haben — Kolb empfiehlt etwas Ähnliches in seiner Anstalt —, 
wenn sie z. B. nach einer bestimmten, etwa 10jährigen Dienstzeit — wie 
in Hessen eingeführt ist — Prämien erhalten, unter Umständen auch ein 
Häuschen und was man sonst alles noch für gut findet, unter der Bedingung, 
daß sie freiwillig und gern Kranke in ihre Familie aufnehmen. Ich denke 
an einfache Handwerker, diese würden dann die besten Verbreiter der 
Familienpflege sein. Dadurch, daß man die Pfleger in der Anstalt mög¬ 
lichst stabilisiert und ihnen Aufbesserungen — die ihnen ja gegönnt sind — 
immer wieder in einförmiger Weise gewährt, fördert man die Familien - 
pflege nicht. Wir sind verpflichtet, der Familienpflege näher zu treten, 
wir werden jedoch ohne geeignete Organisation des Pflegepersonals nichts 
ausrichten. 

Eccard - Frankenthal: Die Herren Referenten haben in erschöpfender 
Weise alle sozusagen abwägbaren und zahlenmäßig zu belegenden Momente 
vorgeführt, es gibt aber in dieser wichtigen Frage noch gewisse Impondera¬ 
bilien, die meines Erachtens nicht ganz außer acht gelassen werden dürfen. 
Sie sind ethnographischer und sozialer Natur und liegen in dem Charakter 
der Länder und der Bevölkerung, der vielfachen, durch unsere Umwälzun¬ 
gen auf sozialem Gebiete bedingten Reibungen und Unruhen, und dem 
veränderten, bewegten Leben, das längst die Grenzen der Großstädte 
überschritten hat und zum Teil zu einer Charakterveränderung weitester 
Volkskreise führt. Die Familienpflege verlangt ein gewisses patriarcha¬ 
lisches, autoritätgläubiges, ruhiges Milieu. Ich glaube nicht, daß nur die 
Armengesetzgebung allein die Ursache ist, daß — mit wenigen Ausnah¬ 
men — der Main die südliche Grenze des Paradieses der Familienpflege 
bildet, und daß nach dem Osten Deutschlands zu die erfolgreichsten Zentreo 
der Familienpflege liegen. 12 Jahre lang habe ich an den, für unsere Ver¬ 
hältnisse ja relativ erfolgreichen Bestrebungen des Herrn Med.-Rats 
Karrer um die Familienpflege teilnehmen können, die Erfolge waren lange 
nicht der aufgewendeten Mühe entsprechend. Es ist nicht auffallend, 
daß ich hier von einem Mißerfolge berichten muß auf meinem, vielfach 
mit der Psychiatrie sich berührenden Gebiete der Familienunterbringung 
von Zwangszöglingen. Wenn nicht ein deutlicher pekuniärer Erfolg vor¬ 
handen ist, sind die Leute nicht zu haben, noch viel weniger, wenn noch 
etwas Nachsicht und eventuell Unannehmlichkeiten damit verbunden 
waren. In unserer bewegten, raschlebigen und genußsüchtigen Zeit ist 
jeder, der nicht mithilft, zu verdienen, der sogar noch Kosten und Mühen 
macht, ein unwillkommener Gast. So kommt es, daß die Kranken quoad 
Arbeit ungemein ausgenützt werden. Bessere Leute beteiligen sich über¬ 
haupt nicht an der Familienpflege, und wenn ja, so meinen sie, was sie 
wohl für ein Opfer brächten, und sind äußerst empfindlich. Kurz, das 
Ende vom Lied war, daß man die Kranken wieder in die Anstalt zurück- 


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nahm und man sich schließlich sagen mußte, man hatte besser daran getan, 
sie Oberhaupt nicht hinauszutun. Außerdem sind der Familienpflege in 
der Pfalz erschwerend die vielen Kirchweihen, die sich immer über viele 
Orte der Umgebung in ihrer ungünstigen Wirkung erstrecken, und die 
Sitte des jedem Hausgenossen liberal zur Verfügung stehenden Haus- 
trunkes. — Alles in allem teile ich den Optimismus beider Herren Refe¬ 
renten nicht, daß die Familienpflege in Bayern einen wichtigen Faktor 
in der Irrenfürsorge bilden wird. Natürlich halte ich auch nicht die Unter¬ 
bringung von 2 bis 12 Patienten für einen nennenswerten Faktor. 

Müller- Dösen: Die pekuniären Vorteile der Familienpflege bilden 
nicht ihren wichtigsten Vorzug, sind aber doch nicht so gering anzu- 
schlagen. In Dösen betrug die Ersparnis im vergangenen Jahre bei vor¬ 
sichtiger Berechnung etwa 70 Pfennig für den Kopf; im ganzen hat die 
Stadt durch die Familienpflege im Jahr annähernd 20 000 Mk. erspart. — 
Zn Punkt 23 a der Aofhschen Thesen: Ähnlich liegen die Verhältnisse 
im Königreich Sachsen, wo die Landesanstalten, abgesehen von den nur 
vorübergehend pflegebedürftigen, heilbaren Kranken, nur die Gefährlichen 
aufnehmen. Hauptsächlich deshalb hat man sich dort ebenfalls bisher von 
der Familienpflege nichts versprochen. Jetzt wird der Versuch ernsthaft 
geplant, und der Erfolg wird für Bayern lehrreich sein. Daß auch bei der¬ 
artigem Krankenmaterial einige für Familienpflege passende Kranke sich 
Inden, ergibt sich daraus, daß wir in Dösen von Kranken, die aus Landes¬ 
anstalten dorthin versetzt worden waren, einzelne mit Erfolg in Familien¬ 
pflege geben konnten. — Zu Punkt 23 b der Jf.schen Thesen: Man könnte 
auch sagen, daß moderne, offene Anstalten mit ausgedehnter Kranken- 
beschaftigung der Ausdehnung der Familienpflege hinderlich sind, da dort 
oft ungern die arbeitenden Kranken abgegeben werden und die Anstalt 
den Kranken so gute Versorgung bietet, daß die Familienpflege weniger 
notwendig ist als für veraltete Anstalten. — Die Bevölkerung einer Gegend 
muß sich erst allmählich an die Familienpflege gewöhnen; deshalb ist es 
nicht verwunderlich, wenn man zuerst jahrelang nicht weiter kommt. 
Auch in Gardelegen war die Entwicklung so. Die Familienpflege verbreitet 
sich am besten dadurch, daß Nachbarn und Bekannte der Pflegefamilien 
durch eigene Anschauung Lust und Interesse daran gewinnen. Die Tat¬ 
sachen sprechen dagegen, daß die Familien die Gegenwart der Kranken 
so unangenehm empfinden. Dann würden sie auch die Kranken nicht 
behalten und würden nicht immer mehr sich dazu drängen, trotzdem 
ihnen die Schwierigkeiten vorher gesagt werden. Unrichtig ist es, daß 
ärztliche Aufsicht den Familien unerträglich wird. Wo es so ist, da liegt 
*s am Arzt und an der Methode. Eis ist nicht so schwer, ein freundliches 
Verhältnis zu den Familien zu halten. Wenn in Bayern bei der ländlichen 
Bevölkerung besondere Schwierigkeiten bestehen, so empfiehlt es sich 
kleine Städte zu wählen, da finden sich passende Familien. Gute Er¬ 
fahrungen haben wir mit früheren Pflegerinnen gemacht, denen 3 bis 4 


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Kranke gegeben wurden. Wenn es möglich ist, soll man die Groflstadt für 
Familienpflege nicht wählen. Die klinische Beobachtung der Kranken 
ist in der Familienpflege eher erleichtert, da der Arzt bei den, freilich 
selteneren. Besuchen viel besser über die Kranken unterrichtet wird. 

Kundt -Deggendorf glaubt, daß die Zahlenangaben Kolbs über die 
in den bayrischen Irrenanstalten in offenen Abteilungen verpflegten 
Kranken zu Mißverständnissen über das Maß der freien Behandlung in 
bayerischen Anstalten überhaupt führen könnten. Die alten Anstalten, 
wie Deggendorf, haben keine offenen Abteilungen, gleichwohl kann eine 
freie Behandlung in großem Umfange stattflnden. In Deggendorf z. B, 
fährt eine erhebliche Anzahl von männlichen und weiblichen Kranken 
mit der Eisenbahn auf das Kreisgut und ist dort täglich von früh bis 
abends beschäftigt. — Bezüglich des Umfanges der einzuführenden Fa¬ 
milienpflege spielt aber doch die Krankheitform eine bedeutende Rolle. 
Die Fälle, zu denen die Mehrzahl der Uchtspringer Familienpfleglinge 
gehört, sind z. B. in Niederbayern satzungmäßig von der Aufnahme in die 
Kreisirrenanstalt ausgeschlossen. 

Karrer -Klingenmünster spricht von den von ihm in den Jahren 
1896—1908 mit Familienpflege gemachten Erfahrungen. Dieselben 
führen ihn zu dem Schlüsse, daß die Familienpflege möglich ist, daß aber 
allgemeine Sätze, die für alle Anstalteü gelten sollen, nicht aufgestellt 
werden können, da die Lage der Anstalten mit ihrer umgebenden Bevöl¬ 
kerung und deren Charaktereigenschaften zu verschieden sind. Nach 
seinen Erfahrungen begegnen einer erfolgreichen Erweiterung der Fa¬ 
milienpflege in der Pfalz zurzeit noch sehr große Schwierigkeiten. 

FocAre-Eglflng: Bei uns scheiterte die Einführung der Familien¬ 
pflege bei Pflegerfamilien an dem Widerstand der Kranken und der Pfleger. 
Die Kranken zogen die Kost, die ihnen liebgewordene Beschäftigung und 
die Geselligkeit in der Anstalt vor, falls man sie nicht nach Hause ent¬ 
lassen wolle. Die Pfleger wollten von einer Familienpflege, die ihnen 
Verantwortung aufbürde und die häusliche Intimität störe, nichts wissen. 
Wenn sie vom Dienst heimkämen, möchten sie Ruhe und nicht wieder mit 
Kranken zu tun haben. 

Afüüer-Dösen bemerkt zu den Ausführungen Kundts: Das Ver¬ 
hältnis der Krankheitformen der Uchtspringer Familienpflege erklärt 
sich zum Teil aus dem dortigen Anstaltmaterial, welches hauptsächlich 
aus Epileptikern und Schwachsinnigen besteht. In Dösen ist der Prozent¬ 
satz der Dementia praecox in der Familienpflege annähernd ebenso hoch 
wie der der Imbezillität. 

Prinzing- Kaufbeuren: Wir dürfen Herrn Kollegen Kolb dankbar 
sein, und ich empfinde es als ein Bedürfnis, ihm dies auszusprechen, daß 
er die ideale Seite der Frage in den Vordergrund gestellt und einen ener¬ 
gischen Appell an unsere Mitarbeit bei der Einführung der Familienpflege 
in Bayern gerichtet hat. Mögen die Schwierigkeiten noch so groß sein, 


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so dürfen wir doch hoffen, über dieselben hinwegzukommen, wenn wir mit 
einer gewissen Begeisterung an die neue Aufgabe herangehen und die 
freiheitliche Entwicklung unserer Anstalten mit allen Kräften zu fördern 
suchen. Eis ist meine feste Überzeugung, daß in dieser Beziehung noch 
viel geschehen kann, und daß jetzt noch in manchen Fällen— ich denke 
vor allem an gewisse Stadien der Dementia praecox — die geschlossene 
Anstalt, statt fördernd, schädigend auf das Befinden unserer Kranken 
einwirkt. Großen Erfolg verspreche ich mir von der Mitarbeit unserer 
jüngeren Kollegen, denen sich dadurch ein dankbares Feld selbständiger 
Tätigkeit eröffnet. 

Kolb bemerkt in seinem Schlußwort gegenüber den Aus¬ 
führungen MüUers -Dösen, daß 3 bis 4 Kranke in einer Familie doch nicht 
(fanz unbedenklich seien. Die Geisteskranken werden stets einen ge¬ 
ringeren Prozentsatz der Plätze der Familienpflege besetzen als die Imbe¬ 
zillen und Idioten. 

Nach beendigter Diskussion frägt Kraepelin -München an, ob nicht 
über den in den Kolbs chen Leitsätzen enthaltenen Antrag abgestimmt 
werden soll. 

Der Vorsitzende glaubt nicht, daß eine Abstimmung gewünscht 
wird (Zustimmung Kolbs). 

Hierauf folgte eine einstündige Pause, während welcher in dem 
'.Urten der psychiatrischen Klinik ein gemeinsames Frühstück eingenommen 
wurde. 

Nach der Pause beginnt die Reihe der Vorträge. 

Fischer-Prag: Überden spongiösen Rindenschwund 
(mit Demonstration). 

F. demonstriert Photogramme und Mikrophotogramme von Ge¬ 
hirnen, in denen er den spongiösen Rindenschwund vorfand, und bespricht 
an der Hand derselben dessen histologischen Entwicklungsgang. Er fand den 
Prozeß bei 17 Fällen und zwar erstens bei Paralysen und Senilen; als 
mikroskopisch kleine Herdchen bei gewöhnlichen Paralysen und Presbyo- 
phrenien, und als größere Herde bei Lissauer -Paralysen und Senilen mit 
Herdatrophien, wobei die „Herde“ durch den spongiösen Rindenschwund 
hervorgerufen sind. Dann fand sich derselbe Prozeß bei einem Tabiker 
und Fällen von präseniler Demenz, in welchen ein oder beide Stirnlappen 
*> destruiert waren. Nach F. ist dieser Prozeß von den anderen atrophi¬ 
schen Prozessen verschieden, ist etwas, was zur Paralyse resp. der senilen 
Hirnatrophie sekundär Zutritt und wahrscheinlich durch ein Toxin ver¬ 
ursacht wird. Gefäßerkrankungen konnten als Ursache ausgeschlossen 
werden. 

(Der Vortrag erscheint in der Zeitschr. f. d. gesamte Neurol. u. 
Psychiatrie.) 


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108 Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 

Diskussion. — Stransky -Wien findet in den demonstrierten 
Bildern besonders interessant die anscheinende Diskontinuität der Faser - 
Veränderungen; man könnte an ähnliche Befunde Marburgs bei der sog. 
akuten multiplen Sklerose denken. Am peripheren Nerven sind solche 
diskontinuierliche Erkrankungen gerade auf toxischer Basis nicht selten, 
sie gestatten bekanntlich Restitution; vielleicht könnte man also daran 
denken, daß die klinischen Remissionen mit derartigen anatomischen 
Reparaturprozessen korrespondieren. 

AlzAeimir-München hält den spongiösen Rindenschwund verursacht 
durch plötzlichen Untergang großer Mengen nervösen Gewebes in mehr 
oder minder umschriebenen Gebieten der Hirnrinde. Er findet sich be¬ 
sonders bei der Z,mauerschen Paralyse, dann, wenn mit einem Schlag 
schwere Rindenausfälle eingetreten waren, weniger, wenn sie erst langsam 
nach verschiedenen Insulten sich ausbildeten, wo man dann meist nur 
einfache Zellausfälle findet. Die Gliawucherung ist eine sekundäre Folge. 
Im Mark findet man reichlich gliogene Körnchenzellen. Man kann sich 
heute kaum eine andere Erklärung machen, wie die, welche Fischer heran- 
zieht. 

Fischer -Prag (Schlußwort) glaubt, daß er den spongiösen Rinden- 
schwund doch als einen selbständigen Prozeß ansehen müsse, eben des¬ 
wegen, weil derselbe nicht nur bei der Paralyse, sondern auch bei Senilen 
vorkommt und überdies auch bei Gehirnen, die sonst außer dem Rinden- 
schwund keine besondere Veränderung zeigten. Nur meint F ., daß es 
möglich ist, daß das hier wirkende hypothetische Toxin in den verschiedenen 
Erkrankungen verschiedener Provenienz sei. 

Stransky- Wien: Rückwirkungen der forensischen 
auf die klinische Psychiatrie. 

Vortr. betont, daß die forensische Psychiatrie nicht bloß angewandte 
Psychiatrie sei, sondern auch ihrerseits rückwirkend der Klinik wichtige 
Erfahrungen und Kenntnisse vermittle; es bezieht sich dies keineswegs 
etwa bloß auf die großen, wichtigen, schwierigen Fälle oder die im engeren 
Sinne „kriminellen“ Störungsformen, sondern es sei gerade das oft un¬ 
scheinbare forensische Alltagmaterial, dessen Betrachtung nicht selten 
interessante, auch der Klinik zugute kommende Ergebnisse zu liefern 
scheine. Vortr. betrachtet überhaupt gründliche forensische Erfahrung 
als eine durchaus notwendige Ergänzung der klinischen und Anstaltpraxis 
für den Psychiater. 

Vortr. illustriert seine Anschauungen durch den Hinweis auf einige 
konkretere Fragestellungen, die sich ihm ganz besonders in seiner foren¬ 
sischen Praxis ergeben haben. So liefert uns diese interessante Beiträge 
zur Kenntnis der Vielgestaltigkeit des Individualcharakters und scheint 
zu zeigen, daß Persönlichkeitsgeltung, second etat und Verwandtes nähere 
Beziehungen zu haben scheinen zu Erscheinungen, die sich an der Grenze 


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des noch normalen Seelenlebens gar nicht so selten finden. Schon die 
psychologische Erfahrung zeigt, wie — etwa in starken Affekten — nicht 
selten eine Art zweiter, gegenüber der habituellen als mehr minder fremd 
icefühlter und gearteter Reaktionsart temporär mobilisiert wird, die sonst 
latent bleibt; forensisches Material ganz besonders tut uns dar, daß insoweit 
der Alkohol — auch wo er nicht gerade einen eigentlich pathologischen 
Rausch erzeugt — im nämlichen Sinne nicht so ganz selten bahnend wirkt. 
Vortr. glaubt und führt dies näher aus, daß hier vielleicht Brücken sich 
«’hlagen lassen zum Verständnis viel schwererer Bewußtseinsveränderungen, 
<rie jener in Dämmerzuständen. 

Weiter weist Vortr. darauf hin, wie ihm das forensische Material 
auch nicht wenige Belege lieferte für den psychoataktischen Grundzug 
im Wesen der Schizophrenien; gerade das Delinquieren solcher Kranker 
kennzeichnet sich nicht selten durch etwas Plötzliches, Unabgemessenes, 
Unberechenbares, ja Raptusartiges, die Delikte erscheinen daher oft 
unerwartet, unbegreifbar. 

Auf andere Detailfragen einzugehen, insbesondere die simulierten 
' "^tesstürungen betreffend, versagt sich der Vortr. aus zeitlichen Gründen. 

Ausführliche Veröffentlichung wird in Bälde erfolgen. 

Keine Diskussion. 

Kleist- Erlangen: Die klinische Stellung der Mo¬ 
tilitätspsychosen. 

Wer nicke bezeichnet seine Motilitätspsychosen als Krankheiten. Aus 
*ioer eigenen Darstellung geht aber hervor, daß sie nicht Krankheiten 
im Sinne einer nach Merkmalen der Entstehung, des Verlaufs und Aus- 
angs eigenartig bestimmten Krankheitart sind wie z. B. die progressive 
Paralyse. Die von Wer nicke geschilderten Motilitätspsychosen sind viel- 
uehr in Wirklichkeit nur Zustandbilder, die bei den verschiedensten 
fankheitarten Vorkommen. Wernicke spricht selbst von Motilitäts¬ 
psychosen hebephrenischer Ätiologie, von Motilitätspsychosen auf para¬ 
lytischer, epileptischer, hysterischer Grundlage. 

Es fragt sich aber, ob wir jeden einzelnen Fall psychischer Er¬ 
krankung , der unter dem Bilde einer der Wernickeschen Motilitätspsychosen 
wläuft, einer der bisher bekannten Krankheitarten einordnen können, 
'ach Abzug derjenigen Fälle, die der Katatonie (katatonische Form der 
Dementia praecox Kraepelins), der Paralyse, der Hysterie, der Epilepsie, 
ien toxischen und infektiösen Psychosen angehören, bleibt noch ein be¬ 
achtlicher Rest übrig, und zwar sind das gerade besonders charakte- 
’irtische „Motilitätspsychosen“: z. B. die heilbaren menstruellen und 
Puerperalen hyperkinetischen Motilitätspsychosen. Wer ein manisch- 
kpwssives Irresein in der erweiterten Fassung von Dreyfus, Specht, 
WfoiaRR* anerkennt, vermag auch diesem Rest der Motilitätspsychosen 


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seinen Platz anzuweisen. Die betr. Fälle können nicht nur, sondern 
müssen dann dem manisch-depressiven Irresein eingereiht werden. Denn 
diese Restfälle teilen mit den manisch-depressiven Erkrankungen die 
endogene Grundlage; der einzelne Krankheitanfall entsteht autochthon 
und geht in Heilung aus, ebenso wie es wenigstens für die Mehrzahl der 
manisch-depressiven Psychosen angegeben wird. Häufig wiederholen 
sich diese Motilitätspsychosen, z. T. in periodischer Weise — alles wie beim 
manisch-depressiven Irresein. 

Den zirkulären Fällen des manisch-depressiven Irreseins würde 
Wernickes zyklische (hyperkinetisch-akinetische) Motilitätspsychose ent¬ 
sprechen. Vor allem sprechen aber folgende Gründe für die Zugehörigkeit 
jenes Restes von Motilitätspsychosen zum manisch-depressiven Irresein: 
nicht selten machen dieselben Menschen, die eine Motilitätspsychose über¬ 
stehen, zu anderen Zeiten ihres Lebens eine echte Manie oder Melancholie 
durch; die Motilitätspsychose selbst wird öfters eingeleitet oder abgeschlossen 
durch einen reinen manischen oder melancholischen Symptomenkomplex; 
während der Dauer der Motilitätspsychosen selbst finden sich öfter neben 
den spezifisch motorischen Symptomen manische oder depressive Einzel- 
Symptome und Syndrome; mit Hilfe der manisch-depressiven Misch - 
zustande endlich dürfte es in jedem Fall gelingen, die betr. Motilitäts¬ 
psychose für das manisch-depressive Irresein zu gewinnen. 

Die Frage nach der klinischen Stellung der Motilitätspsychosen wäre 
damit gelöst. Der Vortr. kann jedoch in dieser Lösung nur eine Schein¬ 
lösung sehen, da das erweiterte manisch-depressive Irresein selbst nicht 
als eine der progressiven Paralyse vergleichbare, nach Merkmalen der 
Entstehung, des Verlaufs und Ausgangs bestimmte Krankheitart aner¬ 
kannt werden kann. 

Es zeigt sich bei einer kritischen Betrachtung des erweiterten ma¬ 
nisch-depressiven Irreseins, die der Vortr. im Anschluß an die Streitfrage 
der akuten Paranoia angestellt hat (Zeitschr. f. d. ges. Neurologie u. 
Psychiatrie V 3), daß die dem erweiterten manisch-depressiven Irresein 
zugerechneten Erkrankungen weniger in Merkmalen der Entstehung, des 
Ablaufs und Ausgangs übereinstimmen, als auf Grund ihrer symptomato- 
logischen Übereinstimmung in den sog. manisch-depressiven Symptomen 
zusammengefaßt werden. Die symptomatologische Übereinstimmung 
zweier Krankheitfälle beweist aber nichts für die Wesensgleichheit der 
ihnen zugrunde liegenden Krankheitarten. 

Die klinische Stellung der dem manisch-depressiven Irresein zu- 
gerechneten Erkrankungen bedarf nicht weniger noch der Klärung als die 
der Motilitätspsychosen. 

Der Vortr. verfügt über etwa 50 Motilitätspsychosen, die sicher nicht 
der Katatonie (Dementia praecox), der Hysterie, Epilepsie u. a. un¬ 
bestrittenen Krankheitarten angehören. Auch die im Puerperium und in 
der Laktation entstandenen Erkrankungen sind, da toxische Faktoren 


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möglicherweise bei ihnen eine Rolle spielen, außer Betracht gelassen. 
Alle diese Psychosen entstanden weder aus exogenen Ursachen, noch als 
Reaktionen auf tiefbewegende seelische Erlebnisse. Sie gingen sämtlich 
in Heilung aus, die bisher anhielt. Diese Motilitätspsychosen sind daher 
endogene Psychosen, Erscheinungen einer abnormen, in autochthonen 
Schwankungen sich äußernden Konstitution auf einem Teilgebiet der 
psychischen Funktionen, eben in der psychomotorischen Sphäre. 

Nach ihrem Symptomenbilde und der Verlaufsweise der einzelnen 
Erkrankung lassen sich diese Fälle in 4 Gruppen teilen: 

t. Rekurrierende h y p e r k i n e t i s c h e Motilitäts¬ 
psychosen (fast die Hälfte der Fälle): Erkrankungen, die aus meh¬ 
reren, rasch aufeinanderfolgenden psychomotorischen Erregungszuständen 
bestehen; bei Frauen fallen die einzelnen Schübe gewöhnlich mit der Men¬ 
struation zusammen. 

2. Protrahierte psychomotorische Erregun- 
ge n: Länger dauernde kontinuierliche, nicht in eine Serie von einzelnen 
Anfällen gegliederte Erkrankungen. 

3. Zyklische Motilitätspsychosen: Auf einen kürze¬ 
ren Erregungszustand folgt eine längere akinetische Krankheitphase. 

4. Akinetische Motilitätspsychosen: Meist lang¬ 
dauernde psychomotorische Stuporzustände. 

Bei mehr als einem Drittel der Fälle treten die psychomotorischen 
Schwankungen zu wiederholten Malen auf — dabei in erdrückender Über¬ 
zahl in derselben Form. Die rekurrierenden Erregungszustände stehen 
weitaus an erster Stelle, sowohl hinsichtlich der Zahl der wiederholt Er¬ 
krankten, als in bezug auf die Zahl der Krankheitanfälle beim einzelnen 
Kranken. Diese Tatsachen zeigen besonders deutlich, daß es sich bei den 
an Motilitätspsychosen psychisch Erkrankenden um eigenartige abnorme 
Veranlagungen handelt, sowohl hinsichtlich der Örtlichkeit (psycho¬ 
motorische Sphäre) wie hinsichtlich der Art der abnormen Disposition. 

Ob man die psychomotorisch-labilen Konstitutionen als eine be¬ 
sondere Art abnormer seelischer Konstitutionen anerkennen soll, hängt 
aber wesentlich davon ab, ob die betr. Kranken ausschließlich oder doch 
in überwiegendem Maße psychomotorische Symptome bieten, oder ob 
noch andere Symptome auftreten und die Eigenart des Krankheitbildes 
verwischen. Es wird ohne weiteres zugegeben, daß jede Motilitätspsychose 
auch nichtmotorische Symptome enthält, wodurch aber das eigenartige 
psychomotorische Gepräge der Fälle nicht verwischt wird. 

Beschränkt man sich auf die besonders wichtige Frage nach dem 
Vorkommen manischer und melancholischer Symptome bei den Motilitäts¬ 
psychosen, so ergibt sich, daß */« der Fälle vor oder nach der Motilitäts¬ 
psychose eine Manie oder Melancholie durchgemacht hat, daß bei */# der 
Kranken die Motilitätspsychose selbst durch ein manisches oder melancho¬ 
lisches Stadium eingeleitet oder abgeschlossen wurde. Nur 3 Kranke 


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dagegen boten wahrend der Motilitätspsychose selbst neben den spezifisch- 
motorischen Symptomen noch rein manische bzw. melancholische Symp- 
tomenkomplexe. Am größten ist die Selbständigkeit gegenüber den 
manisch-depressiven Symptomenkomplexen bei den rekurrierenden Er¬ 
regungszuständen, am geringsten bei den protrahierten Erregungen. Die 
Tatsache, daß in einer Anzahl von Fällen psychomotorische und manische 
bzw. melancholische Symptomenkomplexe Vorkommen, weist darauf hin, 
daß bei diesen Menschen nicht ausschließlich die psychomotorische Sphäre 
abnorm veranlagt ist, sondern noch andere Funktionenkomplexe (der 
manische, der melancholische Komplex) autochthon-labil sind. Diese 
Verbindung mehrerer Konstitutionsanomalien bei einem und demselben 
Menschen ist nur ein Beispiel für die bekannte Tatsache, daß konstitutio¬ 
nell Abnorme häufig nicht nur auf einem Gebiet, sondern gleichzeitig in 
mehreren Richtungen abnorm veranlagt sind. 

Der Vortr. kommt zu folgendem Ergebnis: Die Aufstellung einer 
besonderen Gruppe der auf psychomotorischem 
Gebiet autochthon-labil Veranlagten erscheint be¬ 
gründet. Die betr. Krankheitfälle umfassen den Rest der Motilitätspsycho¬ 
sen Wernickes, der nach Abzug der katatonisch Präcocen, der psychomoto¬ 
rischen Erregungs- und Hemmungszustände im Verlaufe der Paralyse, der 
Epilepsie u. a. übrig bleibt. Der Vortr. empfiehlt den als Ausdruck der 
gekennzeichneten abnormen Veranlagung auftretenden Psychosen den 
Namen Motilitätspsychosen vorzubehalten, die Bezeichnung Katatonie 
nur für die unter motorischen Symptomen verlaufende Form der Früh¬ 
verblödung zu gebrauchen und bei anderen psychomotorisch gefärbten 
* Krankheitbildern nicht — wie Wernicke tat — z. B. von einer Motilitäts¬ 
psychose auf paralytischer Basis, sondern z. B. von einem psychomoto¬ 
rischem Erregungszustände im Verlaufe einer Paralyse zu sprechen. 

Diskussion. — Gaupp -Tübingen weist zunächst darauf hin, 
daß die Mehrzahl der Motilitätspsychosen bei Wernicke wohl zweifellos 
katatonische Zustände umfaßte und nur eine kleine Gruppe zum manisch- 
depressiven Irresein zu rechnen war, wie er aus eigener Erinnerung weiß. 
Hierin unterscheidet sich also die heutige Auffassung Kleists in bemer¬ 
kenswerter Weise von Wernicke s Anschauungen. Gaupp betont ferner, 
daß eben die von Kleist selbst zugegebene Tatsache, daß nicht selten 
Manien in „Hyperkinese“ übergehen oder aus ihr mit dem Nachlaß der 
Krankheit hervorgehen (ebenso umgekehrt bei Depression und „Akinese“) 
gegen die Selbständigkeit einer Krankheit „Motilitätspsychose“ im Sinne 
Kleists spreche. Vom klinischen Standpunkt ist die Annahme, daß eine 
Manie mit zunehmender Erregung zur Hyperkinese werde, abzulehnen, 
so anerkennenswert auch die exakte Analyse des jeweiligen Zustand¬ 
bildes sei. 


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Jahrmärker -Marburg: Die bearbeiteten Fälle entbehren der Beweis¬ 
kraft aus einem Grunde, welchen der Herr Vortr. selbst angeführt hat: 
es war nicht möglich, die Konstitution der Kranken in genügender Weise 
klarzustellen; primäre und sekundäre Krankheitbilder können nicht aus-' 
reichend unterschieden werden. Bedeutsam erscheint dies insbesondere 
wegen der zweifellosen Zugehörigkeit mancher solcher Fälle zur Schizo¬ 
phrenie, bei welcher Genesung sehr oft zu Unrecht angenommen wird. 
Die Aufstellung einer selbständigen Krankheit auf Grund der bearbeiteten 
Fälle dürfte sich nicht rechtfertigen. 

.SVransAry-Wien möchte sich den Bemerkungen Gaupps und Jahr- 
marken anschließen. Auch er möchte glauben, daß sehr Vieles von den 
Fällen Kleists Dementia praecox ist; viele solcher Fälle dürften doch end¬ 
lich verblöden. Str. kann auch nicht zustimmen, wenn Kleist . wie er 
wenigstens verstanden zu haben glaubt, Ideenflucht als manisches oder 
Verstimmungen als melancholisches Zeichen ansieht. Auch hebephre- 
nischer Wortsalat enthält ideenflüchtige Elemente, und depressive Ver¬ 
stimmung ist anscheinend überhaupt eine verbreitete Reaktionsart der 
Psyche auf Schädlichkeiten, z. B. im Beginn von Körperkrankheiten, 
jrewiß also noch kein manisch-depressives Symptom. Str. warnt davor, 
die großen synthetischen KrankheitbegrifTe, die wir Kraepelin verdanken, 
lllzu vorschnell nach symptomatologischen Begriffen zu zersplittern. 

Schluß derl. S i t z u n g 4 Uhrnachmittags. 

2. Sitzungstag: Mittwoch, den 7. Juni 19 11. 

Zu Beginn der Sitzung teilt der Vorsitzende FocAre-Eglfing mit, 
daß die nächstjährige Versammlung Anfang Mai in Regensburg 
'tattflnden und mit ihr ein Besuch der neuen Anstalt in Wöllershof 
verbunden werden soll. 

Als Referat für die nächstjährige Versammlung wird vom Vor¬ 
sitzenden vorgeschlagen: Psychiatrische Jugendfürsorge; 
Referenten die Herren Gudden und Isserlin -München; als Referat für die 
1913 in München tagende Versammlung: Die paranoiden Er¬ 
krankungen; Referenten die Herren Stransky -Wien und von Hösslin- 
Effing. 

Bei der darauf folgenden Vorstand wähl wird die bisherige 
Vorstandschaft durch Akklamation wiedergewählt. 

Der Mitgliederbeitrag für das kommende Vereinsjahr 
1912 wird wieder auf drei Mark festgesetzt. 


Kraepelin : Kranken Vorstellungen. 

Kraepelin stellt zunächst einen Fall von Alzheimers eher Krankheit 
vor, eine Frau von 60 Jahren, die seit 12 bis 13 Jahren allmählich in 
einen Zustand tiefster Verblödung mit leichten spastischen Erscheinungen 
an Armen und Beinen und einem eigentümlichen Zerfall der Sprache 

ZaiUehrlft für Psychiatrie. LXIX. 1. 8 


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Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 


geraten war. Die Äußerungen der ziemlich redseligen Kranken stellten 
ein unverständliches Gemisch von einzelnen wirklichen Worten mit sinn¬ 
losen, perseverierenden, logoklonischen und echolalischen Silben dar. 
Zugleich konnte das deutlich atrophische Gehirn eines ganz ähnlichen 
Kranken gezeigt werden, der zufällig am Tage vorher an einer Lungen¬ 
entzündung gestorben war. Es war der erste Fall, in dem schon bei Leb¬ 
zeiten die Diagnose der Alzheimerschen Krankheit gestellt worden war: 
die sofort vorgenommene mikroskopische Untersuchung ergab den kenn¬ 
zeichnenden Befund. 

Weiterhin wurde ein 30jähriges Mädchen gezeigt, das seit 4 Jahren, 
anfangs unter deliranten Erscheinungen, mit Gesichts-und Gehörstäuschun¬ 
gen und Verfolgungsideen stark verblödet war und außer ganz leichten, 
jetzt wieder verschwundenen spastischen Erscheinungen in den Beinen 
eine ausgeprägt skandierende Sprache aufwies. Der Fall, der im Beginne 
den Verdacht auf multiple Sklerose erwecken konnte, wurde wegen der 
weitgehenden, euphorischen Verblödung sowie wegen des Fehlens von 
Augenstörungen und Anfällen vorläufig in das noch dunkle Gebiet der 
lobären Sklerose eingereiht. Die Wasserman /»sehe Reaktion war hier wie 
im folgenden Falle negativ. 

Die dritte, 30jährige Kranke litt seit ihrem 16. Jahre an epilepti¬ 
schen Anfällen, die sich in Pausen von einigen Wochen wiederholten. 
Auch sie war ganz tief verblödet, unklar, kaum fähig, die einfachsten 
Fragen aufzufassen und zu beantworten. Dazu kamen eine eigentümlich 
logoklonisch-perseverierende Sprachstörung, Paragraphie und Andeu¬ 
tungen von Parapraxie. Dem zunächst an Epilepsie erinnernden Krank¬ 
heitbilde dürfte deswegen wahrscheinlich doch ein andersartiger aus- 
gebreiteter Krankheitvorgang zugrunde liegen. Zeitweise wurde an die 
Möglichkeit einer tuberösen Sklerose gedacht, doch scheint das Alter bei 
Beginn der Erkrankung dagegen zu sprechen. 

Der letzte Kranke war ein jugendlicher Paralytiker, der schon seit 
den ersten Lebensjahren eine erhebliche geistige Schwäche gezeigt hatte, 
aber erst seit einigen Jahren die kennzeichnenden Störungen der Paralyse 
darbot. Er war seit 1 Y> Jahren, anfangs unregelmäßig, im letzten \ > Jahre 
ganz planmäßig mit Einspritzungen von nukleinsaurem Natron behandelt 
worden. Es konnte eine deutliche psychische Besserung, Abnahme der 
zeitweise sehr häufigen Anfälle und gute körperliche Erholung festgestellt 
werden, wenn auch deren Zusammenhang mit der Behandlung einstweilen 
nicht behauptet werden kann. 

An der Diskussion beteiligen sich die Herren Fischer-Pv&g, 
•Specfa-Erlangen, 2?ccard-Frankental, Alzheimer-München, Stransky- Wien. 

In Anbetracht der vorgerückten Zeit werden die Vorträge der Herren 
FViMser-Stuttgart, Jakob -München: „D ie feinere Histologie 
der sekundären Degeneration“, und .dlzAewner-Münclien: 
„Beiträge zur Anatomie der Idiotie“ zurückgezogen. 


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Der Vortrag Göring- Merzig und /Vaa«-München: „Erhebungen 
über Paralytikerfamilien“ fällt aus, da Herr Görmg-Merzig 
an der Teilnahme an der Versammlung verhindert ist. 

E« folgt dann 

eon //öss/m-Eglfing: Klinischer und anatomischer 
Beitrag zur Lehre von der Westphal-Strümpelhchen Pseudo - 
sklerose. 

Nach einem kurzen Überblick über die Symptomatologie der Pseudo- 
sklerose und die Differentialdiagnose namentlich gegenüber der multiplen 
Sklerose berichtet Vortr. eingehend über einen Fall eigener Beobachtung. 
Die intra vitam gestellte Diagnose einer multiplen Sklerose wurde durch 
die Sektion nicht bestätigt, vielmehr handelte es sich tatsächlich nach 
den klinischen Erscheinungen, insbesondere den psychischen Symptomen, 
die der Kranke darbot, um einen Fall von Pseudosklerose im Sinne der 
Westphal-Strümpelfcchen Krankheit. Die histologische Untersuchung 
(Prof. Alzheimer) ergab einen bisher noch nirgends beschriebenen, eigen¬ 
artigen Befund. Die nervösen Elemente des Gehirns und Rückenmarkes 
waren nur geringfügig verändert, dagegen zeigte die Glia diffuse, außer¬ 
ordentlich schwere Veränderungen, besonders hochgradig im Corpus 
striatum, dem Thalamus opticus, der subthalamischen Region, in den 
Kernen der Brücke und Medulla, sowie im Corpus dentatum des Klein¬ 
hirns. Die Art und Lokalisation der pathologischen Erscheinungen 
machten die Annahme wahrscheinlich, daß es sich bei der Pseudosklerose 
um ein in seiner Anlage pathologisches Zentralnervensystem handelt, 
(las später einem fortschreitenden Degenerationsprozeß verfallen ist. 

Keine Diskussion. 

Rüdin -München: „Zur Frage der gleichartigen Ver¬ 
erbung bei Dementia praecox“ (mit Projektionen). 

Der Vortrag erscheint im Zentralblatt für die gesamte Neurologie 
und Psychiatrie. 

Keine Diskussion. 

A. Kna uer -München: „Psychologische U n t e rsuchun - 
Zen über den Meskalin rausc h.“ 

Die mexikanischen Indianer bereiten aus einer Kaktuspflanze, 
Anhalonium-Lewinii, eine Droge, Pellote oder Meskal genannt, deren 
Genuß einen eigenartigen Rauschzustand mit Sinnestäuschungen, vor¬ 
nehmlich Visionen, erzeugt. 

Englische Forscher (Prentiss und Morgan, Weir Mitchell, Eshner u. a.) 
haben schon in den 90er Jahren mit dem Produkte Versuche angcstellt. 
Heffter hat später nachgewiesen, daß die Sinnestäuschungen durch ein 

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Alkaloid „Meskalin“ hervorgerufen werden. Der Körper ist als schwefel¬ 
saure Verbindung in warmem Wasser löslich und läßt sich subkutan 
injizieren. 

Knauer und Maloney haben mit diesem Salze an 9 Ärzten eine Reihe 
von Versuchen angestellt und den erzeugten Rauschzustand mit Methoden 
der experimentellen Psychologie studiert. Injiziert wurden Dosen von 
0,15 bis 0,2. Das äußere Bild der Intoxikation ist weit mehr, wie z. B. 
der Alkoholrausch, sehr vielgestaltig, wechselt nicht nur von Person zu 
Person, sondern fällt auch bei der gleichen Person zu verschiedenen Zeiten 
oft ganz anders aus; die ersten Erscheinungen pflegen sich etwa 3 / 4 Stunden 
nach der Injektion einzustellen. Den Beginn bildet meist eine bald vor¬ 
übergehende leichte Nausea. Nun folgt in der Regel ein hypomanisches 
Stadium mit Rede und Bewegungsdrang. Die Stimmung ist meist gehoben. 
Einzelne Personen geraten sogar in eine eigentümliche clownartige, alberne, 
läppische Lustigkeit. Andere zeigen an Stelle der heiteren Stimmung 
eine schwer zu meisternde Gereiztheit, der sich von Zeit zu Zeit eine ge¬ 
wisse ängstliche Unruhe hinzugesellt, oder die sich auch in einen für den 
Untersucher unangenehmen Zustand von Negativismus verwandeln kann. 
Im allgemeinen aber bleiben die Versuchspersonen besonnen und fügsam. 
Bald stellen sie selbst mit Überraschung fest, daß sie alle Farben und 
Konturen plötzlich viel leuchtender und schärfer sehen, wie im gewöhn¬ 
lichen Leben. Diesem Stadium folgt in der Regel eine eigentümliche, 
allmählich zunehmende Einengung des Bewußtseins, ohne daß dessen 
Klarheit entsprechend leidet; die Stimmung wird zugleich weicher und 
schlaffer. Der Berauschte gibt seine expansiven Neigungen auf, wird 
willenlos, muß zu allem angetrieben werden. Jetzt stellen sich bei den 
meisten Versuchspersonen im Dunkeln kaleidoskopartig wechselnde Gesichts - 
bilder ein, Linien, Teppichmuster und Blumenmuster, Ornamente, 
Schnitzereien, Windmühlen, Gewölbe und Kuppelbauten, panorama- 
artige Landschaften, menschliche und tierische Gestalten, oft von unnatür¬ 
lichem puppenartigen Aussehen, schließlich auch ganze Szenen und ver¬ 
wickelte zusammenhängende Handlungen. Die Bilder sind zum größten 
Teil plastisch, scharf konturiert, vielfach sehr lebhaft koloriert. Sie sind 
alle in ein inneres Gesichtsfeld von konstanter Ausdehnung eingepaßt, 
können aber durch Verrückung von vorn nach hinten und umgekehrt 
an Übersichtlichkeit gewinnen oder vergrößert werden. Die Bilder gehen 
ohne Lücken fließend ineinander über. Die einfacheren Muster wechseln 
meist sehr rasch untereinander ab. Die Bilder hängen alle durch gewisse 
äußere Ähnlichkeiten in Form und Farbe zusammen. Änderungen in den 
stereoskopischen Merkmalen vollziehen sich besonders oft durch immer 
rascher werdende Drehbewegungen. Der Drehpunkt scheint mit der 
Erhöhung der Geschwindigkeit immer weiter zurückzuweichen, so daß 
schließlich der Eindruck eines rotierenden Trichters entsteht, in dem 
sich nun weitere Wandlungen vollziehen, Grotten, Gewölbe, Panoramen 


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u. a. formiert werden. Verhältnismäßig selten sind die Bilder auch inner¬ 
lich untereinander verwandt, so daß man von einer inneren Assoziation 
als Bindeglied sprechen kann. Manchmal ändern sich die Bilder in zwei 
und mehr Richtungen. Das Ergebnis ist dann eine ganz wirre Kontami¬ 
nation von Elementen verschiedenartiger Bilder. Vielfach bewegen sich 
die Bilder auch ruckweise vor dem Beschauer vorbei. Damit mag das 
häufige Auftreten von Treppenstufen, Reihen hintereinander marschie¬ 
render Soldaten und Ähnliches Zusammenhängen. Sehr merkwürdige 
Beziehungen zeigen die Bilder zu den peripheren Netzhautnachbildern. 
Sie sind sicher von diesen verschieden. Denn während die einfachen Nach¬ 
bilder bei Augenbewegungen mitwandern, behalten diese Bilder während 
der Bewegung ihren imaginären Ort im Raume meist bei, werden also 
zentralwärts vom beweglichen peripheren Sehapparat erzeugt. Die Bilder 
konkurrieren bald mit den gewöhnlichen Nachbildern um das Gesichtsfeld, 
bald vereinigen sie sich mit diesen zu höchst eigenartigen Doppelgebilden, 
die durch seitliche Blickbewegungen wieder axiseinandergerissen werden 
können. Weniger oft treten die Visionen als Illusionen an realen Gesichts- 
eindrücken auf. Das ist auch eigentlich der einzige Fall, wo die Kritik 
zu schwinden pflegt, die während des visionären Spieles im übrigen nie 
verloren geht. Trotz ihrer sinnlichen Kraft imponieren die Gesichte dem 
Beschauer stets als so subjektiv, daß er im Zweifel bleibt, ob es sich hier 
um wirkliche Halluzinationen oder nur um sehr sinnliche Vorstellungen 
handelt. Es ist aber hervorzuheben, daß neben diesen Bilderreihen der 
eigentliche Gedankengang ungestört weiterläuft, daß sogar zugleich mit 
den Bildern echte visuelle Vorstellungen von der Deutlichkeit, wie man 
sie alltäglich hat, reproduziert werden können. Hingegen läßt sich die 
Richtung des Bilderwandels willkürlich nur sehr schwer beeinflussen; 
gelingt es, so dauert es oft 5 bis 10 Minuten, bis ein Erfolg der Willens¬ 
anstrengungen bemerkbar wird. Auch ist der Inhalt der Bilder so phan¬ 
tastisch und hat so wenig Beziehungen zu dem aktuellen Bewußtseinsinhalt 
des Berauschten, daß ein jeder sich wundert, wie fremdartig und fern- 
liegend das Gesehene ist. Auffallend war, daß bei allen Versuchspersonen, 
auch bei sinnlich veranlagten, sexuelle Motive so gut wie nie auftraten. 
•Vm Marbe sehen Farbenkreisel konnte festgestellt werden, daß den visio¬ 
nären Erlebnissen eine ausgesprochene Überempfindlichkeit für Licht und 
Farben parallel geht. 

Gehörstäuschungen kamen nur ganz verinzelt als Illusionen zur 
Beobachtung, dagegen hatten einige Personen massenhaft haptische 
Täuschungen, fühlten auf einmal ganz abenteuerliche Verwandlungen und 
Veränderungen in den Ausmessungen des eigenen Körpers. Auch diese 
haptischen Bilder änderten sich bei Bewegung der betreffenden Körper¬ 
teile vielfach nicht, müssen also ebenfalls zentrale Vorgänge sein. Die 
Täuschungen des Lage- und Bewegungsinnes gingen auch interessante 
Komplikationen mit den visuellen Bildern ein; möglicherweise sind über- 


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haupt alle stereoskopischen Bilder als solche Mischprodukte von optischen 
und taktilen Sinneserregungen aufzufassen. Das Verhalten der Reiz¬ 
wellen für die taktilen Bewegungsempfindungen wurde durch Gewicht¬ 
heben geprüft, konnte aber aus methodischen Gründen nicht genau genug 
ermittelt werden. Jedenfalls fand sich auch hier mindessens keine Er¬ 
höhung der Schwellen. Endlich kamen auch leichte Geschmacks- und 
Geruchstäuschungen vor; eine ziemlich regelmäßige Erscheinung waren 
Anfälle von Gänsehaut- und Schüttelfrost ohne Änderung der Körper¬ 
temperatur, was wohl auf Reizung des Temperatursinnes zurückzuführen ist. 

Nächst den Sinnestäuschungen beansprucht ein besonderes Interesse 
die fast bei allen Personen hervorgetretene Veränderung des Zeitsinnes. 
Genauere Untersuchungen nach den Methoden von Kraepelin und Eijner 
ergaben, daß die Zeit im Meskalinrausch teilweise ganz enorm überschätzt 
wird; es entspricht dies auch dem persönlichen Empfinden der Berauschten. 
Paralleluntersuchungen mit 60 und 120 g Alkohol ergaben keine oder nur 
Andeutung einer solchen Störung. Die Täuschung war ganz unabhängig 
von den Gesichtstäuschungen, trat auch auf bei Personen, die keine der¬ 
artigen Erlebnisse hatten, und war manchmal gering bei Personen, die 
lebhaft halluzinierten. 

Die Auffassungfähigkeit für optische Eindrücke war während der 
Intoxikation bei mehreren Personen überraschend gut, bei anderen etwas 
herabgesetzt. Die Merkfähigkeit für zeitlich aneinandergeknüpfte Reihen 
von Erlebnissen war bei allen Personen mehr oder weniger schwer geschä¬ 
digt. Die einfachen Reaktionszeiten waren nicht verändert, die Wahl¬ 
reaktion meist verlängert. Beim fortlaufenden Addieren wurde meist 
weniger geleistet: In einigen Fällen besserten sich aber auch die Leistun¬ 
gen. Der Assoziationstypus blieb während des Rausches im wesentlichen 
unverändert. 

Der eigentliche Rausch dauerte gewöhnlich 3 bis 4 Stunden. Reiz¬ 
erscheinungen am optischen Sinnesapparat machten sich aber oft nach 
24 Stunden noch bemerkbar. Ferner folgte dem eigentlichen Rausch¬ 
zustand gewöhnlich wieder ein stundenlanges hypomanisches Nachstadium 
mit Betätigungsdrang und Schlaflosigkeit. 

1> i s k u s s i o n. — A'/cist-Erlangen frägt, ob die Versuchspersonen 
im Zustande der Meskalinvergiftung auf Vestibularisfunktionen unter¬ 
sucht wurden. Viele Erscheinungen, die Kn. beschrieben hat, erinnern 
außerordentlich an Symptome, die wahrscheinlich mit zentralen Vesti¬ 
bularisstörungen Zusammenhängen. 

A Mers-Munchen bemerkt gegenüber Kleist, daß er eine so komplizierte 
Störung des Körperbewußtseins, wie sie Knauer beschreibt, doch nicht 
auf eine Störung der Tonusfunktion beziehen möchte, wenn auch in den 
elementareren Funktionen Analogien nicht zu verkennen sind. 

Brodmann -Tübingen hat bei 2 Fällen von Korsakoivscher Psychose 


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Deutscher Verein für Psychiatrie. 


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im Gegensatz zu der hochgradigen Merkfähigkeitstörung für Silbenreihen 
und Zahlen ein relativ gutes Erhaltensein des Zeitsinnes für kürzere Zeit* 
strecken, auch im Höhestadium der Krankheit, festgestellt. 

Die auf der Tagesordnung stehenden Vorträge Eifers-München: 
„Beitrag zur Chemie des senilen Gehirns“, Hirt- 
München: „D ie klinische Bedeutung der Deperso- 
nalisatio n“, und Rosenthal -München: „Zur Histologie der 
H i r n s c h \v e 11 u n g“ mußten in Anbetracht der vorgerückten Zeit 
ausfallen. 

Sodann spricht der Vorsitzende rocAre-Eglfing den Vortragenden, 
sowie Herrn Professor Kraepelin für die bewiesene Gastfreundschaft den 
Dank des Vereins aus und schließt hierauf die Versammlung. 

ffrand/-Eglfing. 


Deutscher Verein für Psychiatrie. 

Sitzung der Kommission für Idiotenforschung und -fürsorge am 
5. Oktober 1911 in Frankfurt am Main. 

Anwesend Professor Dr. Tuczek -Marburg als Vorsitzender, Direktor 
Dr. Jf/uge-Potsdam, Professor Dr. Vogt -Wiesbaden. 

Erörtert wurden Fragen allgemeiner und prinzipieller Natur, insoweit 
«ie die durch den Deutschen Verein für Psychiatrie vertretenen Bestre¬ 
bungen bezüglich der Fürsorge für die Schwachsinnigen und Epileptiker, 
insbesondere kindliche und jugendliche Individuen, betreffen. Ferner 
wurde über eine allgemeine Stellungnahme zu einzelnen Preßerzeugnissen 
aus pädagogischen Kreisen beraten und über Versammlungen und Kon¬ 
gresse der vorwiegend nichtärztlichen Vereinigungen berichtet. Ein 
öffentliches Vorgehen gegen einseitig pädagogische Veröffentlichungen 
und Maßnahmen wurde zurzeit als nicht erforderlich erachtet. Vogt 
referierte speziell noch über die gegenwärtig vorhandenen und dem¬ 
nächst noch zu erwartenden Anstalten und Einrichtungen für Schwach¬ 
sinnige und Idioten, wobei er besonders auf die größtenteils ganz unzu¬ 
länglichen Institutionen der sogenannten Gärtnerschulen für Schwach¬ 
sinnige hinwies; diese müßten infolge der dort geübten offensichtlich oft 
ganz unsachgemäßen Behandlungsweise als höchst fragwürdige Gründungen 
angesehen werden. Von Interesse erscheint die Zunahme der privaten 
Anstalten für kindliche und jugendliche Schwachsinnige und Geistes¬ 
kranke, die unter ärztlicher und ärztlich-pädagogischer Leitung stehen und 
zum Teil eine gedeihliche Entwicklung versprechen. Uber Fragen aus der 
Fürsorgeerziehung berichtete Kluge, der dabei an seinen Vortrag vor dem 
Allgemeinen Fürsorgeerziehungtage am 30. Juni 1910 in Rostock an- 
knüpfte. Es wurde dabei die Notwendigkeit betont, in psychiatrischen 
Kreisen immer wieder auf das Bedürfnis hinzuweisen, die in Fürsorge- 


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Verbandlangen psychiatrischer Vereine. 


erziehung zu "Verbringenden Kinder und Jugendlichen schon möglichst 
bald und bei irgendwie zweifelhaftem Geisteszustand schon bei der Ein¬ 
leitung des Fürsorgeerziehungs Verfahrens durch einen psychiatrisch durch- 
gebildeten Arzt untersuchen zu lassen, ferner Beobachtungstationen, am 
besten an ärztlich geleiteten Idioten-, Epileptiker- oder Irrenanstalten, 
einzurichten, und für die rechtzeitige Unterbringung der schwachsinnigen, 
neuropathischen, psychopathischen und geisteskranken Zöglinge in die 
ihrem Zustande entsprechenden Krankenanstalten Sorge zu tragen. Ganz 
besonders ist die Begründung besonderer Anstalten für die Grenz- und 
Zwischenzustände im Auge zu behalten, die naturgemäß am besten in 
enger Verbindung mit den ärztlich geleiteten Krankenanstalten für Schwach¬ 
sinnige, Epileptische und Geisteskranke errichtet werden; auch ist bei 
ihnen die ärztliche Leitung oder mindestens ärztliche Oberleitung zu 
fordern. Diese Sonder- oder Zwischenanstalten werden in gewisser Be¬ 
ziehung ein Vorbild für die mit der in Aussicht genommenen Strafgesetz- 
reform zu erwartenden Verwahrungsanstalten für gemindert zurechnung¬ 
fähige Kriminelle abgeben können, so daß für die Psychiatrie hiermit 
ein weiterer Anstoß zur Befassung mit den Fragen der Fürsorgeerziehung 
wie des Idiotenwesens bei den Kindern und Jugendlichen überhaupt 
gegeben ist. Von besonderem Wert erscheinen auch die als immer not¬ 
wendiger angesehenen regelmäßigen psychiatrischen Untersuchungen 
aller in Fürsorgeerziehung befindlichen Zöglinge, zumal die der Anstalt- 
Zöglinge. Diese Untersuchungen werden auch die noch immer sehr unzu¬ 
verlässigen statistischen Feststellungen über die Zahl der abnormen und 
defekten Zöglinge erleichtern, die ihrerseits auch wieder einen Fingerzeig 
für die in besonderenVerwahranstalten unterzubringenden Gemindertzurech - 
nungfähigen abgeben werden. Nach den bisherigen Ermittlungen wird 
sich der bisherige Prozentsatz der in Sonderanstalten zu behandelnden 
Fürsorgezöglinge auf 5 bis 8% stellen; vielleicht dürfte dieser Satz auch 
für die gemindert zurechnungfähigen Kriminellen Geltung haben. Er¬ 
freulich war die zu konstatierende Tatsache, daß die hier entwickelten 
Tendenzen bei den mit der Erziehungsarbeit betrauten Kreisen und bei den 
staatlichen und kommunalen Behörden immer größeren Anklang finden, 
wie z. B. die Provinz Hannover an der Irrenanstalt Göttingen eine Sonder¬ 
anstalt für ältere männliche Zöglinge errichtet, wie eine solche auch an 
der Idiotenanstalt Rastenburg in Ostpreußen entstanden ist, und wie die 
Provinz Brandenburg zu der bereits bestehenden Sonderanstalt für schul¬ 
pflichtige männliche Zöglinge eine zweite für 50 weibliche Fürsorgezöglinge 
an den Potsdamer Anstalten errichtet hat; erfreulich ist auch die Tatsache, 
daß wohl jetzt in jeder Provinz und bei jeder selbständigen Kommune 
sich immer mehr Psychiater finden, die dieser Spezialaufgabe der Für¬ 
sorgeerziehung ihre Hauptarbeit widmen. Mit Genugtuung ist auch zu 
begrüßen, daß im „Allgemeinen Fürsorge-Erziehungs-Tage“. sich eine 
Reihe besonders interessierter Psychiater und Pädagogen zu einem Sonder- 


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Psychiatrischer Verein zu Berlin. 


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Ausschuß zusammengefunden hat, welcher im Sinne der gegebenen Dar¬ 
legungen oder doch in der Richtung derselben den defekten und abnormen 
Zöglingen beizuspringen versucht. Die Klugeschen Ausführungen fanden 
•lie Billigung in der Sitzung: sie wurden auch für geeignet angesehen, die 
Unterlagen für eventuelle Abänderungsvorschläge zum Fürsorgeerziehungs- 
gesetz abzugeben. In dieser Hinsicht sollten sie der Zentralstelle für 
Yolkswohlfahrt als Material unterbreitet werden, wie es inzwischen auch 
geschehen ist. 

Vogt trug sodann noch über die im Frankfurter Neurologischen 
Institut angestellten Forschungen und Experimente über die Funktionen 
der Tymusdrüse vor und wies auf die Wahrscheinlichkeit hin, daß der aus 
der Degeneration dieser Drüse sich ergebende Krankheitzustand, der 
wohl auf eine Vergiftung des Organismus durch Nukleinsäure oder nuklein- 
saure Salze zurückzuführen sei, zu der Herausschälung einer besonderen 
Idiotieform führen könne. 

An diese Ausführungen schloß sich ein Rundgang durch das Neuro¬ 
logische Institut. 

Kluge. 


136. Sitzung des psychiatrischen Vereins zu Berlin 

am 16. Dezember 1911. 

Anwesend: Ascher- Berlin, .Perendes-Bucha. G., Draeck- Bucha.G., M. 

-Charlottenburg, ZsicAe-Buch, Falkenberg-Lichtenberg, FincAA-Nordend, 
J. Fraenkel- Lankwitz, //e&o/d-Wuhlgarten, Hoffmann -Eberswalde, Jeß- 
Eberswalde, Koritkowski -Neubabelsberg, Hans Laehr- Schweizerhof, Lange- 
Lichtenradea.G., Liepmann- Dalldorf, Afarcuse-Lichtenberg, Moeli- Lichten¬ 
berg, 3/ucAa-Franz.-Buchholz, Oliven -Lankwitz, P/asAuda-Lübben, Reich- 
Buch, Richter- Buch, Sander -Dalldorf, .Sander-Lieh tenrade, .ScAayer-D all dor f, 
.Wlnüdf-Lichtenberg, 5rAwtd/-Wuhlgarten, Schmilz -Neuruppin, Seelig- 
üchtenberg, Sklarek- Buch, Spliedt -Waldfrieden, Viedenz -Eberswalde, 
l’ieregge-Lichtenberg, Wagenknechl-Lnch a. G, Waldschmidt -Nikolassee, 
h'amcke -Berlin a. G., Werner- Buch, Zinn -Eberswalde. 

Vorsitzender: Sander- Dalldorf. 

Otto Ju/jusAurger-Steglitz- Berlin: Psychiatrische Tages ¬ 
fragen 1 ). 

Bereits im vorigen Jahre, gelegentlich des Internationalen Kon¬ 
gresses zur Fürsorge für Geisteskranke in Berlin, sprach ich die Notwendig¬ 
keit aus, daß gegen die zahlreichen Angriffe, welche in jüngster Zeit gegen 
die Psychiatrie als Wissenschaft im allgemeinen und einzelne ihrer Ver- 

') Vgl. Juliusburger , Zur sozialen Bedeutung der Psychiatrie. Medi¬ 
zinische Reform, November 1911. 


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Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 


treter im besonderen, gerichtet wurden, eine entschiedene Abwehr er¬ 
griffen werden müßte. Vor allen Dingen aber sollte in Fachkreisen eine 
Klarstellung der in Frage gezogenen Fälle statt finden. Ich richtete da¬ 
mals ein Schreiben an den Vorstand des Deutschen Vereins für Psychiatrie, 
und ich glaube, daß dieses mit den Anstoß dazu gegeben hat, daß der Be¬ 
schluß gefaßt wurde, die Standeskommission zu veranlassen, Vorschläge 
zur Abwehr der Angriffe in der Presse zu bringen. Im Dezember 1910 
erschien auch in der Psychiatrisch-neurologischen Wochenschrift ein 
Aufsatz des Geh. Medizinalrats Dr. Siemens, welcher zum Gegenstand den 
Rechtschutz der Psychiater gegen Angriffe in der Presse hatte. Bedauer¬ 
licherweise ist es nicht zu einer eingehenden Erörterung der Vorschläge 
gekommen, und man hat, soweit ich wenigstens sehen kann, vorläufig, 
von einer nennenswerten praktischen Betätigung Abstand genommen. 
Ich werde des späteren auf den Aufsatz des Herrn Siemens zurückkommen. 
Zunächst muß ich die augenblickliche Lage der Dinge kurz schildern. 

Seit vorigem Jahre sind die Angriffe gegen die Irrenärzte keineswegs 
verstummt; im Gegenteil, ich habe die Überzeugung gewonnen, sie wurden 
lauter und verschärfter. Nun ist es ja gewiß einem jeden von uns aus der 
Geschichte unserer Wissenschaft eine genügend bekannte Tatsache, daß 
immer wieder von Zeit zu Zeit die Psychiatrie zum Gegenstand mehr oder 
weniger heftiger Angriffe gemacht wurde. Ich erinnere an den Aufruf, 
welcher am 9. Juli 1892 in der „Kreuz-Zeitung“ erschien und von nam¬ 
haften Männern der Wissenschaft unterzeichnet war. In jenem Aufrufe 
hieß es, daß auf keinem Gebiete unseres Rechtslebens dem Irrtum, der 
Willkür und der bösen Absicht ein solcher Spielraum gewährt ist, als auf 
dem der Irrsinnserklärung. Diese Tonart des Aufrufs wird auch heute 
wieder angeschlagen. Es ist lehrreich und bietet dem Sozialpsychologen 
reichlichen Stoff zu der Betrachtung, daß früher die „Kreuz-Zeitung“ 
die Führerin im Streite war, während jetzt zu den Hauptrufern gegen 
uns gerade die weit links stehenden Organe gehören. 

Als neu zu bezeichnen ist, daß sich auch ein Bund für Irrenrechts - 
reform und Irrenfürsorge gebildet hat, welcher in einer eigenen Zeitschrift 
die Propaganda gegen die Psychiatrie und die Irrenärzte zusammen - 
fassen will. Diesem Bunde gehören auch Juristen und Arzte an. Man 
soll niemals einen Gegner unterschätzen und ignorieren, und welches Ur¬ 
teil man auch über den Charakter der Zeitschrift dieses Bundes sich bilden 
mag, immerhin wird man es nicht aus dem Auge verlieren dürfen, daß diese 
Zeitschrift unter Laien eine Verbreitung findet und zweifelsohne Schaden 
genug anrichten kann. Der Laie wird umso geneigter sein, unter Umstän¬ 
den den vermeintlichen Belehrungen der Anhänger der Irrenrechtsreform 
Gehör zu schenken, wenn er in den Schriften auch Arzte und Juristen als 
Gegner unserer Wissenschaft vertreten findet. 

Aber auch andere Tageszeitungen und Zeitschriften, welche in unse¬ 
rem öffentlichen Leben eine Bedeutung besitzen, haben Aufsätze gebracht. 


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Psychiatrischer Verein zu Berlin. 


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die geeignet waren, das Vertrauen zu uns zu erschüttern. Eine ganze 
Flut von Artikeln hat sich allmählich gebildet und ein ganzer Chor von 
Widersachern ist auf die Bühne getreten. Nur selten erschien uns ein 
Verteidiger. Ein Berliner Rechtsanwalt schrieb bezeichnenderweise einen 
Aufsatz mit der Überschrift: „Bürgerlicher Tod“. Darin heißt es: 
„Angesichts der mannigfachen Mißgriffe und bedenklichen Freiheit- 
Ixschränkungen, die gerade in der jüngsten Zeit bekannt geworden sind, 
dürfen die Forderungen einer Reform keinen Augenblick verstummen.“ 

Als im September vorigen Jahres die Angelegenheit des Herrn 
Professor Hohenberg spielte, erschien in einer Zeitung eine außerordentlich 
umfangreiche Annonce, an deren Spitze in Fettdruck die Worte prangten: 
„Psychiaterunfug! Der Krug geht so lange zu Wasser, bis er bricht; so 
wollen wir nicht weiter regiert werden!“ 

Eine Reihe von ärztlichen Äußerungen ist gleichfalls abgedruckt, 
welche in Kürze als Gutachten dienen sollen. Ein Arzt meint darin: 
„Es wird Zeit, daß sich das deutsche Volk nach einer Rechtskontrolle gegen 
das Unwesen der fahrlässigen und leichtfertigen psychiatrischen Gut¬ 
achten umtut.“ Betrübenderweise sind in dieser Riesenannonce auch 
Kundgebungen von hervorragenden Vertretern der Naturwissenschaft 
ruthalten, und ich kann nur sagen: es tut mir in der Seele weh, daß ich 
sie in der Gesellschaft seh. 

In einer Berliner Tageszeitung äußerte sich ein Arzt: „Ich bin der 
Ansicht, daß jeder intelligente Mensch mit gesundem Menschenverstand 
und guter Menschenkenntnis eben so gut wie ein Arzt imstande ist, zu 
rutscheiden, ob ein Anderer an Geisteskrankheit leidet oder nicht. Ein 
Laie hat aber vor dein Arzt noch den Vorzug, daß er dieser Frage un¬ 
befangen und uninteressiert gegenübersteht. Der gewöhnliche Arzt ist 
aber dem Irrenarzt vorzuziehen, weil dieser überall Geisteskrankheit 
wittert. Der Irrenarzt ist nach meiner Ansicht der schlechteste Psychiater. 
Werden bei einer Klage Psychiater als Sachverständige zugezogen, so wird 
las Urteil von den Richtern auf dem Gutachten jener aufgebaut. Haben 
Kne richtig geraten, so fällt das Urteil auch meistens richtig aus. Haben 
Me aber unrichtig geraten, so wird auch das Urteil schief ausfallen. Unter 
1 mständen entsteht dann ein modernes Ketzergericht, wobei der An¬ 
geklagte zwar nicht zum körperlichen, aber doch zum geistigen Tode ver¬ 
urteilt wird.Die Psychiater haben die Gewohnheit, die Lehren 

Jer sogenannten Psychiatrie bei ihren Gutachten zu verschweigen; sie 
müssen das notgedrungen, denn diese Lehren scheuen das Licht der Welt.“ 

Große Tagesblätter und kleinere Lokalblätter ergingen sich in 
Angriffen, die mehr oder weniger auf den eben berührten Ton abgestimmt 
waren, ln einem der letzteren heißt es: „Der Fall X. wird das Mißtrauen, 
das mancher teils aus Erfahrung, teils instinktmäßig gegen die Psychiatrie 
in der Praxis hat, verstärken.“ X. selbst wurde Gegenstand sehr ener¬ 
gischer Angriffe. 


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Verj»»»djw|!wi psyohijd frischer Vereine. 


•GUV 


r'i’oxeÖ.. ifi <t«i ich \>ja'\vkikell hin. noch keiiierr Ahsohloß 
■gefunden ii-jl. kaini ich avis nahchegtjijdf'ii Gründen wehr des- itühart?». 
mt( ihti Q'mgeheB, Ich hafte *hs?r fäK berechtigt und terpftfcftieJ, 
Ittir* folgendes :iu bemerken:: 

Ich Mi».. iinihkf. verklagt kuf iSablungGiftes hohen Schadeuercsatz* 
in« v.'mieiv!t.'(?chci'; wi<h-*n‘ech»ji< f -hcr f «tei ehrung ein«.» ' H*rrn ir» *i«r' 
.Äiisialt, >vo ich tedsgifeh dLi Arzt ungestaUt hin, und üveitgus •sckuwht'- 
gegen mich noch &0 : Kluge wegen einer -angeblicher* Betet digung, itiv »vi. 
t« «'gegen den ►»mahnte.» Herr» bei übergehe einer hkbe fcoschuhb?« 

komme« Uissi-n sollen, woem die „-ihwerst«» tfeleiftigonge«. «tnler umJorin 
«ier V-orwiari' der Bestechung/gegen mich erhoben ifcr-cicn sml ich fenr«»* 
hier nur kw/. -die \Vtu, heeurig »bgebeii. daö idr «he mir in den Mund 

|&iah'Uäi?p. Eihc grbÖC' Berliner Tage»,?- 
zßiiqijjg der * T G$äft ««J -ixp 

lmmharH‘% worin » r het&: ,,Dvr ßeffttttfo* 4S dua-er oder jem*.- 

angeblich Geist esbunge mf dr<ui<l von I mvigvn. oder auf Grund oinw 
talffli-hen Diagnose i«V ittenhäiu; lestgehalten Weideti feiiiUiVe. fest trotzdem 
m fnrchtbhn daß luant tottil ftngh>$ ^hr mangef- 

haften Xuslhrideh riildii heimhigen darf, stMderh die»age auJfwrerfeii muß, 
oh t*« rjichl meichhai' h:|. daft du stürfcmr Schute für die angeblich 
C-eMtf&krHjjikni geschütten werden könne, ehe sie hinter den Mauern de? 
Irfciihi)!.-. - ' ci's- hwindon. Wir wollen damit gar nichts gegen die heutig» 
i(r/';ihi>«sj:41'{a gesagt %sb*n»' aber..ein angeblich ftrahW. der sich selbst 
lor geistig «»inrnd lymä eine IwU m ^ finden, die die ärsfliefte EUagruv- 
iiaehpröft und £,wur tia< ii aHen BieMimgen, nicht h* Twmaler Weise. 
Auch Irreiuvrate sind Meiisidi^i uhd »Vifnti dito Irrtum unter- 

würfe»». > i e s i e !.(*? u ?■ o g k r e > « r n » u I* $ r ß <* w.fi h n J i *:-h 
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Kkvltiu.d : \h»d oc ist s« h^Mtibten; Avfft : ' ; 

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••.OriöiraffriiTT' 





Psychiatrischer Verein zu Berlin. 


125 


Da mir diese von Herrn von Hansemann vermeintlich festgestellte 
Tatsache neu erschien, so gestattete ich mir die Anfrage bei dem Verfasser 
der Schrift über den Aberglauben in der Medizin, auf welche statistischen 
Tatsachen er sich stütze. Ich erhielt die Antwort: „Auf irgendeine 
statistische Erklärung habe ich mich in dieser Beziehung überhaupt nicht 
berufen, da eine solche wohl kaum existiert, sondern auf meine persön¬ 
lichen Beobachtungen im Verkehr mit vielen Psychiatern.“ 

Die Stelle aus der Schrift des Herrn von Hansemann, die ich soeben 
-rwahnt habe, wurde mir an Gerichtstelle vorgehalten und außerdem 
ist sie in einer Beilage der Zeitschrift des Bundes für Irrenrechtsreform 
natürlich in Sperrdruck wiedergegeben. Ein Mann der Wissenschaft 
sollte doch röcht vorsichtig sein, wenn er Mitteilungen in gemeinverständ¬ 
licher Darstellung an die breite Öffentlichkeit gibt. Eis ist bedauerlich, 
wenn von der selbstverständlichen Forderung abgewichen wird, nur fest¬ 
stehende Tatsachen einem Leserkreise zu übermitteln, der das, was ihm 
geboten wird, auf Treu und Glauben hinnehmen muß, da er nicht in der 
Lage ist, eine Nachprüfung zu veranstalten. Übrigens scheint mir Herr 
. «I! Hansemann mit seiner pessimistischen Beurteilung des Gesundheit- 
iustandes der Irrenärzte nicht allein zu stehen. Herr Dr. Georg Lomer, 
Oberarzt der Großherzoglich Sächsischen Landesirrenanstalt zu Blanken¬ 
hain in Thüringen, hat 1909 eine Schrift herausgegeben, welche an ihrer 
Stirne die Aufschrift trägt: „Die Wahrheit über die Irrenanstalten.“ 
Im Verlauf der Ausführungen des Herrn Dr. Lomer findet sich nun folgende 
Stelle: „So ist’s am Ende nur zu verständlich, wenn die Gesundheit vieler 
Irrenärzte durch die ständige und hochgespannte Verantwortlichkeit im 
Verein mit den abstoßenden Eindrücken des Berufes, durch die dauernde 
Sorge, es könnte trotz aller Sorgfalt einmal etwas Vorkommen, sichtbar 
leidet. Sie werden nervös, reizbar, hypochondrisch und erfreuen sich am 
Ende nur selten eines längeren Daseins als sorgenfreier Alterspensionär. 
Auch die häufigen, oft nicht sehr feinen An würfe seitens der Öffentlichkeit 
!un das ihre, sie, die ihr Bestes an ihren schweren Beruf setzen, schließlich 
in eine Art unpraktischer Resignation zu versetzen.“ Des weiteren heißt 
■* betreffs des Wartepersonals: „Was hier von den Ärzten gesagt ist, 
las gilt in vielen Punkten auch von dem ihnen unterstellten Personal. 
Da der Pfleger mit dem Kranken in viel unmittelbarere und häufigere 
Berührung kommt, als der Arzt, sind auch die Wirkungen auf sein Nerven¬ 
system entsprechend ungünstiger. Dazu kommt, daß es sich hier meist 
um wenig oder gar nicht gebildete Leute handelt, welche den krank- 
machenden Einflüssen nicht den inneren Widerstand entgegensetzen 
können, wie der Gebildete.“ 

Herr Dr. Lomer hat seine Schrift, welche zweifellos in der besten 
Absicht, unserer Wissenschaft und unserm Stande zu nützen, geschrieben 
wurde, der breitesten Öffentlichkeit gewidmet, wie er selbst sagt. Gerade 
darum aber wäre es wünschenswert gewesen, wenn er sich vorsichtiger 


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Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 


ausgedrückt und nicht so in Bausch und Bogen über den Gesundheit- 
zustand der Irrenärzte sich ausgesprochen hätte. Dadurch wird die Offen t - 
lichkeit keineswegs beruhigt, im Gegenteil, es besteht die Gefahr, daß das 
Vertrauen zu uns noch mehr erschüttert wird. Die Fälle von geistiger 
Erkrankung von Irrenärzten, welche mir bekannt geworden sind, hatten 
eine Ätiologie aufzuweisen, welche überhaupt weit verbreitet und in keinem 
engeren Zusammenhänge mit irgendeiner Berufsbetätigung steht. Freilich 
nehmen wir an der allgemeinen, ich möchte sagen, sozialen Nervosität 
anteil; von dieser aber können wohl nur diejenigen verschont bleiben, 
welche dem Kampf um das Dasein entrückt, in gesicherter Stellung sich 
befinden. Man kann aber nicht behaupten, wie leider vielfach angenommen 
wird, daß wir Irrenärzte, sofern wir angestellt sind, auf der Sonnenseite 
des Lebens sitzen. Der Beruf des Irrenarztes, abgesehen von der wissen¬ 
schaftlichen Betätigung und der reizvollen individuellen Behandlung, ist 
wenig angetan, eine dauernd gehobene und freudige Stimmung zu erzeugen 
und zu halten. Liegt doch die Zukunft nur allzu vieler auch strebsamer 
Ärzte im unsicheren, ja vielfach in einem bis zur Undurchsichtigkeit 
dichten Nebel. Das soll ausgesprochen werden. Aber das ist etwas ganz 
anderes, als die Behauptungen, welche wir in den Ausführungen der Herren 
von Hanseinann und Loiner finden 1 ). 

Nun aber weiter. Wir stoßen vielfach auf die seltsame Betonung, 
daß wir Irrenärzte einen festgeschlossenen Ring zu gegenseitiger Ver¬ 
teidigung und Abwehr der vermeintlich berechtigten Angriffe gegen uns, 
zur Verhütung und Vertuschung aller Ungebühr und sonstiger Schändlich- 
keiten bilden. Mich hat insonderheit in letzter Zeit diese immer wieder¬ 
kehrende Behauptung seltsam berührt. Ich habe leider nicht bemerkt, 
daß ein fester Zusammenschluß unter uns besteht. Es wäre sehr wichtig 
und zweckmäßig für die von uns vertretene gute Sache, wenn eine ver¬ 
ständige und brauchbare Solidarität tatsächlich bestände und amWerke wäre. 

In der „Frankfurter Zeitung“ vom 8. Juli 1911 steht ein längerer 
Aufsatz, welcher die Überschrift trägt: „Mißstände im Irrenwesen“, 
und dessen Verfasser Herr Professor Friedländer. Hohe-Mark bei Frank¬ 
furt a. M., ist. Es steht für mich außer jedem Zweifel, daß Herr Fried- 
länder die lobenswerte und gute Absicht gehabt hat, die Öffentlichkeit 
aufzuklären und zu beruhigen, nachdem in letzter Zeit so viel Angriffe 
gegen das Irrenwesen erfolgt waren. In einem Aufsatze kommt Herr Fried¬ 
länder auch auf einen Berliner Fall zu sprechen und stellt ihn kurz so dar, 
wie er zuerst in alarmierender Weise von den Tageszeitungen gebracht 

*) Das Gleiche gilt von den ähnlichen Bemerkungen Kraepelins 
(die phychiatrischen Aufgaben des Staates, S. 47), die mir erst nach¬ 
träglich zur Kenntnis kamen. Der Indifferentismus vieler Psychiater 
ist gewiß nicht zu übersehen, unterscheidet sich aber in nichts von 
der Gleichgültigkeit vieler Intellektueller gegenüber den großen Fragen 
der Zeit. 


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wurde. Herr Friedländer fährt aber dann mit folgenden Worten fort: 
..Daß dieser Fall eine genaueste Klärung und öffentliche Darstellung 
verlangt, wird niemand, am allerwenigsten der Leiter jener Anstalt, 
leugnen.“ Meiner Meinung nach hätte es doch nahe gelegen, daß Herr 
Friedländer, bevor er seinen Aufsatz schrieb, an den leitenden Arzt der in 
Frage stehenden Anstalt sich wandte, um näheren Aufschluß über den Fall 
zu erlangen, welcher die allgemeine Aufmerksamkeit erregt hatte. Es hätte 
dann nicht eines Appells durch die Zeitungen an den Arzt bedurft, sondern 
die Sache hätte sich sehr einfach und leicht aufklären und erledigen lassen. 

In der Berliner Zeitung „Der Tag“ vom 24. September 1910 hat 
Herr Dr. Hellpach dem Kongreß für Irren-Fürsorge einige Worte gewidmet. 
Darin kommt er, freilich ohne meinen Namen zu nennen, aber in unver¬ 
kennbarer Weise auf mich zu sprechen, indem er schreibt: „Ein in einer 
Anstalt internierter Herr war aus dieser entkommen und hatte sich im 
Auslande Zeugnisse verschafft, die seine Geistesgesundheit dokumentierten. 
Der für seine Internierung verantwortliche Arzt hatte im weiteren Verlauf 
'1er Affäre den etwas unvorsichtigen Ausspruch getan, er verpflichte sich. 
Jen Betreffenden innerhalb 14 Tagen wieder in die Anstalt zurückzubringen.“ 
Auch hier muß ich meine große Verwunderung aussprechen, daß Herr 
Dr. Hellpach es nicht der Mühe für wert gehalten hat, sich, bevor er seinen 
Aufsatz schrieb, an mich zu wenden und mich um Aufschluß über die 
fragliche Angelegenheit zu bitten. Da ich wußte, daß Herr Dr. Hellpach 
«inen Vortrag auf dem Kongreß für Irren-Fürsorge halten würde, schrieb 
ich ihm und bat ihn. zur Sitzung der Ärzte der Privatanstalten sich zu 
bemühen, da ich dort über den fraglichen Fall Aufklärung geben wollte. 
Ich nahm an, Herr Dr. Hellpach würde meiner Einladung folgen und dann 
Gelegenheit nehmen, in der ihm zugänglichen Zeitung die mich betreffende 
Sache richtig zu stellen. Bis heute habe ich auf mein Schreiben von 
Herrn Dr. Hellpach keine Antwort erhalten und will annehmen, daß mein 
Brief verloren gegangen ist, — eine Annahme, die mir allerdings nicht ganz 
Weht fällt. 

Den freundlichen Bemühungen und Empfehlungen der Herren 
Prof. Dr. Lennhaff und Dr. Lilienthal von der „Vossisehen Zeitung“ und 
dem bereitwilligen Entgegenkommen des Chefredakteurs der „Berliner 
Morgenpost“, Herrn Cuno, welcher für unser Irrenwesen ein weit¬ 
gehendes Verständnis besitzt, konnte ich es verdanken, daß ich in diesen 
Zeitungen zu Worte kam, wobei ich bemerke, daß ich von einer persön¬ 
lichen Verteidigung Abstand nahm und bemüht war, lediglich die Sache 
unserer angegriffenen Wissenschaft zu führen. 

Im Vordergründe der Angriffe gegen uns steht die Behauptung, 
daß tatsächlich eine große Gefahr für jeden Mitbürger vorhanden ist, 
widerrechtlich in eine Anstalt untergebracht zu werden. Ich will nicht 
auf die ganze Literatur des näheren eingehen, welche über diesen Gegen¬ 
wand bereits vorhanden ist, sondern mich beschränken, kurz zwei Schriften 
zu besprechen, welche sich mit unserem Gegenstände beschäftigen. 


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In der einen bereits erwähnten Broschüre des Herrn Dr. Lomer 
„Die Wahrheit über die Irrenanstalten“ heißt es: Heute sind die Fälle, 
wo ein „Unschuldiger“ in die Anstalt kommt, recht selten geworden. 
Daß ungerechtfertigte Internierungen aber immer 
noch Vorkommen können, ja auch wirklich Vorkommen. 

kann freilich nicht geleugnet werden. Auch ist es leider Tatsache, 

daß zuweilen von verbrecherischen Angehörigen der Versuch gemacht 
wird, ein Familienglied als „geisteskrank“ zu denunzieren und das Ver¬ 
trauen des untersuchenden Arztes durch falsche Angaben zu täuschen. 
Man wünscht den Ehemann, Bruder usw. in der sicheren Bewahrung der 
Anstalt zu wissen, um sich ungestört diesen oder jenen Lebensvorteil zu 
verschaffen, und zuweilen, z. B. bei Neurasthenikern, chronischen Trinkern 
usw. gelingt das Vorhaben tatsächlich, es kommt wirklich zur Aufnahme 
des Armen.“ Und weiter heißt es am Ende dieser Schrift: „Von vier 
Brüdern befindet sich einer als Geisteskranker in der Anstalt; einer der 
Brüder ist ihm zum Vormund bestellt. Plötzlich fällt allen Vieren zu 
gleichen Teilen eine beträchtliche Erbschaft zu. Der Anteil des Kranken 
wird von seinem brüderlichen Vormund verwaltet, der davon auch den 
mäßigen Pensionspreis an die Anstalt zahlt. Der Rest trägt Zins und 
Zinseszins und wächst allmählich zu stattlicher Höhe. Da der Anstalt - 
aufenthalt des Kranken inzwischen Jahre gedauert hat, sind die Brüder 
zu der Überzeugung gelangt, daß der Ärmste unheilbar sei, und haben im 
Geiste bereits sein Vermögen unter sich verteilt. Die Nachricht von seiner 
bevorstehenden Entlassung trifft sie wie ein Donnerschlag, und sie setzen 
nun alles daran, diese Entlassung liintanzuhalten, indem sie etwa die 
häuslichen Verhältnisse so traurig wie möglich schildern, die Unmöglich¬ 
keit, sich des Genesenen anzunehmen, immer wieder betonen, kurz, alles 
andere an den Tag legen, als — brüderliche Liebe. Besteht die Anstalt- 
direktion aber auf ihrem w’ohlbegründeten Willen, so nehmen sie den 
Bruder zwar zu sich, behandeln ihn jedoch derart schlecht, daß er bald 
wieder abnorme Züge zeigt, die ihnen dann willkommenen Anlaß bieten, 
seine Wiederaufnahme zu beantragen. Man glaube ja nicht, 
daß diese Dingesos eiten sin d.“ Auch hier wieder kann ich 
meine Bedenken nicht unterdrücken, daß solche der Nachprüfung doch 
sehr bedürftigen Behauptungen in solcher Allgemeinheit gefaßt der brei¬ 
testen Öffentlichkeit mitgeteilt werden. Ich erlaube mir einen starken 
Zweifel auszusprechen, ob wirklich ungerechtfertigte Internierungen ver¬ 
kommen. Ich wenigstens kenne keine solchen und warte noch auf den 
strengen Bew'eis des Gegenteils, wünsche aber dann die genaueste Mit¬ 
teilung eingehend geführter Krankengeschichten. 

Noch eine Schrift will ich erwähnen, welche im Jahre 1905, be¬ 
gleitet von einem Vorworte von Geh. Medizinalrat Prof. Dr. Eulenburg. 
in Berlin erschien und zum Verfasser Dr. jur. Arthur R e i s s n e r hat, 
welcher in ihr die Zwangsunterbringung in Irrenanstalten und den Schutz 
der persönlichen Freiheit behandelt. Herr Geheimrat Eulenburg schreibt: 


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„Die mehr oder minder berechtigten und dringenden Klagen über eine 
teilweise Reformbedürltigkeit unseres Irrenwesens wollen auch nicht ver¬ 
stummen.Auf Grund sorgsamer kritischer Durchmusterung 

der einschlägigen gesetzlichen und administrativen Bestimmungen, sowie 
sachgemäßer Verwertung mancher in die Öffentlichkeit gedrungenen Ein¬ 
zelerfahrungen über zutage getretene Übelstände in der Internierungs- 
und Entmündigungspraxis ist er (nämlich der Verfasser, Dr. Reissner) 
zu einer Reihe von Vorbeugungs- und Besserungsvorschlägen gelangt, gegen 
die im allgemeinen auch vom ärztlichen Standpunkte aus kaum begrün¬ 
dete Einwendungen zu erheben sein dürften. Für Einzelnes (wie z. B. 
für die faßliche und zweckentsprechende Definition des so ganz in der 
Luft schwebenden wahren Begriffs der „Gemeingefährlichkeit“) werden 
wir dem rechtsgelehrten Verfasser dankbar zu sein alle Ursache haben.“ 

Aus den Ausführungen des Verfassers über gefährliche und harmlose 
Geisteskrankheit als Unterbringungsgründe möchte ich nur folgende 
Stelle hervorheben: „Der Geisteskranke dagegen, der weiß, daß er krank 
ist, auf die Frage, ob er geheilt sein wolle, bejahend, auf die Frage, ob er 
zu diesem Zwecke in eine Irrenanstalt gebracht werden wolle, sich ver¬ 
neinend äußert oder auch sein Einverständnis damit erklärt, der verfügt 
über Krankheitbewußtsein. Nicht erforderlich ist, daß er Einsicht in die 
Art der Erkrankung hat. Obgleich ein solcher Geisteskranker infolge der 
Erkrankung an Bewußtseinstörung leidet, so ist doch das Bewußtsein 
bei ihm nicht vollkommen ausgelöst, und er muß deshalb dem körperlich 
Kranken gleichgestellt werden. Dies gilt übrigens ganz besonders von den 
Geisteskranken, die, wie man sagt, Krankheit dissimulieren, gleich dem, 
der Schmerz empfindet und ihn, um sich tapfer zu zeigen oder um z. B. 
der Entlassung aus dem Dienst zu entgehen, verwindet. Denn wer ge¬ 
gebenenfalls Krankheit dissimulieren, Gesundheit heucheln kann, der 
weiß, daß die Betätigungen seines Gehirns für krankhaft gehalten werden, 
und indem er diese krankhaft erscheinenden Betätigungen mit Vorsatz, 
also bewußt vermeidet, — dissimulieren kann man eben nur mit Bewußt¬ 
sein! — zeigt er, daß er Krankheitbewußtsein hat. Demjenigen Kranken 
aber, der trotz Krankheitbewußtsein es vorzieht, sich der Freiheit zu 
erfreuen und an der Krankheit zugrunde zu gehen, wird der Staat die 
Freiheit nicht rauben können.“ 

Nun, ich glaube, diesen letzten Ausführungen des Herrn Dr. Reissner 
werden wir uns vom Standpunkte der Wissenschaft und Humanität aus 
nicht anschließen können. 

Wenn ich nun noch dazu übergehe, die Vorschläge des Herrn 
Dr. Reissner hier zu erwähnen, so geschieht dies, weil sie auch heute wieder 
von verschiedener Seite aus vorgebracht werden. 

Erst vor ganz kurzer Zeit hatte ich Gelegenheit, in der Gesellschaft 
für soziale Medizin über die soziale Bedeutung der Psychiatrie zu sprechen, 
wobei ich bereits die gegen unser Irrenwesen gerichteten Angriffe er¬ 
örterte. Bei dieser Gelegenheit wurde von mehreren namhaften Ärzten 

Zutoohrift für Psychiatrie. LXLX. 1. 9 


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energisch auf eine Reform des Irrenwesens hingewiesen und auch ein 
Irrengesetz verlangt, insbesondere — darauf bitte ich die volle Aufmerk¬ 
samkeit zu richten — die Heranziehung von Laien gefordert, welche mit 
die Frage entscheiden sollen, ob ein Kranker in eine Irrenanstalt gebracht 
werden dürfe. Daher halte ich es für angezeigt, den Vorschlag des Herrn 
Dr. Reissner des näheren mitzuteilen, den wir in seiner Broschüre über die 
Zwangsunterbringung in Irrenanstalten und den Schutz der persönlichen 
Freiheit finden, und der, soweit ich sehen kann, auch die Billigung des 
Herrn Geheimrats Eulenburg gefunden hat, welcher das Vorwort zu dieser 
Broschüre, wie erwähnt, geschrieben hat. 

Herr Dr. Reissner macht nun folgende Ausführungen: „Die Anträge 
auf Unterbringung in eine Irrenanstalt werden bei einer Internierungs- 
kommission anzubfingen sein; ihre Zusammensetzung ergibt ihr Zweck 
und das Material, das ihrer Prüfung unterliegt: ein Amtsrichter als Vor¬ 
sitzender, der Gerichtsarzt als ständiger Beisitzer und drei Laien 
als Schöffen. Eine solche Kommission wird in der Lage sein, zu 
prüfen, ob der Implorat geistig normal ist oder nicht, ob objektiv ein Fall 
vorliegt, der den Antrag seitens des jeweiligen Antragstellers rechtfertigt, 
und ob im gegebenen Falle die geforderte Maßregel sich rechtfertigt 
sowohl nach dem Zustande des Kranken, als nach seiner und seiner Fa¬ 
milie Vermögenslage. Das Verfahren wird in einer dem Strafprozeß an- 
gepaßten Weise zu regeln sein. Der Antragsteller hat in seinem Anträge 
auf Unterbringung Angaben über die Person des Kranken, über seine und 
der unterhaltpflichtigen Verwandten Vermögensverhältnisse zu machen 
und dafür Beweismittel anzugeben; er hat Zeugen zu benennen, das be¬ 
gründete Gutachten eines Sachverständigen über den Gesundheitzustand 
des Imploraten beizufügen, aus dem sich der Zweck, dem es dienen soll, 
ergibt. Es findet sodann ein Vorverfahren statt, das innerhalb zweier 
Wochen abzuschließen Ist. Die Polizei als Hilfsorgan der Staatsanwalt¬ 
schaft, bzw. der Internierungskommission, vernimmt den Kranken, seinen 
behandelnden Arzt und die Antragzeugen und läßt den Kranken durch 
einen Vertrauensarzt untersuchen. Erscheint ein sofortiger Schutz des 
Kranken oder des Publikums erforderlich, so sind die Akten mit einem 
entsprechenden Antrag und eidesstattlichen Versicherungen, aus denen die 
Notwendigkeit der Zwangsunterbringung mangels anderer Schutzmöglich - 
keiten erhellt, sofort dem Gericht einzureichen. Atteste des erstunter¬ 
suchenden Arztes und des Vertrauensarztes sind beizufügen (eventuell 
also nur des Vertrauensarztes). Der Richter hat alsdann binnen 24 Stunden 
nach Beratung mit dem Gerichtsarzt zu entscheiden, und falls er sich für 
vorläufige Unterbringung entscheidet, einen vorläufigen Aufnahmeschein 
zu erteilen. Auf Grund dieses erfolgt dann eine Aufnahme des darin Be¬ 
nannten in einer öffentlichen oder Privatirrenanstalt bis zur Haupt Ver¬ 
handlung, zu der der Kranke vorzuführen ist. Der Arzt der Anstalt hat 
die Pflicht, den Kranken bis zur Hauptverhandlung, die spätestens einen 
itlonat nach Eingang des Antrages bei der Behörde stattzufinden hat. 


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‘■ingphend zu beobachten. Außerdem steht dem Richter, dem Gerichtsarzt 
und den Schöffen jederzeit innerhalb der Frist bis zum Hauptverhandlungs- 
termin — auch bei Nichtinternierten — das Recht zu, den Kranken selbst 

aufzusuchen. um sich über seinen Geisteszustand ein Urteil zu bilden. 

Über das Ergebnis der Beweisaufnahme berät das Kollegium. Vier 
Stimmen sind zu einem Beschluß auf Unterbringung erforderlich. Ist 
weitere Beweisaufnahme notwendig, und soll bis zu deren Erledigung der 
kranke weiter interniert bleiben, so bedarf es eines mit einfacher Stimmen¬ 
mehrheit gefaßten Beschlusses der Kommission. Der Termin ist alsdann 
um zwei Wochen höchstens zu verlegen. In diesem zweiten Termin muß 
eine definitive Entscheidung ergehen. 1 ' 

Ich habe diesen Vorschlag des Herrn Dr. Reissner deswegen im 
wesentlichen ausführlich mitgeteilt, weil, wie gesagt, sein Hauptinhalt 
und Kern von den auch ernst zu nehmenden Vertretern einer Reform des 
Irrenwesens mit Nachdruck hervorgehoben und unterstrichen wird. Nun 
hieße es wirklich blind sein, die bestehende Gefahr hartnäckig zu über- 
^hen, welche der Psychiatrie als Wissenschaft, sowie unserm gesamten 
irrenwesen von den Stürmern und Drängern droht. Wenn Ärzte bereits 
die Heranziehung von Laien zur Begutachtung der Notwendigkeit der 
Internierung von Kranken verlangen, so dürfen wir nicht länger schweigen; 
^ gilt, die Würde unserer Wissenschaft zu wahren und unser hehres Amt, 
^verleidende Mitmenschen zu schützen und zu behandeln, nicht aus 
insern Händen gleiten zu lassen. 

ln einer bemerkenswerten Erwiderung auf einen Aufsatz „Das 
Irrenhaus als Gefahr“ in der „National-Zeitung“ Nr. 159 d. J. hat Herr 
Mediiinalrat Dr. Kreuser schon zutreffend ausgeführt: „Die Krankheit- 
iiagnose ist es, die bei allen Irrenhausaffären in erster Linie bestritten 
*ifd; sollte sie einwandfreier durch den Richter als durch den Arzt fest¬ 
stem werden können? Doch wohl nur, wenn es sich um Zustände 
handelt, an denen nicht mehr zu zweifeln, aber auch nichts mehr zu bessern 
^ über dem hierzu erforderlichen Verfahren und der dazu benötigten 

geht aber die beste Gelegenheit zu einer angemessenen Fürsorge ver- 
i" r en f schwinden die Aussichten auf Wiederherstellung und auf Milderung 
iller der Schäden, die solche Krankheiten für die davon Befallenen und 
'ürihre Familien mit sich bringen. Alle Vorteile einer rechtzeitigen Für- 
’^rge würden der blinden Furcht vor Vergewaltigungen in gewinnsüchtiger 
Absicht geopfert werden.“ Wir können natürlich den Ausführungen des 
Herrn Kreuser nur zustimmen, und wir brauchen in unsern Reihen doch 
ehrlich nicht die Frage zu diskutieren, ob Laien zur Beurteilung der 
frage der Notwendigkeit der Internierung in einer Anstalt herangezogen 
werden sollen. Aber was uns klar ist, ist eben der Allgemeinheit und, wie 
d* e Erfahrungen der Gegenwart lehren, auch vielen Ärzten noch lange 
nicht klar genug. Darum ergibt sich die zwingende Forderung für uns, 
aus unserer Schweigsamkeit und Zurückgezogenheit endlich herauszutreten 

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und, wo immer wir können, in Wort und Schrift, die Gründe eingehend dar¬ 
zulegen, daß die Erschwerung der Aufnahmen und ihre Verschleppung, 
ihre Abhängigkeit von der Zustimmung von Laien gerade denjenigen den 
größten Schaden zufügen muß, welchen man in wohlwollender Absicht 
einen Schutz angedeihen lassen will. Schon heute erleben wir es ja, daß 
zur Beurteilung von Geisteszuständen Laien vielfach in bedenklicher Webe 
befragt werden. 

Der erfahrene Arzt und langjährige Leiter des „Berolinum“ in Lank¬ 
witz, Herr Sanitätrat Fränkel, konnte dies jüngst am eigenen Leibe erfahren. 
Er hatte in einem Atteste zur Einleitung der Pflegschaft die bekannte 
Forderung bejaht, daß eine Verständigung mit dem betreffenden Kranken 
nicht möglich sei. Der Arzt ging dabei von der eigentlich selbstverständ¬ 
lichen Meinung aus, daß die Möglichkeit zu einem Verständnb mit dem 
Kranken nicht darin zu suchen sei, daß er den Inhalt dessen, was zu ihm 
gesprochen wird, einfach in sich aufnahm, sondern daß die Fähigkeit 
bei dem Kranken vorhanden sein müßte, seinen eigenen Zustand mit 
Rücksicht auf die daraus entspringenden Folgen richtig zu beurteilen, mit 
anderen Worten: nur dann kann eine Verständigungsmöglichkeit mit dem 
Kranken als vorhanden angenommen werden, wenn dieser die erforderliche 
Krankheiteinsicht besitzt. Der Richter dagegen schien einer anderen 
Auffassung zu huldigen. Er verzichtete in dem gegen Herrn Sanitätrat 
Fränkel von dem Kranken angestrengten Prozesse darauf, sachverständige 
Ärzte zu hören, sondern begnügte sich, Laien zu vernehmen, welche zum 
Teil noch Angestellte des betreffenden Kranken waren. Die Aussagen 
dieser Laien genügten dem Richter, an der geistigen Gesundheit des pro¬ 
zessierenden Herrn nicht zu zweifeln und den leitenden Arzt wegen Fahr¬ 
lässigkeit zu verurteilen, obwohl derselbe durch seine Qualität als Arzt 
und Leiter der Anstalt durch eine lange Reihe von Jahren doch den Beweis 
erbracht hatte, daß ihm eine Fahrlässigkeit auch nicht im mindesten zu- 
getraut werden könnte. 

Wenn es also jetzt schon möglich ist, daß auf Grund von kritikloser 
Bewertung der Laienaussagen so weitgehende Urteile und Verurteilungen 
stattflnden können, nun, dann wollen wir uns lieber nicht in unserer Phanta¬ 
sie ausmalen, welchen Zuständen wir entgegengehen, wenn einmal dem 
Laienelement eine noch größere rechtliche Befugnis zuteil würde und wenn 
Laien vom Gesetze die Erlaubnis erhielten, zu jeder ihnen beliebigen Zeit 
in die Anstalt zu kommen und dort selbständig Untersuchungen der uns 
anvertrauten Kranken anzustellen. Wenn wir all dies erwägen, so müssen 
wir uns sagen: so, wie es gegenwärtig steht und geht, kann und darf es 
nicht weitergehen. 

In dankenswerter Webe hat nun vor kurzer Zeit in der „Medizinbchen 
Gesellschaft“ Herr Medizinalrat Leppmann über „Irrenärztliche Tages- 
fragen“ *) gesprochen. Seine wertvollen Ausführungen faßt er im Hin- 

>) Siehe Berliner Klinbche Wochenschrift 1911 Nr. 46 und 47. 


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bück auf die Erfahrungen der letzten Zeit dahin zusammen: 1. Wir 
brauchen ein Irrengesetz, welches die Anstaltunterbringung Kranker und 
insbesondere die Pflichten und Rechte der Anstaltleiter bis ins kleinste 
regelt; 2. wir brauchen eine Ergänzung unserer bürgerlichen Gesetzgebung 
über die Beschränkung der Geschäftsfähigkeit Erkrankter in der Weise, 
daß bis jetzt noch mögliche Schädigungen Kranker und Belästigungen 
Gesunder vermieden werden. 

Herr Leppmann hat mit Recht darauf hingewiesen, daß man bis¬ 
weilen den Eindruck gewänne, als ob unsere heutige Rechtslage den 
Rechtschutz der Geisteskranken gegenüber dem der Gesunden über¬ 
spanne. Die Richtigkeit dieser Bemerkung springt ohne weiteres in die 
Augen, wenn man die wichtigen Ausführungen liest, welche Herr Ge¬ 
heimrat Jastrowitz in der Diskussion über den Vortrag des Herrn Lepp¬ 
mann gemacht hat. Herr Geheimrat Jastrowitz wurde von einer Dame 
verklagt, nach 21 Jahren, weil er bei ihr, wie sie sich ausdrückte, eine 
Pigure hätte machen lassen, ein Ausdruck, der auch von dem Rechtsanwalt 
der Dame konstant festgehalten wurde. Die Dame behauptete, Geheimrat 
Jastrowitz und seine damaligen Assistenten hätten durch eine Oberin 
ihr quer nach dem Herzen zu, was sie gespürt hätte, unten vom Rücken¬ 
mark aus bis hinauf in den vierten Ventrikel und in das Kleinhirn stechen 
lassen, um zu sehen, ob sie hereditär syphilitisch belastet sei. Durch diese 
Manipulation wäre sie in einen Zustand der Raserei und der gänzlichen 
seelischen Zerrüttung versetzt worden, sie wäre mannstoll geworden, sie 
hätte dadurch ihr ganzes Leben verfehlt. Sie beanspruchte dafür eine 
entsprechend hohe Entschädigungsumme. Herr Geheimrat Jastrowitz 
mußte alle Mühen und Beschwerden des Prozesses auf sich nehmen und 
hatte außerdem noch eine stattliche Summe Gerichtskosten zu bezahlen, 
obwohl er, wie zu Beginn des Prozesses vorauszusehen war, natürlich den¬ 
selben gewinnen mußte. 

Solche Erfahrungen und Erlebnisse, wie die eben mitgeteilten, 
häufen sich. Ich kann ja auf den schwebenden Prozeß, welcher gegen die 
leitenden Ärzte der Anstalt Berolinum, die Herren Sanitätsräte Dr. Fränkel 
und Oliven und auch gegen mich angestrengt und noch nicht erledigt ist, 
nicht eingehen. Aber auch wir sind wegen Fahrlässigkeit und widerrecht¬ 
licher Internierung auf eine außerordentlich hohe Schadenersatzsumme 
verklagt worden, und noch andere Fälle ließen sich anführen. Da ist es 
allerdings hoch an der Zeit, daß die Frage eingehend erörtert werde, ob 
nicht zu Beginn des Prozesses, noch bevor in die Verhandlung eingetreten 
wird, auf richterliche Veranlassung eine genaue Prüfung der zugrunde 
liegenden Tatsachen durch sachverständige Ärzte verlangt werden muß. 
Wir müssen hierauf bestehen, nicht allein im Hinblick darauf, daß uns 
überflüssige Prozesse und unnütze Geldaufwendungen erspart bleiben 
sollen, sondern auch im Hinblick auf die prozessierenden Kranken selbst, 
welche durch die sich hinziehende Prozeßführung aufs 'neue in ihrem 


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Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 


seelischen Gleichgewicht gestört und erschüttert werden und außerdem 
in materieller Hinsicht sich verausgaben, wovor sie geschützt werden 
sollten. Es wird sich sicherlich ein Weg finden lassen, um hier den not¬ 
wendigen Wandel zu schaffen. Es muß den durchaus überflüssigen Pro¬ 
zessen ein Riegel vorgeschoben werden; dadurch wird natürlich auch die 
Allgemeinheit vor ferneren Beunruhigungen bewahrt bleiben können. 
Herr Leppmann hat auf das badische Gesetz für Irrenfürsorge vom 25. Juni 
1910 die Aufmerksamkeit hingelenkt. Nach seinen Ausführungen spricht 
dasselbe zunächst klar und deutlich aus, daß eine Unterbringung eines 
Kranken ohne oder gegen seinen Willen nicht bloß dann stattfinden kann, 
wenn er gemeingefährlich ist, nein, wenn es sein Interesse fordert. Es 
macht die Unterbringung abhängig von der Zustimmung der Regierungs¬ 
behörde bzw. des zuständigen Bezirksamtes. Es unterscheidet neben der 
gewöhnlichen Unterbringung eine dringende, fürsorgliche, in welcher die 
Genehmigung der Regierung nachgeholt werden kann, und bezeichnet 
als einen besonderen Grund der Dringlichkeit den Heilungszweck. Es gibt 
dem Kranken selbst in dem Falle ein Einspruchrecht gegen die Einhaltung, 
wenn er keinen gesetzlichem Vertreter hat, z. B. wenn er nicht unter vor¬ 
läufiger oder endgültiger Vormundschaft steht. Über den Einspruch 
entscheidet das Bezirksamt, und gegen den Entscheid desselben steht dem 
Kranken bzw. dessen gesetzlichen Vertreter oder dessen Angehörigen Klage 
im Verwaltungstreitverfahren zu. Ich muß Herrn Leppmann zustimmen, 
wenn er der Ansicht Ausdruck gibt, daß hier wertvolle Grundzüge eines 
Irrengesetzes gegeben sind, mit dem man wirtschaften könne. Gleichwohl 
wird man noch weitere Maßnahmen in Vorschlag bringen, um eine Beruhi¬ 
gung der Allgemeinheit herbeizuführen. Ich halte es für sehr zweckmäßig, 
wenn den Anstalten durch gesetzliche Verfügung ein psychiatrisch ge¬ 
nügend vorgebildeter Jurist als Beirat gegeben würde, welcher die Auf¬ 
gabe hätte, die Rechtsverhältnisse, Vermögensangelegenheiten und Fa¬ 
milienbeziehungen des in die Anstalt gebrachten Kranken zu berücksichti¬ 
gen und im Auge zu behalten. Der Kranke hätte dann von Anfang an 
einen gesetzlichen Vertreter und Rückhalt, welcher sein Interesse wahr¬ 
nimmt, und ich glaube, daß durch diese Maßnahme jeder Zweifel im Keim 
erstickt werden könne, als sei der Kranke aus unlauteren Absichten inter¬ 
niert und des Schutzes und der Wahrnehmungen seiner Angelegenheiten 
beraubt. 

Ich sprach eben, daß der in diesem Sinne wirkende Jurist auch eine 
genügende psychiatrische Kenntnis besitzen muß. Dieser Wunsch bzw. 
diese Forderung muß dahin erweitert werden, daß überhaupt Juristen, 
sofern ihre Sonderbetätigung sich auch auf die Behandlung und Beurteilung 
krankhafter Seelenzustände erstreckt, nicht nur vorübergehend eine Vor¬ 
lesung über Psychiatrie hören oder dann und wann ein Kompendium nach¬ 
schlagen, sondern durch eigene Anschauung und Betätigung in einer 
Irrenanstalt, unter fachmännischer Unterweisung und Belehrung sich 


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Psychiatrischer Verein zu Berlin. 


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Kenntnisse sammeln. Nur so wird ein ersprießliches Zusammenwirken 
zwischen Jurist und Psychiater in der Zukunft möglich sein. Heute finden 
leider nur zu oft die Ausführungen des sachverständigen Irrenarztes bei 
vielen Juristen kein Echo, da dem Juristen eben die notwendigen Grund¬ 
lagen in Psychologie und Psychopathologie fehlen. 

Aber auch zur Aufklärung der Allgemeinheit durch die Presse muß 
etwas geschehen. In einem kleinen Aufsatze „Zur sozialen Bedeutung der 
Geisteskrankheiten“ hatte ich schon 1903 auf eine solche Notwendigkeit 
hingewiesen. Die Vertreter der Presse sollten, so meinte ich, bevor sie die 
Öffentlichkeit alarmierten, erst bei der Anstaltleitung vorstellig werden 
und um ausreichende Auskunft nachsuchen. Wenn sie die letztere nicht 
erhalten, mögen sie die fragliche Angelegenheit einem wirklich sachver¬ 
ständigen Arzte unterbreiten. In der Nr. 36 der Psychiatrisch-Neuro¬ 
logischen Wochenschrift vom Dezember 1910 hat der Geh. Medizinalrat 
Dr. Siemens einen Rechtschutz gegen die Angriffe der Presse empfohlen 
und seinen bekannten Vorschlag gemacht, der dahin geht, daß eine Art 
Rechtsbureau eingerichtet werde, und zwar in Berlin. Der Deutsche 
Verein für Psychiatrie soll mit einem tüchtigen Rechtsanwalt in Verbindung 
treten. Eins der beiden Vorstandmitglieder, welche in Berlin wohnen, 
und ein oder zwei jüngere Vereinsmitglieder in Berlin, die über gewandte 
Federn verfügen und Lust und Liebe zur Sache haben, mögen sich der 
Mühe unterziehen, die einzelnen Fälle zu studieren. Ein Abonnement auf 
die bezüglichen Zeitungsausschnitte werde bei einem der literarischen 
Bureaus genommen, und von den beiden Mitgliedern werd$ fortgehend 
alles durchgesehen, was in der Presse erscheint. Ergibt sich auch nach 
Meinung des Vorstandmitgliedes die Notwendigkeit zum Einschreiten, 
so wenden sie sich an den Bechtsanwalt zur Beratung um Unternehmung 
der erforderlichen Schritte. Die angegriffenen Kollegen müssen das be¬ 
treffende Tatsachenmaterial in möglichst schlüssiger Form liefern, ge¬ 
gebenenfalls den Antrag auf Bestrafung stellen und dem Rechtsanwalt 
Vollmacht zu ihrer Vertretung erteilen. In Fällen, welche die Allgemein¬ 
heit der Psychiater betreffen, erteilt der Vereinsvorstand die Vollmacht. 
Der Rechtsanwalt fordert sich alle Unterlagen ein, sucht die Erlaubnis 
zur Akteneinsicht nach und geht gegen die Angreifer vor, zwingt sie zum 
Widerruf und beantragt die Bestrafung wegen Beleidigung. 

Einen im wesentlichen verwandten Vorschlag hat in der Nr. 31 der 
Psychiatrisch-Neurologischen Wochenschrift 13. Jahrgang Herr Oberarzt 
Dr. Beyer- Bayreuth -Herzoghöhe gemacht. Er führt sehr richtig aus: 
»Nicht die Kommission soll über einen einzelnen Fall ein Urteil abgeben, 
sondern die Presse oder das Publikum sollen sich selbst ein Urteil bilden, 
und die Kommission soll ihnen dazu das Material liefern.“ Der wesent¬ 
lichste Unterschied gegenüber der bisher latent gebliebenen Kommission 
besteht also, wie Dr. Beyer hervorhebt, darin, daß sie nicht gegen die 
Presse arbeiten soll, sondern mit ihr, daß sie den Vertretern derselben ihre 


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Verbandlangen psychiatrischer Vereine. 


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Aufgabe, das Publikum aufzuklären, erleichtert. Die Kommission soll 
sich mit dem Standesverein der Presse in Verbindung setzen und sich 
erbieten, das nötige Material zur Verfügung zu stellen, eventuell in enger 
Fühlung mit ihm den betreffenden Fall zu prüfen. Ich bedauere außer¬ 
ordentlich, daß in seiner letzten Jahresversammlung der Deutsche Verein 
für Psychiatrie den Vorschlag des Herrn Siemens eigentlich hat auf sich 
beruhen lassen, und ich möchte erneut die Anregung geben, eine Kom¬ 
mission zu ernennen, welche die Prüfung der Vorschläge der Herren Siemens 
und Beyer wieder aufnimmt, aber auch zu einer praktischen Durchführung 
bringt. Es darf nicht weiter mit angesehen werden, daß die Presse in 
einseitiger Weise ihre Leser unterrichtet, und nach meinen Erfahrungen 
werden wir bei den Redaktionen der großen Tagesblätter ein geneigtes 
Ohr finden, um so leichter, wenn nicht der gerade angegriffene Arzt allein 
das erforderliche Material herbeibringt, sondern eine Kommission von 
Fachärzten unter Zuziehung eines Rechtsanwaltes durchaus objektiv die 
notwendigen Tatsachen in gemeinverständlicher Weise darstellt und in 
einer zur Mitteilung geeigneten Form den Redakteuren unterbreitet. Bei 
der Durcharbeitung und Präzisierung dieses Vorschlages wird natur¬ 
gemäß der Paragraph betreffend Schweigepflicht und Wahrung des ärzt¬ 
lichen Berufsgeheimnisses zu berücksichtigen sein. Dabei ist zu bedenken, 
daß der Arzt nicht auf seine Initiative hin den Fall an die Öffentlichkeit 
bringt, sondern nur notgedrungen in der Abwehr handelt; gleichzeitig ist 
auch in Betracht zu ziehen, daß der Angreifer selbst über seine Angelegen¬ 
heit Mitteilungen macht, wie bekannt, zumeist ja in entstellter Weise, 
so daß es sich also nur von seiten des angegriffenen Arztes um eine Be¬ 
richtigung handelt, und endlich gebe ich zu erwägen, daß wir bei unsern 
Mitteilungen uns nicht allein auf Beobachtungen, die wir an der unter¬ 
suchten Persönlichkeit gemacht haben, stützen, sondern für unser Urteil 
auch Berichte verwenden, die wir von Angehörigen und andern Personen 
empfangen haben, welche mit dem Internierten in Beziehung stehen. 
Auch wird es sich verlohnen und im Hinblick auf die erforderliche Auf¬ 
klärung des Publikums von großem Wert sein, wenn wir einerseits die 
Fälle sammeln, in denen der Allgemeinheit durch Geisteskranke Nachteil 
und Schaden erwachsen ist, und andererseits jene Fälle zusammenstellen, 
welche durch Scheu vor der Irrenanstalt und durch verzögerte Unter¬ 
bringung in dieselbe einen üblen Ausgang genommen haben. In der 
Diskussion über den Vortrag des Herrn Leppmann in der Medizinischen 
Gesellschaft hat bereits Herr Munter den gleichen Gedanken ausgesprochen, 
und ich hoffe, daß seiner Verwirklichung bald näher getreten werde. 

Ferner wird es darauf ankommen, die uns Irrenärzten wohl klaren 
Begriffe der Gemeingefährlichkeit und des Vorhandenseins einer Möglich¬ 
keit, mit dem Kranken eine Verständigung herbeizuführen, auch für 
Juristen und gebildete Laien in nicht mißzuverstehender und erschöpfender 
Weise zum Ausdruck zu bringen. Auch hier dürfte es sich empfehlen, 


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Psychiatrischer Verein zu Berlin. 


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unsern Anschauungen und Forderungen dadurch Entgegenkommen und 
Gehör zu verschaffen, daß eine Kommission eine Fassung vorschlagt, 
welche nach Billigung des Deutschen Vereins für Psychiatrie dann all¬ 
gemeine Geltung beanspruchen sollte. 

Ferner müssen wir als selbstverständliche Forderung hinstellen, 
daß auch die Gutachten, welche zur Unterbringung eines Kranken in eine 
Anstalt erforderlich sind, möglichst eingehend erstattet werden und eine 
präzise nicht mißzuverstehende Symptomatologie des Falles enthalten. 
Verbreitet ist die Annahme, daß zu einem Aufnahmeattest die Unterschrift 
iweier praktischer Ärzte notwendig ist. Das ist ein Irrtum; aber man 
könnte ihn insoweit berichtigen, als wir es für wünschenswert erachten, 
daß neben der Begutachtung durch einen praktischen Arzt noch die 
Untersuchung durch einen Psychiater zu erfolgen hätte. 

Diese Forderung sollte auch ausgedehnt werden auf die Erstattung 
von Gutachten in Strafsachen und im Entmündigungsverfahren. Für uns 
iwar eine Selbstverständlichkeit, muß es aber doch ausgesprochen werden: 
die Psychiatrie ist eine Wissenschaft so schwieriger Natur, daß nur lang¬ 
jähriges Studium und eigentlich steter Umgang mit den Kranken die 
Möglichkeit gibt, die notwendigen Grundlagen und Handhaben für die 
Abfassung eines wissenschaftlich begründeten Gutachtens zu erwerben. 
Damit will ich natürlich nicht sagen, daß Fachleute unfehlbar sind. Irren 
ist menschlich, und auch sie können irren; aber die Gefahr des Irrtums 
wird bei ihnen doch immer in engen Grenzen eingefriedet liegen. Freilich 
sollte man es als eine Selbstverständlichkeit ansehen, bei Nachprüfungen 
von Gutachten mit großer Umsicht und Vorsicht zu Werke zu gehen. 
Leider ist es in letzter Zeit nicht so selten vorgekommen, daß Gutachten 
abgegeben wurden, ohne daß vorher die Krankheitgeschichte der Anstalt 
>*ingefordert wurde, in der der zu begutachtende Fall sich bislang befunden 
hatte. Ich selbst könnte hiervon Bemerkenswertes berichten, doch will 
i'h von meinen persönlichen Erfahrungen Abstand nehmen. Aber sie 
veranlassen mich, mit Nachdruck die oben gestellten Forderungen zu 
erheben. Auch muß gesagt werden, daß jede Anstalt, welche einen fach¬ 
männisch gebildeten Arzt zum Leiter hat, als geeignet anzusehen ist, 
forensische Fälle zu begutachten. Es darf in dieser Hinsicht kein künst¬ 
licher Unterschied zwischen den verschiedenen Kategorien der Anstalten 
eemacht werden; durch die prinzipielle Gleichstellung der Anstalten kann 
mit dahin gewirkt werden, schädliche Vorurteile zu beseitigen. 

Schließlich will ich noch einen Punkt kurz erörtern, der gleichfalls 
in der Öffentlichkeit zur Besprechung Veranlassung gab und weiterhin 
gibt. Gegen die Privatanstalten wird der Verdacht ausgesprochen: um 
materiellen Gewinnes willen sei man bereit, bei der Aufnahme von Kranken 
etwas weniger vorsichtig zu sein, und der klingenden Münze zuliebe sei man 
vielfach bereitwillig. Kranke über Gebühr zurückzuhalten. Vor Fach¬ 
leuten brauche ich ebensowenig auf diese Anwürfe einzugehen, wie ich es 


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nicht für nötig erachte, die öffentlichen Anstalten in Schutz zu nehmen, 
weil wiederholt gegen sie der Vorwurf erhoben wurde und wird, sie stellen 
sich in Abhängigkeit und in den Dienst der Polizei, um etwa politisch 
mißliebige Elemente in die Irrenanstalt aufzunehmen und dort festzuhalten. 
Diesem Vorurteil bin ich bei gebildeten Laien und Juristen begegnet. 
In meiner Abhandlung „Zur Behandlung der forensischen Alkoholisier 
im 64. Bande der Zeitschrift für Psychiatrie hatte ich darauf hingewiesen, 
daß die Polizei in der Lage ist, jeden von uns unterstützten Antrag auf 
Entlassung bis auf weiteres abzulehnen. Es mag sein, daß durch dieses 
Recht der Polizei die öffentliche Meinung in Unruhe geraten ist. Vielleicht 
ließe sich hierin eine Abhilfe schaffen, insofern die Polizei nicht einfach 
auf dem Verwaltungswege ihr kategorisches Nein erteilen läßt, sondern 
ihre Zustimmung oder Ablehnung der gewünschten Entlassung eines 
Kranken aus der Anstalt von dem Votum einer Kommission von Sach¬ 
verständigen abhängig macht. Diese Auffassung, die ich in dem erwähnten 
Aufsatze vertrat, habe ich auch heute noch, und ich möchte sie doch 
wenigstens zur Erörterung gestellt haben. 

Wenn ich nach den vielen bitteren Erfahrungen, die ich gemacht 
habe, das Eine erreichen könnte, daß meine Ausführungen, wenn auch 
nur in dieser und jener Hinsicht, einen wirkungvollen Nachhall fänden, 
so würde ich es dankbar begrüßen. 

D i s k u s s i.o n. — Falkenberg - Herzberge: Bei der Beurteilung der 
derzeitigen ablehnenden Haltung weiter Kreise gegen unser Arbeitgebiet 
darf der Gang unserer modernen politischen Entwicklung, die zu einer 
Überspannung des Begriffs der persönlichen Freiheit und einer Über¬ 
schätzung ihres Schutzbedürfnisses neigt, nicht außer acht gelassen werden. 
Dieser Entwicklung müssen wir, auch wenn wir sie nicht billigen, Rechnung 
tragen und der scharfen Abwehr unberechtigter Angriffe positive Vor¬ 
schläge zufügen; auch von einem Gegner, dessen Prämissen zurück- 
gewiesen werden müssen, soll man lernen. Von den einzelnen recht be¬ 
achtenswerten Anregungen des Vortragenden dürfte der Vorschlag auf 
Beiordnung eines juristischen Beirates zur Prüfung und Wahrnehmung 
der persönlichen und vermögensrechtlichen Interessen der Kranken gewiß 
manche Vorteile bieten. Die Klagen über mangelnden Rechtschutz der 
Kranken werden durch ihn aber ebensowenig beseitigt werden, wie durch 
die von anderer autoritativer Seite erstrebte Ausdehnung der Pflegschaft 
(§ 1910 BGB.) auf möglichst alle Aufgenommenen. Die Pflegschaft an 
sich macht den Bepflegten, abgesehen von den wenigen im Gesetz an¬ 
geführten Einzelfällen, nicht unfähig, seine Geschäfte selbst zu führen: 
sein Wille bleibt neben dem seines Pflegers rechtlich bestehen, und im 
Streitfall muß für jede einzelne mit den Willensäußerungen des Bepflegten 
nicht übereinstimmende Unterlassung oder Handlung des Pflegers erst 
der Nachweis geführt werden, daß der Wille des Kranken als der eines 


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Geschäftsunfähigen rechtlich nicht beachtlich ist. Diese Notwendigkeit 
läßt weder die Ausdehnung der Pflegschaft im Sinne des BGB. auf mög¬ 
lichst alle Kranke noch die Einführung des juristischen Beirats im Sinne 
des Vortragenden als gangbaren Weg erscheinen, um zu einer gesetz¬ 
lichen Vertretung des Kranken zu gelangen, die kraft eigenen Rechtes, 
unter Aufsicht der zuständigen staatlichen Instanzen', während des An¬ 
staltsaufenthaltes des Kranken fürsorglich über dessen Vermögen und 
Person, insbesondere, was uns heute besonders interessiert, über das 
Verbleiben in der Anstalt, bestimmen könnte. Daß die Entmündigung, 
die an sich diese Forderungen erfüllen würde, im allgemeinen nicht als 
Voraussetzung für die Zurückhaltung des Kranken in der Anstalt gelten 
darf, braucht in diesem Kreise ja nicht weiter ausgeführt zu werden. 

Wichtiger als die Einzelvorschläge des Vortragenden scheint aber 
eine präzise Stellungnahme zu der grundsätzlichen 
Frage, ob unser Irrenwesen einer neuen gesetz¬ 
lichen Regelung bedarf. Bis vor kurzem ist diese Frage 
von den Psychiatern, die mit Recht in dem Verantwortlichkeits- und Pflicht¬ 
gefühl des Arztes den besten Schutz der Kranken erblickten und von 
unzweckmäßigen gesetzlichen Bestimmungen eine Schädigung der Inter¬ 
essen ihrer Kranken befürchteten, fast stets verneint worden. Erst in den 
letzten Zeiten beginnt sich ein Umschwung vorzubereiten: Inzwischen 
ist das Badische Gesetz erlassen und hat gezeigt, daß auch ein Gesetz 
nicht notwendigerweise eine Erschwerung der Aufnahmen oder sonstige 
Schädigungen mit sich bringen muß; das Interesse an den das Irren wesen 
berührenden rechtlichen Problemen hat zu weiterer Fragestellung an¬ 
geregt, und an die Frage nach ausreichendem Schutz für die Geistas¬ 
kranken hat sich die weitere nach ausreichendem Schutz der Gesunden 
vor Geisteskranken angeschlossen. Auf Grund solcher und anderer 
Erwägungen hat erst vor wenigen Wochen A. Leppmann in seinem Vortrag 
in der Berliner Medizinischen Gesellschaft die Forderung nach einem 
Irrengesetz erhoben. Juliusburger ist ihm gefolgt und auch i c h stehe 
nicht an, diese Forderung als eine recht dringende zu bezeichnen. Ver¬ 
gegenwärtigt man sich, soweit es im Rahmen einer kurzen Diskussions- 
bemerkung überhaupt möglich ist, die gesetzlichen Grundlagen, auf denen 
das Irrenwesen in Preußen beruht, so sind für die öffentlichen 
Anstalten namentlich zwei Bestimmungen hervorzuheben: die eine ist 
die bekannte Vorschrift des Allgemeinen Landrechts, Teil II, Titel 17, 
S 10: „Die nötigen Anstalten zur Erhaltung der öffentlichen Ruhe, 
Sicherheit und Ordnung und zur Abwendung der dem Publiko oder 
einzelnen Mitgliedern desselben bevorstehenden Gefahr zu treffen, ist das 
Amt der Polizei“ (und in Anlehnung hieran der § 6 des Gesetzes über die 
Polizeiverwaltung vom 11. März 1850, nach dem zu den Gegenständen 
der ortspolizeilichen Vorschriften gehören: a) der Schutz der Personen und 
des Eigentums.f) Sorge für Leben und Gesundheit); die andere 


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findet sich im Preußischen Ausführungsgesetz zum Reichsgesetz über den 
Unterstützungswohnsitz (in der Fassung vom H. Juli 1891), das den Land¬ 
armenverbänden die Verpflichtung auferlegte, für Bewahrung, Kur und 
Pflege der hilfsbedürftigen Geisteskranken usw., soweit sie der Anstalt¬ 
pflege bedürfen, in geeigneten Anstalten Fürsorge zu treffen, und dessen 
§ 31 b lautet: „Die Bestimmungen über die Aufnahme und Entlassung 

der Anstaltpflegebedürftigen.werden in Reglements getroffen, 

welche der Genehmigung der zuständigen Minister unterliegen.“ Die 
gelegentlich aufgestellte Behauptung, daß das preußische Irrenwesen der 
gesetzlichen Grundlagen entbehre, ist also irrig, eine andere Frage ist aber, 
ob diese Grundlagen ausreichen. Ob die Vorschrift des Allgemeinen Land- 
rechts wirklich eine so extensive Auslegung gestattet, wie es irrenärztlicher - 
seits vielfach angenommen wird, mag hier unerörtert bleiben, sicher haben 
sich bei der Ausführung Mängel gezeigt, auf die Leppmann wiederholt 
hingewiesen hat. Sicher ist auch, daß die nach § 31 b des Preußischen 
Gesetzes erlassenen Reglements recht erhebliche Verschiedenheiten zeigen, 
gerade mit Bezug auf die Fragen, die zu dem heutigen Vortrage in Be¬ 
ziehung stehen (genaue Bezeichnung der Behörden und Privatpersonen, 
die zur Stellung des Antrages auf Aufnahme eines hilfsbedürftigen 
Kranken berechtigt sind; Vorschriften über das einzuschlagende Ver¬ 
fahren, falls die Ortspolizeibehörde die Aufnahme eines Kranken, für den 
in seiner hilflosen Lage nicht ausreichend gesorgt wird, für nötig hält, 
der gesetzliche Vertreter, einer der nächsten Verwandten oder die Ehe¬ 
frau der Aufnahme aber widersprechen; Versagung der Entlassung wegen 
fortbestehender Anstaltpflegebedürftigkeit, obgleich der fürsorgepflichtige 
Armenverband die Entlassung beantragt, u. a.). Ein Vergleich der für 
Brandenburg und für Berlin geltenden Reglements wird das ohne weiteres 
zeigen; die für die anderen Provinzen erlassenen Reglements sind aber, 
wenn ich nicht irre, wieder von diesen beiden Reglements und auch unter 
sich verschieden, und doch bilden gerade diese reglementarischen Aus¬ 
führungsbestimmungen auf Grund des § 31 b nicht nur formal, sondern 
auch materiell die rechtliche Grundlage für die Aufnahme, Behandlung 
und Entlassung aller hilfsbedürftigen Kranken. Wenn man erwägt, von 
wie ausschlaggebender Wichtigkeit bei allen rechtlichen Fragen gerade der 
Wortlaut der anzuwendenden Bestimmungen ist, kann diese Mannig¬ 
faltigkeit und Verschiedenheit schwerlich als zweckmäßig oder als un¬ 
wesentlich erachtet werden. Die Verschiedenheit der Reglements bringt 
es auch mit sich, daß in dem einen Fragen ausführlichst und unter An¬ 
führung von Details behandelt werden, über die das andere Reglement 
mit einem kurzen Satz hinweggeht, ohne daß sich behaupten ließe, daß 
das letztere durch seine allgemeinere Fassung eine erschöpfendere Ant¬ 
wort gebe; die lokal begrenzte Gültigkeit der Reglements führt daher in 
der Praxis auch zu verschiedener Auslegung und Handhabung einzelner 
Vorschriften. Die Forderung nach einer größeren Einheitlichkeit und 


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Übersichtlichkeit der gesetzlichen Bestimmungen erscheint danach be¬ 
rechtigt ; ihre Erfüllung wird, zumal auch eine Ergänzung der Vorschriften 
über die Bestellung einer gesetzlichen Vertretung der Kranken, über die 
Entlassung und ihre eventuelle Versagung (und zwar nicht nur bei sicher¬ 
heitsgefährlichen, sondern auch bei nur hilfsbedürftigen Kranken) u. a. not¬ 
wendig werden dürfte, ohne Inanspruchnahme der Gesetzgebung nicht 
zu erwarten sein. Der Einwand, daß es sich bei einem solchen neuen 
Gesetz im wesentlichen nur um eine Kodifikation des bestehenden Rechts 
handeln würde, wird, auch wenn er zuträfe, nicht zur Ablehnung der 
Forderung führen dürfen. Auch eine solche Kodifikation schafft größere 
Klarheit, hilft dem Arzt die Verantwortung leichter tragen und gibt 
ihm einen sichereren Boden für die Zurückweisung ungerechtfertigter 
Beschuldigungen; vor allem aber schafft sie einheitliches Recht und gibt 
der Rechtsprechung Gelegenheit, maßgebende Grundsätze für die An¬ 
wendung der einzelnen Bestimmungen aufzustellen und dadurch zur 
Klärung etwaiger strittiger Fragen beizutragen. Fehler und Uneben¬ 
heiten, die der ersten Gesetzgebung anhaften könnten, werden sich, wie 
die Geschichte der in den letzten Jahren erlassenen Gesetze zeigt, auf 
dem Boden der durch die Judikatur gewonnenen Erfahrung später ändern 
und ausgleichen lassen. 

Zinn -Eberswalde: Die Forderung eines Irrengesetzes ist neuerdings 
auch in den Reihen der Psychiater wiederum mehr und mehr laut geworden, 
t'nd wenn ich dieses Verlangen auch für wohl begreiflich und berechtigt 
halte, so kann ich mich dem Drängen nach Verwirklichung dieser Forderung 
doch nur unter der Voraussetzung anschließen, daß der Auf- und Ausbau 
eines solchen Gesetzes auf der Grundlage der Anerkennung der Irren¬ 
anstalten als Krankenanstalten und ihrer ersten und wichtigsten Zweck¬ 
bestimmung der Heilung, Besserung und Pflege einer bestimmten Art von 
Kranken, eben der Geisteskranken, gesichert ist. Ich muß dessen gewiß 
sein können, daß in dem verlangten Irrengesetz die tatsächlichen Interessen 
unserer Kranken vertreten und gewahrt werden nach den Forderungen 
der Irrenheilkunde in Wissenschaft und Praxis, und nicht nach mehr 
oder weniger gut gemeinten, in ihrer Wirkung aber verfehlten Vorschlä- 
nen und Anschauungen von Ratgebern, die, wie die Ausführungen des 
Herrn Vortragenden von neuem gezeigt haben, wegen mangelnder oder 
unzureichender Sachkenntnis hierzu weder berufen noch befugt sind. 
Was wir da über die vermeintlich zweckmäßigste Gestaltung der Auf¬ 
nahmebedingungen, was wir, selbst von ärztlicher Seite, für Ansichten 
und Urteile über Irrenwesen und Irrenfürsorge soeben in dem Vortrage 
gehört haben, das beweist nur von neuem, daß es leider auch unter den 
Gebildeten noch viele Leute gibt, die von diesen Dingen wenig oder gar 
nichts verstehen und doch zum Berichterstatter und Berater der öffent¬ 
lichen Meinung sich berufen fühlen und die Verantwortung dafür glauben 
tagen zu können. 


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Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 


Ein Irrengesetz, wie ich es mir vorstelle, hätte in erster Linie an 
Aufnahmebedingungen festzuhalten, die, bei aller Rücksicht auf den 
Schutz der persönlichen Freiheit und die Rechte der Person, auf die Forde¬ 
rungen der sozialen Gesetzgebung, auf die Sicherstellung der Kosten usw. 
usw., die Aufnahme der Kranken möglichst einfach gestalten — ähnlich 
denen der allgemeinen Krankenanstalten — sie also tunlichst erleichtern 
und nicht erschweren; ein solches Gesetz hätte weiter die Entlassung 
und die Zurückhaltung der Kranken in einer ihren eigenen Interessen 
und denen der Außenwelt entsprechenden und nicht von Vorurteilen und 
allerlei abenteuerlichen Ansichten und Anschauungen genährten Weise 
zu regeln; es hätte weiter, wie es neuerdings besonders von Leppmann 
hervorgehoben worden ist, auch dem Psychiater, dem Anstaltarzt Schutz 
zu gewähren gegen ungerechtfertigte Angriffe, Verleumdungen und Ver¬ 
dächtigungen aller Art, wie sie jetzt wieder mal an der Tagesordnung sind, 
und endlich auch den Arzt in den Stand zu setzen, Einflüsse und Ein¬ 
wirkungen von seinen Kranken fernzuhalten, die sie direkt oder indirekt 
zu schädigen und den Zweck der ärztlichen Anstaltbehandlung in Frage 
zu stellen und zu vereiteln geeignet sind. Wenn Aussicht ist, ein solches 
Irrengesetz, wie ich es oben in groben Zügen gezeichnet habe, zu bekommen, 
dann soll es je eher je lieber willkommen sein. Und fast könnte es scheinen, 
als ob wir dieser glücklichen Zeit schon sehr nahe wären, wenn wir nach 
Baden blicken, wo ein erfreulicher Ansatz für ein solches Irrengesetz 
neuerdings bereits gemacht ist. Aber es ist wohl kein Zweifel, daß Hoff¬ 
nung auf Übernahme dieses Gesetzes auf Preußen oder das Reich nicht 
gesetzt werden kann, schon aus äußeren und verwaltungstechnischen 
Gründen; und wenn ich dann weiter mir nicht verhehle, welche Anschau¬ 
ungen über Geisteskranke und Irrenanstalten heute noch ganz allgemein 
und gerade auch unter den Gebildeten verbreitet sind, wenn ich die ge¬ 
legentlichen Verhandlungen über dieses Thema in den parlamentarischen 
Körperschaften mir ins Gedächtnis zurückrufe, wenn ich die heutigen 
Zeitläufte, wie sie nun einmal sind, betrachte, dann, meine Herren-, wird 
mein Verlangen nach einem Irrengesetz wieder stille, und es will mir ratsam 
scheinen, in Geduld besserer Zeiten zu harren, bis die Erkenntnis der 
Wahrheit, die schließlich doch siegen muß, und alles dessen, was in diesen 
Dingen wirklich zu Nutz und Frommen ist, mehr und mehr Gemeingut 
Aller geworden ist. Denn ich kann mich der Überzeugung nicht ent- 
schlagen, daß ein aus den heutigen Zeitverhältnissen heraus gemachtes 
Irrengesetz nicht zum besseren, sondern nur zum schlechteren ausfallen 
kann und muß. In dieser Auffassung kann mich der Blick auf den neuen 
österreichischen Entwurf eines Irrengesetzes nur eindringlich bestärken 
und liegt es sehr nahe, ihn als Muster auch für unsere Verhältnisse emp¬ 
fohlen zu sehen. Aus all diesen Gründen kann ich mich dem Verlangen 
in unseren Reihen nach einem Irrengesetz heutzutage nicht anschließen, 
ich halte die Zeit dazu für noch nicht gekommen und warne, allzu begierig 


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Psychiatrischer Verein zu Berlin. 


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danach zu sein. Das enthebt aber nicht der Pflicht, wo nur irgend möglich, 
in Wort und Schrift, an der Aufklärung aller Gesellschaftsklassen über 
alles, was mit dem Irrenwesen zusammenhängt, weiter zu arbeiten und 
so bessere Zeiten mit mehr Verständnis und mehr Einsicht für das, was 
nottut, herbeizuführen. Und da mit am wirksamsten die Aufklärung von 
Mund zu Mund ist, so mögen besonders auch alle die Berufenen unter uns, 
die Gelegenheit haben, mit maßgebenden öffentlichen Persönlichkeiten, 
mit den Mitgliedern der gesetzgebenden Körperschaften in Berührung zu 
kommen, ihre Stimmen immer wieder ertönen lassen. 

Und nun zu den Vorschlägen zur Abwehr der in letzter Zeit wiederum 
zunehmenden Angriffe auf die Psychiater; ich nehme sie nicht allzu tra¬ 
gisch, sie sind, solange ich mich als Irrenarzt dessen erinnern kann, noch 
nie ganz verstummt, in neuerer Zeit allerdings wieder einmal mächtig 
• raporgediehen. Wie schwer es ist, zu ihrer Abwehr das Richtige zu treffen, 
las hat der Herr Vortragende an verschiedenen Beispielen gezeigt; ich 
erinnere an die von ihm mitgeteilten Aussprüche, die von Ärzten aus 
unseren Reihen in bester Absicht gemacht, dabei aber leicht ins Gegenteil 
und zum Schaden der von ihnen vertretenen guten Sache ausschlagen 
können. Eis werden diese Abwehrmaßregeln ganz besonders eingehend 
überlegt und beraten werden müssen. Wenn ich nicht irre, hat der Deutsche 
Verein für Psychiatrie die Standeskommission mit dieser Materie befaßt 
und können wir danach wohl heute von der Einsetzung einer besonderen 
Kommission absehen und die Vorschläge der Standeskommission abwarten. 
Auf eines möchte ich aber trotzdem nicht ganz verzichten, das ist die Bitte 
um kurze tatsächliche Berichtigungen aller der Fälle, in denen bei solchen 
Angriffen die Tatsachen in einer die Öffentlichkeit beunruhigenden, irre¬ 
führenden und oft sensationellen Weise entstellt sind. Daß derartige 
Schilderungen oft wochen- und monatelang unberichtigt bleiben, halte 
ich im Interesse der öffentlichen Meinung und aller Beteiligten für äußerst 
schädlich und nachteilig. Und ich glaube, daß wir uns da vor dem § 300, 
dessen Wert für das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Kranken wir 
ulle wohl gleich hochschätzen, nicht allzu ängstlich und engherzig zu hüten 
brauchen. Die Darstellungen in den Zeitungen begnügen sich in der 
Regel nicht mit allgemeinen Andeutungen, sie gehen vielmehr meist ganz 
eenau in die Einzelheiten — Namen, Daten usw. — ein, so daß eine Be¬ 
richtigung in dieser Beziehung tatsächlich nichts Neues in die Öffentlich¬ 
keit bringt. Und wenn ich sehe, in welcher Weise nicht nur Wissen und 
Können, sondern vor allem auch Zuverlässigkeit und Pflichttreue, wie 
Ehre und Ansehen und die ganze gesellschaftliche und wirtschaftliche 
Stellung des Arztes in solchen Angriffen bloßgestellt wird, so kann ich mir 
nicht denken, daß eine solche tatsächliche Berichtigung, die sich auf das 
zur Klarstellung unbedingt Erforderliche beschränkt und darüber hinaus 
Einzelheiten ohne Not nicht preisgibt, als ein Verstoß gegen das Berufs¬ 
geheimnis ausgelegt oder gar bestraft werden könnte. Es stehen dem 


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Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 


nicht nur die berechtigten Interessen des Einzelnen, sondern vor allem 
auch Rücksichten allgemeiner öffentlicher Art entgegen. 

Hans LoeAr-Schweizerhof: Auch ich erwarte keine Besserung von 
einem jetzt im Reichstag oder in den preußischen Kammern einzubrin¬ 
genden Irrengesetz. Die Antwort auf die Frage, ob ein Gesetz oder die 
gegenwärtige Regelung durch Verordnungen vorteilhafter scheint, hängt 
wesentlich davon ab, ob man bei der Volksvertretung oder bei den Be¬ 
hörden größere Sachkenntnis und Unbefangenheit voraussetzt, und da 
meine ich, daß man es der Regierung wohl Zutrauen kann, ein zweck¬ 
entsprechendes Irrengesetz, etwa nach Art des badischen, einzubringen, 
unsren Parlamenten aber kaum, es ohne erhebliche Verschlechterung 
anzunehmen. Diese materielle Verschlechterung würde den Vorzug der 
Einheitlichkeit, so hoch dieser auch einzuschätzen ist, bei weitem über- 
wiegen. Aber das ist persönliche Ansicht und berührt kaum die uns heute 
beschäftigende Frage der Abwehr ungerechter Angriffe. Denn ob wir 
nach Maßgabe von Gesetzen oder von Verordnungen handeln, ist in dieser 
Hinsicht gleich. Auch das zweckmäßigste Irrengesetz wird irrtümliche 
Beschuldigungen nicht verhindern noch vermindern. Gegen diese kann 
der Beschuldigte vorgehen. Er kann in einzelnen Fällen berichtigen. 
Allerdings glaube ich, daß ihm hierin recht enge Grenzen gezogen sind 
durch die Pflicht, das Berufsgeheimnis zu wahren. Bei dem Vorwurf 
ungerechtfertigter Freiheitberaubung z. B. kann wohl die formale Be¬ 
rechtigung der Aufnahme in die Anstalt öffentlich festgestellt, selten aber 
die Notwendigkeit der Aufnahme materiell dargetan werden, ohne die 
Schweigepflicht zu verletzen. Häufiger wird der Angegriffene klagen, 
gegebenenfalls den Schutz seiner Behörde anrufen oder eine Untersuchung 
beantragen können. Sehr viel schwieriger ist es, Mittel anzugeben, wie 
Angriffen auf Einzelne oder den ganzen Stand zweckmäßig von Vereins 
wegen zu begegnen ist; wie schwierig, ersieht man daraus, daß auf der 
letzten Jahresversammlung des Deutschen Vereins für Psychiatrie die 
darauf bezüglichen Vorschläge der Standeskommission dieser selbst nach 
nochmaliger Durchberatung unzweckmäßig erschienen und deshalb von 
ihrem Vorsitzenden zurückgezogen wurden. Das Ergebnis neuer Be¬ 
ratungen wird uns in Kiel vorgelegt werden. Ich glaube nicht, daß die 
weitgehenden Hoffnungen, die Manche auf eine Vereinsveranstaltung 
setzen, sich erfüllen können. Am aussichtreichsten erscheint mir noch 
der Versuch, gemeinsam mit dem deutschen Presseverein eipe Kom¬ 
mission zu bilden, welche einschlägige Fälle besprechen und, wo dies angeht 
und nützlich erscheint, Berichtigungen erlassen könnte, die gewiß von 
Wert wären. Solches Zusammenarbeiten könnte aber auch in andrer 
Richtung nützen, wenn anders das Meiste von der Aufklärung des Publi¬ 
kums zu erwarten ist. Diese kann nicht durch den Verein als solchen oder 
eine Kommission, sondern nur durch Einzelne erfolgen, und sie wird am 
wirksamsten sein, wenn sie durch die Tagespresse verbreitet wird, die nun 


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Psychiatrischer Verein zu Berlin. 


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einmal am weitesten dringt. Ließe es sich in größerem Umfang ermög¬ 
lichen, daß auch Psychiater in persönliche Fühlung mit Zeitungsredaktio¬ 
nen kommen und ihnen dauernd als Berater und Mitarbeiter zur Seite 
stehen, so wäre sehr viel gewonnen. Dieser Verbindung könnte aber aus 
einem, wenn auch nur gelegentlichen, gemeinsamen Zusammenarbeiten 
von Beauftragten des deutschen Pressevereins und des Deutschen Vereins 
für Psychiatrie erhebliche Förderung erwachsen. 

M. Edel -Charlottenburg berichtet, daß bereits von seiten der Ver¬ 
einigung der Privatirrenanstaltleiter Schritte unternommen seien, mit der 
Presse zwecks gemeinsamer Aufklärung des Publikums Fühlung zu nehmen. 
Herr Friedländer habe dankenswerterweise den Redakteur der Frankfurter 
Zeitung gewonnen, und dieser habe sich dem Vernehmen nach bereit 
erklärt, mit Vertretern der psychiatrischen Vereinigung zu beraten, wie 
an den Reichsverband der deutschen Presse heranzutreten sei. Wenn die 
Aufklärung des Publikums durch die Presse mit Hilfe einer psychiatrischen 
Kommission naturgemäß auch erst später erfolgen könne, so sei dies doch 
auch dann noch voraussichtlich von großem Nutzen und würde sicherlich 
zur Beruhigung des Publikums dienen. Für ein preußisches Irrengesetz 
halte ich auch aus den von Herrn Zinn angeführten Gründen die Zeit noch 
nicht für gekommen. 

Die von Herrn Juliusburger und Herrn Leppmann betonte Notwendig¬ 
keit besserer psychiatrischer Vorbildung der Juristen teile ich voll und 
ganz. Ich kann berichten, daß Herr Gerichtsarzt Strauch mit mir seit 
zwei Semestern für Juristen regelmäßig Vorlesungen mit Demonstration 
von Kranken hält, und daß die Herren Juristen mit großem Eifer und 
Interesse den Ausführungen folgen. 

James FraenAef-Lankwitz: Aus den sehr lehrreichen und sach¬ 
gemäßen Ausführungen des Herrn Juliusburger , die so manche wertvolle 
Anregung enthalten, möchte ich mir erlauben, nur einen wichtigen Punkt 
zu erwähnen, der allgemeines Interesse erheischt, nämlich den § 1910BGB. 
..Es kann ein Volljähriger, der nicht unter Vormundschaft steht, einen 
Pfleger erhalten, wenn er infolge körperlicher oder geistiger Gebrechen 
seine Angelegenheiten nicht zu besorgen vermag.“ Diese Bestimmung 
ist völlig einleuchtend und bedarf keiner weiteren Auseinandersetzung, 
um so weniger als die Begriffe „körperliches“ und „geistiges Gebrechen“ 
•n den Kommentaren genügend erklärt werden. Zu Meinungsverschieden¬ 
heiten gibt aber der Zusatz Anlaß, nach welchem nur mit Einwilligung 
des Gebrechlichen die Pflegschaft angeordnet werden darf, es sei denn, daß 
eine Verständigung mit ihm nicht möglich Ist. Wenn auch der Begriff 
..Verständigung“ streng genommen kein rein medizinischer ist, und die 
Juristen seine Definition für sich in Anspruch nehmen, so soll doch stets 
der sachverständige Arzt sein Urteil über die Verständigungsmöglichkeit 
mit einem Gebrechlichen abgeben, da an ihn eine diesbezügliche Anfrage 
vor Einsetzung einer Pflegschaft ergeht. 

ZrftMhiift tat Psychiatrie. LUX. 6. 10 


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Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 


Wie das Gesetz den Begriff „Verständigung“ aufgefaßt "wissen will, 
darüber existieren eine Reihe vielfach auseinandergehender juristischer 
und psychiatrischer Erläuterungen. Zunächst muß festgestellt werden, 
daß der Begriff sich aus zwei Komponenten, dem „Verstehen“ und dem 
„Verstandenwerden“ zusammensetzt. Eine Verständigung unter Zweien 
kann nur Zustandekommen, wenn der Eine versteht, was der Andere 
sagt und meint, und wenn dieser von jenem richtig verstanden wird. 
Es ist ferner einleuchtend, daß „Verständigung“ ebensowenig nur die 
akustische Aufnahme von Wortbildern, wie die bloße Fähigkeit, seine 
Gedanken zu verraten, bedeuten kann. Denn es ist sehr wohl denkbar, 
daß ein geistig Gebrechlicher in einer Unterredung alles richtig hört und 
ihm kein Wort entgangen ist, sowie daß er ferner mit Redegewandtheit 
sich äußert und sogar mit einer gewissen Schlagfertigkeit zu erwidern 
versteht; und doch kann man zu dem Schlüsse kommen, daß eine Ver¬ 
ständigung mit ihm nicht möglich ist. Andererseits wird man sich unter 
Umständen mit einem Tauben oder mit einem Stummen, ja sogar mit 
einem Taubstummen recht gut verständigen können. — Von einer Ver¬ 
ständigungsmöglichkeit wird deshalb bei einem Geisteskranken nur die 
Rede sein können, wenn er seine Lage vernunftgemäß zu beurteilen ver¬ 
mag, wenn er genügende Einsicht für die Notwendigkeit der Einsetzung 
einer Pflegschaft über ihn besitzt, und wenn seine Gefühlsrichtung nicht zu 
erheblichen Schwankungen unterworfen ist. Wenn aber ein geistig Ge 
brechlicher, trotz wiederholter gegenteiliger ärztlicher Versicherung, 
immer wieder seine geistige Gesundheit betont, wenn er seine Äußerungen 
dauernd mit wahnhaften Vorstellungen verquickt, wenn während der 
Exploration ein so hochgradiger Affekt eintritt, daß es nicht ratsam 
erscheint, sie fortzusetzen, so wird man zu dem Ergebnis gelangen, daß 
eine Verständigung mit ihm unmöglich ist. Wie sollte auch ein Ver¬ 
ständigungsmodus gefunden werden bei jemandem, der sich für geistig 
unversehrt hält, der zu Unrecht, lediglich durch Haß und Rachsucht der 
Seinigen, interniert sein will und bei der jedesmaligen Rücksprache in 
exzessive Erregung gerät? Schon allein infolge des mangelnden Krank¬ 
heitbewußtsein beurteilt ein solcher Patient seine augenblickliche Situation 
falsch; er vermag sie mit den tatsächlichen Verhältnissen nicht in Ein¬ 
klang zu bringen. Also nur wenn bei einem Geisteskranken die Fähigkeit 
einer sinngemäßen Kritik über seine eigenen Angelegenheiten vorhanden 
ist, wird die Verständigungsmöglichkeit mit ihm bescheinigt werden können. 
Hieraus ergibt sich schon, daß diese in der Mehrzahl der Fälle als aus¬ 
geschlossen zu erachten sein wird. 

Diese Auffassung teilen die meisten Autoren; ihr schließen sich auch 
unsere Städtischen Anstalten an, wie ich es häufig genug in den Akten 
bestätigt sah. So finden sich wiederholt Pflegschaftatteste nach fol¬ 
gendem Wortlaut: „Der p.ist geisteskrank nach § 6 BGB.; er 

ist unvermögend, seine Angelegenheiten zu besorgen; eine Verständigung 


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Psychiatrischer Verein zu Berlin. 


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ist mit ihm, als einem Geisteskranken, nicht möglich.“ In anderen Fällen 
wird dem erforderten Zeugnis noch nachstehende Bemerkung hinzu - 
gefügt: „Wir senden beifolgende Einverständniserklärung des Patienten 
ab, bemerken jedoch, daß nach ärztlicher Äußerung die Möglichkeit einer 
Verständigung mit ihm als einem Geisteskranken nicht als vorliegend zu 
erachten ist.“ Es wird also hier von vornherein subsumiert, daß man 
sich mit einem Geisteskranken nicht verständigen kann. 

Bisher bin auch ich nach den soeben proklamierten Maximen bei der 
Ausstellung von Pflegschaftattesten— ohne jedeBeanstandung— verfahren. 
Nur in einem einzigen Falle hat das Gericht nachträglich einen andern 
Standpunkt vertreten. Nicht das ärztliche Urteil wurde als maßgeblich 
erachtet, sondern vielmehr die eidlich erhärteten Aussagen von Bekannten 
und Angestellten des Kranken, die vorher mit ihm in Verkehr standen. 

Es erscheint mir wünschenswert, wenn auch vor diesem Forum 
recht viele Ansichten über das angeregte Thema laut würden. 

Zinn -Eberswalde: Im allgemeinen kann ich mich mit den Aus¬ 
führungen des Herrn Vorredners einverstanden erklären, und es ist mir 
unverständlich, wie aus der von ihm mitgeteilten Auffassung des Be¬ 
griffs der „Verständigung“ und seiner praktischen Verwertung ein Vor¬ 
wurf erhoben werden kann. Es ist aber kein Zweifel, daß der Begriff 
„der Verständigung“ im Sinne des § 1910 verschiedenartiger Auslegung 
unterliegt, und daß er namentlich vielfach viel weiter gefaßt wird. Aus 
rein praktischen Gründen pflegen wir in Eberswalde daher in den Fällen, 
in denen wir eine Verständigung für nicht möglich halten, eine kurze Zu¬ 
standschilderung zu geben und damit zu schließen, daß danach „nach 
unserem Dafürhalten“ eine Verständigung nicht möglich ist. Damit 
heben wir unsere subjektive Auffassung als solche deutlich heraus und 
geben dem Richter zugleich Einsicht in die Beweggründe unseres Urteils, 
eventuell auch noch mit dem Hinweis, sich selbst durch Rücksprache mit 
dem Arzt und durch die persönliche Vernehmung des Kranken in der 
Anstalt sein Urteil zu bilden. 

Falkenberg- Herzberge kann Herrn Zinn nicht folgen, wenn er aus 
dem wahrscheinlichen Inhalt des Gesetzes zu einer Ablehnung der Forde¬ 
rung einer gesetzlichen Regelung überhaupt kommt. Zunächst teilt er 
in Hinblick auf das badische Gesetz nicht die pessimistischen An¬ 
sichten Zinns und Laehrs ; im übrigen sei es ihm aber in seinen Bemer¬ 
kungen nicht auf den Inhalt des Gesetzes angekommen, über den man 
ja noch später werde diskutieren können, sondern um die hiervon unab¬ 
hängige grundsätzliche Stellungnahme zu der Frage: Ist die 
rechtliche Basis, auf der der Anstaltsarzt bei der Wahrnehmung der Inter¬ 
essen seiner Kranken steht, in allen Fällen so unangreifbar und eindeutig, 
daß eine Änderung nicht notwendig erscheint? Er, für seine Person, 
komme zu einer Verneinung der Frage und damit zu der prinzipiellen 
Forderung einer neuen gesetzlichen Regelung. Die von Zinn so warm 


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Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 


befürwortete Aufklärung dürfe gewiß nicht unterlassen werden, einen 
durchgreifenden Erfolg könne er sich aber von ihr allein nicht versprechen. 

Zinn -Eberswalde: Um ganz kurz auf die letzten Ausführungen des 
Kollegen Falkenberg einzugehen, kann ich nur wiederholen, daß 
ich die Frage, ob ein Irrengesetz verlangt werden muß, von der Frage, 
wie es, wenn es jetzt verwirklicht wird, voraussichtlich ausfallen wird, 
nicht trennen kann. Ein Irrengesetz um jeden Preis scheint mir bedenk¬ 
lich und gefährlich; nur wenn ich einigermaßen die Garantie habe, daß es 
auch wirklich zum Guten ausschlägt, kann ich dem Drängen danach zu- 
stimmen, und diese Garantie fehlt bisher noch. Inzwischen mögen wir 
uns begnügen in dem Bestreben, die bestehenden Bestimmungen, soweit 
sich Lücken gezeigt haben, auf dem Wege der Verordnung, der Regle¬ 
ments usw. zu ergänzen und zu vervollkommnen. 

Liepmann -Dalldorf: Die Frage des Herrn Fraenkel gehört zu denen, 
die völlig befriedigend nicht gelöst werden können. Der § 1910 ist nicht 
für Geisteskranke, sondern für körperlich oder geistig Gebrechliche 
geschaffen, daher ist wohl bei „Verständigung“ ursprünglich an den 
gröberen Sinn des Wortes: Fähigkeit, eine fremde Meinung zu verstehen 
und die eigene zum Ausdruck zu bringen, gedacht. 

Die Anwendung des Paragraphen auf Geisteskranke würde aber zum 
großen Teil illusorisch werden, wenn man dann nicht mit Herrn Fraenkel 
vernünftigerweise dem Wort „Verständigung“ einen engeren und feineren 
Begriff zugrunde legte. Dies geschieht auch ganz allgemein. Um den 
Kranken die Wohltat der Pflegschaft nicht zu entziehen und um sich 
selbst zu schützen, empfiehlt es sich, zu schreiben: „Mit X., a 1 s e i n e m 
Geisteskranken, ist eine Verständigung nicht möglich“; womit 
man dem Richter gegenüber ausdrücklich betont, daß man den feineren 
psychiatrischen Sinn des Wortes „Verständigung“ im Auge hat. 

Warnke -Berlin warnt in Anlehnung an die Ausführungen von Herrn 
Direktor Zinn gleichfalls dringend davor, schon jetzt etwa die Materie 
der Irrengesetzgebung vor das Forum der gesetzgebenden Körperschaften 
zu bringen. Der Mangel an Verständnis in diesen Kreisen sei entsetzlich. 
Wolle man Verbesserungen, dann sei der Weg der Aufklärung des Reichs¬ 
tages z. B. durch eine Kommission, die Material sammle, erwägenswert. 

Juliusburger h'A\t seine Forderung eines Irrengesetzes aufrecht und teilt 
hierin die Ausführungen des Herrn Falkenberg. Im Gegensatz zu letzterem 
hält er eine Aufklärung nach allen Richtungen hin für dringend notwendig. 
Zu begrüßen sei die Fassung des Begriffs der Verständigung mit einem 
Kranken, wie sie von den Herren Zinn und Liepmann gegeben wurde. Julius¬ 
burger schlägt eine Kombination beider Fassungen vor 1 ). Hans Laehr. 


x ) Inzwischen hat der S. 124 erwähnte Herr seine Klage wegen Be¬ 
leidigung gegen mich auf eigene Veranlassung und unter Tragung der 
Kosten zurückgenommen. Ebenso hat er auf Entschädigungsansprüche 
an San.-R. Fraenkel und mich verzichtet. J. 


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Kleinere Mitteilungen. 


Ein Kursus und Kongreß für Familienforschung, Ver- 
erbungs- und Regenerationslehre findet vom 9. bis 13. April 
in Gießen statt. 


Der nächste Kongreß für experimentelle Psychologie 
findet vom 16. bis 19. April 1912 in Berlin statt. Referate: G. Deuchler, 
Die Psychologie der sprachlichen Unterrichtsfächer: K. Marbe, Die Be* 
deutung der Psychologie für die übrigen Wissenschaften und die Praxis; 
IT. Stern, Die psychologischen Methoden der Intelligenzprüfung. Mit 
dem Kongreß wird eine Ausstellung von Apparaten verbunden sein. 
Gleichzeitig mit dem Kongreß wird eine Ausstellung des Instituts für 
angewandte Psychologie und psychologische Sammelforschung stattfinden. 
Anmeldungen betr. Teilnahme oder Vorträge sind an Geh. - Rat Prof. 
Dr. Stumpf (Berlin W., Augsburger Straße 45), Anfragen oder Anmel¬ 
dungen betr. die Ausstellung von Apparaten an Dr. H. Rupp (Berlin NW., 
Dorotheenstraße 80), Zusendungen betr. die Ausstellung des Instituts 
an Dr. O. Lipmann (Berlin-Neubabelsberg, Kaiserstraße 12) zu richten. 


Der vom Deutschen Verein für Psychiatrie veranstaltete 
Fortbildungskurs für Psychiater wird in diesem Jahre vom 
'■ bis 26. Oktober in Berlin stattfinden. Es sind wieder 20 Stunden 
für Nervenheilkunde, 20 für Hygiene, 16 für pathologische Anatomie, 
1» für Chirurgie, 12 Stunden für innere Medizin in Aussicht genommen. 
Beitrag 80 M. Anmeldungen und Anfragen erbeten an San.-R. Dr. 
Hans Laehr, Zehlendorf-Wannseebahn, Schweizerhof. 


Nekrolog Krömer. — Am 1. November 1911, gerade an 
seinem Geburtstage, wurde der Direktor der Provinzial-Irrenanstalt Con¬ 
radstein bei Preuß. Stargard, Geh. Med.-Rat Dr. Richard Krämer, begraben. 
Essei mir, der ich viele Jahre mit dem Heimgegangenen in Freundschaft 
verbunden war, vergönnt, dem hervorragenden Arzt und Kollegen einige 
Worte der Erinnerung zu weihen. 

Richard Krömer wmrde 1849 zu Zöblitz im sächsischen Erzgebirge 
als Sohn eines kinderreichen Lehrers geboren. Von seinem Vater in der 
lateinischen und französischen Sprache und besonders in der Musik unter¬ 
richtet und vorbereitet, fand er Aufnahme in dem berühmten Kreuz- 


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Kleinere Mitteilungen. 


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chore zu Dresden, der den Kirchengesang in der Kreuzkirche, Frauen- 
und Sophienkirche leistete und alle Sonnabende in der Vesper die klassi¬ 
schen Werke von J. Seb. Bach, Mendelsohn, Hauptmann, Homilius u. a. 
zur Aufführung brachte. Dafür wurde den Sängern freier Unterricht 
im Kreuzgymnasium und freie Station im Alumneum gewährt. Das 
letzte Jahr in Dresden hatte R. Krämer als erster Präfekt die Aufführungen 
einzuüben und zu leiten. Eine ganze Reihe von Bänden enthalten seine 
Lieblingsmotetten, deren Partitur er sich selbst ausgeschrieben hatte. 
Ostern 1870 bezog er die Universität Leipzig. Sein Vater hatte ihn nach 
bestandenem Abiturium gefragt: „Was willst du nun werden?“ Da hatte 
Richard geantwortet: Medizin studieren! „Das kannst du tun, aber geben 
kann ich dir nichts dazu.“ — R. Kr. beschaffte sich die Mittel zum Studium 
selbst durch Privatstunden geben und andere Arbeiten. Er brachte es 
sogar fertig, der Pauliner Sängerschaft anzugehören, um der Frau Musika. 
die er so sehr liebte, nicht untreu zu werden. Nur sein unermüdlicher 
Fleiß, große Ordnungsliebe und Sparsamkeit und jener feste Wille, der 
vor keiner Schwierigkeit zurückschreckt, konnte das Vorhaben gelingen 
lassen. In den klinischen Semestern war er Famulus in der chirurgischen 
Klinik bei Thiersch, und seine erlangte Geschicklichkeit und Sicherheit 
im Operieren hat er später in der Anstalt vielfach verwertet. 

Nach beendigtem Staatsexamen wurde er Arzt an der Irrenanstalt 
Nietleben bei Halle, die damals unter Koeppe s Leitung stand. Als die 
Überfüllung in Nietleben unerträglich wurde, hatte Krämer etwa IV 2 Jahre 
eine Abteilung Kranker auf dem Schlosse zu Zeitz ärztlich zu versorgen. 
Dann wurde Altscherbitz gebaut und Koeppe dirigierte anfänglich noch 
beide Anstalten (Nietleben und Altscherbitz). Nach Koeppe s Über¬ 
siedlung nach Altscherbitz leitete Krämer die Anstalt Nietleben als zweiter 
Arzt; er hielt auch Vorlesungen, wozu er sich als Dozent habilitierte. 
Nach Koeppe 5 1879 erfolgtem Tode übernahm Hitzig die Anstalt Niet- 
leben, und Krämer war unter Hitzig noch zweiter Arzt bis zum 1 . Juli 
1883. 1876 hatte sich Krämer mit Charlotte Dietel, der Tochter eines 

Leipziger Stadtrats, verheiratet. 

1883 wurde Kr. als Direktor an die neuerbaute Provinzial-Irren¬ 
anstalt zu Neustadt in Westpreußen berufen. Diese Anstalt war baulich 
bereits im wesentlichen fertig, als Kr. hinkam. Er widmete sich nun mit 
Feuereifer der inneren und äußeren Ausgestaltung dieser durch eine land¬ 
schaftlich schöne Lage ausgezeichneten Anstalt. Es ist erstaunlich, was 
Kr. hier an Einrichtungen, Gärten, Pflanzungen, Anlagen, Rieselfeldern, 
Park mit Teichen, Wiesen und Ackerverbesserungen geschaffen hat. 
Er versetzte geradezu Berge. Schließlich erbaute er auch, ohne daß ein 
Pfennig dafür besonders bewilligt zu werden brauchte, mit den eigenen 
Kräften der Anstalt ein großes Gewächshaus. Als es fertig war, zeigte 
er es der Oberbehörde an und bat um die Mittel für die Heizungsanlage. 
Das gab natürlich Sturm im Provinzialausschuß. „Wie kann der Direktor 


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Kleinere Mitteilungen. 


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Häuser bauen ohne Genehmigung?“ Eine Kommission sollte die Zweck¬ 
mäßigkeit begutachten. Ein Mitglied, Kommerzienrat und Besitzer großer 
Kunst- und Handelsgärtnereien, fand es vorzüglich und schenkte sogleich 
finige große Palmen für den Mittelbau. — Diese kleine Geschichte ist 
• harakteristisch für Krämer. Daneben arbeitete er wissenschaftlich rast¬ 
los fort, betätigte sich literarisch, stand einem Ärzteverein der Nachbar¬ 
kreise vor und versuchte neue Heilmethoden bei seinen Kranken. Eine 
meiner Arbeiten (Beitrag zur Kastrationsfrage, Allg. Ztschr. f. Psych. 
Bd. 52, S. 1) beruht auf eigenen Operationen, die er als sicherer Chirurg 
in der Anstalt vornahm. Er beschreibt da vier Frauen, die er ovarioto- 
mierte. Über die Ablatio testium bei den Männern macht Kr. nur einige 
allgemeine Ausführungen. Gemacht hat er mehrere bei sexuell erregten 
Hebephrenen und Epileptikern. Aber es schien ihm doch hinterher be¬ 
denklich, die Fälle zu publizieren, weil die Gerichte mehrfach ärztlich - 
kurative Operationen als „Körperverletzungen“ verfolgten. Es waren 
auch anonyme Anzeigen beim Staatsanwalt gegen ihn erfolgt, u. a. weil 

eines Sonntags abends den angetrunkenen Portier, der unbotmäßig 
und drohend wurde, kurzerhand für die Nacht in die nächste beste Isolier¬ 
zelle einsperrte, bis er nüchtern war und zu Kreuz kroch.- 

Alle seine wissenschaftlichen Abhandlungen zeichnen sich aus durch 
Fleiß bezüglich der Literaturangaben und Klarheit der Darstellung. — 

1894 gründete Kr. mit mir zusammen den nordostdeutschen Verein für 
Psychiatrie und Neurologie, der alljährlich in Danzig tagt und die Kollegen 
von Pommern, West- und Ostpreußen und Posen vereinigt. 1894 wurde 
Kr. auch als Med.-Rat in das Medizinal-Kollegium der Provinz West- 
preußen berufen. 

Die letzte große Tat seines arbeitreichen Lebens war das Programm 
und die Einrichtung der großen Anstalt Conradstein. Diese Riesen- 
snlage auf dem Rittergut (1200 Morgen) zeigt alle Vorzüge Arömerscher 
Arbeit: großzügige, klare Disposition des Ganzen, vorzügliche Anordnung 
und Ausstattung der Räume in den einzelnen Pavillons, insbesondere 
sroße zweckmäßig gelegene Nebenräume, bis in die kleinsten Einzel¬ 
heiten klar durchdachte Diensteinrichtungen; prächtige Ausgestaltung 
•ler Gärten und Parks, musterhafte Rieselfelder, zu denen er wieder un¬ 
geheure Erdbewegungen von den Kranken ausführen ließ; großartiger 
l^ndwirtschaftsbetrieb. Alle Jahre stellte er sich neue Aufgaben der 
Erweiterung, Verbesserung und Verschönerung. Es war seine Freude 
und sein Stolz, dieses selbstgeschaffene Reich zu repräsentieren und be¬ 
sonders es den Fachgenossen zu zeigen, wobei er, der für sich von Haus 
aus Genügsame, eine glänzende Gastfreiheit entfaltete. —r Am 30. Dezember 

1895 wurde Conradstein eröffnet. 

* Krämer war eine etwas spröde, sensitive Natur, war geneigt, alles 
schwer zu nehmen, er schloß sich schwer auf andern gegenüber. Aber 
er hatte ein goldnes Herz, vielen Sinn für Humor und konnte ausgelassen 


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Kleinere Mitteilungen. 


froh sein.'— Als im Jahre 1897 seine Gattin starb (die ihm 6 Kinder 
geschenkt hatte), fühlte er sich im Herzen vereinsamt. 1900 schritt er 
zur zweiten Ehe mit Amalie Lüning, welche er auf einer der mit mir unter¬ 
nommenen Ferienreisen kennen lernte. Auch aus dieser glücklichen Ehe 
sind noch 2 Kinder hervorgegangen. — 1906 erhielt er den Titel als Geh. 
Med. -Rat. 

Schon seit 15 Jahren litt er an der Zuckerkrankheit. Sein starker 
Körper wurde zeitweilig Herr über die Störung, das Leiden trat aber 
immer wieder hervor. Dies und die schweren Sorgen und Aufregungen 
der in seiner Anstalt ausgebrochenen Typhusepidemie fällten den starken 
Mann. — Am 29. Oktober schloß Richard Krämer im Coma diabeticum 
seine Augen für immer. — Sei dir die Erde leicht, lieber Freund! 

Siemens. 


Personalnaehrichten. 

Dr. Oskar Otter, Oberarzt in Ansbach, ist zum Direktor in Kutzen- 
berg, 

Dr. Jul. Braune, Oberarzt in Konradstein, zum Direktor daselbst 
• ernannt worden, 

Dr. Ludw. Scholz, Dir. in Kosten, ist auf seinen Antrag aus dem Provinzial¬ 
dienst ausgeschieden und nach Bremen gezogen; die 
Verwaltung der Direktorstelle ist 

Dr. Karl Freiherrn v. Blomberg, bisher in Dziekanka, übertragen wordeo. 
Dr. Karl Wickel, bisher in Obrawalde, ist Oberarzt in Dziekanka, 
Dr. Karl Christoph, bisher in Obrawalde, Oberarzt in Kosten, 

Dr. Alfr. Fickler, bisher in Kosten, Oberarzt in Obrawalde und 
Dr. Wilh. Knust in Kosten Oberarzt daselbst geworden. 

Dr. Arthur Leppmann in Berlin-Moabit und 

Dr. Rob. Sommer, Prof, in Gießen, sind zum Geh. Medizinalrat, 
Dr. Friedr. Vocke, Dir. von Eglfing, zum Medizinalrat, 

Dr. Wilh. Heüpach in Karlsruhe zum ao. Professor ernannt worden. 
Dr. Arth. Hübner in Bonn hat den Titel Professor erhalten. 

Dr. Gust. Specht, Prof, in Erlangen, ist der Verdienstorden vom 
hl. Michael 3. Kl. verliehen worden. 


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Befreiung von Kranken aus Irrenanstalten. 

Von 

Oberarzt Dr. Mönkemölier, Hildesheim. 

* 

Die Bedeutung der Befreiung von Geisteskranken aus Anstalten 
für die Anstalt selbst und die Allgemeinheit liegt auf der Hand. Sie 
kommt so gut wie ausschließlich zur praktischen Geltung bei Kranken, 
die mit den Gesetzen in Konflikt gekommen sind, oder die sonst unter 
den Begriff der Gemeingefährlichkeit fallen. Daß eine solche Hand¬ 
lung strafbar ist, erscheint dem Laien selbstverständlich. Denn sie 
gibt meist einem anerkannten Rechtbrecher die Möglichkeit, ver¬ 
brecherische Handlungen zu begehen, für die er nicht verantwortlich 
gemacht werden kann, und die er von neuem um so eher begehen wird, 
als er sieh meistens bewußt ist, daß er in der Unzurechnungfähigkeits¬ 
erklärung einen Freibrief für neue Straftaten mit sich herumträgt. 
Sowieso schon ist er gefährlicher wie geistesgesunde Verbrecher, 
als bei ihm die sittlichen Hemmungen geringer sind und seine krank¬ 
haften Impulse und Beweggründe nur zu leicht der Umsetzung in eine 
kriminelle Betätigung verfallen. 

Die bisherige Rechtsprechung mußte sich, wenn sie die Be¬ 
freiung dieser gefährlichen Elemente ahnden wollte, auf die Para¬ 
graphen des Strafgesetzbuches stützen, die für die Gefangenenbe¬ 
freiung in Geltung standen: 

§12 0. Wer einen Gefangenen aus der Gefangenenanstalt oder aus 
d**r Gewalt der bewaffneten Macht des Beamten oder desjenigen, unter 
dessen Beaufsichtigung, Begleitung oder Bewachung er sich befindet, 
vorsätzlich befreit oder ihm zur Selbstbefreiung vorsätzlich behilflich ist, 
wird mit Gefängnis bis zu 3 Jahren bestraft. Der Versuch ist strafbar. 

§ 1 21. Wer vorsätzlich einen Gefangenen, mit dessen Beauf- 
s ''-htigung oder Begleitung er beauftragt ist, entweichen läßt oder dessen 
Befreiung befördert, wird mit Gefängnis bis zu 3 Jahren bestraft. Ist 

ZeiUchrift für P*vchi»trie. LXIX. 2. H 


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Mönkemöller, 


die Entweichung durch Fahrlässigkeit befördert worden, so tritt Ge¬ 
fängnisstrafe bis zu 3 Monaten oder Geldstrafe bis zu 300 Mk. ein. 

§ 3 4 7. Ein Beamter, welcher einen Gefangenen, dessen Beauf¬ 
sichtigung, Begleitung oder Bewachung ihm anvertraut ist, vorsätzlich 
entweichen läßt oder dessen Befreiung vorsätzlich bewirkt oder befördert, 
wird mit Zuchthaus bis zu 5 Jahren bestraft. Sind mildernde Umstände 
vorhanden, so tritt Gefängnisstrafe nicht unter einem Monate ein. Ist die 
Entweichnng durch Fahrlässigkeit befördert oder erleichtert worden, 
so tritt Gefängnisstrafe bis zu 6 Monaten oder Geldstrafe bis zu 600 Mk. ein. 

Nach der allgemein gültigen Auslegung wurde bisher (vgl 
Oppenhoff x )) als „Gefangener“ jeder angesehen, der durch ein Organ 
der Staatsgewalt in Ausübung dieser Gewalt und in gesetzlich gebilligter 
Form in Haft genommen worden ist. Die Haftnahme mußte aus 
Gründen des öffentlichen Interesses erfolgt sein. Nach Oppenhoff 
(S. 301) behält ein Gefangener diese Eigenschaft auch dann, wenn er 
als solcher einer Krankenanstalt übergeben wird. 

Nicht immer ist die Befreiung von Geisteskranken bestraft worden, 
mochte es sich auch um ausgesprochen kriminelle Individuen handeln. 
Die Anschauungen der Rechtslehrer darüber, ob die auf Anordnung 
einer Behörde in einer Irrenanstalt verwahrten Personen zu den 
Gefangenen gerechnet werden sollen, sind verschieden. Dafür sprechen 
sich Olshausen, Frank, Hofmann aus, dagegen Mayer, v. Liszt, Bin - 
ding. 

Nach Mayer 2 ) sind „Personen, die auf Anordnung einer Behörde 
in einer Irrenanstalt verwahrt sind, Kranke und ebensowenig Ge¬ 
fangene wie körperliche Kranke, die infolge von behördlichen Anord¬ 
nungen in Anstalten — etwa in Isolierspitälern — untergebracht sind. 
Und wenn man an die Frage herantreten will, ob die Befreiung eines 
Kranken unter Strafe gestellt werden soll, so darf man keinesfalls 
zwischen Geisteskranken und anderen unterscheiden, sondern 
muß die Kranken, deren Befreiung eine Gefährdung der Gesellschaft 
ist, von denjenigen, die, ohne daß eine Gefahr entsteht, 
befreit werden können, scheiden. In die erstere Gruppe gehören 
durchaus nicht alle Geisteskranken, von den körperlichen Kranken 
aber die mit ansteckenden Krankheiten behafteten. So viel nun aber 

*) Oppenhoff, Deutsches Strafgesetzbuch, 13. Auflage. Berlin 1896. 
S. 303. 

*) Mayer . Die Befreiung von Gefangenen. Leipzig 1906. S. 7. 


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Befreiung von Kranken ans Irrenanstalten. 


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dafür spricht, die Befreiung eines gemeingefährlichen Kranken unter 
Strafe zu stellen, so verkehrt dünkt es mir, diese Handlung wie die 
Befreiung eines Sträflings zu bewerten. Denn in der Befreiung 
des gemeingefährlichen Kranken wird sich regelmäßig eine 
Mißachtung der Staatsgewalt nicht bekunden, niemals 
wird sie als das wesentliche Moment angesehen werden können. Viel¬ 
mehr liegt in der Befreiung eines unter Staatsaufsicht verwahrten 
Kranken die Hinderung einer Verwaltungs¬ 
tätigkeit, die, wenn der Kranke gemeingefährlich ist, straf¬ 
würdig ist. Als Verwaltungsdelikt sollte man die Befreiung 
von gemeingefährlichen Kranken in das neue Beichsrecht aufnehmen.“ 

Wenn bisher die Bestrafung der Krankenbefreiung öfters nicht 
erfolgt ist, so scheiterte das fast ausnahmlos daran, daß man die Kran¬ 
ken nicht unter den Begriff des Gefangenen bringen konnte oder wollte. 
Daß eine so gemeingefährliche Handlungsweise, die zudem fast aus¬ 
nahmlos aus den unlautersten Beweggründen erfolgt, dem allgemeinen 
Rechtsgefühl ins Gesicht schlägt, bedarf keines Beweises. Wie zer¬ 
setzend es auf die Disziplin einer Anstalt einwirken muß, wenn allen 
Prinzipien der Anstaltbehandlung entgegen gerade die gemeingefähr¬ 
lichsten Insassen der Freiheit und Selbstbestimmung wiedergegeben 
werden, während der Täter straffrei oder nur mit Disziplinarstrafen 
beschwert ausgeht, wird auch einem Laien einleuchten, der in dem 
Zwange der Irrenanstalt eine reformbedürftige Einrichtung sieht. 

Wenn wir uns in dem neuen Rechtzustande, der uns durch das 
zukünftige Strafgesetzbuch beschert wird, mit diesem Delikte 
richtig abfinden wollen, so ist es erforderlich, zu sehen, wie das Gericht 
sich jetzt in praktischen Fällen dazu stellt. 

In dieser Beziehung sind zwei Fälle lehrreich, die sich in kurzer 
Zeit hintereinander in der Heil- und Pflegeanstalt zu Hildesheim ab¬ 
gespielt haben. Die Abhängigkeit der Rechtsprechung von der sub¬ 
jektiven Auffassung des bestehenden Rechts kommt in der Ver¬ 
schiedenheit der Bestrafungen recht scharf zum Ausdrucke. Die 
Reformbedürftigkeit des bestehenden Zustandes wird dadurch sehr 
überzeugend nachgewiesen. 

Im ersten Falle befand sich auf der Abteilung des Wärters D o., der 
seit einem halben Jahre in Anstaltdiensten stand, der an Paranoia chronica 
leidende Kranke Tra. Er hatte am 13. 12. 1904 eine 3 *4 jährige Zucht- 

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Mönkemoller, 


hausstrafe angetreten, war aber im Strafvollzüge krank geworden, worauf 
er aus der Haft entlassen und als hilfbedtirftiger Geisteskranker dem 
Ortsarmenverbande der Stadt Celle überwiesen wurde. Diese veranlaßte 
seine Überführung in die Heil- und Pflegeanstalt zu Hildesheim unter 
Beobachtung der für die Aufnahme von Geisteskranken in die Heil- und 
Pflegeanstalten der Provinz Hannover geltenden Bestimmungen. 

Tra., der schon häufig schwer vorbestraft war, galt auf der Ab¬ 
teilung als einer der gefährlichsten kriminellen Kranken und hatte ver¬ 
schiedene Ausbruch versuche gemacht. Er war auf fast sämtlichen Statio¬ 
nen der Abteilung untergebracht gewesen und hatte selbst bei jeder Ge¬ 
legenheit über sein kriminelles Vorleben in der ausgiebigsten Weise ge¬ 
sprochen. D o. war von den älteren Wärtern wiederholt ausdrücklich vor 
Tra. gewarnt worden. 

Nachdem Tra. dem D o. versprochen hatte, ihm eine Uhr und Stoff 
zu einem Anzuge zu schenken und weitere „Schätze“ in Aussicht gestellt 
hatte, öffnete ihm D o. nachts die Zellentür und ließ ihn in den Hof. T r a. 
entwich über die Mauer, ging über die braunschweigische Grenze, wurde 
bald wieder bei einem Einbrüche ergriffen und macht zurzeit in Königs¬ 
lutter durch die asozialen Seiten seines Wesens seiner Umgebung das 
Leben sauer. 

Gegen Do. wurde Strafantrag wegen Gefangenenbefreiung ent¬ 
sprechend § 347 eventuell § 121 StGB, gestellt. 

In der Strafkammersitzung am 4. 2. 1910 wurde er freigesprochen. 
In der Urteilsbegründung heißt es u. a.: 

„Der Angeklagte gibt zu, er habe den Tra. vorsätzlich aus der 
Anstalt entkommen lassen, weil er ihm leid getan habe. Hierdurch hat 
sich der Angeklagte einer strafbaren Handlung nicht schuldig gemacht. 
Der Angeklagte war kein Beamter im Sinne des StGB. Es waren ihm 
nur Dienstleistungen eines einfachen Kranken¬ 
wärters zugewiesen, Pflege und Beaufsichtigung kranker Personen, 
Funktionen, die den Charakter einer öffentlichen Amtstätigkeit nicht tragen. 
Es kommt hinzu, daß der Angeklagte nicht beeidigt war, die beiderseitige 
Kündigung jederzeit erfolgen konnte, ihm auch kein Pensionsanspruch 
zustand, Momente, die dafür sprechen, daß der Angeklagte als Beamter 
auch gar nicht angestellt werden sollte, sondern daß es sich um ein lediglich 
privates Dienstverhältnis handelt. Ein Verbrechen oder 
Vergehen im Amte kommt somit nicht in Frage. 

Es kann aber auch keine Bestrafung aus § 121 erfolgen, da ein¬ 
mal Tra. kein Gefangener war. Dadurch, daß durch Ver¬ 
fügung der zuständigen Behörde die Strafhaft des Tra. unterbrochen 
wurde, war letzterer an sich ein freier Mann. Ein Ge¬ 
fangener wäre er weiterhin nur dann gewesen, wenn ein zuständiges 
staatliches Organ in formell gesetzlicher Weise die 
weitere Beschränkung der persönlichen Freiheit des Tra. durch Unter- 


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Befreiung von Kranken aus Irrenanstalten. 


157 


bringung in die Heil- und Pflegeanstalt angeordnet hätte. Dies ist aber 
nicht geschehen. Die Stadt Celle hat den T r a. als A r m e n behandelt 
und ihn als solchen durch ein formloses Ersuchen in der Anstalt 
untergebracht. (In der Voruntersuchung war beim Magistrat von Celle 
angefragt worden, ob bei der Aufnahme ein förmlicher Beschluß 
des Magistrats erfolgt sei, was natürlich verneint wurde.) 

Aber selbst angenommen, T r a. wäre ein Gefangener im Sinne des 
5 121 gewesen, so kann doch in subjektiver Hinsicht der Angeklagte nicht 
schuldig befunden werden, da dessen Behauptung nicht widerlegt ist, er 
habe nicht gewußt, daß T r a. nicht allein als Geisteskranker, sondern als 
Gefangener in der Anstalt sei. Wie der Zeuge Dr. Mo. bekundet, wird es 
den Wärtern nicht mitgeteilt, wenn essich um Ver¬ 
brecher handelt, und ist insbesondere dem Angeklagten von 
der Anstaltleitung nichts bekannt gegeben, wonach 
er den T r a. als „Gefangenen“ anzusehen hätte. 

Die Staatsanwaltschaft legte Berufung ein. Auch das Landesdirek¬ 
torium brachte seine Ansicht nachdrücklich zum Ausdrucke, daß Ge¬ 
fangenenbefreiung vorliege. 

Die Berufung wurde nicht aufrecht erhalten, weil nach der Ansicht 
des Staatsanwaltes das Urteil zutreffend begründet erschien. Durch diese 
Entscheidung werde ein Präzedenzfall nicht geschaffen werden, da das 
Urteil keinen Zweifel darüber lasse, daß die Fälle mit Strafe bedroht seien, 
in denen eine Person von einem Organe der Staats¬ 
gewalt im Gebrauche der persönlichen Freiheit 
durch Unterbringung in einer Anstalt beschränkt 
und somit „G efangener“ sei, und dem Wärter dieser 
Sachverhalt bekannt sei. 

Im vorliegenden Falle handele es sich lediglich um Unterbringung 
eines kranken, daher hilfbedürftigen Armen. Einer Pflichtvernach¬ 
lässigung der Wärter könne dadurch entgegengetreten werden, daß ihnen 
bei Unterbringung von „Gefangenen“ in den Anstalten von dieser Eigen¬ 
schaft Kenntnis gegeben werde.“ 

Diese Anregung ist den Anstalten der Provinz nicht zur Kenntnis 
gebracht worden. In dieser Form hätte sie auch schwerlich in die 
Praxis umgesetzt werden können. Tatsächlich kann der Ausdruck 
..Gefangene“ auch bei den kriminellen Geisteskranken so gut wie nie 
angewandt werden. Werden sie doch fast ausnahmlos bei der Über¬ 
führung in die Anstalt aus der Haft entlassen, schon um dem Justiz¬ 
fiskus unnötige Kosten zu ersparen. Wenn die Befreiung unter den 
§ 121 fallen soll, so kann der Ausdruck Gefangener nur in sinn¬ 
gemäßer Übertragung auf die vorliegenden Verhältnisse 
gebraucht werden. Im übrigen hat es unbestritten seine schweren 


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Mönkemöller, 


Bedenken, solche Kranken dem Wartpersonal als „Verbrecher“ oder 
gar als „Gefangener“ zu bezeichnen, auch wenn man die Gemein¬ 
gefährlichkeit noch so sehr in den Vordergrund zu stellen geneigt ist. 
Bei der bekannten Beizbarkeit solcher asozialen Elemente kommt es 
ja nur zu leicht zu Explosionen, wenn das Wartpersonal einmal verrät, 
daß es über das kriminelle Vorleben orientiert ist, mögen auch die 
Kranken selbst aus dieser Tatsache in der Unterhaltung gar kein Hehl 
machen. Auf der andern Seite ist nur zu sehr zu befürchten, daß 
das Personal dann zweierlei Kranke unterscheidet, und daß es sich 
versucht fühlt, die Grundsätze, die bei der Behandlung in Straf¬ 
anstalten nötig sind, in die Krankenbehandlung einzuschleppen. 

In psychiatrischer Beziehung konnte das Urteil nicht befriedigen. 
Über die juristische Tragweite darf ich mir selbstverständlich kein 
Urteil erlauben und muß in dieser Beziehung auch für die Folge 
betonen, daß die ganzen Darlegungen in keiner Weise ein Eindringen 
in ein unzugängliches Gebiet bedeuten, sondern nur die praktische 
Bedeutung klarlegen sollen, die diese Frage für den Psychiater hat. 

Die Urteilsbegründung stellt an und für sich die Befreiung von 
solchen „Gefangenen“ als strafbar hin. 

Erlangte aber die Art und Weise, in der das Kechtsprinzip auf die 
praktischen Verhältnisse zugeschnitten wurde, allgemeine Geltung, 
dann würde diese Strafbestimmung kaum einmal in die Tat umgesetzt 
werden können. 

Daß der Wärter nicht als Beamter angesehen wurde, und daß 
deshalb die schwereren Strafbestimmungen des § 347 nicht zur An¬ 
wendung gelangten, war bei Lage der Sache nicht anders zu erwarten. 
Immerhin geht aus dem Urteile nicht gerade hervor, daß man die 
verantwortungvolle Stellung des Irrenwärters, dessen Handlungsweise 
doch unter allen Umständen als viel strafbarer erscheinen muß wie die 
einer beliebigen anderen Person, in ihrem vollen Umfange gewürdigt 
hätte. Auch wenn man zugeben muß, daß ihm nicht die Qualität 
als Beamter zukam, wird man die Bezeichnung seiner Tätigkeit als 
ein lediglich privates Dienstverhältnis nicht gerade als einen 
glücklich gewählten Ausdruck bezeichnen können. 

Die Anschauung, daß Gefangene, die wegen Geisteskrankheit 
aus der Strafe ausscheiden und an und für sich freie Männer sein 
sollen, stellt sich nur als ein sehr theoretisches Schemen dar. Tat- 


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Befreiung von Kranken ans Irrenanstalten. 


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sächlich erfolgt ein solches Ausscheiden stets nur unter den sorgfältig¬ 
sten Kautelen, und wenn der kranke Gefangene in ein neues Regime 
übeigeführt wird, so trägt dies so gut wie stets alle Kriterien einer Auf¬ 
bewahrungsform an sich, die ihn jeder freien Selbstbestimmung entzieht, 
nur daß das juristische Moment der Strafe ausscheidet und dafür das 
ärztliche der Bewachung und Pflege eintritt. 

Das Urteil sagt ja dann auch selbst, daß Tra. ein Gefangener 
dann gewesen wäre, wenn ein zuständiges staatliches 
Organ in formell gesetzlicher Weise die weitere Be¬ 
schränkung der persönlichen Freiheit durch Unterbringung in einer 
Heil- und Pflegeanstalt angeordnet hätte. Tatsächlich war er unter 
Innehaltung des formalen Aufnahmeverfahrens aufgenommen worden, 
wie es sich nach § 12 ff. des Reglements betr. die Aufnahme von 
Geisteskranken in die Provinzialirrenanstalten vom 24. April 1877, 
das staatlich anerkannt worden ist, ergibt. Wohl in keinem anderen 
Aufnahmebezirke wird ein im wesentlichen umständlicheres Verfahren 
in Geltung stehen. Wenn das Urteil das „staatliche Organ“ und die 
..formell gesetzlich gebilligte Weise“ des Aufnahmeverfahrens ver¬ 
mißte, weil kein förmlicher Beschluß des Magistrats vorlag und in dem 
regelrechten Aufnahmeantrag des Magistrats nur ein formloses 
Ersuchen sah, so wird man in diesen Ansprüchen an das Ver¬ 
fahren eine auf die Spitze getriebene Theorie sehen, die sich mit den 
Forderungen der praktischen Wirklichkeit nie ins Einvernehmen 
bringen lassen wird. 

Ebensowenig aber kann man das volle Verständnis für die prakti¬ 
schen Verhältnisse einer Irrenanstalt in der Forderung erblicken, 
daß es dem einzelnen Wärter von der Anstaltdirektion bekannt ge¬ 
geben werden soll, daß er einen Kranken als „Gefangenen“ anzusehen 
habe. 

Im vorliegenden Falle war die kriminelle Qualität des Tra. den 
meisten anderen Kranken und allen übrigen Wärtern so bekannt, 
daß D o. an den schwersten Formen geistiger Schwäche gelitten haben 
müßte, wenn er sich dieser Wahrnehmung hätte entziehen können. 
Zum Überflüsse war D o. von seinem Stationswärter und anderen 
Kollegen gewarnt und in geeigneter Weise auf die Gefährlichkeit 
des T r a. aufmerksam gemacht worden. Als Zeugen sind sie in dieser 
Sache nicht vernommen worden. 


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Mönkemöller, 


Das Gesetz von der Duplizität der Fälle bewährte sich schon nach 
kurzer Zeit. 

Der Wärter T ü., der seit April 1911 im Anstaltdienste stand, hatte 
auf seiner Station die Kranken R u. und B a y. Ru. war auf Antrag des 
Königl. Landratsamtes Hannover als sehr gefährlicher Geisteskranker 
eingeliefert worden. Er hatte im epileptischen Dämmerzustände einen 
Totschlag begangen. Ein gerichtliches Verfahren wurde gegen ihn wegen 
seiner notorischen Geisteskrankheit nicht eingeleitet. 

Die Aufnahme B a y.s war auf Antrag des Magistrats Hannover 
am 7. 4. 1911 erfolgt. Ein Verfahren wegen Zuhälterei, schwerer Kuppelei 
und Anstiftung zum Diebstahl war auf Grund des § 51 eingestellt worden. 
Er hatte 10 Tage Gefängnis, zu denen er wegen Körperverletzung ver¬ 
urteilt worden war, noch nicht abgemacht. In seinen Personalakten 
beim Königl. Polizeipräsidium in Hannover wurde er als ganz gemein¬ 
gefährlicher und äußerst raffinierter Verbrecher bezeichnet. 

Vom Stationswärter war T ü. mehrere Male ausdrücklich auf diese 
Kranken aufmerksam gemacht und angewiesen worden, auf sie besonders 
zu achten, da R u. draußen einen Totschlag begangen und B a y. schon 
einmal einen Fluchtversuch unternommen habe. B a y. hatte ihm, wie 
er in seiner ersten Vernehmung angab, mitgeteilt, daß er schon mit den 
Gesetzen in Konflikt geraten sei, nahm diese Behauptung aber in der 
Hauptverhandlung zurück, um den T ü., wie er später selber zugab, nicht 
noch weiter hineinzureißen. 

B a v. hatte T ü. während des Gartendienstes bearbeitet, ihn aus der 
Anstalt herauszulassen, und ihm versprochen, er w'olle das auch „gleich 
machen“. In der Nacht vom 8. zum 9. Juni 1911 weckte T ü. den Bay 
nachts, um ihn herauszulassen. R u. wurde bei dieser Gelegenheit geweckt 
und erklärte, er wolle auch heraus: worauf T ü. auch ihm die Kleider gab. 
Er ließ sie beide in den Garten, kletterte mit ihnen über die Mauer und gab 
ihnen beim Abschiede Geld. Die Kranken wurden in den nächsten Tagen 
wieder aufgegriffen. T ü. w-urde aus dem Dienste entlassen. 

14 Tage später wurde ein Kuvert im Anstaltgarten aufgefunden mit 
der Aufschrift: „Komme heute wieder, wache nur, es ging mal nicht.“ 
Da man annahm, daß T ü. Bay. befreien wolle, würde ihm ein Hinter¬ 
halt gelegt. In der Nacht überkletterte T ü. die Mauer, drang vermittelst 
eines Nachschlüssels in die Abteilung ein, in der B a y. schlief, und wurde 
hier ergriffen und der Polizei übergeben. In seiner Tasche fand man ein 
geöffnetes Messer. 

In dem Strafantrage, der gegen T ü. gestellt wurde, war u. a. darauf 
hingewiesen worden, daß die Stellung solcher Kranken durch den Erlaß 
der Minister des Innern, der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalange¬ 
legenheiten vom 15. 7. 1901 über die Entlassung gemeingefährlicher 
Geisteskranker sehr wesentlich beeinflußt werde. Auch wurde auf die 
Entscheidung des I. Strafsenats des Reichgerichts vom 5. 12. 1910 Bezug 


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Befreiung von Kranken aus Irrenanstalten. 


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genommen, nach dem in einem ähnlichen Falle ein Wärter wegen vor¬ 
sätzlicher Gefangenenbefreiung mit einem Monat Gefängnis verurteilt 
worden war. 

Von der I. Strafkammer des Landgerichts in Hildesheim am 19. 9. 
1911 wurde T ü. wegen Gefangenenbefreiung in einem Falle sowie wegen 
versuchter Gefangenenbefreiung in einheitlichem Zusammentreffen mit 
qualifiziertem Hausfriedensbruch sowie wegen einfachen Hausfriedens¬ 
bruchs zu einer Strafe von einem Jahre und zwei Monaten Gefängnis 
kostenfällig verurteilt. Sechs Wochen Untersuchungshaft wurden an- 
gerechnet. 

Aus der Urteilsbegründung ist hervorzuheben: 

„Die Handlungsweise des Angeklagten enthält»die Tatbestandsmerk - 
rnale des § 121 StGB. Der Hofbesitzer Ru. ist im Jahre 1905 auf Er¬ 
suchen des Landrats am i8. 9. 1905 wegen seiner gemeingefährlichen 
Geisteskrankheit in die hiesige Anstalt aufgenommen, später wieder ent¬ 
lassen, und nachdem er im Jahre 1906 einen Totschlag ausgeführt hatte, 
abermals auf Ersuchen des Landrats am 29. 10. 1906 in die Anstalt als 
gemeingefährlicher Irrer aufgenommen. 

B a y. ist auf Ersuchen des Magistrats der Stadt Hannover vom 
29. März 1911 gleichfalls als ein wegen seiner Geisteskrankheit und seiner 
verbrecherischen Neigungen gemeingefährlicher Irrer in die hiesige An¬ 
stalt aufgenommen. Laut Anordnung des Königl. Polizeipräsidiums 
in Hannover darf B a y. ohne Einverständnis der Polizei nicht entlassen 
werden. 

Den beiden Kranken ist somit durch ein hierzu befugtes 
Organ der Staatsgewalt die persönliche Freiheit entzogen wurden, 
und zwar sowohl aus Gründen des öffentlichen Inter¬ 
esses als auch in formell gesetzlich gebilligter Weise. 
Ferner befanden sich die Kranken während der Dauer der Freiheitent¬ 
ziehung in der Gewalt der zuständigen Behörde. Die 
Anstalt darf sie nicht entlassen vor Mitteilung 
an die Polizeibehörde des Aufenthaltortes, damit 
diese sie eventuell bei der Entlassung sofort in Empfang nimmt. Sie sind 
daher alsGefangeneimSinnedes §121 StGB, anzusehen. 

Nach den Aussagen des Wärters S t r u. war dem Angeklagten 
gesagt worden, daß R u. einen Totschlag begangen habe, freigesprochen 
sei und deshalb interniert werde. Es kann deshalb keinem Zweifel unter¬ 
liegen, daß der Angeklagte von vornherein gewußt hat, daß Ru. als ge¬ 
meingefährlicher Kranker auf polizeiliche Anordnung in der Anstalt unter- 
gebracht war. Dagegen konnte nicht festgestellt werden, daß der An¬ 
geklagte, als er den B a y. in der Nacht vom 8. auf den 9. Juni d. J. aus 
der Anstalt herausließ, gewußt hat, daß B a y. als gemeingefährlicher 
Irrer aufpolizeilicheAnordnungin der Anstalt untergebracht 
war. Es kann dies nicht schon daraus gefolgert wurden, daß dem Ange- 


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Mönkemöller, 


klagten gesagt war, Bay. habe schon einmal einen Flucht¬ 
versuch gemacht. Der Zeuge Bay. bekundet aber, er habe dem 
Angeklagten erst dann angedeutet, weshalb und wie er in die Anstalt 
gekommen sei, als sich der Angeklagte von R u. und ihm nach ihrer Frei¬ 
lassung aus der Anstalt getrennt habe. 

Von diesem Tage ab, mithin schon am 19. Juli, wie auch schon in¬ 
folge seiner Vernehmung vor dem Oberarzte Mo., die alsbald nach dem 
Vorfall in der Nacht vom 8. zum 9. Juli stattfand, und bei der Mö. ihm 
sagte, daß Bay. polizeilich festgehalten werde, wußte der Angeklagte, 
weshalb Bay. sich in den Anstalt befand, und daß er ebenso wie R u. nur 
mit polizeilicher Genehmigung aus der Anstalt entlassen werden durfte. 

Somit wird auch die Begründung des Angeklagten, -er habe es nicht 
mit ansehen können, daß ein so gesunder Mensch wie B a y. in der Anstalt 
sitze, was die Vorfälle in der Nacht vom 19. zum 20. und vom 20. zum 
21. anlangt, hinfällig. Außerdem wußte der Angeklagte ganz genau, daß 
nur die Anstaltleitung, nicht aber die Wärter darüber zu befinden haben, 
ob ein Mensch als geistig gesund anzusehen und daher zu entlassen ist 
oder nicht. Daß der Angeklagte mit der Beaufsichtigung der Freigelassenen 
beauftragt war, liegt schon in seiner Stellung als Wärter begründet. Da 
aber dem Angeklagten in der Nacht vom 8. zum 9. Juli nur hinsichtlich 
des R u. die Kenntnis von dessen Eigenschaft als Gefangener im Sinne 
des Strafgesetzbuches nachzuweisen ist, nicht dagegen hinsichtlich des 
Bay., so war der Angeklagte wegen vollendeter Gefangenenbefreiung 
nach § 121 StGB, auch nur bezüglich des R u. zu bestrafen. 

Die nachfolgenden Ausführungen der Urteilsbegründung, die sich 
auf die versuchte Gefangenenbefreiung und den Hausfriedensbruch be¬ 
ziehen, haben kein allgemeines Interesse. Zu bemerken ist nur der Passus, 
daß unter Gefangenenanstalt im Sinne des § 121 StGB, jede 
Anstalt zu verstehen ist, in der Gefangene untergebracht werden, also 
auch eine Heil- und Pflegeanstalt. 

Bei der Strafzumessung fiel strafmildernd ins Gewicht, daß der 
Angeklagte noch nicht vorbestraft war, verschärfend dagegen die Inten- 
sivität seines verbrecherischen Willens und die Gefahr, die in¬ 
folge seiner Handlung der Allgemeinheit drohte, 
insbesondere in dem Falle R u. 

Die ganze Formulierung des Urteils und die hohe Bemessung der 
Strafe lassen erkennen, in wie höherem Maße das Gericht die Gemein- 
gefährlichkeit dieses Deliktes einschätzte. In praktischer Beziehung 
ist das Urteil insofern bemerkenswert, als es sich die Begründung der 
Eigenart der Stellung der kriminellen Geisteskranken in der Anstalt¬ 
behandlung durch die Ministerialverfügung über die verbrecherischen 
Geisteskranken zu eigen macht. 


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Befreiung von Kranken aus Irrenanstalren. 


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Trotz der ausgesprochenen Neigung der Strafkammer, die Gemein¬ 
gefährlichkeit des Vergehens entsprechend zu sühnen, wäre der Täter 
beinahe straflos ausgegangen. Die schwere Bestrafung wegen der 
vollendeten Gefangenenbefreiung erfolgte nur deshalb, weil der Kranke 
R u., dessen Befreiung ursprünglich nicht geplant war, die Gelegenheit 
zur Entweichung mit ausgenutzt hatte. Obgleich dem Wärter zweifel¬ 
los bekannt war, daß er es mit einem kriminellen Kranken zu tun hatte, 
war der Nachweis dafür schwer zu führen, solange man darauf bestand, 
daß ihm anstaltseitig, wenn auch nur durch die Mitteilung eines 
anderen Wärters, diese Eröffnung gemacht worden war. Da die Judi¬ 
katur am Hildesheimer Landgerichte wahrscheinlich für absehbare 
Zeit auf dieser Mitteilung bestehen wird, haben wir uns entschlossen, 
trotz aller Bedenken, die gegen eine zu ausgesprochene Hervorhebung 
des kriminellen Charakters der Pfleglinge sprechen, eine Zusammen¬ 
stellung aller der Kranken zu machen, bei denen bei einer eventuellen 
Befreiung die Bestrafung des schuldigen Wärters durch eine Betonung 
dieses Momentes herbeigeführt werden müßte. Alle Wärter müssen 
durch Unterschrift davon Kenntnis nehmen, daß diese Kranken 
infolge ihrer Krankheit mit den Gesetzen in Konflikt gekommen, 
daß sie als gemeingefährlich anzusetzen sind, und daß unter den Grün¬ 
den, die ihre Anstaltbedürftigkeit bedingen, unter anderem auch 
die Rücksicht auf die öffentliche Sicherheit mitspricht. Daß das 
als ein idealer Ausweg anzusehen ist, wird wohl niemand behaupten. 

Die Voraussetzungen, die für die subjektive Strafbarkeit des 
Täters sprechen, werden wesentlich leichter gefaßt in der Begründung 
der oben angeführten reichsgerichtlichen Entschei¬ 
dung, die für die künftige Rechtsprechung von großer Tragweite 
ist. wenigstens solange das jetzige Strafgesetzbuch noch in Kraft 
steht. 

Der auf Anordnung der Polizeibehörde zu Wiesbaden als gemein¬ 
gefährlicher Geisteskranker in der Landesheilanstalt untergebrachte 
Chemiker G. begegnete auf einem unter Aufsicht des Wärters K i. unter¬ 
nommenen Spaziergange einer ihm bekannten Wäscherin K., und beide 
beschlossen zu fliehen. Nach kurzem Widerstande gab der Pfleger nach 
und begab sich mit den beiden zunächst nach Frankfurt a. M. und dann 
nach Mainz. Daraufhin wurde K i. wegen vorsätzlicher Gefangenen¬ 
befreiung vom Landgerichte Wiesbaden zu einem Monat Gefängnis ver¬ 
urteilt, da G. ab Gefangener anzusehen sei. Der Einwand des K i., er 


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Mönkemöller, 


habe nicht gewußt, daß G. als gemeingefährlicher Geisteskranker auf 
polizeiliche Anordnung in der Anstalt untergebracht sei, erachtete das 
Gericht für unzulänglich, da er, wenn er vielleicht auch keine direkte 
Kenntnis davon habe, doch infolge der warnenden Äuße¬ 
rungen der Ärzte, den Kranken auf das schärfste 
zu bewachen, mit der naheliegenden Möglichkeit 
hätte rechnen müssen. 

Der 1. Strafsenat des Reichsgerichts verwarf am 5. 12. 1910 die ein¬ 
gelegte Revision. In der Begründung des Urteils (K. I. 884/10) x ) heißt es: 

Nach der ständigen Rechtsprechung des Reichsgerichts sind unter 
„Gefangenen“ im Sinne der §§ 120, 121 StGB, alle diejenigen Personen 
zu verstehen, denen in gesetzlich gebilligter Form aus 
Gründen des öffentlichen Wohles d i e p e r s ö n 1 i c h e 
Freiheit entzogen ist, und die sich zufolge dieser 
Freiheitentziehung in der Gewalt der zuständi¬ 
gen Behörde befinden (vgl. Entsch. in Strafs. Bd. 12, S. 162, 
Bd. 37, S. 366, Bd. 39, S. 7, 189). Daß hierzu auch solche gemein - 
gefährliche Geisteskranke gehören, die von der Polizeibehörde 
im öffentlichen Nutzen in einer Irrenanstalt untergebracht 
worden sind, hat z. B. das Preußische Obertribunal in dem Urteile vom 
30. November 1877 (Oppenhoff. Rechtsp. des Ob.-Trib. Bd. 18 S. 755) 
und für Baden der erkennende Senat in dem Urteile vom 5. Oktober 1908 
1 D 507/08 anerkannt. Das in Goltds Arch. Bd. 50 S. 104 abgedruckte 
Urteil des III. Strafsenats vom 9. Oktober 1902 D 3077/02 steht nicht 
entgegen. In dem ihm zugrunde liegenden Falle war überhaupt nicht 
festgestellt, wer die Unterbringung in die Irrenanstalt 
an geordnet hatte. Hier dagegen hat das Gericht für erwiesen 
erachtet, daß G. von der Polizeidirektion in Wiesbaden als 
gemeingefährlicher Geisteskranker in der Landesirrenanstalt Eichberg 
untergebracht worden war. daß diese polizeilich Festgehaltenen anfäng¬ 
lich in einer besonderen Abteilung üntergebracht 
werden, und daß den Wärtern bezüglich ihrer die 
Dienstvorschrift ganz besonders ein geschärft zu 
werden pflegt. Die Befugnis der Polizeibehörde, einem gemein¬ 
gefährlichen Geisteskranken die Freiheit zu entziehen, ergibt sich aus 
§ 127 der für die neuen Landesteile erlassenen Strafprozeßordnung vom 
5. Juni 1867 (Gesetzsamml. S. 933), der dem § 6 des preuß. Gesetzes zum 
Schutze der persönlichen Freiheit vom 12. Februar 1850 (Gesetzsamml. 
S. 45) entspricht. 

Danach durfte die Polizeidirektion den G. in polizeiliche Verwahrung 
nehmen und ihn der zuständigen Behörde, der Landesirrenanstalt, über¬ 
weisen. Ob sie sich ausdrücklich das Recht Vorbehalten 

l ) Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen. Bd. 44, 2. Heft, 
S. 171. 


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Befreiung von Kranken ans Irrenanstalten. 


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hat, über ihn zu verfügen, ist unerheblich. Denn er 
blieb während seines Aufenthalts in der Anstalt auch ohnedies in der 
Gewalt der Polizei. Durch den Ministerialerlaß vom 15. Juni 1901 (Min.- 
Bl. f. die innere Verw. S. 197) sind die öffentlichen Irrenanstalten an¬ 
gewiesen, nicht nur diejenigen auf Veranlassung der Polizeibehörde auf¬ 
genommenen Geisteskranken, bei denen die Polizeibehörde ausdrücklich 
das Ersuchen um Mitteilung von der beabsichtigten Entlassung gestellt 
hat, sondern auch sonstige nach Ansicht des An¬ 
staltleiters gefährliche Geisteskranke nicht zu 
entlassen, bevor der Polizeibehörde Gelegenheit 
zur Äußerung gegeben ist. Auch wenn die Polizei¬ 
direktion in Wiesbaden das ausdrückliche Er¬ 
suchen um Mitteilung nicht gestellt haben sollte, konnte 
sie immer darauf rechnen, daß G. ohne ihr Mitwissen nicht entlassen 
werden würde. Sie war daher in der Lage, gegebenenfalls ihn 
wieder in polizeiliche Verwahrung zu nehmen. So¬ 
mit kann dahingestellt bleiben, ob zu der Annahme, daß G. ein Gefangener 
gewesen sei. nicht genügte, daß er in der Gewalt der öffentlichen Irren¬ 
anstalt, als der durch die polizeiliche Überweisung zuständig gewordenen 
Behörde, war. 

Zunächst ist die Einleitung der Begründung bemerkenswert: 
sie betont, daß die Rechtsprechung in der Auslegung des Begriffes 
..Gefangener“ ständig gewesen sei, und setzt eine Auslegung für 
die Unterordnung der gemeingefährlichen Geisteskranken unter diesen 
Begriff fest. 

Soweit diese auf Geisteskranke ausgedehnt wird, erfaßt sie wieder 
nur solche gemeingefährliche Geisteskranke, die von der 
Polizei im öffentlichen Nutzen eingeliefert werden, 
macht also die Strafbarkeit ihrer Befreiung wieder von ihrer Gemein - 
gefährlichkeit und der Art der einliefernden Behörde abhängig. 

Die zur Erfüllung des Begriffes „Gefangener“ erforderliche Be¬ 
dingung, daß der Kranke in der Gewalt der zuständigen Behörde 
bleiben soll, wird als erfüllt angesehen, wenn die Voraussetzungen des 
Ministerialerlasses vom 15. Juni 1901 über die Entlassung gemein¬ 
gefährlicher Geisteskranker vorliegen. Ausdrücklich wird die Er¬ 
schwerung hervorgehoben, die für die Entlassung solcher Geistes¬ 
kranken gilt, die nach Ansicht des Anstaltleiters ge¬ 
meingefährlich sind. Dadurch wird mit dem Grundsätze gebrochen, 
daß eine strafbare Handlung vorliegen muß, die zum Einschreiten 
der polizeilichen und gerichtlichen Behörden geführt hat. Es braucht 


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Mönkemöller, 


überhaupt noch kein Akt der Gemeingefährlichkeit vorgefallen zu sein, 
wofern nur nach dem ganzen Charakter der Krankheit und dem Ver¬ 
halten des Kranken in der Anstalt befürchtet werden muß, daß ein 
solcher jederzeit eintreten kann. Der Nachweis der subjektiven 
Verschuldung des Wärters wurde dadurch als erbracht angesehen, 
daß hier die polizeilich festgehaltenen in einer besonderen Abteilung 
untergebracht wurden, und daß den Wärtern bezüglich ihrer die Dienst¬ 
vorschrift ganz besonders eingeschärft zu werden pflegte. 

Das Landgericht hatte sogar bei dem Täter diese Schuld noch als 
vorliegend angesehen, auch wenn er keine direkte Kenntnis gehabt 
habe,daerinfolgederwarnendenÄußerungen derÄrzte, 
den Kranken auf das schärfste zu bewachen, mit der nahelie¬ 
genden Möglichkeit hätte rechnen müssen. 

Trotz der steigenden Geneigtheit der Gerichte, den Begriff des 
Gefangenen auch auf gemeingefährliche Geisteskranke zu übertragen, 
wird das recht häufig die Klippe sein, an der eine Bestrafung des Täters 
aus § 120 und 121 scheitert. Außerdem bleiben auch die „Organe 
der Staatsgewalt“ und die „gesetzlich gebilligte Form“ Begriffe, von 
deren weiterer oder engerer Auslegung die Möglichkeit der Verurteilung 
abhängt. 

Wie sehr es auch hierauf ankommt, beweist die oben angeführte 
Entscheidung des IIL Strafsenats des Beichsgerichts vom 19. Oktober 
1902 *). Die Begründung erörtert ebenfalls ausgiebig die Frage, in¬ 
wiefern ein in einer öffentlichen Irrenanstalt Untergebrachter, 
trotzdem gegen ihn die Strafvollstreckung während dieser Unter¬ 
bringung unterbrochen ist, dennoch als „Gefangener“ angesehen 
werden darf. 

Nach den von dem Vorderrichter getroffenen Feststellungen wurde 
Sch. nach Antritt der ihm im Jahre 1898 zuerkannten dreizehnjährigen 
Zuchthausstrafe am 4. November 1901 aus der Strafanstalt in F. auf 
Veranlassung des dortigen Anstaltarztes unter einstweiliger 
Gewährung von Strafunterbrechung als Geisteskranker 
nach F. der H.sehen staatlichen Irrenanstalt verbracht. 

Hieraus folgt ohne weiteres, daß Sch. während der Zeit seines 
Aufenthaltes in F., in welche die Begünstigung seiner Flucht durch Max 
M. fällt, nicht mehr Strafgefangener war, und kann hierzu auch 

*) Goldammer, Archiv für Strafrecht und Strafprozeß. 50. Band. 
S. 104. 


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Befreiung von Kranken aus Irrenanstalten, 


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der Umstand nichts ändern, daß Sch. in Fr. in dersog. Zellen¬ 
abteilung, in der sich hauptsächlich die aus der 
Untersuchunghaft oder Strafhaft der Irrenanstalt 
überwiesenen Personen befinden, untergebracht 
und hier einer besonders aufmerksamen Bewah- 
chung und Beaufsichtigung durch das Wärter¬ 
personal unterstellt war. 

Der Umstand, daß Sch. während seiner Internierung in Fr. auf- 
gehört hatte. Straf gefangener zu sein, schließt nun allerdings nicht 
mit unbedingter rechtlicher Notwendigkeit aus, 
daß er gleichwohl auch in dieser Zeit ein Gefange¬ 
ne r w a r, da unter einem solchen im Sinne der §§ 120 u. ff. StGB, jeder 
zu verstehen ist, welchem durch ein Organ der Staatsgewalt in formell 
gesetzlich gebilligter Weise aus Gründen des öffentlichen Interesses die 
persönliche Freiheit entzogen wurde, und welcher sich infolge dessen 
während der Dauer der Freiheitentziehung in der Gewalt der zuständigen 
Behörde befindet. 

Das erste Urteil läßt aber in dieser Hinsicht jegliche nähere Fest¬ 
stellung vermissen, wer die Unterbringung des Sch. als Geisteskranken 
in der Irrenanstalt angeordnet hat, ob diese namentlich durch eine staat¬ 
liche Behörde geschah, ob dieselbe zu einer derartigen Anordnung gesetz¬ 
lich zuständig war, ob die Anordnung aus Gründen des öffentlichen Inter¬ 
esses geschah, und Sch. auch während seiner Detention in der Gewalt 
der dieselbe anordnenden Behörde verblieb. Das vorige Urteil spricht 
auch hier nur ganz im allgemeinen davon, daß Sch. zur Zeit seiner Flucht 
aus Fr. auf Anordnung der zuständigen Behörde sich dortselbst befand 
und aus Gründen des öffentlichen Interesses als Geisteskranker und g e - 
meingefährlicher Verbrecher hier seiner persönlichen Frei¬ 
heit beraubt war. Irgendeine nähere Begründung hat auch diese erst- 
richterliche Annahme nicht gefunden, und es bleibt insbesondere völlig un¬ 
aufgeklärt, welche Behörde der Vorderrichter im Auge hatte, die Straf¬ 
vollstreckungbehörde, welche infolge der gewährten Strafunterbrechung 
mit dem einstweilen aus der Strafhaft entlassenen Sch. zunächst nicht 
weiter befaßt war, den Gefängnisarzt, welcher ersichtlich nur die Über¬ 
führung des Sch. aus der Strafanstalt in die Irrenanstalt anregte, aber 
nicht anordnete und füglich auch nicht anordnen konnte, die Polizei¬ 
behörde oder irgendeine andere Behörde. 

Bei der Mangelhaftigkeit der in der fraglichen Hinsicht getroffenen 
erstrichterlichen Feststellung ist deshalb auch für jede Nachprüfung des 
Revisionsgerichts ausgeschlossen, ob die Annahme des Vorderrichters, 
daß Sch. auch während der Zeit seines Aufenthalts in der Irrenanstalt 
noch Gefangener war, allenthalben frei von Rechtsirrtum ist. 

Die Verurteilung des Täters scheiterte allerdings in diesem Falle 
nur an formalen Gründen, und der Fehler, den die erste Instanz mit 


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Mönkemöller, 


dem Unterlassen dieser Begründung begangen hatte, läßt sich leicht 
vermeiden, wenn schon bei der Stellung des Strafantrages die Sachlage 
geklärt wird. Immerhin beweist auch dieses Urteil, daß der Täter 
trotz der offenbarsten subjektiven Verschuldung straffrei ausgehen 
kann. 

Die Auffassung, daß eine von der zuständigen Behörde einer 
Irrenanstalt übergebene geisteskranke Person im Sinne des StGB. 
Gefangener sei, wurde übrigens von der obersten rechtsprechenden 
Behörde auch für Privatanstalten anerkannt*). 

Zweifellos reicht die jetzige Gesetzgebung und ihre richterliche 
Auslegung aus, um die schwierigsten Fälle zu belangen. 

Die Praxis scheint sich jetzt auch entschieden mehr an diese Aus¬ 
legung zu halten. So wurde noch vor kurzem ein Pfleger der Irren¬ 
anstalt Herzberge zu 2 Monaten Gefängnis verurteilt, der einem vom 
Polizeipräsidium Berlin in sicherheitpolizeilichem Interesse der An¬ 
stalt überwiesenen Geisteskranken Ausbruchswerkzeuge und bares Geld 
ausgehändigt hatte, um ihm das Entweichen aus der Anstalt zu er¬ 
möglichen. 

Wie wird sich nun voraussichtlich die neue Strafgesetzgebung 
zu diesem Delikte stellen? Es ist ja vor der Hand noch sehr fraglich, 
ob die Auslegung, die jetzt die höchste richterliche Instanz dieser 
strafbaren Handlung angedeihen läßt, auch in der unter dem Zeichen 
der neuen Gesetzgebung stehenden Eechtsprechung ihre Gültigkeit 
behalten wird. Auch wenn die in Betracht kommenden Begriffe 
keine so grundlegende Bedeutung zu haben scheinen, daß unter allen 
Umständen eine neue Auslegung nötig wäre, ist das doch nicht aus¬ 
zuschließen. Ob die dann zu erwartenden reichsgerichtlichen Ent¬ 
scheidungen sich auf denselben Standpunkt stellen und dieselben 
Kriterien verlangen werden, steht noch dahin. 

Der Vorentwurf zu dem neuen Strafgesetzbuche schafft für diese 
Frage eine sehr bedeutsame Änderung. Er legt 2 ) die Entscheidung, 
ob die Verwahrung in einer öffentlichen Heil- und Pflegeanstalt statt¬ 
zufinden hat, in die Hände des Richters. Der zuständige Richter ist 

*) Oppenhoff, Die Rechtsprechung dos Königlichen Obertribunals 
in Strafsachen. Bd. 18. 1877. S. 7 

*) Begründung dos \ o r o n t \v u r f s zu einem deutschen 
Strafgesetzbuche. Berlin. S. •JHO. 


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Befreiung von Kranken aus Irrenanstalten. 


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der Strafrichter, und seine Entscheidung geht nicht bloß auf die Zu¬ 
lässigkeit der Verwahrung, sondern auf diese selbst. Dadurch wird 
für einen großen — den wichtigsten — Teil der in Frage kommenden 
kriminellen Kranken die Frage nach der Zuständigkeit der einliefern- 
den Behörde ohne weiteres gegeben. Betroffen werden von dieser 
Bestimmung, die zudem noch schwere Bedenken gegen sich hat und 
zweifellos noch erhebliche Anfechtungen zu bestehen haben wird, 
ja aber wieder nur die gemeingefährlicheren Geisteskranken, bei 
denen ein Verfahren stattgefunden hat. Nach § 65 des Vor¬ 
entwurfs fallen unter diese Bestimmung nur diejenigen, welche auf 
Grund des § 63 freigesprochen werden oder außer Verfolgung gesetzt 
worden sind. Bei den übrigen müßte man schon wieder zu den Aus¬ 
legungen greifen, mit denen man sich bisher behalf. 

Der Vorentwurf vereinigt alle Strafbestimmungen über die Ge¬ 
fangenenbefreiung im § 129. 

Wer vorsätzlich einen Gefangenen befreit oder dessen Befreiung oder 
Entweichen befördert, wird mit Gefängnis oder Haft bis zu 2 Jahren bestraft. 

Der Versuch ist strafbar. 

Hatte der Täter bei der Bewachung des Gefangenen mitzuwirken, 
so ist die Strafe Gefängnis nicht unter einer Woche und, wenn die Hand¬ 
lung nur aus Fahrlässigkeit begangen worden ist, Haft bis zu 3 Monaten 
oder Geldstrafe bis zu 500 Mk. 

Die Delikte, gegen die in den §§ 126 bis 130 die Strafen verhängt 
werden, fallen unter die große Rubrik des Widerstandes gegen 
die Staatsgewalt. 

„Allen diesen Tatbeständen“, sagt die Begründung, „ist ein 
Kennzeichen gemeinsam, daß nämlich die Handlung sich unmittelbar 
gegen eine Behörde oder gegen Beamte in bezug 
auf ihre amtliche Tätigkeit oder gegen Perso¬ 
nen richtet, die diesen aus besonderen Gründen 
gleichz u.s teilen sind, mithin gegen staatliche Organe, in 
letzter Reihe gegen die Staatsgewalt selbst.“ 

Damit fänden, sollte man meinen, wenigstens auf einen Teil 
der geisteskranken Verbrecher, d. h. auf die nach § 65 internierten, 
ohne jede Frage die Grundprinzipien dieser allgemeinen Begründung 
ihre Anwendung. Die Begründung kommt *) aber gerade zu dem 
entgegengesetzten Ergebnis. 

*) 1. c. S. 474. 

Zeitschrift für Psychiatrie. LX1X. 2. 12 


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Mönkemöller, 


„Wie das bisherige Gesetz spricht der § 129 von Gefangenen. 
Der Begriff ist in der Rechtsprechung fest¬ 
gesetzt und hat Schwierigkeiten nicht veranlaßt. Eine Aus¬ 
dehnung der Vorschrift auf andere Personen, etwa Fürsorgezöglinge 
oder gemeingefährliche Geisteskranke, die in Anstalten untergebracht 
sind, erschien nicht gerechtfertigt. Solche Personen sind nicht Ge¬ 
fangene x ), ihre Befreiung kann zwar unter Umständen nach anderen 
Gesetzen strafbar sein. Jedenfalls verletzt sie kein staatliches Haft- 
recht, enthält keinen Widerstand gegen die Staatsgewalt und kann 
daher hier nicht mit Strafe bedroht werden“. 2 ) 

Wenn man in einer Handlung, die einen Menschen einer zwang¬ 
weisen Unterbringung entzieht, die durch öffentliche Gewalten über 
ihn verhängt ist, ohne weiteres einen Widerstand gegen die Staats¬ 
gewalt sieht, so kann das kaum als eine gekünstelte Auffassung an¬ 
gesehen werden. Jedenfalls ist es nur schwer zu verstehen, daß man 
jetzt von der bisher so oft in einer den Verhältnissen entsprechenden 
Weise geübten Auslegung des Begriffes abgehen will, nur weil er nicht 
ganz in die selbstgewählte Form hineinpaßt, obgleich die Begründung 
selbst sagt, daß der Begriff Schwierigkeiten nicht veranlaßt habe und 
also mit der bisherigen reichsgerichtlichen Auslegung rechnen muß. 

Nun ist es ja durchaus nicht gesagt, daß die endgültige Fassung 
in dem neuen Strafgesetzbuche sich mit der des Vorentwurfs decken 
wird, und ob ihre Begründung ebenso ausfaUen wird wie die vor¬ 
geschlagene. Es steht auch noch ganz dahin, ob die Rechtsprechung 
sich an die Auslegung des Begriffs „Gefangener“, wie sie in dieser Be¬ 
gründung beliebt wird, halten muß, oder ob sie sich selbst, wie die 
letzte Rechtsprechung beim Reichsgerichte, eine Auslegung schafft, 
die sich mit der praktischen Wirklichkeit deckt. Aber selbst gesetzt 
den günstigsten Fall, daß es im wesentlichen so bleiben sollte, wie 
bisher, muß man sich darüber klar werden, daß auch die weitgehendste 
Auslegung nicht die Ansprüche befriedigen kann, die an die Ahndung 
dieses Deliktes gestellt werden müssen. 

Zunächst bleibt es immer eine sehr bedenkliche Sache, daß diese 

*) Mayer, Die Befreiung von Gefangenen. 

*) „Der Regelung durch landesrechtliche Vorschriften steht nach 
wie vor nichts im Wege. Vgl. z. B. das preußische Gesetz vom 2. Juli 
1900 über die Fürsorgeerziehung Minderjähriger.“ 


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Befreiung von Kranken aus Irrenanstalten. 


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Handlang durchaus unter den Begriff der Gefangenenbefreiung 
gepreßt werden muß. Wir bemühen uns unablässig, von unseren An¬ 
stalten den Begriff des Gefängnisses, der ihnen in den Augen der 
großen Menge leider noch immer anhaftet, abzustreifen. Wir kämpfen 
dafür, daß unsere Kranken auch in den Augen dieser Menge gebühren¬ 
dermaßen als solche angesehen werden. Und Kranke bleiben die 
Insassen unserer Anstalten auch dann, wenn sie noch so gemein¬ 
gefährlich sind und noch so oft mit den Gesetzen in Konflikt geraten 
und mit den richterlichen und polizeilichen Gewalten und den Straf¬ 
anstalten in Berührung gekommen sind. 

Wenn bis jetzt die Befreiung unserer Kranken notgedrungen 
unter der Signatur der Gefangenenbefreiung bestraft 
wurde, so war das eben nur ein Notbehelf. Dabei aber ein Notbehelf, 
der als durchaus unzureichend angesehen werden muß, und der nur 
dann zur Hilfe gezogen werden konnte, wenn eine Reihe von Voraus¬ 
setzungen vorlag und mühselig nachgewiesen werden mußte, und der 
auch dann nicht immer den subjektiven Anschauungen des Richters 
genügte. Und auch im besten Falle umfaßte er nicht alle Fälle von 
Krankenbefreiung. Indem sich die neueste Reichsgerichtsprechung 
an die Ministerialverfügung vom lö. Juni 1901 hielt, brach sie ja mit 
der Anschauung, daß unbedingt ein richterliches Verfahren oder doch 
ein Konflikt mit den Gesetzen vorliegen mußte, der das Eingreifen 
der Polizeibehörde provoziert hatte. Wenn jetzt die Überzeugung 
der Anstaltleitung von der Gemeingefährlichkeit eines Kranken 
genügt, um seine Befreiung als Gefangenenbefreiung erscheinen zu 
lassen, so ist der Kreis der Personen, die von der Gesetzesbestimmung 
erfaßt werden können, in solchem Umfange erweitert, daß wir keine 
Schwierigkeiten haben sollten, die Befreiung der Gemeingefährlichen 
zu ahnden. 

Ist aber der Begriff der Gemeingefährlichkeit so genau zu um¬ 
schreiben, daß er ohne jede Anfechtung festgelegt werden könnte? 
Man braucht nur an die Querulanten und ähnliche Krankheittypen 
zu denken, über deren Gemeingefährlichkeit man sicherlich nicht mit 
allen Gerichten in ein restloses Einvernehmen gelangen würde. 

Dabei wird immer nur das Interesse der Allgemeinheit 
in den Vordergrund gestellt, wenn diese Befreiung eines Kranken bestraft 
werden soll Wie steht es aber mit dem Interesse des Kranken selbst? 

12 * 


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Mö nkemöller, 


Soll man es ungesühnt hingehen lassen, wenn einem Melancholiker zur 
Entweichung aus der Anstalt verholten wird, damit er sich draußen 
ungestört das Leben nehmen kann? Soll der Erfolg, das ganze Heil¬ 
verfahren dadurch aufs Spiel gesetzt werden? Soll die so oft ohne 
Frage eintretende Schädigung der Angehörigen bedeutunglos bleiben? 
Und kann es auch schließlich der Anstalt gleichgültig sein, wenn ein 
Kranker gegen eigenen Willen, gegen sein Interesse, ohne die Ein¬ 
willigung der Behörden, deren Autorität dadurch gestört wird, der 
Anstaltbehandlung entrissen wird? 

Mit Recht weist Vocke x ) darauf hin, daß es im allgemeinen nicht 
angebracht erscheint, daß die Irrenärzte ein besonderes Interesse an 
der Zurückhaltung der Kranken in den Anstalten bekunden und da¬ 
durch einem weit verbreiteten Vorurteil gegen Irrenanstalten und deren 
Ärzte Vorschub leisten. Gewiß! Es ist durchaus erforderlich, daß 
gerade die Entlassung aus den Anstalten nach Möglichkeit erleichtert 
wird, und daß wir Irrenärzte allen legitimen Versuchen, den 
Kranken der Öffentlichkeit wiederzugeben, keinen zu halsstarrigen 
Widerstand entgegensetzen. Gerade aber damit diesen Vorurteilen 
keine Nahrung gegeben wird, darf die Befreiung eines Kranken unter 
keinen Umständen straflos bleiben. Wenn das Volk sieht, wie jemand 
einen Kranken der Obhut der Anstalt ohne Wissen und gegen den 
Willen der Ärzte entzieht und dann straflos ausgeht, muß es zu der 
Ansicht kommen, daß das Recht der Zurückbehaltung, gegen das es 
schon sowieso einen Verdacht hat, auf sehr tönernen Füßen steht. 
Wir stützen uns, wenn wir dieses viel angefochtene Recht ausüben, 
auf ein umständliches, mit allen Vorsichtmaßregeln ausgestattetes, 
von der Mitwirkung der Behörden im weitesten Umfange abhängiges 
Verfahren, das die Interessen des Kranken und der Allgemeinheit 
in ganz anderem Maße sichert, wie bei allen sonstigen Kranken, auch 
bei den an Infektionskrankheiten leidenden. Wenn Mayer (L c.) in 
der Durchbrechung dieses bedeutungvollen Verfahrens, sogar bei 
Gemeingefährlichen, nur ein Verwaltungsdelikt 
sieht, so hat er die Natur der Sache denn doch völlig verkannt. Er 
hat sich schon der einfachen Erkenntnis entzogen, daß einer Hand- 

1 ) Vocke, Befreiung von Kranken aus Anstalten. Bemerkungen 
zum Vorentwurf des Strafgesetzbuches, herausgegeben von der Justiz- 
kommission des Deutschen Vereins für Psychiatrie. Januar 1910. S. 88. 


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Befreiung von Kranken aus Irrenanstalten. 


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lung, die einem kriminellen Kranken die Gelegenheit verschafft, von 
neuem kriminell zu werden, die Kriterien der eigenen Kriminalität 
anhaften, mag sie auch nur indirekt wirken. Selbst wenn man die 
Mißachtung der Staatsgewalt durchaus als Kriterium dieses Deliktes 
verlangt, sollte man in der Durchbrechung eines durch so gründliche 
behördliche Tätigkeit geschaffenen Verfahrens doch auch ohne Wort¬ 
klauberei eine Mißachtung der Staatsgewalt herauszulesen imstande 
sein. 

Auch die Begründung des Vorentwurfs ist sich trotz ihres ableh¬ 
nenden Standpunktes darüber klar, daß mit ihrer Auslegung die Sache 
noch nicht geregelt ist. 

„Neue Fragen entstehen dem Entwürfe gegenüber wegen der 
Vorschriften in den §§ 43, 65 und 69, Absatz 2. Es lag keine Veran¬ 
lassung vor, auf diese Fragen, deren Beantwortung der Praxis zu über¬ 
lassen ist, hier näher einzugehen.“ 

Weshalb man sich der Entscheidung in einer Sache entzieht, 
die doch unbedingt in absehbarer Zeit eine Klärung verlangen wird, 
ist nicht recht einzusehen. Es erscheint unverständlich, daß man erst 
der Auslegung in der Rechtsprechung und einer eventuellen Landes¬ 
gesetzgebung es überläßt, eine einheitliche und gründliche Regelung 
der Frage herbeizuführen, das zu ordnen, wozu sich jetzt eine Gelegen¬ 
heit darbietet, die so bald nicht wiederkehrt. 

Mit vollem Rechte betont Voeke 1 ), daß im Vorentwurfe eine 
Lücke vorliegt, die in der künftigen Rechtspraxis nur unter Inne¬ 
haltung der alten Praxis geschlossen werden kann. Er verlangt die 
Einfügung einer neuen Bestimmung über die Bestrafung vorsätzlicher 
Befreiung bestimmter Kategorien von Kranken, damit derartige 
Delikte nicht unter den Paragraphen Gefangenenbefreiung subsumiert 
zu werden brauchen. 

Voeke weist rückhaltlos auf die Bedenklichkeit der wahllosen 
Anwendung des Paragraphen auf die Befreiung von Kranken aus 
Anstalten hin: Die Übertragung der Bestrafung auf die Fahrlässigkeit 
ist bei den praktischen Verhältnissen, unter denen die Anstalten 
wirken müssen, unmöglich und nur geeignet, die Grundsätze der 

l ) Voeke, 1. c. S. 91. 

M Voeke, Vorsätzliche Befreiung gemeingefährlicher Geisteskranker. 
Psych-Neurol. Wochenschrift 12. Jahrg. 1910/11. S. 450. 


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Mönkemöller, 


freien Behandlung, zu denen man sich mit Mühe durchgerungen hat, 
zu zerstören. 

Vocke will das zu bestrafende Delikt der Krankenbefreiung nur 
auf solche Kranke angewendet wissen, die die Allgemeinheit gefährden. 
Meiner Ansicht nach geht man, wenn man überhaupt die Loslösung 
vom Gefangenenbefreiungsparagraphen erreichen will, konsequenter¬ 
weise noch einen Schritt weiter und belegt die Befreiung aller 
Geisteskranken mit Strafe, die sich auf Grund eines geordneten Auf¬ 
nahmeverfahrens in einer Anstalt befinden. Zunächst ist ja die Ge¬ 
meingefährlichkeit ein so unbestimmter und dehnbarer Begriff, daß 
sich eine scharfe Abgrenzung nie vollziehen lassen wird und fraglos 
in der künftigen Rechtsprechung Unstimmigkeiten entstehen müssen. 
Aus allen den oben angegebenen Gründen fordert aber auch die Be¬ 
freiung der Kranken, die nicht unter diesen Begriff fallen, eine Be¬ 
strafung heraus, weit eher, wie viele andere Delikte, die das Straf¬ 
gesetzbuch ahndet. 

In dieser Fassung fallen alle die Schwierigkeiten fort, die bisher 
so oft die Bestrafung dieses Deliktes verhinderten. Eine entsprechende 
Abstufung der Strafe kann ohne jede Schwierigkeit im 
Einzelfalle der Schwere des Deliktes gerecht werden. 

Gewiß könnte die Landesgesetzgebung diese Lücke ausfüllen. 
Wenn uns einmal das sehnlich erwartete Reichsirrengesetz beschert 
wird, wäre ja eine herrliche Gelegenheit gegeben, in einheitlicher Form 
diese Forderungen zu erfüllen. Wenn diese nur nicht noch in so 
nebelhafter und vorläufig ganz unerreichter Ferne schwebte! Und da 
jetzt die Gelegenheit so günstig ist, ist es nicht einzusehen, weshalb 
wir darauf warten sollen. Der neuen Gesetzgebung müßte es ein 
leichtes sein, einen Paragraphen zu formulieren, der das Verlangte 
in die Form bringt, die dem Psychiater verschlossen ist. 

Auf der Jahresversammlung des Deutschen Vereins für Psychiatrie 
zu Köln im Jahre 1909 hatte EhremodU durch einen Antrag die Frage 
aufgeworfen, ob die Strafbestimmungen in § 235 des Vorentwurfes 
(Kindesraub) nicht auch auf die Befreiung bzw. Entführung entmündig¬ 
ter Geisteskranker aus Anstalten, deren Obhut und Fürsorge sie durch 
den Vormund anvertraut sind, ausgedehnt werden soll Daß gewisse 
Analogien vorliegen, soll nicht geleugnet werden. Da aber ein sehr 
großer Teil unserer Kranken nicht entmündigt ist, und da gerade die 


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Befreiung von Kranken aus Irrenanstalten. 


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schwersten Kriminellen nicht selten des Vormundes entbehren, kann 
diese Strafbestimmung auch in ihrer weitesten Auslegung nicht den 
Zweck erfüllen, den man in dieser Beziehung erwarten muß. 

Wir beschränken uns auch, wenn wir die Krankenbefreiung unter 
Strafe setzen, am zweckmäßigsten auf unsere Geisteskranken und 
vereinigen nicht zu viele ähnliche und verwandte Begriffe unter 
dieser Rubrik. Ob sich, wie Vocke annimmt (1. c. S. 95), im abge¬ 
schlossenen Rahmen eines einzelnen Paragraphen eine Vereinigung 
der Minderjährigen, der ihnen gleichstehenden, einer Schutzgewalt 
bedürfenden entmündigten Geisteskranken und der einer Fürsorge 
und Aufsichtgewalt bedürftigen, die Allgemeinheit gefährdenden 
geistig oder körperlich Kranken sehr wohl denkbar und zu recht- 
fertigen ist, erscheint mir sehr zweifelhaft. Abgesehen von den auch 
für den Laien erkennbaren juristischen Bedenken, die einer solchen 
Zusammenfassung verschiedener Begriffe entgegenstehen, muß vom 
ärztlichen Standpunkte aus doch mindestens der Grundbeginn der 
Krankheit erfüllt werden, und der Begriff der Gemeingefährlich¬ 
keit, der den von Vocke zusammengesetzten Gruppen gemeinsam ist. 
erfüllt nicht ganz die Forderungen, die oben aufgestellt worden sind. 

Ke Trinker sind ja im wesentlichen identisch mit unseren Kranken, 
und für die Trinker, für die nach § 43 des Vorentwurfs die Unter¬ 
bringung in eine Trinkerheilstätte angeordnet werden soll, kann die 
Gleichstellung mit Geisteskranken ohne große Künstelei nachgewiesen 
werden. 

Daß mit ansteckenden Krankheiten behaftete Personen aus 
Isolierspitälern und Krankenhäusern nicht befreit werden dürfen, 
ist an und für sich selbstverständlich. Aber da es sich fast aus- 
nahmlos nur um ganz kurze Detentionsfristen handelt, wird die Be¬ 
freiung solcher Kranken — es kommen wohl im wesentlichsten nur 
Prostituierte in Frage — nur ganz ausnahmweise sich ereignen. 
Will man sie bestrafen, so ist ohne Frage das Seuchengesetz der gegebene 
Platz, um diese Bestrafung herbeizuführen. 

Am wenigsten aber haben wir Anlaß, die Schicksale der Fürsorge¬ 
zöglinge mit denen unserer Kranken zu verquicken. Auch wenn 
der gewaltige psychopathologische Einschlag nicht verkannt werden 
soll, müssen die Fürsorgezöglinge a priori als geistesgesund 
angesehen werden. Dabei trifft der Begriff der Gemeingefährlichkeit 


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176 Mönkemöller, Befreiung von Kranken aas Irrenanstalten. 


durchaus nicht auf alle zu. Bei einem großen Teile — theoretisch 
sollte es ja bei allen der Fall sein — ist es das eigene Interesse des 
Zöglings, das gebieterisch verlangt, daß er der fremden Erziehung 
überantwortet wird. Eine Bestrafung der Befreiung aus dieser auf- 
gezwungenen Erziehung ist aber bereits durch die Landesgesetz¬ 
gebung vorgesehen (§ 21 des preußischen Fürsorgegesetzes 

vom 2. Juli 1900 Art. 13, des bayerischen Gesetzes vom 10. Mai 1902, 
die Zwangerziehung betreffend). Nach dem Urteile des L Straf¬ 
senats beim Reichsgerichte vom 29. Dezember 1904 z. L. Reg. 48 
72/09 und dem Urteile des IIL Strafsenats des Reichsgerichtes vom 
23. Juni 1902 Sch. Reg. 2277/02 macht die Unterbringung dieser 
Straftaten unter die §§ 120 und 121 des jetzigen Strafgesetzbuches 
keine Schwierigkeiten. 

Die Aussichten, daß die Krankenbefreiung aus unseren Anstalten 
strafbar wird, sind am ersten erfüllbar, wenn wir von einer Vereinigung 
mit anderen Krankheitkategorien absehen. Wenn wir verlangen, 
daß die Befreiung dem ordentlichen Strafgesetze unterstellt wird, 
so müssen wir konsequenterweise darauf bestehen, daß die Befreiung 
aller Kranken unter diese Strafbestimmung fällt. Wollen wir die 
Gefangenenbefreiung ganz ausgeschaltet wissen, dann 
müssen wir verlangen, daß nicht nur die Befreiung der Gemein¬ 
gefährlichen in Zukunft geahndet wird. 


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Ein Fall Ton Gehirnyerletzung im epileptischen 

Anfall. 1 ) 

Von 

Dr. Fr. SlolL 

Bei der Sektion der am 27. Februar 1911 verstorbenen epilepti¬ 
schen Patientin E. D. wurden wir durch einen Fremdkörper im Schädel 
überrascht. Der Herausnahme des Gehirns stellte sich zunächst ein 
unklarer Widerstand in der mittleren Schädelgrube entgegen, schlie߬ 
lich folgte das Gehirn plötzlich, und es zeigte sich als Grund des Wider¬ 
standes ein an der Spitze des rechten Schläfenlappens aus dem Gehirn 
herausragendes, rundes, gleichmäßig dickes Holzstück. Es ließ sich, 
da es durch die Manipulation der Herausnahme des Gehirns bereits 
gelockert war, leicht aus dem Gehirn herausziehen, dringt etwa 3% cm 
in den Schläfenlappen ein und ragt etwa iy 2 cm aus demselben hervor, 
wie umstehende Bilder zeigen. Soweit es im Gehirn steckt, ist 
cs von einem festsitzenden narbigen Mantel umgeben. Die Dura war 
hinter dem lateralen Teil der Fissura orbitalis sup. durchbohrt; nach 
Aufmeißeln der oberen Wand der Orbita zeigte sich im Fettgewebe 
ein schwarzer narbiger Strang, der vom inneren Augenwinkel nach 
hinten führte und in seinem hintersten Teil eine Abbiegung lateral- 
wart8 machte, so daß sich die eigentümliche, fast von median ein¬ 
dringende Lage im Temporallappen erklärt. 

Die 1884 geborene Patientin litt seit ihrem 4. Lebensjahr ohne be¬ 
kannten Grund an ausgebildeter Epilepsie mit häufigen Anfällen; sie be¬ 
fand sich seit ihrem 10. Lebensjahr in der Heil- und Pflegeanstalt Bethel 
l*i Bielefeld. Bei einem Anfall am 30. 12. 1909 erlitt sie eine Verletzung, 
die als Schädelbruch mit Commotio cerebri durch Sturz auf den Kopf ge¬ 
deutet wurde, es bestand Erbrechen, Kopfschmerz, nachher tagelang 

*) Aus der Prov.-Heil- und Pflegeanstalt Galkhausen (Direktor 
Dr. Herting). 


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Original fro-m 

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limipSfen- *%m kWtMk f^ätf asinijriil 

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Hmt*! tfftüy: *1*0 s»-h hei »latn Anfall an« 30.. l£ 

• '•••• iniiu^ii AuiCCJn\ io!t ''1 .»iS dttri.-.»* di»* 'Orfcilö j$$ *. ; rldru 

: dV- P-atVenHh M« y,t‘'r wMriH*4.f ; ft^ß* fj#* 

< ,; 1 '■•. !'<■ \ui;U)r gehubf tv>Bi\ hlmlrn >tn-v d.n:.:v. h a»v sie* ItU '.ui’- 'i. i 

• ond ßm’iipirtgi<.U3taa^A 
• »t$ St hwa‘;teiij>p und wurde t ddhw 

.di&ftoiwr^s’ViiTf Bei dfrr:‘4ö£-- 

,,dun.- n> nn<i*ivr Ans.t.iM um ii. ± »'.)<< war *tn Tiffstand.und il»tf Pr™.; 

sw<\(. du« »vvhlou )i\iil»U'*; !V)i‘h dfnnit.il, fine Störung de'' Augenbfwegun*>vfl 

.i< hndMni)reAKuV>ft hr^tÄud tüstit ander Vnotipinjun tmgebuog *ikt 



JÜlZ'Yi 


Eiu fall vöq Gehiraverfetzuttg .inv Mfall 


An^nhöhle mren. Karten nicht 'löftltw* ISie i-'HlieHUh: selbst gab aiu 
' i" !ii Si l.n.?t'!hrueh>!ti M<. BUB) keine nu-Uv zu hahcr«. 

•»her «och gebiCfesitlitit ein dumpbe Geftdd knKopf öaö rfte Empfindung, 
is öfe ihr <ti* Blut durch <Ue Buke K'örper'hftlfie #irt*fn<v »fühl«. .-*!* jä§ 
früher den Aü fallen vorausgcgaugcit seien Vom l|| , 2.;m hutto Patientin 
u%etim-e Anfalle Omi; vyrfH *n. 2t:-. 2 ... i*i eumsy Sie Vir t j.;i.^y,i j,:;.,... m UHe 
I’i: 2T 2. verstarb.- 

I>er Fall jsd Iwtnerkenswert einerseits als Kuriosität zur Kasuistik 
>c V.-rjerzungim im cpih'ptisehen Anfall, andrerseits als eine Ver- 


Vtzurur de* Scldäfeidappeus durch da* Stück »unes Foiei’hnlteis, der 
••"A'h die Attgenhöhle eingednmgen war und längere Zeit im Gehirn 
hatte, ohne Erseheiuupgen zu machen. pp sieh die wahre 
-Saiur der Verletzung der Ibagintee entzog, erseheint A^mkändiieh, 
da det Eintritt des Federhaltern durch den Bluterguß verdeckt v^rde, 
oath dessen Kesmption die Keujunktivalwunde geheilt war, und üio 
anfänglich bestehenden SSiuptonie ebenso vfig auch, die znrückgeblie- 
hene Prominenz und Tieferetellung des rechten Jhdbue durch die 
Vituahrae eines Schädelbmehes erklärt wurden, Von den bekannten 
Lokal- und FernsTiuptonie« von Stdiläfejiiapprötuinoren wurde nichts 
beobachtet. Einen ursächlichen Zusammenhang der Gehirnver- 
tetwng mit: dem Ausbleiben der gndien Anfälle möchten wir nicht 
Minderen. du diese schließlich doch wieder auftraten. Der Ball 
i^igt, ein wie einfacher Wog durch die Augenhöhle zur Spitze des 
T^porallappehs führt, der in diesem Falle durch ein grobes Instru¬ 
ment, einen Federhalter, besehritten wurde. 


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Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezög¬ 
lingen im Festungsgefängnis. 

Von 

Stabsarzt Dr. Weyert, Posen. 

Die zahlreichen Arbeiten im letzten Jahrzehnt über die psychischen 
Grenzzustände, welche unsere Kenntnis dieses für die Allgemeinheit 
besonders wichtigen Kapitels der Psychiatrie so überaus gefördert 
und vertieft haben, gaben mir während meiner ärztlichen Tätigkeit an 
einer militärischen Strafanstalt die Anregung, eine größere Zahl von 
Gefängnisinsassen psychiatrisch zu untersuchen. Mehrere Gründe 
leiteten mich hierbei. Einerseits war es mein Wunsch, tiefer in das 
Seelenleben der mir in ärztlicher Hinsicht anvertrauten Menschen ein¬ 
zudringen und — soweit möglich — nachzuprüfen, ob und wie weit 
die wissenschaftlich niedergelegten Beobachtungen an Gefängnis¬ 
insassen mit den meinigen übereinstimmten. Anderseits war es für 
mich von Interesse und Wichtigkeit, festzustellen, welche besonderen 
militärischen und militärärztlichen Gesichtspunkte z. B. betreffs der 
Dienstfähigkeit usw. sich ergaben. Zwar hat ja bereits Schütze an 
demselben Material — gleichfalls Militärgefangenen — grundlegende 
Beobachtungen gemacht. Gegenüber Schütze befand ich mich jedoch 
in der glücklichen Lage, die Leute in ihrer Gefängnisumgebung, in 
ihrem eigentlichen militärischen Milieu, ich möchte sagen: bei Tag 
und bei Nacht beobachten zu können, und zwar ohne daß sie überhaupt 
etwas von einer Beobachtung ahnten. Ich fand seitens der Offiziere 
des Festungsgefängnisses, wie ich dankbar hervorheben möchte, die 
werktätigste und weitgehendste Unterstützung und Förderung meiner 
Untersuchungen und Beobachtungen. Ich hatte nicht nur ständig 
Zutritt zu den Gefangenen, sondern es war mir auch vergönnt, zu 
jeglicher Zeit die Unteroffiziere, Korporalschaftsführer, Kameraden 


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Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezöglingen im Festungsgefängnis. 181 


der Sträflinge selbst zu sprechen. Gerade hierdurch aber gewann ich 
oft überraschende Einblicke. Im allgemeinen wird dem Anstaltsarzte, 
sobald er es auch nur etwas versteht, sich das Vertrauen der Leute zu 
erwerben, von den Gefangenen bereitwilligst Auskunft erteilt, nicht 
nur über ihre persönlichen Verhältnisse, sondern auch über die Kame¬ 
raden, ja sogar — wie ich es wiederholt erfahren habe — über interne 
Gefängnisangelegenheiten, als gelegentliche Durchstechereien usw. 
Wie wohl leicht begreiflich, stand ich anfangs den Angaben etwas mi߬ 
trauisch gegenüber, denn der Verdacht, daß man mir etwas vorlog, 
war ja naheliegend. Der ruhige Hinweis jedoch, daß in den Nach¬ 
forschungen in der Heimat, den Strafakten, Berichten der Vorge¬ 
setzten usw. eine Kontrolle über die mir gemachten Angaben statt¬ 
fände und daher falsche Angaben zwecklos seien, bewirkten, daß ich 
doch nur in Ausnahmefällen belogen wurde. Im nachfolgenden möchte 
ich meine Beobachtungen und Untersuchungen mitteilen, soweit es 
sich um ehemalige Fürsorgezöglinge handelt. Ich verfüge über 29 Fälle, 
sicherlich nur eine kleine Zahl. Es liegt mir auch fern, meine Ergeb¬ 
nisse etwa verallgemeinern zu wollen. Ich halte es aber immerhin doch 
für interessant, meine Beobachtungen zu vergleichen mit denen der 
zahlreichen Autoren, welche das Kapitel der Fürsorgeerziehung vom 
Standpunkte des Psychiaters beleuchtet haben. Bei dem von mir 
verwerteten Material ist es natürlich, daß der militärische Gesichts¬ 
punkt besonders berücksichtigt wird, nämlich die Frage: Welche be¬ 
sonderen Schlußfolgerungen ergeben sich für die Diensttauglichkeit 
der Fürsorgezöglinge im aktiven Heere? 

Bei Feststellung der erblichen r Belastung ist es be¬ 
kanntlich schwer, einwandfreie Angaben zu erhalten. Becht häufig 
»erden uns Geisteskrankheiten usw. in der Familie verschwiegen, 
nicht zum wenigsten beim Militär, um bei Versorgungsansprüchen die 
dienstlichen Schädlichkeiten desto krasser hervortreten zu lassen und 
den Anspruch auf eine Rente mehr zu begründen. Günstiger liegen - 
die Verhältnisse bei gerichtlichen Fällen, in denen oft von den Ange¬ 
hörigen alle möglichen Einzelheiten vorgebracht werden, um den An¬ 
geklagten als geistig abnorm hinzustellen und die Strafe zu mildem. 

Aus diesen Gründen möchte ich nachfolgende Angaben über 
erbliche Belastung auch nur mit aller Vorsicht verwerten. Von meinem 
Material scheiden 7 Leute aus, da sie nach eigener Angabe seit langen 


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182 


Weyert, 


Jahren ohne Beziehungen zu ihrer Familie sind; leider vermag ich 
nicht zu entscheiden, ob dieses auf einem Mangel an ethischen Emp¬ 
findungen der Eltern oder lediglich auf einem solchen der von mir 
untersuchten Leute beruht. Von diesen 7 sind 3 unehelich geboren, 
ein Punkt, auf den ich nachher noch zurückkomme. Von den ver¬ 
bleibenden 22 Leuten waren direkt erblich belastet von Vaters Seite 
durch Geisteskrankheit des Erzeugers 3, durch Trunksucht des Vaters 9, 
durch Selbstmord des Vaters 1, durch Schwindsucht des Vaters 4, durch 
Krämpfe des Großvaters 1. Ein Mann ist stark belastet dadurch, 
daß der Großvater und ein Onkel väterlicherseits an Selbstmord ge¬ 
storben sind und der Vater geisteskrank ist. Von mütterlicher 
Seite waren belastet durch Geisteskrankheit der Mutter einer, durch 
Krämpfe drei, durch „Nervosität“ drei, Trunksucht einer. 

Als stärker direkt und indirekt belastet möchte ich einen Sol¬ 
daten erwähnen (s. S. 217, graphisch dargestellter Lebenslauf H S. 236), bei 
dem der Vater an Schwindsucht und Trunksucht, zwei Brüder der Mutter 
an Trunksucht litten und langjährige Zuchthausinsassen waren. Bei 
einem zweiten Manne war der Vater mäßiger Säufer und starb infolge 
Selbstmords im Gefängnis. Die Mutter wird von der Ortspolizeibehörde 
als „verwahrlost“ bezeichnet. Bei einem Dritten litten der Vater an 
Trunksucht, die Mutter an Geisteskrankheit und einem „schweren Lungen- 
leiden“, eine Schwester der Mutter an auffälliger Dummheit und eine 
andere Schwester des Vaters war an Selbstmord gestorben. Bei einem 
Vierten litt die Mutter an Krämpfen, der Vater war ein Säufer und hatte 
die Familie verlassen. Rin Bruder dieses Mannes ist ein arbeitscheuer 
Säufer, ein anderer Bruder „sehr dumm“. Auffallend ist auch, daß bei 
mehreren meiner Soldaten geistige Auffälligkeiten unter den Geschwistern 
vorkamen. So litt bei einem Manne der eine Bruder an Krämpfen, ein 
anderer Bruder war an Schwindsucht gestorben; bei einem Zweiten, 
dessen Vater seit zwei Jahrzehnten im Irrenhaus sich befand, war ein 
Bruder ein viel bestrafter Säufer. Bei einem dritten, sonst nicht belasteten 
Menschen litt der Bruder an „Tobsucht“. Bei einem vierten befand sich 
die Schwester gleichfalls in einer Erziehungsanstalt, „da sie immer von 
Hause fortläuft“, nur bei zwei Leuten konnte in der ganzen Familie 
keinerlei Belastung festgestellt werden, von diesen war der eine ein leicht 
haltloser Mensch, der andere geistig leicht beschränkt. 

Unehelich geboren von den 29 waren 6. Im allgemeinen wird in 
einfachen Volkskreisen der außereheliche Geschlechtsverkehr eines 
weiblichen Wesens nicht so besonders tragisch von der Umgebung auf¬ 
gefaßt und es ihr wohl nicht unbedingt als Schande angerechnet, 
wenn sie ein außereheliches Kind hat. Die Mütter von dreien dieser 


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Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezöglingen im Festungsgefängnis. 183 

sechs unehelich geborenen Leute haben auch einen andern geheiratet, 
die Mutter des einen sogar, obgleich sie im ganzen zwei außereheliche 
Kinder hatte. Nur eine Mutter heiratete später den Erzeuger ihres 
unehelichen Kindes. In allen Fällen handelt es sich um einfache 
Mädchen aus dem Volk. Ein weibliches Wesen stammte aus besseren 
Schichten, wurde von einem — anbei bemerkt, zuckerkranken — 
Manne pekuniär unterhalten und hatte von diesem im ganzen drei 
außereheliche Kinder. Bei allen sechs Leuten soll den Müttern der 
Erzeuger des Kindes bekannt sein, eine Angabe, die natürlich mit 
der nötigen Vorsicht aufgenommen werden muß. Auf jeden Fall wäre 
es verfehlt, aus der Tatsache, daß ein weibliches Wesen ein uneheliches 
Kind hat, nun einen besonderen Rückschluß auf ihre moralischen 
Eigenschaften ziehen zu wollen. 

Besonders erwähnen möchte ich einen, zwar ehelich Geborenen, 
dessen Mutter mit einem andern Manne zusammen lebte, während der 
rechtmäßige Ehemann, ein schwindsüchtiger Säufer, in derselben, aller¬ 
dings großen Stadt durch Gelegenheitsarbeit seinen Lebensunterhalt 
verdiente. Jedoch auch dieser Fall ist mit Vorsicht zu bewerten; es handelt 
sich um Katholiken, bei denen bekanntlich die Ehescheidung ungleich 
schwieriger ist als bei Protestanten. 

Uber die körperliche Entwicklung in der Kindheit 
ist nichts Besonderes zu erwähnen. Die meisten hatten Masern und 
Scharlach durchgemacht, je einmal wird Typhus, Nierenentzündung, 
Granulöse erwähnt. Auffallend ist, daß nur in einem einzigen Falle 
von einem nennenswerten Trauma mir berichtet wurde. Es handelt 
sich um eine Gehirnerschütterung infolge Sturz von der elektrischen 
Straßenbahn. Wenn man berücksichtigt, wie ungemein häufig bei 
forensischen Fällen von den Angehörigen Unfälle aus der Kindheit 
übertrieben bewertet werden, so ist das seltene Vorkommen von Un¬ 
fällen bei meinem Material zum mindesten erwähnenswert. 

Von besonderem Interesse war die Frage nach den äußeren 
Lebensbedingungen, unter denen mein Material aufge¬ 
wachsen war. Es hielt schwer, hier viel zu erfahren, da — wie ja bereits 
erwähnt — zahlreiche Leute seit Jahren nicht mehr mit den Ange¬ 
hörigen in Beziehungen standen und daher Nachforschungen nicht in 
dem Maße angestellt werden konnten, wie es zur Klärung dieses wichti¬ 
gen Punktes wünschenswert und notwendig war. 

Ein auffallend hoher Prozentsatz meines Materials ist frühzeitig 


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184 


Weyert, 


verwaist,; es haben als Kinder durch Tod 4 den Vater, 4 die Mutter 
verloren und 2 wurden frühzeitig Vollwaisen. Der Vater eines weiteren 
Soldaten war Säufer und kam in eine Irrenanstalt, woselbst er noch 
jetzt — nach annähernd 20 Jahren — weilt. Die Ehe wurde geschieden. 
Die Mutter eines weiteren Mannes starb, der Vater, ein Sonderling, 
wanderte aus, ohne sich weiter um die zurückgebliebenen Kinder 
zu kümmern. 

Es ist eine traurige Jugend, die die Mehrzahl dieser Leute gehabt 
hat. Im allgemeinen ist es ja die Mutter, in deren Händen die Erziehung 
liegt, während der Vater außerhalb des Hauses dem Erwerb nachgeht. 
Und aus diesem Grunde ist wohl auch der Tod der Mutter der 
schwerwiegendere Schicksalschlag. Sobald jedoch in einfachen 
Volkskreisen — beim Tode des Ernährers der Familie — die 
Mutter selbst für den Lebensunterhalt sorgen und um das tägliche 
Brot kämpfen muß, verlieren die Kinder beim Tode des Vaters auch 
teilweise die Mutter. In diesen Fällen werden die Kinder auch früh¬ 
zeitig mitverdienen müssen, durch Austragen von Zeitungen, Back¬ 
waren usw., und dadurch noch mehr dem Einfluß des elterlichen 
Hauses entzogen. Stirbt andrerseits die Mutter frühzeitig, so kommt 
entweder eine Stiefmutter oder eine Wirtschafterin in das Haus, die 
doch nur in Ausnahmefällen den Kindern tiefere Liebe und Sorgfalt 
angedeihen läßt. Dieses sind noch — wenn ich so sagen darf — nor¬ 
male Verhältnisse; bei unserem Material gewinnen wir jedoch noch 
Einblick in ungleich traurigere Zustände. 

Ein Patient verlor mit 1 V 2 Jahren den Vater ,und die Mutter war 
eine „in geschlechtlicher Beziehung bescholtene Person“, die anscheinend 
auch stahl, der die elterliche Gewalt aber erst entzogen wurde, als der 
Sohn 9 y 2 Jahre alt war. Der Vater eines andern starb im Gefängnisse an 
Selbstmord, die Mutter war „verwahrlost“; hier bemühte sich die Mutter 
selbst um Zwangserziehung ihres fast 12 jährigen Sohnes, da er gegen sie 
gewalttätig wurde. 

Unter denen, die frühzeitig die Mutter verloren, möchte ich nur 
bei zweien auf die Kindheit näher eingehen. Bei dem einen kam der Vater 
— bald nach dem Tode der Mutter — wegen Meineids mehrere Jahre ins 
Zuchthaus, der Knabe blieb ganz der unfreundlichen, rohen Stiefmutter 
überlassen, so daß er noch heute mit unverkennbarer Erbitterung erklärt, 
nie Elternliebe und Elternsorge kennen gelernt zu haben. Einen zweiten 
jungen Mann, dessen Mutter gleichfalls frühzeitig gestorben war, hielt die 
Stiefmutter zum Diebstahl an; nach dem Gerichtsbeschluß vermieteten 
die Eltern „an schlimmstes Gesindel Schlafstellen“. Nebenbei erwähnt 


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Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezöglingen im Festungsgefängnis- 185 

kam dieser Mann mit 12 Jahren in Fürsorgeerziehung. Auffallend ist die 
Interesselosigkeit vieler Väter für ihre Kinder nach dem Tode der Ehefrau, 
wie es aus allen Gerichtsbeschlüssen, Berichten der Schulbehörde usw. 
hervorgeht. Nicht selten hat dies seinen Grund darin, daß die Väter 
erwiesenermaßen Säufer waren. Nur einer der Untersuchten gibt aus¬ 
drücklich an, daß die Wirtschafterin des Vaters bemüht gewesen sei, 
sich mit Liebe seiner anzunehmen. Von den Vollwaisen wurde der eine 
mit 2 Jahren bei ordentlichen Leuten untergebracht, die ihn wie „ein 
richtiges Kind“ hielten; er kam mit 12 Jahren auf Veranlassung der 
Heimatbehörde in Fürsorgeerziehung, da die Pflegeeltern nicht imstande 
waren, ihn genügend zu beeinflussen. 

Mit diesen früh verwaisten Kindern auf gleicher Stufe stehen die 
unehelichen Kinder, was die äußeren Lebensbedingungen ihrer Kind¬ 
heit anbelangt. Bei allen war der Stiefvater — soweit die Mutter ge¬ 
heiratet hatte — ohne Interesse für das von ihm ja nicht herstam¬ 
mende Kind. 

Einer ist sicher hochgradig gemütsroh gegen das Stiefkind gewesen, 
denn er mißhandelte das Kind nicht nur übertrieben, sondern duldete 
auch nicht, daß das Stiefkind mit den Eltern und Stiefgeschwistern zu¬ 
sammen am gleichen Tische aß. Bei einem zweiten war der Stiefvater 
ohne Interesse, und die Mutter nahm das Kind frühzeitig mit auf den 
Hausierhandel; es (das Kind) „hat frühzeitig lügen gelernt“. Von einem 
dritten wurde die als herzleidend, jähzornig geschilderte Mutter durch 
einen Mann, von dem sie im ganzen 3 außereheliche Kinder hatte, unter¬ 
halten und hatte eine sogenannte Pension, in der anscheinend nicht be¬ 
sonders strenge moralische Grundsätze herrschten. Die übrigen außer¬ 
ehelich geborenen Kinder hatten ähnliche, wenn auch nicht ganz so 
krasse Schicksale. Sie alle waren den Eltern, Stiefeltern, Großeltern 
mehr oder weniger eine Last und wurden von diesen — anscheinend — 
allermeist als unangenehme Beigabe ertragen. 

Während bei diesen frühzeitig verwaisten oder unehelich geborenen 
Kindern aus bereits im vorhergehenden allgemein und speziell ge¬ 
schilderten Gründen eine Erklärung für unzureichende sittliche Er¬ 
ziehung unter sozial ungünstigen äußeren Umständen sich findet, 
sind es bei den verbleibenden Kindern, deren Eltern am Leben waren, 
andere schädigende Momente, die mehr hervortreten. 

Auffallend häufig ist Krankheit der Eltern. Bei 5 von den 11 waren 
psychische Störungen der Mutter erwähnt, die sicher bereits in der aller¬ 
frühesten Kindheit unserer Leute, höchstwahrscheinlich vor deren Geburt 
bestanden haben. Eine Mutter ist Säuferin, zwei sind „sehr nervös“, je 
eine leidet an Krämpfen und Schwindelanfällen. Bei einem 6. war der 
Vater infolge eines Unfalles gelähmt, die Mutter tagüber auf Arbeit außer 

Z*it»dnritt fdr P»yehi»trie. Litt, ?. 13 


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186 


Weyort, 


dem Hause, so daß der an und für sich bereits schwer erziehbare Junge 
ohne Aufsicht heranwuchs. Bei einem 7. lebte die Mutter von ihrem 
Manne getrennt und zog mit einem andern Manne wochenlang mit einem 
Planwagen hausierend durch das Land, wobei der Knabe nicht nur Zeuge 
des Geschlechtslebens der Mutter und ihres Erwählten war, sondern auch 
noch zum Diebstahle von dem „Stiefvater“ angeleitet wurde. Bei dem 8. 
waren die Eltern unruhige Leute, die jahrelang in verschiedenen Orten 
des Auslandes (Amerika) kümmerlich um ihre Existenz rangen. Nur 
bei 3 Leuten vermochte ich aus der Anamnese nichts Auffälliges zu er¬ 
mitteln. 

Fasse ich die gesamten bisherigen Ausführungen zusammen, so 
ergibt sich folgendes: Bei der weitaus überwiegenden Mehrzahl meines 
Materials lassen sich mit Sicherheit Faktoren nachweisen, die eine 
ungünstige ethische und moralische Entwicklung zu bedingen und 
zu erklären vermögen. Die Mehrzahl meines Materials ist erblich 
belastet und aufgewachsen in einem traurigen sozialen Milieu, inmitten 
psychisch abnormer, trunksüchtiger, sittlich verkommener Charaktere 
bzw. ohne tiefergehende elterliche Fürsorge. Diesen Faktoren muß 
für das gesamte weitere Leben eine einschneidende, unheilvolle Be¬ 
deutung zuerkannt werden. Für das Kind ist das Elternhaus seine Welt, 
und hier liegen die Wurzeln für eine harmonische Entwicklung aller 
seiner Kräfte. 

Kurz streifen möchte ich nur die Frage, ob nicht die Schule 
durch ihre Zucht und Disziplin imstande gewesen ist, segensreich zu 
wirken, ln den Gerichtsbeschlüssen usw. wird bei reichlich der Hälfte 
meiner Leute erwähnt, daß ihr „Betragen in der Schule bereits ärgernis- 
erregend“ war, sie zu dummen Streichen neigten und sich durch 
häufiges „Schwänzen“ dem Einfluß der Schule entzogen. Bei mehreren 
kam es überhaupt nicht zu einem regelmäßigen Schulbesuch — infolge 
des unruhigen Lebens der Eltern. 

Bevor ich der Frage nähertrete, ob es der Fürsorgeerziehung 
überhaupt zur Last gelegt werden kann, daß alle diese jungen Leute 
bisher im Leben gescheitert sind und zum größten Teil wohl auch 
fernerhin sich nicht bewähren werden, bedürfen zunächst drei Punkte 
der Erörterung: 

1. in welchem Alter kamen die jungen Leute in Fürsorgeerziehung, 

2. welche Gründe werden für Zuweisung in die Anstalt genannt, 
und 

3. wie war ihre Führung und das Urteil ihrer Erzieher über sie? 


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Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezöglingen im Festungsgefängnis. 187 


Bei der Aufnahme in die Erziehungsanstalt 
standen: 


im 7. 

Lebensjahre 

1(?) Personen 

im 13. Lebensjahre 

4 Personen 

„ 8 . 

ii 

0 

1' 

„ 14. 

11 

3 

„ 9- 


0 

11 

„ 15. 

11 

3 

.. 10. 


2 

11 

„ 16. 

11 

0 

11. 

11 

1 

11 

„ 17- 

11 

3 

„ 12. 

11 

5 

n 

„ 18 - 

11 

7 


Aus vorstehender Tabelle ersehen wir, daß zwei Drittel des Ge¬ 
samtmaterials bereits das 12. Lebensjahr vollendet hatten, als sie in 
Fürsorgeerziehung kamen. Wenn man sich nun vergegenwärtigt, wie 
wenig Kindlichkeit noch in den höheren Klassen der Volksschulen 
zu finden ist, welch frühreife, verdorbene Elemente sich in diesem 
Alter bereits finden — besonders unter der Großstadtjugend —, so 
wird man — rein theoretisch — sich des Zweifels nicht erwehren können, 
ob in diesem Alter überhaupt noch eine einschneidende Änderung 
durch die Erziehung erwartet werden kann. Ein Drittel des Gesamt¬ 
materials hatte sogar bereits das 16. Lebensjahr vollendet, als es in 
Fürsorgeerziehung kam. Bedenkt man, daß diese jungen Leute doch 
sämtlich schon längere Zeit der Schule entwachsen sind, daß sie seit 
Jahren als Lauf-, Arbeitsburschen, Fabrikarbeiter, Handwerkslehr¬ 
linge usw. ihr Brot verdienen und somit dem unmittelbaren erzieheri¬ 
schen elterlichen Einfluß mehr oder weniger entzogen sind, berück¬ 
sichtigt man ferner die zahllosen Verlockungen und Verführungen, 
denen unsere Jugend gerade im Entwicklungsalter ausgesetzt ist, selbst 
wenn eine sorgende Elternhand über ihr waltet, so wird man — wieder 
rein theoretisch — noch skeptischer werden in den Erwartungen von 
der Fürsorgeerziehung. Die Praxis hat diese theoretischen Bedenken 
zum Teil glänzend widerlegt, wie weiter unten ausgeführt werden soll. 
Die von mir geäußerte Skepsis erfährt scheinbar eine Stütze, sobald 
wir die Gründe näher beleuchten, welche bei unserem Material 
unmittelbar die Überweisung in Fürsorgeerziehung 
bedingt haben. Zwei meiner Leute scheiden aus; die Fürsorge - 
anstalt hatte bei dem einen bereits jetzt — einige wenige Jahre nach 
der Entlassung des Zöglings — die Akten vernichtet. Bei dem andern 
habe ich nicht einwandfreie anamnestische Angaben erhalten können. 

Unmittelbar im Anschluß an eine gerichtlich auferlegte und auch 
verbüßte Strafe — meist Gefängnis, nur selten Haft — wurden 12 

13* 


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188 


Weyert, 


der Zwangserziehung überwiesen. Von diesen 12 jungen Leuten wurde 
bei dreien erst im Anschluß an die zweite, bei zweien sogar erst im 
Anschluß an die vierte gerichtliche Strafe der Beschluß auf Fürsorge¬ 
erziehung gefaßt. Zu einem ganz andern Bilde gelangt man jedoch, 
wenn man in den Beschlüssen die ausdrücklich erwähnten Straftaten 
berücksichtigt, welche das Gericht ohne weiteres durch Freiheit¬ 
strafen hätte ahnden können. Es werden nämlich bei 23 (von den 
27 Leuten) derartige Vergehen (bzw. Verbrechen!) erwähnt. 

Fast in jedem Gerichtsbeschluß findet sich eine ganze Blütenlese 
von Straftaten erwähnt, und es ist nicht möglich, jetzt zu entscheiden, 
welches Delikt es hauptsächlich war, das den Anlaß zur Überweisung 
in Fürsorgeerziehung geboten hat. Ich möchte jedoch eine Zusammen¬ 
stellung der von den Gerichten überhaupt erwähnten Vergehen usw. 
im nachfolgenden — Interesses halber — geben. Es waren genannt: 


Diebstahl (einschließlich Einbruchsdiebstahl) . 16 mal, 

Unterschlagung . 5 mal. 

Betrug." 2 mal, 

unsittliche Handlungen an Mädchen . 4 mal, 

rohe und gewalttätige Handlungen (einschließlich Tier¬ 
quälerei) . 6 mal, 

Obdachlosigkeit, Bettelei, Umhertreiben . 16 mal; 

ferner: 

schlechte Charaktereigenschaften (Faulheit, Widerspenstig¬ 
keit, Lügenhaftigkeit, moralische Verkommenheit, Schul* 
schwänzen). 18 mal; 


Nur bei 4 von den 28 Leuten werden in den Gerichtsbeschlüssen 
keine Straftaten erwähnt. Bei diesen waren es hauptsächlich die 
eben erwähnten schlechten Charaktereigenschaften und das häufige 
Schulschwänzen, welche sie in die Fürsorgeerziehung brachten. Von 
diesen 4 jungen Leuten hatte jedoch keiner das 12. Lebensjahr bei der 
Einweisung überschritten. Wir können mithin die Tatsache, daß 
diese 4 keine Straftaten begangen hatten, mit Rücksicht auf ihre 
Jugend nicht verwerten. 3 von diesen 4 Knaben sind in ihrem späteren 
Leben häufig mit den Strafgesetzen in Konflikt gekommen — trotz 
der frühzeitigen Fürsorgeüberweisung. Der 4. ist ein gutartiger, 
harmloser, etwas haltloser Mensch, bei dem die Zwangserziehung 
bestimmt Erfolg gehabt hat. 

Die interessante Frage, wer den Anlaß, die Anregung zur Fürsorge- 
Überweisung gegeben hat, vermochte ich leider aus den Personalakten 


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Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezöglingen im Festungsgefängnis. 189 

nicht eindeutig festzustellen. Es scheint die Anregung von der Schule 
viermal, von der Ortspolizeibehörde dreimal und von den Eltern, 
Vormündern viermal ausgegangen zu sein. 

Das Bestreben, ein Bild von dem Verhalten und der Entwicklung 
der Zöglinge in der Erziehungsanstalt zu gewinnen, stieß häufig auf 
Schwierigkeiten. Regelmäßige, zusammenfassende. Schilderun¬ 
gen der Geistesbeschaffenheit eines Zöglings 
habe ich leider nie gefunden. Fast stets mußte man sich aus den 
kurzen Berichten der Erzieher die für die Beurteilung der geistigen 
Entwicklung verwertbaren Hinweise heraussuchen und sie dann — 
mosaikartig — zu einem Gesamtbilde zusammenfügen. Ich muß an¬ 
erkennen, daß fast in jedem einzelnen — meist Halbjahresbericht — 
wertvolle Hinweise auf die Psyche sich befanden. War jedoch der 
Zögling erst in die Lehre oder zu einem Bauern als Knecht gegeben, 
dum war man vorzugweise auf die Briefe zwischen Anstalt und 
Dienstherrn angewiesen, und diese besagten zumeist nicht allzu viel. 
Nur einmal habe ich einen zusammenfassenden, ausführlichen Schlu߬ 
bericht eines Direktors (bei der endgültigen Entlassung eines Zöglings 
aus der Fürsorgeerziehung) gefunden. Da dieser Bericht gleichzeitig 
eine vorzügliche, dem betreffenden Zögling voll gerecht werdende 
Schilderung darstellt, so möchte ich ihn wörtlich bringen, wenn ich 
mich auch dem recht pessimistischen Endurteil nicht ganz anzu¬ 
schließen vermag. 

„Die Entwicklung des K. während seiner 5jährigen Zugehörigkeit zur 
hiesigen Anstalt war keine günstige. Sowohl in der Anstalt als auch im 
Dienst hat er mir nur Not und Sorge bereitet. Wiederholt mußte er wegen 
schlechter Führung in die Anstalt zurückgenommen werden. Sämtliche 
Dienstherren beklagten sich über den losen Mund, das rohe und gemeine 
Wesen des Zöglings. Auch die militärische Erziehung scheint dem Burschen 
nicht zum Segen zu gereichen. Er hat seit seinem Diensteintritt schon 
dreimal mit Arrest bestraft werden müssen. Von der Zukunft dieses jäh¬ 
zornigen Menschen, der anscheinend stark erblich belastet ist, verspreche 
kh mir nichts Gutes. Ich vermute, daß er nach seiner Entlassung vom 
Militär immer mehr sinken und in sein altes Leben zurückfallen wird. 
Nach alledem kann er für die menschliche Gesellschaft'nur als „verloren“ 
betrachtet werden.“ 

Fasse ich die einzelnen, in den Fürsorgezeugnissen enthaltenen 
Charakterschilderungen zu einem Gesamturteil zusammen, so werden 
von den Anstalten selbst 8 Mann als unerziehbar und unbeeinflußbar 


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190 


Weyert, 


bezeichnet. Ich vermag mich auf Grund einer kritischen Würdigung 
des ganzen weiteren Lebenslaufes sowie auf Grund meiner eigenen 
Untersuchungen diesen Urteilen nur anzuschließen. Ich möchte aus 
den Erzieherberichten kurz einige Urteile anführen, um zu zeigen, 
wie gut mit wenigen Worten eine weitgehende Charakteristik gegeben 
werden kann. 

„Ein überaus frecher, roher Bursche, der sich der Ordnung des Hauses 
nicht fügen wollte und auf keine Weise erzieherisch auf sich einwirken 
ließ“, oder bei einem andern: „Ein störriger, widerspenstiger Charakter, 
wie wir ihn weder vor noch nach ihm in unserer Anstalt hatten“; ferner 
bei einem Dritten: „Er ist faul, fügt sich nicht der Hausordnung, führt 
freche Reden, besitzt Hang zu Raufereien und Saufereien, ist völlig ohne 
Pflichtgefühl“; bei einem Vierten: „Er vermag sein Verhalten nicht nach 
bestehenden Grundsätzen, z. B. Hausordnung, einzurichten; wir halten 
ihn geistig nicht für normal.“ Letztgeschilderter Mann wurde wegen 
Schwachsinns vom Militär entlassen. Die Berichte über die vier übrigen 
Leute lauten im wesentlichen ähnlich, wenn auch nicht so präzis. Er¬ 
wähnen möchte ich nur noch einen Fall. In dem Bericht der Fürsorge¬ 
anstalt heißt es: „G. gehörte der Fortbildungsschulklasse für Schwach¬ 
begabte und geistig Minderwertige an. Wegen seiner geringen Begabung 
vermochte er aber auch dem Unterricht dieser Klasse nicht zu folgen, 
sondern mußte, zumal er weder lesen noch schreiben konnte, gesondert 
mit Lese- und Schreibübungen, wie sie Kinder in den ersten Schuljahren 
üben, beschäftigt werden. Er machte den Eindruck eines geistig nicht 
ganz nortnalen Menschen.“ Die Fürsorgeanstalt bemühte sich sodann, 
durch Vermittlung des Landeshauptmanns sowohl als auch direkt durch 
Schreiben an das Regiment die Einstellung dieses Zöglings beim Militär 
rückgängig zu machen. Ich vermochte auf Grund sehr umfassender Nach¬ 
forschungen und Untersuchungen die Ansicht der Fürsorgeanstalt über 
die Dienstunbrauchbarkeit dieses Mannes nicht zu teilen, wenn ich auch 
ohne weiteres zugebe, daß bei ihm eine Debilität vorlag, und mir auch bewmßt 
war, daß genannter Mann nie ein zuverlässiger, wirklich brauchbarer Soldat 
sein würde. Anscheinend hat er doch noch eine verspätete geistige Ent¬ 
wicklung durchgemacht, denn er w'ar sehr wohl imstande, über 1 y t Jahre 
den dienstlichen militärischen Anforderungen zu genügen, war keineswegs 
durch Dummheit aufgefallen, w'eder bei der Truppe noch im Festungs¬ 
gefängnis, wo ich Gelegenheit hatte, die Offiziere, Unteroffiziere und Kame¬ 
raden eingehend selbst zu sprechen, nachdem sie ihn auf meinen Wunsch 
besonders beobachtet hatten. 

Die eben genannte Zahl (8) erfährt eine beträchtliche Erweiterung, 
wenn ich diejenigen Zöglinge hinzuzähle, bei denen zwar seitens der Er¬ 
ziehungsanstalt dasUrteil „unerzieh- und unbeeinflußbar“ nicht unmittelbar 
ausgesprochen wird, bei denen jedoch Charaktereigenschaften erwähnt 


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Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezöglingen im Festungsgefängnis. 191 

werden, die gleichfalls eine mangelnde Beeinflußbarkeit erkennen lassen. 
Eis sind dieses noch 6 Mann. Von diesen werden seitens der Anstalt 
Schilderungen gegeben als „verstocktes Wesen, finsterer Blick, bedarf 
strenger, fortwährender Aufsicht“ oder „bisweilen erregt und ausfallend, 
frech, beträgt sich unanständig, lügt fürchterlich, ist ein großer Schwindler“, 
ferner „ein ungezogener Bursche, der verschiedentlich entwichen ist, 
dessen Leistungen ganz minimal sind, dessen Ordnungsliebe und Fleiß 
viel zu wünschen übrig läßt, der viel gelogen“ (und anscheinend auch 
gestohlen) hat; ferner noch: „ein dreister, frecher Bursche, ohne jegliche 
sittliche Reife, leichtsinnig in seinen Angaben und ziemlich beschränkt“ usw. 

Also 14 Leute — die Hälfte meines Materials — werden von der 
Anstalt selbst mehr oder weniger eindeutig als unerziehbar bezeichnet. 
Bei weiteren 6 Fürsorgezöglingen fanden sich in den Akten kurze 
Bemerkungen, welche erkennen lassen, daß die Erziehung nicht geringe 
Schwierigkeiten hatte. So werden als Charaktereigenschaften erwähnt: 
„träges, zänkisches Wesen“, ferner „Leichtsinn und Mangel an ernste¬ 
rem Interesse für die Arbeit“, sodann „Mangel an Wahrheitsliebe“, 
„Frechheit und Notwendigkeit häufiger strenger Zurechtweisung“ und 
ähnliches. Gar nicht berücksichtigt habe ich die Fluchtversuche. 
Ich kann nur sagen, daß jeder Zögling im Laufe der Zeit gelegentlich 
versucht hat, zu entweichen; einzelne haben den Versuch sogar fünf- 
bis sechsmal wiederholt, oft mit Erfolg. Nur bei 4 Leuten findet sich 
in den Erziehungsakten die ausdrückliche Notiz, daß sie sich einwand¬ 
frei geführt hätten und gute Charaktereigenschaften besäßen. Diese 
4 sind sämtlich haltlose Menschen, die unter ständiger Aufsicht sich 
vielleicht sozial bewähren können, die aber — ohne derartige Aufsicht — 
mehrfach mit den Strafgesetzen kollidierten und auch weiterhin kol¬ 
lidieren werden. 

Um nun auf die Frage zurückzukehren, ob es der Fürsorge¬ 
erziehung als solcher zur Last gelegt werden 
kann, wenn sie bei allen meinen Leuten nicht 
imstande gewesen ist, sie zu sozial nützlichen 
Gliedern zu machen, möchte ich gleich hier erwähnen, daß 
es sich bei meinem Material durchaus um Ausnahmefälle handelt, und 
daß meine Beobachtungen im schroffsten Gegensätze stehen zu den 
Erfahrungen, die in der Statistik 1 ) über Fürsorgeerziehung Minder¬ 
jähriger niedergelegt sind. 

l ) Statistik über die Fürsorgeerziehung Minderjähriger (Gesetz vom 
2. Juli 1900) usw\ für das Rechnungsjahr 1909. Rawitsch 1911. 


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192 


Weyert, 


Es sind umfassende Nachforschungen, Erhebungen usw. angestellt 
worden über diejenigen Fürsorgezöglinge x ), die in der Zeit vom 1. April 
1904 bis zum 31. März 1909 aus der Fürsorgeerziehung ausgeschieden sind. 

Man vermochte über 8155 Zöglinge, das sind 82,1 % der überhaupt 
zur Entlassung gekommenen, sichere Unterlagen zu gewinnen. 


Es standen bei der 


Es führten sich davon 


Überweisung 
im Alter von 

genügend bis gut 

zweifelhaft 

ungenügend bis 
schlecht 

m. 

w. 

m. 

w. 

m. 

w. 

0—14 Jahren 

86.1 

88.0 

7.3 

7.2 

7.6 

4.8 

14-16 „ 

76.1 

76.4 

10.2 

9.8 

14.7 

14.8 

16—18 „ 

64.0 

66.0 

11.8 

13.0 

24.2 

22.0 


Wenn auch aus vorstehender Tabelle sich eindeutig ergibt, daß bei 
den in jugendlichem Alter bereits Überwiesenen eine erzieherische Beein¬ 
flussung weitaus günstiger sich gestaltet als bei den erst später Einge¬ 
wiesenen, so vermochte die Fürsorgeerziehung doch auch bei den Zög¬ 
lingen, die im Alter von 16 bis 18 Jahren eingewiesen wurden, noch recht 
erfreuliche Erfolge zu erzielen. Daß diese auch dauernde waren, zeigt 
nachstehende Tabelle: 


Es schieden ans 
im Jahre 

1908 . 

1907 . 

1906 . 

1906 _ 

1904 _ 


und führten sich nach der Ausscheidung 
genügend bis gut 


zus. 

m. 

w. 

75.0% 

76.4% 

74.4% 

70.1 „ 

71.0 „ 

69.0 

66.8,, 

66.4,, 

66.1 „ 

61.4 „ 

69.0„ 

64.0„ 

63.8 „ 

61.6 „ 

67.7 „ 


oder: es haben sich von den 8155 Zöglingen nach der Entlassung geführt: 
69,4 % genügend bis gut, 

11.3 % zweifelhaft, 

19.3 % ungenügend bis schlecht. 

Es sei schließlich auch noch die Kriminalität in einer Tabelle er¬ 


läutert: 


Es waren gerichtlich bestraft von den Zöglingen 



vor oder während der Für¬ 

nach der Fürsorge- 


sorgeerziehung 

erziehung 



zus. m. w. 

zus. m. 

w. 

0—14jährig 

36.7% 42.8% 19.6% 

12.2% 16.3% 

1-4% 

14-16 „ 

60.8 „ 74.3 „ 36.6 „ 

19.7 „ 24.2 „ 

11.0 .. 

16-18 „ 

64.9 „ 86.6 „ 41.6 „ 

31.0 „ 38.6 „ 

22.3 „ 


l ) Statistik über die Erfolge der Fürsorgeerziehung bei den in der 
Zeit vom 1. April 1904 bis zum 31. März 1909 aus der Fürsorgeerziehung 
ausgeschiedenen Personen, deren Überweisung nach dem Gesetz vom 
2. Juli 1900 erfolgt war. Kgl. Ministerium des Innern. Rawitsch 1911. 


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Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezöglingen im Festungsgefängnis. 193 


Ich würde es für recht wünschenswert halten, daß in den künftigen 
Statistiken die militärische Dienstzeit, besonders militärische Gefängnis¬ 
strafen mit berücksichtigt werden. Gerade die aktive Dienstzeit mit 
der notwendigen straffen Selbstdisziplin und Unterordnung scheint 
mir mit ein guter Prüfstein für den Erfolg einer gelungenen nach¬ 
haltigen Beeinflussung. 

Diese außerordentlich günstigen Erfolge der Fürsorgeerziehung 
werden in Zukunft noch zunehmen, wenn erst die umfassenden Ma߬ 
nahmen, welche der rechtzeitigen Erkennung, Unterbringung und Be¬ 
handlung der Psychopathen gewidmet sind, ihre praktische Wirkung 
zeigen werden. Durch eine allgemeine Verfügung des Justizministers l ) 
vom 24. Juni 1909 werden „Ermittlungen im gerichtlichen Fürsorge¬ 
erziehungsverfahren über den geistigen und körperlichen Gesundheits¬ 
zustand des Minderjährigen“ angeordnet, und ein weiterer Erlaß 2 ) 
des Justizministers vom 9. Januar 1911 verfügt „die ärztliche Unter¬ 
suchung des Geisteszustandes der Minderjährigen im Laufe eines 
gerichtlichen Fürsorgeerziehungsverfahrens“. Die von zahlreichen 
Provinzial Verwaltungen veranlaßten Untersuchungen der in Fürsorge¬ 
erziehung befindlichen Zöglinge durch Psychiater hat bereits bemer¬ 
kenswerte Erfolge gezeitigt. Als solche sind zu nennen die Fortbildungs¬ 
kurse, in denen die Erzieher durch Psychiater in gemeinverständlicher 
Weise auf die Erscheinungsformen des Schwachsinns hingewiesen und 
ihr Blick für die Erkennung der geistig auffälligen Zöglinge geschärft 
wird. Ein weiterer Erfolg ist die Einrichtung besonderer Erziehungs- * 
anstalten für die Psychopathen bzw. ihre Überführung in Heil- und 
Pflegeanstalten. Ferner sind für die geistig Minderwertigen besondere 
Hilfsklassen in gewissen Anstalten eingerichtet, und schließlich ist 
durch einen Erlaß *) des Ministers des Innern vom 2. November 1910 
ungeordnet worden, „das Ergebnis der psychiatrischen Untersuchung 
der minderjährigen Fürsorge- und Zwangszöglinge, sofern es auf 
geistige Minderwertigkeit lautet, den Ersatzbehörden für die Ent¬ 
scheidung über die Militärpflicht der Zöglinge zugänglich zu machen“. 

All diese dem Vorberichte der Statistik über die Fürsorgeerziehung 
Minderjähriger entnommenen Schilderungen und Angaben zeigen 
ebenso wie die zahlreichen Statistiken, in welch unermüdlicher, ziel- 

l ) *) *) siehe Statistik über die Fürsorgeerziehung usw. Abschnitt B, 

S. 89, 90, 128. 


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194 


Weyert, 


bewußter Arbeit die Ausführungsbehörden bemüht sind, „die be¬ 
stehenden Einrichtungen zu vervollkommnen und die außerordent¬ 
lich schwierigen Erziehungsaufgaben, die die Fürsorgeerziehung täglich 
neu stellt, nach Kräften befriedigend zu lösen“. 

Ich möchte es als wünschenswert bezeichnen, wenn über jeden 
Fürsorgezögling bei seinem Ausscheiden aus der Fürsorgeerziehung 
auf einer Konferenz sämtlicher Erzieher ein zusammenfassendes, ab¬ 
schließendes Gutachten abgegeben und zu den Personalakten genommen 
wird, etwa so, wie ich es wörtlich im vorhergehenden in einem Falle 
anführen konnte. Ich glaube, daß — durch die Notwendigkeit eines 
gegenseitigen Meinungsaustausches — Urteile über Charaktereigen¬ 
schaften von Zöglingen und Ansichten der Erzieher zur Sprache ge¬ 
langen, die sonst in die Akten nicht hineinkommen würden; für die 
Nachforschungen gewännen wir sicher ein unschätzbares Material durch 
diese zusammenfassenden Schlußgutachten. 

Bereits mehrfach habe ich im vorhergehenden die soziale Be¬ 
währung gestreift; um auf sie im Zusammenhang näher einzugehen, 
möchte ich zunächst kurz den Beruf des von mir untersuchten 
Materials streifen. Es ergaben sich — obgleich dieses Kapitel ja noch 
eigentlich zur Fürsorgeerziehung gehört — interessante Einblicke in 
die Persönlichkeit meiner Leute. 

Ein Handwerk hatten erlernt 7 Leute (5 das Schlosser- bzw. Schmiede-, 
0 einer das Tischler-, einer das Schneiderhandwerk). 5 hatten die Lehrzeit 
nicht durchgehalten, vier infolge ihrer Unbeständigkeit, indem sie aus der 
Lehre entliefen; einer war für die Erlernung des freiwillig erwählten 
Schmiedehandwerks — nach dem Urteil des Lehrherrn — zu „beschränkt“. 

In bestimmten Betrieben waren bis zu ihrem Diensteintritt tätig 
10 Mann, und zwar meist in der Landwirtschaft als Knechte bzw. in der 
Stadt als Kutscher. Von diesen befanden sich mehrere monate- (ja einige 
wenige sogar jahre-) lang bei denselben Arbeitgebern. Ein ausgesprochen 
unstätes Leben führten 11 Mann. Von diesen waren als „Gelegenheits¬ 
arbeiter“ in verschiedenen Betrieben des Inlandes tätig 3 — soweit sie 
nicht im Gefängnis saßen (s. Lebenslauf H., S. 217 u. 236, Be., S. 214 
u. 235, W. S. 206 u. 231). 7 waren längere Zeit im Auslande, einer als 

Wanderbursche, 6 auf Schiffen als Heizer, Kohlentrimmer, im Auslande 
als Tagelöhner, Hafenarbeiter, auf Farmen usw. Nur einer — ein aus¬ 
gesprochen schwachsinniger Mensch — gab unumwunden zu, nie gearbeitet 
zu haben, sondern als Zuhälter sich durch das Leben geschlagen zu haben 
(s. Lebenslauf T., S. 208 u. 233). 


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Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezöglingen im Festungsgefängnis. 195 

Es nimmt kein wunder, daß von meinem Material ein nicht un¬ 
beträchtlicher Prozentsatz es versucht hat, sich dem Dienstein¬ 
tritt beim Militär zu entziehen. Im ganzen sind von 
meinen 29 Mann 11 als unsichere Heerespflichtige eingestellt worden 
(38 %); sicher eine recht hohe Prozentzahl, wenn man berücksichtigt, 
wie relativ selten die unsicheren Heerespflichtigen beim Heere sind. 
Einen stichhaltigen Grund für den Versuch, sich der Wehrpflicht zu 
entziehen, habe ich bei den Leuten eigentlich nicht recht ermitteln 
können; ich habe wenigstens nicht den Eindruck gehabt, daß bei der 
Mehrzahl Furcht oder tiefergehende Abneigung gegen das Militärleben 
die Ursache war, höchstens eine an und für sich allgemein bestehende 
Abneigung gegen ein geordnetes, geregeltes, diszipliniertes Leben. 
Diese Auffassung ergibt sich aus der Tatsache, daß von den 11 als 
besonders unstät geschilderten Leuten allein 7 als unsichere Heeres - 
pflichtige eingestellt worden sind. 

Wenn schon die vorhergehenden Ausführungen einen wertvollen 
Rückschluß auf das soziale Scheitern meines Materials zulassen, so 
gibt doch das deutlichste Bild die Kriminalität. 

Unbestraft sind nur 3. Von den verbleibenden 26 sind bestraft: 


wegen: Anzahl der Personen: 

Gewalt und Drohung gegen Beamte . 4 

Hausfriedensbruchs. 3 

Unzucht mit Gewalt usw. 0 

Ärgernis durch unzüchtige Handlung. 0 

Beleidigung. 0 

einfacher Körperverletzung. 5 

gefährlicher Körperverletzung. 1 

einfachen Diebstahls, auch im wiederholten Rückfall. 16 

schweren Diebstahls, auch im wiederholten Rückfall. 8 

Unterschlagung . 3 

Betrugs. 2 

■Sachbeschädigung . 3 

t'bertretungen nach § 360 Str.-G.-B. u. folg. (Betteln, Landstreichen, 
Obdachlosigkeit, Unfug usw.) . 14. 


Die Strafen gemäß § 360 u. folg, lassen keinen Rückschluß auf die 
Persönlichkeit zu, so lange sie die einzigen Gesetzesübertretungen des 
Mannes darstellen. Dieses ist bei 5 — unter den 14 gemäß § 360 usw. 
Bestraften — der Fall In diesen 5 Fällen scheint es sich um gelegent¬ 
liches Betteln usw. aus Arbeitlosigkeit, Not gehandelt zu haben, 


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Original fro-rri 

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196 


Weyert, 


beim Verüben von Unfug um Handlungen, die sicher unter stärkerer 
oder geringerer Alkoholeinwirkung zustande kamen. 

Als weitaus alle andern strafbaren Handlungen überragend stellen 
sich die Vergehen gegen das Eigentum dar. Ich möchte die vor¬ 
stehende Tabelle noch ergänzen durch folgende Aufstellung: 

Es wurden bestraft 1 2 3 4 6 6 mal 

wegen einfachen Diebstahls (auch im wiederholten 

Rückfall) im ganzen 16 M&nner, und zwar 8 4 3 — — 1 

Von den 8 wegen schweren Diebstahls bestraften Personen waren 
5 bereits wegen einfachen Diebstahls vorbestraft. Von den in vorstehender 
Tabelle aufgeführten 8 wegen einfachen Diebstahls einmal bestraften 
wurden 2 später noch wegen schweren Diebstahls bestraft, zeigten also 
eine Tendenz zu gröberen Eigentumvergehen. 

Ich wende mich im Nachfolgenden zu der Kriminalität 
meines Materials während ihrer aktiven Dienstzeit 


Die jetzige Gefängnisstrafe war — ohne Berücksichtigung bereits 
früher verhängter militärischer Strafen mit Arrest, Gefängnis — ausge¬ 
sprochen worden: 


wegen 

bei 

Soldaten 

(Anzahl) 

Von diesem 
wurden in 
Anschluß an 
ihre Straftat 
fahnenfltleht. 

1. unerlaubter Entfernung . 

8 


2. Fahnenflucht .~. 

8 


3. strafbarer Handlungen gegen die militärische Unter¬ 
ordnung . 

6 

2 

4. Unterschlagung. 

2 

1 

6. Diebstahls (auch schweren) . 

6 

2 

6. Betrugs. 

1 

7. Körperverletzung... 

2 


8. Notzucht. 

1 

— 


Z u 1. Unter den wegen unerlaubter Entfernung jetzt mit Ge¬ 
fängnis bestraften Soldaten ist wegen desselben Vergehens einer bereits 
4 mal, ein zweiter bereits 5 mal vorbestraft — letzterer überdies noch 
8 mal mit Arrest und Gefängnis wegen strafbarer Handlungen gegen die 
militärische Unterordnung — (s. Lebenslauf K., S. 207, u. M. A., S. 209). 

Z u 2. Von den 8 wegen Fahnenflucht Verurteilten sind 6 schwerer 
vorbestraft, und zwar einer wegen unerlaubter Entfernung mit Arrest, 
zwei wegen Fahnenflucht mit Gefängnis, ein vierter zweimal wegen un¬ 
erlaubter Entfernung mit strengem Arrest und einmal wegen Fahnenflucht 
mit Gefängnis. Ein fünfter ist wegen widernatürlicher Unzucht (begangen 
an einer Stute) und anschließender Fahnenflucht mit Gefängnis vor¬ 
bestraft (s. Lebenslauf E., S. 212 u. 234). Ein sechster ist während seiner 
10 monatigen Dienstzeit 17 mal mit — hauptsächlich strengem — Arrest 


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Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezöglingen im Festungsgefängnis. 197 

vorbestraft worden, davon allein 8 mal wegen Verstöße gegen die mili¬ 
tärische Unterordnung (s. Lebenslauf T., S. 208, graphisch 3, S. 233). 

Z u 3. Die 6 Soldaten, verurteilt wegen strafbarer Handlungen 
?egen die militärische Unterordnung, sind zur Hälfte schwerer vorbestraft. 
Einer ist 6 mal, ein zweiter 4 mal wegen der gleichen Verfehlungen, jedoch 
leichteren Grades, vorbestraft; von diesen beiden überdies einer noch 
«mal wegen kleinerer Verstöße gegen die Disziplin (s. Lebenslauf K., 
S.207u. 232). Der dritte (s. Lebenslauf W., S. 206 u. 231) ist in 2 y 2 Jahren 
zweimal wegen unerlaubter Entfernung mit strengem Arrest und Gefängnis, 
einmal — ebenso wie jetzt — mit Gefängnis wegen Gehorsamverweigerung 
und Achtungsverletzung sowie 8 mal wegen kleinerer Verstöße gegen die 
Disziplin bestraft. 

Z u 8. Von dem wegen Notzucht Bestraften sei nur — mit Rück¬ 
sicht auf die verhältnismäßige Seltenheit des Verbrechens — erwähnt, 
iaB er 5 mal vorbestraft war wegen kleinerer Verstöße gegen die Disziplin 
biw. Trunksucht im Dienst. Die Straftat selbst hatte er auch unter 
Alkoholwirkung verübt. 

Wie aus den vorhergehenden Ausführungen sich zeigt, spielt die 
unerlaubte Entfernung von der Truppe bzw. Fahnenflucht die größte 
Rolle. Es ist dieses im Hinblick auf die Eigenart der militärischen 
Verhältnisse ja hinreichend verständlich. Ich möchte auf dieses Delikt 
Loch etwas näher eingehen, gerade im Hinblick auf seine Bedeutung 
■är militärische Verhältnisse. 

Von meinen 29 Leuten wurden im ganzen fahnenflüchtig (bzw. 
riifemlen sich unerlaubt von der Truppe) 16, das bedeutet 55 %. 

Die Fahnenflucht (bzw. unerlaubte Entfernung) wurde begangen: 


^1 im i. Vierteljahre der Dienstzeit von.6 Mann, 

b) im 2. Vierteljahre der Dienstzeit von. 2 Mann, 

•■) während des 2. Halbjahres der Dienstzeit von. 7 Mann, 

'!) im 2. Dienstjahre nur von. 1 Mann, 

■A zwar im Anschluß an einen Diebstahl. 


Zu a. Von diesen 6 Mann wurde einer nach 10 Tagen, einer im 1., 
*-i im 2. und zwei im 3. Monat der Dienstzeit fahnenflüchtig. 

Mehrfach fahnenflüchtig usw. während ihrer Dienstzeit wurden 
Mion. 

Daß während des ersten Halbjahres allein 8 — also die Hälfte — 
Zufluchtig wurden, erscheint mir von Bedeutung. Das Militär- 
-tn mit seinen zahlreichen fremdartigen Eindrücken, der Zwang zu 
^ahbchkeit, Sauberkeit und Unterordnung ist sicher vielen unbequem, 
*id «ine wirkliche Freude am Militärleben wird in dem allerersten 
>nn der Dienstzeit wohl nur von wenigen empfunden. Jedoch 
'** am Entschloß der Fahnenflucht ist ein weiter Weg. Die ständige 


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198 


W eyert, 


Aufsicht, die gerade im ersten Vierteljahre den Rekruten im Interesse 
der Ausbildung zuteil wird, die Bekanntgabe der strengen Strafen, 
welche gerade auf die Fahnenflucht gesetzt sind, und zwar nicht nur 
Freiheitstrafen, sondern auch die entehrende Versetzung in die 2. Klasse 
des Soldatenstandes, das Bewußtsein, daß es unter den geordneten 
heutigen polizeilichen Maßnahmen doch schwierig ist — zumal ohne 
Geld und fern vom Elternhause — sich längere Zeit verborgen zu halten 
— alle diese Faktoren lassen einen geistig Vollwertigen doch nur in 
den alleräußersten Fällen den Gedanken einer Fahnenflucht ernstlich 
in Erwägung ziehen. Sehr wohl ist es möglich, daß ein Mann den 
Urlaub überschritten hat und nun aus Furcht vor Strafe nicht wagt, 
sofort zurückzukehren. Ich gebe ohne weiteres zu, daß sich auf diese 
Weise auch einige Fälle von unerlaubter Entfernung bei meinem 
Material erklären. Aber dem geistig Vollwertigen geht doch die Dis¬ 
ziplin zu tief in Fleisch und Blut über, als daß er es wagt, sobald der 
Urlaub einmal überschritten ist, nun ganz und gar davonzulaufen, 
ohne Überlegung, daß er dadurch seine Straftat nur vergrößert und 
bei der Festnahme schwerere Strafe zu gewärtigen hat. Es haben sich 
nun von den 16 Leuten dieser Gruppe allein 5, also ein Drittel, mehr¬ 
fach von der Truppe entfernt bzw. sind fahnenflüchtig geworden, 
und zwar obgleich sie durch die vorhergehenden Fälle von der Aus- 
sichtlosigkeit ihres Unterfangens hätten überzeugt sein müssen. Sie 
entwickelten also eine Unbelehrbarkeit, die allein schon die Aufmerk¬ 
samkeit des Psychiaters zu erregen imstande war. 

Im nachfolgenden zweiten Teil meiner Arbeit 
möchte ich näher auf die Psyche meines Materials ein- 
gehen. Ich trat an die Untersuchung heran in der Erwartung, daß 
es mir mehrfach gelingen würde, Fälle von Jugendirresein bzw. von 
eigentlichen Psychosen zu ermitteln. In dieser Annahme täuschte 
ich mich jedoch. Es handelt sich fast ausschließlich um angeborene 
Schwachsinnszustände oder die große Gruppe der psychopathischen 
degenerativen Konstitutionen. Die Tatsachen, daß — wie ich aus 
eigener Erfahrung sagen kann — wirkliche Psychosen beim Militär 
wohl kaum noch zur Aburteilung oder Einweisung in die Gefängnisse 
kommen, ist zurückzuführen auf das wachsende Verständnis gerade 
von uns Militärärzten für die Psychiatrie, welches durch die zahl¬ 
reichen Maßnahmen der Medizinalabteilung, die Veröffentlichungen in 


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Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezöglingen im Festongsgefängnis. 199 

den speziell militärärztlichen Zeitschriften usw. noch ständig gefördert 
und vertieft wird. Es hat ferner seinen Grund darin, daß in höchst 
dankenswerter Weise seitens der militärischen Gerichte gerade der 
Psychiater ungemein häufig um sein Urteil gefragt wird, sicher weit 
häufiger, als es bei den Zivilgerichten der Fall zu sein pflegt. 

Unter meinem hier verwerteten Material findet sich nur ein Fall 
von Jugendirresein, welches erst im Gefängnis zum Ausbruch 
kam. Der Fall sei nachstehend geschildert, da er viele interessante 
Momente darbietet. 

Jas.; unehelich geboren; vom Vater ihm nichts bekannt. Die Mutter 
heiratete später und starb vor einigen Jahren an Wassersucht. Uber 
Nerven-, Geisteskrankheiten usw. in der Familie nichts zu ermitteln. 
Keine Kinderkrankheiten. Besuchte kaum die Schule, da die Eltern als 
Binnenschiffer fast ständig unterwegs waren. Mit 11 y 2 Jahren regelmäßige¬ 
rer Schulbesuch, da die Eltern seßhaft wurden. Das Lernen fiel ihm schwer, 
hatte „keine Lust“, schwänzte fast andauernd und kam in Fürsorge¬ 
erziehung. In der Anstalt war er ein williger, harmloser Junge, der 
sich jedoch leicht von den Kameraden verführen ließ und allerlei dumme 
Streiche ausübte. Vom 15. bis 17. Lebensjahre war er bei einem Bauern 
als Knecht untergebracht, führte sich jedoch angeblich infolge ungenügen¬ 
den Essens und infolge Mißhandlung schlecht, machte zwei Selbstmord¬ 
versuche (durch Erhängen und öffnen der Pulsadern), lief davon, stahl 
Tauben und Hühner, die er verkaufte usw. Infolgedessen kam er auf 
'■in Jahr in die Anstalt zurück, wo er sich wieder — scheinbar — leidlich 
führte. Als Knecht auf einem Gute untergebracht, geriet er in Schläge¬ 
reien, beging Diebstähle und wurde zu V/ 4 Jahr Gefängnis verurteilt. Nach 
Verbüßung der Strafe war er mehrere Monate als Matrose teils auf Übersee¬ 
dampfern, teils auf Segelschiffen tätig und wurde Oktober 1907 bei einem 
Infanterieregiment eingestellt. Abgesehen von zwei kleineren Arrest- 
'trafen wegen unpassenden Benehmens gab seine Führung zu Tadel keinen 
Anlaß. Im Dezember 1908 beging er als Postordonnanz mehrere Dieb- 
Stahle (durch öffnen fremder Pakete, deren Inhalt er für sich verwendete), 
wurde im Januar 1909 zu 1 \ 2 Jahren Gefängnis verurteilt und kam im 
Februar 1909 zur Strafverbüßung in das Festungsgefängnis Spandau. 
Die Stubenkameraden schilderten ihn als fleißigen, willigen Menschen, 
fröhlichen, stets zu Scherzen und Lachen aufgelegten Kameraden, der sich 
allerdings durch sein Lachen und ein gewisses vorlautes Wesen mehrfach 
kleine Disziplinarstrafen zuzog. Strafen nahm er sich zuweilen recht 
iu Herzen, weinte und erklärte, er wolle nun ein anderes, ordentliches 
Leben beginnen. Zeitweilig zeigte er sich für Stunden bis 2 Tage lang 
unzugänglich, ging nicht auf die Scherze der Kameraden ein und war — 
gegen sonst — leicht empfindlich. Diese Zustände sollen besonders auf- 


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getreten sein, sobald das Gespräch auf die Mutter des Jas. kam, an der 
er mit offenkundiger Liebe gehangen hatte. Einige Male will auch ein 
Stubenkamerad beobachtet haben, daß J. still und teilnahmlos unter 
seinem Wandschränkchen saß. Auf Fragen habe er den Kameraden 
groß und völlig verständnislos angestiert, die Gesichtsfarbe sei auffällig 
blaß gewesen. Nach kurzer Zeit sei er dann wieder „allmählich mitteil¬ 
samer und froher“ geworden. Den Vorgesetzten, Arzt, Anstaltgeistlichen 
fiel er in keiner Hinsicht auf. 

Am 18. November 1909 ließ sich Jas. früh eine kleine Hautwunde 
ärztlich verbinden, wurde hierbei ohnmächtig, erholte sich aber bald und 
nahm seine Arbeit wieder auf. Einige Zeit darnach wurde ihm „schwindlig“, 
und er erhielt die Erlaubnis, sich ins Bett legen zu dürfen. Hier wurde ihm 
wieder schwindlig und übel, und es setzt von jetzt ab ein mehrstündiger 
Erinnerungsdefekt ein. Während desselben spielte sich folgendes ab: Jas. 
wälzte sich viel im Bette umher, drehte und krümmte den Körper zu¬ 
sammen und reagierte nicht auf Fragen. Herbeigerufen, fand ich ihn 
stöhnend und unruhig sich im Bette umherwälzen. Auf Anrufen führte 
er Aufträge, z. B. öffnen der Augen, Vorstrecken der Zunge, Hochheben 
der Hand usw., sinngemäß und ohne wesentliche Verlangsamung aus. 
örtlich war er richtig orientiert, erkannte mich als Arzt und erinnerte sich, 
daß ich ihm seinen Finger verbunden hatte. Er wußte jedoch nicht mehr, 
wann es geschehen war (vor 10 Stunden!). Auf weitere Fragen erfolgten 
nur sehr spärliche, oft gar keine Antworten. Puls 72, regelmäßig, Pupillen 
mittelgut, weit und ausgiebig reagierend. Zunge wird gerade vorgestreckt, 
zittert nicht. Keine Bißverletzungen. Sofort in das Lazarett überführt, 
wälzte er sich auch hier unruhig umher, sprach viel vor sich hin, „als ob 
er sich auf einem Schiffe befände, z. B. Anker heben, Segel raffen usw.“. 
Allmählich wurde er ruhiger, schlief ein und erwachte am folgenden Morgen 
völlig klar, jedoch mit einer Amnesie für die vorhergegangenen Ereignisse. 

Ich beobachtete ihn noch mehrere Tage im Lazarett, entließ ihn dann 
wieder versuchweise zum Dienste im Gefängnis, ließ ihn jedoch ständig 
unauffällig beobachten, fragte unauffällig die Kameraden über ihn, unter¬ 
hielt mich selbst mit ihm bei jeder passenden Gelegenheit usw. Sein 
ganzes Verhalten dienstlich und außerdienstlich blieb gegen früher völlig 
unverändert, so wie es bereits geschildert wurde. Am 14. Februar 1910 
fiel er in seiner Stube dadurch auf, daß er viel umherging, andauernd etwas 
suchte, wobei er vor sich hinsprach, z. B. „Wo ist es denn hin“, „Ich habe 
es doch hier vergraben“ usw. Am 15. Februar war sein Benehmen gegen 
die Kameraden diesen auffällig; Jas. trat z. B. plötzlich zu einem Stuben- 
kameraden heran und sagte unmotiviert: „Der Mann hat Recht“. Den 
Vorgesetzten ahmte er hinter dem Rücken nach, schwätzte viel verwirrtes, 
dummes Zeug, fuhr mit seinem eigenen Gesicht andern in das Gesicht, 
stieß grunzende Laute aus, zeigte sich ganz unzugänglich für eine zu¬ 
sammenhängende, geordnete Unterhaltung. In der Nacht vom 15. zum 


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Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezöglingen im Festungsgefängnis. 201 


lß. Februar 1910 weckte Jas. plötzlich einen Stubenkameraden und fragte: 
..Hast du sie weggenommen ?“ Ohne die Antwort abzuwarten, ging er 
fort, holte sich einen Besen, fuhr mit diesem unter die Betten, dabei 
murmelnd: „Die kleine Maus habe ich gefunden, die große kann ich nicht 
linden.“ Kameraden, die ihn beruhigen wollten, bedrohte er mit dem 
Besen, fing an zu lärmen, militärische Kommandos laut zu rufen, ergriff 
tinen Kasten, den er umherschob, wobei er den Ruf der Automobilhupe 
nachahmte. Auf alle Fragen usw. gab er nur stereotyp dieselbe Antwort: 
..Ich habe die weiße Maus nicht gemordet“. Einem herbeigerufenen Unter¬ 
offizier antwortete er auf alle Fragen stereotyp: „Rock ohne Ärmel“. 
Isoliert — zur eigenen Sicherheit — schlief er kurze Zeit, saß dann in hocken¬ 
der Stellung auf dem Bett. Auf Fragen erzählte er in konfuser, verworrener 
Weise, sein Vater sei Bürgermeister, habe seine eigene Frau ermordet usw. 
Ich fand ihn in einer Ecke der Zelle stehend, vor sich hinstierend, ohne 
«einer Umgebung Beachtung zu schenken. Aufgerüttelt, bezeichnete er 
mich — auf dahingehende Frage — als einen „Preuß“, war zeitlich und 
örtlich unorientiert, behauptete, der Vater habe die Mutter ermordet, und 
er werde der Täterschaft bezichtigt. Die Gegenstände der Zelle benannte 
er richtig; den ihm gereichten Kaffee wollte er nicht trinken, das sei Wasser 
und röche nach Leichen. Der Puls, 76, regelmäßig; die Pupillen reagierten 
prompt und ausgiebig; die Patellarreflexe in‘normaler Stärke auslösbar. 
Romberg war angedeutet. Bei Beklopfen der Muskeln trat deutliches 
fibrilläres Muskelzucken ein. Es bestand ferner eine allgemeine, leichte 
Hypalgesie, lebhafte Dermographie, angeblich leichtes Globusgefühl. 
Durch Druck auf die Austrittsteilen der NN. supraorbitales sowie vom 
linken sogenannten Ovarialpunkte konnten typisch psychogene Zustände 
■msgelöst werden, nämlich Schwindelgefühl, Gefühl des reifenförmigen 
Kopfschmerzes, leichte Übelkeit, Herabsetzung des Hörvermögens usw. 
Durch leichte Suggestion gelang es, diese Empfindungen zum Schwinden 
zu bringen bzw. sie in beliebiger Weise zu modifizieren. Auch leichte 
kataleptische Zustände konnten künstlich — durch Suggestion — hervor- 
Rerufen werden. Vorübergehend vermochte ich das sogenannte Ganaersche 
Svmptomenbild zu beobachten. Nach 23 Tagen trat eine Änderung des 
Krankheitbildes ein. Die psychogenen Symptome schwanden völlig, und 
« entwickelten sich ausgesprochene katatonische Erscheinungen. Jas. 
Mand oder saß teilnahmlos umher in deutlich gebundener Haltung, den 
Kopf auf die Brust gesenkt, die Hände gefaltet, mit starrem, unbewegtem 
Oesichtsausdruck. Es bestand Katalepsie, deutliche Echolalie, leichter 
Negativismus, zeitweilig völliger Mutazismus. Zuweilen gab er auf Fragen 
«pärliche Antworten; z. B. auf die Frage, wie es ihm ginge, klagte er tage¬ 
lang über Schwindelgefühl: „Das Schiff schaukelt so“. In der Folgezeit 
wurde er vorübergehend zugänglicher, zeigte sich ständig zeitlich und 
örtlich unorientiert, verkannte die Kameraden, duzte mich (gleichfalls 
nfolge Personenverkennung), hatte Gesichts- und Geschmackstäuschungen, 

Z«MvUt fbr P*jreHk4ri«. LXIX. 2. 14 


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auch Gehörshalluzinationen. Immer deutlicher trat die Katalepsie in Er¬ 
scheinung sowie — allerdings wechselnd — Echopraxie, Echolalie und kör¬ 
körperliche Sensationen (in Entwicklung begriffener physikalischer Ver¬ 
folgungswahn). Eines Nachts unternahm er einen ernstgemeinten Selbst¬ 
mordversuch, indem er unter die Bettdecke kroch und versuchte, sich mit 
dem Halstuch zu erdrosseln. 

Im Mai erfolgte seine Überführung in eine Irrenanstalt. 

Den Fall habe ich absichtlich so ausführlich geschildert, da er in 
verschiedenster Beziehung bemerkenswert ist. 

Er zeigt zunächst die Schwierigkeit einer exakten Diagnosen - 
Stellung. Ein bisher völlig unauffälliger Mensch erkrankt ganz plötzlich 
an einem Dämmerzustände, dessen Deutung unmöglich war — infolge 
mangelnder Unterlagen für die Erkenntnis der zugrunde liegenden 
Psychose (Epilepsie, Hysterie usw.). Der Dämmerzustand klingt in 
wenigen Stunden ab, der Mann versieht ein Vierteljahr hindurch völlig 
unauffällig und geistig gegen früher unverändert seinen militärischen 
Dienst. Wiederum plötzlich tritt eine auffällige Änderung in seinem 
äußeren Verhalten auf; er wird läppisch, verwirrt, erregt, hat Sinnes¬ 
täuschungen, zeigt das Oanser Bche Symptom, so daß man zunächst 
an einen hysterischen Dämmerzustand denken mußte. Sehr bald 
aber entwickelte sich ein typisches Jugendirresein, eine Katatonie, 
welche die Aufnahme des Mannes in eine Irrenanstalt bedingte. 

Wie meine Nachforschungen eigaben, hat der Mann bereits 2 Tage 
vor der Lazarettaufnahme Zeichen von geistiger Veränderung gegen¬ 
über den Kameraden gezeigt, ohne daß diese es für nötig hielten, die 
Vorgesetzten bzw. den Arzt zu benachrichtigen. Gerade akutere 
psychische Störungen (Erregungs-, Verwirrtheitszustände, Sinnes¬ 
täuschungen, Wahnideen) sind für die Erkenntnis einer Dementia 
praecox überaus wertvolle Hilfssymptome. In zahlreichen Fällen des 
Jugendirreseins fehlen sie bekanntlich völlig, und hier sind es „nur 
allmählich in Erscheinung tretende psychische Ausfallsymptome und 
Insuffizienzerscheinungen“, Beeinträchtigung „der Funktionen der 
Ausdauer, der Aufmerksamkeit und Kombinationsfähigkeit“ (Wieg- 
Wickenthal 1 )), welche das Krankheitbild beherrschen. Gerade aber 
diese Erscheinungen werden erfahrunggemäß von der Umgebung fast 

*) Wieg-Wickcnthal, Zur Klinik der Dementia praecox. Seite 8. 
Sammlung zwangloser Abhandlungen aus dem Gebiete der Nerven- und 
Geisteskrankheiten. Marhold, Halle 1908. 


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Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezöglingen im Festungsgefängnis. 208 

stets übersehen oder verkannt und als Ausfluß von Trägheit, Dick¬ 
felligkeit usw. gedeutet. Für unsere militärischen Verhältnisse besteht 
die Schwierigkeit, daß wir nur selten in der glücklichen Lage sind, 
die Eltern, Angehörigen, Dienstherren usw. mündlich zu sprechen, 
mithin kein klares Bild über den Geisteszustand eines Mannes vor 
seinem Diensteintritt gewinnen können. Entgehen uns die oben 
erwähnten akuteren psychischen Störungen, oder aber fehlen sie in 
der häufig schleichenden Entwicklung des Jugendirreseins gänzlich, 
so erwachsen uns bei forensischen Fällen nicht geringe Schwierigkeiten. 
Es taucht dann der in Laienkreisen noch so viel spukende Begriff 
..Simulation“ auf, und der Arzt wird — bei dem bekannten Mißtrauen 
gegen die Psychiater — für zu leichtgläubig gehalten, wenn er unter 
höherer Bewertung der Angaben der Kameraden als der Vorgesetzten 
die angebliche Trägheit, Unart, Unfolgsamkeit usw. als Zeichen einer 
beginnenden Geisteskrankheit erklärt. '' 

Anderseits zeigt dieser Fall, welch ungemein wertvolle Beobachtun¬ 
gen uns notgedrungen entgehen müssen, sobald sich ein Sträfling in 
Einzelhaft befindet. Ich hatte in Fällen von sogenanntem Zuchthaus¬ 
knall bei Einzelgefangenen mehrfach den Eindruck, daß doch wohl 
schon wichtige psychische Veränderungen in den letzten Tagen 
vor dem Ausbruch Vorgelegen haben mochten, deren Kenntnis die 
Beurteilung des betreffenden Falles nicht unwesentlich erleichtert hätte. 

Bei der — wie bereits erwähnt — oft recht langsamen und sich 
lange Zeit hinziehenden Entwicklung des Jugendirreseins ist seine 
Abgrenzung und Unterscheidung von andern Psychosen, besonders 
aber von den psychasthenischen Zuständen, nicht leicht. 

Daß epileptiforme Anfälle im Beginn der Dementia praecox Vor¬ 
kommen können, ist eine hinreichend bekannte Erfahrungstatsache. 
IHe Abgrenzung von einer genuinen Epilepsie wird aber wohl kaum 
je Schwierigkeiten bereiten. Ebenso wird die progressive Paralyse 
wohl gleichfalls differentialdiagnostisch meist ausgeschaltet werden 
können. 

Wesentlich schwerer ist bereits die Unterscheidung von den 
psychasthenischen Zuständen. Recht häufig finden wir „bei Beginn 
einer Dementia praecox — noch vor dem Ausbruch der psychischen 
Dissoziationserscheinungen — ein kürzer oder länger dauerndes hypo- 
ehondrisch-neurasthenisches Zustandbild, Immer aber habe ich ge- 

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fanden, daß diese symptomatischen Neurasthenien mit hypochondri¬ 
schen Vorstellungen im Initialstadium der Dementia praecox von 
vornherein das ominöse Gepräge mangelnder psychischer Reaktion 
im Sinne einer gewissen Resignation und Apathie an sich tragen, 
wodurch derartige angehende Dementia praecox-Kranke ganz wesent¬ 
lich kontrastieren von den unstäten, überall hilfesuchenden, klage¬ 
reichen und nie zufriedenen eigentlichen Neurasthenikern“ ( Wieg - 
Wickenthal S. 42). 

Die Differentialdiagnose zwischen Hysterie und Dementia praecox 
schließlich gehört „in gewissen Fällen vielleicht zu den schwierigsten 
Fragen der klinischen Psychiatrie“, wie Wieg-Wickenthal an der Hand 
mehrerer Fälle ausführt und einige im vorigen Jahre veröffentlichte 
Krankengeschichten von Lückerath 1 ) gleichfalls illustrieren. „Bei 
beiden Gruppen von Geistesstörungen — wenigstens im ersten Ver¬ 
laufe der Psychose — können rein funktionelle Störungen (Willens¬ 
störungen) allem Vorkommen, ohne deutlich hervortretende Demenz 
oder psychische Dissoziationserscheinungen.“ Über die Differential¬ 
diagnose möchte ich Wieg-WickerUhal weiter zitieren. 

1, „Die eigentlichen hysterischen Psychosen (Äquivalentpsychosen, 
postparoxysmale Störungen, Raptus hystericus, akute paranoide Zustand¬ 
bilder, chronische hysterische Psychosen) sind im allgemeinen im Ver¬ 
gleiche zu dem häufigen Auftreten der Dementia praecox gerade im Puber¬ 
tätsalter selten; nach dem 25. Lebensjahre nehmen die hysterischen 
Psychosen nach unserer Erfahrung wieder an Häufigkeit zu. 

2. Jede akut oder subakut einsetzende Psychose mit hysteriformen 
oder neurasthenischen Zügen, die bei einem früher ganz gesunden Patienten 
ohne degenerative Veranlagung und ohne hysterisch-neurasthenische Ante- 
zedentien auftritt, ist einer Dementia praecox verdächtig, besonders dann, 
wenn ein stuporöser Zustand oder tobsuchtartige Erregung die Szene er¬ 
öffnet (Katatonie).“ 

Die große Bedeutung — der angeborenen Schwachsinnszustände 
aller Grade — von der Idiotie bis zur leichten Debilität — für das 
Heer hat überaus zahlreiche Arbeiten gezeitigt, auf die ich hier nicht 
näher eingehen kann. Ich glaube, daß die Zahl der Schwachsinnigen 
im Heere — vorzugsweise der leicht Schwachsinnigen — eher unter¬ 
schätzt als überschätzt wird. Bei dieser großen Rolle der Im¬ 
bezillität ist es leicht begreiflich, daß auch unter meinen ehemaligen 

*) Lückerath , Zur Differentialdiagnose zwischen Dementia praecox 
und Hysterie. Allg. Ztschr. f. Psychiatrie 1911, Bd. 68, Heft 3, S. 312. 


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Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezöglingen im Festnngsgefängnis. 205 

Fürsorgezöglingen ein nicht geringer Prozentsatz von Schwach¬ 
sinnigen sich befindet. 

Ich möchte zunächst einige Fälle von stärkerem Schwachsinn 
schildern. 

1. M., 25 Jahre alt, ehelich geboren. Der Vater starb an einer rasch 
verlaufenden Krankheit, eine Schwester der Mutter war mehrfach im 
Irrenhause, eine Schwester des M. in einer Erziehungsanstalt, da sie stets 
..von Hause fortläuft“. Nähere Angaben über die Familie konnten nicht 
erlangt werden, da M. seit 15 Jahren zu der Mutter keine Beziehungen 
unterhält. Als Kind machte er Lungenentzündung und eine Drüsen- 
Operation am Halse (Narbe sichtbar) durch. In der Schule lernte er 
schlecht, besonders Rechnen und Geographie fiel ihm schwer. Wegen 
häufigen „Schwänzens“ der Schule und Mangel an erzieherischem Einfluß 
der Mutter kam er mit 12 Jahren in eine Fürsorgeanstalt. Nach den Akten 
der Anstalt zeigte er sich im Unterricht „sehr beschränkt“, „erschien zu 
der Erlernung eines Handwerks nicht begabt genug“, war „träge“, stahl, 
lief davon. Der Versuch, ihn bei einem Bauern unterzubringen, scheiterte, 
da M. auch diesem davonlief, dumme Streiche beging, stahl. Er ver¬ 
brachte daher die Zeit vom 12. bis 21. Lebensjahre fast ausschließlich 
in der Anstalt selbst. Vom 19. bis 21. Lebensjahre ist er viermal gerichtlich 
bestraft, dreimal wegen Betteins mit Haft, einmal wegen Hausfriedens¬ 
bruchs mit Gefängnis. 1906 aus der Fürsorgeerziehung entlassen, fuhr 
er als Schiffsknecht umher und wurde August 1907 als unsicherer Heeres- 
pflichtiger eingestellt. Bereits 6 Wochen nach dem Diensteintritt wurde 
er fahnenflüchtig, aber sehr bald ergriffen und zu 6 Monaten Gefängnis 
verurteilt. Im Gefängnis führte er sich straffrei Am 25. März 1908 zur 
Truppe entlassen, wurde er nach einem halben Jahre zum zweiten Male 
fahnenflüchtig, wieder nach kurzer Zeit ergriffen und zu 1 Jahr 7 Monaten 
Gefängnis verurteilt (hier wieder straffreie Führung). Der Kompagniechef 
beieichnete ihn in seinem Bericht als „geistig minderwertigen Menschen“ 
von stillem, stumpfem Wesen. Ein im wesentlichen gleiches Urteil fällte 
der Kompagniechef im Festungsgefängnis über M. Gründe für seine wieder¬ 
holte Fahnenflucht vermochte M. nicht zu nennen; nach ausdrücklicher 
Angabe hatte er es gut bei der Truppe; sexuelle Motive lagen nicht vor, 
■“bensowenig Alkoholwirkung. „Ich habe es mir nicht überlegt.“ 

Die Intelligenzprüfung wies einen Schwachsinn recht beträchtlichen 
Grades nach. M. wußte nicht einmal die Namen seiner Vorgesetzten, 
ebensowenig Vor- und Familiennamen der Mutter. Er zeigte sich unfähig, 
•‘infache Kombinations-, Differenzierungsaufgaben zu lösen, versagte 
bereits bei der allereinfachsten Ebbinghausschen Probe, sprach nur fünf¬ 
stellige Zahlen richtig nach, entwickelte bei Assoziationsaufgaben eine 
hochgradige Armut an Vorstellungen usw. 

Die körperliche Untersuchung zeigte M. als Mikrozephalen (52 cm 


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Schädelumfang). Schädel und Gesicht waren unsymmetrisch, die Stirn 
sprang stark vor, während die Schläfengegend deutlich eingefallen erschien. 
Beide Augäpfel standen ungleich hoch, links bestand Schielen. Die Nase 
verlief schief nach rechts. Am linken Ohr Z)ara>mscher Höcker; ferner 
Plattfußanlage. Auf den Armen fanden sich Tätowierungen (zwei Hände 
umrahmt von einem Kranz sowie ein Monogramm). Das Nervensystem 
zeigte — außer leichter Dermographie — keine Besonderheiten. M. wurde 
wegen Schwachsinns dienstunbrauchbar entlassen. 

2. W. (graph. Lebenslauf 1, s. S. 231), 24 Jahre alt, ehelich geboren. 
Der Vater war früher Säufer. Nähere Angaben über erbliche Belastung 
fehlen, da W. seit langen Jahren ohne Beziehungen zu den Eltern ist. In 
der Schule begriff er schwer und vergaß leicht, schwänzte viel, war ein 
Taugenichts, wurde zuerst mit 13 Jahren wegen Sachbeschädigung gericht¬ 
lich mit einem Verweise bestraft und kam in Fürsorgeerziehung. Die erste 
Anstalt bezeichnet seine Führung als schlecht und ihn selbst als „ver¬ 
stockte Natur, die sich nur dem Zwange füge“; die andere Anstalt kenn- 
zeichnete ihn als „rohen, zu Gewalttätigkeiten geneigten Burschen, der 
sich nicht an Ordnung und Zucht gewöhnen wollte“. Mehrfach verstand 
er es zu fliehen (s. Skizze). Vom 17. bis 20. Lebensjahre (1902 bis 1905) 
wurde er viermal gerichtlich mit Gefängnis bestraft, zweimal wegen Sach¬ 
beschädigung und zweimal wegen Diebstahls. Oktober 1907 Diensteintritt 
(im 22. Lebensjahre). Anfangs führte er sich straffrei, fand sich auch 
leidlich in das militärische Leben hinein. Nach einem halben Jahre jedoch 
ließ er in seinen Leistungen nach, vernachlässigte sich in seinem Anzuge, 
fing an zu trinken, überschritt den Urlaub, entfernte sich mehrfach von 
der Truppe, wurde frech gegen Vorgesetzte, verweigerte den Gehorsam usw. 
Er ist in den 2 l /i Jahren seiner Dienstzeit bestraft worden viermal mit 
Arrest und Gefängnis wegen unerlaubter Entfernung bzw. Urlaubsüber¬ 
schreitung, zweimal wegen Achtungsverletzung und Gehorsamsverweige¬ 
rung mit Gefängnis und außerdem noch mit zahlreichen kleineren Diszi¬ 
plinarstrafen. Bei der Truppe gilt er als „minderwertiger, verwahr¬ 
loster Mensch“. Auch bei ihm konnte ich einen beträchtlichen Grad von 
angeborenem Schwachsinn nachweisen. Hierfür sprach ja auch die völlige 
Unbeeinflußbarkeit durch Strafen, seine Unbelehrbarkeit und Unfähig¬ 
keit, sich gegebenen Verhältnissen unterzuordnen. Er täuschte vielleicht 
eine bessere Intelligenz vor — als er sie tatsächlich besaß — dadurch, 
daß er gern Schlagworte anwendete und sich als ein Opfer der Verhältnisse 
hinstellte. So z. B. antwortete er auf die Frage, ob ihm die mehrfachen 
Ermahnungen des Geistlichen nicht zu Herzen gegangen seien: „Das glaube 
ich doch nicht, was der sagt“, und weiter über seine Erziehung: „Ich bin 
nie unter verständigen Menschen gewesen“. 

Die körperliche Untersuchung ergab einen asymmetrischen Lang¬ 
schädel (Horizontalumfang 56 cm), schiefgestellte Nase, niedrige Stirn, 
tiefliegende Augen infolge stark vorspringender oberer Augenhöhlen- 


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Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezöglingen ira Festungsgefängnis. 207 


ränder, eingesunkenen Nasenwurzelansatz, enge Lidspalten und einen sehr 
massigen breiten Gesichtsschadei. Das Nervensystem zeigte keine Be¬ 
sonderheiten. W. wurde gleichfalls als dienstunbrauchbar entlassen. 

3. K. (Skizze 2, s. S. 232), 22 Jahre alt, unehelich geboren. Der Vater 
Ist ihm nicht bekannt, die Mutter hat einen andern geheiratet. Über erbliche 
Belastung ist nichts bekannt. Bis zum 8. Lebensjahre wurde er von den 
Eltern der Mutter erzogen, kam dann zu der Mutter, die inzwischen ge¬ 
heiratet hatte. Von dem Stiefvater wurde er angeblich viel geschlagen 
und schlecht behandelt, lief daher mehrfach von Hause fort. Das Lernen 
fiel ihm schwer, begriff schlecht, war „schwach im Kopfe“ und schwänzte 
viel. Mit 11' , Jahr kam er in Fürsorgeerziehung. In dem Beschluß des 
Amtsgerichts wird erwähnt, daß K. dem Pflegevater Geld unterschlagen, 
ein Yagabundenleben geführt, gestohlen. Schule und Konfirmationsunter¬ 
richt fast gar nicht besucht habe, und daß die Eltern und der Vormund 
außerstande seien, den K. zu „bändigen“. Bei der Aufnahme waren seine 
Schulkenntnisse ungenügend. Über sein Verhalten in der Anstalt finden 
<i< h Bemerkungen wie: „frech, dreistes, vorlautes Wesen, sehr hitzig und 
leichtfertig, in seinen Angaben leichtsinnig“. Er wird ferner als „ziemlich 
lieschränkt“ bezeichnet. Mehrfach entwich er, befreite dabei auch gelegent¬ 
lich andere Zöglinge. Zu einem Bauern als Knecht gebracht, beging er 
Einbruchdiebstähle, Messerstechereien, beteiligte sich an Schlägereien, 
warf Fensterscheiben ein usw. Vom 17. bis 20. Lebensjahre (1905 bis 1908) 
wurde er viermal mit Gefängnis bestraft, zweimal wiegen Sachbeschädigung, 
je einmal wegen Körperverletzung und schweren Diebstahls. Oktober 1909 
biensteintritt. Während seiner 11 monatigen Dienstzeit ist er 8mal mit 
Arrest, 6mal mit kleineren Disziplinarstrafen — meist wegen Ungehorsams, 
Schmutzigkeit, Frechheit usw. — bestraft worden, sowie einmal wegen 
Achtungsverletzung und Ungehorsam mit Gefängnis. Seine Führung 
war schlecht; K. war sowohl im praktischen als im theoretischen Dienst 
schwerfällig, langsam. Er selbst behauptet, in dem Dienstunterricht 
..nichts begriffen zu haben“. Auch bei ihm war der Grund in einem ange¬ 
borenen Schwachsinn beträchtlichen Grades zu suchen. 

In körperlicher Hinsicht zeigte er gleichfalls einen asymmetrischen 
Schädel (Horizontalumfang 57,5 cm), schiefgestellte Nase, schiefen Mund, 
«teilen Gaumen, verbildete Ohrmuscheln mit Dammschem Höcker. 

Das Nervensystem zeigte mehrere Abweichungen von der Norm, 
nämlich: linke Lidspalte enger als die rechte, fibrilläres Zittern der Zunge, ge¬ 
steigerte Pa tellar-Refl, rechts stärker als links, rechts sogar leichter Klonus 
der Patella, Zittern der Finger, Dermographie, leichte Hyperästhesie der 
gesamten linken Körperhälfte. Bei Berührungen mit der Nadelspitze 
oft starkes, psychisches Zusammenschrecken. Linke Warze und linker 
Ovarialpunkt leicht druckempfindlich, aber es gelingt selbst durch Sug¬ 
gestion nicht, psychogene Zustände hervorzurufen. 


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4. T. (Skizze 3, s. S. 233), 22 Jahre alt, ehelich geboren. Der Vater 
ist an Lungenschwindsucht gestorben, war starker Säufer. Bereits zu seinen 
Lebzeiten wohnte die Mutter mit einem andern Manne zusammen, der 
gleichfalls Alkoholiker war. Beide zogen hausierend im Lande umher, 
wobei der Sohn Zeuge des intimsten Geschlechtslebens beider wurde. 
Die Mutter soll selbst an Fallsucht leiden. Über erbliche Belastung ist 
sonst nichts zu ermitteln. Die Schule besuchte T. infolge des vagabon- 
dierenden Lebens der Eltern fast gar nicht. Im Alter von 14 Jahren 
wurde er wegen Diebstahls und Bettelei einer Erziehungsanstalt überwiesen, 
war bei der Aufnahme Analphabet, zeigte sich in den folgenden Jahren 
,,schwach begabt“, galt als „geistig nicht normal“ und vermochte „sein 
Verhalten nach bestehenden Grundsätzen, z. B. Hausordnung, schlecht 
einzurichten“. Der Versuch, ihn bei einem Landwirt unterzubringen, 
scheiterte; er verließ den Dienst ohne jeglichen Grund, arbeitete vorüber¬ 
gehend unter fremdem Namen in einer Fabrik, war aber im Hauptberuf 
„Zuhälter“. Wie aus seinen Erzählungen hervorgeht, hat er sich bei dieser 
Tätigkeit außerordentlich wohl gefühlt; eine besondere Zuneigung zu den 
ihn unterhaltenden Mädchen hat er nicht besessen. Von 1908 bis 1909 — 
in seinem 20. bis 21. Lebensjahre — ist er 8mal mit Haft und Gefängnis 
bestraft worden, wegen Bettelei, Diebstahls, Widerstands, Betrugs. Im 
August 1909 wurde T. als unsicherer Heerespflichtiger eingestellt. Wie 
aus der Skizze hervorgeht, ist seine Dienstzeit ein fast ständiger Verstoß 
gegen die Strafgesetze; von August 1909 bis März 1910 ist er llmal mit 
Arrest und Gefängnis bestraft worden, wegen Schmutzigkeit, Beleidigung 
eines Schutzmanns, hauptsächlich aber wegen leichterer und schwerer 
Verstöße gegen die Disziplin. Nach dem Berichte des Kompagniechefs 
zeigte er sich von Anfang an als „völlig verwahrlost und von denkbar 
minderwertiger Gesinnung“. „Die Strafen fruchteten bei ihm absolut 
nicht, schienen überhaupt nicht den geringsten Eindruck auf ihn zu 
machen.“ Im April 1910 zur Arbeiterabteilung versetzt, wurde er hier 
in 2 Monaten 6 mal mit strengem Arrest — gleichfalls wegen Verstößen 
gegen die militärische Unterordnung — bestraft, ließ sich eine Gehorsams¬ 
verweigerung, Achtungsverletzung zuschulden kommen und versuchte aus 
der Arrestzelle auszubrechen, wofür er eine Gefängnisstrafe erhielt. Er 
war bereits bei der Truppe auf seine strafrechtliche Verantwortlichkeit 
hin ärztlich untersucht worden; der Truppenarzt bejahte diese Frage, 
betonte jedoch, daß T. infolge seiner verwahrlosten Erziehung (mehrere 
Jahre in Erziehungsanstalt!!) auf einer sehr niedrigen Stufe der Ethik 
stände und geistesschwach sei. Ich wurde auf den Mann durch sein Straf¬ 
register aufmerksam und stellte bei ihm einen angeborenen Schwachsinn 
beträchtlichen Grades fest. T. vermochte bei der Intelligenzprüfung 
einfache Fragen zum Teil leidlich zu beantworten, soweit es sich um rein 
gedächtnismäßig niedergelegtes Wissen handelte; er war jedoch z. B. 
außerstande, 6 stellige Zahlen richtig nachzusprechen, und zeigte auf dem 


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Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezöglingen im Festungsgefängnis. 209 

Gebiete der Kombination, der logischen Schlußfolgerung, der Urteils¬ 
fähigkeit recht grobe Defekte. Ethisch war er ein tiefstehender Mensch, 
ohne das geringste Gefühl von Anhänglichkeit und Dankbarkeit. 

T. hatte einen Langschädel von 59 cm Umfang; der Schädel war 
unsymmetrisch und zeigte typische Wasserkopfbildung; der Gesichts¬ 
schädel war sehr massig und grob, Ohrläppchen fehlten fast ganz, während 
der obere Teil der Ohrmuscheln sehr stark ausgebildet war. Der Körper 
war stark behaart, es fand sich Plattfußanlage sowie seitens des Nerven¬ 
systems deutliche Dermographie und allgemeine leichte Hypalgesie. 

T. wurde als dienstunbrauchbar entlassen. 

5. Ma., 22 Jahre alt, ehelich geboren. Der Vater Säufer, arbeit¬ 
scheu, kümmerte sich nicht um die Familie und ist gestorben. Die Mutter 
leidet an Schwindelanfällen und „weiß öfters gar nicht, wo sie ist“. Ein 
Bruder säuft, ist arbeitscheu und wegen seiner Gewalttätigkeit zu längerer 
Gefängnisstrafe verurteilt. Ein anderer Bruder ist sehr „dumm“. In 
der Schule hat er sehr schwer gelernt; besonders das Rechnen fiel ihm 
schwer. Mit 10 Jahren wurde er durch Amtsgerichtsbeschluß der Fürsorge- 
anstalt überwiesen wegen Diebstahls, Schulschwänzens und Vagabundage. 
Den Eltern gelang es, diesen Beschluß rückgängig zu machen. Jedoch 
mit 11 Jahren wurde Ma. wieder der Fürsorgeerziehung überwiesen, und 
zwar wegen mehrfacher Beischlafsversuche an minderjährigen Mädchen, 
über sein Verhalten in der Anstalt urteilt der Direktor wörtlich: „Ma. 
i ? t nach unserem Dafürhalten geistig sehr beschränkt, wenn nicht direkt 
als dumm zu bezeichnen. Er hat in unserer dreiklassigen Anstaltschule 
die Oberstufe nicht erreicht, obgleich er erst mit 15 Jahren eingesegnet 
worden ist, sondern wurde aus der 2. Klasse entlassen. Bei der Arbeit 
zeigte er sich zwar willig, aber wenig anstellig “ Der Versuch, ihn das 
Schmiedehandwerk erlernen zu lassen, scheiterte. M. lief mehrfach aus 
der Lehre fort, stahl, log viel, war verstockt und unlustig zur Arbeit. Der 
Lehrmeister erwähnt die „große Dummheit“ des Ma. „Er kennt keine 
Gewichte, keinen Zollstock, kann nicht lesen, hat auch keine Lust, es noch 
zu lernen.“ In die Anstalt zurückgebracht, entwich er aus dieser und 
arbeitete — häufig wechselnd — als Knecht bei verschiedenen Bauern. 
Vor dem Diensteintritt Ist er nur einmal wegen groben Unfugs mit einem 
Jag« Haft bestraft. Oktober 1909 eingestellt, fiel er bald bei der Truppe 
in verschiedener Hinsicht auf. Der Kompagniechef erwähnt in seinem 
Bericht folgendes: „Ma. gehört nach geistiger und körperlicher Veran¬ 
lagung zu den schlechtesten Elementen, die zur Einstellung gelangen.“ 
Er erwähnt ferner, daß es nur durch äußerste Strenge gelang, „Ma. geistig 
und körperlich etwas zu fördern“. In dem Bericht wird weiterhin hervor- 
Kehoben der vollkommene Mangel an Erziehung (längere Jahre in Er¬ 
ziehungsanstalt!!) und Ehrenhaftigkeit, ferner die Unwahrhaftigkeit und 
der hochgradige passive Widerstand, den Ma. jeder erzieherischen Beein¬ 
flussung entgegengesetzt hätte. Am Schluß des Berichtes wird nochmals 


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Weyert, 


ausdrücklich „die außerordentliche Dummheit und Trägheit“ des Ma. 
hervorgehoben. 

Ma. überschritt 7 Monate nach dem Diensteintritt den Urlaub um 
mehrere Stunden, angeblich unter dem Einfluß von Alkohol. 8 Monate 
nach dem Diensteintritt lief er von der Truppe davon, nach Ansicht des 
Hauptmanns ohne Grund, „nur aus Haltlosigkeit“, wurde ergriffen und 
mit Gefängnis bestraft. 

Auch bei Ma. vermochte ich einen angeborenen Schwachsinn recht 
beträchtlichen Grades festzustellen. Dieser war allein schon durch den 
törichten Gesichtsausdruck des Mannes, sein ganzes außerordentlich 
schwerfälliges Wesen, das stark beeinträchtigte Auffassungsvermögen, 
den beträchtlich verlangsamten Gedankenablauf kenntlich. Jegliche 
Prüfung war recht schwierig, da Ma. nur sehr schwer die gestellten Auf¬ 
gaben begriff. Seine eigene Angabe über den Dienstunterricht: „Ich habe 
nicht viel geantwortet da“ erschien mir völlig glaubhaft. Als stich¬ 
haltigen Grund für seine Fahnenflucht vermochte er nur diesen anzu- 
geben, daß ihm das 'ganze militärische Leben außerordentlich schwer 
fiel und er weder im praktischen noch theoretischen Dienste mit den 
Kameraden gleichen Schritt zu halten vermochte. 

Ma. war ein ausgesprochener Mikrozephale von 52,25 cm horizon¬ 
talem Schädelumfang. Der Kopf war völlig unsymmetrisch, die linke 
Schädelhälfte auffallend stärker ausgebildet als die rechte. Die linke Lid¬ 
spalte war enger als rechts, die Nase zeigte in ihrem Längsverlauf eine 
doppelte Krümmung, der Gaumen war steil, kahnförmig, die Ohrläppchen 
waren angewachsen, beide Ohrmuscheln zeigten den Darwinschen Höcker; 
überdies bestand links Auswärtsschielen. 

Seitens des Nervensystems fanden sich Abweichen der Zunge nach 
rechts und Zittern derselben, allgemein gesteigerte Reflexe, besonders 
auch der Patellarreflexe; ferner Dermographie, Zittern der gespreizt vor¬ 
gestreckten Finger. 

Auch bei Ma. wurde das Dienstunbrauchbarkeitsverfahren ein- 
geleitet. 

Ich habe die vorstehenden Fälle absichtlich in solcher Ausführlich¬ 
keit geschildert, obwohl ich mir durchaus bewußt bin, daß eigentlich 
kein einziger vom psychiatrischen Standpunkt etwas Besonderes dar¬ 
bietet. Sämtliche Lebensgeschichten erscheinen aber — vom mili¬ 
tärischen Standpunkt — gerade durch ihre Übereinstimmung typisch. 
Bei allen waren wir in der glücklichen Lage, aus den Personalakten 
der Fürsorgeanstalten authentische Angaben über die Kindheit und 
Entwicklung zu erhalten und somit zu erkennen, wie sich der unzweifel¬ 
haft vorliegende Schwachsinn bis in die frühe Jugend zurückverfolgen 
läßt. Alle Personen zeigen bereits in der Kindheit auffällige* Zeichen. 


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Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezöglingen im Festungsgefängnis. 211 

schwänzen die Schule, führen ein Vagabundenleben, begehen Dieb¬ 
stähle usw., Taten, die bereits über den Rahmen der Dummen Jungen¬ 
streiche hinausgehen und eine frühzeitig beginnende Neigung zu anti¬ 
sozialem Verhalten dokumentieren. In der Schule leisten sie Un¬ 
genügendes, begreifen schwer, vermögen mit den übrigen Schülern 
nicht gleichen Schritt zu halten und versuchen, sich dem lästigen 
Zwange der Schule zu entziehen. Eine wesentliche erzieherische Be¬ 
einflussung durch die Fürsorgeanstalt gelingt nicht; wie die Leiter 
der Anstalten völlig richtig erkannt haben, zumeist aus Mangel an 
hinreichenden intellektuellen Fähigkeiten der Zöglinge. Bei den 
erethischen Imbezillen zeigt sich offenkundige Auflehnung, Frechheit, 
bei den torpiden mehr der passive Widerstand, die allgemeine Trottlig- 
keit. In einem Berufe scheitern sie völlig, sobald irgendwie nennens¬ 
werte geistige Leistungen von ihnen verlangt werden. Infolgedessen 
erwählen sie einfache Berufe, die nur körperliche Arbeit erfordern, 
werden z. B. Knecht, Arbeiter in Fabriken usw. Bis zu diesem Zeit¬ 
punkt sind viele, selbst hochgradig Schwachsinnige, durch das Leben 
sekommen, ohne ihrer Umgebung nennenswert aufgefallen zu sein, 
und es erwachsen uns bei unseren Nachforschungen Schwierigkeiten, 
die ich an anderer Stelle eingehender kritisch gewürdigt habe l ). Mit 
dem Diensteintritt beim Militär naht eine Zeit, die weit höhere geistige 
Anforderungen stellt; gerade bei den vorhergehend geschilderten Fällen 
tritt die Unfähigkeit der Anpassung, der Unterordnung in fest gefügte, 
geordnete Verhältnisse deutlich zutage. Anfangs, sobald die dienst¬ 
lichen Anforderungen noch gering sind und größere Rücksicht waltet, 
ist der einzelne noch imstande, längere Zeit äußerlich anscheinend 
unauffällig zu bleiben; ich erinnere an die mehrmonatige straffreie 
Führung des W T . (s. Skizze 1, S. 231). Die Beurteilung seitens der Truppe 
in überaus zahlreichen Fällen hat mir gezeigt, daß eine Abweichung 
von der Norm häufig durchaus richtig erkannt wird. Die Leute werden 
zumeist als minderwertig bezeichnet und Charaktereigenschaften an¬ 
geführt als Verkommenheit, Faulheit, Neigung zu Lug und Betrug, 
Mangel an Ehrenhaftigkeit, Selbstzucht, Streben usw. Überaus häufig 
wird aber die Ursache aller dieser Eigenschaften nicht richtig erkannt. 
Wie u. a. aus zwei der vorhergehend geschilderten Fälle hervorgeht, 

*) Weyert, Kritische Bemerkungen zur Erkennung des angeborenen 
Schwachsinns. D. militärärztl. Ztschr. 1911, Heft 20. 


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Weyert, 


wird die verwahrloste Erziehung als Ursache beschuldigt; berück¬ 
sichtigt man, daß die beiden derart beurteilten Individuen längere 
Jahre in Fürsorgeanstalten sich befanden, so kann meines Erachtens 
nicht gut von verwahrloster Erziehung die Rede sein. Gerade die 
Fürsorgezöglinge befinden sich bis zu ihrer Großjährigkeit noch weiter¬ 
hin unter der Aufsicht der Anstalt; es wird mithin bei ihnen noch in 
einem Alter ein erzieherischer Einfluß ausgeübt, in dem sich zahlreiche 
junge Leute von dem Einfluß des Elternhauses bereits recht 
beträchtlich losgelöst haben. 

Es herrscht in unserem Leben eine unverkennbare Neigung, gerade 
auf psychischem Gebiete modifizierende Ausdrücke zu gebrauchen. 
So wird erfahrunggemäß von Eltern die Dummheit ihrer Kinder ent¬ 
schuldigt mit Schwerfälligkeit, Langsamkeit, schwererer Auffassungs¬ 
gabe usw. 

Ähnlich habe ich es auch nicht so ganz selten in Berichten gefun¬ 
den. Am deutlichsten kommt dieses in einem Bericht zum Ausdruck, 
indem es heißt: „Seine Leistungen waren sonst im praktischen wie 
im theoretischen Dienst nicht genügend. Wenn sein Auffassungsver¬ 
mögen auch gering war, so ist er doch niemals durch geistige Be¬ 
schränktheit aufgefallen.“ Ich glaube, es ist in diesem Falle nahe¬ 
liegend, die unzulänglichen geistigen Leistungen in einem angeborenen 
Schwachsinn zu suchen, der nach meiner Untersuchung auch vorlag. 
Ich gebe ohne weiteres zu, daß die Erkennung des Schwachsinn? 
durchaus nicht immer leicht ist. Es wird immer dem „Wissen“ al? 
solchem ein zu großes Gewicht beigemessen nnd kein Unterschied 
gemacht zwischen dem rein gedächtnismäßig aufgespeicherten Schul¬ 
wissen einerseits und dem Erfahrungswissen, der logischen Urteils-und 
Kombinationsfähigkeit andererseits. Diese Defekte werden in den Fällen 
von hochgradigem stärkerem Schwachsinn meist doch wohl erkannt 
werden, besonders wenn zu dem Schwachsinn noch gröbere ethische 
Mängel sich hinzugesellen. Wesentlich schwieriger liegen allerdings 
die Verhältnisse bei den leichteren Schwachsinnsformen, der Debilität. 
Unter meinem Material fanden sich noch 8 derartige Fälle, von denen 
ich zwei hervorheben möchte. Der erstere steht auf der Grenze zu 
der bereits geschilderten höheren Schwachsinnsform, der zweite ist 
eine einfache Debilität. 

E. (Skizze Nr. 4, s. S. 234), 26 Jahre alt, ehelich geboren, Mutter,,in ge¬ 
schlechtlicher Beziehung bescholten“, sonst über erbliche Belastung nichts 


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Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezöglingen im Festungsgefängnis. 213 

zu ermitteln, ebensowenig über Kinderkrankheiten. Mit 8 Jahren wurde 
er durch Gerichtsbeschluß der Zwangserziehung überwiesen, da er auf 
Anstiften der Mutter häufig gebettelt und mehrere Gelegenheitsdiebstähle 
begangen hatte. Vom 9. bis 15. Lebensjahre befand er sich in einer Er¬ 
ziehungsanstalt, aus der er schließlich entlief. Leider fehlen Angaben über 
sein Verhalten. In der Folgezeit arbeitete er zeitweilig als Knecht, größten¬ 
teils aber fuhr er als Schiffsknecht auf Binnengewässern. Vom 18. bis 
19. Lebensjahre (1901 bis 1902) wurde er viermal mit Gefängnis bestraft, 
dreimal wegen Diebstahls, einmal wegen Hausfriedensbruchs, und kam 
im 20. Lebensjahre durch Beschluß des Landeshauptmanns wiede¬ 
rum in Zwangserziehung (Dezember 1903 bis Oktober 1904). 
Die ersten Monate führte er sich gut, war willig, zeigte sich 
für gute Einflüsse recht empfänglich, ließ dann aber in seiner Führung 
nach, versuchte zu entfliehen und wurde aus der Erziehungs¬ 
anstalt heraus beim Militär eingestellt. Hier führte er sich gut, 
behauptet jedoch selbst, es sei ihm sehr schwer gefallen, da er sich „in 
die ganze Sache nicht hineinfinden“ konnte. Nach 4 Monaten (Februar 
1905) lief er davon; ein Grund lag nicht vor, auch im Urteil heißt es, daß 
er sich über die Absicht, in der er weggegangen war, im unklaren befand. 
Nach wenigen Tagen ergriffen, wurde er zu 2 Jahren Gefängnis verurteilt, 
und zwar einerseits wegen der Flucht, anderseits wegen vor der Einstellung 
begangener widernatürlicher Unzucht mit einer Stute. Im Februar 1907 
zur Truppe zurückgekehrt, wurde er bereits im Juni wiederum fahnen¬ 
flüchtig, und zwar nahm er auf die Flucht allein ein Kochgeschirr und 
•üne Bibel mit. Unterwegs beging er Gelegenheits- und Einbruchdieb- 
stähle, wurde ergriffen und zu 3 Jahren 3 Monaten Gefängnis verurteilt. 
Einen stichhaltigen Grund für die erste und zweite Fahnenflucht vermochte 
E. nicht anzugeben und brachte unter etwas törichtem Lächeln Gründe 
vor, die den Eindruck von nachträglichen Entschuldigungen machten; 
so sagte er, der Dienst sei ihm schwer geworden, die Truppe hätte viel 
Dienst gehabt, die Vorgesetzten seien streng gewesen usw. Er meinte 
selbst, es sei das beste, er käme auf eine Arbeiterabteilung, damit er nicht 
mehr „Dummheiten“ mache und er mit seiner Dienstzeit endlich fertig 
werde. Im Festungsgefängnis führte er sich regelmäßig bis auf kleinere 
Übertretungen straffrei; die Vorgesetzten hatten den Eindruck, „als ob 
sich im Gefängnis sehr wohl fühle“. Im Unterricht war er beschränkt, 
zeitweilig „döste“ er, und es war weniger mit ihm anzufangen als sonst. 

Die mehrfach vorgenommenen Intelligenzprüfungen ergaben gleich¬ 
falls einen Schwachsinn geringen Grades, der besonders bei Aufgaben von 
logischer Schlußfolgerung und kombinatorischen Leistungen zutage trat. 
E- zeigte einen stupiden Gesichtsausdruck und machte einen hochgradig 
schwerfälligen Eindruck; er bedurfte des ständigen Antreibens, um zu 
ernstlichem Nachdenken veranlaßt zu werden. Zum Teil mag hierbei 
sein notorisch überaus mangelhaftes Gedächtnis schuld gewesen sein. 


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Weyert, 


Ethisch erschien er recht stumpf; Freunde hatte er nie im Leben gehabt, 
über seine Straftaten machte er sich nie Gedanken, empfand auch keine 
Reue. Wohl hatte er früher eine Braut, die er auch heiraten wollte. Nach 
der ganzen Schilderung jedoch ging alles von der „Braut“ aus, einem 
älteren Mädchen, das anscheinend gern noch heiraten wollte. An Eltern. 
Angehörige, Braut,, Kameraden schrieb er weder, noch bezeigte er für 
diese irgendwelches Interesse. Über seine Zukunft machte er sich nicht 
die geringsten Sorgen; er sagt fatalistisch: „Das muß man eben nehmen, 
wie es kommt“. 

Der Schädel war unsymmetrisch, mesozephal, von 55 cm horizontalem 
Umfang. Die Nase war breit und schief, die linke Augenbraue und der 
linke obere Augenhöhlenrand standen höher als rechts. Es bestand An¬ 
deutung von Glatze. Die Ohrmuscheln im oberen Teile waren verbildet, 
zeigten den Darwinschen Höcker; die Ohrläppchen waren angewachsen. 
Seitens des Nervensystems fanden sich leicht gesteigerte Patellarreflexe. 
Zittern der Zunge und Dermographie. 

Be. (Skizze Nr. 5, s. S. 235), 23 Jahre alt, ehelich geboren. Über erbliche 
Belastung ist nichts festzustellen. Ohne in der Kindheit wesentlich krank 
gewesen zu sein, lernte er in der Schule nicht besonders, begriff schwer und 
schwänzte viel. Im 15. Lebensjahre wegen Unterschlagung mit 3 Wochen 
Gefängnis bestraft, kam er im Anschluß an die Strafe in Fürsorgeerziehung. 
Bereits nach einem halben Monat entwich er, da ihm das Leben in der 
Anstalt nicht gefiel. In der Folgezeit, nämlich von Juli 1902 bis Januar 
1906, befand er sich noch 7 mal in verschiedenen Erziehungsanstalten, 
entwich jedoch aus diesen regelmäßig nach kürzerer oder längerer Zeit 
(s. Skizze). Er wandte sich meist nach dem Auslande, besonders Schweden. 
Norwegen, Dänemark, Holland, wurde aus diesen Ländern häufig ausge¬ 
wiesen, in Deutschland ergriffen und regelmäßig wieder der Fürsorgeerzie¬ 
hung überwiesen. Einmal beging er einen ernstgemeinten Selbstmord¬ 
versuch durch Erhängen gelegentlich einer Ergreifung. Am 30. September 
1907 wurde er bei einer Festnahme als unsicherer Heerespflichtiger ein¬ 
gestellt. Knapp ein halbes Jahr nach dem Diensteintritt wurde er fahnen¬ 
flüchtig. Er selbst gibt an, einen Einkauf in der Stadt gemacht zu haben 
und davongelaufen zu sein, ohne daß er einen Grund für diese Tat anzu- 
geben vermöge. Ergriffen, versuchte er auf dem Transport zu entspringen, 
kam in Untersuchungshaft und wurde zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. 
Nach Abbüßung der Strafe zum Truppenteil zurückgekehrt, wurde er nach 
4 Monaten erneut fahnenflüchtig; nach wenigen Tagen wurde er bei einem 
Diebstahl abgefaßt und kam wiederum ins Festungsgefängnis. Auch für 
diese Flucht vermag B. keinen Grund anzugeben. Die Folgen der Flucht 
will sich B. nie überlegt haben, „habe auf einmal so den Gedanken gekriegt, 
und da bin ich einfach losgegangen“. Er gibt an, es beim Militär in jeder 
Hinsicht gut gehabt zu haben, seine Führung wird als durchaus befriedigend 
bezeichnet. Er war in der besten Turnklasse, im Dienst ein strammer 


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Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezöglingen im Festungsgefängnis. 215 

Soldat: im theoretischen Unterricht fiel ihm das Lernen schwer, und er 
vermochte nur unvollkommen zu folgen. 

Bei ihm bestand ein Schwachsinn geringen Grades, der sich bei der 
Intelligenzprüfung durch ein geringes Auffassungsvermögen und eine 
Herabsetzung der höheren geistigen Leistungen, z. B. der logischen Schlu߬ 
folgerung, geltend machte. Nach meiner Auffassung prägt er sich weit 
deutlicher in der ganzen bisherigen Lebensführung des B. aus. Ethische 
Defekte vermochte ich bei B. nicht zu ermitteln. Er hängt mit Liebe an 
seinen Angehörigen, schreibt regelmäßig an seine Eltern und ist freund¬ 
lichem Zuspruch des Anstaltgeistlichen in jeder Weise zugänglich. 

In körperlicher Hinsicht zeigt er eine niedrige Stirn, leichte Asym¬ 
metrie des Schädels (Langschädel, 56 cm Horizontalumfang) und beider¬ 
seitiges Schielen. Das Nervensystem zeigt Dermographie, Beben der 
Zunge und der gespreizt vorgestreckten Finger. 

Die übrigen 6 Fälle dieser Gruppe nähern sich sämtlich mehr dem 
zuletzt geschilderten Lebenslaufe; alle sind dadurch charakterisiert, 
daß die betreffenden Individuen bereits im bürgerlichen Leben mehr 
oder weniger sozial gescheitert waren und es auch nicht während ihrer 
aktiven Dienstzeit verstanden, Kollisionen mit den militärischen Ge¬ 
setzen zu vermeiden. 

Fasse ich alle Fälle zusammen, die der Rubrik „Imbezillität“ 
unterzuordnen sind, so erhalte ich 14, also annähernd die Hälfte meines 
Gesamtmaterials (genau 44,8 %). Es ist dieses ein recht beträchtlicher 
Prozentsatz, welcher nach meiner Ansicht beweist, daß die Zahl der 
Imbezillen jeglichen Grades in den militärischen Strafanstalten im 
allgemeinen eher unter- als überschätzt wird. 

Auf das klinische Symptomenbild einzugehen, beabsichtige ich 
nicht. Jedoch seien mit einigen Worten die körperlichen Erscheinungen 
dieser 14 Leute zusammengestellt. 

Mikrozephal waren 2 (horizontale Schädelumfänge von 52 und 
52.25 cm); typisch hydrozephale Schädelbildung zeigte nur ein Mann (T.). 
Auffallend ist es, daß 4 weitere einen horizontalen Schädelumfang von 
58 bis 58,5 cm besaßen, allerdings ohne äußerlich erkennbare Veränderun¬ 
gen des Wasserkopfes. Bei einem wirkte der Schädel ausgesprochen keil¬ 
förmig. 2 Leute besaßen eine auffallend niedrige Stirn. Asymmetrien 
des Schädels waren bei 11 vorhanden, insofern, als eine Schädelhälfte sich 
stärker entwickelt zeigte, als die andere. Von Asymmetrien des Gesichtes 
fand ich vorzugweise eine schiefe Stellung der Nase, nämlich 8 mal. 

Gröbere Degenerationszeichen, als Mißbildung der Geschlechts¬ 
organe usw. fanden sich gar nicht: es hat dieses seine leicht erklärliche 


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Weyert, 


Ursache in der Tatsache, daß derartige Leute wohl nur in Ausnahme¬ 
fällen zur Einstellung gelangen. 

Erwähnt sei, daß 3 Leute schielten (unter diesen beide Mikro¬ 
zephalen). Mißbildungen der Zähne fand ich nur einmal, steile, kahn- 
förmige Gaumen 4 mal. Bei 2 Leuten war die linke Lidspalte enger als 
die rechte. 

Von Bedeutung sind ferner die Veränderungen des Zentralnerven¬ 
systems. Auch hier müssen wir uns — aus bereits dargelegten Grün¬ 
den — vor Augen halten, daß gröbere Veränderungen nicht zu er¬ 
warten waren, da eben derartige Leute für den Heeresdienst nicht 
tauglich sind. 

Immerhin bestanden doch bei 6 von den 14 Leuten Symptome, 
die auf eine erhöhte Reizbarkeit hinwiesen. Kurz zusammengefaßt 


seien diese Erscheinungen dahin: 

Es fanden sich 

Zittern der vorgestreckten Zunge. bei 5, 

gesteigerte Patellarreflexe. bei 4, 

Romberg (angedeutet)_;. bei 1, 

Dermographie . bei 6, 

Zittern der gespreizt vorgestreckten Finger bei 4, 

Hyperästhesie . bei 1. 


Bei einem der 6 fand sich auch leichte Druckempfindlichkeit der 
Brustwarzen und der linken sogenannten Eierstocksgegend, jedoch gelang 
es weder bei länger ausgeübtem Druck, irgendwelche Anfälle auszulösen, 
noch bot der Mann sonst irgendwelche Erscheinungen von Hysterie dar. 

Vereinzelte Reizsymptome, als erhöhte vasomotorische Erregbar¬ 
keit und leichte Herabsetzung der Schmerzempfindlichkeit waren auch 
bei den übrigen Soldaten gelegentlich nachweisbar. Veränderungen 
der Pupillen in Form und Reaktion vermochte ich bei meinem Material 
in keinem Falle festzustellen. 

Die nächste Gruppe meines Materials wird gebildet von den 
Degenerierten, den Psychopathen aller Arten. 
Zu ihr gehören 10 von meinen Soldaten. Es ist nicht Zweck meiner 
Arbeit, über die verschiedenen Formen der psychopathischen Kon¬ 
stitutionen einen erschöpfenden Überblick zu geben. Das verhindert 
ja bereits die Kleinheit meines Materials. Ebensowenig möchte ich 
versuchen, mein Material in die verschiedenartigen, oft so sehr 
von einander abweichenden Unterabteilungen einzureihen, in welche 
die psychiatrischen Lehrbücher und Abhandlungen die Degenerierten 


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Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezöglingen im Festungsgefängnis. 217 

einteilen. Mein Material ist — wie erwähnt — viel zu klein, als daß 
ich mir ein Urteil über den Vorzug dieser oder jener Einteilung erlauben 
dürfte. Allerdings muß ich — der besseren Übersicht halber — mein 
Material in einige Untergruppen zusammenfassen: 

1. die erblich-degenerativen psychopathischen Konstitutionen 
(nach Ziehen), 

2. die Haltlosen, 

3. die Degenerierten mit epileptoiden Anfällen. 

Zu der ersten Gruppe gehören 2 von meinen Soldaten. Ich möchte 
den Lebenslauf des einen hier folgen lassen. 

H. (Skizze 6, s. S. 236), 24 Jahre alt, ehelich geboren. Der Vater war 
mäßiger Schnapstrinker und ist an Schwindsucht gestorben. Die Mutter war 
/me leicht erregbare Natur und starb an Herzschlag. Zwei Brüder der Mutter 
‘ind starke Säufer und mehrfach mit Zuchthaus bestraft. Kinderkrank¬ 
heiten hat H. nicht durchgemacht; er schwänzte viel die Schule, angeblich 
weil ihm das Lernen schwer fiel. Um der drohenden Fürsorgeerziehung zu 
-ntgehen, trieb er sich im 16. Lebensjahre wochenlang umher und beging 
mehrfach Diebstähle. Vom 15. bis 19. Lebensjahre ist er 6 mal mit Ge¬ 
fängnis wegen Diebstahls bestraft, war u. a. 1 Jahr 7 Monate hintereinander 
im Gefängnis. Im 19. Lebensjahre wurde er aus dem Gefängnis heraus 
-iner Erziehungsanstalt überwiesen, aus der er jedoch bald entwich. In 
den folgenden Lebensjahren befand er sich noch einmal mehrere Monate 
in einer Fürsorgeanstalt. Er galt — nach den Berichten der Direktoren — 
als ein „überaus roher und frecher Bursche, der sich der Ordnung des 
Hauses nicht fügen wollte und auf keine Weise erzieherisch auf sich ein¬ 
wirken ließ“. Er war finster und verschlossen, launenhaft, neigte zu 
Streitigkeiten mit andern Zöglingen und wurde leicht gewalttätig. Von 
hinein 19. bis 25. Lebensjahre — bis zu seiner Diensteinstellung — wurde 
-r noch 8 mal mit Gefängnis bestraft wegen schweren Diebstahls, Körper¬ 
verletzung, Hausfriedensbruchs usw. Er befand sich — wie aus der Skizze 
hervorgeht — mehr im Gefängnis als in der Freiheit. H. gab ohne weiteres 
w. weit mehr Straftaten begangen zu haben, als zur Kenntnis der Gerichte 
Kommen^eien. 

Im Jahre 1910 als unsicherer Heerespflichtiger eingestellt, bildete 
H. nach dem Berichte des Kompagniechefs vom Tage seiner Einstellung 
»n „eine ständige Gefahr für die Disziplin in der Kompagnie“. Bereits 
»ach einem Monat mußte H. mit strengem Arrest bestraft werden, weil 
**r drohte, einem Unteroffizier den Schädel einzuschlagen, als dieser ihm 
^ine Vorstrafen vorhielt. Er wurde ferner wegen Achtungsverletzung 
in mehreren Fällen, verbunden mit Bedrohung, zu mehreren Monaten Ge¬ 
fängnis verurteilt. Im Festungsgefängnis führte er sich straffrei, wurde 
nach der Strafverbüßung in eine Arbeiterabteilung versetzt, wo er gleich- 
Zeitschrift für Psychiatrie. LXIX. 2. i c 


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falls mit strengem Arrest bestraft werden mußte. Auch hier bedrohte er 
wieder einen Vorgesetzten, als dieser ihn auf dem Wege zur ärztlichen 
Untersuchung zu etwas größerer Eile antrieb. Über das weitere Schicksal 
ist mir nur soviel bekannt, daß er durch Gerichtsbeschluß aufseinen Geistes 
zustand untersucht und für strafrechtlich verantwortlich erklärt wurde. 

H. zeigte sich als ein Mensch von recht guten intellektuellen Fähig¬ 
keiten, bei dem durchaus keinerlei Zeichen von Schwachsinn Vorlagen. 
Er besaß jedoch einen seltenen ethischen Tiefstand. In all seinen Reden 
prägte sich ein unglaublicher Zynismus aus. So erzählte er ohne die aller¬ 
geringste Gemütsbewegung mit offenkundiger Freude und Vorliebe in der. 
gemeinsten Ausdrücken, wie er seine Mutter öffentlich als Hure beschimpft 
und mißhandelt hätte, verdächtigte die Ordensbrüder seiner Erziehungs¬ 
anstalt des geschlechtlichen Umgangs mit Nonnen und erzählte mit einer 
gewissen verbissenen Wut, wie er beabsichtige, diesem oder jenem später 
noch einen gehörigen Denkzettel zu verabfolgen. Bei allen Handlungen 
seiner Mitmenschen suchte er nur schlechte Motive; für höhere ethische 
Vorstellungen zeigte er sich völlig verständnislos, allerdings tauchte in 
seinen Reden zuweilen eine Bemerkung auf, die zeigte, daß ein gewi «s 
Gefühl von Anstand und Empfänglichkeit sich doch bei ihm fand, so 
daß ich den Eindruck gewann, es wäre früher — allerdings mit unendlicher 
Geduld und Nachsicht für sein reizbares, jähzorniges, aufbrausendes 
Wesen — vielleicht (?) doch möglich gewesen, ihn günstig zu beeinflussen, 
während er sich jetzt zu einer typischen Verbrechernatur entwickelt hatto. 
Charakteristisch war, daß er nie einen Freund, auch nie eine Braut besessen 
hatte. Geschlechtlichen Umgang hatte er viel mit Prostituierten gehabt, 
indem er diese, sobald sie ihm nicht zu Willen waren, bedrohte und mi߬ 
handelte (,,dann schlug ich ihr ein paar in die Fresse“). Dem Alkohol 
gegenüber war er haltlos; bei Gelegenheit, in Gesellschaft von Kameraden, 
besoff er sich sinnlos und stiermäßig, um seine Ausdrucksweise zu ge¬ 
brauchen. Im Rausch steigerte sich dann noch seine Reizbarkeit und 
Neigung zu Gewalttaten. 

In körperlicher Beziehung zeigte er bei 58 cm horizontalem Schädel¬ 
umfang eine leichte Asymmetrie des Schädels, verbildete Ohren, ange¬ 
wachsene Ohrläppchen, den Darwinschen Höcker am rechten Ohr sowie 
einen etwas hohen Gaumen. Das Nervensystem zeigte keine Wesentlichen 
Veränderungen. 

Den zweiten Fall ausführlich zu schildern, kann ich mir ersparen. 
Er war ein erblich belasteter Mensch, der wegen seiner Neigung zum Vaga¬ 
bundieren und unbeständigen, arbeitscheuen Lebenswandels im 17. Le¬ 
bensjahre in Fürsorgeerziehung kam, in der Anstalt selbst durch sein ver¬ 
stocktes Wesen und seinen finsteren Blick auffiel, mehrfach Fluchtver¬ 
suche machte, in der Folgezeit ständig den Dienstherren entwich und 
bis zu seinem Diensteintritt in Deutschland umhervagabundierte. Ab¬ 
gesehen von einer Gefängnisstrafe wegen Diebstahl hatte er' nur Haft- 


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Untersuchungen an ehemaligen Fiirsorgezöglingen im Festungsgefängnis. 219 


^trafen im Zivilleben erhalten — stets wegen Obdachlosigkeit, Bettelei. 
Beim Militär als Unsicherer eingestellt, entlief er nach 7 Monaten („wir 
hatten einen getrunken, der andere wollte nach Berlin, da bin ich mit¬ 
gegangen; unterwegs kam uns der Gedanke, davonzulaufen“). Als Grund 
für sein unstätes Leben gab er wörtlich an: „Ich kann nicht anders; wenn 
i< h die schönste Arbeit habe und sehe einen Handwerksburschen laufen, 
dann schmeiße ich alles hin und gehe mit“. Er war ein reizbarer, leicht 
«empfindlicher, verschlossener Mensch, ein verbitterter, finsterer Charakter 
ohne Freund und Sinn für kameradschaftliches, geselliges Leben, dem ich 
es durchaus zutraute, kaltblütig schwere Verbrechen zu begehen, der 
meiner Ansicht nach nicht bloß renommierte, wenn er sagte: „Mit dem 
Ausgang rechne ich nicht“, d. h. der Ausgang ist mir gleichgültig. Er 
besaß ein stark entwickeltes Interesse für Geschichte — besonders die 
deutsche Geschichte —, hatte nicht nur viel und mit Verständnis gelesen, 
vndern auch auf seinen Wanderschaften alle erreichbaren denkwürdigen 
und berühmten Stätten, Denkmäler usw. aufgesucht, wie ich feststellen 
tonnte. Ich habe mich viel mit ihm beschäftigt, da er der mißtrauischste 
und verschlossenste meiner Gefängnisinsassen war und hinter meinen 
Unterhaltungen lange Zeit irgendeine Falle witterte, denn „für einen 
Lumpen interessiert man sich doch nicht“. Neurologisch bot er zahlreiche 
Fb'izerscheinungen des Nervensystems dar. 

Die beiden im vorhergehenden geschilderten Fälle verdienen 
gerade durch ihre Übereinstimmung Interesse. Beide Menschen zeigten 
eine tiefgehende Verbitterung, eine verbissene Wut und innere Auf¬ 
lehnung gegen allen Zwang und alle bestehende Ordnung. Es wäre 
ja naheliegend, sie als Opfer einer traurigen, liebeleeren Jugend hinzu- 
ftellen, als ein Produkt ihrer Abstammung und ihrer Umgebung. 
Ich glaube jedoch, daß diese Faktoren allein durchaus keine genügende 
Erklärung abgeben. Beide waren völlig uneinsichtig, daß die elter¬ 
liche Erziehung bei ihnen völlig versagt hatte und eine strengere Er- 
liehung — außerhalb des elterlichen Hauses — dringend geboten war, 
um sie bei ihrer Neigung zu einem anti- und asozialen Lebenswandel 
noch vor völligem sittlichem Verfall zu bewahren. Uneinsichtig waren 
sie auch dafür, daß die Strenge ihrer Erzieher in der Fürsorgeanstalt 
doch nur eine begreifliche Folge ihrer eigenen Schwer- oder Unerzieh- 
barkeit war und sie nach ihrem ganzen, vorhergehend näher geschilder¬ 
ten Verhalten wohl kaum ein Übermaß von Güte seitens ihrer Lehrer 
erwarten konnten. Doch — wenn wir von der Zeit in der Fürsorge- 
anstalt absehen — auch später sind beide als ungesellige Menschen durch 
das Leben gegangen, überhaupt ohne Verlangen nach Anschluß 

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Weyert, 


an andere Menschen. Gerade die Jünglingsjahre sind bekannt als 
die Zeit der Freundschaften, die Zeit des’leichten Anschlusses an 
Gleichaltrige und Gleichgesinnte, als das Lebensalter der sich ent¬ 
spinnenden Liebesverhältnisse. So erscheint mir die Tatsache, daß 
beide ohne Freund und ohne Braut im Leben geblieben sind, doch 
bereits als ein zum mindesten auffälliges Zeichen, ein Zeichen, daß 
bei beiden durchaus nicht die Anstalterziehung der Grund und die Er¬ 
klärung ihrer Verbitterung ist, sondern vielmehr letztere doch wohl 
bereits als pathologisches Symptom gedeutet werden kann. 

Beide stimmen ferner darin überein, daß auf sie das Verbrechen 
als solches eine Anziehungskraft, einen förmlichen Reiz ausübte. „Es 
ist ein Kitzel, wenn ich so recht eine Gefahr bestehen kann,“ sagte 
der eine wörtlich, und beide bekunden, daß der Gedanke an einen 
schwierigen Diebstahl oder Einbruch sie gar nicht wieder loslasse. 
Beide waren Verbrecher aus Passion, und ich glaube ihnen sehr wohl, 
daß der gefahrvolle Kampf mit den Gesetzen für sie ein „Nerven¬ 
kitzel“ war, wie für einen andern der Sport. Ich glaube ihnen ferner, 
daß Furcht vor dem Ergriffenwerden ihnen unbekannt war, und daß 
beide — bei einem Verbrechen überrascht — selbst nicht vor dem 
Äußersten zurückgeschreckt wären. Ich halte es nicht für ausgeschlos¬ 
sen, daß beide infolge ihrer positiven kriminellen Begierden sich im 
Laufe der Jahre zu Berufsverbrechern entwickeln können, unter Um¬ 
ständen sogar zu Spezialisten einer bestimmten Art des Verbrechens. 
Zwar fehlt beiden der große Zug, der die Hochstapler, die internatio¬ 
nalen Taschendiebe auszeichnet und zu psychologisch so interessanten 
Persönlichkeiten macht. Hierzu fehlt beiden die äußere Gewandtheit, 
die Intelligenz. Ich gebe rückhaltlos zu, daß ihre geistigen Fähigkeiten 
völlig für das gewöhnliche Leben ausreichen, ja vielleicht sogar das 
Durchschnittmaß etwas überragen. Beide sind rein intellektuell 
durchaus befähigt, sich zu Verbrecherspezialisten auszubilden und 
bereits jetzt eine schwere Gefahr für die Rechtssicherheit des bürger¬ 
lichen Lebens. Trotzdem aber finden — nach meiner Ansicht — auf 
sie die Worte Anwendung, mit denen Kraepelin die geborenen Ver¬ 
brecher schildert. Es fehlt ihnen „meist die Fähigkeit, allgemeine 
Gesichtspunkte zu gewinnen, höhere Geistesarbeit zu leisten, sich eine 
zusammenhängende Lebens- und Weltanschauung zu bilden. Ins¬ 
besondere haben die Kenner der Verbrechematur stets auf den Mangel 


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Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezöglingen im Festnngsgefängnis. 221 

an weiterblickender Überlegung und Voraussicht aufmerksam gemacht. 
Die geborenen Verbrecher sind Augenblicksmenschen, die nicht das 
Bedürfnis empfinden, über die Gegenwart und die allernächste Zukunft 
hinauszudenken* 1 . Legen wir diesen strengen Kraepelin sehen Maßstab 
unserer Beurteilung zugrunde, so zeigen beide Menschen sicher einen 
Intelligenzdefekt. Ich habe aber Bedenken, einen Intelligenzdefekt 
in dem geschilderten Sinne für die Diagnose eines angeborenen Schwach¬ 
sinnes, einer Debilität zu verwerten. Ich gebe gern zu, daß mich bei 
dieser Auffassung mehr praktische, zum Teil für das Militärleben 
wichtige Gesichtspunkte leiten, als streng wissenschaftliche Gründe. 
Wir müssen — meines Erachtens — berücksichtigen, daß wohl jeder 
Jüngling mit größerem oder geringerem Optimismus in das Leben 
hinaustritt, in der Erwartung, die Welt so zu finden, wie er sie sich 
in seinen Hoffnungen und Erwartungen malt. Erst wenn er das reale 
Leben wirklich kennen gelernt hat, wird er sich eine zusammenhängende 
Lebens- und Weltanschauung bilden können, also in reiferen Jahren, 
in einem Alter, das jenseits der aktiven Dienstzeit liegt. 

Ich möchte im Nachfolgenden auf einen viel umstrittenen Begriff 
eingehen, die Auffassung der Moral insanity, des moralischen 
Schwachsinns. Die vielumstrittene Frage, ob das Gefühls¬ 
irresein „eine umgrenzte Schädigung der sittlichen Leistungen* 1 , eine 
Krankheit sui generis sei oder aber eine „einfache Unterform des an¬ 
geborenen Schwachsinns** darstelle, ist noch nicht geklärt. Die Moral 
insanity ist nach Kraepelin» Ansicht „ein Sammelbegriff für eine 
Reihe ganz verschiedenartiger Zustände**, und ich glaube, die Mehrzahl 
der Psychiater entschließt sich nur ungern, diese Diagnose zu stellen, 
ganz im Gegensätze zu psychiatrisch nicht durchgebildeten Ärzten, 
die. wie ich gefunden habe, diese Diagnose als relativ bequem häufig 
steilen. Vielfach werden unter dem Begriff Moral insanity „alle die¬ 
jenigen Formen abnormer geistiger Veranlagung und. Entwicklung zu¬ 
sammengefaßt, bei denen bei erhaltener oder wenigstens nicht wesent¬ 
lich verkümmerter Intelligenz ein erheblicher oder totaler moralischer 
Defekt besteht** (t;. Muralt). 

Binswanger l ) betont, daß „bei dieser Fassung überhaupt eine 

1 ) Binswanger, Über den moralischen Schwachsinn, mit besonderer 
Berücksichtigung der kindlichen Altersstufe. Sammlung von Abhandlun - 
gen aus dem Gebiete der pädagogischen Psychologie und Physiologie. 
B<t VIII, Heft 5, 1905. 


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Grenze zwischen dem geborenen Verbrecher und dem verbrecherischen 
Geisteskranken nicht besteht“, und ferner: „Der geborene Verbrecher 
kann wohl als eine krankhafte Erscheinung des sozialen Organismus, 
vielleicht auch als eine eigenartige anthropologische Varietät, niemals 
aber als ein Geisterkranker betrachtet werden, so lange außer dem 
moralischen Defekte keinerlei andere Zeichen einer geistigen Er¬ 
krankung auffindbar sind.“ „Beiden gemeinsam ist ein bis in die 
kindliche Entwicklungstufe zurückgehender ethischer Defekt, welcher 
sich in der Tendenz zu antisozialer Handlungsweise kundgibt.“ Der 
moralische Schwachsinn ist, wie ja hinreichend bekannt, in enge Be¬ 
ziehung zu dem angeborenen Schwachsinn gebracht worden. Bins- 
wanger erklärt: „Man beobachtet bei vielen Schwachsinnigen eine 
Herabsetzung der gemütlichen Erregbarkeit, eine allgemeine, die 
Intensität und Qualität der einfacheren und zusammengesetzten, pri¬ 
mären und abgeleiteten Gefühlstöne im gleichen Maße schädigende 
Störung, welche sich in einer allgemeinen Gefühlsverarmung und 
Gefühlsstumpfheit kundgibt. ‘‘ 

Wenn diese Worte auch vorzugweise auf die schweren angeborenen 
Schwachsinnsformen angewandt werden müssen, so wird es gerade 
bei diesen Formen — eben im Hinblick auf das gleichzeitige Bestehen 
von intellektuellen und ethischen Defekten — unmöglich sein, eine 
Grenze zwischen moralischem und angeborenem Schwachsinn zu ziehen. 
Es würde somit — wie ich glaube — wohl mehr dem Belieben des 
einzelnen überlassen sein, ob er einen Kranken dieser Gruppe als an¬ 
geboren oder moralisch schwachsinnig bezeichnen will. Vom forensisch 
psychiatrischen Standpunkt aus ist — aus später zu erörternden 
Gründen — die Diagnose Moral insanity zum mindesten unzweckmäßig. 
Weit schwieriger zu deuten sind die Fälle, in denen keine sinnfälligen 
Symptome von Schwachsinn gefunden werden. Ich möchte hier die 
Ansicht von Aschaffenburg x ) über die Moral insanity zitieren: „Die 
meisten der Fälle sind klinisch wahrscheinlich falsch aufgefaßt worden. 
Sie gehören neben dem Schwachsinne zum Teil der Epilepsie und 
Hysterie, zum Teil den leichten Erregungszuständen des manisch 

1 ) Hoche — unter Mitwirkung von Aschaffenburg, Schultze, Wollen- 
berg —, Handbuch der gerichtlichen Psychiatrie. I. Teil. Aschaffenburg-. 
Die rechtlichen Grundlagen der gerichtlichen Psychiatrie. A. Strafrecht 
und Strafprozeß. S. 39. 2. Aufl. 1909. Hirschwald. 


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Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezöglingen im Festungsgefängnis. 223 


depressiven Irreseins, zum Teil dem Jugendirresein (Dementia praecox; 
an; solche Mißgriffe sind mir wenigstens aktenmäßig begegnet.“ 
Binswanger stellt in seiner erwähnten Arbeit die strikte Forderung 
auf: „Nur in solchen Fällen, in welchen entweder ein ausgeprägter 
intellektueller Defekt oder bei Mangel eines solchen charakteristische 
psychopathische Krankheitsmerkmale beim Kinde vorhanden sind, 
haben wir das Hecht, die verkümmerte ethische Entwicklung als Aus¬ 
fluß einer krankhaften seelischen Veranlagung zu bezeichnen.“ Bms- 
tttmger weist selbst darauf hin, daß derartige Individuen meist erst 
nach dem Verlassen der Schule in ärztliche Beobachtung und Unter¬ 
suchung gelangen. Wir werden bei Gefängnisinsassen überaus häufig 
nicht in der Lage sein, eine wirklich objektive und verwertbare Ana¬ 
mnese zu erlangen. Uneheliche Geburt, jahrelange Trennung von 
Eltern und Angehörigen, unsteter Lebenswandel usw. machen es uns 
unmöglich, die geistige Entwicklung von Kindheit an klarzulegen. 
Wir werden mithin oft gar nicht die Frage klären können, ob bereits 
in der Kindheit psychopathische Krankheitsmerkmale bestanden 
haben. Die eigenen Angaben des Verbrechers in dieser Hinsicht sind 
mit Vorsicht aufzunehmen, er ist selbst zu sehr Irrtümern unterworfen 
— ganz abgesehen von absichtlicher Irreführung des Arztes. Vom 
forensisch-psychiatrischen Standpunkt aus erscheint — wie ich bereits 
sagte — die Diagnose Moral insanity unzweckmäßig. Das Reichs- 
Bericht *) (E. XV. 97) hat ausdrücklich entschieden, daß „nach den 
dem deutschen Strafgesetzbuch zugrunde liegenden Anschauungen 
durch den von der Theorie (eines moralischen Irreseins) angenommenen 
Mangel jeglichen moralischen Haltes die Zurechnungsfähigkeit nur 
dann für ausgeschlossen gelten kann, wenn der Mangel aus krank¬ 
hafter Störung zu erklären ist.... Nach § 51 genügt keineswegs 
die bloße Unfähigkeit zur freien Willensbestimmung einem Anreize 
regenüber. es muß vielmehr die freie Willensbestimmung durch einen 
Zustand der Bewußtlosigkeit oder krankhaften Störung der Geistes¬ 
tätigkeit ausgeschlossen sein“. Damit ist — sagt Aschaffenburg — 
die Nichtanerkennung der Lehre von dem moralischen Schwachsinn 
..autorativ“ entschieden. 


*) Zitiert nach Aschaffenburg im genannten Handbuch der gericht¬ 
lichen Psychiatrie S. 39. 


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Weyert, 


Die psychiatrische Auffassung über den geborenen Verbrecher als 
solchen kann wohl nicht präziser zum Ausdruck gebracht werden als 
durch die Worte von Aschaffenburg 1 ): „Beides, Verbrechertum und 
geistige Störung, sind zwei Pflanzen, die aus demselben Boden ihre 
Nahrung saugen, aus dem Boden körperlicher und geistiger Degenera¬ 
tion.“ Zu demselben Urteil kommt Sadger 2 ) auf Grund seiner Unter¬ 
suchungen über Belastung und Entartung, die er in dem Satze zu¬ 
sammenfaßt;: „Kein Genie ohne Belastung, kein geborener Verbrecher 
ohne Entartung.“ 

Um zu diesem Schlüsse zu kommen, braucht man durchaus nicht 
den Begriff der Entartung so eng zu fassen, daß wir jeden als entartet 
bezeichnen, der „angeborene Eigenschaften“ besitzt, „die der Er¬ 
reichung allgemeiner Lebenszwecke hinderlich sind“ (KraepeUn). 
Vielmehr möchte ich als Kennzeichen der Entartung — nach Kraepe- 
Kn — eine dauernd krankhafte Verarbeitung der Lebensreize, eine 
Unzweckmäßigkeit des Denkens, Fühlens oder Wollens während des 
ganzen Lebens betrachten. Daß von diesem Gesichtspunkte aus die 
beiden ehemaligen Fürsorgezöglinge, deren Lebenslauf ich zuletzt 
geschildert habe, ohne weiteres entartete Persönlichkeiten sind, bedarf 
wohl keiner weiteren Darlegung. 

Die zweite Gruppe meiner Psychopathen bilden die Haltlosen, 
die I n s t a b 1 e n. Ihr gehören 6 meiner Leute an. 

Einer könnte insofern abgezweigt werden, als er mehr ausgesprochener 
Affektmensch war. Ungemein leicht reizbar, geriet er fast ständig mil 
seiner Umgebung in Konflikt und war von frühester Jugend an im Leben 
eigentlich bisher überall gescheitert. Die leidenschaftliche Erregung, in 
die er so leicht geriet, stand ständig in grobem Mißverhältnis zu der vor¬ 
handenen auslösenden Ursache; er war jedoch im Augenblicke des Affekts 
unfähig zu jeglicher Überlegung und hatte sich beim Militär wegen tät¬ 
lichen Angriffs und Achtungsverletzung vor versammelter Mannschaft 
eine zweijährige Gefängnisstrafe zugezogen. Auch im Festungsgefängnis 
war er als leicht erregbarer Mensch bekannt. Daß es hier nicht zu neuen 
Straftaten kam, lag wohl ausschließlich in der so überaus korrekten und 
ruhigen Art der Vorgesetzten begründet, die von den Festungsgefangenen 
interessanterweise fast stets rühmend anerkannt wird. 

*) Aschaffenburg, Das Verbrechen und seine Bekämpfung. 2. Aufl. 
Heidelberg 1906. Winters Universitätsbuchhandlung. S. 171. 

*) Sadger, J„ Belastung und Entartung. Ein Beitrag zur Lehre 
vom kranken Genie. Leipzig 1910. 


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Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezöglingen im Festungsgefangnis. 225 

Den Lebenslauf der 5 übrigen zu schildern, kann ich mir ersparen. 
Es ist immer dasselbe Bild einer „die gesamte Lebensführung be¬ 
herrschenden Willensschwäche“ ( Kraepelin ), das uns bei jedem der 
Leute entgegentritt. In der Schule — sowie im allgemeinen — hatten 
sie alle, außer einem, leicht gelernt und sich oberflächliche Kenntnisse 
und eine äußere Gewandtheit erworben, die, wie die längere Beob¬ 
achtung ergab, leicht dazu verleiteten, den betreffenden für intelligenter 
zu halten, als er wirklich war. Fast jeder hatte die Schule geschwänzt, 
..weil es mir nicht paßte“, wie einige Zugaben. Alle 5 waren in der 
Lehre gewesen, aber kein einziger hatte die dreijährige Lehrzeit durch- 
gehalten. Dem einen war der Meister zu streng, der andere hatte 
..keine Lust“ mehr, ein dritter wollte sich nichts mehr sagen lassen, 
war „frech“ usw., kurz bei allen tritt uns die Unfähigkeit, ein vorge¬ 
stecktes Ziel zu erreichen, entgegen, ein Versagen, sobald es sich darum 
handelt, ernste Arbeit zu leisten und Unannehmlichkeiten zu erdulden 
im Interesse eines höheren Zwecks. Keiner hatte in einem bestimmten 
Berufe ausgehalten, ein jeder bis zu seinem Diensteintritt mehrfach 
gewechselt. Alle 5 kamen wegen ihrer Unbeständigkeit, Arbeitscheu, 
ihres Hanges zum Vagabundieren in die Erziehungsanstalt, alle 5 ver¬ 
suchten ein- und mehrmals zu entweichen; bei allen 5 ist in den Lehrer¬ 
berichten von „Mangel an ernstem Interesse“, „Arbeitscheu“, Träg¬ 
heit, von fehlender Selbstzucht und Ausdauer die Rede. Der Versuch 
der Erziehungsanstalt, den Zögling bei einem Lehrherm oder Dienst- 
herrn unterzubringen, glückte bei keinem einzigen der 5; immer wieder 
liefen sie davon, unter ähnlichen Begründungen wie oben. Nur tritt 
jetzt häufiger als Motiv der Alkohol und die Neigung zum weiblichen 
Geschlecht in Erscheinung. 4 sind bis zum Diensteintritt gerichtlich 
bestraft wegen Diebstahls, Körperverletzung, Bettelei usw. Der 5. 
wurde anscheinend lediglich durch seine sehr ordentlichen Eltern vor 
Konflikten mit den Strafgesetzen bewahrt, wenigstens nach seiner 
Strafliste beim Militär zu urteilen. Die aktive Dienstzeit trägt bei 
allen in überaus charakteristischer Weise den Stempel der Haltlosig¬ 
keit und Willensschwäche. Nachlässigkeit, Schmutzigkeit, Belügen 
von Vorgesetzten, Betrügereien, vor allem aber Urlaubsüberschreitun- 
een und unerlaubte Entfernung kehren in den Strafverzeichnissen 
immer wieder. Von den 5 Leuten hatten auch 3 wegen unerlaubter 
Entfernung bzw. Fahnenflucht sich ihre Gefängnisstrafe zugezogen. 


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Am deutlichsten kam die Haltlosigkeit in der Erzählung des einen 
zum Ausdruck, der angab, er habe einen Freund getroffen, einen Bier¬ 
kutscher, der ihn freigehalten hätte. Dann hätten sie getanzt, weiter 
getrunken, sich umhergetrieben und „amüsiert“, bis er nach 2 Tagen 
ergriffen wurde. Nicht viel anders lag der Sachverhalt bei den übrigen. 
Es erscheint erwähnenswert, daß eigentlich keiner wirkliche Freunde 
besaß; es liegt nahe, sich in einer charakterstarken Persönlichkeit 
eine Stütze zu suchen, wenn man —wie eigentlich alle meine 5 Leute — 
immer wieder seine Haltlosigkeit und seine mangelnde Widerstands¬ 
kraft gegen Verführungen und Verlockungen des täglichen Lebens 
erkennen muß. Anschluß an eine derartige Persönlichkeit voll Lebens¬ 
ernst und Zielbewußtsein sucht der krankhaft Haltlose wohl kaum 
jemals, sicher nicht freiwillig. Er ist innerlich viel zu wenig davon 
überzeugt, daß er sich selbst alle Fehlschläge zuzuschreiben hat, und 
ist nur zu sehr geneigt, die Schuld andern beizumessen oder nachleeren 
Ausflüchten zur Entschuldigung zu suchen, die höchstens er selbst 
glaubt. Die Willensschwäche bedingt für den Haltlosen eine schwere 
Gefahr, sobald er in schlechte Gesellschaft gerät. Er fällt leicht der 
Verführung anheim und wird so ein Gewohnheitsverbrecher. „Man 
würde fehlgehen,“ sagt Aschaffenburg , „wenn man in ihm stets die 
Betätigung positiver verbrecherischer Neigungen vermuten würde. 
Eine große Anzahl der harmloseren Gewohnheitsverbrecher, das täg¬ 
liche Brot der Polizeiorgane und Amtsgerichte, die Landstreicher, sind 
charakteristische Beispiele eines Gewohnheitsverbrechertums aus vor¬ 
wiegend negativen Eigenschaften.“ 

Ich muß ohne weiteres zugeben, daß meine 5 Fälle eigentlich alle 
als leichtere Form von Haltlosigkeit anzusprechen sind und bei ihnen 
die Charakteristika der Entartung nicht so sinnfällig zutage treten. 
Vermißt habe ich sie bei keinem einzigen, und ich fürchte, daß von 
den 5 Leuten wohl die Mehrzahl völlig außerstande sein wird, sich 
im Lebenskämpfe durchzusetzen. Wie sie vor der Militärzeit ge¬ 
scheitert sind, so werden sie auch weiterhin wohl scheitern, wenn erst 
der erzieherische Einfluß der Militärzeit, soweit ein solcher überhaupt 
bei meinem Material zur Geltung kam, gänzlich abgeklungen ist. Eine 
zielbewußte, wohlwollende Leitung wird bei leichteren Fällen, z. B. 
bei den hier erwähnten, wenigstens das eine zuweilen verhindern können, 
nämlich daß diese Menschen dem Verbrecher- und Landstreichertum 


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Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezöglingen im Festungsgefängnis. 227 

anheimfallen. Jedoch tatkräftige, widerstandfähige, gefestigte und 
ausdauernde Persönlichkeiten aus ihnen zu machen, das wird meines 
Erachtens nie gelingen. 

Als dritte Gruppe möchte ich schließlich noch die Degene¬ 
rierten mit epileptiformen oder epileptoiden 
Anfällen erwähnen. Ich bin mir sehr wohl bewußt, daß epilepti¬ 
sche und der Epilepsie ähnliche Anfälle bei zahlreichen Psychosen 
Vorkommen, mithin das Auftreten derartiger Anfälle nicht als Kri¬ 
terium für eine eigene Unterabteilung gelten dürfte. Es liegt mir 
jedoch — wie bereits erwähnt — nur daran, der besseren Übersicht 
halber einzelne Gruppen aufzustellen; es waren für mich weniger streng 
wissenschaftliche als vielmehr praktische Gesichtspunkte maßgebend. 

Von meinem Material gehören dieser Gruppe drei Soldaten an. 
Den Lebenslauf des einen möchte ich näher schildern. 

Gi., 24 Jahre alt, ehelich geboren. Der Vater des G. war ein Sonder¬ 
ling (vielleicht geisteskrank) und hat vor langen Jahren die Familie ver¬ 
lassen. Ein Bruder des Vaters hat durch Selbstmord geendet, ebenso 
beider Vater. Die Mutter ist vor langen Jahren gestorben. G. wurde 
im Hause eines kleineren Beamten vom 6. Lebensjahre an erzogen; die 
Pflegeeltern werden als sehr ordentliche Leute geschildert, und G. gibt zu, 
•■s bei ihnen recht gut gehabt zu haben. Er besuchte die Volksschule, 
dann das Gymnasium bis Quarta, wurde dann aber mit 12 Jahren wegen 
ständigen Schulschwänzens und verschiedener dummer Streiche einer 
Fürsorgeanstalt an der holländischen Grenze überwiesen. Die Akten habe 

leider nicht eingesehen. In der Fürsorgeanstalt blieb er knapp 2 Jahre, 
kam dann zu einem Schlosser in die Lehre, lief jedoch mehrfach davon, 
angeblich wegen schlechter Behandlung. Vom 19. bis 21. Lebensjahre 
Ist er dreimal gerichtlich bestraft, zweimal wegen Diebstahls, einmal wegen 
Sachbeschädigung mit einem Verweis. Nach beendeter Lehrzeit zog er 
als reisender Handwerksbursche mehrere Monate umher, arbeitete gelegent- 
'l'h in Fabriken. Auf seiner Wanderschaft durchzog er Holland, Rhein¬ 
land. Frankreich, Italien, wurde wegen Schmuggelns abgefaßt, ausge- 
»iesen und ging nach Spanien. Von hier kehrte er unter fremdem Namen 
nach Italien zurück und schlich sich — als ihm der Boden zu heiß wurde — 
In Genua auf ein Schiff, mit dem er nach Brasilien gelangte. Hier will 
*r gestohlen haben, fuhr nach Argentinien, wo er auf einer Pferdezüchterei 
•'inige Wochen arbeitete. Stellunglos und total abgerissen, ließ er sich 
für die argentinische Marine anwerben, desertierte aber nach wenigen 
Monaten — angeblich wegen schlechter Behandlung durch die Kameraden 
— und kehrte über Kapstadt, Australien wieder nach Argentinien zurück. 
Teils zu Fuß, größtenteils aber als blinder Eisenbahnpassagier durchzog 


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Weyert, 


er Chile, Paraguay und Uruguay, schiffte sich — wieder nach Argentinien 
zurückgekehrt — heimlich auf einen Dampfer ein, brach in den Postraum 
ein und wurde in Hamburg mit 3 Monaten Gefängnis bestraft (laut Akten 
1907). Am 12. Juni 1907 wurde er als unsicherer Heerespflichtiger ein¬ 
gestellt. Das straffe militärische Leben behagte ihm nicht, er wurde nach 
4 Monaten fahnenflüchtig, aber nach wenigen Tagen ergriffen und zu 
iy 2 Jahren Gefängnis (wegen Fahnenflucht im Komplott) verurteilt. 
Während der Strafverbüßung führte er sich tadellos, es wurde ihm daher 
ein Teil der Strafe im Gnadenwege erlassen. Zur Truppe zurückgekehrt, 
tat er 1 Jahr den Dienst zur Zufriedenheit der Vorgesetzten, wurde dann 
aber erneut fahnenflüchtig, ging nach Belgien, das ihn an Deutschland 
auslieferte. Zu 2 Jahren Gefängnis verurteilt, geriet er über die Höhe 
der Strafe in heftige Erregung. Er stellte zwischen seiner und der Nachbar¬ 
zelle ein Loch in der Wand her, wollte Brandstiftung in der Strafanstalt 
begehen und trat schließlich mit der Behauptung hervor, er litte an „Epi- 
lepsie“. Er wurde daraufhin teils vor Antritt der Strafe vorübergehend, 
teils während der Strafverbüßung dauernd auf seinen Geisteszustand 
beobachtet. Durch zahlreiche Unterhaltungen, bei denen jegliche Sug¬ 
gestion und Suggestionsfragen peinlichst vermieden wurden, stellte ich 
folgendes fest: G. behauptet, im 15. bis 18. Lebensjahre (1900 bis 1903) 
seien etwa zwei- bis dreimal wöchentlich „Anfälle“ aufgetreten, d. h. er 
habe in der linken Hand ein kribbelndes Gefühl verspürt, die Finger 
hätten sich geschlossen, die Hand, der linke Arm seien schwer und machtlos 
geworden. Das Kribbeln sei weiter bis zum Halse aufgestiegen, er habe 
die Sprache verloren und sei ohnmächtig geworden. Wie lange die Ohn¬ 
macht gedauert hätte, wisse er nicht; nach Angabe von Augenzeugen will 
er um sich geschlagen haben. Nach dem „Anfall“ habe er sich müde und 
matt gefühlt. Durch ärztliche Behandlung (Elektrisieren) seien die „An¬ 
fälle“ leichter und seltener geworden. Zwar habe das Kribbeln in der¬ 
selben aufsteigenden Art fortbestanden, er sei jedoch nicht mehr ohn¬ 
mächtig geworden. Allmählich hätten die Anfälle ganz aufgehört. Etwa 
1904/05 seien jedoch im Anschluß an eine große Erregung die geschilderten 
Anfälle wiedergekehrt, begleitet von Taumeln und Schwindelgefühl. Seit¬ 
dem wäre ihm in unregelmäßigen Zwischenräumen und „bei ganz feinen 
Arbeiten“ schwindlig, so als ob er angetrunken sei. Bewußtlos sei er 
jedoch dabei angeblich nie geworden. Dämmerzustände haben bisher — 
soweit feststellbar — nicht bestanden. Schwindelgefühl sei stets nur als 
Folge des von der Hand aufsteigenden „Kribbelns“ aufgetreten. An¬ 
geblich sei es zuweilen von Angstgefühl begleitet gewesen (Furcht vor 
Hinstürzen). 

Die Stimmung sei im allgemeinen „ganz gut“, zuversichtlich. Mit 
Kameraden pflegte er wenig Umgang („bin mehr für mich allein“), war 
im allgemeinen schweigsam. Mitunter befalle ihn — wie er behauptete — 
ein Gefühl von „Melancholie“; es sei ihm beklommen zumute, die „Um- 


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Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezöglingen im Festungsgefängnis. 229 

s^ebung“ ihm „zu eng“; Lebensüberdruß trete jedoch nicht zu diesen 
Zeiten auf. Diese Zustände sind vielleicht um so auffallender, als bei 
verzweifelten, äußeren Lagen G. oft „lustig und humorvoll“ sein will, 
unbesorgt und gleichgültig gegen die drohenden Schicksalschläge. Nachts 
träume er sehr lebhaft, besonders von Schlägereien und sexuellen Dingen; 
oft fuhr er auch plötzlich aus dem Schlafe auf — wie die Kameraden be¬ 
haupteten. In Schlägereien ist G. — wie er offen zugesteht — oft verwickelt 
gewesen. Zeitweise hat er stark getrunken. Syphilis in der Anamnese 
i't nicht sicher. 

G. ist im großen und ganzen ein gutmütiger Mensch. Allerdings ist 
er leicht reizbar. Seine Angabe, er könne sich nur schwer zügeln und 
neige bei heftigen Erregungen zu Gewalttätigkeiten und blindem Wüten, 
e-scheint mir durchaus glaubhaft. Nach derartigen Entladungen verspürt 
er jedoch Reue und Scham und hat den Vorsatz, künftig sich zu bessern. 
Diese guten Vorsätze gelangen jedoch nicht zur Ausführung, wenn G. 
wieder einmal in unangenehme Situationen verwickelt wird. An den 
Pflegeeltern hängt er mit Anhänglichkeit und Liebe und steht mit ihnen 
im Briefverkehr. 

Die Intelligenz des G. überschritt durchaus den Durchschnitt; bei 
<ien Kameraden galt er als „schlau“. Das Gedächtnis war befriedigend; 
0. selbst behauptet allerdings, es habe in den letzten Jahren abgenommen. 
Ebenso sagte er mir, er fühle sich stumpfer als früher („abgestumpft“) 
und erklärte dieses mit seinen zahlreichen Fahrten und Erlebnissen in 
der Welt. 

In körperlicher Hinsicht zeigte G. bei einem Horizontalumfang des 
Kopfes von 58 cm eine leichte Asymmetrie des Schädels sowie auf dem 
rechten Scheitelbein eine etwa 2 cm lange, 1 cm breite, weder druck¬ 
empfindliche noch mit der Unterlage verwachsene Narbe. Von den Pu¬ 
pillen erschien die linke leicht verzogen, eine Spur weiter als die rechte; 
die Reaktion beider war jedoch einwandfrei. Der linke Pat.-R. war 
fegen den rechten leicht gesteigert. Es bestanden ferner Zittern der 
narbenlosen Zunge und deutliches Nachröten der Haut. 

Ich hatte während der mehrmonatigen Strafzeit des G. weder selbst 
•Vlegenheit, irgendeinen „Anfall“ zu beobachten, noch auch w’urde ein 
sicher von dem Personal und den Kameraden beobachtet. 

Der z w e i t e F a 11 hat mit dem oben geschilderten beträchtliche Ähn - 
lichkeit. Hier lag in der Kindheit ein schweres Schädeltrauma vor, später 
tarnen längerer Alkoholmißbrauch und Syphilis als weitere schädigende 
Momente hinzu. Hier bestanden anfallweise Kopfschmerzen und Schwin- 
delanfalle, zeitweilige Verstimmungszustände (mit angeblicher Selbstmord- 
neigung) sowie Erregungzustände. Allerdings war dieser Mensch leicht 
reizbar, und es erscheint mir wahrscheinlich, daß die Erregungszustände 
*°wie auch die Verstimmungszustände nur als leicht pathologische Re¬ 
aktion eines gefühlsbetonten Vorfalles aufzufassen waren. Mit dieser 


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UNIVERSITY OF MICHIGAN 



230 


W eyert, 


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- erhöhten psychischen Reizbarkeit in Einklang stand ein erhöhter Reiz¬ 
zustand des gesamten Nervensystems, wie mehrfache Untersuchungen 
ergaben. 

Zum Schluß noch mit einigen Worten der dritte Fall: 

M. (Skizze Nr. 7, s. S. 237), 23 Jahre alt, ehelich geboren. Der Vater hat 
„getrunken“ und ist an Schwindsucht gestorben, als M. 11 Jahre alt war. 
Die Mutter war „wild“, lief dem Ehemann ohne Grund mehrfach davon, 
war „komisch“ und starb im Wochenbett, als M. 7 Jahre alt war. Eine 
Schwester des M. war dumm und ist an Schwindsucht gestorben. Eine 
Kusine väterlicherseits endete durch Selbstmord. In der Schule lernte M. 
gut, schwänzte jedoch viel, beging Diebstähle und wurde im 10. Lebens¬ 
jahr einer Fürsorgeanstalt überwiesen. Nach dem Berichte der Anstalt 
hatte M. einen „störrischen, widerspenstigen Charakter, wie wir ihn weder 
vor noch nach ihm noch einmal in unserer Anstalt hatten“. Der Direktor 
erwähnt ferner den „wirren, unstäten Blick“ des M. Er befand sich 4 \' 2 Jahre 
in einer Fürsorgeanstalt und erlernte dann 2 y 2 Jah" das Schlosserhandwerk. 
Vom 18. bis 20. Lebensjahre ist er 5 mal gerichtlich mit Gefängnis und Haft 
bestraft wegen Diebstahls, Körperverletzung und Landstreichens. Das 
Schlosserhandwerk übte er nicht aus, sondern war in verschiedenen Fa¬ 
briken als Arbeiter sowie als Heizer auf Überseedampfern tätig. Im 
September 1907 als unsicherer Heerespflichtiger bei der Marine eingestellt, 
ist seine Dienstzeit — abgesehen von dem ersten halben Jahre — eine 
Kette von andauernden Verstößen gegen die Disziplin. Er wurde in 
2 Jahren 21 mal bestraft, darunter 9 mal mit strengem Arrest und 2 mal 
mit Gefängnis, allein 5 mal wegen unerlaubter Entfernung. Als Ursache 
für seine häufige Straffälligkeit gibt er an, daß er sich meist die Folgen 
seiner Handlungen vorher nicht überlegt habe, besonders wenn er unter 
Alkohol gestanden hätte, was, wie er eingesteht, recht häufig der Fall 
gewesen wäre. Wenn er von Kameraden aufgefordert wurde, mitzumachen, 
so habe er eben mitgemacht, ohne an die Folgen zu denken. Gute Vor¬ 
sätze habe er recht oft gefaßt, aber alle diese seien immer wrieder zuschanden 
geworden, sobald irgendeine neue Versuchung an ihn herantrat. Richtige 
gute Freunde hatte er angeblich nie, „mit jedem habe ich Freundschaft 
gehalten“, ebenso habe er nie eine Braut gehabt, habe sich jedoch viel 
mit Kellnerinnen abgegeben, von denen er gelegentlich „freigehalten“ 
worden sei. Er bestreitet jedoch energisch, jemals Zuhälterdienste ge¬ 
leistet zu haben. In der Trunkenheit neige er zu Streit und Lärm und sei 
mehrfach in Raufereien verwickelt gewesen. Allerdings sei er auch ohne 
Alkohol leicht reizbar, werde aufgeregt und könne nicht an sich halten, 
beim Militär z. B., sobald ein Vorgesetzter ihn barsch anfahre. In eine 
Arbeiterabteilung eingestellt, machte er hier einen Fluchtversuch und 
wurde mit Gefängnis bestraft. 

Im April 1910 erkrankte M. an einer eitrigen Mittelohrentzündung, 
meldete sich jedoch erst krank, nachdem diese bereits etwa anderthalb 


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I'nwrsnchungen an t&emaligen frlrsorgfczötflingen im 'Festangsgefäügnis. 231 


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238 


Weyert, 


Monate bestand. Der unmittelbare Anlaß zur Krankmeldung war, daß 
er „Schwindelanfälle“ bekam, ihm „heiß im Kopfe“ wurde und Angst¬ 
gefühl auftrat. Die Mittelohreiterung heilte unter spezialärztlicher Be¬ 
handlung. Ausfluß trat in den folgenden 6 Monaten nicht wieder auf. 
Am Trommelfell fand sich eine deutliche Perforation, das Mittelohr zeigte 
epidermisierte Wände, die Hörfähigkeit war auf 50 cm für Flüstersprache 
herabgesetzt. M. gab an, zeitweilig im Hinterkopf und über den Augen 
ein Druckgefühl zu empfinden und sich dann „duselig“ zu fühlen. Schwin¬ 
delanfälle seien nicht mehr aufgetreten. Beim Lesen bestände manchmal 
Flimmern vor den Augen. Zuweilen trete auch anfallweise ein ängst¬ 
liches Gefühl, Herzklopfen und „Hitze im Kopf“ ein. Nachts träume er 
viel, besonders von Leichen, daß er tot sei, und „allerhand Kram“. Er 
meinte auch, doch bald sterben zu müssen, er habe das so im Gefühl. Der 
Gesichtsaüsdruck war finster, der Blick etwas scheu, das ganze Wesen 
wenig militärisch. M. zeigte recht gute intellektuelle Fähigkeiten; ein 
Schwachsinn lag sicher nicht vor. Der Schädel hatte einen Umfang von 
57 cm und zeigte auf dem Hinterhaupt eine 5 cm lange, % cm breite, 
gut verschiebliche, nicht druckempfindliche Narbe. Die Nase stand etwas 
schief, die Ohrmuscheln waren leicht verbildet, es bestand ferner Anlage 
von Xbein und Plattfuß. 

Seitens des Nervensystems fanden sich leicht gesteigerte Patellar- 
sehnenreflexe, Zittern der gespreizt vorgestreckten Finger, geringe Dermo- 
graphie sowie am ganzen Körper eine deutlich nachweisbare Herabsetzung 
des Schmerzgefühls. 

Besonders hervorgehoben sei, daß bei den mehrfach vorgenommenen 
Untersuchungen niemals Gleichgewichtstörungen beobachtet wurden und 
niemals Symptome, die für eine lokalisierte Gehirnerkrankung sprachen. 
Ebensowenig konnten bei M. objektiv die von ihm geschilderten ver¬ 
schiedenartigen Anfälle beobachtet werden. 

Die Deutung der geschilderten Fälle erscheint mir nicht völlig 
einwandfrei möglich. Eine genuine Epilepsie kommt bei allen drei 
Leuten nicht ernstlich in Frage. Berücksichtigt man, daß alle drei 
bereits längere Zeit dienten und sich während zahlreicher Aufenthalte 
im Lazarett, im Gefängnis usw. unter ständiger Aufsicht befanden, 
so glaube ich, daß ein epileptischer Anfall, vorausgesetzt, daß ein 
solcher jemals während der aktiven Dienstzeit aufgetreten ist, auch 
zur Kenntnis der Vorgesetzten und zuständigen Ärzte gelangt wäre. 
Überdies hätte wohl jeder der drei aus einem derartigen Anfall Kapital 
für sich zu schlagen versucht, zum mindesten dadurch, daß er sich 
krank gemeldet hätte. 

Wahrscheinlicher ist — meines Erachtens — die Annahme, daß 
es sich bei den ersten beiden um traumatisch psychopathische Kon- 


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Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezöglingen im Festungsgefängnis. 239 


stitutionen handelt. Sicher erscheint mir diese bei dem zweiten, kurz 
skizzierten FalL Hier lag ein größerer, schwerer Schädelunfall mit 
Gehirnerschütterung vor, und der Vater gab ausdrücklich an, daß 
nach dem Unfall ausgesprochene Charakterveränderungen sich aus¬ 
bildeten, vorzugweise Boshaftigkeit und Jähzorn. Bei dem ersten, 
in extenso geschilderten Falle fehlte mir eine hinreichend ausführliche 
Anamnese. Dadurch ist es mir nicht möglich, nachzuweisen, welche 
Veränderungen in geistiger Hinsicht mit G. während seines Lebens 
vorgegangen sind. Aber ich glaube, so viel kann doch wohl be¬ 
hauptet werden, daß die verschiedenartigen Schlägereien und das 
Trauma, von dem jetzt noch die Narbe herrührt, die Widerstand- 
fähigkeit des Gehirns herabgesetzt haben. Als weitere Gehirnschädi¬ 
gungen kommen hinzu Syphilis, Alkohol und kalorische Schädigungen 
(Schiffsheizer, Aufenthalt in den Tropen). So erscheint es nicht 
wunderbar, daß sich in beiden Fällen psychische Degeneration - und 
zerebrale Beizerscheinungen herausgebildet haben. 

Es ist nun hinreichend bekannt, daß zwischen Schädeltrauma und 
Epilepsie enge Beziehungen bestehen. Nach Ziehen pflegen in wenig¬ 
stens 10% aller schweren Schädeltraumen sich epileptische Anfälle 
einzustellen. Insbesondere ist ja der Alkohol den Gehirntraumatikem 
gefährlich, sei es in Form von pathologischen Rauschzuständen, sei 
es in Form von alkoholepileptischen Anfällen. Ich möchte die Ver¬ 
mutung aussprechen, daß bei beiden Fällen die absolute Alkohol- 
abstinenz in der Untersuchungshaft, den Lazaretten, der Arbeiter¬ 
abteilung und dem Festungsgefängnis nicht allein heilsam gewirkt, 
sondern vielleicht direkt verhindert hat, daß schwerere epilepsieähn¬ 
liche Anfälle auftraten. So erklärt es sich vielleicht, daß bei beiden 
keine ärztlichen Unterlagen für die von den Leuten behaupteten psychi¬ 
schen Anfälle gewonnen werden konnten. Daß die Angaben der beiden 
Leute erfunden sind, glaube ich nicht; allerdings ist es ja möglich, 
daß diese oder jene Einzelheit etwas krasser hingestellt worden ist, 
als sie in Wirklichkeit war. 

Schwieriger ist der dritte Fall. Hier hegte ich lange Zeit Ver¬ 
dacht, daß der Krankheitsprozeß vom Mittelohr in die Schädelhöhle 
fibergegriffen hätte. Ich fand jedoch bei zahlreichen Untersuchungen 
nie Anhaltpunkte, welche das Vorliegen einer organischen Gehirn- 
erkrankung auch nur im entferntesten gerechtfertigt hätten. Ich 


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240 


Weyert, 


nehme auch für diesen Fall eine traumatisch-psychopathische Kon¬ 
stitution an und glaube, daß es sich auch hier um zerebrale Reizerachei¬ 
nungen handelt, die gleichfalls zum mindesten in ihrem Entstehen be¬ 
günstigt worden sind durch Trauma, Alkohol und kalorische Ein¬ 
wirkungen. 

Zum Schluß möchte ich noch die Degenerationszeichen und krank¬ 
haften Erscheinungen des Zentralnervensystems dieser Gruppe der 
Psychopathen kurz zusammenfassen. 

Von den 10 Leuten zeigte einer (Untergruppe 2) hydrozephale 
Schädelform (horizontaler Umfang 60 cm), ein anderer derselben Gruppe 
Mikrozephalie (53 cm Horizontalumfang). Bei diesen waren als weitere 
Zeichen der Entartung vorhanden eine fliehende Stirn, Prognathie sowie 
verschieden gefärbte Regenbogenhäute. Im Schädelbau zeigten 3 Leute 
Asymmetrien zwischen beiden Hälften. Der Schädel eines vierten wirkte 
ausgesprochen eckig, quadratisch, der eines fünften verjüngte sich stark 
nach oben. Asymmetrien beider Gesichtshälften fand ich nur einmal, 
jedoch 7 mal eine schiefgestellte Nase. Seitens der Ohren war erkennbar: 
verbildete Ohrmuscheln 4-, angewachsene Ohrläppchen 5- und Darwin¬ 
scher Höcker 4 mal. Einer schielte, drei besaßen hohe, von diesen zwei 
kahnförmige Gaumen. Die Abweichungen des Zentralnervensystems von 
der Norm möchte ich tabellarisch kurz zusammenfassen. 


Es fand sich 

bei zwei Leu¬ 
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(legen, psych. 
Konst 

bei drei Psy- 
bei fünf Halt-! ehopsthen 
losen mit epilept 

1 Antillen 1 ) 

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10 Degene¬ 
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Zittern der Zunge. 

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Tremor digitorum. 

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3 

allgemeine Hypalgesie. 

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Von den vier noch verbleibenden Leuten ist kaum etwas zu sagen. 
Einer von ihnen war in der Anstalt schwer erziehbar gewesen, die 
andern drei hatten sich jedoch der Erziehung in der Anstalt in jeder 
Weise musterhaft gefügt. Zwei waren vor dem Diensteintritt unbe¬ 
straft, und von diesen kann wohl mit großer Wahrscheinlichkeit eine 
soziale Bewährung im Leben erwartet werden. Der eine hatte sich 
nicht rechtzeitig gestellt, weil er an Krätze litt und sich angeblich 

1 ) Von den drei Leuten dieser Gruppe haben zwei Lues überstanden. 


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Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezöglingen im Festungsgefängnis. 241 


schämte, der zweite hatte einen Vorgesetzten Unteroffizier 
verdächtigt, daß er (der Unteroffizier) von ihm Geld geborgt hätte. 
Von den beiden anderen Leuten wurde der eine im Alkoholrausch 
gewalttätig und war sowohl im Zivil- als jetzt im Militärleben wegen 
Körperverletzung bestraft worden. Der zweite konnte vielleicht auch 
als erblich-degenerativer Psychopath bezeichnet werden; er stand 
sicher auf der Grenze. Bei diesen beiden zuletzt erwähnten glaube 
ich kaum, daß sie sieh fernerhin als soziale und brauchbare Mitglieder 
der menschlichen Gesellschaft betätigen werden. Bei beiden hatte 
ich jedoch den Eindruck, daß durch sachgemäße, wohlwollende Leitung 
etwas aus ihnen zu machen wäre; ob beide jedoch einen derartigen 
Halt im Leben finden — das ist ja wohl wenig wahrscheinlich. 

Bereits erwähnt wurde, daß die Fürsorgeerziehung als solche 
durchaus keine Schuld an dem bisherigen Versagen meines Materials 
im bürgerlichen und militärischen Leben trifft. Nach der vom Mini¬ 
sterium des Innern veröffentlichten Statistik über die Erfolge der 
Fürsorgeerziehung usw. kann ja kein Zweifel an dieser segensreichen 
Einrichtung für unsere gefährdete Jugend mehr bestehen. Ich habe 
auch zeigen können, welch treffende Beobachtungen die Lehrer und 
Erzieher der genannten Anstalten über unser Material gemacht haben 
und wie richtig häufig die von ihnen gestellte Prognose für das weitere 
Leben der Zöglinge war. 

Die eingangs meiner Arbeit erwähnten militärärztlichen Gesichts¬ 
punkte, die mich zu der Untersuchung veranlaßt haben, legen nun 
zwei Fragen nahe: 

1. Wie verhält sich Fürsorgeerziehung zum Militärdienst, und 

2. Wie haben sich die Fürsorgezöglinge im Heere bewährt? 

Mein Material ist zu klein und stellt doch zu sehr Ausnahmever¬ 
hältnisse dar, als daß ich es wagen dürfte, meine Ergebnisse zu verall¬ 
gemeinern. Es sind vor nicht langer Zeit zwei Arbeiten erschienen, 
von Stier 1 ) und Schuppius 8 ), die sich gleichfalls mit den Fürsorge¬ 
zöglingen vom militärischen Gesichtspunkte aus beschäftigen. Die 
von beiden Autoren niedeigelegten Ansichten und Resultate ihrer Be¬ 
obachtungen sind von grundlegender Bedeutung; Stier hat sich ein- 

1 ) Stier, Fürsorgeerziehung und Militärdienst. D. militärärztl. Ztschr. 
*0. Jahrg. 1911. Heft 22. 

*) Schuppius, Fürsorgeerziehung und Militärdienst. Ebendort. 


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242 


Weyert, 


gehend mit der Frage der Fürsorgeerziehung seit Jahren beschäftigt, 
und Sehuppius hat auf Grund von Fragebogen ein Bild der zurzeit 
in der preußischen Armee dienenden ehemaligen Fürsorgezöglinge ge¬ 
wonnen und ist zu recht beachtenswerten Ergebnissen gekommen, 
die um so wertvoller für mich sind, da sie nicht an Festungsgefängnis¬ 
insassen, sondern an Soldaten der Front angestellt sind, somit eine 
Ergänzung meiner eigenen Beobachtungen darstellen. 

Alle ehemaligen Fürsorgezöglinge grundsätzlich vom Militärdienst 
als untauglich oder unwürdig auszuschließen, ist, wie auch Stier betont, 
„indiskutabel, da diese Maßnahme einen radikalen Bruch bedeuten 
würde mit den sonstigen Grundsätzen der Einstellung, indem es die 
Fürsorgezöglinge, von denen ein beträchtlicher Teil überhaupt keine 
gerichtlichen Strafen erlitten hat, den ehemaligen Zuchthäuslern gleich - 
stellen würde“. Stier zieht ferner die Möglichkeit in Erwägung, ob die 
Entscheidung über die Tauglichkeit aller in die Fürsorgeerziehung 
aufgenommenen Knaben in die Hände der Armee zu legen sei oder ob 
für die Tauglichkeit der Umstand entscheidend sein könne, daß die 
Fürsorgezöglinge sich in dem Kalenderjahre, in dem sie das 20. Lebens¬ 
jahr vollenden, noch in Fürsorgeerziehung befanden. Stier begründet 
seine ablehnende Stellung zu diesen Möglichkeiten so erschöpfend und 
weist so einleuchtend auf die Konsequenzen hin, welche sich ergeben 
würden, daß es überflüssig erscheint, seinen Ausführungen noch etwas 
hinzuzusetzen. 

Stier schlägt schließlich vor, eine Verfügung zu erlassen, die besage: 
„Die Kommunalverbände haben am 1. Januar jedes Jahres diejenigen 
in Fürsorgeerziehung befindlichen jungen Männer den Ersatzbehörden 
namhaft zu machen, die sich a) als schwachsinnig und psychisch abnorm 
gezeigt haben, und die b) in den letzten drei Jahren sich nicht tadelfrei 
geführt haben; beides unter Angabe der diese Urteile begründenden 
Tatsachen, bei den unter a) genannten tunlichst unter Beibringung 
eines psychiatrischen oder kreisärztlichen Zeugnisses“. 

Ich halte diesen Vorschlag für überaus glücklich. Er bedeutet 
eine Erweiterung des bereits erwähnten Erlasses des Ministers des 
Innern vom 2. November 1910 betreffend Mitteilung des Ergebnisses 
der psychiatrischen Untersuchung der geistig minderwertigen Für¬ 
sorge- und Zwangszöglinge an die Ersatzbehörden. Es war vorge¬ 
schlagen worden, über jeden ehemaligen Fürsorgezögling einen Ver- 


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Untersuchungen an ehemaligen Füreorgezöglingen im Festungsgefängnia. 243 

merk in die Stammrolle aulzunehmen, um die Aufmerksamkeit des 
zuständigen Truppenarztes besonders auf diesen Mann zu lenken. 
Stier hat Bedenken gegen diesen Vorschlag. Er fürchtet, dieser Ver¬ 
merk könne den Unteroffizieren und Eameraden bekannt werden und 
so dem ehemaligen Fürsorgezögling, der vielleicht mit den besten Vor¬ 
sitzen und Absichten beim Militär eingetreten ist, der sich im Zivil¬ 
leben vielleicht sozial bewährt hat, nun ein Makel in den Augen seiner 
Kameraden angehängt werden, der ihm sein militärisches Fortkommen 
erschwert und unter Umständen dazu beiträgt, daß er in alte Fehler 
zoröckfällt. Ich gebe diese Gefahr ohne weiteres zu und bin über¬ 
zeugt, daß derartige verletzende, kränkende Bemerkungen so manchem 
ehemaligen Fürsorgezögling das militärische Leben verbittern können. 
Wirmüssen jedoch anderseits bedenken, daß durch den vorgeschlagenen 
Vermerk die militärischen Vorgesetzten und der zuständige Arzt darauf 
hingewiesen werden, den betreffenden Soldaten unauffällig, besonders 
sorgsam zu beobachten. Gerade hierdurch aber werden wir Arzte 
die notwendigen Unterlagen für die Beurteilung der Psyche dieser 
Leute gewinnen und würden frühzeitiger als bisher imstande sein, 
so manchen psychisch Defekten zu erkennen. Hätte sich in den Listen 
meines Materials der vorgeschlagene Vermerk gefunden, so hätten die 
Truppenführer doch wohl bei diesem oder jenem Manne eine psychiatri¬ 
sche Beobachtung veranlaßt, und es wäre somit das Heer frühzeitiger 
von einem ungeeigneten Element befreit worden. Allerdings ist dazu 
eine Vertiefung des psychologisch-psychiatrischen Verständnisses der 
militärischen Vorgesetzten notwendig, eine Forderung, an deren Er¬ 
füllung bereits in zahlreichen Armeekorps durch regelmäßig wieder¬ 
kehrende psychiatrische Vorträge gearbeitet wird. 

Würde nun in die Stammrollen nur bei den von Stier erwähnten 
psychisch verdächtigen ehemaligen Fürsorgezöglingen ein Vermerk 
gemacht, so würde in zahlreichen Fällen bei der Musterung bzw. Aus¬ 
hebung so mancher geistig Defekte bereits vom Heeresdienst ausge¬ 
schlossen werden können. Ich glaube, daß die von mir vorgeschlagenen, 
auf einer Lehrerkonferenz beim Abgang jedes Zöglings aus der Anstalt 
zusammengefaßten Schlußschilderungen eine wertvolle Ergänzung 
dieser ärztlichen usw. Zeugnisse bilden würden. Gerade meine Fälle 
haben gezeigt, wie richtig die Lehrer ihre Zöglinge zu beurteilen ver¬ 
standen, wie richtig auch die Vorhersage über die weitere Lebens- 


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244 


Weyert, 


führung meist war. Kämen diese ehemaligen Fürsorgezöglinge doch 
zur Einstellung, so würden der Truppenarzt und der Kompaniechef 
sofort wertvolle Fingerzeige für die Beurteilung des Mannes besitzen, 
und es gelänge sicher, so manchen frühzeitiger zu erkennen und even¬ 
tuell abzuschieben als jetzt. Denn erfahrunggemäß verstreichen 
unter den heutigen Verhältnissen stets Wochen, sogar Monate, ehe bei 
Grenzzuständen ein Soldat als geistig auffällig dem Truppenarzt von 
der Kompagnie zugewiesen wird und die dann eingeleiteten Erhebungen 
über das Vorleben in unsere Hände gelangen. Es wird sich nie ver¬ 
meiden lassen, daß diesem oder jenem Soldaten seine ehemalige Er¬ 
ziehung in einer Fürsorgeanstalt von den Kameraden zum Vorwurf 
gemacht und er als ein sittlich Zweitklassiger betrachtet wird. Dieser 
Nachteil muß jedoch meines Erachtens völlig zurücktreten hinter den 
großen Vorteil, den das Heer durch die möglichst frühzeitige Erkennung 
von geistig defekten, für den Heeresdienst ungeeigneten Elementen 
gewinnt. 

Die in den bereits vielfach erwähnten Statistiken veröffentlichten 
günstigen Ergebnisse haben — wie ich wohl sagen darf — nicht nur 
mir eine große Überraschung bereitet. Ich hatte, als ich an die Unter¬ 
suchung meines Materials herantrat, nicht erwartet, auf so ausge¬ 
sprochene Ausnahmefälle zu stoßen, vielmehr geglaubt, daß von meinem 
kleinen Material sich wenigstens ein gewisser, vorsichtiger Schluß auf 
die allgemeinen militärischen Verhältnisse ziehen ließe. Diese Er¬ 
wartung ist erklärlich, wenn man sich die Ergebnisse der neurologisch¬ 
psychiatrischen Untersuchungen an Fürsorgezöglingen vergegenwärtigt. 
Ich möchte diese der Übersicht halber in nachfolgender Tabelle zu- 
sammenstellen und bemerken, daß ich einige Angaben der Statistik 
über die Fürsorgeerziehung usw. entnommen habe. 

Die umstehende Tabelle zeigt außerordentliche Differenzen: 
z. B. schwankt bei den einzelnen Untersuchern die Prozentzahl 
der geistig Gesunden zwischen 84,75 und 13,8, die Zahl der 
Psychopathen aller Grade zwischen 15,18 und 86,2. Be¬ 
merkenswert ist das psychiatrische Ergebnis in der Rhein¬ 
provinz mit seiner interessanten Trennung zwischen erziehbaren, 
sozial in gewissem Grade verwendbaren und sozial verlorenen Zöglingen. 
Es ist naturgemäß nicht zu entscheiden, wieweit die abweichenden 
Ergebnisse bedingt sind durch die verschiedene Auffassung der einzelnen 


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Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezöglingen im Festongsgefängnis. 245 



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Geistig 

Psycho¬ 
pathen, 
geistig Ab- 
j norme aller 
Grade 

. .. 

Provinz 

Name des 
Untersachers 

nnter- 
1 suchten 
Zöglinge 

gesund 
bzw. un¬ 
auffällig 

Nicht 

erziehbar 



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Holthausen 

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Rabbas (?) 

! 271 

84,75 

15,18 

0,07 

Pommern 

Knecht 1 ) 

!222männl. 

57 

43 

? 



95 weibl. 

34 

66 

? 

Posen 

? 

i 122 

65,6 

34,4 

? 

Hannover 

Cramer*) 

j 376 schul¬ 
entlassene 

40 

60 

? 


Mönkemöller* 

jö89 schul- 

63 

37 

? 



| pflichtige 




P»g.-Bz. Wiesbaden 

Snell o 

;66 männl. 

28,5 

71,5 j 

l 

? 

bn 

I. Unters. 



_ JQ 

» Ö 

|66 männl. 

25.7 

74,3 ; 

l 

? 


ss< 

i II. Unters. 

i 


- 

JQ- 

fl 

JS 

! 24 weibl. 

1 I. Unters. 

58 

42 

l 

y 


o 

24 weibl. 
,11. Unters. 

37,5 : 

62.5 

V 

- 

Geelvink 

37 weibl. 
i schulend. 

13,8 

86,2 i 

13,8 

Westfalen 

Rizor 4 ) 

789 

24,4 

69,6 

6 

Kheinprovinz 


j 100 

20, d. h. 

55 

25 

i« 

r 

50 Knab. 

erzieh¬ 

endogen ent- , 

absolut ver¬ 


\ 

50 Mdch. 

bar i 

artet,sozial ver-: 
wendbar, eines : 

loren fUr das 
selbständige 





posit. Schutzes 

Leben 





bedürftig 



l'ntersucher. Knecht z. B. hat bei seinem Material nicht die leichten 
Schwachsinnszustände berücksichtigt, ein Umstand, durch den sich 

*) Knecht, Die Fürsorgeerziehung in Pommern. Psych.-neurol. 
Wsohr. 12. Jahrg. 1910. Nr. 19. 

*) Gramer , Bericht an das Landesdirektorium über die psychiatrisch - 
neurologische Untersuchung der schulentlassenen Fürsorgezöglinge. Allg. 
Ztschr. f. Psych. Bd. 67, Heft 4. 

*) Mönkemöller, Bericht an das Landesdirektorium der Provinz 
Hannover über die Ergebnisse der psychiatrisch-neurologischen Unter¬ 
suchung der schulpflichtigen Fürsorgezöglinge der Provinz Hannover. 
Ztschr. f. d. Erforsch, u. Behandl. des jugendl. Schwachsinns Bd. 4, 1910. 

4 ) Rizor, Bericht an den Landeshauptmann der Provinz Westfalen 
über die Ergebnisse der psychiatrisch-neurologischen Untersuchung der 
in den Anstalten befindlichen, über 14 Jahre alten Fürsorgezöglinge West ¬ 
falens. Ztschr. f. d. Erforsch, u. Behandl. des jugendl. Schwachsinns 
1909. S. 119. 


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Original fro-m 

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246 


Weyert, 


naturgemäß die Zahl der geistig Defekten in seiner Statistik beträchtlich 
verringert. Zum Vergleich möchte ich eine in der Statistik über die 
Fürsorgeerziehung usw. veröffentlichte Tabelle anführen. 



Von den Fürsorgezöglingen waren 

Jahrgang 

a) in geistiger Hinsicht 

b) in 

körperlicher Hinsicht 







nicht nor¬ 
mal 

1 

m. Gebrechen 

davon hatten 


gesund 

gesund 

bzw. Mängeln 

dauernde 


behaftet 

Gebrechen 

1909 

88,1 

11,9 

75,6 

24,4 

10,0 

1908 

90,2 

9,8 

77,3 

22,7 

9,1 

1907 

89,6 

10,5 

82,7 

17,3 

7,0 

1906 

90,0 

10,0 

! 80,7 

19,3 

8.1 

1905 

89,3 

10,7 

78,5 

21,6 

9,0 

1904 

90,9 

9,1 

! 85,6 

14,4 

7,1 

1903 

90,3 | 

9,7 

' 82,3 

17,7 

8,1 

1902 

89,3 | 

10,1 

84,3 

15,7 

7,2 


Die große Differenz in den Prozentzahlen der geistig Defekten 
dieser mit den in der vorherigen Tabelle führt logischerweise zu dem 
Schluß, daß zahlreiche Psychopathen usw. in der Fürsorgeanstalt nicht 
als solche erkannt, somit auch wohl zum Militärdienst herangezogen 
wurden, ohne daß durch irgendeinen entsprechenden Vermerk in den 
Personalakten auf den abnormen Geisteszustand dieser ehemaligen 
Zöglinge hingewiesen wurde. Von den in den Jahren 1904 bis 1909 
aus der Fürsorgeerziehung entlassenen Knaben wurden 24 von hundert 
als Soldaten eingestellt, ein geringer Prozentsatz, der sich jedoch wohl 
daher erklärt, daß noch nicht sämtliche der in dem genannten Zeitraum 
entlassenen Zöglinge das Pflichtalter für den Militärdienst erreicht 
haben. Der verhältnismäßig geringe Prozentsatz der mit körperlichen 
Gebrechen bzw. mit Mängeln behafteten Zöglinge (s. letzte Tabelle) 
erklärt jedenfalls nicht die Erscheinung, daß nur ein Viertel der ge¬ 
nannten Fürsorgezöglinge in das Heer eingestellt wurden. 

Es ist das Verdienst von Schuppius , durch umfassende Erhebungen 
bei sämtlichen Armeekorps einen Überblick über die Zahl und Führung 
der im Sommer 1911 aktiv im Heere dienenden ehemaligen Fürsorge¬ 
zöglinge gegeben zu haben. In 10 Armeekorps dienten 560 ehemalige 
Zöglinge. Von diesen Leuten standen im ersten Dienst jahre 338 Mann. 
Von diesen waren 61,7 % gänzlich unbestraft, „bei Abrechnung der 
Kapporte, Strafwachen und ähnlichen kleinen Disziplinarstrafen sogar 
71,4 %“. Von den 222 Leuten des zweiten Jahrgangs hatten 24 % 


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Original fro-m 

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Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezöglingen im Festnngsgefängnis. 247 


bzw. 35,75 % den größten Teil ihrer Dienstzeit straflos verbracht. Die 
Führung wird bezeichnet bei 5 % mit „sehr gut“, bei 40 % mit „gut“, 
bei 45 % mit „genügend oder befriedigend“, bei 10 % mit „schlecht 
oder ungenügend“. Schuppius hat bei seinem Material ferner „in 
jeder Beziehung abfällige Äußerungen“ über die Charaktereigenschaften 
verhältnismäßig selten angetroffen. 

Gegen diese günstigen Resultate von Schuppius vermag ich einige 
Bedenken nicht zu unterdrücken. Seit langen Jahren wird von 
Psychiatern, vor allem von Militärpsychiatem immer wieder die Not¬ 
wendigkeit betont, bei den militärischen Vorgesetzten das psychiatri¬ 
sche Verständnis für psychische Grenzzustände zu wecken und mehr zu 
vertiefen. Ein jeder, der die einschlägige Literatur verfolgt hat, wird 
wissen, wieviel in dieser Hinsicht bereits geschehen ist und immer 
weiter geschieht, um möglichst weitgehend das Heer von geistig De¬ 
fekten zu befreien. Ich glaube, daß unter den heutigen Verhältnissen 
seitens der militärischen Vorgesetzten in erster Linie die Leistungen 
der Untergebenen im praktischen, im äußeren Dienste, also im Exer¬ 
zieren, Turnen, Felddienst, Reiten usw. als Maßstab für die Beurteilung 
betrachtet werden und die Fähigkeiten im theoretischen Dienste durch¬ 
aus in zweiter Linie kommen. Leichte Formen des Schwachsinns, vor 
allem aber all die Symptome der degenerativen psychopathischen Kon¬ 
stitutionen fallen bekanntlich in erster Linie der unmittelbaren Um¬ 
gebung auf, also den Kameraden und allenfalls den Korporalschafts- 
führern. Die psychisch etwa auffälligen Symptome kommen also 
häufig dem Kompagniechef gar nicht zur Kenntnis, und es ist auch gar 
nicht zu verlangen, daß ein Hauptmann erst die Stubenkameraden 
eines Mannes befragt, um ein Urteil über die Führung usw. zu gewinnen. 
Die wenigsten Kompagniechefs bestrafen gern, und keiner will in den 
zweifelhaften Ruf kommen, eine sogenannte Verbrecherkompagnie zu 
führen. Es wird ein jeder also wohl versuchen, zunächst in Milde, ohne 
Strafen auszukommen, demgemäß auch sich nur schwer entschließen, 
die Führung eines Mannes als ungenügend oder als ausgesprochen 
schlecht zu bezeichnen. Ich bin mir sehr wohl bewußt, daß ein ge¬ 
waltiger Unterschied besteht zwischen den Bestrafungen im Zivilleben 
und beim Militär. Im Interesse der Disziplin, um zu erreichen, daß 
die Truppe ein einheitliches, festgefügtes Ganzes in der Hand ihres 
Führers wird, müssen eben Strafen verhängt werden für Verfehlungen, 


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248 Weyert, Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezöglingen usw. 

die im Zivilleben im allgemeinen als unwesentlich aufgefaßt werden, 
z. B. das Ausbleiben über einen gewissen Zeitpunkt, eine freche Ant¬ 
wort gegen den Lehrherrn usw. Die Tatsache, daß „von 338 Leuten 
des ersten Jahrganges 208 gleich 61,7 % gänzlich unbestraft sind, 
bei Abrechnung der Rapporte, Strafwachen und ähnlichen kleinen 
Disziplinarstrafen sogar 240 gleich 71,4 %“, erlaubt meines Erachtens 
keinen Rückschluß. Denn gerade im ersten Dienstjahre herrscht 
eine weitgehende Milde und das Bestreben, den neueingestellten jungen 
Leuten hinreichend Zeit zu gewähren, sich in die neuartigen Verhält¬ 
nisse einzugewöhnen. In der Ausbildungszeit werden erfahrunggemäß 
häufig Vergehen nicht bestraft, die mit strengem Arrest, sogar mt 
Gefängnis geahndet werden könnten. Wenn jedoch von 222 Leuten 
des zweiten Jahrgangs 24 % bzw. 35,75 % ihre Dienstzeit unbestraft 
geblieben sind, wenn also 64,25 % strenger als durch Rapporte, Straf¬ 
wachen und ähnliche kleine Disziplinarstrafen bestraft werden mußten, 
so vermag ich im Gegensätze zu Schuppius den letztgenannten Prozent¬ 
satz durchaus nicht so günstig zu finden. Er ist auf jeden Fall be¬ 
trächtlich höher als bei den jungen Leuten, die nicht in Fürsorge¬ 
erziehung waren. Die Vermutung liegt nahe, daß unter diesem relativ 
hohen Prozentsätze von Bestraften doch so mancher psychisch nicht 
einwandfrei ist. Ich möchte auf die von mir untersuchten Gefängnis¬ 
insassen hinweisen, die ja auch größtenteils mit Disziplinarstrafen 
belegt worden waren, ehe sie infolge einer gröberen Straftat in das 
Gefängnis kamen. Ich glaube jedoch, daß die von mir erwähnten Be¬ 
stimmungen, welche die Heranziehung der Psychiater bei der Für¬ 
sorgeerziehung immer mehr sichern, dazu führen werden, daß die uner¬ 
ziehbaren, die geistig defekten Zöglinge mehr als bisher vom Heeres¬ 
dienst ausgeschlossen werden können. Wenn meine veröffentlichten 
Fälle auch stets Ausnahmeverhältnisse darstellen werden, so mögen 
sie doch andrerseits ein Beweis dafür sein, daß zwischen Fürsorge¬ 
erziehung und Heeresdienst beachtenswerte Beziehungen bestehen und 
die Förderung der Bestrebungen der Fürsorgeerziehung nicht in letzter 
Linie für unser Heer, für die Frage der Tüchtigkeit unserer Armee 
von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist. 


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Über eine einfache klinisch-psychologische Me¬ 
thode zur Prüfung der Auffassung, der Merk- 
fähigkeit, des Gedächtnisses und der Ablenkbarkeit 

Von 

Dr. Ernst Bischof!, Langenhorn. 

Im zweiten Heft des 65. Bandes dieser Zeitschrift S. 207 hat 
Vier egge eine Arbeit veröffentlicht: „Über die Prüfung der Merk¬ 
fähigkeit Gesunder und Geisteskranker mit einfachen Zahlen.“ 

Er berichtet darin über Untersuchungen an Versuchspersonen, Ge- 
'linden und Geisteskranken, über die Fähigkeit vorgesagte Zahlen nach¬ 
zusprechen 

1. sofort, 

2. nach einer Minute ohne Ablenkung, 

3. nach einer Minute mit Ablenkung. 

Die Anzahl der Ziffern der noch richtig nachgesprochenen Zahl 
wurde notiert. So erhält man für jede der drei Versuchsreihen eine Ziffer, 
hie erhaltenen drei Ziffern nebeneinandergestellt ergeben eine dreistellige 
Zahl. 

Eis bedeutet beispielweise 653: 

eine sechsstellige Zahl wird sofort, 
eine fünfstellige Zahl wird nach einer Minute Ablenkung, 
eine dreistellige nach einer Minute mit Ablenkung 
richtig reproduziert. 

Die Durchschnittwerte bei einer größeren Zahl von gesunden und 
kranken Versuchspersonen stellte Vieregge in der Tafel S. 250 zusammen. 

Damit hatte Vieregge eine praktisch verwendbare Untersuchungs¬ 
methode für die klinische Merkfähigkeitsprüfung ausgearbeitet, die auch 
noch wertvolle Anhaltpunkte für die „Auffassungsfähigkeit“ und für die 
Wirkung der Ablenkung auf die Gedächtnisfunktionen gibt. 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXIX. 2. 17 


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250 


Bischoff, 



Die geringe Zahl 
so wenig umständlicher 
psychologisch - klini¬ 
scher Untersuchungs¬ 
methoden läßt es wohl 
erwünscht erscheinen, 
einer jeden, die so gut 
anwendbar ist und mit 
so einfachen Mitteln 
arbeitet wie die er¬ 
wähnte, eine sorgfältige 
Beachtung zu schen¬ 
ken, um sie nach Mög¬ 
lichkeit auszubilden. 

In dieser Erkennt¬ 
nis hatte Vieregge da¬ 
mals die Ausführung 
übernommen; die Me¬ 
thode und die Ver¬ 
suchsanordnung hatte 
im wesentlichen ich 
ihm empfohlen und 
angegeben. 

Die Versuchsan¬ 
ordnung bildete das Re¬ 
sultat einer Reihe von 
Vorversuchen, auf die 
in der erwähnten Arbeit 
wohl kurz hingedeutet 
ist, deren zusammen¬ 
hängende Veröffent¬ 
lichung damals aber 
aus äußeren Gründen 
unterblieb. 

Vieregge gab der 
Versuchsperson als Reiz 
eine Zahl aus dem fol¬ 
gen J " £, ~ u —na: 


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Ober ein* 1 einfache klinisch-psychologische Methode usw 


Gruppe 

Ziffer 


Bei dsf Answah! dieser Zählen war itfmdertkh maßgebend.. daß 
liüferr 1 wie t-twa h-'i { i:}\ oder 111, vermieden wurden. 

Beim Versprechen wurdf ein die Ziffern miteinander verbindendes 
■ :j. f‘. rwetundfuozig MiiUardei*, bu»fbot*d*rt u n »J »i*b**nundne'unzi£ 
Kif&mm, 'dreihundert u n d sbcbstithiaehuig Tausend. vierhundert und 
• msetso (Zähl % I. b des S.--Imnus 1 ausgelassen, vv<> jm \bh un« ■•••>•• 
i»l*Miduf»g der Hunderter mit den Zehneeu und Einern .in ä&tt Tausonder-. 
'i -> MjJIioacTi- und ilea M'dHardeijgfnppoti haQdeitb; dagwgeo wurdy und 
RuigfsprK be n W eilen Verbindung:*» feinrrfr. and Zehjiem, sowie u» 
i-drteu Gruppe, der HtiudertertjruppSj auch •zwisdheu Hunderten 
MW*! r»iptrfT> rowis Z-dinern: z. B. Hrijyyihl. $. Hl..»: Dre3hu»dertsieheu- 
•Vstoeao 2 «t 5 »isind fünfhundertUnd^efisüridaehUig. 

Für AuSspcftt thr« rler Reiz*. wurde. die Zeit *nip*r»«-vb teigeJegl 
ÜB »vitweridig r>ar. um x\v<,HsK)Hife, .n.f.-i,-.>jt»'Uhre. 

- «ad ii?r -iriiiyfr Zahlen dt-ülfifb nitd klar verständlich ; *®T- 

X ^ Sekunden 






252 


Bischoff, 


Die Zahlen mit einer dazwischen liegenden Ziffernzahl werden ent¬ 
sprechend langsamer oder schneller angegeben. 

Es gelten diese Zahlen natürlich nur als ungefähre Anhaltpunkte, 
um eine gewisse Einheitlichkeit der Zeit der Reizgebung zu erreichen. 

Wesentlich schwieriger war eine andere Frage der Technik der 
Versuchsanordnung zu beantworten: Sollen die Reize in aufsteigender 
Reihenfolge, von der kleinen zur größeren Zahl fortschreitend, gegeben 
werden oder umgekehrt? 

Von größter prinzipieller Wichtigkeit war endlich die Frage, welche 
von den reproduzierten Zahlen als endgültig richtig ausgewählt werden 
sollte. 

Diese letzte Frage ist natürlich die den Ausschlag gebende, und 
alle andern dienen mehr oder weniger direkt ihrer Beantwortung: 
daher ist eine zusammenhängende Betrachtung, in der sie den Aus¬ 
gangpunkt bildet, wohl angebracht. 

Gibt man einer erwachsenen, gesunden Versuchsperson als Reiz die 
Zahl 6 mit der Aufgabe, sie sofort oder nach kurzer Zeit zu reproduzieren, 
so wird ihr das unter gewöhnlichen Umständen anstandlos gelingen. 

Steigert man die Anzahl der Ziffern, so wird die Reproduktion eine 
mehr und mehr ungleichmäßige sein, bis es bei etwa 9*, 10-, 12stelligen 
Zahlen überhaupt nicht mehr gelingt, alle Ziffern in richtiger Anordnung 
zusammenzubringen. 

Gerade aber die Anzahl der als Zahl richtig reproduzierten Ziffern 
soll in den vorliegenden Versuchen den Maßstab abgeben für den Umfang 
und die Güte des Gedächtnisses, des Auffassungsumfanges, eventuell der 
Aufmerksamkeit usw. 

Es fragt sich nun, welche von den reproduzierten Zahlen werden als 
brauchbar gewählt. 

Das Einfachste wäre, man wählte die Zahl, welche immer richtig 
reproduziert wird; doch ergibt sich da sofort die Schwierigkeit, wo dieses 
„immer“ begrenzt werden soll, da die Versuche natürlich nicht unbegrenzt 
lange fortgesetzt werden sollen, und weil infolge der Übung bei einer immer 
weiter fortgesetzten Zahl der Versuche die Zahl der richtig reproduzierten 
Reize an Umfang so lange zunehmen w'ird, bis die Ermüdung oder andere 
Erscheinungen, die aber alle erst sehr spät einsetzen, das Resultat etwas 
einheitlicher oder aber auch geringer und vielleicht unregelmäßig fallend 
gestalten. 

Die Methode ist natürlich um so besser verwendbar, je geringer die 
Zahl der notwendigen Versuche ist. Das erwähnte „immer“ wird also 
aus innerer Notwendigkeit eine gewisse Willkürlichkeit in seiner Um¬ 
grenzung enthalten müssen. 

Nehmen wir nun an, daß diejenige Zahl als „immer richtig reprodu- 


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Über eine einfache klinisch-psychologische Methode usw. 253 

ziert“ gilt, die bei 20 Versuchen ohne Fehler angegeben wird. Nach allen 
unsern Erfahrungen werden wir sagen können, daß Zahlen mit einer 
kleineren ZifTernzahl unter sonst gleichen Verhältnissen ebenso „immer“, 
sagen wir — absolut richtig — reproduziert werden. 

Steigern wir nun die ZifTernzahl immer mehr und mehr, so werden 
voraussichtlich von den 20 Reproduktionen entsprechend mehr falsch 
sein, bis schließlich eine ZifTernzahl erreicht wird, die in keiner der 20 Re¬ 
produktionen richtig wiedergegeben wird; diese Zahl stellt — sagen wir — 
die absolut falsche Zahl dar. 

Es leuchtet wohl ohne weiteres ein, daß die absolut richtige Zahl 
einen zu kleinen, jedenfalls nicht erschöpfenden Umfang des noch auf- 
faßbaren Zahlenmaterials angibt; das Umgekehrte ist bei der absolut 
falschen Zahl der Fall. 

Graphisch dargestellt ergeben sich diese Verhältnisse in Form einer 
Kurve, deren Abszisse beispielweise die Anzahl der Ziffern, deren Koordi¬ 
nate die Anzahl der richtigen Lösungen angibt. 

Solch eine Kurve ist in der Abbildung II dargestellt von einem 
Versuch am 16. 1. 1908: 



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Bisch off 


Die absolut richtige Zahl i$f hier 4, die absolut falsch« Zahl ist:?, 
•cift* «eefrssle llig? Zahl wurde io ach» von zwanzig Fälle», eine fänfstellige 
Ziijii H fgtrfaoha ton zwortzig Fällen richtig reproduziert. 


- 


DijjS* Methode fei bei einer entsprechenden Verarbeitung der Be- 
sultaic nattirlich durchaus brauchbar. Sie gibt ein erschöpfendes Bild 


der Fehlerqualit.'Ucii » .> in r,vtv>r>obuog sehr f*ii«vr philologischer 
BigentnrhHi'hkeite» und ^.odVhtnisfihllhomeiie. Doch haftet ihr der 


DfcpitE.ed*by 


• , C'i iyii ril frcri 

IJNIVERSifV QF MjCHIGAN 




Über eine einfache klinisch-psychologische Methode usw. 


266 


Mangel an, daß sie recht umständlich für den klinischen Gebrauch ist; 
und die Abkürzung der Versuchzeit ist wohl eine Bedingung für die all¬ 
gemeine Verwendbarkeit. 

Die absolut richtige und die absolut falsche Zahl sind mit sehr viel 
weniger Fragen herausgefunden als mit den hier gestellten zwanzig; bei 
der absolut falschen muß natürlich schon die erste falsch sein und die 
zweite und die dritte; bei der richtigen liegen die Verhältnisse entsprechend, 
und man hört meist schon bei gebildeten Versuchspersonen einen eigen¬ 
tümlichen Ton, der einem Gefühl entspricht, das man auf Grund der 
Selbstbeobachtung wohl das „Sicherheitsgefühl“ nennen kann, und der wohl 
darauf schließen läßt, ob man sich der richtigen Zahl nähert oder nicht. 

Bei den dazwischen liegenden Zahlen ist die willkürlich gewählte 
Zahl von zwanzig Versuchen natürlich auch reichlich hoch bemessen; 
und es ist wesentlich, daß man bei einer kleineren Zahl von Versuchen 
auch noch die Wirkung der Übung besser wird hintenanhalten können als 
bei einer so großen Zahl. 

Es wurde nun zur Untersuchung einer größeren Zahl von Versuchs¬ 
personen folgende Versuchsanordnung getroffen: 

10 Versuchspersonen wurden nacheinander 10 einstellige, 10 zwei¬ 
stellige usw. Zahlen aus dem Fiereggeschen Schema vorgesprochen mit der 
Aufgabe, sie sofort zu reproduzieren. 

Die Registrierung fand in der schon geschilderten Weise statt. Es 
ergaben sich für die richtig reproduzierte Ziffernzahl dieKurven Abb. 3, S. 254« 

Die entsprechenden Werte sind in Zahlen in der Tabelle 1 dargestellt: 


Tabelle 1. 



Ziffernstellen der Reizzahl 

1 

! 2 

3 

4 

5 

6 

D 

8 

9 


11 

r-Fälle 

Vp. I 

10 

10 

10 

10 



8 

5 

1 

1 

0 

Vp. II 

10 

10 

10 

10 

8 

8 

3 

2 

0 

0 

0 

Vp. III 

10 

10 

10 

9 


3 

1 

2 

0 


0 

Vp. IV 

10 

10 

10 

10 

9 

5 

2 


0 


0 

Vp. V 

10 

10 

10 

8 

7 




0 

0 

0 

Vp. VI 

10 

10 

10 

10 



5 

3 

0 


0 

Vp. VII 

10 

10 

10 

9 

7 

5 


0 

0 


0 

Vp. VIII 

10 

10 

10 

10 


8 

6 

1 

2 


0 

Vp. IX 

10 

10 

1 10 

10 

9 

9 

2 

4 

0 


0 

Vp. x 

10 

10 

1 10 

10 


8 

3 

3 

0 

0 

0 


Die kleinste absolut richtige Zahl ist 3 bei Vp. V und VII. 
Die größte absolut richtige Zahl ist 6 bei Vp. I und VI. 

Die größte absolut falsche Zahl ist 11 bei Vp. I. 

Die kleinste absolut falsche Zahl ist 6 bei Vp. V. 


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v Google 


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256 


Bischoff, 


Es handelt sich nun darum, in dieser Variationsbreite, die begrenzt 
wird von der absolut richtigen und der absolut falschen Zahl, diejenige 
zu bestimmen, die praktisch die richtige Zahl ist, die später bei der Dar¬ 
stellung des Auffassungsumfanges als maßgebend dienen soll. 

Es ist bemerkenswert, daß die geringste Variationsbreite die Vp. V 
hat, die auch im übrigen das schlechteste Resultat ergab, und daß um¬ 
gekehrt die größte Variationsbreite Vp. I hat, die absolut das beste Re¬ 
sultat gab. 

Danach scheint jedenfalls die Variationsbreite mit der Abnahme der 
absoluten Leistung nicht etwa zuzunehmen, sondern es ist das Gegenteil 
der Fall. Wir dürfen also annehmen, daß bei einer absolut großen Zahl 
die Variationsbreite eine größere ist, und daß damit hier der vermutliche 
Fehler in mehr oder weniger entsprechendem Maße wächst. 

' Bei der absolut kleineren Zahl wird der wahrscheinliche Fehler ent¬ 
sprechend kleiner sein. 

Die Verhältnisse des wahrscheinlichen Fehlers werden sich also bei 
absolut großen und absolut kleinen Zahlen relativ annähernd gleich sein. 

Diese Beobachtung gestattet wohl einen Schluß auf die Exaktheit 
der Methode in günstigem Sinne. 

Bei dem Abfall der Werte lassen sich weiter noch zwei verschiedene 
Arten des Abfallens erkennen: ein plötzlicher Abfall und ein allmählicher 
Abfall. 

Einen Abfall von 10 zu 8 (Vp. I, II, V, VIII, X) wird man wohl einen 
allmählichen nennen können; einen Abfall von 5 zu 1 (Vp. I), von 8 zu 3 
(Vp. II), von 10 zu 3 (Vp. III), von 9 zu 5 (Vp. IV), von 7 zu 0 (Vp. V), 
von 10 zu 5 (Vp. VI), von 5 zu 0 (Vp. VII), von 6 zu 1 (Vp. VIII), von 
9 zu 2 (Vp. IX). von 8 zu 3 (Vp. X) muß man im Verhältnis zu dem frühe¬ 
ren als einen plötzlichen bezeichnen. 

Beide Formen des Abfallens verlangen naturgemäß eine verschiedene 
Wertung. Die Umgrenzung des Bewußtseinsumfanges, der Auffassungs¬ 
möglichkeit ist zwischen den Zahlen dieses plötzlichen Abfalles zu suchen. 
Dann engt sich aber die Auswahl unter den Zahlenergebnissen ganz erheb¬ 
lich ein; und man nähert sich den tatsächlichen Verhältnissen wohl sehr, 
wenn man annimmt, daß der durchschnittliche Umfang für die Auffassung 
und Reproduktion zwischen diesen beiden Werten in der Weise liegt, 
daß er sich um so mehr der größeren der beiden Zahlen nähert, je kleiner 
der Unterschied ist. 

Damit ist aber ein Gewinn bezüglich der Genauigkeit und der Ein¬ 
deutigkeit des Zahlenresultates erzielt. 

Bezeichnen wir die Neigung zum höheren Wert mit +, die Neigung 
zum niederen Wert, der hier die tatsächlich angegebene Zahl ist, mit —. 
so würden sich für den Auffassungs- und Reproduktionsumfang der unter¬ 
suchten Personen folgende Zahlen ergeben: Vp. I: 8(—), Vp. II: 6 (—), 
Vp. III; 5(—), Vp. IV: 5(-f), Vp. V: 5(—), Vp. VI: 6(—). Vp. VII: 6(—), 


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Ober eine einfache klinisch-psychologische Methode usw. 257 

Vp. VIII: 7(—), Vp. IX: 6(—), Vp. X: 6( +). Schon bei diesem Versuch 
ist es gelegentlich zweifelhaft, ob man nicht besser die einfache Zahl ohne 
die Einschränkung mit dem 4- - und — -Zeichen nimmt. 

Auch das starke Überwiegen des —Zeichens, daß also die angegebene 
Zahl als die maßgebende bezeichnet, deutet darauf hin, daß die Exaktheit 
der Resultate der Methode schon bei dieser Versuchsanordnung eine größere 
ist, als man beim ersten Blick auf die vielen scheinbar abweichenden 
Zahlen erwarten könnte. 

Es fragt sich nun, ob es nicht möglich ist, auf Grund der Erfahrungen, 
die wir der experimentell psychologischen Arbeit auf anderen Gebieten 
entnehmen, die Methode so zu gestalten, daß ihre Ergebnisse noch ein¬ 
deutiger sind. 

Der Grund für die Mehrdeutigkeit der Resultate, für die mangelnde 
Exaktheit der Ergebnisse ist die Tatsache der „Streuung“ der Werte, der 
relativ großen Variationsbreite. 

Solche Streuung hat sehr häufig bei psychologischen Experimenten 
ihre Ursache in „apperzeptiven Schwankungen“, in Schwankungen der 
Aufmerksamkeitspannung. Bei den hier in Frage kommenden Verhält¬ 
nissen dürften diese Schwankungen aber nur kleinere Streuungsbreiten 
ergeben. Das wohl beste Beispiel aus dem vorliegenden Material ist das 
Untersuchungsergebnis bei Vp. III für die 5stellige Zahl; hier finden sich 
nur 9 richtige Lösungen, während bei der 6stelligen Zahl die Reproduktion 
wieder in 10 Fällen richtig war. 

Aus den Untersuchungen über die „Arbeitkurve“ wissen wir, daß 
große, stetig gesetzmäßige Schwankungen der Leistungen im Sinne der 
Herabsetzung bedingt werden durch das Ermüdungsphänomen. Auch die 
Reproduktion einer Zahl stellt eine Arbeit dar und in der hier angewandten 
Versuchsanordnung eine „fortlaufende“ Arbeit. Die Wirkung der Er¬ 
müdung anzunehmen sind wir vielleicht berechtigt bei einem Abfall von 
10 zu 8 und ähnlichem. 

Das weitaus wichtigste hier in Betracht kommende Arbeitphänomen 
aber ist das der Übung. Ihre Erscheinungen sind allerdings auf diesem 
engen Gebiete des Zahlengedächtnisses noch nicht so eingehend durch¬ 
forscht, wie auf manchem anderen Gebiete, z. B. dem des fortlaufenden 
Addierens: immerhin aber dürften wir berechtigt sein, einige der in den 
vorliegenden Versuchsergebnissen zutage getretenen Erscheinungen mit 
diesen Übungsphänomenen in einen ursächlichen Zusammenhang zu brin¬ 
gen. Es handelt sich um solch eine Übungswirkung z. B. bei den Vp. III, 
VIII und IX bezüglich des Steigens der Werte in den letzten Versuchsreihen 
von 1 auf 2, resp. 2 auf 4 r-Fälle. 

Gelingt es nun, diese störenden Faktoren: Aufmerksamkeitschwan¬ 
kungen. Ermüdung und Übung, auszuschalten oder wenigstens herab¬ 
zusetzen, so würden die Resultate voraussichtlich einfacher, eindeutiger 
und exakter werden. 


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Bischoff 



'V;.p.ig'iti2 



Die eingehendsten Betrachtungen erfordert di« Hintenanhaltuog 
der Übufigswfrkung. 

S<h<>n die aUgemtdne \ Vertrautheit mit de« hier verlangten Vor¬ 
nahmen, dem einfache» Naclispreeh«» einer Vorgesprochenen Zahl* laßt 












diese Übungswirkunge» bei dieser Methode nicht so sehr hervor! reten,* ab 
b#d Jindcrctt Mt#hodm\, die in 4er. Foi*m.Ml^r«w?. : ]3Nrer Angaben oft raubt 

’ itfi den ihn t:ute«mi:feenden, und die 
b>i 50KrfS:H-%em Arb#fett itdib iifcon -•tiinf^bgrVbib>4;. ApjMwrat -erfordert*- 







Ober eine einfache klinisch-psychologische Methode nsw. 259 

Es gibt hier aber noch ein so einfaches Mittel, um die Übungswirkung 
herabzusetzen, daB seine Anwendung fast selbstverständlich scheint. 
In den erwähnten Versuchsreihen wurden den Versuchspersonen zunächst 
einstellige Zahlen als Reize gegeben, dann zweistellige usf.; die Vp. wurde 
also sozusagen für die größere Aufgabe planmäßig vorbereitet. Diese 
Vorbereitung fällt natürlich viel weniger wirksam aus, wenn man mit den 
größeren Reizen, die womöglich jenseits der absolut falschen Zahl liegen, 
beginnt; also an Stelle der autsteigenden Reizreihe die absteigende Reiz- 
reihe wählt. 

In dieser Versuchsanordnung wurden die 10 folgenden Versuchs¬ 
personen untersucht. 

Das ergab die folgenden (Tabelle 2 u. Abb. 4, S. 258) Resultate: 


Tabelle 2. 



Ziffernstellen der Reizzahl: 

_ 9 J 

8 | 

7 

6 

5 

4 

3 


r-Fälle: 



Vp. XI 

0 

2 

8 

10 

10 

10 

10 

Vp. XII 

0 

o 

0 

0 

4 

10 

10 

Vp. XIII 

0 

0 

0 

1 

6 

9 i 

10 

Vp. XIV 

0 

0 

1 

4 

10 

10 

10 

Vp. XV 

0 

2 

4 

10 

10 

io ; 

10 

Vp. XVI 

0 

2 

4 

8 

10 

10 

10 

Vp. XVII 

0 

2 

8 

10 

10 

10 

10 

Vp. XVIII 

0 

3 

1 

8 

10 

■ 

10 

10 

Vp. XIX 

0 

0 

0 

5 

! 10 

10 

10 

Vp. XX 

0 

0 

1 

i 5 

i 10 

1 

10 

i 

i 10 


Die kleinste absolut richtige Zahl ist 3. 

Die größte absolut richtige Zahl ist 6. 

Die kleinste absolut falsche Zahl ist 6. 

Die größte absolut falsche Zahl ist 9. 

Die Variationsbreite ist hier aber eindeutig geringer als bei der vorigen 
Versuchsanordnung: Während sie dort zwischen 5 und 2 Werten schwankte, 
schwankt sie hier nur zwischen 1 und 3 Werten. 

Ein etwas verschwommenes Resultat hat die Versuchsperson XVIII 
ergeben. Das ist aber so zustande gekommen, daß diese Versuchsperson 
mit ungleichmäßiger Aufmerksamkeitspannung arbeitete. Bei den 
siebenstelligen Zahlen ist z. B. der Fehler überall fast nur an einer Stelle 
der Zahl. Bei der zeitweise offenbaren Überanstrengung traten hier 
außerdem bald auch die Wirkungen der Ermüdung deutlich zutage. Diese 
Versuchsperson hätte unter andern Verhältnissen die siebenstellige Zahl 
wohl in etwa 7 der 10 Fälle richtig reproduziert. Der Durchschnittwert 


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260 


Bischoff, 


läge dann also zwischen der sieben* und achtstelligen Zahl mit starker 
Neigung zur siebenstelligen. 

Es würden sich hier bei den einzelnen Versuchspersonen die folgenden 
Werte ergeben: 

Vp. XI: 7 (—). Vp. XII: 4 (—), Vp. XIII: 5 (—), Vp. XIV: 5 (—). 
Vp. XV: 6 (—), Vp. XVI: 6 ( + ), Vp. XVII: 7 (—), Vp. XVIII: 7 <- vgl. 
oben), Vp. XIX: 6, Vp. XX: 6. 

Danach hat sich also auch hier im praktischen Versuch ergeben, 
daß bei einer Prüfung unter Anwendung der fallenden Reizreihe die Varia¬ 
tionsbreite erheblich vermindert wird, und daß damit die Eindeutigkeit der 
Resultate bedeutend gewinnt. 

Die Wirkung der apperzeptiven Schwankungen kann herabgesetzt 
werden durch Einhaltung möglichster Ruhe bei den Versuchen, durch 
möglichst gleichmäßige Reizgebung bezüglich Zeit und Ton beim Aus¬ 
sprechen der Reizzahl; dann aber vor allem durch eine so kurze Versuchszeil 
als nur irgend möglich; denn es ist natürlich leichter für nur kurze Zeit 
die Aufmerksamkeit gespannt zu erhalten, als für längere. 

Eine möglichste Abkürzung der Versuchszeit setzt auch die Wirkung 
der Ermüdung herab, die noch dadurch wesentlich gemildert werden 
kann, daß man die einzelnen Reize in kleinen Zeitabständen und nicht 
sofort nach Beendigung des vorigen Versuchs gibt. Auch das Signal 
„Achtung“ vor der Reizgabe bewährt sich hier und zua Verminderung 
der Aufmerksamkeit Schwankungen recht gut. 

Bei solchen, eigentlich selbstverständlichen Vorsichtmaßregeln 
scheint die Wirkung der Ermüdung bei diesen Versuchen bei gesunden 
Versuchspersonen eine nur ganz nebensächliche Rolle zu spielen; auch das 
hängt natürlich damit zusammen, daß Zahlen etwas so durchweg Be¬ 
kanntes sind, und daß das Nachsprechen zu den einfachsten Manipulationen 
gehört, die wir kennen. 

Trotz alledem waren doch aber auch bei den Versuchsreihen mit 
fallender Reizreihe Zeichen von Übung, Ermüdung und Aufmerksamkeit- 
Schwankungen aufgetreten, die eine noch weitere Verbesserung erwünscht 
erscheinen ließen. 

Ganz werden sich diese Wirkungen natürlich nicht vermeiden lassen: 
waren aber für die methodische Bearbeitung der Fragen nach der Ver¬ 
wendung der steigenden oder fallenden Reizreihe Versuchsreihen von 
10 Einzelversuchen nötig, so genügten für die praktische Ausführung 
der Methode offenbar schon Reihen von 5 Einzelversuchen. Damit konnte 
man wohl die Ermüdungswirkung fast ganz ausschalten, verminderte die 
Übungsfolgen noch um ein Wesentliches und gestaltete auch für die Auf¬ 
merksamkeitspannung die Verhältnisse noch günstiger. 

Für die Auswahl des gesuchten Durchschnittwertes ergab sich nun 
die bequeme rechnerische Festlegung, daß man bei 3 und mehr richtigen 
Werten die Reizzahl wählte, bei zwei oder einem richtigen Wert im all* 


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Ober eine einfache klinisch-psychologische Methode nsw. 261 

gemeinen die nächst kleinere. Folgten die beiden richtigen Reproduktionen 
vielleicht gerade den beiden letzten der gegebenen Reize und wurden sie 
mit besonderer Exaktheit und Promptheit wiedergegeben, so könnte man 
wohl auch die Ziffernzahl dieser Reize wählen, wenn man nicht vorzieht, 
noch eine weitere Versuchsreihe von fünf Reizen zu gewinnen. Bedient 
man sich dann, um noch ein übriges zu tun, des + - und —Zeichens, so 
ist der mögliche Fehler von einer Stelle des weiteren so eingeschränkt, 
daß er praktisch wohl kaum in Frage kommt. 

Der erste Teil der Untersuchung, die „sofortige Reproduktion“ 
der gegebenen Reizzahl, vollzieht sich also in folgender Weise: 

Man spricht der Versuchsperson, dem zu untersuchenden Patienten, 
eine Zahl aus dem Schema oder eine entsprechend gewählte andere 
als Reiz vor, die voraussichtlich größer ist, als die „absolut falsche 
Zahl“ oder sich dieser möglichst nähert. Unter Berücksichtigung 
persönlicher Eigentümlichkeiten kann man mit ungefährer Allgemein¬ 
heit als solch eine Zahl bei „aufgeweckten“, „gebildeten“ Personen 
etwa eine neunstellige wählen, bei anderen etwa eine achtstellige 
Zahl 

Waren nun alle fünf Antworten richtig, r-Fälle, so schreitet man 
zur nächst größeren; waren dagegen nur 3 bis 4 Lösungen richtig, so 
nimmt man die Ziffemzahl der gegebenen Reizzahl als richtige Zahl 
zur Darstellung des Umfanges der Auffassung an. Waren keine, nur 
eine oder zwei Reproduktionen richtig, so geht man zu der nächst¬ 
kleineren Ziffernzahl über und setzt hier die Untersuchungen fort, 
bis man dann so zu dem erwähnten Resultat kommt. 

Mit diesen Untersuchungen ist die Frage über die Auswahl unter 
den richtig reproduzierten Zahlen beantwortet. Man hat mit dieser 
Zahl einen einfach darstellbaren, relativ exakt festgelegten Reiz 
gewonnen, den man durch Vermehrung oder Verminderung der Ziffern¬ 
zahl sehr bequem und in sehr weitem Umfange einer beliebigen Zahl 
von Variierungen unterwerfen kann, deren Einwirkungen unter be¬ 
kannten Versuchsbedingungen man bei der Versuchsperson— experi¬ 
mentell — nachzuprüfen und zu erforschen vermag. 

Die Bequemlichkeit der Anwendung, die Variierbarkeit der Reize 
und ihre leichte Registrierbarkeit läßt diese Methode in hohem Grade 
geeignet zur Erforschung von Gedächtnisphänomenen bei Geistes¬ 
kranken erscheinen. Natürlich verlangt schon die bisher behandelte 
Vereuchstechnik eine wesentliche Betätigung der Gedächtnisfunktionen; 


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262 


Bischoff, 


indes sind wir wohl allgemein in der experimentellen Psychologie 
gewöhnt, Versuche mit „sofortiger“ Reproduktion in erster Linie in 
Beziehung zu den Funktionen der „Auffassung“ zu bringen. 

Für „Gedächtnisprüfungen“ oder in der in der klinischen Psychia¬ 
trie gewohnten Bezeichnung gewisser Teilfunktionen des Gedächt¬ 
nisses, für „Merkfähigkeitsprüfungen“ sind mehr geeignet Versuche, 
die dem Gedächtnis einen größeren Zeitumfang zu seiner Betätigung 
gewähren. In dem vorliegenden Falle kamen dafür Pausen in Betracht 
zwischen der Reizgebung und der Reproduktion. 

Es entstand nun die Frage, welche Zeit hier am besten als Pause 
gewählt wurde. 

Aus früheren Untersuchungen war es bekannt, daß keineswegs 
immer bei sofortiger Reproduktion die besten Resultate erzielt werden, 
vielmehr steigt die Zahl der reproduzierbaren Reize nach einem mehr 
oder weniger Zeit umfassenden Zwischenraum. Dieser Zwischenraum 
ist in wesentlichem Maße abhängig von der Qualität der Reize. Wundt 
fand bei Reproduktion einfacher Töne oder einfacher Gesichtsobjekte 
eine solche „günstige Pause“ nach 2 oder wenig mehr Sekunden. 

Die hier angewandten Zahlen stellen nun allerdings nicht einfache 
Gehörsobjekte dar. Es erschien daher notwendig, diese Verhältnisse 
der günstigsten Pause für die Reproduktion auch für so geartete 
Reize in besonderen Versuchsreihen zu prüfen; — wie es sich später 
herausstellte, nicht in erster Linie, um die Zeit genau abzugrenzen, 
sondern mehr, um ein allgemeines Bild über diese Schwankungen 
zu gewinnen. 

Mit den hier verwandten Zahlen ließen sich solche Versuche nicht 
recht vorteilhaft einrichten: Bei der Verwendung vielstelliger Zahlen 
hätten die Übungserscheinungen das Bild so sehr verwischt, daß nur 
außerordentlich lange Reihen, die ein Arbeiten im „Übungsmaximum“ 
zu gewährleisten schienen, in Betracht kamen. Dieses Übungsmaximum 
bei Zahlenreproduktionen ist aber so wenig untersucht, daß irgendwelche 
Fragen hierüber eine ganz eigene, gesonderte Bearbeitung erfordert hätten. 
Nach den bisherigen Erfahrungen dürfte auch dieses Übungsmaximum 
bei Zahlenreproduktionen noch so schwankende Werte aufweisen, das 
hieraus weitere Bedenken erwuchsen. 

Die Anwendung von Ziffern hätte ein zu kleines Feld von Variations- 
möglichkeiten ergeben, ein Umstand, auf den schon Ebbinghaus auf¬ 
merksam gemacht. Auch ist der Unterschied zwischen den Gedächtnis- 
reaktionen bei Ziffern und Zahlen infolge der assoziativen Momente ein 


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Über eine einfache klinisch-psychologische Methode usw. 263 

so prinzipieller und großer, daß eine völlige Identifizierung der Resultate 
doch nicht angängig erscheint. 

So wurde schließlich der Ausweg gewählt, eine andere Methode 
heranzuziehen, die am Ende noch die wenigsten Bedenken zu haben 
schien und wegen der Einfachheit der Anwendung manchen Vorzug ver¬ 
diente. Die Methode visueller Buchstabenreize nach Art der von Kraepe- 
lin-Finxi eingeführten Reizkärtchen für den „Finziapparat“; jedoch in 
der weiteren Modifikation, daß an Stelle der dort maschinell in das Gesichts¬ 
feld gebrachten Fmztschen Reize 8 cm Quadratkante messende Karten 
mit 9 besonders ausgewählten Buchstabenreizen der Versuchsperson 
5 Sekunden exponiert wurden mit der Aufgabe, sie einmal sofort, dann 
nach 15 Sekunden, nach 30 und nach 60 Sekunden zu reproduzieren. 

Die Buchstaben auf den Karten waren in einer Letternhöhe von 
8 mm in kräftigem Druck gewählt und symmetrisch in drei Reihen zu je 
dreien angeordnet. Die Exposition fand statt, indem man die Karte vor die 
Versuchsperson auf den Tisch legte. Nach 5 Sekunden wurde dann die 
Karte verdeckt oder ganz entfernt, und die Versuchsperson aufgefordert, 
entweder jetzt oder nach den erwähnten Pausen auf einem leeren Blatt, 
das entsprechend in neun Felder geteilt war, die in ihrem Gedächtnis 
haftenden Buchstaben in ihrer Position auf den Karten anzugeben. 

Das Versuchsergebnis stellt sich unter Hervorhebung nur der wesent - 
lieh hier in Betracht kommenden Punkte für einen ausgewählten, typischen 
Versuch von 6 Versuchsreihen folgendermaßen dar: 

Es wurden richtig reproduziert: 

sofort nach 5" nach 15" nach 30" nach 60" 

6 4 9 9 3 

5 9 9 7 6 

7 9 9 7 6 

5 9 9 9 5 

8 9 9 9 9 

9 9 9 9 9 

Im ganzen wurden also richtig reproduziert: 

sofort: 40 Buchstaben 

nach 5": 49 Buchstaben 
nach 15": 54 Buchstaben 
nach 30": 48 Buchstaben 
nach 60": 38 Buchstaben. 

Man kann hiernach sagen, daß nach 60 Sekunden die Wirkung 
der günstigsten Pause abzublassen beginnt, und daß sich um diese 
Zeit die Resultate etwa ähnlich denen bei sofortiger Reproduktion 
verhalten. Diese sehr approximative Untersuchung war für die 
spätere Auswahl einer Pause von einer Minute zwar nicht maßgebend, 
bot aber doch recht wertvolle Anhaltpunkte dafür. 


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264 


Bischoff, 


Entscheidend war vielmehr am Ende die praktische Rücksicht¬ 
nahme auf die vorteilhafte Anordnung des folgenden Versuches. In 
ihm sollte die Wirkung der Ablenkung (Lektüre, Rückwärtszählen 
von Metronomschlägen, Unterhaltung usw.) auf die Reproduktion 
untersucht werden. Diese Ablenkung erfordert zu der „Einstellung“ 
darauf — sowohl für die Versuchsperson als auch für den Versuchs¬ 
leiter — einige Zeit, sei es nun, daß als Ablenkung Lektüre, Zählen 
von Metronomschlägen oder einfache Unterhaltung gewählt wird. 
Diese Zeit der Einstellung nimmt bei einer Pause von nur etwa 30 Se¬ 
kunden einen verhältnismäßig so großen Teil des gesamten zur Ver¬ 
fügung stehenden Zeitraumes in Anspruch, daß für eine recht gleich¬ 
mäßige Wirkung der Ablenkung eigentlich zu wenig übrig bleibt. Eine 
so kurze Pause würde deshalb leicht zum Überhasten der Versuche 
beitragen. Aus diesem Grunde namentlich schien es vorteilhaft, für 
die Ablenkungsversuche eine Pausenzeit von einer Minute zu wählen. 

Da nun für die Pausenversuche ohne Ablenkung ein möglichst 
ebenmäßiges Vergleichmaterial erwünscht war, so wurde auch für 
diese Versuche dieselbe Pause von einer Minute gewählt; eine Wahl, 
für die sich aus den erwähnten Pausenversuchen mit Buchstabenreizen 
Bedenken nicht ergaben. 

Die Auswahl unter den richtig reproduzierten Zahlen wurde 
natürlich nach den gleichen Gesichtspunkten vorgenommen wie bei 
den Untersuchungen mit sofortiger Reproduktion. 

Wurde etwa bei einzelnen Patienten auch eine einstellige Zahl 
nach einer Minute nicht mehr richtig reproduziert, so wird nach einer 
modifizierten Registriermethode und Versuchsanordnung verfahren, 
die sich eng und selbverständlich der gewöhnlichen anschließen: 
An der Stelle der einfachen Ziffer wird dann ein Bruch gewählt, indem 
man experimentell die Zeit bestimmt, in der eine einstellige Zahl 
noch richtig reproduziert wird; der Bruch gibt dann die Bruchteile 
der Minute an, die durch die erhaltene Zahl bestimmt werden. 

So bedeutet y 10 : eine einstellige Zahl wird nach 6 Sek. = V 10 Mi¬ 
nute noch richtig reproduziert. 

Gewöhnlich stellt das Resultat der Untersuchungen sich dar in der 
Form von drei im allgemeinen einstelligen Ziffern, von denen die erste 
die Anzahl der Ziffern derjenigen Zahl angibt, die sofort reproduziert 
wird, die zweite die Anzahl der Ziffern derjenigen Zahl, die nach einer 


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Über eine einfache klinisch-psychologische Methode usw. 265 

Minute ohne Ablenkung richtig wiedergegeben wird; und die dritte 
Ziffer endlich bezeichnet die Ziffernanzahl der Zahl, die noch nach 
einer Minute mit Ablenkung richtig reproduziert wird. 

An Einfachheit und Übersichtlichkeit läßt diese Form des Resul¬ 
tates der Untersuchung einer besonders für den Psychiater so wichtigen 
Funktion, wie sie das Gedächtnis, wenn hier auch nur das „Zahlen¬ 
gedächtnis“, darstellt, sich wohl kaum übertreffen. 

Ein Prinzip der Methode verlangt noch eine besondere und etwas 
eingehende Betrachtung: Die Wahl der Zahl und nicht der Ziffern¬ 
reihe als Reiz. 

Vieregge weist mit Recht darauf hin, daß die Zahl gegenüber der 
ZiiTernreihe den Vorzug des Gewohnten für die Versuchsperson und damit 
auf die Übungswirkung vermindernden Einfluß hat. 

Einer experimentellen Untersuchung solcher Fragen stellen sich 
prinzipielle Schwierigkeiten nicht in den Weg. Es wurden demgemäß 
einige Versuche zur ergänzenden Klärung vorgenommen: 

Um für die Ziffern- und Zahlenreize möglichste Gleichmäßigkeit der 
Cbungsverhältnisse herzustellen, wurden keine der in den vorigen Ver¬ 
suchen untersuchten Personen herangezogen. Die Reize wurden ferner 
aus dem gleichen Grunde abwechselnd in zahlenmäßiger, dann in ziffer¬ 
reihenmäßiger Anordnung gegeben. 

Um der Methode wegen möglichste Planmäßigkeit einzuhalten, 
wurde die aufsteigende Reizreihe gewählt, bei jeder Versuchsperson also mit 
•‘instelligen Zahlen oder Ziffern begonnen. 

Jede einzelne Versuchsreihe umfaßte 20 Reize, also 10 in Zahlen, 
10 in Zifferreihen, die dem im Beginn dieser Arbeit angegebenen Schema 
entnommen wurden. Auch bezüglich der Zeit wurden die dort angege¬ 
benen Sekunden für die einzelnen Reizgrößen nach Möglichkeit eingehalten. 
Die Ziffern wurden wenn möglich bei der Tongebung in Gruppen von je 
drei zusammengefaßt. In den folgenden Tabellen sind die richtig repro¬ 
duzierten Zahlen und Zifferreihen wiedergegeben: 


Tabelle 3. 


Zahlenreize. 
Stellenzahl: 

3 

4 

5 

6 

7 

8 

9 

10 

11 

Vp. I 

10 

10 

10 

10 

7 

4 

2 

0 

0 

Vp. II 

10 

10 

10 

10 

8 

7 

4 

2 

0 

Vp. III 

10 

10 

10 

5 

1 

0 

0 

0 

0 

Vp. IV 

10 

10 

10 

9 

7 

0 

0 

0 

0 

Vp. V 

10 

8 

9 

3 

0 

0 

0 

0 

0 


Zeitschrift fUr Psychistrie. LZIX. 2. 18 


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266 


Bischoff, 


Zifferreihen. 

Stellenzahl: 

4 

5 

6 

7 

8 

9 

10 

11 

12 

13 

14 

15 

16 

Vp. I 

10 

*10 

9 

8 

3 

8 

5 

1 

0 

0 

0 

0 

0 

Vp. II 

10 

10 

10 

10 

10 

10 

8 

6 

7 

3 

4 

1 

0 

Vp. III 

10 

10 

10 

7 

5 

3 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

Vp. IV 

10 

8 

9 

9 

7 

4 

4 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

Vp. V 

10 

6 

5 

4 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

0 


Nach diesen Zahlen scheint der Umfang für die Reproduktionsmöglich¬ 
keit für ZifTerreihen ein größerer zu sein als für Zahlen; hierfür sprechen 
die Ergebnisse eindeutig. 

^Mit diesem größeren Auffassungsumfang wächst aber auch die Größe 
der Variationsbreite und zwar in solchem Maße, daß die Zahlenreize wohl 
unzweifelhaft den Vorzug verdienen, da sie die Möglichkeit einer erheblich 
größeren Exaktheit der Resultate ergeben. 

Zur klaren Darstellung dieser Verhältnisse seien im folgenden noch 
die Variationsbreiten der beiden Methoden nebeneinandergestellt: 

Variationsbreiten: 

Za. = Zahlenreize. 

Zi. = Ziffernreize. 

Zi. Za. 

Vp. I 3 6 

Vp. II 4 6 

Vp. III 2 3 

Vp. IV 2 6 

Vp. V 3 3 

Eine weitere Behandlung erfuhr die Frage, ob die Reproduktion 
der Zifferreihen beeinflußt wurde durch Modifikationen der Grup¬ 
pierung und Betonung bei der Reizgebung. 

Der Versuch wurde so angeordnet, daß der Versuchsperson neun¬ 
stellige Zifferreihen abwechselnd in Gruppierung zu dreien und mit ent¬ 
sprechend variierter Betonung und danach ohne solche Gruppierung und 
in gleichmäßiger Tongebung vorgesprochen wurden. Von jeder Art wurden 
10 Reize gegeben. 

Von den in Gruppierung gegebenen Reizen wurden alle 10 richtig 
reproduziert. 

Von den ohne Gruppierung gegebenen wurden nur 2 richtig, 8 da¬ 
gegen falsch wiedergegeben. 

Dieses Resultat war durchaus eindeutig; es entsprach auch voll¬ 
kommen den Erfahrungen anderer ( Ebbinghaus ), der Selbstbeobachtung 
der Versuchsperson sowohl als auch des Versuchleiters und endlich der 
alltäglichen Erfahrung, daß von weiteren Untersuchungen für den vor¬ 
liegenden Zweck Abstand genommen werden konnte. 


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Ober eine einfache klinisch-psychologische Methode osw. 267 

Die Zahl ist einer Beeinflussung durch diese Momente in viel 
geringerem Maße ausgesetzt. Sie stellt wohl, der gewohnheitmäßigen 
Erfahrung entnommen, schon in sich eine der praktischsten Grup¬ 
pierungen dar. Die Zusammenfassung von je drei Ziffern zu der ge¬ 
wöhnlichen Zahlengruppe aber läßt für die Betonung dieser einzelnen 
Gmppen hier nur sehr wenig Spielraum, da meist ja nur zwei oder 
höchstens drei solcher Gruppen in Betracht kommen. 

Die Verwendung der Zahl bot ferner für die spätere Verarbei¬ 
tung der Fehler so mannigfache Vorzüge gegenüber der Ziffern¬ 
zusammenfassung, daß auch dies eindeutig für ihre Verwendung 
als Reiz sprach. 


Literatur. 

In der psychiatrischen Literatur ist die Verwendung von Zahlen 
und Ziffern zur Darstellung von Störungen des Gedächtnisses und der 
Merklähigkeit etwas so Gewohntes, daß es wohl keines Hinweises im ein¬ 
zelnen bedarf. 

Hier kamen außer den bei Vieregge gegebenen Arbeiten als wert¬ 
voll in Betracht: 

Ebbinghaus, über eine neue Methode zur Prüfung geistiger Fähigkeiten. 
Hamburg und Leipzig 1897. 

Finzi, Zur Untersuchung der Auffassungfähigkeit und Merkfähigkeit. 
Kraepelin, Psychol. Arbeiten, Bd. III, S. 289. 

Hilliez, La continuitö de la mömoire immödiate de chiffres et de nombres 
en sörie auditive. 

Lobtien, Uber das Wesen der Zahl. 

Fburnay, Sur l’association des chiffres chez les divers individus. 

Meumann, Experimente über Ökonomie und Technik des Auswendig¬ 
lernens. 

A. Binet, Notes complömentaires sur M. Jaques Inaudi. 

Charcot et Binet, Un calculateur du type visuelle. 

Binet et Henri, La Simulation de la mömoire des chiffres. 


18* 


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Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 


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87. ordentliche Generalversammlung des 
Psychiatrischen Vereins der Rheinprovinz am 
11. November 1911 in Bonn. 

Anwesend sind die Mitglieder: Adams, Bastin, Baumann, Behrendt. 
Berg, Beyer, Beyerhaus, Brockhaus, Buddeberg, Dannehl, v. Ehrenwall. 
Fabricius, E. Förster, Gerhartz, Giesler, Günther, Hennes, Herting, Herz¬ 
feld, Höstermann, Hübner, Laber, Länderer, Liebmann, Lahmer, Mappes, 
Märchen, Oebeke, Pelman, Peretti, Pfahl, Rademacher, Raether, Rülf, Schaum¬ 
burg, Schöbel, Schütte, Sieben, Sioli, Stertz, Thomsen, Tippei, Umpfen- 
bach, van Husen, Voß, Wassermeyer, G. Werner -Bedburg, P. Werner- 
Andernach, Westphal. 

Als Gäste sind anwesend: Dr. Kellner und Dr. ■RecArterwa/d-Süchteln. 
Der stellvertretende Vorsitzende, Geh. San.-Rat Oebeke, begrüßt die Er¬ 
schienenen und teilt mit, daß der Stabsarzt Dr. Wagner, wegen Versetzung 
nach Berlin, aus dem Verein ausgeschieden ist. Prof. Westphal hat den 
Psychiatrischen Verein der Rheinprovinz auf dem Kriminal-Anthropo¬ 
logischen Kongreß in Köln vertreten. 

Durch Akklamation wird der bisherige Vorstand ( Pelman , Oebeke. 
Umpfenbach, Thomsen, Westphal) wiedergewählt. 

In den Verein werden aufgenommen: Dr. Gmar-Koblenz, Reg.- 
und Geh. Med.-Rat, Dr. La&er-Godesberg, II. Arzt der Kur- und Kalt- 
wasseranstalt „Godesberg“, Dr. Äü//-Bonn, prakt. Arzt, und Dr. G. Werner- 
Bedburg, Anstaltsarzt der Prov.-Heil- und Pflege-Anstalt. 

Zur Aufnahme in den Verein melden sich: Dr. Kellner -Süchteln. 
Anstaltsarzt der Prov.-Heilanstalt Johannistal, Dr. ifee/rte/wa/d-Süchteln. 
Assistenzarzt der Prov.-Heilanstalt. 

Es folgen die Vorträge und Demonstrationen: 

JVitte-Grafenberg: Demonstration von Mikrophotographien und 
Photographien anatomischer Präparate. 

1. Gefäßveränderungen bei Gehirntumoren a) 
bei einer sarkomatösen Mischgeschwulst des linken Schläfenlappens und 
b) bei einem Sarkom des linken Ammonshorns. Man sieht Gefäßbündel, 


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Gefäßknäuel, drusenähnliche Gruppen von Gefäßen, Vermehrung der 
Gefäße bis zur Angiombildung und Gefäßvermehrung mit besonders leb¬ 
hafter Beteiligung der adventitiellen Elemente. In manchen Arterien 
findet sich eine lebhafte Wucherung der Intima, auch mit gleichzeitig 
stattfindender Zerklüftung und Durchsetzung dieses Gefäßteils mit kleinen 
Lumina. Die Elastica interna der Arterien ist zart und besonders in den 
kleinsten Arterien zerbröckelt; eine Aufsplitterung derselben und dergl. 
ist nicht nachweisbar. Die Venen sind vielfach sehr breit und bilden in 
ihrem Lumen Lücken und Buchten. In der Nachbarschaft des Tumors 
erblickt man Arterien, deren dem Tumor benachbarte Wand durch starke 
Entwicklung der Media verdickt ist, während die entgegengesetzte Wand 
dünn und in Falten gelegt ist, so daß das Lumen ganz unregelmäßig 
erscheint. 

2. Ein Fall von Lues cerebri mit Diabetes i n - 
s i p i d u s. Eis bestehen gummöse und endarteriitische Veränderungen 
der Pia und der Rinde des Großhirns sowie der Basis cerebri mit besonders 
starker Beteiligung der Oblongata; ihre ganze Oberfläche, auch am 4. Ven¬ 
trikel, ist durchsetzt von kleinen gummösen Herden, die auch in der 
Tiefe neben reichlicher Infiltration der Gefäße mit Lymphozyten und 
vereinzelten Plasmazellen nachweisbar sind. Diese Veränderungen der 
Oblongata sind wohl als Ursache des Diabetes insipidus anzusehen. 

3. Angeborene, schon makroskopisch sichtbare Verände¬ 
rungen des Zentralnervensystems bei Paralytikern; 

a) ein Angioma cavernosum des unteren Zervikalmarks, 

b) eine Hypoplasie des Balkens: Länge 2,5 cm; Fehlen 
des Septum pellucidum; 

c) eine hochgradige Hydromyelie im Hals- und Brustmark; 
die Höhle erstreckt sich an manchen Stellen bis in die Hinterhörner; 

d) multiple P s e u d o n e u r o m e der Cauda equina 
und zentrale Gliose und stellenweise in allen Höhen des Rückenmarks 
Verdoppelung und Verdreifachung des Zentralkanals; 

e) Aberration eines Pyramidenbündels einer Seite 
der Oblongata, welches schon makroskopisch außen einen Wulst bildet. 

Diese Fälle sind einem Material von mehr als 300 Paralysen ent¬ 
nommen und zeigen, daß gröbere angeborene Störungen des Nerven¬ 
systems bei Paralysen nicht häufig sind. 

Werner- Bedburg; Demonstration zweier Patente: a) einer ver¬ 
stellbaren Tragbahre mit einer Auflagefläche aus Tuch, einem 
Netz oder dergleichen sowie einem aus Längs - und Querrohren oder -Stäben 
gebildeten Grundrahmen — Nr. 231 288, ausgegeben den 20. Februar 1911. 
(Zeichnung.) b) einer Vorrichtung zum Prüfen des Temperatursinnes — 
N>. 233 249, ausgegeben den 3. April 1911. (Modell.) 

a) Die verstellbare Tragbahre bezweckt, schwerkranken Personen, 
bei denen stets der Tonus der Rückenmuskulatur nachläßt, eine ange- 


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270 


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Psychiatrischer Verein der Rheinprovinz. 


271 


die Spannung des Tuches kann durch die drehbare Rolle in q dem je¬ 
weiligen Bedürfnis angepaßt werden. Der Rücken des Patienten ist somit 
allseitig und gleichmäßig unterstützt. Gegen das Abrutschen schützt das 
beliebig schräggestellte Polster s, welches als Kniestütze dient und da¬ 
mit zugleich die sonst üblichen Kniekissen ersetzt. Denn da die Kniegelenke 
stets im Bett leicht flektiert sind, weil die Flexoren sich immer stärker kon¬ 



trahieren als die Extensoren, besteht ein physiologisches Bedürfnis, die 
hohlliegenden Kniekehlen zu unterstützen. 

Der Patient kann also vermittelst dieser Tragbahre dauernd und 
bequem auf einer schiefen Ebene hochgelagert werden. Durch die ver¬ 
schieblichen Muffen kann die Länge des Lagers jeder Körpergröße ange¬ 
paßt werden. 

In der Zeichnung besteht der Rahmen zur besseren Übersichtlichkeit 
aus viereckigen Stäben, während er in Wirklichkeit aus gezogenen Stahl¬ 
rohren gedacht ist. Es ist ferner noch ein Leichtes, die Kniestützen zu 


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teilen, so daß abwechselnd das eine Knie stärker gestreckt oder gekrümmt 
werden kann, auch wäre es möglich, die Füße c zu längeren, umklappbaren 
Stützen auszubilden, was vielleicht für militärische Zwecke von Wichtig¬ 
keit wäre, ebenso der Umstand, daß das ganze Gestell wegen der ver¬ 
schieblichen Muffen ganz flach zusammengelegt werden kann. Doch das 
sind Vorzüge, welche andere Konstruktionen auch aufweisen, und e~ wurde 
daher von deren bildlicher Wiedergabe hier Abstand genommen. 

b) D i e Temperaturempfindlichkeit der Haut 
wird meist mit zwei Reagenzröhrchen geprüft, von denen das eine mit 
heißem, das andere mit kaltem Wasser angefüllt ist. Doch kühlt sieh 
das heiße Röhrchen schnell ab, da die wärmespendende Wassermenge im 
Verhältnis zur wärmeabgebenden Fläche des Glasröhrchens zu klein ist. 
Um daher eine konstante Wärmequelle zu besitzen, ging Verf. von der 
bekannten elektrischen Taschenlampe aus, indem er an das Trockenele¬ 
ment, dem eine zylindrische Form gegeben wurde, eine kleine Erbsen- 
birne M anschloß, deren Inneres nicht wie gewöhnlich luftleer ist, sondern 
mit Stickstoffgas angefüllt wird, so daß die Birne schnell heiß wird. Die 
Birne ist auf einem kleinen Stift I am Kopfe der Elementkapsel A ange¬ 
bracht und wird ebenso wie der Kältestift H, der aus einem soliden Metall¬ 
stift besteht, bei Nichtgebrauch durch eine darüberzuschiebende Kappe N 
geschützt. Die Einschaltung erfolgt durch einen kleinen Kontaktknopf F, 
der seitlich angebracht ist (s. Abb. B, S. 271). Da es sich jedoch bei Ver¬ 
suchen, die mit einem derartigen Modell ausgeführt wurden, ergab, daß 
zwar die erreichte Temperaturhöhe völlig genügte, die abgebende Wärme¬ 
fläche der Birne aber zu klein war, wird die Birne durch ein dünnes, zick¬ 
zackgelegtes Band von sogenannter Kruppinlegierung, das zwischen 
Glimmer eingebettet ist, ersetzt werden. Der Durchmesser der wärme¬ 
abgebenden Fläche wird dann etwa 1,5 cm betragen. Die Herstellung 
und den Vertrieb dieses Apparates hat die Firma B. B. Cassel in Frank¬ 
furt a. M. kontraktlich übernommen. 

Raeiher -Andernach: Klinische Mitteilungen aus der Ander- 
nacher Provinzial-Heilanstalt. 

1. Fall: Encephalomalacia nach Schußverletzung. 
Ein alter Paranoiker beging Suizid, indem er sich mit einer 6 mm-kalibrigen 
Teschinpistole in die r. Schläfe schoß. Nach der Tat ging er noch 6 Tage 
seiner gewöhnlichen Beschäftigung nach, behauptete seiner Umgebung 
gegenüber, durch einen Fall sich an der Schläfe verletzt zu haben, und 
konnte der polizeilich verfügten Internierung in die Andernacher Anstalt 
(am 7. Tage) sogar noch großen Widerstand entgegensetzen. Bei der 
Aufnahmeuntersuchung und den verschiedensten Unterredungen an den 
darauf folgenden Tagen gab er äußerlich geordnete Auskunft*. Erst am 
11. Tage nach dem Selbstmordversuch trat hohes Fieber, Trübung des 
Sensoriums und rapider Verfall der Kräfte ein, der sich folgenden Tags 
noch steigerte und in der Nacht in tiefer Benommenheit zum Exitus führte. 


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Die Autopsie ergab, daß das Vorderhirn quer durchschossen war. 
Der Einschuß fand sich im Gebiete der r. unteren Stirnwindung als ein 
grobovales, etwa walnußgroßes Loch mit unregelmäßigen, stark zerfetzten 
Rändern. Die Austrittstelle der Kugel, von Piasugillaten umgeben, lag 
im Gebiete der mittleren Stirnwindung der 1. Hemisphäre. Der Schu߬ 
kanal wurde in seiner ganzen Länge durch einen etwa 4 cm vom Stirnpol 
okzipitalwärts angelegten Frontalschnitt getroffen (Photographien). Das 
Interessante an diesem Fall ist, daß der Patient noch 12 Tage mit dieser 
schweren Schußverletzung gelebt hat und nur die beiden letzten Tage 
zerebral-entzündliche Erscheinungen gezeigt hat. 

2. Fall: Multiple Gehirnabszesse mit konseku¬ 
tiver Rindenepilepsie. 

Der 32 jährige Patient, Potator, bekam nach einerschweren Pleuritis 
exsudativa in der 7. Krankheitswoche plötzlich drei epileptiforme Anfälle, 
die neben einer vorübergehenden Lähmung des 1. Armes eine Geistes¬ 
störung hinterließen: er verließ sein Bett, legte sich in andere Betten, 
warf das Essen an die Wand, zerriß sein Bettzeug, spuckte alles an, hatte 
Gesichts- und Gehörstäuschungen und kam deshalb in die Andernacher 
Anstalt. Hier war Pat. anfänglich benommen und verwirrt, völlig des¬ 
orientiert, die Parese des 1. Armes, des 1. Facialis waren deutlich, die 
Sprache verwaschen, der Patellarreflex, besonders rechts, gesteigert. Die 
Lähmungserscheinungen bildeten sich bald ganz zurück, um immer wieder 
nach einem epileptiformen Anfall, der hauptsächlich aus einem tonischen 
Krampf ohne lösende Zuckungen bestand, von neuem aufzutreten. Bis¬ 
weilen traten vor einem oder mehreren Anfällen typische Dämmerzustände 
«uf, in denen er herumirrte, auf den Boden urinierte, völlig verwirrt sprach. 
Nach den Anfällen war er vielfach freier, zeigte sich orientiert, klagte über 
die Anfälle, die im 1. Arm jedesmal anfingen. Fieber trat nie auf. Die 
Pleuritis war mit Hinterlassung starker Schwarten abgeheilt, ebenso eine 
putride Bronchitis, die Pat. ebenfalls viel zu schaffen machte. In diesem 
Zustande verblieb Pat. 6 Wochen; während dieser Zeit traten 17 Anfälle 
auf. Das Körpergewicht hatte um 4 kg zugenommen. Da veränderte 
rieh plötzlich das Krankheitsbild: Pat. wurde unter anfänglichem Er¬ 
brechen völlig somnolent, die Nahrungsaufnahme stockte, die Lähmung 
der 1. Extremitäten nahm zu, die Atmung ging schwer schnarchend in 
tiefem Sopor. Dieser Zustand, nur für Momente durch Jammern durch¬ 
brochen, währte 9 Tage. Am Nachmittag des letzten Tages stieg die 
Körperwärme rapid auf 40,4°. Kurz darauf erfolgte der Exitus. Bei 
der Sektion fand sich zunächst im r. Vorderhirn bis zur Zentralfurche rei¬ 
chend ein faustgroßer, mit grüngelbem Eiter prall gefüllter Abszeß. Dieser 
lag völlig in der weißen Marksubstanz und war mit einer dünnen Membran 
ausgekleidet. Die konvexe obere Wand des Abszesses war die geschwun¬ 
dene, an einer Stelle bereits dem Durchbruch nahe Hirnrinde. In der 
Umgebung dieses Abszesses, aber ebenfalls vor der r. Zentralfurche lagen 


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noch zwei kleine Abszesse. Offenbar waren auf hämatogenem Wege von 
der Pleuritis oder putriden Bronchitis aus Metastasen im Gehirn ent¬ 
standen, die von vornherein infiziert, allmählich eitrig einschmolzen. Die 
Abkapselung verhinderte eine Resorption pyogener Substanzen, daher 
die fast anhaltende normale Temperatur. Die epileptiformen Anfälle sind 
wohl als Rindenepilepsie aufzufassen, verursacht durch die zunehmende 
Vergrößerung des Hauptabszesses und dadurch bedingte Druckatrophie 
der Hirnrinde in der Nähe der Zentralfurche. Dafür spricht die konstante 
Beteiligung des 1. Armes, des Rumpfes, der Zunge, der Gesichtsmuskulatur. 
Die Verwirrtheitszustände sind wohl als epileptische Dämmerzustände 
aufzufassen. 

3. Fall: Endotheliom der Dura unter dem Bilde einer 
Taboparalyse verlaufend. 

Hereditär bei der Mutter „Rückenmarksdarre“. Lues. — Die Frau 
des Pat. hatte in 9 Jahren 1 Totgeburt und 3 normale Geburten; 1 Kind 
idiotisch. — Mit 30 Jahren erkrankte Pat. mit Charakterveränderungen 
und nervösem, aufgeregtem Wesen. Wurde 2 Jahre später 4 Monate in 
der Gießener Klinik wegen progressiver Paralyse behandelt. Nach einer 
kurzen Remission erfolgte Aufnahme in die Andernacher Anstalt. Er 
zeigte damals bereits eine Reihe organischer Symptome: Facialisdifferenz 
(r. < 1.); Dermographie; Tremor linguae et palpebrarum; träge Pupillar- 
reaktion rechts, links Pupillenstarre; Akkomodationslähmung; links be¬ 
stand Amaurose, rechts */ s Sehschärfe; Patellarreflexe different: rechts 
erloschen, links schwach vorhanden; die übrigen Sehnen- und Hautreflexe 
leicht erhöht; Romberg angedeutet; Gang schleichend, unsicher; Wasser¬ 
mann negativ. Intelligenz ohne gröbere Defekte. 

Pat. zeigte Krankheitseinsicht, klagte über zeitweise, vom Genick 
ausgehende Kopfschmerzen, Gedächtnisschwäche, innere Unruhe, Arbeits¬ 
unlust. Die subjektiven Beschwerden ließen bald nach, der Kranke be¬ 
schäftigte sich bei der Hausindustrie, machte 1 Tag lang eine typische 
gastrische Krise (mit mehrstündigem Erbrechen und Temperatursteige¬ 
rung) durch und wurde nach etwa ömonatigem Anstaltsaufenthalt auf 
Drängen seiner Ehefrau entlassen. Die organischen Symptome waren im 
allgemeinen noch die gleichen wie bei der Aufnahme, doch waren die 
Patellarreflexe jetzt gesteigert, die Facialisparese stärker geworden, die 
Zunge wich beim Vorstrecken nach rechts ab, rechts bestand Fußklonus. — 
Bereits 14 Tage später mußte der Kranke zurückgebracht werden, völlig 
stumpf und apathisch. Er wurde zusehends insolenter, erblindete 2 Monate 
später auch auf dem rechten Auge, wurde insozial, unrein, überwachung¬ 
bedürftig, verblödete völlig. In diesem Zustande, stark 4 Jahre nach dem 
Beginn der Erkrankung, trat der Exitus letalis ein. — Die Diagnose 
„Taboparalyse“ wurde durch die Autopsie haltlos: es fand sich ein faust¬ 
großer, derber Tumor, um die vordere Sattellehne als Kern herumgelagert. 
Die mikroskopische Untersuchung des Tumors ergab ein Endotheliom 


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der Dura. Im übrigen war die Hirnrinde in toto verschmälert, die weiße 
Marksubstanz des Vorderhirns, die N. optici durch Druck geschwunden. 
Die Ventrikel waren etwas erweitert, das Ependym jedoch überall glatt. 
Der linke Hinterstrang im Brustmark war leicht grau gefärbt. 

Wassermeyer-Ponnx Über Selbstmord. 

An 169 Personen, 90 Männer und 79 Frauen, der Kieler psychiatri¬ 
schen und Nervenklinik, die bald nach mißlungenem Selbstmordversuche 
zur Aufnahme kamen,. wurden Untersuchungen hinsichtlich der geistigen 
Verfassung zur Zeit der Tat angestellt. 27 Männer und 57 Frauen litten 
an ausgesprochenen Psychosen. Aber auch bei den als nicht eigentlich 
geisteskrank zu bezeichnenden Personen ließ sich fast ausnahmlos nach- 
weisen, daß der Versuch in einer nicht als normal zu bezeichnenden geistigen 
Verfassung verübt worden war. Es handelte sich meist um Affekthandlun¬ 
gen bei psychopathischen Individuen. Daraus läßt sich jedoch nicht ohne 
weiteres schließen, daß jeder Selbstmörder geistig anormal wäre; die geistig 
Gesunden gehen aber wohl planmäßiger zu Werke und kommen dadurch 
sicherer zum Ziele. Zu den Fällen von mißglücktem Selbstmord stellen 
die jüngeren Lebensalter die Mehrzahl. 

(Der Vortrag erscheint in extenso an anderer Stelle.) 

Diskussion. — Fo/I-Düsseldorf: Der Auffassung Gaupps und des 
Vortragenden, daß der Affekt beim Zustandekommen des Selbstmordes 
und vielleicht mehr noch des Selbstmordversuches eine große Rolle 
spielt, möchte ich durchaus beipflichten. — Man nahm früher an, daß 
die Zahl der Selbstmorde in Rußland sehr gering sei. Diese Annahme 
trifft heute nicht mehr zu. Seitdem die Revolution 1905/06 die breite, in 
Unbildung erstarrte Masse des russischen Volkes wachgerüttelt, hat die 
Zahl der Selbstmorde stark zugenommen. Russische Autoren reden von 
einer Selbstmordepidemie, die sich namentlich auch in den 
Kreisen der Jugendlichen in der Schule ausbreitet. Popo ff hat die 
Schülerselbstmorde aus dem Warschauer Lehrbezirk aus den Jahren 1908 
bis 1910 zusammengestellt und kritisch besprochen. Fast ausnahmlos 
handelt es sich um psychopathische Kinder, bei denen oft ungünstige 
äußere Verhältnisse (Schulkonflikte, häusliche Schwierigkeiten, sogar 
N’ahrungsorgen u. ä.) die Veranlassung gaben. Auch hier wird die 
Tat meist unter dem Einfluß des Affekts begangen. Die starke Zunahme 
der Selbstmorde ist also auch in Rußland als eine Folge der durch die 
(gewaltigen politischen Umwälzungen der letzten Zeit herbeigeführten 
Anomie ( Dürkheim ) zu betrachten, jenes Zustandes von Halt- und 
Steuerlosigkeit, der zuzeiten ganze Völker ergreift und in den Strudel 
einer unheilvollen Entwicklung hinabreißt. 

Peretti -Grafenberg weist darauf hin, daß die Zahl der Selbstmorde 
unter den Volksschülern in den letzten Jahren abzunehmen scheint. Auch 
bei den Besuchern der höheren Schulen sind Selbstmorde nicht so häufig. 


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Leider hat man keine Anhaltpunkte für die Verhältnisse zwischen Selbst¬ 
mord und Selbstmordversuch. 

Wassermeyer - Bonn macht darauf aufmerksam, daß unter seinem 
Material sich Schulkinder nicht befinden. Die Selbstmordversuche, die 
er beobachtet, waren jedenfalls recht ernsthafter Natur, so daß es ein 
Wunder ist, daß nicht mehr zum Ziele kamen. 

Tippei - Kaiserswerth hat beobachtet, daß bei Fürsorgezöglingen 
Selbstmorde und Selbstmordversuche sehr selten sind; in mehreren Jahren 
ist bei 170 Kindern kein Versuch vorgekommen. Das mag zum Teil 
wenigstens begründet sein in einer gewissen geistigen Stumpfheit, welche 
den Degenerierten eigen ist. 

Hübner- Bonn: Kriminalpsychologisches über das 
weibliche Geschlecht. 

Vortragender hat an einem etwa 1500 Frauen umfassenden Material, 
das er mehreren großen Polizeiverwaltungen und Gerichten verdankt, 
eine Reihe von Einzelfragen studiert. 

1. Er stellt zunächst fest, daß an dem Anwachsen der Kri¬ 
minalität, das von allen Statistikern unzweifelhaft erwiesen ist, die 
Frauen keinen Teil haben. 

2. An der Hand von 300 Strafverzeichnissen hat Vortragender dann 
den Beginn der Kriminalität von je 150 Gelegenheits- und 
Gewohnheitsverbrecherinnen festzustellen gesucht. Um statistisch einen 
Anhaltpunkt für die Unterscheidung dieser beiden Gruppen zu erhalten, 
hat er in Anlehnung an den Vorentwurf zum St.*G.-B. als Gewohnheits¬ 
verbrecherinnen solche Frauen bezeichnet, die mindestens 5 Strafen sich 
zugezogen hatten. 

Der Beginn der Kriminalität beider Gruppen ist aus der nachstehen- 


den Tabelle ersichtlich: 

Gelegenheitsverbr. 
12—14 3 

Gewohnheitsverbr. 

18 

16—18 

36 

49 

19—22 

35 

37 

23—26 

16 

21 

27—30 

13 

11 

31-34 

11 

9 

35—40 

16 

2 

41—45 

10 

2 

46—60 

9 

. - 

61—66 

— 

1 

66—60 

2 

— 


3. Eine weitere Detailfrage, die Vortragender an der Hand von 
220 Akten, die zur Hälfte Diebstähle, zur andern Hälfte Unterschlagungen 
und Betrugsfälle betrafen, zu studieren suchte, war die, wie weit wirt- 


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schaftliche Not einerseits, Begehrlichkeit andrer¬ 
seits bei der Entstehung des Deliktes mitgewirkt 
hatten. Es ergab sieh, daß wirtschaftliche Not nur in etwa 25 bis 30 % 
der Fälle als Motiv in Frage kam. In allen übrigen stand im Vorder¬ 
gründe die Begehrlichkeit oder andere Momente, unter denen das Ge¬ 
schlechtsleben (Menstruation, Schwangerschaft, abnorme sexuelle Neigun¬ 
gen) eine bedeutende Rolle spielte. 

Eine weitere Bestätigung fand diese Annahme noch durch Be¬ 
trachtung der Art der gestohlenen Gegenstände: In nicht mehr als etwa 
15 % der Fälle war bares Geld gestohlen worden. Sonst handelte es sich 
meist um Kleider, Schmuckgegenstände und ähnliches. In einer geringen 
Anzahl von Fällen (etwa 10 %) waren die gestohlenen oder unterschlagenen 
Sachen zur Bestreitung des Lebensunterhaltes oder als Ersatz für defekte 
eigene Kleidung verwandt worden. 

Besonders bei den Jugendlichen spielte das Motiv der Begehrlichkeit 
eine große Rolle. 

4. Das Hauptdelikt der weiblichen Jugend ist der Diebstahl 
und Betrug. Unter 416 genauer studierten Fällen ließen sich die ersten 
kriminellen Handlungen in etwa 5 % der Fälle bereits vor dem 12. Lebens¬ 
jahre nachweisen. Die soziale Prognose der jugendlichen Diebinnen ist eine 
äußerst ungünstige. Nach dem Material des Vortragenden werden etwa 
75 % derselben rückfällig, und zwar großenteils im ersten, der ersten Ver¬ 
urteilung folgenden Jahre. 

Bei Betrachtung der übrigen Familienmitglieder zeigte sich mehr¬ 
fach. daß die weiblichen Angehörigen größtenteils Neigung zu Eigentums¬ 
delikten. die männlichen zu Roheitsdelikten, Arbeitscheu und Vaga- 
bondage erkennen ließen. Dies wurde durch Einziehung der Straf Ver¬ 
zeichnisse, Durcharbeitung von Armen- und Polizeiakten sowie durch 
Einholung von Auskünften aus Schulen und Pfarrämtern festgestellt. 

5. Besonderes Interesse wurde auch den Rückfälligen zugewandt. 


Es ergab sich bei je 150 Gelegenheits- 

und Gewohnheitsverbrecherinnen 

folgende Rückfallstatistik: 





Rückfällig wurden im 

1 . 

2. 

3.—5. Jahr 

Zusammen 

150 Gewohnheitsverbr.: 

119 

10 

16 

145 

150 Gelegenheitsverbr.: 

43 

14 

22 

79 


Die Zahlen der Strafen bei den 300 Frauen verteilten sich folgender¬ 
maßen : 


1 Strafe: 56 6—10 Strafen: 33 41— 60 Strafen: 8 

2-4 Strafen: 94 11—20 „ : 74 61—100 „ : 4 

5 „ : 6 21-40 „ : 22 101—160 „ : 3 

Unter den hohen Zahlen befinden sich viel wegen Sittenkontra¬ 
vention (§ 361 8 Str.-G.-B.) Bestrafte. 

6. Von Spezialdelikten hat Vortragender den Mord und Kindesmord 
genauer studiert. 


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Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 


Was den ersteren anlangt, so konnte er vier Gruppen unterscheiden, 
nämlich den Mord 1. aus politischen Motiven, 2. aus erotischen 
Motiven, 3. aus Gewinnsucht und 4. aus Rache. 

Die erste Kategorie kommt in Deutschland kaum vor. Bei den 
Liebesmorden sind psychologisch verschiedene Unterschiede zu machen. 
Einmal kann es sich um einen Racheakt an dem ungetreuen Geliebten 
handeln, oder das Umgekehrte — der treulose Teil will den andern be¬ 
seitigen, um freie Bahn zu erhalten — liegt vor. Den Rest stellen Fälle dar, 
in denen die Ehegattin sich selbst und die Kinder tötet, um den eigentlich 
schuldigen Teil allein zurückzulassen. 

Bei den Täterinnen wurden vielfach hysterisch-hypochondrische 
Depressionszustände, einige Male auch richtige Melancholien festgestellt. 

Unter den Angehörigen der. Gruppe 3 wurden in allen 5 Fällen starke 
Degeneration oder hysterische Charakterzüge festgestellt. Sie gingen auch 
meist mit raffinierter Grausamkeit vor und waren nach der Tat bestrebt, 
die Spuren sorgfältig zu verwischen. Eine lebhafte Phantasie ermöglichte 
es zwei Frauen, ein sehr geschicktes Lügengewebe zur Verdeckung der 
Spur zu erfinden. 

7. Besonderer Betrachtung bedürfen die als Mord aufge¬ 
faßten Delikte Jugendlicher. Meist handelt es sich nur 
um Versuche; in seltenen Fällen endet das Verbrechen mit dem Tode 
des Opfers. Psychologisch gleichwertig mit diesen Delikten ist eine Reihe 
von Brandstiftungen Jugendlicher, die deshalb mit besprochen werden. 

Das Motiv ist Rache, Begehrlichkeit oder der Versuch, ein anderes 
Delikt zu verbergen. 

Bei den Täterinnen selbst, die häufig gerade in das Erwerbsleben 
eingetreten sind, finden sich viel erblich oder sozial Belastete. Vielfach 
ist über häufige Krankheiten in der ersten Jugend zu berichten. Die 
Schulleistungen erreichten nur in einem Teil der Fälle den Durchschnitt; 
die Mädchen wurden oft als faul, dumm, zerstreut, neugierig und verlogen 
bezeichnet. Es bestand frühzeitige Neigung zu kleinen Diebereien, 
Schwindeleien und Grausamkeiten. Die Affektsphäre war nur dann leicht 
ansprechbar, wenn es sich um eigene Interessen handelte, sonst bestand 
Gemütsstumpfheit, Daneben wurde einige Male über Neigung zu phan¬ 
tastischem Lügen und Wichtigtun berichtet. 

Diese Fälle kamen auch fast stets zur Begutachtung. Die ge¬ 
stellten Diagnosen lauteten in 8 von 11 Beobachtungen (von denen keine 
aus einer Irrenanstalt stammt!) entweder Imbezillität oder Hysterie. 
Über die übrigen drei Täterinnen ist das Aktenmaterial zurzeit noch un¬ 
vollständig. 

Bei der Tat wurde besonders oft Gift bevorzugt. Nur selten hatten 
die Täterinnen eine einigermaßen zutreffende Vorstellung von der Wirkung 
desselben. 


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Psychiatrischer Verein der Rheinprovinz. 


279 


8. Beim h'indesmord (§ 217 St.-G.-B.) will Vortragender 
zwar dem sogenannten „Ehrennotstand“ (vgl. H. Gross, Amsohl, Graf 
Gleisbach, Plempel u. a.) nicht jede Bedeutung absprechen, das wichtigste 
Moment sieht er jedoch in dem Zustande der Gebärenden zur Zeit der Tat. 
Meist handelt es sich um unerfahrene, ohne fremde Hilfe gebärende, noch 
junge Mädchen, dazu kommt die Wirkung des Geburtschmerzes an sich. 

Vortragender hat die Zustände, welche während der Geburt Vor¬ 
kommen, genauer studiert (etwa 100 Fälle) und unterscheidet folgende: 

a) physiologische: 1. Schwächezustände bis zu Ohnmacht, 
2. Erregungszustände. 

Daß die letzteren geeignet sind, zu Gewaltakten zu führen, beweist 
die klinische Erfahrung. Der Geburtsakt ist für manche Kreissende so 
unerträglich, daß sie sich selbst den Tod wünscht. Es sind auch — sogar 
in der Klinik — Selbstmordversuche beobachtet worden. Vortragender 
hat ferner einen Fall gesehen, bei dem in der ersten Erregung vor dem 
Austritt der Placenta eine Primipara ihr eben geborenes Kind in der 
Klinik an die Wand werfen wollte. 

b) pathologische Zustände: 1. * Gedächtnisstörungen, 
2. schnell abklingende manische Zustandbilder, 3. Delirien (eklamptische, 
hysterische, epileptische), 4. Dämmerzustände (insbesondere epileptische), 
5. beginnende andere Psychosen (Dementia praecox!), 6. Schwachsinn 
mit Neigung zu Affekthandlungen. 

Zum Schluß weist Vortragender noch darauf hin, daß Kindestötungen 
Vorkommen, die zwar nicht meh»* „in oder gleich nach der Geburt“ er¬ 
folgen, trotzdem aber psychiatrisch den im § 217 St.-G.-B. vorgesehenen 
Fällen gleichzusetzen sind. Auch auf die Schwankungen des psychischen 
Gleichgewichts während der Laktation (Depressionen bei Erschöpfung) 
wird kurz eingegangen. Umpfenbach. 


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Kleinere Mitteilungen. 


Die nächste Jahresversammlung des Deutschen Vereins 
für Psychiatrie findet in Kiel am 30. und 31. Mai statt. I. Re¬ 
ferate. 1. Die Bedeutung der Symptomenkomplexe in der Psychiatrie, 
besonders im Hinblick auf das manisch-depressive Irresein. Ref.: Hoche- 
Freiburg und Alzheimer-München. 2. Die Behandlung der Paralyse. 
Ref.: E. Meyer- Königsberg und Spielmeyer- Freiburg. — II. Vorträge. 
1. Eichelberg -Göttingen: Die Bedeutung der Untersuchung der Spinal- 
flüssigkeit. 2. L. W. We&er-Chemnitz: Die Praxis bei der Durchführung 
der Pflegschaft nach dem BGB. 3. G. »Sterte-Bonn: Organische Krank¬ 
heitsymptome am Nervensystem bei Katatonie. 4. ÄiteersAaus-Hamburg: 
Zur Psychologie der weiblichen Ausnahmezustände (Menstruation, Schwan¬ 
gerschaft, Wochenbett). 5. P/öm'nger-Hamburg: Tierversuche über den 
erblichen Einfluß des Alkohols (mit Demonstrationen). 6. Äa/Aa-Hamburg: 
Über Entstehung, Zirkulation und Funktion des Liquor cerebrospinalis 
7. FTej/ga/ieh-Hamburg: Erweiterungen und Reorganisationen in der Ham¬ 
burger Irrenpflege, ein Beitrag zu der Frage: Umbau oder Neubau (mit 
Demonstrationen). 8. Ew. Stier- Berlin: Die funktionelle Differenz der 
Hirnhälften und ihre Beziehungen zur geistigen Weiterentwicklung der 
Menschheit. 9. P. Schroeder- Breslau: Uber Remissionen bei progressiver 
Paralyse. 10. O. Fischer -Prag: Beitrag zur Presbyophreniefrage. 11. Bergl- 
Prag: Das Verhalten der Zerebrospinalflüssigkeit bei Luikern. 12. v.Nießl- 
Mayendorf-Leipzig: Über den Anteil der beiden Hemisphären an den 
motorischen Funktionen (Projektionen). 13. Friedländer- Hohe Mark: Die 
Einwirkung fieberhafter Prozesse auf die metaluischen Erkrankungen des 
Zentralnervensystems. 14. Runge-Kiel: Pupillenuntersuchungen bei 
Geisteskranken und Gesunden. 15. »Stemens-Lauenburg: Die Errichtung 
( ines biologischen Forschungsinstitutes über die Grundursachen der 
Geisteskrankheiten. 16. F. Stern -Kiel: Über die akuten Situation»- 
psychosen der Kriminellen. 17. Bisc&o^-Hamburg-Langenhorn: Unter¬ 
suchungen über das mittelbare und unmittelbare Zahlengedächtnis. 
13. Stargardt- KM: Die Ätiologie des Sehnervenschwundes bei progressiver 
Paralyse u. Tabes (Demonstrationsvortrag). 19. Äo/ug-Kiel: Zur Klinik 
der menstruellen Psychosen. 20. Alters -München: Beiträge zur Patho- 


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Kleinere Mitteilungen. 


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Chemie des Gehirns. 21. Goldstein- Königsberg: (Thema noch unbestimmt). 
22. Kleist -Erlangen: Über chronische paranoische Erkrankungen des 
Rückbildungsalters mit besondrer Rücksicht auf ihre Beziehungen zum 
manisch-depressiven Irresein. — Anmeldungen von Vorträgen werden 
erbeten an Sanitätsrat Hans Laehr, Schweizerhof zu Zehlendorf-Wannsee- 
bahn. Anfang Mai wird eine Einladung mit genauerem Programm ver¬ 
sandt werden. 


Die 37. Wanderversammlung der südwestdeutschen 
Neurologen und Irrenärzte wird am 8. und 9. Juni zu Baden- 
Baden im Konversationshause abgehalten werden. Anmeldung von Vor¬ 
trägen bis zum 27. Mai an ÄreAZ-Heidelberg oder La^uer-Frankfurt a. M, 


Nekrolog D. W. Reye. — Am 15. Februar d. J. verschied in 
Hamburg im 80. Lebensjahre Prof. Dr. Reye, einer der ältesten, wenn 
nicht der älteste der deutschen Psychiater. 

Reye, geboren den 22. Juni 1833, entstammt einer alten, im Ham- 
burgischen Amte Ritzebüttel angesessenen Familie. Er besuchte die 
oberen Klassen der hiesigen Gelehrtenschule des Johanneums, ging 1852 
nach Heidelberg und von dort 1854 nach Göttingen, wo er am 20. Juni 1855 
zum Doktor promovierte. Nachdem er durch Studien in Wien und Prag 
«ein Wissen vertieft hatte, kehrte er nach Hamburg zurück und legte vor 
der hamburgischen Prüfungskommission sein medizinisches Staatsexamen 
ab. Am 20. Juni 1856 wurde Reye Assistent am hiesigen Allgemeinen 
Krankenhause; er wurde zuerst auf der chirurgischen und vom Januar 
1858 ab auf der inneren Abteilung, der damals die Abteilung für Geistes¬ 
kranke angegliedert war, beschäftigt. Nach der im November 1858 
erfolgten Berufung Ludwig Meyers zur Leitung dieser Abteilung wurde er 
dessen Assistent. Als Meyer dann 1864 nach Eröffnung der inzwischen er¬ 
bauten Anstalt Friedrichsberg hierher übersiedelte, übernahm Reye die Be¬ 
handlung der vorerst noch in dem Krankenhause verbleibenden Irren- 
«iethen. Als externer Sekundärarzt hat er damals eine Zeitlang dem 
damaligen Gebrauche entsprechend neben seinem Amte noch freie 
Praxis betrieben. 

In diesem Wirkungskreise verblieb Reye nur kurze Zeit. Bereits 1866 
wurde er, nachdem Meyer die Professur für Psychiatrie in Göttingen über¬ 
nommen hatte, zu dessen Nachfolger ernannt. Als solcher ist er bis zum 
1- April 1908 tätig gewesen. 

Welch eine Fülle von Arbeit Reye im Laufe dieser Jahre geleistet 
hat, erhellen schon einige Zahlen. Als er die Leitung von Friedrichsberg 
übernahm, betrug die Zahl der Kranken 264, im Jahre 1907 dagegen 1412. 
Inter ihm ist eine kaum als mittelgroß zu bezeichnende Anstalt eine der 
größten Anstalten Deutschlands geworden. Reye hat nicht nur in nie 
•“rmüdendem Pflichteifer die von Jahr zu Jahr sich steigernde Arbeitslast 
ZeiUehriit für Pgychiatri«. LI IX. 2. 19 


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Kleinere Mitteilungen. 


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auf sich genommen, sondern auch das von seinem Lehrer Meyer bei der 
Behandlung Geisteskranker Erstrebte und Geschaffene in mustergültiger 
Weise weiter ausgebaut. So verschwanden unter seiner Leitung, indem 
die Wachsaalbehandlung immer weiter ausgedehnt wurde, die Zellen, die 
chemischen Beruhigungsmittel traten gegenüber den diätetischen Ma߬ 
nahmen und den Bädern zurück, und schließlich wurden auch Liegekuren 
im Freien eingeführt. Mit besonderen Schwierigkeiten galt es dabei inso¬ 
fern zu kämpfen, als infolge der schnellen Bevölkerungszunahme Ham¬ 
burgs die Anstalt beinahe dauernd überbelegt war und sich die alten 
Baulichkeiten nur schwer den modernen Ansprüchen anpassen ließen. 
Gewiß war Reye kein Heißsporn, kein Stürmer, er war aber auch nicht 
der Mann, der etwas annahm, nur weil es neu war, oder weil es von autorita¬ 
tiver Seite empfohlen wurde. In seiner ruhigen, sachlichen Art prüfte er 
alles und übernahm nur das, wus ihm gut erschien, führte es dann aber 
auch ganz durch. 

Dieselbe ruhige Art war ihm auch in wissenschaftlichen Fragen eigen. 
Niemals ließ er sich blenden oder durch Augenblickserfolge hinreißen, 
er suchte vielmehr in stiller Gedankenarbeit das Wesentliche zu erkennen, 
die Spreu von dem Weizen zu sondern. Dabei hatte er die glückliche 
Gabe, in wenigen treffenden Worten ganze Auffassungen, ganze Situationen 
zusammenzufassen und in kurzer, prägnanter Weise zu kennzeichnen. 
Daß er in seinem Alter bei seiner langjährigen Erfahrung, nachdem er so 
viele Meinungen hatte kommen und wieder verschwinden sehen, skeptisch 
geworden war, kann wohl kaum wundernehmen, immer aber achtete er 
die Überzeugung anderer. So w’ar er denn auch nicht engherzig und ver¬ 
schloß sich niemals wohlbegründeten Anregungen, von welcher Seite aus 
sie ihm auch entgegengebracht wurden. 

Reye gehörte eben zu jenen stillen Naturen, die sich niemals hervor¬ 
drängen und in ruhiger Bescheidenheit ihre Person in den Hintergrund 
stellen. Es soll damit aber nicht gesagt sein, daß er, wenn es die Sache 
erforderte, nicht auch seinen Mann stand; er wußte dann auch ein recht 
kräftig Wörtlein zu sagen. So verstand er denn auch trotz aller Gut¬ 
mütigkeit, sich durchzusetzen und sich Respekt zu verschaffen. 

Diese Bescheidenheit war es auch, die im Zusammenhang mit der 
umfangreichen praktischen Tätigkeit Reye nach außen so wenig hervor¬ 
treten ließ. So ist er, der mit Ausnahme weniger der notwendigsten Er¬ 
holung gewidmeter Wochen immer im Dienste war, nur einer relativ kleinen 
Zahl von Fachkollegen bekannt geworden. Dazu kam, daß er nur wenig 
Neigung hatte, die jetzt so zahlreichen Kongresse und sonstigen Ver¬ 
sammlungen zu besuchen, es geschah dies aber nicht aus Mangel an wissen¬ 
schaftlichem Interesse. Wie groß dieses war, beweist seine rege Teil¬ 
nahme an den Sitzungen des hiesigen ärztlichen Vereins, die er so regel¬ 
mäßig wie nur wenige besuchte. 

Hand in Hand mit dieser Bescheidenheit, mit dieser Neigung, stets 
hinter der Sache zurückzutreten, ging eine außerordentliche Güte und 


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Liebenswürdigkeit. Sie ist vor allem seinen Kranken und deren Ange¬ 
hörigen zugute gekommen; er hat die Herzen seiner Kranken gewonnen. 
Wie sehr diese an ihm hingen, zeigte sich so recht, wenn er nach seinem 
Ausscheiden aus dem Amte die Anstalt besuchte, dann drängten sich die 
alten Patienten an ihn heran, wollten ihn sprechen oder ihm wenigstens 
die Hand drücken. Dieselbe Güte und liebenswürdige Freundlichkeit 
bewies er uns Ärzten und Beamten; er war kein Freund vieler Worte, 
aus der Art aber, wie er sprach und handelte, fühlte man sein Wohlwollen 
heraus. Durch diese sich stets gleichbleibende Freundlichkeit und Güte 
ward ihm auch die Liebe weiterer Kreise, vor allem natürlich die Liebe 
und Achtung seiner Kollegen zuteil. So wurden ihm denn auch so manche 
Ehrenämter übertragen und so manche Ehrenbezeugungen erwiesen. Be¬ 
sonders kam diese Anerkennung und Verehrung der Kollegen bei der Feier 
seines 50 jährigen Doktorjubiläums zum Ausdruck. Daß auch die Be¬ 
hörden seine Verdienste zu schätzen wußten, braucht wohl kaum erwähnt 
zu werden, sie haben ihm, speziell bei seinem Ausscheiden aus seinem 
Amte, für all seine Arbeit und Mühewaltung gedankt und ihm Auszeich¬ 
nungen zuteil werden lassen. 

Reye hat diese Liebe und Anerkennung stets auf das wärmste emp¬ 
funden, das Bild seines Charakters würde eine Lücke aufweisen, wenn 
nicht auch insbesondere noch seiner Dankbarkeit gedacht würde. 

Alle diese Eigenschaften verwebten sich bei Reye zu einem außer- 
r >rdentlich glücklichen Ganzen; er war eine stille, sonnige Natur. Sein 
Glück fand er neben seinem Beruf in seiner Familie. Ein gütiges Geschick 
hat ihm eine liebevolle, kluge Gattin beschert, die ihm durch 45 Jahre 
hindurch eine treue Gefährtin gewesen ist. Er hat die Freude gehabt, 
eine stattliche Kinderschar in seinem Heim in glücklicher Harmonie heran¬ 
wachsen zu sehen. 

Auch im Tode war ihm das Schicksal hold. Die Schwächen und 
Leiden des Alters hat er kaum kennen gelernt; nwr hin und wieder klagte 
er einmal in der letzten Zeit über Brustbeklemmungen; ohne zu leiden 
wurde er dann schnell dahingerafft. 

Alle, die Reye gekannt haben, werden ihm ein treues Andenken 
bewahren, vor allem alle, die mit ihm und unter ihm gearbeitet haben, 
allen wird er ein hehres Beispiel treuer Pflichterfüllung sein. 

Buchholz - Friedrichsberg. 


Dem Verein zumAustausch der Anstaltberichte 
Pt die Landeserziehungsanstalt für Blinde und Schwachsinnige in Chemnitz 
beigetreten. 

JPersonatnacTvrichten. 

Dr. Theod. Ziehen, Geh. Med.-Rat, tritt zu Ostern von der Berliner Pro¬ 
fessur für Psychiatrie und Neurologie zurück, um sich in Wies- 


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Kleinere Mitteilungen. 


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baden psychologischen Forschungen zu widmen. An seine 
Stelle tritt, nachdem Oamer-Göttingen abgelehnt, 

Dr. Karl Bonhöffer, Geh. Med.-Rat, bisher Professor in Breslau, welcher 
auch die Redaktion der Monatschrift für Psychiatrie u. Neuro¬ 
logie übernimmt* 

Dr. Sigm. Fries, Geh. San. - Rat, legt aus Gesundheitsrücksichten das 
Direktorat der Anstalt Nie Heben nieder. Als sein Nach¬ 
folger ist 

Dr. Berthold Pfeiffer, Prof., Priv.-Doz. in Halle, berufen worden. 

Dr. Walter Görlitz aus Stolberg (Rheinl.) hat die Privatanstalt Berg¬ 
quell-Frauendorf bei Stettin als Besitzer u, ärztlicher Leiter 
übernommen. 

Dr. Wold. F. Winkler , bisher auf dem Sonnenstein, u. 

Dr. Joh. Schlegel, bisher in Großschweidnitz, sind als Oberärzte, 

Dr. Karl Lägel, bisher in Kreuzburg, als Anstaltsarzt nach Arnsdorf, 
Dr. Josef Geller, bisher in Düren, ist als Oberarzt nach Grafenberg 
versetzt worden* 

Dr. Henry Wolfskehl, bisher in Weinsberg, ist Oberarzt in der Privat- 
anstatt Hohe Mark geworden. 

Dr. Karl Wilmanns in Heidelberg ist zum außerordentlichen 
Professor, 

Dr. Heinr. Neuhaus, Landespsychiater in Düsseldorf, u, 

Dr. Ludw. Dercken, Dirig. Arzt in Haus Kannen, zum Geh. Sanitätsrat, 
Dr. Otto Hebold, Dir. in Wuhlgarten, 

Dr. Franz Falk, Oberarzt in Kortau, und 

Dr. Siegfr. Kalischer in Zehlendorf zum Sanitätsrat ernannt worden. 
Dr. Karl Knörr, Dir. in Teupitz, hat den Roten Adlerorden 
4. Klasse, 

Dr. Adolf Friedländer, Hofrat, Dir. der Privatanstalt Hohe Mark, das 
Ehrenkreuz des Mecklenb. Greifenordens, 

Dr. Rud. Meyer, Dir. in Goddelau, das Ritterkreuz 1. Klasse des Ver¬ 
dienstordens Philipps des Großmütigen er¬ 
halten. 

Dr. Heinr. Obersteiner, Hofrat, Prof, in Wien, ist Ehrenmitglied des Vereins 
der Psychiater zu St. Petersburg, 

Dr. Em. Kraepelin, Hofrat, Prof, in München, Mitglied der Gesellschaft 
der Wissenschaften in Christiania geworden. 

Dr. Sal. Behrendt, San.-R., Dir. der Jakobyschen Anstalt in Sayn, ist 
gestorben. Ferner ist 

Dr. Mor. Jastrowitz, Geh. Sanitätsrat, konsult. Arzt der Privatanstalt 
Berolinum, am 26. Januar, 72 Jahre alt, 

Dr. Nik. Länderer , San.-R., Dir« der Prov.-Anstalt Andernach, am 13. 
Februar plötzlich an Apoplexie, 

Dr. D. W. Reye, Prof. u. em. Direktor der Anstalt Friedrichsberg in 
Hamburg, am 15. Februar im 79. Lebensjahre gestorben. 


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Gehörstöuschungen bei Ohrerkrankungen. 0 

Von 

Priv.-Doz. Dr. Otto Klieneberger, jetzt Königsberg, Psych. Klinik. 

Es ist bekannt, daß bei Erkrankungen eines Sinnesapparates ent- 
?prechende Sinnestäuschungen sich zuweilen einstellen. So sind Ge¬ 
sichtstäuschungen bei Erkrankungen des Hinterhauptlappens, Ge¬ 
hörstäuschungen bei Erkrankungen des Schläfenlappens mitgeteilt 
werden. In analoger Weise sind Halluzinationen bei Erkrankungen 
der peripheren Sinnesorgane beschrieben. Die Gesichtstäuschungen 
übertreffen dabei an relativer Häufigkeit solche des Gehörs; die letzteren 
sind zudem dadurch besonders interessant, daß sie, obwohl sie meist 
nur Symptom einer Psychose sind, doch dieser eine besondere Fär¬ 
bung geben können, und ferner dadurch, daß es zuweilen gelingt, 
sie zu beeinflussen und so den Zusammenhang zwischen Halluzi¬ 
nationen und Ohrerkrankung deutlich zu illustrieren. 

Wir haben in den letzten fünf Jahren dreimal Gelegenheit gehabt, 
seiche mit peripheren Ohrerkrankungen in Zusammenhang stehenden 
Gehörstäuschungen zu beobachten. Es dürfte sich daher, schon 
wegen der Seltenheit der Fälle, ihre kasuistische Mitteilung recht- 
fertigen; sie sind aber auch darüber hinaus bemerkenswert wegen 
ihres klinischen Verhaltens und wegen gewisser Beziehungen, die sich 
aus ihnen für das Wesen der Halluzinationen ableiten lassen. 

Es mögen zunächst die Krankengeschichten folgen. 

1. Beobachtung. Anna K., Arbeiterfrau, 50 J. alt, suchte 
am 14. V. 06 unsere Poliklinik auf. 

Befund : Seit fünf Jahren hört Pat. Stimmen, nachdem sie 
iuvop i; Jahr wegen Ohrensausen behandelt worden war. Das Sausen 
wurde allmählich zu deutlichen Stimmen, die von verschiedenen, der Pat. 

*) Aus der Psychiatrischen und Nervenklinik Breslau (Geh.-Rat 
Bo nköffer). 

Wtaehrift für Psychiatrie. LIIX. S. 20 


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286 


Klieneberger, 


unbekannten Personen stammen. Anfangs hatte Pat. Angst, sie zog 
wegen der Stimmen aus zwei Wohnungen aus, weil sie glaubte, „es ginge 
um“. 

Inhalt der Halluzinationen: Schimpfworte gemeiner Art, die sich 
aber nicht auf sie beziehen; ferner Drohungen und Warnungen, die sich 
auf sie beziehen: „geh* nicht in den Keller“ oder „geh’ nicht auf den 
Boden“. 

Anfangs tat Pat., was die Stimmen ihr auftrugen, später kümmerte 
sie sich nicht mehr darum. Früher lokalisierte sie die Stimmen in die 
Stube, jetzt ins Ohr. Etwa ein Jahr lang lebhafter Angstaffekt, seitdem 
frei von Angst. Allmähliches Abklingen. 

Auf anderen Sinnesgebieten keine Halluzinationen, nur Funken¬ 
sehen in der ersten Zeit. 

Keine Beziehungs- oder Verfolgungsideen. Keine Erklärungen. 
Seit einigen Wochen stärkeres Abblassen der Halluzinationen: sie kann 
die Stimmen für gewöhnlich nicht recht verstehen, sondern muß erst 
hinhorchen, wenn sie verstehen will. Auch früher waren die Stimmen 
stets lebhafter, wenn sie allein war. 

Auf die Aufforderung, zu sagen, was sie hört, lauscht sie und gibt 
an: „Es nutzt ja doch nichts.“ „Geh nur ins Josefspital.“ „Warum bist 
Du nur hierher gekommen ?“ 

Benehmen geordnet, nichts Auffälliges, nichts Paranoisches. Gibt 
sinngemäße Antworten, ist zeitlich und örtlich völlig orientiert. Ver¬ 
sieht ununterbrochen trotz der nun fünf Jahre bestehenden Er¬ 
krankung ihre Arbeit als Aufräumefrau im Krankenhaus vollständig und 
zur Zufriedenheit. 

Macht sich jetzt keinerlei Gedanken über die Halluzinationen. Ist 
nach eigenen Angaben „sehr weich“. 

In der Schule gut gelernt. Nach der Schulzeit in Stellung. Intelligenz 
gut. Rechnen relativ sehr gut. 

Vater war „gemütskrank“, kein Trinker, litt an Krämpfen; Mutter 
war „sehr nervenkrank“. Pat. heiratete mit 22 Jahren, ihr Mann war 
Trinker; 3 Kinder leben, gesund, 1 Kind ist gestorben, die beiden letzten 
waren Fehlgeburten. Seit drei Monaten Zessieren der Menses. 

Körperlich kein krankhafter Befund. 

Ohrenuntersuchung in der hiesigen Ohrenklinik: doppel¬ 
seitiger trockener Mittelohrkatarrh und Residuen früherer Mittelohr¬ 
entzündungen. Linkes Trommelfell intakt, Lichtreflex erhalten, Hammer¬ 
griff verkürzt, Membran eingezogen und getrübt. Rechtes Trommelfell: 
kleine, nierenförmige, weiß spiegelnde Narbe im Lichtkegel, fast wie ein 
Sehnenfleck erscheinend. Tube beiderseits durchgängig. 

Verlauf: Auch weiterhin weder in der Stimmung noch in der 
Arbeitfähigkeit beeinträchtigt. Glitt Mitte November 06 bei der Rück¬ 
kehr von der Arbeit auf der Treppe aus und erlitt einen Schädelbruch, 
an dessen Folgen sie am 18. XI. 06 starb. 


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Gehörstäuschungen bei Ohrerknuünmgen. 


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2. Beobachtung. Gottlieb M., Zimmermann, 53 J. alt. 

Befund bei der poliklinischen Untersuchung am 27. VIII: 07: 

Keine erbliche Belastung. Selbst stets gesund. Militärfrei. Verschiedene 
Unfälle, zuletzt im Oktober 06. Seitdem Stechen und Quetschen auf der 
Brust, Zittern am ganzen Körper, Schwindel- und Angstgefühl, unruhiger, 
schlechter Schlaf, Appetitlosigkeit und seit einigen Monaten „Stimmen“. 
Summen und ganz monotone, oft rhythmisch sich wiederholende Hallu¬ 
zinationen: ,,Der wird’s wissen, der wird’s wissen.“ „Du sollst ruhig 
sein“, oder „Der soll ruhig sein“, vielmals hintereinander, im gleichen 
Tonfall. Hört seinen Namen rufen, auch Schimpfworte: „Verrückter 
Kerl“. Keine Bedrohungen. Kein Gedankenlautwerden. 

Hört die Stimmen im Ohr. „Ich weiß nicht, wie ich das werde 
hineingekriegt haben.“ Eis sei nach dem letzten Unfall „auf einmal“ 
gekommen. „Manchmal ist es laut, manchmal leiser.“ „Man hat keine 
Ruhe.“ „Manchmal macht es einem Angst.“ 

Links hört er die Stimmen dauernd, rechts seltener. Links sind es 
grobe Stimmen wie von Männern, rechts feine Frauenstimmen. 

Kein Beziehungswahn. Keine Erklärungsideen. Keinerlei Beein¬ 
flussungen. Legt alle Beschwerden dem Unfall zur Last. Keine rechte 
Einsicht. Indolent, macht defekten Eindruck. 

Dilatatio cordis. Hochgradige Arteriosklerose. 

Ohrbefund (Kgl. Ohrenklinik): Linker Gehörgang deutlich 
gerötet, Trommelfell sehr stark eingezogen, getrübt. Rechtes Trommel¬ 
fell stark getrübt und eingezogen. Pharyngitis chronica. 

Diagnose: Tubenkatarrh. Therapie: Massage, Katheterismus. 

Verlauf: Schnelle Besserung. Am 31. VIII. 07 keine Angst 
mehr, kein Schwindel; Appetit. Stimmen haben allmählich mehr und 
mehr nachgelassen, ist seit gestern vollständig frei, hat auch kein Sausen 
mehr im Kopfe. Auch jetzt ohne rechte Einsicht. „Es war keine Krank¬ 
et, ich hab* ja immerfort gearbeitet.“ Ist dann zu einer Nachunter¬ 
suchung nicht mehr erschienen. Wurde nach polizeilichem Bericht am 
16. III. 08 vormittags gegen 10% Uhr in einem Bretterschuppen erhängt 
aufgefunden. 

3. Beobachtung. Luise G., Arbeiterfrau, 52 J. alt, suchte die 
Poliklinik am 16. II. 09 auf; stand aber auch schon früher, 1892, im Alter 
von 35 J. in Behandlung der hiesigen Poliklinik. Damals (1892) klagte sie 
über ziehende Schmerzen im linken Arm, die im Anschluß an Influenza 
aufgetreten seien, über Stechen im Rücken, Schwindel, Herzklopfen, Be¬ 
klemmung und Angst, Appetitlosigkeit und starkes Durstgefühl. Sie 
befand sich im dritten Monat der Gravidität. Erst nach der Entbindung 
im August trat eine Besserung ein, dann verschlimmerte sich der Zustand 
wieder, die hypochondrischen Beschwerden nahmen zu; sie wurde ver¬ 
drießlich und hatte viel traurige Gedanken. Allmähliche Besserung und 
Heilung. 

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Klieneberger, 


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Befund am 16. II. 0 9. Seit Herbst 08 vorübergehend, hin 
und wieder einmal, in beiden Ohren Rauschen und Pfeifen, „wie es bei 
der Bahn zu Anfang oder Ende der Arbeit pfeift.“ Nach einiger Zeit, 
etwas vor Weihnachten, Singen auf dem linken Ohr, das allmählich stärker 
wurde, häufiger kam und sich schließlich auch auf dem rechten Ohr ein- 
stellte. Es klingt einmal, als ob eine Orgel spiele, dann wieder mehr wie 
eine Harmonika, mitunter wie eine Posaune, auch wie ein Phonograph. 
Hört richtige Melodien „O Tannebaum, o Tannebaum“, Kirchenlieder 
und alle möglichen ihr bekannten Lieder, zum Teil solche aus ihrer Mädchen¬ 
zeit, an die sie gar nicht mehr gedacht habe. Sie höre das Singen haupt¬ 
sächlich und besonders deutlich, wenn sie unbeschäftigt und w T enn sie 
allein sei, besonders beim Einschlafen. Habe nur ganz im Anfang gedacht, 
es könnte außerhalb, etwa im Hofe sein, habe aber bald gemerkt, daß es 
im Kopfe sei. Es klinge, als ob es aus den Ohren herauskomme; lokalisiert 
die Halluzinationen in die Ohren, beziehungweise in den Hinterkopf 
dicht hinter den Ohren. Sie sei niemals dadurch irgendwie beein¬ 
flußt worden, habe sich keine Gedanken darüber gemacht, keine Angst 
empfunden; höchstens gelacht, denn es sei ihr komisch vorgekommen, 
daß ihr vorgesungen wurde; auch die anderen, denen sie es erzählt habe, 
hätten gelacht. Sie habe die ganze Zeit fleißig weiter gearbeitet, die 
Arbeit gehe ebenso flott vonstatten wie sonst. Keine Geräusch- oder 
Lichtempfindlichkeit. Erbliche Belastung besteht nicht. Pat. gibt an. 
sie sei immer sehr lebhaft und lustig, aber leicht erregbar und schreckhaft 
gewesen, ab Kind habe sie sich leicht einmal gefürchtet. Sie sei nie ernst¬ 
lich krank gewesen, sei in der Schule eine der besten Schülerinnen gewesen 
und habe immer auf der ersten Bank gesessen. Mit 20 Jahren habe sv 
geheiratet. Nach dem ersten Kinde habe sie Wochenbettfieber durchge¬ 
macht, damals sei sie unruhig und verwirrt gewesen und habe viel phan¬ 
tasiert. In den letzten Jahren sei sie wegen Unterleibsbeschwerden 
wiederholt gynäkologisch behandelt worden. Seit 2 Jahren Menopause. 

Psychisch: in keiner Weise auffällig, frisch, lebhaft. Normale Affekt- 
läge. Gute Einsicht. 

Somatisch: Würgreflex fehlt. Sonst völlig normaler Befund. 

Diagnose der Ohrenklinik: Tubenkatarrh; Mittelohr¬ 
schwerhörigkeit infolge chronischer Trommelfellveränderungen (beide 
Trommelfelle getrübt, eingezogen, vorn oben kleine Verkalkung). 

Verlauf (Nachuntersuchung im November und Dezember lU 
Zahlreiche allgemeine nervöse Beschwerden; dazu dauerndes Klopfen 
im Hinterkopf, Herzklopfen, Hitzegefühl im Kopf, Schwindelanfälle, in 
denen sie taumele, mit nachfolgendem Erbrechen. Das Sausen und 
Rauschen wie von einer Lokomotive oder einem Wasserfall und das 
Singen, Spielen und Posaunen bestehe wie früher. Manchmal klinge es 
nur „la la la“ oder „hu hu hu“; aber meist höre sie alle möglichen Lieder: 
„Mariechen sitzt weinend im Garten“, „Willst Du werden ein Rekrut“ u. a. 


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Gehörstäuschungen bei Ohrerkr ankungen. 


289 


Manchmal höre es sich ganz schrecklich an und sei viel lästiger wie früher, 
dann bekomme sie auch ziehende Schmerzen im Kopfe; meist sei es aber 
nur ganz leise, so daß sie Obacht geben müsse, um es überhaupt zu hören; 
es sei wie weit weg, es störe sie nicht mehr so. Ihre Stimmung sei öfter 
niedergedrückt, zuweilen sei 1 sie geradezu lebensüberdrüssig, „so traurig, 
daß sie flennen könnte“. Sie rege sich noch leichter auf als früher; sei 
auch viel reizbarer geworden, „kampele“ sich oft schon wegen geringster 
Kleinigkeiten und vertrage keinen Widerspruch; wenn sie aufgeregt sei, 
werden die Stimmen lauter. Im Sommer sei es gewöhnlich besser als im 
Winter; sie fühle sich überhaupt im Sommer besser, so viel freudiger. 
Sprechen habe sie nie gehört. Sie wisse genau, daß es krankhaft sei „von 
den Nerven oder vom Blut“. Zuweilen fürchte sie, daß sie noch einmal 
krank im Kopf werde, geisteskrank, schwermütig. Ihr Interesse habe nicht 
nachgelassen, ihr Gedächtnis sei gut. Aber sie könne nicht mehr so ange¬ 
strengt arbeiten wie früher und ermüde leicht, sie besorge nur noch ihre 
Häuslichkeit. 

Psychisch: leicht erregt, schreckhaft, redselig; sonst nicht auffällig. 
Somatisch: L. Pupille > r. Schwache Schleimhautreflexe. Lebhafter 
Kieferreflex. Puls nicht ganz regelmäßig. Blutdruck etwas erhöht. 

Ohrbefund unverändert wie früher. Behandlung bringt vor¬ 
übergehende Besserung. 

Im Vordergrund des Erankheitbildes stehen bei allen drei Kranken 
Gehörstäuschungen. In den beiden ersten Fällen finden sich neben ihnen 
- aber von anscheinend mehr untergeordneter Bedeutung — noch 
andere Störungen, bei der zuletzt beschriebenen Kranken imponieren 
die Halluzinationen geradezu als isolierte Sinnestäuschungen einer 
geistig Gesunden. Es sind hier aus einfachen Akoasmen hervor¬ 
gegangene Halluzinationen von Musik, Melodien und Liedern, 
die fast von Anfang an als krankhaft angesprochen wurden und 
in keiner Weise auf das psychische Geschehen, die Stimmung, 
die Arbeitsfähigkeit Einfluß gewonnen haben. Auch bei der 
ersten Kranken haben sich die Halluzinationen erst allmählich 
aus Akoasmen entwickelt. Aber sie wurden zunächst nicht als krank¬ 
haft erkannt; sie waren so überzeugend, daß die Kranke völlig 
unter dem Einfluß der St imm en stand und tat, was sie ihr auftrugen. 
Sie lebte in lebhafter Angst; um sich den Stimmen zu entziehen, 
wechselte sie zweimal die Wohnung, da sie glaubte, es ginge bei ihr 
um. Die Halluzinationen waren nicht wie bei der letzten Kranken 
indifferent, sondern kleideten sich in Schimpfworte, in Warnungen 
und Drohungen. Daneben bestand und besteht auch wohl jetzt noch 


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290 Klieüefcerger, 

Gedankenlautwerden. Die Angst klang allmählich ab, es trat eine 
Gewöhnung und eine gewisse Einsicht in das Krankhafte ein, die 
Kranke „kümmerte sich nicht mehr“ um das, was sie halluzinierte. 
Anders liegen die Verhältnisse bei dem Kranken M. Hier sind die 
Stimmen angeblich im Anschluß an einen Unfall plötzlich aufgetreten; 
ihre krankhafte Natur wird zwar wohl erkannt, aber es besteht keine 
rechte Einsicht, der Kranke macht einen indolenten, etwas defekt«! 
Eindruck. 

Als Lokalisation der Halluzinationen wird von allen Kranken das 
Ohr bezeichnet; nur die Kranke K. hat zunächst ihre Stimmen nach 
außen projiziert, sie aber dann mit beginnender Einsicht wie die 
andern „ins Ohr“ verlegt. 

Die Kranke K. unterschied verschiedene, von mehreren Personen 
stammende Stimmen, der Kranke M. grobe Männer- und feine Frauen¬ 
stimmen. Die Halluzinationen schienen unbeeinflußbar und unab¬ 
hängig vom Willen des Halluzinierenden; es bestand nur insofern 
ein Abhängigkeitsverhältnis von der Aufmerksamkeit, als die Hallu¬ 
zinationen bei allen für gewöhnlich stärker auftraten, wenn sie allein 
waren, abends und nachts. 

Den Beobachtungen gemeinsam ist der offensichtliche Zusammen¬ 
hang zwischen Halluzination und Ohrerkrankung. Es finden sich 
durchweg chronische Veränderungen der Trommelfelle und Tuben-, 
bzw. Mittelohrkatarrh. Die Behandlung des Ohrleidens bringt, soweit 
wir das verfolgen konnten, Besserung. Der Kranke M. war schon 
nach 4tägiger Behandlung frei von Halluzinationen und Akt asmen. 

Woher kommt es nun, daß unsere Kranken halluzinieren? In 
Anbetracht der Entstehung und der Art der Sinnestäuschungen sowie 
in Hinsicht auf ihre Beeinflußbarkeit durch Ohrbehandlung kann 
in den mitgeteilten Fällen den peripheren Einwirkungen eine ursäch¬ 
liche, beziehungweise auslösende Bedeutung für das Zustande¬ 
kommen der Halluzinationen nicht abgesprochen werden. Es ist 
andererseits klar, daß die Ohrerkrankung nicht die alleinige Ursache 
sein kann, sonst müßten ja solche Fälle von Gehörstäuschungen unge¬ 
mein häufig sein, während doch in der Tat nur ein verschwindend 
kleiner Prozentsatz von Menschen auf diese Beize mit Sinnestäuschun¬ 
gen reagiert. Es handelt sich vielmehr offenbar um Leute, deren 
Sinneszentren sich in einem Zustand gesteigerter Erregung befinden, 


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Gehörstäosclrangen bei Ohrerkrankungen. 


291 


und die, je nach der Intensität dieser Erregung, eines mehr oder weniger 
großen Zuwachses bedürfen, um Sinnestäuschungen zu empfinden. 

Hier scheint die Arteriosklerose eine besondere Bolle zu spielen. 
Unsere Patienten sind durchweg bereits ältere Individuen, bei denen 
schon allein die übrigen subjektiven Beschwerden den Verdacht der 
beginnenden Hirnarteriosklerose erwecken. Die Kranke K. hat 
zweifellos einen psychotischen Zustand durchgemacht — wir möchten 
am ehesten an eine präsenile HaJluzinose denken —, deren akute 
Symptome abgeklungen sind und bei der an die nunmehr chronische 
Halluzinose eine gewisse Gewöhnung eingetreten ist. Bei dem Kranken 
M. bestand eine Herzverbreiterung, eine hochgradige periphere Arterio¬ 
sklerose, und auch das gesamte psychische Verhalten bei der Unter¬ 
suchung wies auf eine Hirnschädigung im Sinne der Arteriosklerose 
hin. Sein wenige Monate darauf erfolgter Tod durch Suizid macht 
den Verdacht der Geisteskrankheit noch größer. In gleicher Weise 
sind bei der Kranken G. die Erhöhung des Blutdrucks, die Unregel¬ 
mäßigkeit der Herztätigkeit, die Schwindelanfälle, die zunehmende 
Reizbarkeit und die sonstigen Stimmungsanomalien zu deuten. 

Ich habe bereits früher gelegentlich eines Vortrages über isolierte 
Gehörstäuschungen 1 ) erwähnt, daß in der Mehrzahl solcher Fälle 
wohl ein arteriosklerotischer Prozeß in Frage kommt. Borihoeffer x ) 
und Förster 1 ) haben in der Diskussion zu meinem Vortrag ähnliche 
Beobachtungen angeführt und sich gleichfalls für den Zusammen¬ 
hang dieser Gehörstäuschungen mit arteriosklerotischen Vorgängen 
ausgesprochen. Zu diesen Fällen gehört auch der Kranke, über den 
Stein 2 ) berichtet, ein 78jähriger Mann, der ein wirkliches Gesprächs¬ 
wort oder einen kurzen Satz etwa 20 mal im Kopfe, allmählich unter 
Begleitung von Melodien sich wiederholen hörte; bei der Unter¬ 
suchung fand sich im rechten Ohr ein Ceruminalpfropf, nach dessen 
Entfernung die Halluzinationen innerhalb weniger Tage verschwunden 
waren. 

Es kann natürlich ebenso durch andere Hirnerkrankungen das 
Auftreten von solchen Gehörstäuschungen begünstigt bzw. die Dis- 

M Referat, Allg. Zeitschr. f. Psych. Bd. 66, S. 914 u. 915. 

*) Stein, Über eine besondere Form von Gehörshalluzinationen bedingt 
durch Cerumenpfropf. Prager med. Woch. 07 Nr. 33. Ref. Jahresbericht 
t Neurol. u. Psych. Bd. 11, S. 1118. 


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292 


Klieneberger, 


Position zu ihrem Auftreten geschaffen werden. So berichtet Gold¬ 
stern *) von einer beginnenden Paralyse, bei der als erste psychische 
Störung neben einer geringen Gedächtnisschwäche isolierte Gehörs¬ 
täuschungen bestanden. 

„Bei der 49 jährigen Frau W. traten allmählich folgende Gehörs - 
halluzinationen auf: sie hörte besonders nachts andauernd Kindergeschrei, 
das wie aus der Ferne kommend klang. Andererseits vernahm sie Me- 
lodieen singen, deren Text sie nicht verstand, die sie aber der Melodie 
nach als ihr bekannte Lieder identifizierte. Die objektive Untersuchung 
ergab einen Befund, der für eine incipiente Paralyse sprach, als deren 
erstes psychisches Zeichen neben geringer Gedächtnisschwäche die Hallu¬ 
zinationen angesehen werden konnten. An den Trommelfellen, besonders 
dem rechten, befanden sich Veränderungen mit Kalkeinlagerung, die einen 
Reizzustand des akustischen Apparates verursachten, der sich auch in 
dem Hören von allerlei Geräuschen kundgab.“ „Die Frau, die sonst 
psychisch noch ganz intakt und urteilfähig war, .... hielt sowohl das 
Schreien wie das Singen zunächst für wirklich." „Erst der wiederholte 
Zuspruch und die genaue Erklärung seitens des Arztes, für die die Frau 
sehn zugänglich war, überzeugte sie ganz von der Krankhaftigkeit und 
der Subjektivität der Wahrnehmungen.“ 

Es kommen aber offenbar, abgesehen von organischen Hirn- 
erkrankungen und von arteriosklerotischen Veränderungen, die viel¬ 
leicht zu Gehörstörungen besonders disponieren, neben und auch außer 
ihnen noch andere disponierende Momente für das Zustandekommen 
solcher Gehörstäuschungen in Betracht. So ist es gewiß kein ZufalL 
daß sich bei der Kranken K. eine schwere erbliche Belastung findet 
(auch bei einem Teil der Uhthoffs chen Fälle von Gesichtstäuschungen 
war der Einfluß einer hereditären Belastung nachweisbar), und die 
Disposition der Kranken G. zu psychischen Störungen erhellt nicht 
nur daraus, daß sie im Anschluß an ein Wochenbettfieber einen 
psychotischen Zustand durchgemacht hat, sondern sie geht aus ihrer 
ganzen, ans Manisch-depressive erinnernden Veranlagung hervor. Daß 
bei solchen disponierten Personen schon geringe Anlässe genügen, um 
Halluzinationen hervorzurufen, zeigt nachstehender Fall, den Hudo- 
vernig 2 ) aus der psychiatrischen Klinik in Budapest mitgeteilt hat. 

•) Goldstein, Zur Theorie der Halluzinationen. Studien über normale 
und pathologische Wahrnehmung. Arch. f. Psych. Bd. 44. Heft 2 u. 3. 

*) Hudovernig, Ein Fall von peripher entstandener Sinnestäuschung 
Ztrbl. f. Nervenheilk. u. Psych. 1906, S. 255. 


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Gehöretäuschungen bei Ohrerkrankungen. 293 

Es handelt sich um einen neuropathischen erblich stark belasteten 
18jähr. Jüngling, welcher angab, seit 14 Tagen „ständig, namentlich aber 
des Nachts, unangenehme Akoasmen zu haben, indem er neben einem 
ununterbrochenen dumpfen, dem Murmeln ähnlichen Geräusch zeitweise 
eine menschliche Stimme hört, welche seine eigenen Gedanken im Momente 
des Entstehens sofort mit lauter Stimme wiederholt. Diese Stimme ist 
ihm derart unangenehm und quälend, daß sie ihn in seinem Tun und Lassen 
störend beeinflußt, ihm selbst die Lust zum Essen raubt und ihn nachts 
— wenn die Stimme besonders stark tönt — am Schlafen verhindert.“ 
..Nach einer Woche haben die Halluzinationen an Intensität nur zuge¬ 
nommen, mit der Modifikation, daß sie links ausgesprochener wurden; 
sonst aber zeigte sich keine Spur einer psychischen Erkrankung.“ „Die 
Untersuchung des Ohrs ergab eine große Menge Cerumens im linken äußeren 
Gehörgang, ferner fand sich daselbst ein bis an das Trommelfell gepreßter 
harter Wattepfropf; außerdem war an den Ohren weder eine organische 
noch eine funktionelle Abweichung nachweisbar.“ „Nachdem der Watte¬ 
pfropf entfernt war, haben die Akoasmen des Kranken sofort bedeutend 
nachgelassen, und nachdem es ihm noch einige Tage hindurch schien, 
als ob er ein sehr entferntes Murmeln hören würde, hörten dieselben 
gänzlich auf.“ 

In unseren Fällen kommen beide Momente in Betracht, die 
Himarteriosklerose und die psychopathische individuelle Disposition. 
Die erste Kranke ist erblich belastet und (arteriosklerotisch) psycho¬ 
tisch, der zweite ist arteriosklerotisch defekt und progredient geistes¬ 
krank, die dritte hat bereits mehrfach eine psychische Erkrankung 
durchgemacht, sie zeigt manisch-depressive Züge und Symptome 
einer beginnenden Gefäßverkalkung. In Kombination mit peripheren 
Ohrerkrankungen treten bei allen Gehörstäuschungen auf, die im 
Krankheitbild dominieren und ihm so eine besondere Färbung ver¬ 
leihen. Bei Behandlung des Ohrenleidens — wenn es gelingt, die 
periphere Störung zu beseitigen — klingen die Gehörstäuschungen ab. 

Diagnostisch ist wichtig, daß man sich auch bei isoliert scheinenden 
Halluzinationen nicht mit dem Feststellen etwaiger peripherer Er¬ 
krankungen begnügt, sondern daß man nach anderweitigen krank¬ 
haften Störungen forscht. Denn es darf aus dem Vorhandensein von 
Gehörstäuschungen der Schluß gezogen werden, daß noch andere 
Störungen zugrunde liegen, daß es sich um psychopathische oder 
psychotische Menschen handelt, oder daß eine beginnende Hirn¬ 
arteriosklerose oder eine andere Hirnerkrankung im Anzug ist. 


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Über die Mechanik der Wahnbildnng 1 ). 

Von 

Dr. med. et phil. Erwin v. Niessl-Mayendorf, Priv.-Doz. in Leipzig. 

Der kühne Vorstoß, welchen Th. Meynert aus dem Gebiete der 
Gehirnanatomie und Gehirnpathologie in das der Psychiatrie unter¬ 
nahm, ist, wenn man von schwächlichen Anläufen absieht, ohne Nach¬ 
folge geblieben. Wernicke s selbständige Deutung der Psychosen 
gründete sich auf Gedankenreihen, welche sich innerhalb der von 
Meynert weit gezogenen Grundlinien auf keine speziellere Kenntnis 
vom Gehimbau beriefen oder aus dieser neue funktionelle Folgerungen 
ableiteten. 

Der Grund für das Verlassen gehirnanatomischer Anwendungen 
in der Psychiatrie liegt nicht, wie man nach dem schneidig vorge¬ 
tragenen, aber blanken Unsinn von dem Bankrott der Gehirnanatomie 
wähnen möchte, an der Unzulänglichkeit anatomischer Prämissen 
und der Unmöglichkeit, die sogenannten psychopathischen Sym¬ 
ptome aus diesen zu erklären, sondern an einseitiger Methodik 
an der fast ausschließlichen Beschränkung der Betrachtung auf die 
Hirnrinde, an einer nur ungenügenden und daher wenig präzisen 
Analyse und Definition der psychischen Elemente selbst. 

So hat Nißl den Gesichtspunkt der pathologischen Veränderung 
der kortikalen Ganglienzellen in ihrer feineren und feinsten Struktur 
bei einer zu gleichmäßigen Würdigung der Zellindividuen verschie¬ 
dener Rindenregionen einseitig festgehalten. Die histologische Be¬ 
schaffenheit des einzelnen Zellbildes kann nie ein klinisches Symptom 
erklären, erst der Nachweis dieser Abnormitäten an ganzen Orga¬ 
nisationen in der gesamten Rindenfläche vermag vage Bezie¬ 
hungen zu, nicht aber scharf gegenständliche Vorstellungen von dem 
Zustandekommen psychopathischer Erscheinungen zu geben. Diese Be¬ 
ziehungen scheinen eine Antwort auf die Frage, warum sich krank- 

x ) Nach einem auf der Jahresversammlung des Deutschen Vereins 
für Psychiatrie gehaltenen Vortrage. S. diese Ztschr., Bd. 68, S. 550. 


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Uber die Mechanik der Wabnbildung. J295 

hafte Erscheinungen überhaupt entfalten müssen, nicht aber warum 
sie in dieser oder jener symptomatischen Gestalt zu¬ 
tage treten. Bei dem heute über dem Verhältnis zwischen Ganglien¬ 
struktur zur Ganglienfunktion schwebenden Dunkel vermag nicht 
einmal bezüglich der einzelnen Rindenzelle aus dem scheinbar proto¬ 
plasmatischen abnormen Bilde, abgesehen natürlich von dem Zerfall, 
der weitgediehenen Schrumpfung oder der Verkalkung des Zell¬ 
körpers, etwas für den Zustand der vollen, der abgeänderten, der 
verlorenen Funktion geschlossen werden. Aus der Tatsache, daß 
Vergiftungen in ihrer Wirkung auf die Struktur des Ganglienleibes 
Veränderungen hervorrufen können, denen ähnlich, welche man 
an den Rindenkörpern von Geisteskranken, auch ohne nachweisliche 
Intoxikation wahrnehmen kann, schloß man, daß die Veränderungen 
der Rinde bei den Psychosen noch unerkannten Ursprungs auf In¬ 
toxikationen beruhen müßten, wenn man dieselben bisher auch 
nicht nachweisen konnte. Man triumphierte in kritikloser Verall¬ 
gemeinerung mit der Proklamation der nicht auf manifeste Infektion 
zurückführbaren Psychosen als auf Intoxikationskrankheiten, als ob 
mit dieser willkürlich hingestellten Meinung auch nur ein Schritt in 
wirklicher Erkenntnis nach vorwärts getan wäre. 

Gelänge es, selbst für jede Geisteskrankheit ein entsprechendes 
Virus zu entdecken, so würde mit diesem nicht mehr, nicht weniger 
als der ursächliche Faktor für das Auftreten der Geisteskrankheit als 
solcher, nicht aber eine Erklärung ihrer speziellen Symptomatologie 
gegeben sein. Auch das von Nißl und Alzheimer ja bis zu den 
extremsten histologischen Subtilitäten gesteigerte, pathologische, 
sowie von Ramm y CajcU für das normale Gebiet geförderte Detail¬ 
wissen erweist sich in Hinblick auf die Deutung psychischer und 
psychopathologischer Erscheinungen als durchaus steril, solange nicht 
die anatomischen und funktionellen Beziehungen der 
Details zueinander, solange nicht die Z usammenhänge 
geklärt werden können, denn aus ihnen sind erst Vorgänge zu 
begreifen, die sich als psychische Einheiten darstellen, und erhellt 
die funktionelle Bedeutung des einzelnen Elementes. 

Im Gegensatz zu der naiven Hoffnungsfreude, mit einer heute noch 
ungeahnten Verfeinerung der histologischen Technik den Schleier vom 
funktionellen Geheimnis zu lüften, rückt die Erforschung der viel 


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296 


v. Niessl-Mayendorf, 


gröberen Zusammenhänge im Großhimbau schon heute einem Paralle- 
lismus zwischen morphologischer Bildung und seelischer Erscheinung 
weit näher. 

Eine vollkommene Kenntnis der inneren Konstruktion der 
Hemisphären würde aber gleichfalls noch nicht hinreichen, um aus 
ihrer Betrachtung allein Schlüsse für die Mechanik der psychischen 
Vorgänge abzuleiten. Pathologische Anatomie, Psychologie und 
Morphologie müssen sich in ihren Ergebnissen ergänzen, um dort, 
wo dies der Fall ist, wo es möglich wird, psychologische mit morpho¬ 
logischen und pathologischen Tatsachen zur Deckung zu bringen, 
Gesetze der Gehirnmechanik zu suchen, innerhalb deren 
Grenzen Formen und Ablauf des psychischen Geschehens notwendig 
gegeben sind. 

Im folgenden wird der Versuch unternommen auf Grund der 
Voraussetzungen, welche der heutige Stand unseres Wissens in den 
beregten drei Forschungsgebieten an die Hand gibt, eine Anschau¬ 
ung von dem Zustandekommen des Irreseins, welches in Wahnbildung 
und Halluzination, diesen beiden einem einzigen Mechanismus ent¬ 
springenden Phänomenen, klinische Form gewinnt, zu entwickeln. 

Die Divergenz der Meinungen über Wesen und Bedeutung der 
Großhirnfunktionen schwindet in der Überzeugung von der funk¬ 
tioneilen Differenz der einzelnen Hemisphärenteile. Die Vulnerabilität 
bestimmter Territorien bei umschriebener Hirnverletzung ist zu greifbar, 
die ausgelöste Symptomatologie zu grell und konstant, um nicht 
einen Zusammenhang zwischen gestörter oder zerstörter Örtlichkeit 
und der verlorenen Fähigkeit annehmen zu müssen. 

Diesen, nur kleine Areale einnehmenden Großhimabschnitten 
steht das übrige Großhirn gegenüber, dessen Zerstörung, selbst in 
großem Umfange mit keinen sicher nachweisbaren und regelmäßig 
zu erwartenden Krankheitzeichen antwortet, unter der Bedingung, 
daß die zu dem Kortex der ersterwähnten Regionen ziehenden Leitungs¬ 
bahnen unberührt bleiben. 

Es ist Broadbents Verdienst in England und nach ihm Flechsig s 
in Deutschland gewesen, die funktionellen Unterschiede dieser Rinden¬ 
zonen als Systeme gewürdigt zu haben, und wenn in den folgenden 
Darlegungen der Anschauungsweise genannter Forscher völlig Fremdes, 
ja Entgegengesetztes bezüglich ihrer funktionellen Attribute vorge- 


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Ober die Meohanik der WahnbUdung. 


297 


braeht wird, so baut sich diese Erkenntnis auf dem erstgewonnenen 
Fundament des funktionellen Unterschiedes auf. 

Vor allem drängt sich aber die Frage auf, ob die berührte Gegen¬ 
sätzlichkeit des Verhaltens bei pathologischen Anlässen in einer Ver¬ 
schiedenheit des Bindenbaues und dessen Verbindungen oder einer 
territorialen Verschiedenheit im Gefüge der Leitungsbahnen im Hemi¬ 
sphärenmark, in Knotenpunkten und Kreuzungen derselben gegeben sei. 

Zur Entscheidung dieser Frage dürfte die auf folgende drei Ge¬ 
sichtspunkte sich richtende Aufmerksamkeit beitragen: 1. ob reine 
Rindenerkrankung der Fokalgebiete sich symptomatisch bemerkbar 
mache; 2. ob der Rindenbau der Fokalgebiete ein von der übrigen 
Hirnrinde entschieden differenter sei, und ob sich diese histologische 
Differenz mit der ausgefallenen Leistung in irgend welche Beziehung 
bringen lasse; 3. ob sich aus der anatomischen Betrachtung des 
Hemisphärenmarks der Fokalgebiete Anhaltpunkte für eine der¬ 
artige Anordnung von Leitungen ergäben, wie wir sie zur Erklärung 
der hervortretenden Symptome ungeachtet des besonderen Rinden¬ 
baues zu fordern hätten, v. Monakow stützt sich bei Heranziehung 
der Diaschisis als des wesentlich kausalen Momentes neben den nach¬ 
barlich und weiterhin provozierten Zirkulationsstörungen und dyna¬ 
mischen Veränderungen hauptsächlich auf die Lösung derartig ge¬ 
dachter Verbindungen. Während in der Literatur im ersten Auf¬ 
blühen klinisch-anatomischen Denkens der reine Rindenherd eine große, 
»ft ausschlaggebende Rolle gespielt hat, ist man, sobald die Be¬ 
trachtung am Durchschnitt oder gar am durchsichtigen, gefärbten 
Serienschnitte allgemeiner und gründlicher gepflegt wurde, zu der 
Einsicht gelangt, daß die früheren Rindenherde, allzu tief in das 
Heraisphärenmark eindringend und Verbindungen zwischen ferneren 
Rindenpunkten gleichzeitig zerreißend, für die Zuerkennung phy¬ 
siologischer Attribute an bestimmte Rindenregionen als unbrauchbar 
abzulehnen seien. 

ln seltenen Fällen sind aber auch in jüngster Zeit noch Läsionen 
zur Beobachtung gelangt, welche, der aufgeworfenen Kritik stand¬ 
haltend, die Rindenschale allein eigriffen hatten und in solcher Distanz 
von den subkortikalen langen Assoziationsleitungen sich begrenzten, 
daß an eine Einwirkung auf dieselben kaum gedacht werden konnte. 
So brachte Bonhoeffer in diesem Jahre eine, nur auf die Rinde der 


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298 


t. .Niessl-Mayendorf, 


linken temporalen Querwindungen und deren nächste Umgebung 
beschränkte Erweichung mit dem klinischen Bilde einer ausge¬ 
sprochenen sensorischen Aphasie zur Sprache, und Oppenheim ge¬ 
wahrte an einem über der motorischen Sprachregion Trepanierten, 
daß, wenn ein Tupfer aufgelegt wurde, welcher die pialen Gefäße 
dieser Rindengegend komprimierte, der Kranke nicht mehr sprechen 
konnte, welcher Zustand sofort verschwand, wenn der Tupfer wieder 
entfernt wurde. 

Die Entdeckung der Tatsache von dem histologisch verschiedenen 
Aufbau der Fokalrinden fällt mit der Erkenntnis der örtlichen Ver¬ 
schiedenheiten der Großhirnrinde durch Meynert zusammen. Da? 
Gesetzmäßige dieser Verschiedenheit ist in dem Zusammenhang einer 
geschlossenen Anschauung über die Funktionen des Großhirns zum 
erstenmal von Flechsig betont und auf das Vorhandensein auffallend 
großer Pyramiden hingewiesen worden. Mit Unrecht ist dieser Be¬ 
hauptung Flechsigs widersprochen worden; Pyramiden von der 
Größe jener solitären Elemente sind, wie die Messungen GampbeJk 
festgestellt haben, nur in den kortikalen Sinneszentren Flechsigs 
nachweisbar. 

Der charkteristische Bau der Fokalrinden, welche mit den korti¬ 
kalen Sinnessphären Flechsigs als im großen und ganzen als identisch 
betrachtet werden dürfen, kündigt sich im Weigertschen Übersichts¬ 
bilde ganzer Hemisphärenschnitte durch den intrakortikalen Tan¬ 
gentialfaserreichtum unverkennbar an. Eine beiläufige Demarkierung 
dieser Rindenfelder ist an solchen Präparaten, und zwar an Durch¬ 
schnitten fast jeder Richtung, dem Kenner möglich. 

In proportionalem Parallelismus zu dieser Abundanz horizontaler 
Markfäserchen befindet sich das Anwachsen der Zahl jener kleinen 
Zellelemente, welche in jeder Rindenregion die vierte Schicht kon¬ 
stituieren, in der Fokalrinde diese* Schicht jedoch derart verbreitern, 
daß sie durch Einreihen jener großen Pyramiden in gewisser Schnitt¬ 
richtung gleichsam gedoppelt erscheint, um die zwischen den ein¬ 
dringenden Marksäulen freibleibenden Räume in jeder Rindenhöhe 
dicht zu erfüllen. Das zytoarchitektonische Strukturbild verliert 
infolge der allörtlichen Vermehrung der kleinen Nervenkörper das 
geordnete Aussehen der unschwer erkennbaren Sonderung in Schichten, 
wie sie in der Rinde der stummen Himteile hervortritt. 


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Uber die Mechanik der WahnbUdtmg. 


299 


Das wesentlichste Kennzeichen der Fokalrinde ist, sobald die 
Grundlinien in der Anordnung der Zellkörper im Strukturbilde durch« 
blickt werden, nicht eine Verschiedenheit dieser Anordnung, nicht 
das Erscheinen besonderer Zelltypen, sondern eine Steigerung im 
Wachstum des gesamten Rindenbaues sowie des einzelnen Elementes, 
eine anscheinende Vermehrung dieser, und Vergrößerung jener Nerven¬ 
körper. 

Endlich stellt sich der Leitungsmechanismus des Hemisphären¬ 
marks unter den Rindengegenden der Foci an Pfeifer!-Präparaten 
in klaren, überzeugenden Bildern dar. welche das Einstrahlen kom¬ 
pakter, kräftiger Faserzüge aus den Stammganglien erkennen, 
Knoten- und Kreuzungspunkte langläufiger subkortikaler Assoziations- 
biindol jedoch vermissen lassen. 

Diese drei, den Erfahrungen der Pathologie und Anatomie ent¬ 
nommenen Tatsachen weisen auf die H i r n r i n d e, als auf den Ort 
des Zustandekommens jener Erscheinungen hin, dessen Ausfälle als 
charakteristische Symptome dem Kliniker imponieren. 

Es wird nun zu untersuchen sein, welcher psychische Charakter 
diesen Erscheinungen eignet, um aus der Betrachtung aller Feinheiten 
des inneren Gefüges der Fokalrinde zu einem Schlüsse zu gelangen, 
welcher auf die Frage, ob dieses Instrument zu solcher Leistung be¬ 
fähigt sei, eine mehr minder bestimmte Antwort gibt. 

Die älteren Untersucher, welche die bei Läsion der Fokalrinde 
aufgetretenen Krankheitzeichen zuerst beobachtet und geschildert 
haben, verbanden mit ihnen einen sehr prägnanten Begriff, indem sie 
von dem Verluste bestimmter Gedächtnisspuren, Er¬ 
innerungsbilder und Vorstellungen sprachen. 

Eine solche Deutung der Ausfallsymptome erschien Pierre Marie 
bei seinem Versuch einer Revision der Aphasielehre als ganz unge¬ 
nügend, und v. Monakow 1 ) spottete der psychologisch-anatomischen 
Betrachtungsweise als einer naiven, welche „zwei einander fremd 
segenftberstehende Gesichtspunkte, den anatomisch-physiologischen 
und den vorwiegend auf Selbstbeobachtung beruhenden psycholo- 


M p. Monakow: „Über Lokalisation der Hirnfunktionen,“ 1910. 
(Bei Bergmann) Vortrag, geh. auf der Naturforscherversammlung zu 
Königsberg. 


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300 


v. Niessl-Mayendorf, 


gischen, miteinander vermenge“. Fernere Gegenaigumente wider die 
aus dem pathologischen Himbefund geschlossene Art der Funktions¬ 
störungen erblickt v. Monakow in der nur kurzen Dauer des ursprüng¬ 
lich aufgetretenen Symptomenkomplexes, in dem meist elementaren 
Charakter des dauernd zurückbleibenden Restes der Ausfallerschei¬ 
nungen, in dem Ausfall nur bestimmter Komponenten einer ner¬ 
vösen Funktion, welcher Ausfall sich niemals auf eine ganze abgerun¬ 
dete Funktion selbst erstrecke. „Jedenfalls“, schließt v. Monakm . 
„sind bei begrenzten kortikalen Zerstörungen unverkennbare psychische 
Störungen im Sinne eines Ausfalls von Vorstellungen* als Dauer¬ 
erscheinungen bis jetzt mit voller Bestimmtheit, d. h. ohne künstliche 
Interpretation, nicht zu erkennen.“ Die physiologischen Vorgänge 
in den Fokalrinden erscheinen v. Monakow unter den vagen Bildern 
„einer ersten Aufreihung von Sinnesreizen“ oder „einer Realisation 
nervöser Akte usw.“ 

Befremdet in diesen Darlegungen die Behauptung, daß, trotz 
zweifellosen Erweises Jahre hindurch bis zum Tode bestehender 
Aphasien und Asymbolien durch umschriebene Herderkrankung der 
fraglichen Rindenbezirke der Fokalrinde nur Funktionen elemen¬ 
taren Charakters zugeschrieben werden dürfen, so überrascht die 
unklare Fassung, welche diesen elementaren Funktionen gegeben wird. 
An einer Stelle offenbart uns jedoch v. Monakow durch Hinzufügung 
spezieller Zusätze innerhalb einer Klammer die gemeinten elementaren 
Ausfallsymptome, welche im Gegensatz zu den Ausfällen „ganzer 
abgerundeter Funktionen“, „psychischer Störungen im Sinne von 
Vorstellungen“, persistieren sollen. Als solche elementare Störungen 
werden „Lähmungen“, „Anästhesien“, „Hemiopien“ genannt. Aber 
auch diese Behauptung dürfte den Gehirnpathologen nicht ohne 
weiteres einleuchten. Von kortikalen Herderkrankungen abhängige 
Bewegungstörungen tragen fast nie den Charakter eines reinen 
und unkomplizierten Motilitätdefekts. Dasselbe gilt von den 
Anästhesien. Nahezu regelmäßig, ja für den kortikalen Sitz der 
Erkrankung geradezu charakteristisch, werden kortikale Paresen oder 
Anästhesien von Astereognose und Störungen der Lageempfindung 
begleitet, und es ist keineswegs erweisbar, daß die letzteren Symptome 
flüchtiger sind als die ersteren. Auch Paresen können, wie uns Ladame 
— v. Monakow mit kasuistischem Belege und Horsley nach Exstir- 


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Ober die Mechanik der Wahnbildung. 


301 


pation des linkseitigen kortikalen Armzentrums gezeigt haben, wieder 
vollends verschwinden, und auf der anderen Seite stehen zuverlässig 
festgestelite, bis zum Tode ungebessert währende Aphasien und 
Asymbolien. Die bilaterale homonyme Hemianopsie ist allerdings 
ein elementares, unkompliziertes Ausfallsymptom ohne jede Neigung 
zu Restitutionen, in stabilen Fällen findet nur ganz selten eine spätere 
Erweiterung der lichten Gesichtsfeldhälfte nach der verlorenen Seite 
hin und kaum je ein vollkommener Wiederersatz dieser statt 1 ). 

Aber eingeräumt, daß zwischen Lähmungen, Anästhesien, Hemio- 
pienund aphasisch-asymbolischen Symptomen kein gradueller, sondern 
ein prinzipieller Unterschied ihrer Persistierbarkeit bestünde, so würde 
der aus dieser Tatsache von v. Monakow gezogene Schluß, daß die 
Fofealrinden die eigentlichen Werkstätten der ausgefallenen elemen¬ 
tareren Funktionen, die aphasich-asymbolischen Erscheinungen 
jedoch auf entferntere Funktionsunterbindungen, etwa durch Dia- 
sehise, zurückzuführen seien, keinesfalls zwingende Geltung haben. 
Eine viel näher liegende Erklärungsmöglichkeit, welche uns der wenig 
ermutigenden Aufgabe überhebt, die in das Unbestimmteste führenden 
Linien der Diaschisistheorie zu ziehen, wäre in einem von der Er¬ 
fahrung gefundenen, vielleicht aus dem Bau sich ergebenden physio¬ 
logischen Gesetz gegeben. Die Pathologie kortikaler Herde lehrt, 
daß die Funktionen, deren Schädigung sich in aphasisch-asymbo¬ 
lischen Symptomen einer Extremitätenhälfte kundgibt, sich in j e 
einer Hemisphäre abspielen müssen, während 
die elementaren Funktionen nur in einer und 
zwar der kontralateralen Hemisphäre ihre 
physiologischen Ausgangspunkte besitzen 2 ). Es 
gibt ein motorisches Sprachzentrum der linken und rechten Hemi¬ 
sphäre. ebenso muß der kortikale Sitz der Wortwahrnehmung bei dem 

*) Das außerordentlich reichhaltige kasuistische Material über Hemi¬ 
anopsie bedarf noch vom Gesichtspunkt der Wiederherstellung des Seh- 
defekts einer kritischen Sichtung, so daß von der Unmöglichkeit einer Resti¬ 
tution der Halbseitenblindheit heute noch nicht gesprochen werden kann. 

*) Dieser Satz darf nicht dahin mißverstanden werden, daß für die 
elementaren Funktionen nur in den kontralateralen Sinnesfoci eine ana¬ 
tomische Präformalion gegeben sei; es handelt sich im Gegensatz zu den 
komplexeren Erscheinungen nur um die Verschiedenheit funktioneller 
Grade. 

Wiechrift für Psychiatrie. LXIX, 8 . 21 


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v. Niessl-Mayendorf, 


leichten Verschwinden der Worttaubheit sowohl links wie rechts 
gedacht werden, und alles spricht dafür, daß die Macula links wie 
rechts kortikal repräsentiert sei. Dies schließt natürlich eine gewöhn¬ 
liche funktionelle Uberwertigkeit der linkshirnigen Fokalgebiete 
nicht aus. Die funktionelle Bahnung bei komplizierteren Funktionen 
scheint demnach bilateral, für elementarere Leistungen nur 
unilateral vorhanden zu sein. 

So erklären sich die von v. Monakow angezogenen Erfahrungstat¬ 
sachen anders, einfacher und ungezwungener, indem die Restituier- 
barkeit der aphasisch-asvmbolischen Symptome in der Mög¬ 
lichkeit eines allmählichen Eingeübt Werdens 
der korrespondierenden rechtshemisphärigen 
Rinde n felder zu suchen sein wird. Bemerkenswert 
ist der Umstand, daß sich rechtseitige Tastblindheit bei der Zer¬ 
störung der linken kortikalen Handzone fast nie restituiert und so 
oft das elementarere Ausfallsymptom der „Parese“ überdauert. 

Die motorische Aphasie, als Erscheinung eines sicher kompli¬ 
zierteren Funktionsausfalls, bleibt stehen, während oft die anfäng¬ 
liche Zungen- und Lippenlähmung dem Zustand normaler Beweg¬ 
lichkeit weicht. Dies widerspricht auf den ersten Blick dem oben 
von den Befunden der Pathologie abgeleiteten Satz sowie der von 
v. Monakow behaupteten Persistenz elementarer Störungen. Ich 
glaube, man muß bei der Verwertung der Restitutionserscheinungen 
für die Lokalisation von Fähigkeiten zwei Dinge auseinander halten: 
1. Die anatomische Anlage, 2. den durch die Gewohnheit bestimmten 
Grad der funktionellen Bahnung sowie den Intensitätsgrad der Wider¬ 
standschwelle. Es ist zwar durch anatomische Anschauung der 
Beweis erbracht, daß die rechten Netzhauthälften nur mit der rechten, 
die linken nur mit der linken Sehsphäre des Großhirns durch direkte 
Leitungen verbunden sind, nicht aber, daß der rechte Arm nur mit dem 
mittleren Drittel der linken, nicht aber mit demjenigen auch der 
rechten einen unmittelbaren Faserkonnex besitzt, da wir, abgesehen 
von dem Hinüberstreichen der Erregungen über die Wege der Rücken¬ 
markskommissuren, außer einem gekreuzten Pyraraidenseitenstrang 
auch einen ungekreuzten Pyramidenvorderstrang kennen. Die Parese 
des rechten Armes wird sich daher zurückbilden können, die Hemi¬ 
anopsie kann durch kein Vikariieren anderer Fasersysteme zumVer- 


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Ober die Mechanik der Wahnbildong. 


303 


schwinden gebracht werden. Unser Gesetz hat demnach nicht eine 
absolute anatomische, sondern eine relativ physiologische Gültigkeit. 
Dort, wo anatomische Verbindungen fehlen, 
ist ein Vertreten natürlich unmöglich, dort, 
wo sie jedoch vorhanden sind, kann der Grad 
der Leichtigkeit einer solchen Vertretung von 
dem Grad der funktionellen Bahnung abhän- 
gen. D i e k o rt i k a 1 e n Repräsentationen der pe¬ 
ripheren Organe für die feinsten und schärf¬ 
sten Wahrnehmungen sind sicher anatomisch 
bilateral angelegt. 

Aber die Hypothese des vikariierenden Eintretens der anderen 
Hemisphäre wird für v. Monakow zur Undurchführbarkeit und Un¬ 
möglichkeit, indem er sich Gedankengängen wie diesen hingibt: 
„Ohne eine gewisse, in engerem Rahmen sich bewegende Kompensation 
gröberer nervöser Mechanismen (durch bessere Ausnutzung bzw. 
ergänzendes Auswachsen von Seitenästen mancher Leitungen) in 
Abrede zu steUen, muß ich mich der Substitutionshypothese, die 
so weit geht, daß sie Bildung neuer funktioneller Werkstätten an 
einem der verloren gegangenen Funktion ursprünglich fremden Orte 
verlangt, und gleichsam einen retrograden Ersatz von hochwertigen 
Leistungen fordert und dies für Leistungen, zu deren Erwerb, wie 
z.B. bei der Sprache, langjährige Übung und 
ein in bestimmter Weise fortschreitender Ent - 
wicklungsgang notwendig war, ablehnend verhal- 
t e n.“ x ) 

Zweitens sei es unzulässig, neuen Ersatz von Funktionen Win¬ 
dungen zuzumuten, die nicht selten selber durch 
Krankheit,Erschöpfung usw. bereits geschwächt 
sind. Drittens kehrten hochwertige Leistungen, ohne daß Störungen 
irgendwelcher Art zurückblieben, zurück, während man zu er¬ 
warten hätte, „daß jeder Neuerwerb von seiten anderer als hierzu 
speziell befähigter Zentren doch nur auf Kosten der diesen 
letzteren ursprünglich zugewiesenen Funk - 


*) v. Moonakw: „Über die Lokalisation der Hirnfunktionen“. Wies¬ 
baden 1910. S. 17. 


21 * 


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v. Niessl-Mayendorf, 


tionen übernommen werden könnte.“ Endlich 
müßte der weitere Ausbau der Vikariierungshypothese, statt zur 
Stütze, zur Verneinung selbst der phylogenetisch am meisten ge¬ 
sicherten glied- und sinnestopographischen Lokalisation im Großhirn 
führen. 

In der Anmerkung zu S. 17 führt v. Monakow weiter aus: „Eine 
Reversion von in bestimmter Kontinuität rezipierten Eindrücken, 
eine zeitliche Umgestaltung oder ein Umbau der Bestandteile der ver¬ 
schiedenen Erregungsordnungen ist wohl nicht möglich, es muß 
vielmehr jede neue Gedankenverbindung, jede neue Handlung auf 
früher eingeübte Erregungskreise sich auf¬ 
bauen und an solche sich anknüpfen, soll die Einheit der indivi¬ 
duellen Erfahrungen bzw. der persönlichen Erlebnisse nicht ausein¬ 
anderfallen. Wie soll da nun der „Verlust von Werkstätten für op¬ 
tische, akustische und andere Vorstellungen“, wie sollen da aus vielen 
Lebensperioden stammende Erregungsprodukte, bzw. der sukzessive 
angesammelte Erfahrungsinhalt, die Basis für jede neue Bereicherung 
unserer Vorstellungen in so kurzer Zeit nachgeholt werden! Würde 
es sich da nicht um einen funktionellen Anachronismus handeln?“ 

Eine Erklärung für die auf die örtliche Erkrankung folgende 
„Funktionseinstellung“ sieht v. Monakow „in einer passiven Hemmung, 
welche an selbst gesund gebliebenen, aber mit dem Herd durch Fasern 
verbundenen Nervenzellenkomplexen ihren Angriffspunkt hat“. Aus 
dem Umstande der funktionellen Hemmung, nicht 
organischen Zerstörung, ergebe sich die Möglichkeit 
einer Restitution. 

Eine Kritik, welche mit der Wucht vierfacher Begründung nieder¬ 
reißt, wird durch eine positive, jedoch nichts weniger als naheliegende 
oder notwendig sich aufdrängende und von klaren Vorstellungen ge¬ 
leitete Hypothese vervollständigt. 

Es leuchtet ein, daß die Berechtigung dieser, ja überhaupt das 
Bedürfnis, eine durch Spekulation erkünstelte Annahme so weit 
herzuholen, nur dann vorliegt, wenn sich die Gründe des absprechenden 
Urteils über die Vikariierungshypothsee als stichhaltig erweisen. 
Man betrachte und prüfe daher im einzelnen, welche Anschauungs¬ 
weise über die Vorgänge der Gehimmechanik von v. Monakows Kritik 
getroffen wird. 


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Über die Mechanik der Wahnbildung. 


305 


v. Monakow hat offenbar nur die Substitutionsmöglichkeit durch 
anscheinend normale Partien der erkrankten Hemisphäre selbst 
vor Augen. Natürlich werden auch die durch den Herd selbst nicht 
vollständig vernichteten oder tangierten Großhirnwindungen in ihrer 
Funktion als geschädigt zu betrachten sein, und der Gedanke wäre 
geradezu absurd, daß Rindengebiete mit ganz anderen anatomischen 
Konnexen, als das ausgefallene, einzig durch das Ersatzbedürfnis eine 
funktionelle Befähigung erwürben, welche aus ihrem Bau und ihren 
Verbindungen nicht erklärbar wäre. Alle dieser Substitu¬ 
tionshypothese von v. Monakow gemachten Vorwürfe haben daher 
ihre volle Berechtigung. 

Ganz anders steht aber die Sache, wenn man die zweite Möglich¬ 
keit einer Substitution in Betracht zieht. Die rechte Hemisphäre 
zeigt einen mit der linken durchaus kongruenten Rindenbau und 
kongruente Markfaserverhältnisse, sowie ihre leitenden Beziehungen 
zur Peripherie den linken durchaus entsprechen. Ist es nicht 
das natürlichste Postulat von der Welt, wenn 
wir derselben Gestaltung auch die gleiche 
Funktion zumuten? Zwischen beiden Hemisphären besteht 
kein qualitativer, sondern nur ein quantitativer 
Unterschied in den Funktionen. Das erhellt unzweifelhaft aus der 
funktionellen Präponderanz der rechten oberen Extremität. Der 
zentrale nervöse Mechanismus der linken oberen Extremität kann, 
wie die Erfahrung des Tages zeigt, die feineren und feinsten Be¬ 
wegungskombinationen entwickeln. Es handelt sich aber hier um 
einen gewöhnlich und normalerweise niedrigeren funktionellen I n - 
tensitätsgrad nervöser Zentren, nicht um die Akquisition von 
Leistungen, welche diesen zentralen Werkstätten ursprünglich fremd 
waren. Gerade das Beispiel der Sprache, welches v. Monakow heran¬ 
zieht, beweist, daß eine hochwertige Funktion von Gehirnpartien 
geleistet werden kann, welche sicher nicht bei jedem Sprachakte die 
Höhe ihrer Funktion entfalten, und es ist durchaus unwahrscheinlich, 
ja mit klinischen Beobachtungen geradezu unvereinbar, nur der linken 
Hemisphäre eine anatomische Präformation für die Produktion sprach¬ 
licher Äußerungen zuzusprechen. Rechts und links ist die Anlage 
vorhanden, rechts und links wird diese ausgebildet, die Häufigkeit 
peripher angesponnener und in der Folge auch assoziativer An- 


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v. Niessl-Mayendorf, 


regungen links übertrifft jedoch die Zahl derjenigen der rechten Seite, 
weshalb auch die Erregbarkeitschwelle links eine bedeutend ge¬ 
ringere ist. 

Wenn man die rechte Hemisphäre als ein schwächer funktionie¬ 
rendes Duplikat der linken auffaßt, dann sind auch alle weiteren 
Bedenken v. Monakows, daß die Wiederherstellung der Funktion 
Windungen zugemutet würde, die nie zuvor etwas mit dieser zu tun 
gehabt hätten, hinfällig. Auch von einer anachronistisch-retrograden 
Entwicklung der Funktion kann da natürlich keine Rede sein, denn 
die rechte Hemisphäre entwickelt ihre Funktionen ebenso sukzessiv 
als die linke. Der Anstoß zu einer Steigerung der Funktion zu jener 
Höhe, welche den linkseitigen Zentren eigen ist, wird durch die patho¬ 
logisch bedingte Einstellung der Funktion in der linken Hemisphäre 
gegeben, da sowohl von der linken als der rechten Körperperipherie 
die Reize nun in die rechte Hemisphäre gelangen müssen. Es ist da 
leicht begreiflich, daß in verhältnismäßig kurzer Zeit die wieder¬ 
gewonnene Funktion der verlorenen auf ein Haar gleichen kann, 
zumal die identisch gebaute Rindenstruktur durch Übung, die ihr 
einzig gefehlt hat, nun die ursprünglich nur der linken Hemisphäre 
zukommende Funktionshöhe erreicht. 

Während für die anscheinend gesunden Windungen der er¬ 
krankten Hemisphäre der Verdacht funktioneller Erschöpfung in 
einer regelmäßig sich einstellenden Atrophie der ganzen Hemi¬ 
sphäre greifbar morphologischen Ausdruck gewinnt, spricht für die 
funktionelle Intaktheit der herdfreien Hemisphäre der Mangel 
jeder sichtlich geweblichen Rückbildung, ja 
nicht selten eine auffallend sich hervordrängende übermäßige Größe 
jener Windungen, welche mit den zerstörten der anderen Seite korre¬ 
spondieren. 

Aus der strengen Rindenlokalisation, die in der rechten wie in 
der linken Hemisphäre immer die gleichen kortikalen Felder für die 
gleichen Funktionen in Anspruch nimmt, erhellt eine sehr entschiedene, 
strikte Bejahung, nicht Verneinung„der phylogenetisch am meisten 
gesicherten, glied- und sinnestopographischen Lokalisation im Gro߬ 
hirn“. 

Diese durchaus einfache Anschauung der Großhirntätigkeit ent¬ 
hebt uns der Annahme, welche zur Aufstellung der Diaschisis ge- 


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Ober die Mechanik der Wahnbildung. 


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nötigt hat, daß nämlich die ausgefallene Funktion nicht die Funktion 
des anatomisch ausgefallenen Großhimgewebes und mit diesem dauernd 
verloren sei, sondern auf einer vorübergehenden Unterbindung, auf 
einer Hemmung selbst gesund gebliebener, aber mit dem Herd in 
einem anatomischen Kontakt stehender Windungen beruhe. Die 
Funktion des zerstörten Großhirnbezirkes kann, trotz ihrer Restitution, 
als dauernd verloren betrachtet werden, weil sie ein z w e i t e s Mal 
in den korrespondierenden Rindenpartien der 
anderen Hemisphäre bereit liegt. 

Lehne ich v. Monakom Diaschise als eine von den klinischen 
Erscheinungen keineswegs geforderte Grundlage ab, so liegt mir ob, 
zu untersuchen, inwieweit die geschmähte klinisch-anatomische 
Methode den heute vorliegenden Tatsachen Rechnung trägt, inwieweit 
sich die psychologische Definition des Lokalisierbaren bei den Ver¬ 
tretern dieser von derjenigen, welche v. Monakow gibt, unterscheide. 
Lokalisierbar sind, wie gelehrt wurde, Vorstellungen i. e. die Erin¬ 
nerungsbilder der einzelnen Sinnesgebiete. Nach v. Monakow sind 
die Vorstellungen komplizierte psychische Vorgänge und aus diesem 
Grunde nicht lokalisierbar. Die Meinungsverschiedenheit beruht 
hier offenbar auf einer verschiedenen Fassung des 
Begriffs der Vorstellung. Dieselbe bedeutete ihrer 
Genese nach im Sinne der herrschenden Lehre nichts weiter als das 
funktionelle kortikale Residuum einer bei der ersten Wahrnehmung 
der Gehirnrinde zugeführten Summe sinnlicher Reize, deren besondere 
Anordnung in dem peripheren Aufnahmeorgan oder in der Zentral¬ 
stelle als „Lokalzeichen“, deren Vereinigung als Form zum Be¬ 
wußtsein gelangt. Der physiologische Hergang ist unschwer zu ver¬ 
sinnlichen. Eine Anzahl von Zellen des Aufnahmeorgans trifft ein 
peripherer Reiz, welcher wieder zu einer Anzahl von Ganglienzellen 
des kortikalen Zentralorgans geleitet wird, woselbst die gereizten 
Elemente durch Fasern verbunden sind. Die Sinnesempfindung hängt 
von der Beschaffenheit der peripheren Sinneszellen ab, das Lokal¬ 
zeichen von der Lage des gereizten nervösen Elementes in der peri¬ 
pheren Ausbreitung des Sinnesnerven, die Form von der besonderen 
Gruppierung der gereizten Elemente. Das sind Postulat«, welchen in 
dieser Allgemeinheit wohl kaum widersprochen werden kann. Unge¬ 
mein klar werden diese Reizvorgänge unter der Voraussetzung einer 


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v. Niessl-Mayendorf, 


strengen Wiederholung der elementaren Anordnung der Sinnen- 
peripherie in der Hirnrinde. Der wesentliche Unterschied zwischen 
Peripherie und Kortex läge in der funktionellen und anatomischen 
Bindung der gereizten Elemente in letzterem. 

Das Wiedereintreffen identischer Wahrnehmungen, welchen iden¬ 
tische physiologische Veränderungen zugrunde liegen müssen, führt 
zu der gesetzmäßig sich einstellenden leichteren Ansprechbarkeit 
der gereizten Ganglienzellen, dem Gedächtnis. Die Entwicklung des¬ 
selben begünstigt die Besonderheit des Großhimbaues durch seinen 
Assoziationsmechanismus, indem dieselben einmal von der Peripherie 
angesponnenen Beizkombinationen von anderen Stellen der Großhirn¬ 
rinde her wieder geweckt werden können. Der Unterschied des phy¬ 
siologischen Vorgangs der Wahrnehmung von dem der Erinnerung 
beruht lediglich auf der verschiedenen Richtung des 
anlangenden Reizes, nicht aber auf der Reizung verschiedener Zell¬ 
kombinationen; während die Wahrnehmung von der Peripherie 
eingeleitet wird, erwacht die Erinnerung stets von einer anderen Stelle 
der Hirnrinde her. 

Die Reizung einer Kombination von Rindenganglien ist offenbar 
etwas Physiologisches, für das Subjekt das Element seines Bewußt¬ 
seins. Als Bestandteil desselben ein zweifellos psychisches Phänomen, 
isoliert jedoch bewußt 1 o s und darum nicht psychisch. Die Er¬ 
innerung an einen einzigen Sinneseindruck vermag keinen Bewußt¬ 
seinsinhalt zu konstituieren, und dem wachen Geistesleben erscheint 
sie stets in einer Kette anderer simultaner und sukzessiver Vor¬ 
stellungen. Für die Richtigkeit dieser Behauptung liefert das kranke 
Geistesleben sprechende Belege. Das Gehen, Stehen, Handeln der 
Somnambulen sind Zustände von Erregtheit isolierter Vorstellungskreise 
und zwar der sensorisch-motorischen Sinnesgebiete. Die retrograde 
Amnesie ist Zeugnis für den Mangel an Bewußtsein in diesen Äuße¬ 
rungen des Seelenlebens. Der auf epileptischer oder hysterischer 
Basis spielende Dämmerzustand läßt das kranke Gehirn als „Verbi- 
geration“ Wortkomplexe produzieren, welche offenbar ohne jede 
Beziehung zu dem vollständig gehemmten Bewußtsein des Indivi¬ 
duums stehen. Nichtsdestoweniger müssen sprachliche Schöpfungen 
des kranken Gehirnes als Symptome wacher Vorstellungen gedeutet 
werden. Wie anders könnte denn artikuliertes Sprechen zustande 


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Ober die Mechanik der Wahnbildung. 


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kommen? Sollte aber dies automatenhafte Repetieren einzelner 
Phrasen bei vollständig mangelnder Orientiertheit, von denen die 
Seele hinterher keine Kenntnis hat, psychische Phänomene bedeuten? 
Ebenso die Echolalie im Bewußtseinszerfall des Blödsinns. Die Un¬ 
abhängigkeit einzelner Vorstellungen von dem gesamten Bewußtsein 
dokumentiert die Symptomatologie der Herderkrankungen, welche 
den Ausfall von Vorstellungen eines Sinnesgebietes bei völliger Klarheit 
und Orientiertheit des Bewußtseins aufweist. Die außerordentlich 
primitive Bildung des Papageiengehirns ist zur Schöpfung von Sprach- 
vorstellungen befähigt, ohne daß ein komplizierter Assoziationsmecha- 
nismus in demselben den Gedanken an höchst verwickelte psychische 
Vorgänge als deren Grundlagen nahelegte. 

Für i?. Monakow ist Vorstellung aber identisch mit einem sehr 
verwickelten psychischen Komplex verschieden örtlicher und ver¬ 
schieden zeitlicher funktioneller Komponenten, nicht aber das 
bloße Residuum einer einzelnen Wahrnehmung, 
gleichgültig, wann dieselbe, in welcher zeit¬ 
licher Folge mit anderen gleichartigen und 
wie sie mit gleichzeitig auf getauchten Vor¬ 
stellungen verknüpft ins Bewußtsein tritt. 
Hierin wurzelt das fundamentale Mißverständnis. Dasjenige, was 
sich überhaupt als lokalisierbar im Großhirn erweist, ist der von 
einer Sinnesleitung der Zentralstelle dieses Sinnes übermittelte Reiz- 
Vorgang, weiter nichts. Das ist aber kein psychologischer, sondern 
ein physiologischer Begriff, zu welchem wir erst durch Analyse, durch 
den Schlußprozeß gelangen, denn dieses zentrale Reizbild kann 
allein kein Bewußtsein gestalten, sondern erscheint stets in 
einem Nebeneinander und Hintereinander anderer Sinnes¬ 
bilder im Bewußtsein. AU dies faßt nun t>. Monakow in seiner Ein¬ 
heit der Vorstellung zusammen, und diese ist wahrhaftig nicht lokali¬ 
sierbar. 

Nicht jeder sensorische Reiz, welcher den Untersucher selbst trifft, 
i*t, von seinem Standpunkte, also subjektiv betrachtet, ein Bewußt- 
>einsphänomen, nicht einmal dann, wenn diese bis in die Hirnrinde gelangt. 
Diese ^Tatsache unserer inneren Erfahrung bedarf nicht des Beweises. 
Subjektive Reizaufnahme und bewußtes Empfinden folgen einander nicht 
mit Zwang. Mithin sind Wahrnehmungen, die durch Ablenkung der Auf¬ 
merksamkeit unter der Schwelle des Bewußtseins bleiben, keine p s v - 


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v. Niessl-Mayendorf, 


chischen Tatsachen, obgleich sie sich an dem beurteilenden Subjekt 
selbst ereignen. 

• 

In dieser engen begrifflichen Fassung der „Vorstellung“, welche 
die Wiederholung einer Erregung bestimmter Zellindividuen der Peri¬ 
pherie in der Hirnrinde zur Voraussetzung hat, mit dem alleinigen 
Unterschied, daß in dem subkortikalen und intrakortikalen Asso¬ 
ziationsmechanismus des dem Aufnahmeorgan korrespondierenden 
Rindenabschnittes eine substanzielle Grundlage zur Schöpfung von 
Einheiten gegeben ist, liegt die Lösung der von v. Monakow mit Recht 
als nächstes Bedürfnis aufgeworfenen Frage nach dem „Was“ des 
Lokalisierbaren in der Hirnrinde. 

Teilt man bei dieser Anschauung den kortikalen Fokalgebieten 
sehr bestimmte Funktionen zu, trennt sie also funktionell von der 
übrigen Großhirnrinde und präzisiert ihren Anteil an den Bewußt¬ 
seinsvorgängen, so ergibt sich eine scheinbare Schwierigkeit bezüglich 
der nun fraglichen Bedeutung jener Windungskomplexe, welche 
zwischen die kortikalen Brennflächen der Sinnesleitungen eingeschoben 
sind. Der Terminus „kortikaler Fokus“, dessen sich v. Monakow mit 
Vorliebe bedient, dürfte seine Aufstellung der durchaus unbewiesnen, 
ja mit den von gefärbten durchsichtig dünnen Schnittpräparaten 
abgesehenen Anschauungen in Widerspruch tretenden Hypothese 
verdanken, daß die Elemente einer Sinnesbahn nach der Hirnrinde zu 
garbenartig divergierend auseinander fahren und auf diese Weise 
in die Rinde näherer und entfernterer Windungen, anatomisch unbe¬ 
stimmbar wohin, gelangen. Da ich an meinen Präparaten eine solche 
Aufsplitterung einer Sinnesbahn an ihrem Ende niemals wahrnahm, 
hingegen mit Hilfe der Entmarkung durch sekundäre Degenerationen 
den kompakten Eintritt der Projektionsbündel in die fraglichen Rinden¬ 
abschnitte mit überzeugender Deutlichkeit sah, so glaube ich, mit dem 
Erweise der Grundlosigkeit der behaupteten anatomischen Verhält¬ 
nisse, welche offenbar den ersten Anstoß zur Namenserfindung gaben, 
basierend auf die hier aufgeführten, sich ergänzenden klinisch-ana¬ 
tomischen Tatsachen der von Hitzig vorgeschlagenen Bezeichnung 
„Vorstellungsphären “ beitreten und an dieser festhalten zu 
dürfen. 

Die Barheit an greifbaren Symptomen, welche Erkrankung oder 
Verletzung der stummen Hemisphärenanteile lokaldiagnostisch kenn- 


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Ober die Mechanik der W&hnbildung. 


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zeichnet, gibt weder das Recht, an die Unzulänglichkeit unserer 
Untersuchungsmethoden zu glauben, noch auf die Möglichkeit ihrer 
physiologischen Erkenntnis nach dem Stande psychologischer Er¬ 
fahrung und derzeit feststehendem anatomischen Wissen zu ver¬ 
zichten. Die allerprimitivste Unterstellung notwendigster und mithin 
nicht des Beweises bedürftiger Lebensbedingungen genügt zu einem 
Aufschluß über das Wesen der fraglichen Funktionen. 

So ist es sicher keine Hypothese, daß die Ganglien der Rinden¬ 
schale aus dem Sauerstoff der letzten und feinsten arteriellen Ver¬ 
zweigungen ihr Emährungsmaterial beziehen und eine je nach deren 
Kontraktionsphase, Füllungszustand, je nach der Geschwindigkeit des 
fließenden Blutes wechselnde Oxydation erfahren. Meynert sprach 
bezeichnend von einem Atmen der Rindenzellen und unterschied von 
freier, reichlicher Sauerstoffaufnahme durch arterielle Dilatationen 
und Beschleunigung des Blutstromes, der Apnoe, die Dyspnoe 
der Rindenzellen, die durch gegensätzliche Gefäßvorgänge bedingte 
Gebundenheit des Gasaustausches. Es ist ferner keine Hypothese, 
daß die Geschwindigkeit der Verbrennung mit dem Reichtum an 
Sauerstoff zunimmt und bei Verarmung an solchem geringer wird. 
Ebensowenig kann es einem Zweifel unterliegen, daß in den Erschei¬ 
nungen des Bewußtseins der wechselnde Chemismus der kortikalen 
Ernährung ein psychisches Korrelat besitzt, welches aus einem Pa¬ 
rallelismus der Eigenschaften zu erschließen sein wird. 

Eine von dem Blutreichtum während der Funktion in anderen 
körperlichen Organen bereits von Virchoto abgeleitete Erfahrung 
spricht auch den tätigen Zentralorganen der Sinne im Gehirn „eine 
funktionelle Hyperämie“ im Akte der Wahrnehmung zu, bei der 
jedoch nicht die einfache Dilatation des Arterienrohrs, mit welcher 
Verlangsamung des Blutstromes einhergehen kann, sondern eine gleich¬ 
zeitig vermehrte Sauerstoffzufuhr das Wesentliche ist. Apnoe der 
Rindenganglien einer Sinnessphäre wäre der durch den von der Peri¬ 
pherie zugeleitete Sinneseindruck gesetzte Ernährungszustand der 
direkt betroffenen Kortexpartie. Mit dieser ganz umschriebenen Er¬ 
regung kann der peripher angesponnene Vorgang seinen Abschluß 
finden. Hierfür sprechen nicht weiter verarbeitete Wahrnehmungen 
im normalen Bewußtsein, insbesondere aber gewisse Erscheinungen 
im kranken Seelenleben, die, gepaart mit Ausfallsymptomen, eine 


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v. Niessl-Mayendorf, 


endogen bedingte isolierte größere Ansprechbarkeit einer Sinnes¬ 
sphäre — Ausfall und leichtere Erregbarkeit desselben pathologischen 
Ursprungs — notwendig voraussetzen lassen (die Hypermetamorphose 
nach Wemicke). 

Wenn man sich demnach den zentralen Hergang der Wahr¬ 
nehmung an der Hand der oben gegebenen Deduktionen in einem 
physiologischen Bilde versinnlicht, so knüpft sich an die Erregung 
einer Kombination von Ganglien in der zentralen Endigung des Sinnes¬ 
nerven eine sekundäre Erregung einer zweiten Kombination von 
Ganglien einer anderen Sinnesrinde an, wenn, wie zumeist bei der 
erstmaligen Erregung, zwei verschiedene Sinnesrinden erregt wurden. 

Vor allem aber knüpft sich an jede Wahrnehmung die subjek¬ 
tivste aller Erscheinungen unseres Seelenlebens, ein G e f ü h L Der 
Name bezeichnet die Färbung, Betonung, welche die geformten Vor¬ 
stellungen und die sinnlich grellen Wahrnehmungen hintergrundartig, 
selbst aber unbestimmt und ohne jede Projektion in das objektive 
Weltbild begleitet. Objektiviert wird ein Gefühl nur dann, wenn die 
grobe Nervenzerrung, nicht die Vorstellung zur Quelle von Unlust¬ 
gefühlen wird, der Schmerz. Aber auch da ist es nur die einleitende 
und begleitende Tastwahrnehmung, welche die Verlegung des 
Schmerzreizes nach außen bedingt. Kälte- und Wärmepunkte an der 
Hautdecke sind zweifellos besonders günstige Angriffstellen für peri¬ 
phere Gefäßverengerung und Gefäßerweiterung, und das Spezifische der 
Wirkungen der hier gesetzten Reize läge in den Differenzen der Verbren¬ 
nungsprozesse durch die Gefäßveränderungen, im Gegensatz zu den 
mechanischen Einwirkungen auf die nervösen Aufnahmeorgane der 
Haut. Es handelt sich also hier um zwei Formen der Empfindung, 
nicht aber hier im Empfindungen, dort um Gefühle. Man spräche 
daher korrekter von Wärmeempfindungen. als von Wärme- 
gefühlen. Erst die nicht mehr nach außen projizierbaren Lust- oder 
Unlustgefühle, welche von dem peripheren Vorgang sekundär ausge¬ 
löst werden, sind auf Gehimvorgänge zu beziehen. Schmerz, Wärme, 
lokalisatorisch unbestimmte Empfindungen der inneren Organe, 
sexuelle Sensationen unterscheiden sich von Sinneswahrnehmungen 
durch die Besonderheit der Form der peripheren 
Erregung, sind daher von Wahrnehmungen nicht wesentlich ver¬ 
schieden. Mit diesen haben sie auch die gleichzeitige Erweckung der 


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Über die Mechanik der Wahnbildong. 


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Lust- oder Unlustgefühle gemein, deren Gebundenheit an Wahr¬ 
nehmungen nur dem unscharfen Denken als psychische Wesenseinheit 
imponiert. 

Wenn man das von der Pathologie bewiesene Faktum des Mangels 
einer direkten physiologischen Verbindung der Rinde der stummen 
Himteile mit der Peripherie in Betracht zieht, wenn man die Möglich¬ 
keit der nur sekundären Erregbarkeit durch in allen Verlaufslängen 
ausgespannten Assoziationsbündel von den Sinnessphären hinzunimmt, 
so ergibt sich hieraus ein Mechanismus, dessen Spielen die begleitende 
Gefühlsbetonung sehr einfach erklären würde. 

Es ist mir stets unfaßbar gewesen, wie man an einen subkortikalen 
Mechanismus der Affekte denken konnte. Wie wrenig gerechtfertigt eine 
solche Annahme, die auf das Schreien großhirnloser Tiere hin gemacht 
wurde, sich erweist, zeigt die Willkür der Voraussetzung, welche Schrei 
und Schmerzäußerung identifiziert. Jede Reizung sensibler 
Nerven hat einen motorischen Effekt zur Folge, dessen Eintreten jedoch 
keineswegs von der Empfindung des sensiblen Reizes ab¬ 
hängt. Daß eine so brutale Beleidigung eines sensiblen Nerven, welche 
in unserem wachen Bewußtsein als Schmerz sich kundgibt, auch ohne 
diesen, bei normal funktionierenden niederen Hirnzentren, in starken 
motorischen Äußerungen, zu denen der Schrei doch sicher zählt, sich 
entladen wird, scheint mir keinem Zweifel zu unterliegen. Ebenso un¬ 
günstig liegen die Struktur- und Ernährungsverhältnisse des Hirnstammes, 
um aus ihnen die Gefühlsvorgänge zu erklären. 

Jeder Sinneseindruck wird, wie an der Peripherie, so auch an der 
kortikalen Endstation der Sirinesleitung eine Erweiterung der Blut¬ 
gefäße, eine stärkere Blutfüllung, eine Beschleunigung des fließenden 
Blutstromes zur Folge haben, wodurch die Emährungsbedingungen 
zu einer gewissen Funktionshöhe anschwellen. Dieser physiologische 
Zustand muß im Bewußtsein ein psychisches Korrelat haben, wel¬ 
ches aber nicht als ein Gefühl des Wohlseins, 
des Behagens sich äußern kann, weil dieselben Wahr¬ 
nehmungen bald mit angenehmen, bald mit unange¬ 
nehmen Gefühlen in uns einhergehen. Dagegen wird der beschränk¬ 
ten funktionellen Hyperämie in einer Sinnessphäre eine Konzentration 
des Bewußtseins in der Beschränkung auf ein Sinnesgebiet entsprechen 
müssen, welche uns in der Erscheinung der Aufmerksamkeit 
psychologisch klar wird. Dieser Vorgang ist lokalisierbar, weil er die 
zentrale Projektion eines einzigen Sinnesnerven aktiv beteiligen muß, 


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v. Niessl-Mayendorf, 


die übrige Hirnrinde aber in antagonistischer Wirkung funktionell 
ausschaltet. Diese Ausschaltung betrifft auch teilweise die Gefühle, 
da erfahrunggemäß bei Eintritt stärkerer Affekte die Fähigkeit der 
Konzentration schwindet. 

Aus den in solcher Allgemeinheit gehaltenen und darum kaum 
anfechtbaren Erwägungen erhellt die Tatsache, daß das Rindenareal, 
dessen Ernährungszustände nur alssolche dem Bewußtsein faßbar 
werden, nicht gleichzeitig einen Sinn zentral reprä¬ 
sentieren könne, woraus sich das weitere Postulat ergibt, 
daß die kortikalen Zentralorgane der Sinneswahrnehmungen auf 
zirkumskripte Rindenfelder angewiesen sein müssen, die 
übrige Hirnrindenfläche aber jeder funktionellen Beziehung zu einem 
Sinne ermangelt. Auch selbst die unerwiesene, mit objektiver Tat¬ 
sächlichkeit unverträgliche Trennung der kortikalen Substrate für 
Wahrnehmung und Erinnerung berechtigte zu keinen anderen 
Folgerungen, da die L e i ch t ig k e i t und Intensität der Beleb- 
barkeit einer Erinnerung ebensowenig mit dem sie begleitenden ange¬ 
nehmen oder unangenehmen Gefühl vermischt werden darf, wie die? 
bei der Wahrnehmung festgestellt wurde. Die Afunktion eines korti¬ 
kalen Erinnerungsfeldes könnte sich nicht als unangenehme Gefühls¬ 
betonung einer Wahrnehmung, sondern bloß als eine Isolierung der 
Wahrnehmung von dem Bewußtseinsinhalte, in einem Nicht- 
wiedererkennen des sinnlich Geschauten bemerk¬ 
bar machen 1 ). 

Wir gelangen daher zu der Annahme, daß die Oxydationsprozesse 
der Rindenganglien im Gebiete der stummen Hemisphärenanteile 
im Bewußtsein als Gefühle sich widerspiegeln. Für diese Annahme 
spricht: 1. Der erweisliche Mangel anatomischer und funktioneller 
Verbindungen mit der Sinnenperipherie, welchem zufolge keine direkte 
Beeinflussung ihrer Ernährungsbedingungen von der Peripherie her. 


*) Wenn man auch Külpe unbedingt zustimmen wird, daß das Er 
kennen eines Gegenstandes nicht auf einer Assoziation zwischen seinem 
Sinneseindruck und seinem Erinnerungsbild beruhen müsse, sondern ein 
gewisse Beziehungen zwischen den Erinnerungsbildern erschließender 
Denkvorgang ohne Erwachen der betr. Erinnerungsbilder ein Erkennen 
ermögliche, so wäre ein Denken ohne Erinnerungsbilder- ebenso absurd, 
als ein Festhalten an dem angegriffenen Vordersatz. 


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Über die Mechanik der Wahnbildung. 


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aber auch keine Projektion derselben im Weltbild des Bewußtseins 
möglich wird. Dieser Charakter eignet aber den Gefühlen. 2. Die 
bipolare Richtung ihrer Änderung im Sinne der angenehmen Lösung, 
der Erleichterung und der unangenehmen Spannung und Hemmung, 
sowie der nachweislich plötzliche Eintritt dieser Änderungen bei dem 
Erscheinen von mit diesen oder jenen Gefühlen assoziierten Wahr¬ 
nehmungen und Gedanken, weist mit Entschiedenheit auf dem bestim¬ 
menden Einfluß vasomotorischer Zustände hin. Nach obiger 
Auseinandersetzung vermögen die Folgewirkungen von Vasokonstrik¬ 
tionen und Vasodilatationen in den Gefäßgebieten der Sinnessphären 
auf das Nervengewebe sich n i c h t in der subjektiven Unbestimmtheit 
der Gefühle zu offenbaren. 3. Der erweisliche Einfluß endogen soma¬ 
tischer Zustände auf die Qualität der Gefühle, welche nur auf dem Wege 
der symphatischen Nerven reflektorisch gedacht w'erden kann. Dieser 
würde auch ohne sensible Projektionsbündel, welche die Reize aus 
dem Innern des Körpers in die Rinde der stummen Hirnteile trügen, 
im Sympathicus der Carotis interna auf den arteriellen Gefäßbaum 
sich entfalten können. 4. Die mit Hilfe sekundärer Degenerationen 
bei Jahre hindurch bestehender Herderkra .kung in den Hemisphären 
uud zu makroskopisch palpabeln Schrumpfungen gediehenen Atrophien 
beweisbaren, aus der Rinde der stummen Hirnteile nach den Stamm¬ 
ganglien absteigenden Bündel lassen die Möglichkeit kort ikaler Einflüsse 
auf automatisch oder reflektorisch ablaufende Bewegungsvorgänge zu, 
deren Geltendmachung sich in automatischen Angriffs- und Ab¬ 
wehrbewegungen als Hemmmungen 1 ) verstehen ließe. Die 
Unterdrückung niederer Bewegungsformen durch Gefühle zeichnet 
die auf hoher Kulturstufe angelangte menschliche Psyche aus, welche 
in dieser Anlage des Gehirnbaues das Instrument zur Entwicklung 
solcher Befähigung vorfand. 5. Die Sinneswindungen des Tierge- 
himes weisen, abgesehen von ihrer Relation zur Körpergröße, kaum eine 
dürftigere Gestalt der Sinneswindungen auf, während man auf die nur 
rudimentäre der stummen Zwischengebiete längst aufmerksam ge- 

l ) In dieser Vorrichtung präsentiert sich ein Mechanismus, welcher 
den unmittelbaren Einfluß der Gefühle auf gewisse kompliziertere 
motorische Akte ohne Dazwischentreten von Vorstellungen 
als einen Ausdruck der Gemütsbewegungen auch bei primitiveren Hirn- 
Organisationen offenbart. 


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v. Niessl-Mayendorf, 


worden ist. Die scheinbare Unkompliziertheit der tierischen Psyche 
beruht nicht auf einer hinter dem menschlichen Reichtum an Vor¬ 
stellungen zurücktretenden Armut an latenten Spuren d r Sinnes¬ 
eindrücke. Die Verschiedenheit offenbart sich in der ungleichen 
Ausbildung dieses oder jenes Sinnes, weshalb die spezifische 
Sinnesqualität, nicht aber die Zahl der Vor¬ 
stellungen eine verschiedene ist. Es wäre eine sehr willkürliche Be¬ 
hauptung, dem Tiere eine der menschlichen durchaus verwandte 
Denkfähigkeit abzusprechen, welche doch allein die Möglichkeit 
gegenseitiger Verständigung erklärt. Worin aber das Tier dem Menschen 
zweifellos unterlegen ist, ist der Mangel jener Herrschaft der Gefühle 
über das Denken, welche als eine durch die Kultur erworbene Zweck - 
mäßigkeitsverriehtung ein eminent sozial-anthropologisches Präro¬ 
gativ ist, welches aber ein nach dieser Richtung entwicklungfähiges 
Gehirn voraussetzt. Die Gewalt des Menschen über das körperkräftigere 
Tier entspringt aus seiner psychischen Superiorität, zu welcher er sich 
durch das Leben in der Sozietät erhoben hat. Die Befähigung, im 
geselligen Vereine sich zu behaupten, postuliert die Macht außer¬ 
ordentlich stark gefühlsbetonter Vorstellungsreihen, welche hemmend 
in den primären Gefühlsmechanismus („primäres Ich“ Meyneris) 
eingreifen und als sogenannte höhere Gefühle, als Sitte, das einzelne 
Individuum, die Gesamtheit beherrschen. Der naivsten Betrachtung 
springt der Schein freier Selbstbest immbarkeit in den Äußerungen der 
menschlichen Psyche im Gegensatz zu denen der tierischen in die 
Augen. Dem Menschen scheint es vergönnt zu sein, wählen zu können, 
weshalb sein Handeln im Gegensatz zum Tiere sich der Voraussicht 
leichter entzieht. Der kritischen Analyse stellt sich jedoch das freie 
Wollen als Zwang zu demjenigen dar, zu welchem die größte 
Lust hindrängt, möge dieselbe auch als subjektiv bewußt werdende 
Hemmung anderer Lustgefühle erscheinen. Das Phänomen des Willens 
gewinnt in den Betätigungen der menschlichen Psyche die hervor¬ 
ragendste Bedeutung: dem tierischen Seelenleben nicht fremd, er¬ 
scheint es dort in einfachen, oft nur rudimentären Formen. Seinem 
Wesen nach konstituiert es sich aber aus Gefühlen, zu deren Ent¬ 
wicklung dem menschlichen Gehirn ein dem tierischen fehlender 
oder nur dürftig angelegter Mechanismus eigen sein wird. 6. Der 
sieh an Präparaten mit sekundären Markfaserentartungen darbietende 


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Ober die Mechanik der Wahnbildung. 


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Anblick berechtigt zu der Annahme, daß alle Windungsgipfel und 
deren Abhänge im Rmdengebiete der stummen Hirnteile mit der 
Rinde der Sinnsphären durch die Bogenbündel in direkt leitende Ver¬ 
bindung gesetzt sind. In dieser anatomischen Vorrichtung wäre die 
sichtbare Grundlage für das gesetzmäßige Begleiten 
jederVorstellung mit Gefühlstönen gegeben, da die 
Mitteilung der Oxydationsphasen in den Rindenganglien der st umm en 
Himteile an die Rindenganglien der Sinnessphären auf dem Wege 
der markbekleideten Konduktoren ein physiologisches Postulat be¬ 
deutet. Es würde aber auch der ausschlaggebende Einfluß für den 
Inhalt und die E n t b i n d b a r k e i t der Gedankengänge, welcher 
den Gefühlen innewohnt, durch diesen Mechanismus eine sinnlich 
greifbare Stütze finden. In diesem läge das Geheimnis der Stimmung, 
das von der Intuition Herbeigelockt-werden oft mühsam oder ver¬ 
geblich gesuchter Ideenverbindungen. 

Hält man an diesen anatomisch-physiologischen Prämissen für 
das gesunde Seelenleben fest und betrachtet die Wahnbildung oder 
die substituierende Halluzination, welche sekundär und reaktiv den 
Wahn entwickelt, im Lichte dieser Voraussetzungen, so werden sich 
für die anscheinend so verwickelten krankhaften Erscheinungen, die 
nur durch die schwierigste Aufhellung äußerst komplizierter Gehirn¬ 
vorgänge dem Fernstehenden erklärbar dünken, nicht minder ein¬ 
lache Folgerungen geltend machen lassen. 

Lassen wir bei der Lehre vom Wahn all die subjektiven Deu¬ 
tungsversuche und Deutungsmöglichkeiten aus dem Spiele, und halten 
wir uns an das wesentlich Tatsächliche, das von allen Seiten Zuge¬ 
standene, dann trifft den Kern der Erscheinung ein Fürwahrhalten 
irrealer Vorkommnisse und Zusammenhänge, welches der widerstrei¬ 
tenden Korrektur des gesamten Erfahrungsinhaltes trotzt. Diese 
Paralogik des Gedankengangs tritt am klarsten, aber auch am unbe¬ 
greiflichsten dort zutage, wo sie scheinbar isoliert die normale Ordnung 
des Vorstellungsablauf8 durchbricht, also in Zuständen der Besonnen¬ 
heit, in welchen sich die ungebundene Assoziationstätigkeit, nicht 
in der Korrektur, jedoch in der „Systematisierung“ des wahnhaft 
Festgehaltenen bemerkbar macht. Die Ursache dieser verkehrten 
Richtung der Assoziationsbildungen ist der springende Punkt in der 
Erforschung vom Wesen des Wahnes. 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXIX. 3. 

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v. Niessl-Mayendorf, 


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Die Entwicklung des chronischen Wahnes bei Abwesenheit aller 
Sinnestäuschungen, welche diesen ursächlich bedingen, mag uns ein 
geeignetes Paradigma illustrieren, weshalb ich meine ferneren 
AusfOhrungen an die Darlegung eines von mir im Sommer 1911 
in der Poliklinik der psychiatrischen Klinik beobachteten Falles von 
chronischer Verrücktheit knüpfe. 

Ein. deutscher Geschäftsmann, anfangs der Dreißig, kehrt aus 
Amerika nach Leipzig zurück, nachdem er längere Zeit in China geweilt, 
von wo er nach dem Zusammenbruch seines Geschäftes nach Amerika 
hinüber in Stellung ging. Hier machte er die Wahrnehmung, daß man 
ihn zu homosexuellem Verkehr durch Winke und allerlei Fingerbewegungen 
verleiten will, welche ihn zu den leidenschaftlichsten Handlungen der 
Abwehr hinreißen und aus allen Positionen treiben. Nicht weniger ab 
66mal hat er es, nach eigener Angabe, in Stellungen versucht, bis er 
beschließt, sich nach Europa einzuschiffen, um der Gefahr, sexuell mi߬ 
braucht zu werden, zu entfliehen. Amerika ist ihm das Land der Homo¬ 
sexuellen, keine Ehe werde geschlossen, wenn der Mann sich weigere, 
den widernatürlichen Gelüsten seines künftigen Schwiegervaters gefügig 
zu sein. Er habe in der Person des Milliardärs Pierpont Morgan einen 
wegen seines großen Reichtums sehr einflußreichen und gefährlichen 
Gegner, dessen Haß er sich dadurch zuzog, daß er Europa über die die 
amerikanische Gesellschaft allgemein beherrschende Homosexualität publi¬ 
zistisch aufzuklären bestrebt sei. Die Fäden des Amerikaners Morgan 
reichen aber herüber nach Deutschland; auch in Leipzig liest er allüberall 
aus ihm verdächtigen Bewegungen und Betastungen Aufforderungen zu 
homosexuellem Verkehr heraus. Pierpont Morgan erscheint ihm plötz¬ 
lich in der Gestalt eines Automobilfahrers, welcher ihn bedeutungvoll 
mehrmals umkreist. Er glaubt durch unansehnliche, dürftige Kleidung 
seine Verfolger weniger anzulocken. Hinter den meisten Handlungen seiner 
Umgebung wittert er Anschläge seiner Feinde, und die dauernde Unruhe 
läßt ihn schwer neurasthenisch werden. Es quält ihn eine Überempfind¬ 
lichkeit der Haut, bei deren Betastung er zu leidenschaftlichster Abwehr 
ausbricht. Eine gleiche Hyperästhesie des Gehörs — auf einem Ohr hat 
er das Gehör so gut wie eingebüßt — bereitet ihm selbst bei fernen Ge¬ 
räuschen unerträgliche Kopfschmerzen. Eine Lymphangitis tuberculosa 
an der rechten Halsseite, die er als eine krankhafte Folgeerscheinung 
heimlicher Vergiftungen ansieht, behindert ihn an der Wendung des 
Kopfes. Er ist eine schlanke männliche Erscheinung mit mißtrauischem, 
verstörtem Gesichtsausdruck. In der Geschichte der Vorerkrankungen 
berichtet er von mehreren Malariainfektionen. 

Eine kausale Aufhellung dieses gewiß typischen Falles einer 
Paranoia chronica müßte sich, soweit sie das letzte wirkende, krank* 


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Uber die Mechanik der Wahnbildung. 


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hafte Agens im Auge hat, nur auf die unbestimmtesten Vermutungen 
berufen, sobald sie aber von dem letzten Unbestimmten ganz 
absieht und nur die abnorme Mechanik aus den oben er¬ 
schlossenen Korollarien des Zusammenwirkens der einzelnen Hemi¬ 
sphärenteile betrachtet, welche durch ein unerforschbares Etwas in 
Gang gesetzt wird, dann gelangen wir zu einer gesetzmäßigen Deckung 
psychopathologischer Symptome mit Insuffizienzerscheinungen be¬ 
stimmter Großhirnregionen. 

Prüfen wir, diesem Ziele zustrebend, das Seelenleben dieses Mannes, 
welches sich um Gedankengänge konzentrisch entwickelt, die dem Ge¬ 
sunden ohne weiteres als krankhaft einleuchten, dasselbe in seine Ele¬ 
mente zerlegend, so werden wir Intaktheit des Wahrnehmungsvermögens, 
des Gedächtnisschatzes und aller assoziativen Vorgänge festzustellen 
haben. Gesichts-, Gehörs-, Tastwahmehmungen gehen ganz normal 
von statten. Sie wecken aber fast ausnahmlos, soweit sie nicht von 
früherher mit starken Lustgefühlen betont sind, immer wieder die¬ 
selben, vom peinlichsten Gefühle begleiteten Vorstellungsgruppen. 
Die Abhängigkeit der eben auftauchenden Gedanken von den eben 
anwesenden Gefühlen oder von derlntensitätdereinst 
mit ihnen verbundenen Gefühle ist so gesetzmäßig, 
daß sie als psychologisches Axiom gelten kann. Es ist daher die ab¬ 
norm häufige Wiederkehr der Vorstellung, homosexuell mißbraucht 
zu werden, auf einen Zustand anhaltender Hyperästhesie der 
Sexualorgane und anhaltender Ängstlichkeit, welche psychologisch 
nicht motiviert sind und, weil ohne Reizerscheinungen an der Peripherie, 
nur endogen zentral bedingt sein können, zweifellos aber auf eine 
krankhafte Störung des Gefühlslebens zu beziehen. Diese krankhafte 
Störung des Gefühlslebens kann aber nicht jene Hyperästhesie des 
Gehörs, der Haut, der Sexualorgane begründen, welche unabhängig 
von der permanenten Beängstigung dem Wahne Inhalt gibt, selbst 
aber wieder von demselben die Farbe des Gefühlstones erhält. Es 
muß demnach ein abnormer funktioneller Reizzustand jener Zentren 
vorliegen, durch welche die Wahrnehmung in das Bewußtsein eintritt, 
eine Phase der Unterernährung aber, vielleicht eben durch jenen Reiz¬ 
zustand bedingt, die übrige Großhirnrinde funktionell herabstimmen. 
Dieser Antagonismus zwischen einem pathologischen Überschuß an 
Nähr- und Funktionsmaterial der niederen Sinneszentren im Gegen- 

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satz zu herabgesetzter kortikaler Leistungfähigkeit ist von Meynert in 
seiner Lehre von dem funktionellen Gegensatz der Stammganglieo zu 
der Großhirnrinde ausgesprochen und durch die besondere Anordnung 
und Form der arteriellen Gefäßbäume der Blutspeisung erklärt worden. 
Der Unterschied zwischen Meynerta Theorie und der meinigen beruht 
im wesentlichen darauf, daß ich statt der funktionellen Gegenüber¬ 
stellung der Stammganglien und der Hirnrinde die kortikalen 
Sinnesfoci selbst mit der der übrigen Gro߬ 
hirnrinde als in einem gesetzmäßigen funktionellen Antagonis¬ 
mus stehend betrachte. 

Es ist gleichgültig, wie man sich diesen postulierten Zustand 
der Unterernährung vorstellen will; sei es unter dem Bilde einer 
primären, vielleicht chemischen Veränderung der Rindenganglien, 
die sich — daraufhin gerichtete Untersuchungen stehen noch aus — 
in konstant wiederkehrenden, wenngleich subtilen Veränderungen der 
Ganglien der stummen Großhirnrinde, auch im histologischen Bilde 
sich spiegeln würden, sei es, daß Vorgänge chronischer Entzündung 
leichterer Art, welche den Ganglienkörper nicht zerstören, nur dessen 
Stoffwechsel störend beeinflussen und verändern, die geweblich zweifellos 
zarter angelegten und gegen Schädlichkeiten empfindlicheren stummen 
Himrindensysteme befallen, sei es, daß eine von Haus aus abnorme 
nervöse Innervation der arteriellen Gefäßbäume durch eine im Leben 
sich später einstellende Veränderung der Gefäßwand stärker hervor¬ 
tritt, indem die kortikale arterielle Reizhyperämie jeder Wahrnehmung 
antagonistisch bis zu einem Krampf der Ringmuskeln sich steigernde 
Kontraktionen in den kortikalen Gefäßgebieten der übrigen Hirnrinde 
nach sich zieht und so die Oxydation der Rindenganglien hemmt 
Die letzte Möglichkeit ist mir die wahrscheinlichste, weil Jahre hin¬ 
durch bestehende entzündliche Affektionen zu einer, wenn auch sehr 
allmählich sich vollziehenden Rückbildung der nervösen Elemente, 
die sich klinisch in einem Niedergang der Intelligenz bekundete, 
führen müßten. Das Charakteristische für die Wahnbildungen der 
chronischen Paranoia ist jedoch gerade die Intaktheit des formellen 
Vorstellungablaufs selbst bis in das höchste Alter. Es ist eine täg¬ 
liche psychologische Erfahrung, daß ein sehr intensiver Reizvorgang 
einer Sinnessphäre Schmerz, in der Folge Unterbindung aller Ge¬ 
dankengänge, endlich Ohnmacht nach sich zieht, was also schon in 


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Über die Mechanik der Wahnbildung. 


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physiologischer Breite jenen Antagonismus der funktionellen Er¬ 
nährungshöhe der beiden Bindensphären anzeigt. Im Gehirn des 
am Wahn Erkrankten ändert sich nur die Intensität, nicht die Qualität 
des Vorgangs. Die Wahrnehmungen, die mit Lust und Unlust sonst 
einhergehen, verbinden sich im Seelenleben der Geisteskranken aus¬ 
schließlich mit peinlichen Gefühlen dann, sobald die Wahrnehmung 
selbst als peinlich empfunden wird. Die Hyperästhesie der Sinnes¬ 
sphären gibt sich auch durch eine abnorme Anspannung der Aufmerk¬ 
samkeit auf jeden eintretenden Sinnesreiz kund, eine Erscheinung, 
die besonders an jedem Halluzinanten prägnant hervortritt. Aber 
auch ohne eigentliche Sinnestäuschungen spricht sich die pathologische 
Hyperästhesie in dem Inhalt gewisser Wahnideen, wie in der Berüh¬ 
rungsfurcht des vorliegenden Falles, dem Vergiftungswahn, der feind¬ 
lichen Beeinflussung durch elektrische Ströme, in Oppressionsempfin- 
dungen und verschiedenartigsten Sensationen hinlänglich klar aus. 
Das wache Bewußtsein wird erfüllt von einem Wechsel der Wahr¬ 
nehmungen verschiedener Sinne, und Gefühle wecken jene Wahr¬ 
nehmungen, denen die Aufmerksamkeit zugewendet wird. Der patho¬ 
logische Mechanismus der Wahnbildung wäre nun darin zu suchen, 
daß alle diese mit pathologisch geschärfter Aufmerksamkeit aufge¬ 
nommenen Sinneseindrücke mit unangenehmen Gefühlen sich asso¬ 
ziieren, woraus ein permanenter Zustand der Beängstigung, der Furcht 
mit starken Abwehraffekten resultiert. 

Nun fragt es sich aber, ob, wenn für diese allgemein peinliche 
Betonung der Vorstellungen ein verhältnismäßig einfacher Mecha¬ 
nismus gefunden werden kann, derselbe den Kern jedes Wahnes zu 
erklären vermag, der eben die Unfähigkeit ist, den aus krank¬ 
hafter Gefühlsbetonung hervorgewachsenenlrr- 
t u m zu korrigieren. Diese funktionelle Lücke hat die Forscher viel¬ 
fach veranlaßt, auf dem Gebiete der Logik das Pathologische des 
sogenannten Vorstellungablaufes zu suchen. Sie vergaßen hierbei 
ganz, daß nicht nur der Inhalt, sondern auch der Eintritt bestimmter 
Gedankengänge ganz von dem eben herrschenden Gefühle abhängt. 
Die gebundenen Affekte hemmen auch das Denken. 

Dem widerspricht aber die Tatsache, daß bei dem Paranoiker 
von einer Denkhemmung nicht die Rede sein kann. Er ist nicht ängst¬ 
lich oder traurig, weil der Gedankenablauf stockt, sondern nur be- 


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v. Niessl-Mayendorf, 


stimmte Wahrnehmungen ängstigen ihn und all sein qual¬ 
voller Gemütszustand knüpft am Wahrnehmen an. Dieser funda¬ 
mentale Gegensatz zu der melancholischen Angst, welche sich allen 
Eindrücken der Außenwelt am liebsten ganz verschließt, stützt gleich¬ 
falls die Annahme des von uns aufgewiesenen Mechanismus für das 
Entstehen einer Wahnidee. 

Wenn aber der kortikale Assoziationsmechanismus des Para¬ 
noikers tadellos funktioniert, wofür der formell vollkommen korrekte 
Ablauf der Gedankengänge Zeugnis gibt, wie ist dann der Mangel 
derKorrektur, der pathologische Kern jeder Wahnbildung zu 
erklären? Diese Lücke ist das Problem. Dem naiven Erklärer ist 
es eine Alogik, ein Fehlen notwendig eintretender Vorstellungen, eine 
intellektuelle Störung, unabhängig von dem Zustand der Gefühle. 

Ein richtiges Verständnis für die mangelhafte Korrektur einer 
Wahnidee eröffnet der Einblick in die Korrektur eines physiologischen 
Irrtums. Nicht nur der Inhalt der korrigierenden Gedankengänge 
vollbringt die Korrektur, sondern es verbindet sich mit ihnen stets, 
sobald diese vollzogen wird, normalerweise ein Gefühl innerer 
Befriedigung. Der Paranoiker ist nun zweifellos fähig, die der 
Möglichkeit seiner Wahnidee entgegenstehenden Gedankengänge zu 
produzieren, er vermag einzusehen, fühlt sich aber durch diese 
Einsicht nicht befriedigt und sucht, um die ihm sich auf¬ 
drängenden Einwendungen, welche ihm sein logischer Apparat ein¬ 
gibt, zu beseitigen, andere, unwahrscheinlichere Gedankengänge zur 
Befestigung seiner Wahnidee, weil ihm diese Gefühle größere Be¬ 
friedigung gewähren, als die den normalen Menschen vollauf be¬ 
friedigenden der Korrektur. 

Es ist ein durch einfache Krankenbeobachtung leicht zu wider¬ 
legender Irrtum, wenn man meint, daß die korrigierenden Gedanken¬ 
gänge im Bewußtsein des Verrückten fehlen, sie selbst fehlen 
nicht, sondern die mit ihnen normalerweise 
befreienden, erlösenden Wohlgefühle fehlen. 
Diese vermögen von dem kranken Großhirn nicht produziert zu 
werden. Daher die Gedankengänge selbst für den Kranken nicht nur 
mit peinlicher Gefühlsbetonung, sondern auch mit einem Gefühl des 
Fremdartigen verbunden sind. 

Wenn ein Geistesgesunder von einem Eisenbahnunglück erfährt 


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Über die Mechanik der Wahnbildung. 


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und befürchtet, durch dieses den Verlust einer geliebten Person be¬ 
klagen zu müssen, dann wird er mit dem leibhaftigen Erscheinen der 
verloren Geglaubten von seiner Befürchtung befreit. Wenn ein Ver¬ 
rückter aber an der Wahnidee leidet, daß ihm der Tod einen Angehörigen 
entriß, dann wird seine Gemütsverfassung wenig dadurch geändert, 
daß ihm der vermeintlich Gestorbene körperlich entgegentritt. Er 
wird die sinnlichen Kennzeichen der Persönlichkeit zwar als bekannte 
wiederfinden und zugeben, denn er leidet an keiner Asymbolie, aber es 
wird ihn die ganze Gestalt fremd anmuten, denn die normale Gefühls¬ 
betonung des normal Wahlgenommenen hat sich geändert, es ist 
ihm infolge einer primären Störung das Gefühlsleben das „Bekannt¬ 
heitsgefühl“ (Arnold Pick) abhanden gekommen. Es soll mit dieser 
Auffassung keineswegs behauptet werden, daß alle Wahrnehmungen 
unterschiedlos von einem unangenehm peinlichen Gefühlston be¬ 
gleitet werden, dies trifft vielmehr bei der melancholischen Gefühls- 
Störung zu. Es bezieht sich diese abnorme Gefühlsbetonung nur auf 
jene Wahrnehmungen, welche mit den wahrhaften Vorstellungskreisen 
einen inneren Zusammenhang besitzen. 

Haben wir im obigen dargetan, daß pathologisch intensive Wahr¬ 
nehmungen vermöge einer gewissen physiologischen Gesetzmäßigkeit 
mit peinlichen Gefühlen sich vereinigen, dann werden auch alle jene 
Wahrnehmungen mit peinlichen Gefühlen wieder einhergehen, welche 
mit den Erinnerungen der ersten Wahrnehmungen, dem Wieder¬ 
aufflackern der Sinnesbilder von einer anderen Stelle der Hirnrinde 
her, von dem Subjekt in irgendeine Beziehung gebracht werden 
können. 

Es erhellt aus diesen Erörterungen, dnß die nächste pathologische 
Voraussetzung für das Entstehen einer Wahnidee in einer krankhaften 
Vbertreibung eines bereits physiologisch vorhandenen funktio¬ 
nellen Antagonismus zwischen den kortikalen Sinnessphären und 
der stummen Hirnrinde zu suchen sein würde, daß eine Hyperfunktion 
dieser mit ihren vasomotorischen Konsequenzen eine Hypofunktion 
jener, vielleicht infolge vasomotorischer Einflüsse, nach sich ziehen 
muß. Es erhellt ferner, daß es sich selbst bei einer durch langjährige 
Systematisierung fixierten Wahnidee nicht um eine dauernde und 
auch histologisch nachweisbare Ernährungstörung der Bindenganglien 
handeln kann, da die Fähigkeit des Großhirns, Wahrnehmungen auch 


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v. Niessl-Mayend orf, 


mit angenehmen Gefühlen zu assoziieren, durchaus nicht schwindet, 
sondern in dem weitgehendsten Vertrauen, in der Liebe des Para¬ 
noikers zu gewissen Personen unzweideutigen klinischen Ausdruck 
gewinnt. Die pathologische Intensität einzelner kortikaler Sinnes¬ 
sphären, welche der von uns vertretene Mechanismus fordert, be¬ 
gründet und erklärt gleichzeitig die pathologische Inten¬ 
sität der Erinnerungen, welche wie die ersten die Wahn¬ 
idee anregenden Wahrnehmungen von sehr starken Gefühlen 
betont sind. Hieraus ergibt sich die Allgegenwart der überwertigen 
Idee, die Superiorität der wahnhaften Vorstellungen in dem Umfange 
des Bewußtseins. 

All dies führt aber noch nicht auf die letzten organischen Ver¬ 
änderungen, welche diesem pathologischen Mechanismus zugrunde 
liegen. Es kann sich nach den obigen Auseinandersetzungen nur um 
eine Veränderung der arteriellen Gefäßrohre oder der diese inner¬ 
vierenden Nerven in den beiden antagonistisch wirkenden Großhim- 
gebieten handeln, weil diese allein eine auf Wahrnehmungen hin 
plötzlich eintretende Herabsetzung oder Steigerung der Er¬ 
nährungsbedingungen herbeizuführen befähigt sein können. Es kann 
eine abnorme Anlage im Gefäßbau von Haus aus bestehen, welche 
in gewissen Altersperioden — die Gefäßwand nimmt an den Ent¬ 
wicklungstufen der Gewebe den augenfälligsten Anteil — immer 
stärker zum Ausdruck gelangt, hierdurch würde auch der im Keim 
angelegte Antagonismus ausgeprägter und als pathologische Erschei¬ 
nung palpabel. Diese Annahme gerät mit der Tatsächlichkeit nicht 
in Widerspruch, wenn man die von kundigen Histologen gemachte 
Versicherung, daß selbst innerhalb physiologischer Breite die geweb¬ 
liche Zusammensetzung der Großhirnrindengefäße den größten Ver¬ 
schiedenheiten unterliegt, berücksichtigt, wenn man die schon bei 
Lupenvergrößerungen normalerweise sich aufdrängende Größenver¬ 
schiedenheit zwischen den Arterien der Sinnessphären und der stummen 
Hirnteile miteinander vergleicht, und wenn man die nach neueren 
und neuesten Befunden sichergestellte Prominenz der Gefäßerkrankung 
bei der progressiven Paralyse, deren pathologischer Prozeß nach den 
Wägungen von Sepilli und Tamburini , nach den rinden-histologischen 
Untersuchungen Binswangers und den Studien Schaffers am gesamten 
Hemisphärenmark in ersterLinie und am intensivsten 


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Über die Mechanik der Wahnbildong. 


325 


die stummen Himteile befällt, als einen Beweis der geringeren Wider¬ 
standkraft der arteriellen Gefäße dieser Hirngegenden in Rechnung 
zieht. Eine chronische Infektionskrankheit des Großhirns dürfte 
sicher auszuschließen sein, da wie bei der Paralyse nicht nur die Rinde 
der stummen Großhirnteile, sondern auch die der Sinnessphären im 
weiteren Verlaufe Schaden leiden, ja ein Fortschreiten des Prozesses 
mit einem allmählichen Schwinden der Großhirnfunktionen in einem 
endlichen Blödsinn sich klinisch offenbaren müßte. 

Ich bin mir vollkommen bewußt, mit der Aufstellung dieses Ge- 
himmechanismus nichts weiter als eine Möglichkeit für das 
Zustandekommen einer Wahnidee gefunden zu haben, diese stützt 
sich aber auf eine geschlossene Kette von Folgerungen aus und 
eine Kombination von Tatsachen. 

Die einzelne Tatsache im anatomischen Bilde, der elementare 
Vorgang, welchen einzig das Experiment nach Fechner zu bieten ver¬ 
mag, steht heute im höchsten Ansehen und Werte. Niemals wird es 
aber gelingen, durch diese anscheinend objektivste Methodik, bei 
welcher der subjektive Faktor der Wahrnehmung so leicht übersehen 
wird, den Zusammenhang des Einzelnen in so komplexen Er¬ 
scheinungen wie den psychischen zu entdecken, ohne dessen Findung 
jedoch jeder Versuch in das Gesetzmäßige der Gehirnmechanik ein¬ 
zudringen, illusorisch ist. 


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Nahrungsverweigerung hei Geisteskranken. 1 ) 

Von 

Dr. Hermann Krneger, jetzt Königslutter (Braunschweig). 

Die Ernährung Geisteskranker ist eine der schwierigsten Aufgaben 
ihrer Pfleger. Wie beim Gesunden psychische Einflüsse den Appetit 
in hohem Grade beeinflussen, so tun es auch die psychischen Erkran¬ 
kungen. Dabei ist andererseits bei vielen Psychosen die Prognose 
teilweise vom Stande der Ernährung abhängig, besonders bei den 
akuten, heilbaren Geistesstörungen. 

Eine Beduktion des Kräftezustandes kann zweierlei Ursachen 
haben. Entweder ist die Ausgabe der Körperkräfte wie bei den mit 
Erregungszuständen verbundenen Geisteskrankheiten eine derartig 
große, daß auch bei guter Nahrungsaufnahme die Stoffwechselbilanz 
mit einem Minus abschließt, oder aber es ist die Einnahme von Nähr¬ 
stoffen eine zu geringe. Die Nahrungsverweigerung bildet bei Geistes¬ 
kranken immer ein höchst bedrohliches Symptom, und sie ist mehr 
wie ein Symptom, denn mit dem Kräftezustand steigt und fällt sehr 
oft die Prognose. 

Die Nahrungsverweigerung kann eine vollständige oder eine 
teilweise sein. Die letztere ist die dem Kranken bei weitem gefähr¬ 
lichere. Bei völliger Abstinenz ist das Handeln des Arztes klar. Eine 
bestimmte Zeit wird er je nach dem Kräftezustand des Kranken 
zuwarten, dann mit künstlicher Ernährung beginnen. Die Gründe 
für diese Art der Abstinenz sind meist plötzlich aufschießende, von 
denen man annehmen darf, daß sie ebenso schnell in den günstig 
verlaufenden Fällen verschwinden. Weit schlimmer sind die Fälle, 
in denen die Kranken Wochen und Monate lang immer etwas, aber 

1 ) Aus der psychiatrischen Klinik der Universität Rostock. Direktor: 
Geh. Med.-Rat Professor Dr. Schuchardu 


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Nahrungsverweigerung bei Geisteskranken. 


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nie genügend Nahrung zu sich nehmen, wo die Kranken mit den 
Speisen schmieren und so nicht einmal schätzungweise die tatsäch¬ 
liche Nahrungsaufnahme feststellen lassen und besonders der Arzt 
verführt wird, sich abwartend zu verhalten. Diese Fälle erliegen am 
ersten den akut fieberhaften wie den kachektischen Krankheiten. 
Immer ist die Prognose dabei abhängig von dem Standpunkte, den 
der behandelnde Arzt zur Frage der künstlichen Ernährung, vor 
allem der Ernährung durch die Schlundsonde, einnimmt. Die Er¬ 
gebnisse einer Durchsicht des hiesigen Materials auf Ursachen der 
Nahrungsverweigerung Geisteskranker, ihre Wirkung auf den Aus¬ 
gang und ihre Behandlung seien im folgenden niedergelegt. 

Lohnt es sich denn überhaupt, Untersuchungen über die Nahrungs¬ 
verweigerung bei Geisteskranken zu machen? 

Bei meinen Erhebungen über diesen Punkt habe ich nur die Fälle 
genommen, deren Anstaltaufenthalt sich mindestens über Monate 
hinzog; ferner habe ich die Fälle, in denen interkurrierende körperliche 
Erkrankungen zu zeitweiser Appetitlosigkeit führen mußten, ausge- 
geschaltet, soweit sich der Grad der mangelhaften Nahrungsaufnahme 
in physiologischen Grenzen hielt, und schließlich habe ich die mangel¬ 
hafte Nahrungsaufnahme in den ersten Tagen des Anstaltaufenthaltes 
unbeachtet gelassen. 

In den ersten Tagen des Anstaltaufenthaltes läßt der Appetit 
der Kranken meist wesentlich zu wünschen übrig. Schon beim geistig 
normalen Menschen wirkt ein Aufenthaltwechsel, der ihn von seinen 
Angehörigen trennt, besonders auch der Eintritt in eine Kranken¬ 
anstalt, appetitvermindernd. Wieviel mehr muß es die Versetzung 
in eine Irrenanstalt tun, wo doch der größere Teil unserer Kranken 
sich für gesund hält, den Anstaltaufenthalt also für einen unerträg¬ 
lichen Zwang. Eine derartige Appetitlosigkeit hält meist 2—3 Tage 
an, dann überwindet der Hunger zusammen mit der Gewöhnung den 
depressiven oder Zornaffekt. Nicht betroffen werden von dieser Appe¬ 
titverminderung einmal die mit starker Exaltation einhergehenden Fälle, 
weiter die Fälle mit massenhaften Sinnestäuschungen und endlich die 
Falle, wo die Demenz schon wesentlich fortgeschritten ist. Der¬ 
artigen Kranken ist ihre Umgebung eben gleichgültig. 

Unter 400 geisteskranken Frauen verschiedenster Art, wie sie in 
den letzten sieben Jahren hier verpflegt wurden, habe ich 146, d. h. 


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Krueger, 


36,6% gefunden, bei denen längere Zeit oder wiederholt kürzere Zeit 
mangelhafte Nahrungsaufnahme verzeichnet stand. Unter diesen 
erreichte die Nahrungsverweigerung in 30 Fällen, d. h. 7,5%, einen 
so hohen Grad, daß die Ernährung mit der Schlundsonde eintreten 
mußte. 

Unter 300 Männern, die in dem gleichen Zeitraum hier verpflegt 
wurden, ist eine längere mangelhafte Nahrungsaufnahme nur in 
73 Fällen, = 24,33%, vermerkt, davon mußten 11 = 3,66% mit der 
Schlundsonde gefüttert werden. 

Im ganzen sind seit dem Bestehen der hiesigen Klinik 67 weibliche 
und 20 männliche Patienten wegen völliger Nahrungsverweigerung 
mit der Sonde gefüttert worden, d. h. jährlich etwa 1,65% der Kranken- 
zahl. Ähnliche Zahlen habe ich auch in den Jahresberichten anderer 
Anstalten verzeichnet gefunden. 

Eigentümlich an diesen Zahlen ist das starke Überwie¬ 
gen des weiblichen Geschlechtes in der Zahl der 
Zwangsfütterungen. Dabei verteilen sich die Zahlen auf die verschie¬ 
denen in Betracht kommenden Ursachen der Nahrungsverweigerung 
wie auch auf die verschiedenen Psychosen ziemlich gleichmäßig. Auch 
der Prozentsatz der kurzdauernden Fütterungen bei beiden Ge¬ 
schlechtern ist annähernd gleich (bei Männern 70, bei Frauen 64%). 
Es scheint also der weibliche Organismus eine unzureichende Er¬ 
nährung weniger lange ertragen zu können, ohne daß bedrohliehe 
Erscheinungen auftreten, als der männliche. 

Die Frage nach den Ursachen der Nahrungsverweigerung hat 
je nach der Auffassung der verschiedenen psycho-pathologischen 
Zustände eine wechselnde Beantwortung erfahren. 

Eickholt stellte nach Emminghaus einer instinktiven eine psychisch 
motivierte, d. h. auf Sinnestäuschungen und Wahnvorstellungen beruhende 
Nahrungsverweigerung gegenüber. Es wurde die Nahrungsverweigerung 
bei der Melancholie und beim Blödsinn als instinktive aufgefaßt, da sie 
,,aus dem hohen Grade von Passivität, Reaktions- und Energielosigkeit“ 
resultiere. In diesen Fällen war die Abstinenz das Symptom einer Krankheit, 
zur Komplikation derselben wurde sie in den Fällen, in welchen neben 
der Psychose Verdauungstörungen einhergingen. 

Ich möchte die Fälle von Nahrungsverweigerung in solche ein¬ 
teilen, die psychisch, und solche, die somatisch bedingt sind. Zwischen 
beiden würden dann noch die Fälle stehen, in denen unangenehme 


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Nahrungsverweigerung bei Geisteskranken. 


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somatische Beschwerden zu einer illusionären Verfälschung führen und 
so Anlaß zu einer Abstinenz aus psychischen Gründen geben. Dabei 
kann man die psychisch bedingte Nahrungsverweigerung als Symptom, 
die somatisch bedingte als Komplikation auffassen, sofern nicht das 
die Nahrungsverweigerung bedingende körperliche Leiden die Ur¬ 
sache für die ganze Geisteskrankheit bildet. 

Unter den psychischen Ursachen kommen sowohl die krankhaften 
Äußerungen unseres Affektlebens wie krankhafte Vorstellungen und 
Empfindungen in Betracht. 

Von den Affekten haben die depressiven schon beim 
psychisch normalen Menschen einen appetitvermindernden Einfluß. 
Kummer und Sorge, ebenso wie die physiologischen Grade der Angst 
machen den Menschen mehr oder weniger appetitlos. Aber, wie die phy¬ 
siologische Niedergeschlagenheit und Angst nur bis zu einem bestimmten, 
allerdings individuell sehr verschiedenen Grade ansteigt, erreicht auch die 
Appetitlosigkeit und damit die mangelhafte Nahrungsaufnahme nur 
•>ine bestimmte Grenze. Das natürliche Nahrungsbedürfnis wird stärker 
als der Affekt, und eine reichliche Nahrungsaufnahme pflegt auch die 
Wiederherstellung des seelischen Gleichgewichts zu fördern. Anders beim 
geistig erkrankten Individuum. Wie sich der Affekt in einem der Ursache 
gar nicht entsprechenden Maße steigert, so vermindert sich auch die 
Nahrungsaufnahme weit unter die Grenze des Physiologischen. Die 
Kranken nehmen nichts aus dem Gefühl völliger Appetitlosigkeit und 
lassen sich auch nur widerwillig füttern. Die vorhandene Hemmung 
unterstützt die Widerstrebenden dabei. Geht die Drepression noch weiter, 
5« werden auch die Versündigungs- oder hypochondrischen Ideen nie 
fehlen, und gerade in diesen schweren Fällen treten dann auch Halluzi¬ 
nationen und Illusionen auf. Endlich kann bei hochgradiger Depression 
auch der Gedanke des Lebensüberdrusses Ursache für die Nahrungs¬ 
verweigerung sein. 

Die Hemmung als solche beeinflußt auch ohne Depression die 
Nahrungsaufnahme sehr ungünstig, wenn auch in den meisten Fällen 
»las Hungergefühl schließlich obsiegt. Auch die Apathie vermindert in 
ihren höheren Graden die Nahrungsaufnahme, doch wird es zu schwererer 
Abstinenz meist nicht kommen, da die vegetativen Funktionen lange 
Zeit gut erhalten bleiben. Allerdings wird ein solcher Kranker immer 
gefüttert werden müssen. Seine Affekte und sein Handeln gleichen eben 
denen der jüngsten Kindheit in allem. 

Ebenso wie eine frohe und heitere Gemütstimmung physiologisch 
die Eßlust steigert, auch tatsächlich zu vermehrter Nahrungsaufnahme 
führt, so tut es auch die pathologische heitere Verstimmung. 
Die Nahrungsaufnahme ist bei mäßiger Hyperthymie eine recht gute, 


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Krueger, 


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steigert sich auch bis zu einem gewissen Grade im Verhältnis zur Stärke 
des Affekts. Dann aber, bei noch weiterer Steigerung der Exaltation, 
sinkt die Nahrungsaufnahme. Der Appetit mag gleichbleiben, aber der 
Kranke wird von tausend anderen Dingen in buntem Wechsel in An¬ 
spruch genommen, so daß er zum Essen keine Zeit mehr hat; seine Hyper- 
vigilität läßt ihn den Löffel auf dem Wege zum Munde wieder senken 
oder den Inhalt desselben verschütten. In den höchsten Graden der Tob¬ 
sucht ist er dann auch nicht mehr mit dem Löffel zu füttern, er nimmt 
keinerlei Nahrung, speit die genommene oft wieder aus. Sein heiterer 
Affekt läßt ihn dabei in diesem Stadium jeden Zwang doppelt stark 
empfinden, und aus Zorn darüber widersetzt er sich der Nahrungsaufnahme 
vollständig. 

Von den Störungen des Vorstellens sind die Zwangsvorstel¬ 
lungen für die Nahrungsaufnahme kaum jemals von Bedeutung. 
Wenn ein Kranker an der Vorstellung leidet, er schneide, wenn er das 
Fleisch zu seiner Mahlzeit schneidet, in den Körper seines Bruders, so 
wird das nie Ursache einer Nahrungsverweigerung werden; er wird sich 
einfach sein Fleisch geschnitten geben lassen, im Notfall sich einmal mit 
Vegetabilien begnügen. 

Von großer Bedeutung sind dagegen die Wahnvorstellungen. 
Der Größenwahn schaltet dabei aus. Bei ihm wird im Gegenteil meist 
eine gute Nahrungsaufnahme gemäß seiner krankhaft heiteren Affekt¬ 
lage stattfinden. Es kommt ja vor, daß der Kranke die Speisen für seine 
Person zu schlecht hält, sie deshalb verschüttet, dem Pfleger ins Gesicht 
schleudert, aber meist wird ihn der Hunger die nächste Mahlzeit um so 
gieriger verzehren lassen. Dagegen können Verfolgungsvorstellungen 
ebenso wie alle Formen des Kleinheitswahnes Nahrungsverweigerung 
bedingen. 

Unter den Verfolgungsvorstellungen sind es naturgemäß die Ver¬ 
giftungsvorstellungen, die die Nahrungsaufnahme am meisten beein¬ 
flussen. Daß man mühelos einen Menschen dadurch aus der Welt schaffen 
kann, daß man seinen Speisen Gift zusetzt, weiß jeder. Es ist deshalb 
ein gelegener Anknüpfungspunkt für persekutorische Wahnvorstellungen. 
Geschmacks- und Geruchshalluzinationen wie krankhafte oder normale 
Organgefühle geben meist den Anlaß dazu. Bald sind die Vorstellungen 
ganz unbestimmt; der Kranke glaubt, man wolle ihn vergiften oder durch 
Betäubungsmittel schädigen, bald nehmen sie bestimmte Form an: Phos¬ 
phor, Arsenik, Lysol, sehr häufig bei Paralytikern mit Vergiftungsideen 
auch Quecksilber und Sublimat werden ins Essen getan, um sie aus dem 
Wege zu schaffen. Daß ein Mensch mit solchen Wahnvorstellungen nichts 
ißt, ist ganz verständlich, und man muß sich eher wundern, daß er trotz 
solcher Vorstellungen meist doch ißt. Es ist das daraus zu erklären, daß 
die Wahnideen häufig nur eine geringe Lebhaftigkeit haben, daß 
das instinktive Gefühl des Hungers sie überwindet. In einem meiner Fälle 


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Nahrungsverweigerung bei Geisteskranken. 


331 


war es auch so, daß die Vergiftungsfurcht immer erst nach der Mahlzeit 
auftrat, wahrscheinlich hervorgerufen durch gastro-intestinale Sensa¬ 
tionen; in einem anderen Falle gab der Kranke, der längere Zeit mit der 
Schlundsonde gefüttert war, als Grund für seine spontane Nahrungsauf¬ 
nahme an, daß wohl immer noch Gift im Essen sei, aber dasselbe könne 
ihm jetzt nicht mehr schaden. Es hatte also eine leichte Größenidee die 
Vergiftungsfurcht kompensiert. Schwerwiegend werden diese Ideen in 
den Fällen, in denen neben ihnen eine Störung der Empfindungen, d. h. 
besonders der Empfindung des Hungers vorhanden ist, sei es, daß eine 
schwere Depression den Kranken beherrscht, sei es, daß eine organische 
oder funktionelle Lähmung des Vago-Akzessorius die Psychose kompli¬ 
ziert, weiter endlich bei vorgeschrittener Demenz. 

Die Verarmungsideen beeinflussen die Nahrungsaufnahme eben¬ 
falls. Die Vorstellungen, das Essen nicht bezahlen zu können, all ihr Hab 
und Gut zu verzehren, so daß ihre Angehörigen darben müßten, haben oft 
deletären Einfluß auf die Kranken. Dazu kommen dann noch die Depres¬ 
sion über dieses traurige Schicksal, die besonders bei wohl situierten 
Geisteskranken groß ist, und schließlich häufig Versündigungsvorstellungen. 

Vorstellungen der letzteren Art sind bei Kranken, die das Symptom 
der Nahrungsverweigerung bieten, sehr häufig. Es ist durchaus logisch, 
daß bei einem Geisteskranken, dessen Vorstellungskreis wesentlich einge¬ 
engt ist, zu dem Gefühl, eine schwere Sünde begangen, gar die ganze Welt 
zugrunde gerichtet zu haben, der Gedanke hinzukommt: Du bist nicht 
mehr wert, die Luft zu atmen, Nahrung zu Dir zu nehmen. Maßlos wie 
die Versündigungsideen sind auch die Reaktionen auf dieselben. Aber 
auch der psychisch Gesunde, der aus Fahrlässigkeit ein Unglück ver¬ 
schuldet hat, verübt oft Selbstmord. Dasselbe Gefühl leitet sicher oft 
auch den Geisteskranken, nur, daß er mangels anderer Möglichkeit den 
Tod durch Verhungern sucht. Daß die Depression eine große Rolle dabei 
spielt, ist selbstverständlich. 

Von noch größerer Bedeutung ist der Krankheitswahn. Wie phy¬ 
siologisch bei jeder körperlichen Krankheit, besonders jeder Krankheit 
der Verdauungsorgane, der Appetit sich verringert, so geschieht es auch 
bei den Geisteskrankheiten mit hypochondrischen Wahnvorstellungen. 
Nur ist hier die Appetitlosigkeit und damit der Widerstand gegen die 
Nahrungsaufnahme weit stärker, weil auch die hypochondrischen Ideen 
weit maßloser als die natürlichen Störungen sind. Diese Gruppe steht 
sicher in fließenden Übergängen zu den somatischen Ursachen der Nah¬ 
rungsverweigerung. Eis ist wohl anzunehmen, daß in den Fällen, wo ein 
Kranker an Magenkrebs zu leiden glaubt, wenigstens ein leichter Magen- 
katarrh besteht, daß leichte Sensationen von seiten des Gastrointestinal- 
traktus durch illusionäre Auslegung die Vorstellungen vom Abfaulen der 
Eingeweide, Verschluß des Darmes usw. wachrufen. Die hypochon¬ 
drischen Wahnideen sind jedenfalls von größtem Einfluß auf die Nahrungs- 


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Kraeger, 


aufnahme. Es kommt bei ihnen besonders gerade zu der teilweisen Nah¬ 
rungsverweigerung, die die Kranken langsam, aber stetig dem Kräfte¬ 
verfall näher bringt. 

Von den Störungen der Empfindung sind die Illusionen weit 
häufiger Ursache von Nahrungsverweigerung als die Halluzinationen. 
Von den letzteren sind es hauptsächlich die mit Wahnvorstellungen auf¬ 
tretenden und weiterhin die im Gebiete des Geschmacks- und Geruchs¬ 
nerven, die zu Abstinenz führen. Wenn einem Kranken alles bitter schmeckt 
wenn jede Speise den Geschmack von Rattengift, Kot usw. hat, so wird 
er sie ebensowenig essen, als in den Fällen, wo Phosphor- oder Schwefel¬ 
dämpfe oder allgemein „üble Gerüche“ von den Speisen aufzusteigen 
scheinen. Nur dem Umstande, daß diese Art der Halluzinationen ver¬ 
hältnismäßig selten ist, ist es zu danken, daß die schwere Nahrungs¬ 
verweigerung nicht noch häufiger bei unseren Geisteskranken ist. 

Von großer Bedeutung ist die Zahl der Sinnestäuschungen. Ein 
massenhaftes Einstürmen läßt den Kränken ebenso wie die Tobsucht 
gar keine Zeit zum Essen. Nur mit Mühe wird man einem derartigen 
Kranken die Nahrung einlöffeln können, meist wird er den Bissen im Munde 
behalten, die Flüssigkeit wieder herauslaufen lassen, weil er inzwischen 
schon wieder von neuen Erscheinungen in Anspruch genommen ist und 
das Schlucken vergessen hat. Weiter sind wichtig die imperativen 
Gehörstäuschungen. Wenn ein Kranker hört, wie Gott, Christus, der 
Kaiser ihm zuruft: „Du sollst nichts essen“, so wird ihm sicher nichts 
beizubringen sein. Den Grad der Nahrungsverweigerung wird auch hier 
die Stärke der Erscheinungen bestimmen. Ebenso wird jede Fütterung 
bei Kranken mit faszinierenden Visionen erfolglos sein. 

Die Illusionen führen hinüber in das Gebiet der somatischen 
Ursachen der Nahrungsverweigerung. Diese liegen häufig schon im 
Munde. Stomatitiden, Anginen, besonders auch Zahnschmerzen sind bei 
Geisteskranken sehr häufige Erscheinungen und beeinflussen die Nahrungs¬ 
aufnahme sehr. Die Kranken beißen dabei die Zähne fest aufeinander, 
und der Mangel einer Behandlung läßt das zugrunde liegende übel nur 
noch schlimmer werden. Die mannigfachen Magendarmkrankheiten, die 
bei den Geisteskrankheiten, besonders den mit Defekten einhergehenden 
Formen, infolge der mangelhaften Einsicht in das, was zuträglich und 
unzuträglich ist, infolge der häufig direkt tierischen Art, alles Eßbare, 
ob verdorben oder unverdorben, zu verschlingen, sehr häufig sind, geben 
naturgemäß zur Nahrungsverweigerung häufig Anlaß. 

Weiter kann eine mangelhafte Nahrungsaufnahme durch orga¬ 
nische Erkrankungen der Nervengebiete, die den Schluckakt 
auslösen, bedingt sein. Das ist unter den mit psychischen Alterationen 
einhergehenden Krankheiten hauptsächlich bei der Dementia paralytica 
und bei den Schlaganfällen der Fall. Die Störungen sind meist nur vor¬ 
übergehende. Wenn das Leben überhaupt erhalten bleibt, so sind diese 
Störungen meist die ersten, die sich wieder ausgleichen. 


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Nahrungsverweigerung bei Geisteskranken. 


333 


Schließlich ist noch des Eigensinnes vieler Geisteskranker als 
Grandes für die Nahrungsverweigerung zu gedenken. 

Ein Kranker, der nebenbei Vergiftungsideen äußerte, verlangte 
binnen 24 Stunden seine Entlassung, sonst würde er keine Nahrung mehr 
zu sich nehmen. 5 Tage beschränkte er sich auf ganz geringe Quantitäten 
Flüssigkeit. Als dann zur Sondenfütterung geschritten werden sollte, 
trank er die Ernährungsflüssigkeit aus, nahm dann 2 Tage wieder nichts, 
wurde hierauf 2 Tage mit der Schlundsonde gefüttert und aß seitdem mit 
gutem Appetit. Die Vergiftungsideen bestanden weiter. 

In anderen Fällen erklärten die Kranken: „Ich will aus Trotz nichts 
essen“, oder „Jetzt will ich gerade nicht essen“. Wieweit andere Ur¬ 
sachen der Nahrungsverweigerung in diesen Fällen unterstützend wirken, 
ist fraglich. Bei einer Kranken mit Dem. praecox auf 'dem Boden 
einer Hysterie erleichterte die ausgebreitete Analgesie, die sich auch auf 
den Magen erstreckt haben dürfte, die Ausführung des Vorhabens sehr, 
sonst dürften wohl meist Verfolgungsideen mit den Grund für die Ab¬ 
stinenz bieten. 

Der von Schule vertretenen Ansicht, daß die Nahrungsverweigerung 
bei Delirium acutum und bei der Manie in einer außerordentlich 
gesteigerten Reizbarkeit des motorischen Systems ihre Ursache habe, 
und daß der Reflexkrampf der Schlingmuskeln die Aufnahme der 
Nahrung hindere, bedürfen wir heute nicht mehr. Wir kommen 
mit den Erklärungen aus dem Affekt und den Empfindungsstörungen 
bei beiden Krankheiten vollkommen aus. 

Was die Häufigkeit der einzelnen Ursachen 
der Nahrungsverweigerung betrifft, so sind natürlich genaue Zahlen 
nicht zu geben, da die Gründe dafür bei vielen Kranken öfter wechseln. 
Unter 87 Fällen künstlicher Ernährung wurden 39 mal im Zusammen¬ 
hang mit der Nahrungsverweigerung Wahnvorstellungen geäußert, 
davon 7 mal allgemeine Verfolgungsideen, 13 mal Vergiftungsvorstel¬ 
lungen, 9 mal Versündigungs- und 10 mal hypochondrische Ideen. 
In 24 Fällen ließ die allgemeine Hemmung, sei es, daß dieselbe mit 
Depression einherging, sei es, daß sie das Bild der Katatonie oder des 
Stupors zeigte, die Kranken die Nahrungsaufnahme verweigern. Es 
ist selbstverständlich, daß in vielen dieser Fälle nicht geäußerte Wahn¬ 
ideen vorhanden gewesen sind. In 8 Fällen war starke Tobsucht das 
einzig sichere Moment für die Nahrungsverweigerung. In 7 Fällen 
beherrschten Halluzinationen den Kranken, darunter 4 mal Ge¬ 
schmacks-, 3 mal Gehörstäuschungen. In 4 Fällen bildete die krank- 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXLX. 3. 23 


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334 


Krueger. 


hafte Eigenwilligkeit den direkten Grund für die Abstinenz. In 
2 Fällen wurden Selbstmordideen geäußert, in 3 Fällen endlich waren 
es rein körperliche Zustände (2 mal Lungenentzündung, 1 mal Darm¬ 
tuberkulose), die Ursache für die Anwendung der Schlundsonde in 
den letzten Lebenstagen wurden. 

An Häufigkeit der Nahrungsverweigerung steht allen Krank¬ 
heiten voran die Dementia praecox mit 35 von 87 Fällen. 
Der Beweggrund für die Abstinenz war 18 mal die katatonische Hem¬ 
mung, 15 mal hinderten Wahnideen die Nahrungsaufnahme, 2 mal 
Halluzinationen; in 2 Fällen schien der krankhafte Eigensinn den 
direkten Grund zu bilden, in einem anderen Falle wurden Selbst¬ 
mordgedanken geäußert. In 16 Fällen kam es bei a k u t e m h a 11 u - 
zinatorischem Irresein zu Nahrungsverweigerung, da¬ 
runter 4 mal bei gänzlicher Verwirrtheit, die übrigen Male unter dem 
Einfluß bestimmter Sinnestäuschungen. An dritter Stelle steht die 
Dementia senilis mit 11 Fällen. Wahnvorstellungen beein¬ 
flußten 8 mal die Kranken, 2 mal ließ sich nur der hochgradige Stupor 
als Ursache feststellen, einmal bestand tobsüchtige Erregung. Die 
Melancholie stellt 8 Fälle von Abstinenz; unter ihnen sind 
7 mal Wahnideen (3 mal Versündigungs-, je 2 mal Vergiftungs- und 
Krankheitswahn) die Ursache, 1 mal wurde nichts derartiges geäußert, 
dagegen bestand sehr starke Depression. Bei Manischen wurde 
2 mal die Schlundsondenfütterung notwendig; beide Male handelte 
es sich um hochgradige Tobsucht. Ferner wurden öParanoiker 
gefüttert. Außer bei einem Fall, bei dem ein körperliches Leiden 
die Ursache abgab, handelte es sich um Verfolgungsvorstellungen, zu 
denen in 2 Fällen die krankhafte Eigenwilligkeit als dominierendes 
Symptom hinzukam. Dabei war bei allen bereits eine sekundäre 
Demenz leichteren Grades vorhanden. Bei Imbezillen mußte 
7 mal zur Schlundsonde gegriffen werden, dabei war bei 2 Idioten 
der allgemeine Stupor die Ursache, in einem Falle wurden hypochon¬ 
drische Ideen geäußert, in einem anderen bestand hochgradige Tob¬ 
sucht, 1 mal waren Selbstmordgedanken die Ursache, in 2 Fällen 
bestand ein schweres körperliches Leiden. Von 2 Fällen von Hy¬ 
sterie, die jedenfalls beide auf Dem. praecox sehr verdächtig sind, 
wurden 1 mal Gcschmackshalluzinationen geäußert, im zweiten war 
ein stuporöser Zustand die Ursache der Nahrungsverweigerung. Be- 


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Nahrungsverweigerung bei Geisteskranken. 


335 


denkliche Nahrungsverweigerung bei Paralytikern hat sich 
unter meinen Fällen nicht gefunden. 

Die Dauer der schweren Abstinenz schwankt zwischen wenigen 
Tagen und Monaten. Während in 57 Fällen nach einer Sonden¬ 
fütterung bis zu 6 Tagen die natürliche Nahrungsaufnahme wieder 
eintrat, mußte in 11 Fällen die künstliche Ernährung 1 bis 8 Monate 
angewandt werden. Von den Fällen mit kurzdauernder Fütterung 
genügte in 19 Fällen eine eintägige, oft nur eine einmalige Anwendung 
der Schlundsonde, um den Kranken zur selbständigen Nahrungs¬ 
aufnahme zu bringen. Dabei ist die Zahl der Fälle ziemlich hoch, 
die einige Tage gefüttert wurden, dann wieder Nahrung zu sich nahmen, 
nach einiger Zeit wieder abstinierten, abermals gefüttert wurden usw. 
Es handelte sich in fast allen Fällen der letzterwähnten Art um Dem. 
praecox mit Katatonie. 

Was die Art der Krankheit anbetrifft, so waren unter den 57 Fällen, 
in denen die künstliche Ernährung weniger als eine Woche dauerte, 
19 akute Psychosen ohne Intelligenzdefekt (Manie, Melancholie, 
akutes halluzinatorisches Irresein). Die Fälle, die über 2 Wochen 
gefüttert werden mußten, gehörten zu den mit Intelligenzdefekt ver¬ 
bundenen Geistesstörungen (Dem. praecox, Dem. senilis, Imbezillität) 
mit Ausnahme eines Falles von Paranoia, der aber schon Zeichen 
von sekundärem Schwachsinn bot, ebenso wie 2 Fälle von seniler 
Melancholie. 

Daß die Prognose der Krankheitfälle mit Nahrungsverwei¬ 
gerung schlechter ist als die ohne dieselbe, ist einleuchtend. Die durch 
die mangelhafte Nahrungsaufnahme hervorgerufene Verringerung der 
Widerstandkraft läßt die Kranken schädigenden Einflüssen eher er¬ 
liegen. Ferner handelt es sich bei den mit länger dauernder Nahrungs¬ 
verweigerung einhergehenden Krankheitfällen meist um „schwere“ 
Fälle ihrer Art. So sind von den mir zu Gebote stehenden Fällen 
etwa die Hälfte (bei den Frauen 48,71%, bei den Männern 60%) 
gestorben. Dabei war unter 87 Fällen einer, in dem die künstliche 
Ernährung als solche indirekt den Tod herbeiführte, insofern ein 
längere Zeit gefüttertes junges Mädchen, das absichtlich die Speisen 
neben der Sonde wieder herauspreßte, einer Lungengangrän erlag. 

Welche Mittel haben wir nun zur Bekämpfungder Nah¬ 
rungsverweigerung, welche stehen uns zu Gebote, dem 

23* 


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Krueger, 


Kranken während der Abstinenz Nahrung zuzuführen, welche, ihn 
wieder zur selbständigen Nahrungsaufnahme zu veranlassen? 

Unsere Tätigkeit muß sich hierbei stets darauf richten, zuerst die 
Ursachen für die mangelhafte Nahrungsaufnahme zu ergründen und 
darnach zu entscheiden, wie man dieses unangenehme Symptom 
beseitigen will. 

Wie die Abstinenz meist psychisch bedingt ist, muß man zuerst 
immer versuchen, durch psychische Beeinflussung Abhilfe zu schaffen. 
Vor allem gehört dazu gutes Zureden und Nötigen. Viele Kranke, 
die das Essen, stellte man es ihnen einfach hin, nicht anrühren würden, 
essen es unter gutem Zuspruch zu Ende auf, eine Wirkung, die ja auch 
jeder geistig gesunde Mensch an sich beobachten kann. Es sind 
besonders die Kranken, bei denen die mangelhafte Nahrungsaufnahme 
in einem leichten depressiven Affekt und der allgemeinen Hemmung 
begründet ist. Große Geduld muß auch dabei Eigenschaft jedes Pflegers 
von Geisteskranken sein. 

Während bei dem einen Kranken gutes Zureden hilft, wird es 
bei dem anderen das Gegenteil hervorbringen; jeder, auch der leiseste 
Zwang wird das Motiv, „sich gegenüber der schmerzlich und feindlich 
empfundenen Außenwelt in Opposition zu setzen ( Krafft-Ebing)'\ 
nur noch verstärken. Aber glücklicherweise ist in diesen Fällen meist 
das Hungergefühl in den Momenten jedenfalls, wo zum Hervorkehren 
der Opposition kein Grund vorliegt, stärker als die letztere. Man 
wird in diesen Fällen dadurch zum Ziele kommen, daß man die Nah¬ 
rungsverweigerung scheinbar unbeachtet läßt, den Kranken weiterhin 
das Essen ans Bett stellen und dort bis zur nächsten Mahlzeit stehen 
läßt. In Augenblicken, wo sie sich unbeobachtet glauben (die Einzel¬ 
zimmerbehandlung ist dafür sehr geeignet), werden diese Kranken 
schnell einen Teil oder das Ganze zu sich nehmen, was ebenso wieder 
weder vom Arzte noch vom Pflegepersonal beachtet werden darf. 
Wichtig ist dabei immer, über die Menge der tatsächlich genossenen 
Speisen Kontrolle zu führen. 

Den Kranken mit Vergiftungsfurcht wird man das Essen vor¬ 
kosten lassen, unter Umständen ohne ein Wort der Erklärung. Die 
Kranken selber bringen uns oft auf diesen Ausweg. Einer unserer 
Patienten verlangte es direkt, oder er nahm anderen Kranken ihr 


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Nahrungsverweigerung bei Geisteskranken. 


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Essen weg und ließ sein eigenes stehen, ein Umstand, den man sich 
eventuell ruhig zunutze machen kann. 

Hierher gehört auch ein im Jahresbericht der Pflegeanstalt Tost 
(1910) veröffentlichter Fall, wo ein Kranker sich 4 Monate mit der Schlund¬ 
sonde ernähren ließ, dann aber beurlaubt wurde, als sich herausstellte, 
daß er die Lebensmittel, die ihm von seinen Angehörigen geschickt wurden, 
oder die er sich selber kaufen konnte, mit Appetit verzehrte. Eine schwere 
Nahrungsverweigerung kann also sogar die Entlassung aus der Anstalt 
bedingen; in der Regel macht sie allerdings die letztere erst nötig. 

Bei hypochondrischen Kranken kann man bis zu einem ge¬ 
wissen Grade auf ihre Klagen eingehen und nach gründlicher Unter¬ 
suchung eine etwas abweichende Diät aufstellen; man wird dann oft 
den gewünschten Erfolg haben. Allerdings ist dies Verfahren bei den 
Fällen mit vorgeschrittenem Intelligenzdefekt nutzlos. 

In den leichteren Fällen, wo mangelnder Appetit ohne Wahn¬ 
vorstellungen oder Sinnestäuschungen vorliegt, läßt sich, worauf 
besonders Emmvnghaus hinweist, die Abstinenz z. T. verhüten durch 
diätetische Maßnahmen und die Art der Servierung. Es handelt sich 
damit gerade um die Therapie der teilweisen Nahrungsverweigerung, 
die ja die weitaus häufigere ist. Auswahl und Zubereitung der Speisen 
wie Gesellschaft beim Essen und angemessene Servierung sind ja 
schon beim Gesunden sehr geeignete Mittel, die Nahrungsaufnahme 
zu steigern. 

Das größte Gewicht ist auf die Behandlung selbst der gering¬ 
fügigsten körperlichen Störungen, vor allem derjenigen des Ver¬ 
dauungskanales, zu legen. Dazu gehört einmal die Mundpflege und 
besonders die Zahnpflege. Zahnschmerzen sind infolge des überaus 
häufig defekten Gebisses unserer Geisteskranken, das seinerseits wieder 
aus der mangelhaften Zahnpflege resultiert, ein sehr häufiges Leiden, 
und in vielen Fällen, wo die Kranken mit Aufbietung aller Kräfte 
die Zähne aufeinanderpressen und völlig abstinieren, vermag eine 
Zahnextraktion die Nahrungsverweigerung zu heilen. Endlich ist 
die Behandlung der mannigfachen Krankheiten des Verdauungskanales, 
besonders auch die Sorge für den Stuhlgang, häufig zugleich die Be¬ 
handlung der Abstinenz. 

Bei den höheren Graden ungenügender Nahrungsaufnahme wird 
man, soweit das durchführbar ist, den Kranken durchweg Bettruhe 


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Krueger, 


verordnen, um den Aufbrauch der Kräfte nach Möglichkeit zu ver¬ 
zögern. Auch mit Beruhigungsmitteln darf man aus demselben Grunde 
noch weniger sparsam sein wie bei den übrigen Kranken, ganz abge¬ 
sehen davon, daß dieselben die Fütterung solcher Patienten wesent¬ 
lich erleichtern. Man muß eben den Verbrauch der Nährstoffe mit 
allen Mitteln einschränken in der Hoffnung, daß die psychische Kon¬ 
stellation beizeiten einer spontanen genügenden Nahrungsaufnahme 
wieder günstig wird. 

Was die Nahrung betrifft, die bei Abstinierenden am Platze ist, 
so muß sie zwei Bedingungen erfüllen, sie muß leicht verdaulich sein, 
und dabei möglichst viel ausnutzbare Nährstoffe enthalten. Dabei 
wird man Flüssigkeiten den Vorzug geben, da erfahrunggemäß Flüs¬ 
sigkeiten noch häufig in genügender Menge genommen werden, wo die 
Aufnahme fester Nahrung nicht mehr zu erreichen ist. Souveränes 
Nahrungsmittel ist darum die Milch, die man mit den verschiedensten 
Zutaten, Eiern, Kognak, Portwein, vor allem auch Kaffee den Kranken 
angenehmer machen muß, da reine Milch meist bald Widerwillen 
erregt. Häufig werden auch frische Gemüse noch reichlich genommen, 
w o Fleischnahrung völlig verweigert wird. Von den künstlichen Nähr¬ 
mitteln, besonders den Eiweißpräparaten ist weitgehendster Gebrauch 
zu machen. Die günstige Wirkung kleiner Alkoholdosen auf die 
Eßlust pflegt auch bei Geisteskranken einzutreten. 

In schwereren Fällen der Abstinenz ist der Kranke nicht mehr 
zur selbständigen Nahrungsaufnahme zu bringen, wohl aber schluckt 
er noch, wenn er gefüttert wird. Die Fütterung mit dem Löffel führt 
hauptsächlich bei gehemmten Kranken und solchen, die durch stärkere 
Exaltation oder massenhafte Halluzinationen am Essen gehindert 
werden, oft zum Ziele. Natürlich wird ein mehr oder weniger starker 
Widerstand gegen die Fütterung zu überwinden sein. Ich kenne eine 
Kranke, die spontan zeitweise nichts nimmt, von zwei Wärterinnen 
gehalten werden muß, während eine dritte ihr das Essen in den Mund 
stopft. Dann nimmt sie ganz willig und kaut es gut durch. In solchen 
Fällen kann man sieh die Fütterung erleichtern, wenn man kurz vor¬ 
her ein Beruhigungsmittel gibt; meist wirken wenige Dezimilligramm 
Hyoszin am besten. 

Solange der Kranke noch kaut und schluckt, ist die Fütterung 
noch einfach, schwieriger wird sie. wenn er die Zähne aufeinander- 


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Nahrungsverweigerung bei Geisteskranken. 


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beißt. Man kann dann versuchen, durch eine Zahnlücke Flüssigkeit 
einzugießen, aber man muß sich der Gefahr bewußt sein, daß diese 
Manipulation bei widerstrebenden oder Kranken mit völliger Reso- 
lution leicht zum Eindringen der Flüssigkeit in den Kehlkopf führen 
kann. Man muß immer erst mit geringen Quantitäten versuchen, ob 
der Kranke schluckt, und muß diesen Versuch bei jeder Fütterung 
wiederholen. Zu solchem Eingießen eignet sich besonders die Schnabel¬ 
tasse. 

Auf diese Weise kann man oft lange Zeit den Kräftezustand eines 
Kranken einigermaßen auf der Höhe erhalten, besonders, wenn der 
Kranke noch mit dem Löffel zu füttern ist. Nur zu häufig aber muß 
man zu dem letzten Mittel greifen, um derartigen Kranken Nahrung 
zuzuführen, der künstlichen Ernährung. Von den Arten derselben 
kommen für unsere Zwecke zwei in Betracht, die Ernährung per 
rectum und die Schlundsondenfütterung. 

Nährklystiere können beim psychisch Gesunden die Er¬ 
nährung per os ersetzen oder wenigstens ergänzen. Aber der Wert 
der Nährklystiere ist von einem Faktor abhängig, auf den wir bei 
unseren Geisteskranken meist verzichten müssen, vom guten Willen 
der Patienten. Unsere Kranken werden den Einlauf einfach laufen 
lassen. Bis zu einem gewissen Grade kann man dem durch hohe 
Eingießungen nur geringer Mengen von Nährflüssigkeit unter Zusatz 
von Opium event. nach vorangegangenem Reinigungsklysma ent¬ 
gegenarbeiten. Für dauernde Ernährung reichen die Klystiere jeden¬ 
falls nicht aus. Das Nährklystier muß in vielen Fällen versucht werden, 
bevor man zur Schlundsonde greift, meist wird der Versuch erfolglos 
bleiben. 

Als letztes Hilfsmittel bleibt die Fütterung mit der Schlund- 
sonde. 

Die Schlundsonde hat seit ihrer ersten Anwendung viele An¬ 
feindungen durchmachen müssen. Besonders zu der Zeit, als das 
No-restraint-System aufkam, wollte man jeden Zwang abschaffen, 
auch die Zwangsfütterung; der unästhetische Anblick, den die An¬ 
wendung der Sonde bei widerstrebenden Kranken bietet, hat ihr 
erbitterte Gegner geschaffen; endlich wurde auf den verschlimmernden 
Einfluß hingewiesen, den die Zwangsfütterung auf manche Geistes¬ 
krankheiten, vor allem die Melancholie haben sollte. So kam es, 


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Krueger, 


daß 1881 Eickholdt die Schlundsonde nur bei den Fällen von Para¬ 
lyse, die mit Schluckstörungen einhergehen, angewendet wissen 
wollte, nie bei Nahrungsverweigerung auf psychischer Grundlage. 
Heutzutage wird wohl niemand den hohen Wert der Schlundsonde 
für die Praxis der Irrenärzte bezweifeln, und, wenn wir auch heute 
Vorsicht in ihrer Anwendung üben, so geschieht es, um dies letzte 
Hilfsmittel nicht zu früh anzuwenden, und weil die Anwendung der 
Sonde auch in den geübtesten Händen Gefahren mit sich bringt. 

Von der Gefahr einer Verschlimmerung der Psychose sehe ich ab. 
Wohl kann die zwangweise Fütterung zu neuen Wahnvorstellungen 
Anlaß geben, wohl kann sie das Widerstreben des Kranken noch 
vermehren, aber diese Verschlimmerung wird in bezug auf den Allgemein¬ 
zustand, der die Zwangsfütterung bedingt, nicht in Betracht kommen. 
Die Gefahren der Schlundsonde liegen darin, daß die Sonde einen 
falschen Weg nimmt und besonders, daß bei der Fütterung auf irgend¬ 
eine Weise Speiseteilchen in die Luftwege gelangen. 

Die Schlundsondenfütterung wird in der Regel so ausgeführt, 
daß eine mittelstarke Gummisonde mit verstärkter Spitze, die mit 
seitlichen Öffnungen versehen ist, bei etwas vorgebeugter Kopf¬ 
haltung durch ein Nasenloch in den unteren Nasengang eingeführt 
und vorsichtig durch Rachen und Speiseröhre in den Magen vorge¬ 
schoben wird. Zur Einführung durch den Mund mit Hilfe eines Mund¬ 
sperrers, die auf viel größeren Widerstand stößt, wird man sich nur 
dann entschließen, wenn die Einführung durch die Nase infolge patho¬ 
logischer Verhältnisse nicht möglich ist. Zu beachten ist, daß der Weg 
durch die Nase etwas länger als durch den Mund ist, die Sonde also 
etwas weiter geschoben werden muß, um sicher im Magen zu sein. 
Die Nährflüssigkeit wird dann unter mäßigem Druck eingegossen, 
der Schlauch abgeklemmt und vorsichtig, aber ohne Zögern heraus¬ 
gezogen. 

Eine unrichtige Lage der Schlundsonde kann dadurch eintreten, 
daß dieselbe in die Mundhöhle gelangt und sich hier aufrollt. Ein 
derartiges Mißgeschick wird bei vorsichtiger Handhabung nie unbe¬ 
merkt bleiben. Kann man einen Schluckakt zum Vorschieben der 
Sonde über das Gaumensegel benutzen, um so besser; es geht auch 
ohne denselben. Weiter war früher die Gefahr gefürchtet, in den 
Kehlkopf und die Luftröhre zu gelangen. Das ist, ohne daß ein 


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Nahrungsverweigerung bei Geisteskranken. 


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krampfhafter Husten und die Dyspnoe es sofort verrät, nur möglich 
bei Kranken mit Anästhesie des Kehlkopfes, und auch bei diesen 
wird eine Veränderung der Atmung sich nach kürzester Zeit einstellen. 
Ein kurzes Zuwarten wird also diese Gefahr erkennen lassen. Weiter 
bewährt sich sehr das Mittel, den Kranken zum Anlauten zu bringen, 
da dann die Sonde sicher nicht zwischen den Stimmbändern liegt. 
Endlich vermag man sich, um ganz sicher zu gehen, durch Einblasen 
von Luft von der richtigen Lage der Sonde zu überzeugen. 

Größer ist eine andere Gefahr. Die Fütterung eines geistig Ge¬ 
sunden ist ungefährlich, weil er dieselbe unterstützt; die Fütterung 
eines Bewußtlosen ist, sofern man sich von der richtigen Lage der 
Sonde überzeugt und nicht zu große Mengen eingießt, so daß ein 
Überfließen erfolgt, kaum mit Gefahr verbunden; die Fütterung vieler 
Geisteskranker ist deshalb gefährlich, weil sie bei ihrem Widerstreben 
die Flüssigkeit neben der Sonde herauspressen und damit die Gefahr 
der Aspiration herbeiführen, die mit Rücksicht darauf, daß ein Fremd¬ 
körper, eben die Sonde, den Abschluß des Kehlkopfes erschwert, 
weit größer ist als beim gewöhnlichen Erbrechen. Dieser Gefahr kann 
man durch vorherige Beruhigung des Kranken Vorbeugen, sie aber 
nie sicher verhindern. 

Ein Beispiel dafür: Ein 17jähr. Mädchen mit Dem. praecox ver¬ 
weigerte nach mehrmonatiger Anstaltpflege die Nahrung. „Ich will aus 
Trotz nichts essen“ wurde als Grund geäußert. Die Schlundsondenfütterung 
wurde 3 mal täglich vorgenommen, zuerst ohne Schwierigkeiten. In der 
letzten Zeit hatte Pat. aber gelernt, neben der Sonde zu erbrechen, so daß 
wiederholt die Fütterung unterbrochen werden mußte. Nach etwa einem 
Monat erfolgte plötzlich wieder spontane Nahrungsaufnahme; wenige 
Tage später ließen sich die ersten objektiven Zeichen einer Lungengangrän 
feststellen, nach 3 Wochen erfolgte der Tod. Die Obduktion erwies zwei 
gangränöse Herde in der rechten Lunge. 

Nur dringende Anzeichen mangelhafter Ernährung sollen uns 
deshalb zur Anwendung der Schlundsonde leiten. Dabei wird uns 
einmal der deutlichste .Maßstab für den Grad der Ernährung, das 
Körpergewicht, unterstützen. Besonders in den Fällen mit teilweiser 
Nahrungsverweigerung wird man durch wöchentliche Wägungen 
feststellen, inwieweit die Nahrungsaufnahme zu wünschen übrig 
läßt. Aber auch ohne exakte Wägungen wird es meist möglich sein, 
ans der Welkheit und Blässe der Haut, der Müdigkeit und Schlaff- 

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Krueger, 


heit der Bewegungen, kurz der allgemeinen Hinfälligkeit einen Schluß ' 
auf den Grad der Mangelhaftigkeit der Nahrungsaufnahme beim 
Fehlen sonstiger Erkrankungen zu ziehen, so daß nicht erst eine 
Verschlechterung des Pulses und der drohende Kollaps zur Schlund¬ 
sonde greifen lassen. Die Herztätigkeit wird immer ein sicheres Maß 
des Kräftezustandes abgeben. Die Kontrolle des Pulses ist deshalb 
bei abstinierenden Kranken ein Haupterfordernis der ärztlichen Auf¬ 
sicht. Sobald der Puls kleiner und frequenter wird, muß unbedingt 
künstliche Ernährung eintreten. Wertvoll ist auch das Auftreten 
des Azetongeruches und des Azetons im Urin. 

Unter Berücksichtigung dieser Momente kann man in der Regel, 
wie von den meisten Autoren angegeben wird, 5—6 Tage bei völliger 
Abstinenz und mittlerem vorherigen Ernährungszustand mit der 
künstlichen Ernährung warten. Wird, wie es vorkommt, Wasser in 
hinreichender Menge genommen, so kann sich diese Zeit bei ruhigen 
Kranken auf 10—14 Tage erhöhen; bei unruhigen Kranken wird man 
natürlich früher mit der Zwangsfütterung beginnen müssen. 

Greift man nun zur Schlundsonde, so erlebt man häufig, daß 
der Kranke auf die bloße Drohung hin die Nährflüssigkeit austrinkt, 
in anderen Fällen hat eine einmalige Fütterung denselben Effekt. 
Es empfiehlt sich deshalb, nach der ersten Fütterung stets zu ver¬ 
suchen, den Kranken zur selbständigen Nahrungsaufnahme zu bringen. 
Man wird deshalb, sofern der Gesamtzustand das noch erlaubt, eine 
Pause von 24 Stunden machen und erst dann regelmäßig füttern. 
Aber auch während der weiteren Fütterungszeit muß man mindestens 
alle Woche einen Tag aussetzen, wie man überhaupt während der 
Fütterung nie nachlassen darf, dem Kranken Nahrung anzubieten 
in derselben Weise, als wenn keine Zwangsfütterung stattfände, um 
den Moment, der die natürliche Nahrungsaufnahme wieder bringt, 
nicht zu verpassen. 

Die Fütterung erfolgt 2 oder 3 mal täglich. Bestimmend ist 
dafür, ob der Kranke würgt oder nicht. Im ersten Falle wird man 
dreimal geringere Mengen füttern, im letzten zweimal größere Mengen 
geben. Dabei kann man im letzten Falle v 2 1 überschreiten (% —11), 
im ersten wird diese Quantität das Maximum darstellen. 

Was die Zusammensetzung der Nährflüssigkeit betrifft, so ist 
auch hier die Milch das Hauptnahrungsmittel. Zu derselben wird 


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Nahrungsverweigerung bei Geisteskranken. 


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man Eier, Wein, event. auch künstliche Präparate geben; nie darf 
das Kochsalz vergessen werden. Nach langer Sondenfütterung hat 
man bisweilen Skorbut auftreten sehen. Dieser Gefahr zu entgehen, 
ist vorgeschlagen worden, zeitweise auch frische Gemüse zu füttern. 
Es wird sich dabei wohl meist um Gemüsesuppen handeln müssen. 
Die Nährflüssigkeit wird lauwarm eingegossen. Man kann ihr ohne 
Schwierigkeit nach Bedarf Beruhigungsmittel zusetzen, auch empfiehlt 
sich, einige Tropfen Digalen oder Strophantustinktur hinzuzufügen. 

Zum Schluß ist noch auf die direkt lebensrettende Wirkung 
hinzuweisen, die subkutane Kochsalzinfusionen be¬ 
sonders bei solchen Kranken hervorbringen können, die nach langer 
Abstinenz in häuslicher Pflege oft zum Skelett abgemagert, in diesem 
Zustande der Pflegeanstalt überwiesen werden. Daß man in solchen 
Fällen daneben von den Herzreizmitteln ausgiebigen Gebrauch macht, 
ist selbstverständlich. 

Die subkutane Einverleibung von Nährstoffen, die für unsere 
Kranken von größtem Wert sein würde, ist ja leider auch heute noch 
trotz mannigfacher Versuche ein unerreichtes Ziel. 

I 

Literatur. 

Eickholt, über die Ätiologie und Behandlung der Nahrungsverweigerung 
bei Geisteskranken. Allg. Zeitschr. !. Psych. Bd. 37, 1881. 
Emminghaus, Abteilung IX in Penzoldt-Stinzing: Handbuch der spezi¬ 
ellen Therapie. 

Klein, Über den heutigen Stand der Schlundsondenfütterung bei Geistes¬ 
kranken und das Auftreten von Skorbut bei lange fortgesetzter 
einseitiger Ernährung. Monatsschr. f. Psych. 1898. 

Lehrbücher der Psychiatrie von Kirchkoff, Kraepelin, Krafft-Ebing, 
Ziehen. 


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Phantastik und Schwachsinn, 

(Gerichtliches Gutachten.) 1 ). 

Von 

Dr. Gustav Blume, Assistenzarzt. 

Am 10. XII. 1910 wurde der 22jährige Kaufmann X. zur Beob¬ 
achtung seines Geisteszustandes unserer Irrenanstalt zugeführt. Es 
wurden ihm eine Reihe von Strafhandlungen vorgeworfen, die alle 
in ziemlich analoger Weise ausgeführt worden waren: 

X. hatte sich gegenüber Handwerkern, Geschäftsleuten, Zimmer- 
vermieterinnen u. a. als Referendar, Postbeamter, Dr. med., Kranken¬ 
hausarzt u. dgl. ausgegeben, hatte irgendeinen Tatbestand fingiert 
und auf diese Weise von den Leuten geringfügige Geldbeträge (5 bis 
10 Mk.), ferner Gebrauchsgegenstände, Musikinstrumente, photo¬ 
graphische Apparate u. a. m. erschwindelt, um dann seine Beute 
meist noch an demselben Tage zu versetzen. Wegen derartiger Ver¬ 
gehen war X. schon wiederholt bestraft worden, zuletzt im Jahre 
1909 mit sechs Monaten Gefängnis, die er bis zum Juni 1910 verbüßt 
hatte. Unmittelbar nach seiner Entlassung — noch in demselben 
Monat Juni — hatte er nun trotz eifrigster Bemühungen seiner Eltern, 
ihn abzulenken und zu beschäftigen, dieses seltsame Treiben von neuem 
begonnen, war im Oktober verhaftet und abermals dem Gericht über¬ 
geben worden. Dieses hatte ihn dann auf Antrag des Verteidigers 
und nach Anhörung des Gerichtsarztes uns zur Beobachtung über¬ 
wiesen. 

Es ergab sich nun vom Wesen des Angeklagten und seinem 
bisherigen Schicksale folgendes Bild: 


J ) Aus der Irrenanstalt der Stadt Berlin zu Dalldorf. Direktor: 
Geh. Rat Dr. W. Sander. 


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Phantastik and Schwachsinn. 


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X. wurde am 10. VII. 1888 als Sohn eines Weinhändlers geboren, 
ln seiner Familie sind Geistes- und Nervenkrankheiten vorgekommen: 
die Großmutter mütterlicherseits ist 1892 in Dalldorf gestorben. Der 
Vater soll 1873 einen schweren, „epileptischen“ Krampfanfall gehabt 
haben, wobei er 5 Stunden ohne Bewußtsein lag. Endlich ist eine Schwester 
des Angekl. zurzeit geisteskrank, eine andere schwer nervös und auf¬ 
geregt. Die Geburt des Angekl. soll normal gewesen sein. Es mag hierbei 
erwähnt werden, daß der Vater aus Freude über die Geburt dieses Sohnes 
eine Flasche Portwein ( s /4 1) in das Badewasser des Neugeborenen goß 

Als kleines Kind soll X. geweckt und klug gewesen sein. Es ist jedoch 
schon aus der Kindheit eine Reihe von Tatsachen bekannt, die den Ver¬ 
dacht auf eine krankhafte Veranlagung erwecken müssen. Wenn er z. B. 
als Junge Soldaten geschenkt bekam, so köpfte und zerschlug er sie alle 
binnen 10 Minuten und ruhte nicht eher, als bis „alle tot seien“. Die Mutter 
erzählt, daß er „tolle Spiele gespielt habe“. So habe er die Sophakissen 
zerklopft, die Zähne gefletscht und sich ganz eigentümlich gebärdet. 
Gern errichtete er kleine Scheiterhaufen auf dem Tisch, die er dann an- 
zündete. Beim Spielen mit dem Puppentheater schoß er alles kurz und 
klein. 

Bis zu seinem 12. Jahre war X. auf einer Volksschule, wo es angeblich 
noch ganz gut ging. Alsdann kam er auf eine Realschule (höhere Bürger¬ 
schule), und hier blieben seine Leistungen alsbald sehr wesentlich hinter 
dem Durchschnitt zurück. Sein Platz war beständig unter den letzten. 
Seine Schulzeugnisse weisen in fast allen Fächern das Prädikat „mangel¬ 
haft“ auf, und beim Verlassen der Schule im Herbst 1903, also im Alter 
von 15 Jahren, befand er sich in der IV. Klasse. 

Mit 13—14 Jahren trat er in die gerade bei Naturen seiner Art doppelt 
hcdeutungvolle Periode der Pubertät ein. Er wurde jetzt „großmann- 
‘üchtig“ und begann kleine Schwindeleien. Körperlich entwickelte er sich 
«■hr rasch, so daß er meist für älter gehalten wurde, als er war. Er ver¬ 
kehrte schon mit den Primanern seiner Schule und wurde von ihnen zu 
Kneipereien mitgenommen, wahrscheinlich auch zu sexuellem Verkehr 
verleitet. 

Bald nach dem Verlassen der Schule wurde er von seinem Vater 
zwecks weiterer Ausbildung zu einem französischen Geschäftsfreunde 
nach Bordeaux geschickt. Seine Schwester meint, daß er dort „ganz 
verdorben“ sei. Besonders verhängnisvoll war für ihn die dortige Sitte, 
?roße Mengen schwerer, geistiger Getränke zu sich zu nehmen (Absinth 
und Kognak), eine Sitte, die er sich lebhaft zu eigen machte. Ist er doch 
noch heute ein ernsthaft überzeugter Anhänger der Gewohnheit, in den 
Morgenkaffee ein Glas französischen Kognaks zu gießen. Auch in sexu¬ 
eller Beziehung scheint er in Frankreich manchen Gefahren ausgesetzt 
gewesen zu sein. Jedenfalls brachte er eine spezifische Infektion mit nach 
•Hause, über deren Charakter allerdings nichts Sicheres in Erfahrung 
zu bringen war. 


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Blume. 


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Über seine Leistungen im Geschäft seines Wirtes ist ebenfalls nichts 
Sicheres bekannt, allem Anschein nach aber waren sie recht mangelhaft 
Jedenfalls lehnte ein anderes Geschäft eine Bewerbung X.s nach Er¬ 
kundigung an der ersten‘Stelle ab. 

1905 ist X. wieder in Berlin. Je weiter er nun im Alter vorrückt, 
desto mehr häufen sich in seinem Wesen und in seiner Lebensführung 
Momente, die den Gedanken an eine krankhafte Geistesbeschaffenheit 
nahelegen müssen. Mit 17 Jahren schloß er sich in seine Stube ein und zer¬ 
schoß mittels eines Revolvers die Wände und die Zimmereinrichtung. 
Zur Rede gestellt, lachte er „ganz blödsinnig“ ! Ein anderes Mal warf er 
sich mit dem Ausruf: „ich bin ein schlechter Mensch!“ lang in die Stube 
und lag steif wie ein Stock. Dergleichen kurze Anwandlungen von Reue 
und Selbsterkenntnis sind anscheinend noch öfter vorgekommen, wie 
er denn überhaupt im Grunde weichen und lenksamen Charakters war 
und leicht weinte. Nichtsdestoweniger machte er im Alter von 16 bis 
18 Jahren „kolossale Dummheiten“. Die wenigen Jahre seit der Rück¬ 
kehr aus Frankreich sind ausgefüllt von einer fast ununterbrochenen Kette 
törichter und sinnloser Streiche, die ihn, trotz unaufhörlicher Opfer und 
Bemühungen seines Vaters, schließlich mit den Gerichten in Konflikt 
bringen. So gibt er sich z. B. für großjährig aus, kauft mehrere Male 
eine Nähmaschine auf Abzahlung, um sie alsbald zu versetzen, so daß 
der Vater genötigt ist, sie wieder einzulösen. Solche Fälle kamen fort¬ 
während vor. Einmal stellte ihn der Vater ernsthaft zur Rede. X. „ge¬ 
bärdete sich dabei wie toll“, kniete vor dem Vater nieder und küßte ihm 
die Hände. Am nächsten Tage war alles vergessen. Im Januar 1905 
— kurz nach dieser Vermahnung — mietete X. einen großen Laden, den 
er von dem Besitzer nach seinen Angaben für 2—300 Mk. umbauen und 
einrichten ließ. Er machte dann große Warenbestellungen bei Brauereien 
und Schokoladenfabriken und kündigte auf großen roten Plakaten, die 
mit seinem vollen Namen unterschrieben waren, die Eröffnung einer 
Konditorei an. 

Sehr charakteristisch ist auch, daß X. nach Angabe der Mutter stets 
mit einer großen Aktenmappe umherlief, in der ein halbes Jahr lang 
nichts weiter lag, als ein paar alte Schulzeugnisse. Damit wollte er an¬ 
geblich „Stellung suchen“. 

Die Mutter hebt ferner seine maßlose Verschwendungsucht, sowie 
seinen Hang zum Trinken hervor. So hat er sich in einer Woche vier 
Paar neue Stiefel bestellt, obwohl er erst kurz vorher vom Vater drei 
Paar bekommen hatte. Er verkaufte alle seine Kleidungstücke, um 
trinken zu können. 

Neben solchen, vielleicht noch mit Unreife und Leichtsinn zu er¬ 
klärenden Streichen sind nun aber einige Vorkommnisse bekannt, die 
auch mit gutem Willen kaum noch in den Rahmen des Physiologischen 
zu zwängen sind. So kam er eines Abends verkleidet nach Hause, mit 


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Phantastik und Schwachsinn. 


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langer Perrücke und schwarzem Bart, warf sich vor seiner Schwester zu 
Boden und machte ihr eine Liebeserklärung. Er sagte dann, er sei Detektiv 
und müsse noch heute Nacht im Aufträge des Ehemannes eine Frau 
des Ehebruchs überführen. Ein anderes Mal ging er in angetrunkenem 
Zustande vormittags zu seinem Friseur und gab ihm den Auftrag, ihm 
Kopf und Gesicht zu verbinden, damit er unkenntlich sei. Er sei nämlich 
Detektiv und müsse in einer wichtigen Sache Recherchen anstellen. Mit 
dem verbundenen Kopf fuhr er dann nach Hause zu seinen aufs höchste 
erschrockenen Eltern. Am nächsten Tage wußte er von der ganzen Sache 
nichts mehr. Diese von X. stammenden Angaben wurden mir von seiner 
Mutter vollkommen bestätigt. Sie berichtete noch, daß er zu Hause auf 
ihre bestürzten Fragen äußerte, er habe sich seiner Schulden wegen er¬ 
schießen wollen. Wenn man ihn später wegen solcher Geschichten zur 
Rede stellte, so habe er nie einen vernünftigen Grund angeben können, 
sondern immer nur „blöde gelacht“. 

Ferner sind noch folgende Angaben der Vorgeschichte bemerkens¬ 
wert: X. teilte mir auf Befragen mit, daß er früher häufig an plötzlichem, 
ruckweisem Emporschrecken kurz vor dem Einschlafen gelitten habe. 
Auch Bettnässen sei bis vor einigen Jahren hin und wieder vorgekommen. 
Häufig habe er aus heiler Haut die Empfindung, als ob jemand mit Glas 
über eine Schiefertafel hinfahre, oder auch, als ob „ein Bleisoldat langsam 
zerbrochen würde“. Beides sei geradezu fürchterlich. Von Kopfverletzungen 
ist nicht viel Sicheres bekannt. Einmal sei er als Kind beim Spielen mit 
der Stirn aufgeschlagen. Später habe er beim Fechten einen stumpfen 
Hieb über den Kopf erhalten und mehrere Tage darnach an Kopfschmerzen 
gelitten. 

Die Eltern versuchten das Menschenmögliche, ihren Sohn auf den 
rechten Weg zu bringen, doch immer mit demselben trostlosen Ergebnis. 
Wo er auch untergebracht wird — stets begeht er nach kurzer Zeit irgend¬ 
eine Dummheit, bleibt unentschuldigt von seiner Arbeitstelle fort oder 
dergleichen und w r ird alsbald entlassen. 

Und nun ist eine Episode zu erwähnen, die für seine ganze Ent¬ 
wicklung ohne Frage von der allergrößten Bedeutung geworden ist, ein 
Ereignis, wie es bei der Veranlagung dieses Menschen fast mit Natur¬ 
notwendigkeit eintreten und ihm den letzten und entscheidenden Antrieb 
auf der schiefen Bahn geben mußte. X. verliebt sich. Mit 18 Jahren 
lernt er die Inhaberin einer Konditorei kennen, und obwohl sie 10 Jahre 
älter ist als er, dazu (nach Angabe seiner Schwester) eine durchaus unbe¬ 
deutende und ungebildete Person, die auch bereits ein Kind hatte, so 
gerät er doch in einen Taumel ebenso ehrlicher, wie unreif-romantischer 
Verliebtheit, die ihn für jede normale, schlichtbürgerliche Beschäftigung 
vollends unbrauchbar macht. Und weil die Angebetete in ihrem Geschäft 
den Gästen gegenüber liebenswürdig ist, überkommt ihn eine maßlose 
Eifersucht, er läßt jede Berufsarbeit im Stich und setzt sich mit einem 


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Revolver bewaffnet den ganzen Tag in die Konditorei, um „seine Braut“ 
zu bewachen. Denn er meint es natürlich äußerst ernsthaft und will 
sobald als möglich heiraten. Zu diesem Zwecke stellt er beim Vormund¬ 
schaftsgericht den Antrag auf Großjährigkeitserklärung, wird allerdings 
infolge des Einspruchs seiner Eltern und des Hausarztes damit abge¬ 
wiesen. Da ihn nun trotz seiner Wachsamkeit dauernde Eifersucht plagt, 
veranlaßt er seine Braut die Konditorei aufzugeben und richtet ihr eine 
Wohnung von drei Zimmern ein. Wie es nicht ausbleiben kann, stellen 
sich sehr bald Zahlungschwierigkeiten ein, und der Vater muß wiederum 
für den Sohn einspringen. Das hindert diesen aber nicht, seiner Braut 
noch zwei andere Wohnungen zu mieten. Schließlich findet er eines Abends 
bei ihr einen Offizier, einen „früheren Bekannten aus der Konditorei“. 
Darüber kommt es nun zunächst zum Bruch. 

Ich habe diese Geschichte etwas ausführlicher erzählt, weil sie erstens 
für die Schicksale X.s von erheblicher Bedeutung ist und zweitens in 
Entstehung, Verlauf und Ausgang m. E. zur Charakteristik des Ange¬ 
klagten einen sehr wichtigen Beitrag liefert. 

Wie bereits erwähnt, ist es der Familie des X. auf die Dauer nicht 
möglich, ihn vor einem Konflikt mit den Gerichten zu schützen. Die 
Art seiner Delikte ist bereits eingangs kurz erläutert worden, es sei nur noch 
bemerkt, daß X. in der kurzen Zeit von Ende Juni bis zu seiner Ver¬ 
haftung am 11. X. 10 nicht weniger als neun Leute schädigt, während er 
in einem zehnten Falle sich damit begnügt, sich als Referendar auszugeben, 
mit dem Aufträge, „Ermittlungen anzustellen“ und ein „Protokoll auf¬ 
zunehmen“. 

Ich wende mich nunmehr zur Schilderung des Befundes, den X. 
während seines sechswöchigen Anstaltaufenthaltes darbot. 

X. ist ein gut mittelgroßer Mensch, von derbem Knochenbau, in 
sehr gutem Ernährungs- und Kräftezustand. Er hat ein rundes, dick- 
wangiges, etwas imbezilles Kindergesicht. Der Kopfumfang beträgt fast 
58 cm. Bemerkenswert sind seine hochgradige Kurzsichtigkeit, sowie 
sehr defekte Zähne. Die inneren Organe bieten keinen pathologischen 
Befund, dagegen ergab die Untersuchung des Nervensystems eine deut¬ 
liche Herabsetzung der Berührungs- und Schmerzempfindlichkeit, be¬ 
sonders an den Armen, sowie eine leichte Unsicherheit in der Lokalisation, 
der Konjunktivalreflex war herabgesetzt, dagegen der Kornealreflex von 
normaler Stärke, der Würgereflex sehr lebhaft. 

Sein äußeres Verhalten war während der ganzen Beobachtunsgsdauer 
klar, geordnet und ruhig. Erst in der letzten Zeit änderte sich dies etwas. 
Wenn er auch dem Arzt gegenüber gleichmäßig höflich blieb, so zeigte er 
doch sonst eine deutlich schwankende Stimmung, war häufig deprimiert, 
dann wieder heiter und gesprächig. 

Es wurde zunächst mit X. seine frühere Geschichte durchgesprochen. 
Er betonte hierbei mit großem Nachdruck, sein Vater sei ein unehelicher 


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Phantastik und Schwachsinn. 


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Sohn des Fürsten Pückler, also in seinen Adern fließe blaues Blut. Dazu 
gab mir seine Schwester an, daß es sich um eine ganz vage Familienüber¬ 
lieferung handle, die vielleicht auf den Großvater oder noch früher zu¬ 
rückgehe. 

Auf die Frage, warum er den ganzen Tag in der Konditorei gesessen 
habe, wird X. sehr erregt und fängt an zu weinen: „Das ist doch ganz 
logisch, Herr Doktor. Wenn ein Mann seine Geliebte in den Armen eines 

anderen findet-da schieße ich eben erst sie und dann mich über den 

Haufen!“ 

Pat. hat aber damals, wie er selbst zugibt, seine Braut durchaus nicht 
„in den Armen eines anderen gefunden“, sondern sie nur in der Konditorei 
beobachtet. Pat. weist bei dieser Unterredung alle Zeichen ehrlicher, 
lebhafter, innerer Beteiligung auf. Sein Kinn und seine Lippen zittern, 
er ist fortwährend dem Weinen nahe. Er berichtet dann von seinem Ver¬ 
such, seine Braut sofort zu heiraten und von den Maßnahmen seiner Eltern 
zur Vereitelung dieser Absicht. Pat. beklagt sich sehr erregt darüber, 
beteuert, daß er doch „ganz logisch“ und normal gehandelt habe. 

Die Frage, ob er denn jetzt für geisteskrank erklärt werden wolle, 
verneint er mit großer Entschiedenheit. Er sei ganz normal und habe 
nicht das geringste Unrecht begangen. 

(Warum er sich als Besitzer eines Zigarrengeschäfts ausgegeben 
habe?) „Ja, ich persönlich bin wohl imstande, ein solches Geschäft zu 
leiten. Und man ist doch berechtigt, sich als das auszugeben, als was 
man sich fühlt.“ 

Dasselbe Argument bringt X. als Motivierung seiner übrigen Schwin¬ 
deleien vor. Er habe sich sehr viel „mit Medizin beschäftigt“, deshalb 
könne er sich Doktor nennen. Es ist dem Pat. auf keine Weise die Straf¬ 
barkeit seiner Handlungen plausibel zu machen. Er beruft sich immer 
wieder darauf, daß er wohl fähig sei, derartige Stellungen auszufüllen, daß 
er infolgedessen ein Recht auf den Titel habe, daß er sich nicht anders 
nennen konnte, weil ihn die Leute sonst zu „proletenhaft“ (sein Lieblings¬ 
wort) behandelt hätten, daß im übrigen niemand geschädigt werden sollte, 
da — sein Vater schon alles bezahlt hätte. 

(Wieso das Protokollaufnehmen so interessant sei? vgl. X.s Brief 
aus der Untersuchungshaft, weiter unten.) „Ich habe mich eben für alles 
interessiert. Das sehen wir jaauch an Nicolaus Lenau, daß man sich mit 
mehrerem beschäftigen soll. So habe ich mich auch mit Jura viel abge- 
?rben, und es ist doch sehr interessant, wieweit die Sache eigentlich so geht.“ 

Pat. schreibt in zwei Briefen:.„in allernächster Zeit 

hoffe ich dem Lokalanzeiger einen EröfTnungsartikel meiner Arbeiten 
rinsenden zu können“ .... „auch für mich ist in einer Beziehung 
rin kleines Glück geschaffen, da ich ein Problem meines Buches gelöst 
habe, und hoffe, das (sic) es eine Grundlage zum wahren Glück vieler 
Menschen sein wird.“ 

Zeitschrift für Psychiatrie. LUX. 3. 24 


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Aus der Intelligenzprüfung seien folgende Proben angeführt: 
(Haeckel?) „Ein Philosoph, der sich hauptsächlich mit der Erforschung 
der Bibel befaßt hat.“ 

(Antike Dichter?) „Homer“ (X. betont auf der ersten Silbe). 

(Was geschrieben?) .,so .... Oden?“ (Verwechs¬ 

lung mit Horaz?) 

(Aristoteles?) „Ein sehr redegewandter Dichter.“ 

(Philosophen?) „Kant, H. v. Kleist, A. v. Humboldt, Sophokles.“ 
(Verwechslung mit Sokrates?) 

(Aus der älteren Zeit!) ,,Nietzsche.“(!) 

(Wann gelebt?) „So 17. Jahrhundert.“ (!!) 

(Unterschied von Preußen und Deutschland?) „Preußen ist ein 
Kaiserreich, es heißt doch Preußen oder Deutschland. Im Fall eines Krieges 
vereinigen sich dann noch mehr Länder.“ 

(Auf Befragen, mühsam:) „Bayern, Österreich, Strelitz.“ 

Vom Wesen der Zinsen hat X. keine Vorstellung, glaubt, der durch¬ 
schnittliche Zinsfuß sei 10% und vermag 4% von 100 000 Mk. nicht aus¬ 
zurechnen. 

(Das höchste Gebirge in Europa?) „Die Schneekoppe.“ 

(Zentrumspartei des Reichstages?) „Da sind hauptsächlich Juden 
drin.“ 

(Kreislauf des Wassers?) Pat. glaubt, das Wasser fließe vom Meere 
in unterirdischen Kanälen zu den Alpen zurück und steige dann „durch 
den Druck“ empor. 

Es muß hierbei betont werden, daß X. diese kümmerlichen Ant¬ 
worten nicht etwa simulierte, im Gegenteil war ihm die ganze Prüfung 
sichtlich unangenehm, er wurde rot und verlegen und suchte bei jeder 
Gelegenheit mit einigen allgemeinen Phrasen vom Thema abzulenken. 

Von sonstigen Eintragungen in die Krankengeschichte sind noch 
folgende von Interesse: 

Pat. betont, daß er stets philosophische Studien getrieben habe, 
Schopenhauer, Kant, Haeckel usw. Er sei stets ein Zweifler gewesen und 
habe das Bedürfnis gehabt, „alles zu ergründen“. 

Pat. erklärt im Gespräch, er habe vollkommen die Bildung eines 
Abiturienten. Damit begründet er in einer seiner obigen Argumentation 
entsprechenden Weise die Berechtigung, Mitglied einer Studentenverbindung 
gewesen zu sein. 

Pat. schreibt in einem Brief an einen Gläubiger: „Sie selbst wissen 
doch, daß ich ein genialer Debatteur war“. In einem anderen Brief: 
„Durch irgend welche Intrigien (sic), von denen ich noch nicht weiß, 
woher sie stammen, hat man mich hier nach Dalldorf, in das Beobach¬ 
tungsinstitut gebracht,.das ganze Leben ist nicht lebenswert. 

aber für meine Ideale werde ich kämpfen bis aufs Messer.“ 


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Pat. droht ..... mit Selbstmord, für den Fall, daß er ins 
Gefängnis oder in die Irrenanstalt gesteckt würde. (Unterdrückt weinend:) 
„Der preußische Staat hat mir nichts als Kummer bereitet, hier erkennt man 
mich ja nicht an, das ist ja ein alter Satz, daß der Prophet nichts in seinem 
Vaterlande gilt.“ Pat. hofft, daß er nach Verbüßung der Strafe eine staat¬ 
liche Stellung bekommt, und daß er auf Grund seiner Schriften mit der 
Einrichtung des Hypnotisier-Institutes (s. unten) betraut wird. Der 
erste Schritt wäre dann der, daß er vom Staate bei einer angesehenen 
Zeitung, z. B. bei der „Vossischen“, angestellt würde. 

X. bringt alle diese grotesken Ideen mit absolutem Ernst hervor 
und hat auf jeden Einwand ein Gegenargument. Z. B. (Wieso soll der 
Staat bei der „Voß“ Leute anstellen?) „Ja, wenn das im Interesse des 
Staates geschieht, dann wird das so vermittelt. Die „Voß“ arbeitet doch 
nur im Interesse des Staates.“ 

(Sie sind doch mehrfach vorbestraft?) „Man wird dann einsehen, 
daß meine Strafen unberechtigt waren. Napoleon war auch in Haft!“ 

Weiß heute um etwa 11 Uhr vormittags nicht mehr, daß der Arzt 
heute morgen etwa 9 Uhr bei ihm gewesen sei und Anordnungen getroffen 
habe. Behauptet auf Vorhalt steif und fest, das sei gestern gewesen. 

Schreibt unaufhörlich Briefe, Novellen, „Beobachtungen“, „An¬ 
schlußmitteilungen“ usw.; droht öfter mit Suizid, spricht häufig von 
Intriguen gegen ihn. „Man will mich unschädlich machen, irgend etwas 
muß im Gange sein, das ist ganz klar — vielleicht von Marthas Seite.“ 

(Auf weitere provokatorische Fragen:) „Das ist der Staat — — 
ganz einfach! Meine Ideen sind vielleicht dem Staat unbequem. Leute, 
die in den unteren Stellungen sind, wollen mich unterdrücken, da sie 
sonst aus ihren Stellungen herausgedrängt werden könnten.“ Wenn er 
in Preußen nicht durchdringe, werde er sich nach Frankreich wenden. 

Bei der Leibesvisitation, die vor seiner Rückführung in. die Unter¬ 
suchungshaft vorgenommen wurde, fand sich bei ihm eine scharfe Por¬ 
zellanscherbe in der Hand verborgen, sowie ein Stückchen geschliffenen 
Stahls lose in der Tasche. 

Neben den Ergebnissen der direkten, mündlichen Exploration sind 
nun X.s schriftliche Produktionen ganz besonderer Beachtung wert. Schon 
während der Untersuchungshaft beweist er eine hervorragende Schreib¬ 
freudigkeit, von der hier ein paar Proben folgen mögen: 

So schreibt er aus dem Untersuchungsgefängnis am 23. X. 10 an 
das Gericht, daß er nie die Absicht gehabt habe, jemanden zu schädigen. 
Wenn er sich ab Referendar, Dr. med. und dgl. ausgegeben habe, so 
stecke ein ganz andrer Grund dahinter. Sein Ideal sei stets „ein höherer 
Beamtenberuf“ gewesen. „Um nun wenigstens minutenlang in meinem 
Ideale zu leben, um nicht so proletenhaft behandelt zu werden, 
darum gab ich den Leuten alles dies an. Mein innigster Wunsch war, 
beim Gericht oder der Kriminalpolizei anzukommen. Es bt so interessant, 

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ein Protokoll aufzunehmen. (!) Daher bin ich öfter einmal zu jemand 
gegangen und habe ein Protokoll aufgenommen, ob dieser oder jene 
beschäftigt sei, ohne jede weitere Absicht. Alles dies wäre 
vielleicht nicht so gekommen, wenn mich das Schicksal nicht mit seiner 
mächtigen Hand so gepackt hätte. — Vor einigen Jahren lernte ich ein 
Mädchen kennen, für die ich alles geopfert hätte und habe. Es war im Jahre 
1906. Ich, der noch nie vorbestraft war, ich, dessen Eltern und 
ganze Familie bis auf den heutigen Tag nie mit dem 
Gerichtzutun hatten, ich, dessen Vater im Besitze vieler Orden ist 
und auch beim Gericht als Schöffe gewählt war, .... ich wurde damals 
das erste Mal bestraft, wer war der treibende Punkt .... sie, deren 
Namen jedoch nie vor Gericht über meine Lippen kam. — Wer von meinen 
Herren Richtern sie sehen würde, der würde mir eher verzeihen. — Wer 
diese geliebten blauen Augen sah, denen man nichts abschlagen konnte, 
der würde mich eher verstehen. — Und dann kam die schreckliche Eifer¬ 
sucht. — Sie hinterging mich mit einem Offizier, so mußte ich annehmen. 
Und wie im Rausche, um mich zu betäuben, beging ich Sachen, die ich 
nachher bitter büßen mußte. 

Wer begreift ein von Qualen bitterster Eifersucht heimgesuchtes 
Herz? — Und ich wurde bestraft und kehrte heim zu meinen Eltern, 
zu meiner geliebten Mutter, die nun alles tat, um mir das Vergan- 
gene vergessen zu machen. — Ich aber hatte vor mir selbst Angst, 
das (sic) es mich wieder packen könnte, wenn ich durch die Straßen ging, 
in denen ich mit ihr so glücklich und doch auch so unglücklich war . . . 

Und es geschah wie ich ahnte, ich sah sie im Besitze eines andern. 
Ich war wie betäubt, und dann malte ich mir wieder aus, wie der 
andere sie besitzen würde, und ich raste wie wahnsinnig durch 
dieStraßen, nur Betäubung, nur nicht daran denken, 

und nun.bin ich hier im Gefängnis.“ Wenige Tage später ruft 

er in einem anderen Briefe an dieselbe Adresse aus: „Ich konnte mir 
die herzinnige Liebe zu dem Mädchen nicht aus dem Herzen reißen, ha, 
wer einmal dieses liebe Gesicht gesehen hatt (sic), der wird mich ver¬ 
stehen können . . . Ha, wie hatte ich mich darauf gefreut, das (sic) 
ich nun zum Regiment nach Thorn kommen sollte, alles wäre gut gemacht 
worden, wenn die Leute noch einige Zeit gewartet hätten, doch man 
läßt mich Armen schuldig werden, dann übergibt man mich der Pein, 
doch jede Schuld rächt sich auf Erden.“ 

Und am Schlüsse eines damals angefertigten Lebenslaufes schreibt 
er wehmütig: „Die Liebe ist meine Sünde ... Es ist schwer mein Herz 
zu verstehen. — Ich liebte so glühend, so durchdrungen von 
allem Guten und Schönen, in jedem Liede, was ich auf der Violine 
spielte, lag ein Stück meiner Liebe, — alles Schlechte ist und war mir 
widerwärtig und niemals habe ich Schlechtes gewollt. Das 
Schicksal hat alles so gewollt. — Zwar hat mir ein Wahrsager ein gutes 


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Jahrende prophezeit, doch es kam anders. — Ich habe nun an den Kaiser 
geschrieben, und gebeten, das (sic) er dem Gericht (Landgericht II) 
befiehlt, daß ich nicht wieder in Strafschaft komme, sondern zu 
meinem Regiment nach Thorn. Und wie verzweifelt bin ich über mein 
zerstörtes Glück, danach fragt keiner. 

Noch einmal, du erste Liebe, 

Kehr einen Augenblick 
In mein verbranntes Herze 
Mit deiner Jugend zurück. 

Dies ist mein Schicksal.“ 

X. entfaltete nun auch in der Anstalt eine geradezu fabelhafte, im 
Verlauf der Beobachtung immer mehr sich steigernde schriftliche Pro¬ 
duktivität. Zu den einfachsten Mitteilungen an den Arzt oder Ober¬ 
pfleger, die sich ohne weiteres hätten mündlich erledigen lassen, verfaßt 
er förmliche Eingaben, wie z. B. die vom 15. I. 11 an den Oberpfleger: 
„Sehr geehrter Herr! Hierdurch ersuche ich ergebenst, mir zum Tragen 
im Zimmer eine Litewka (neu) zu gestatten, wie sie die Leute im Garten 
tragen, da sie 

ad 1. wärmer ist, 

ad 2. die andern Sachen doch zu proletenhaft aussehen.“ 

X. wurde nun von mir angeregt, seine Mitkranken zu beobachten 
und diese Beobachtungen zu Papier zu bringen. Er ging mit freudigster 
Bereitwilligkeit auf diese Anregung ein und lieferte mir u. a. folgende 
„Krankengeschichten“: 

„Name: Bruno. Alter: ca. 42 Jahre. Gesichtsfarbe: veränderlich. 
Benehmen: auffällig. Diagnose: Nachts Anfälle von Verfolgungswahn - 
sinn. Glaubt mit Majestät zu sprechen und meint, seine Familie wäre 
erschossen. — Dies deutet auf Paralyse, da jedoch dieser Zustand fort¬ 
dauernd, muß angenommen werden, daß B. an Idiosynkrasie erkrankt 
M. — Das Wesen des B. deutet auf den Kampf der contrairen Mächte 
hin, sein Körper war nicht imstande, bei Zeiten, d. h. im Moment des 
Gltickes/die Quintessenz eines schnellen Todes zu ziehen. Er ist der Macht 
II unterlegen. Die stieren Augen lassen auf einen baldigen Tod schließen. 
B. ist unheilbar und muß ständig in einer Anstalt bleiben.“ (Es handelte 
sich um eine Alkoholparanoia, die inzwischen längst entlassen ist.) 

„Name: Neumann, Hermann. Alter: ca. 40 Jahre. Gesichtsfarbe: 
Krankhaft. Benehmen: Eigenartig. Diagnose: N. ist nach seinem Be¬ 
nehmen ein Prolet. Leidet an Idiosynkrasie. Spricht manchmal ganz 
vernünftig, ist aber mindestens nervös überreizt. Heilung ist durch kalte 
Brausen etc. möglich. Er läuft hin und her in Gedanken. Auch hier ge¬ 
wisse Anzeichen der contr. Macht II. Nähere Beobachtung unmöglich, 
da Pat. fortgekommen ist.“ (N. war ein potator maxime strenuus.) 

„Name: Schermer, Wilhelm. Alter: 50—54 Jahre. Gesichtsfarbe: 
Rot. Benehmen: Komisch proletenhaft, manchmal still. Diagnose: 


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Paralyse verbunden mit schwerer Idiosynkraisie. Spricht brockenweise. 
Leicht erregbarer 9. (?) Nervenzustand. Weiteres Vorbehalten.“ (S. litt 
an motorischer Aphasie.) 

„Welche Quintessenz ziehe ich aus den beigefügten Gutachten für 
die philosophischen Betrachtungen meines Werkes? Was der Mensch 
als geisteskrank bezeichnet, ist in Wirklichkeit keine „Krankheit des 
Geistes“. — Nach Vollendung meines Gesamtwerkes wird dies und vieles 
Andere der gesamten Ärztewelt klar werden. — Es handelt sich in Tat¬ 
sache eigentlich um Folgendes: Die beiden Mächte, nämlich die schaffende 
und die zerstörende, stehen sich auch im Leben des Menschen gegenüber. 
— Der Kampf dieser Mächte zeitigt im Menschen einen eigentümlichen 
Zustand, den man als Idiosynkrasie, aber im erschwerenden Falle als 
Paralyse bezeichnet. — Gegen diese Mächte ist nicht anzukämpfen, es 
gibt nur den einen Ausweg, den Tod. Die angewandten Hilfsmittel können 
Linderung, niemals Heilung bringen, daher sollten dort, wo die contraire 
Macht bereits zu weit wirkte, dem Menschen durch die Ärzte der Tod ge¬ 
geben werden.“ 

An der Spitze des kraftvollen Namenszuges, mit dem diese Abhand¬ 
lungen unterschrieben waren, stand häufig ein unleserlicher Schnörkel, 
der unverkennbar das ärztliche Dr.-Zeichen nachahmen sollte. 

Schriftstücke dieser Art hat X. wie gesagt, zu vielen Dutzenden 
angefertigt. Aus der Schar aller dieser „Novellen“, Abhandlungen, Ge¬ 
suche usw. sei nur noch folgender Aufsatz angeführt, der sich betitelt: „Die 
Errichtung der Hypnose-Suggestions-Anstalt. Denkschrift für den Staat 
Preußen.“ In mehreren Kapiteln legt X. dar, daß zur Erhöhung der 
allgemeinen Glückseligkeit ein staatliches Institut gegründet werden 
müsse, in welchem den Menschen in der Hypnose die Erfüllung aller 
ihrer Wünsche vorgespiegelt werden solle. „Eis muß ein großes Institut 
eröffnet werden, wo sich der Mensch von Zeit zu Zeit suggieren (sie) 
lassen muß. Die Leute müssen gesetzlich dazu gezwungen werden. Da¬ 
durch hörte alle Unzufriedenheit auf, und es gäbe nur Glückfühlige.“ 
X. skizziert nun in einem höchst ergötzlichen Grundriß, wie er'sich die 
Einrichtung dieses Institutes, ferner „die Wirkung des Lichtes“ und 
endlich „die Wirkung des Auges“ denkt. Er gibt dann folgende Erläu¬ 
terung dazu: 

„ad 1. ist das Schema des zu erbauenden Hypnose -Suggestions- 
Hauses. Dieses muß fest aus Sandstein gebaut werden, und nur die in 
der Zeichnung angeführten Fenster dürfen sich darin befinden. Das Haus 
muß einen großen und einen kleinen Vorraum für geheime Zwecke haben. 
Das Hauptportal führt zum Vorraum I. Dasselbe muß durch einen großen 
Eingang verschlossen werden (!), welcher mit zwei eisernen Türen ver¬ 
sehen ist. Vor dem Tor müssen zwei kommandierte Posten von einem 
Garderegiment stehen. Auch hinter dem Tore müssen im Vorraum auf 
jeder Seite sechs Mann stehen, damit das Suggestions-Geheimnis bewahrt 


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wird. Erbauer und Eigentümer ist der Staat, der auch das Personal stellt. 
Es muß eine stille Straße gewählt werden, um jede Störung zu vermeiden. 
Der Vorraum wird mit weißen Kacheln belegt, auch die Wände. Die 
Temperatur muß immer kühl sein. Einige Karaffen Wasser (magnetisiert) 
dürfen zur Erfrischung des Mediums dienen. Der Raum ist nur mit einem 
Fenster versehen, das andere ist verkleidet, mal wird dies, einmal das 
andere Fenster benützt, aber immer nur eines. Die Aussicht auf den Hof 
vom Fenster aus ist die Hauptsache. Der eine Hof soll den Eindruck eines 
deutschen Waldes machen, monoton. Der andere soll aber eine nordische 
Felsen-Grotten-Landschaft darstellen, rötlich beleuchtet, erhaben ideal, 
seelenzerschmetternd. Der zweite Vorraum ist ohne jedes Fenster, daran 
schließen sich zwei geheime Präparations-Räume, der zweite Vorraum 
ist dunkel und mit rotem Samt ausgeschlagen. Durch einen dicken Vor¬ 
hang vom Suggier-Raum getrennt. Es darf immer nur ein Medium diesen 
Raum betreten und muß dort 28 Minuten verweilen. Der eigentliche 
Suggier-Raum besteht aus Glaswändentäflung. Rotes, blaues, grünes 
Glas. Der Fußboden ist Marmor mit dicken Teppichen belegt. Alles 
muß in diesem Raum angenehm sein. Die Temperatur muß 30° Cls. 
betragen. Vor dem Fenster-Vistebul (!) befindet sich der grünseidene 
Vorhang. Rechts steht eine Brause, die durch ewiges Rauschen an die 
einsamen Gesänge eines süßen, idyllischen Gebirgsbaches erinnert. Links 
steht hinter einem Vorhang ein schöner Flügel, wo jemand (hier würde 
auch Verfasser dieses Buches sehr dazu geeignet sein) eine ganz gedämpfte, 
leise und langsam verhallende, tragisch traurige Melodie 
spielen muß, die zur Seele spricht. Im Raum selbst befinden sich zwei 
Sessel (I und II). Der Suggeur den am Fenster. 

Die Mediums-Behandlung. 

Der Mensch wird vom Staat gezwungen mit allen Zwangs¬ 
mitteln, sich suggieren zu lassen. Er tritt in den ersten Vorraum von der 
Straße aus. Kommt er gutwillig, so wird am Posten vorne seine Quittungs¬ 
karte geknipst. (Das von X. hierfür entworfene Modell ist etwa in der Art 
eines Rasierabonnements gehalten.) Anbei ein Muster. Unpünktlich¬ 
keiten werden gerächt. Er tritt nun in den Empfangsraum No. 1 morgens 
«m 9 Uhr an. Er muß sich nun hinsetzen. Er darf sich nicht beschäftigen. 
Seine Gedanken müssen sich mit Nichts beschäftigen. Jetzt kommt er 
in den Geheimraum und der Suggeur spricht zwölf Worte mit ihm. Nun 
kommt er in den Vorraum II. Hier verbleibt er genau 28 Minuten, damit der 
Kampf der Macht I und Macht II sich in ihm beruhigt. Nun kommt er in 
den Hypnotisier-Raum. Er setzt sich auf den Stuhl. Sofort fängt ganz ganz 
ferne die Musik an zu spielen, eine süße, geliebte, herzergreifend tragische 
Melodie. Jetzt beginnt der Gebirgsbach zu plätschern und zu rauschen. 
(Ein versteckter Diener muß pünktlich die Brause auf drehen.) Jetzt 
tritt der Suggeur ins Werk. Er schleicht hinter das Medium, und mag- 


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netisiert es. Nun tritt er nach vorn. Die Musik wird etwas wilder, das 
Rauschen des Baches (Brause mehr auf drehen) wird stärker, es beginnt 

.die Hypnose. — Menschenherz zittere vor der geweihten 

Kraft, die durch die Macht I dir verliehen wurde. Es kommt nun ganz 
auf das Medium an, welche Art man anwenden muß. Es muß in zehn 
Minuten schlafen, — und nun kommen die Einflüsse des Suggeurs, die 
Geheimnis sind. — Langsam läßt die Musik und das Rauschen nach, 

ganz ganz gedehnt hallen die Töne aus.um dann plötzlich 

einen rasenden Galopp anzuschlagen, wovon das Medium langsam er¬ 
wachen muß. — Dies ist das Programm pro Person. Jeder hat vom beim 

Posten Mark drei zu bezahlen.Das Personal der Anstalt 

muß ein vorzügliches sein, insbesondere das des Suggeurs. Auch müssen 
Detektive angestellt werden, die das Leben des Menschen beobachten. 

.Der erste Suggeur muß monatlich mindestens 500 Mark 

Gehalt bekommen.“ 

Mit einer längeren Erörterung der Frage, ob es möglich sei, daß ein 
Weib ohne Geschlechtsverkehr nur durch Suggestion schwanger werden 
kann (einer Frage, die er ausdrücklich bejaht), schließt X. seine tief¬ 
gründige Abhandlung. — 

Gutachten : Eine Beurteilung der psychischen Eigenart X.s 
geschieht zweckmäßig nach drei Seiten hin. Eis sind zu berücksichtigen 
1. die Voraussetzungen, aus denen sich sein psychischer Organismus 
entwickelt hat, also die Gesamtheit der ererbten und erworbenen Ein¬ 
flüsse. 2. Seine ethische und intellektuelle Befähigung, so wie sie dem 
vorurteillosen Beobachter erscheint. 3. Die Auffassung und Vorstellung, 
die X. selbst von seinen Qualitäten hat, und die Handlungsweise, die sich 
aus dieser seiner Auffassung ergibt. 

Ad 1. Wir hatten bereits eingangs gesehen, daß X. aus einer be¬ 
lasteten Familie stammt, daß eine ganze Reihe seiner Angehörigen Sym¬ 
ptome nervöser und geistiger Erkrankung aufweist. Zu diesem Erbschaden 
gesellt sich nun aber ferner ein sehr bedeutsamer Schädlichkeitsfaktor 
des extrauterinen Lebens, der dem X. von Jugend auf anerzogene Alko¬ 
holmißbrauch. 

Er, dessen Vater Weinhändler ist, der sofort beim Eintritt in das 
Leben mit einer eigenartigen alkoholistischen Zeremonie begrüßt wird, 
der sozusagen unter Wein- und Kognakflaschen aufwächst und später in 
Frankreich weiterhin zum Alkoholgenuß erzogen wird, er muß schon in 
jungen Jahren dem Alkoholismus verfallen. Es ist, als habe er nie etwas 
von den Gefahren dieses Lasters gehört. Mit naiver Selbstverständlichkeit 
gibt er zu, daß er seit Bordeaux meist des Morgens ein kleines Weinglas 
voll französischen Kognaks getrunken habe, in Frankreich auch viel 
Absynth, daß er sich in den Morgenkaffee ein Gläschen Kognak zu gießen 
pflege. Das brauche man unbedingt, erst dann seien die Gedanken so recht 
klar und lebendig. 


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Es handelt sich also um ein vom Keim an minderwertiges Nerven¬ 
system, das im Verlauf des Lebens nicht nur nicht die erforderliche Scho¬ 
nung und sachverständige Pflege findet, sondern im Gegenteil noch unter 
den verderblichen Einfluß des Alkohols gerät. 

Ad 2. Die psychische Befähigung paßt nun durchaus zu den ange¬ 
gebenen Momenten. Der Angekl. zeigt von Kindheit an zahlreiche Merk¬ 
male pathologischer Wesensart. Seine Aufgeregtheit, seine Zerstörung¬ 
sucht, die sich manchmal zu wahren Wutanfällen mit Zähnefletschen 
und sinnloser Erregung gesteigert zu haben scheint, die auffällige Neigung 
mit dem Feuer zu spielen, alles dies sind Symptome, wie wir sie bei patho¬ 
logischen Kindern sehr häufig antreflen. 

Während nun zunächst — wie es im kindlichen Alter begreiflich ist — 
das Abnorme besonders auf dem Gebiete gefühlsmäßiger Reaktionen zu¬ 
tage tritt, zeigen sich mit fortschreitender Entwicklung alsbald auch 
in intellektueller Beziehung deutliche Störungen. Die ersten Schul¬ 
anforderungen werden noch — wie so häufig in derartigen Fällen — im 
ganzen erfüllt. Sobald jedoch diese Anforderungen nur einen geringen 
Höhegrad erreicht haben, tritt der Defekt in voller Deutlichkeit zutage. 
X.. der in die kritische Periode der Pubertät eintritt, besitzt weder In¬ 
telligenz noch Energie genug, um sich weiter zu bringen, und verläßt 
schließlich mit 15 Jahren die Quarta einer höheren Bürgerschule. 

Dem Anfang aber entspricht der Fortgang. Wir sehen in seiner 
Entwicklung nirgends einen vernünftigen Plan, ein seinen gesamten 
Lebensumständen angemessenes, erreichbares Ziel, nirgends ein ernst¬ 
haftes, dauerndes Streben, in einer ordentlichen Berufstätigkeit Tüchtiges 
zu leisten; statt dessen vielmehr ein völlig ziel- und planloses Herum¬ 
probieren, ein absurdes und phantastisches Dilettieren auf allen möglichen 
Obieten, von deren Ausdehnung und Bedeutung X. keine Ahnung hat, 
ein Anfängen ohne Fortsetzung, ein Aufhören, noch ehe ein rechter An¬ 
fang gemacht war. 

Freilich läßt er es nicht an Versuchen fehlen, sich selbständig zu 
machen und Geld zu erwerben, allein, er bringt es nicht über sich, in 
finer seinem Alter und seiner jnangelhaften Vorbildung entsprechenden 
Stellung anzufangen, mit dem Vorsatz, sich später einmal emporzuarbeiten. 
Dergleichen ist ihm zu „geisttötend“, zu „proletenhaft“. „Er, der von 
Adel war, wenn auch indirekt, er, in dessen Adern blaues Blut fließt, 
sollte sich in die proletenhafte Rolle eines Angestellten fügen.“ .... 
So schreibt er in seiner „Autobiographie“. Und damit komme ich zum 
dritten der oben skizzierten Punkte, zu seiner eigenen Auffassung seiner 
Gaben und Fähigkeiten. 

Ad 3. Für X.s geistige Physiognomie ist nun dies charakteristisch: 
Die Dürftigkeit der intellektuellen und moralischen Veranlagung und die 
dazu im schreienden Gegensatz stehende, durchaus pathologisch zu deutende 
Selbsteinschätzung, der naive Dünkel, der zuweilen eine geradezu groteske 


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Blume, 


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und lächerliche Höhe erreicht. So erzählt er io seinem Lebenslauf von 
seiner Geburt und weiteren Entwicklung in folgenden Worten: „Ein 
Knäblein erblickte das Licht der Welt, der Vater weiß, daß der Knabe 
ein großer Geist, ein Genie wird . . .ein Genius gießt einen großen Geist 

in ihm aus.er, der für alles Edle und Gute empfänglich war, 

der die Musik und sein Studium, sowie den Verkehr mit durchgeistigten 
Menschen über alles liebte, der das Menschenstudium betrieb und Philo¬ 
sophie, Medizin, juris-Studien (!) machte, er sollte sich dazu hingeben 
Angestellter zu sein.“ 

Dieser Mensch, der Preußen für ein Kaiserreich und die Schnee¬ 
koppe für das höchste Gebirge in Europa hält, erklärt völlig ernsthaft, 
er habe ja vollkommen die Bildung eines Abiturienten. Er, der von Kind¬ 
heit an seinen Eltern nur Kummer gemacht hat, der bisher überall ver¬ 
sagt hat, der im Alter von 23 Jahren bereits mit mehreren empfindlichen 
Strafen belegt ist, er hält sich für ein Genie, einen Geisteshelden, einen 
begnadeten Musiker, vergleicht sein Schicksal mit dem Napoleons und 
verlangt staatliche Anstellung und Unterstützung. 

Erst aus dieser Selbsteinschätzung heraus finden seine Handlungen 
ihre volle psychologische Erklärung und damit die ihnen gebührende Be¬ 
urteilung. 

In X. vereinigt sich eine hochgradige angeborene Geistes- und 
Urteilschwäche mit einer krankhaften Stärke des Phantasielebens. Seine 
Mutter gab mir folgende sehr glaubwürdige Schilderung: „Er fühlt sich 
gar nicht schuldig, fühlt sich nicht ausgestoßen, rechnet sich vollständig 
zur Familie wie ein guter Sohn, schämt sich nicht im geringsten, wenn 
Besuch kommt und bei ähnlichen Gelegenheiten.“ Dem entsprach sein 
Verhalten während der Beobachtungszeit vollständig. Mit keiner Regung 
zeigte er ein Bewußtsein seiner Situation, eine Empfindung für das Bedenk¬ 
liche seiner Handlungen, eine Verlegenheit oder gar Scham bei Durch¬ 
nahme seines bisherigen verfehlten Lebens. Er vergaß vollkommen Ver¬ 
anlassung und Art seines augenblicklichen Aufenthaltes und lebte auch 
hier in einer Welt der Phantastik und Romantik, in der ihm selbst eine 
außerordentliche und entscheidende Rolle zufällt. Dafür ist folgendes 
Schreiben höchst charakteristisch: „Anschluß-Mitteilung in der Beob¬ 
achtungsache Schneider, Emil. Der Pat. Schneider stößt Drohungen des 
Mordes und des Totschlags gegen die Ärzte aus und schimpft proletenhaft. 
Diese Mitteilung ist als geheime zu betrachten. Es müssen zur Sicherung 
der Ärzte besondere Vorsichts-Maßregeln getroffen werden. Beob¬ 
achter X.“ 

Wie man sieht, hat er vollständig vergessen, daß er selbst als Beob¬ 
achtungskranker hier ist, er fühlt sich vielmehr auf einem verantwortung¬ 
vollen Posten, als eine Art Vertrauensperson, deren bedeutsame Mit¬ 
wirkung die Ärzte nicht entbehren können. Dabei handelte es sich um 
einen Kranken im letzten Verblödungstadium der Dementia praecox, 
dessen völlig sinnlose Bemerkungen den übrigen Pat. Spaß machten. 


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Phantastik and Schwachsinn. 


359 


An diesem Beispiel erkennen wir neben der Nebenwertigkeit des 
X.schen Phantasielebens zugleich auch dessen Inhalt. Das Unheimliche, 
Mystische, Übernatürliche zieht ihn an. Das, was der Laie „so interessant“ 
zu nennen pflegt. Deshalb ist es sein Ideal, Detektiv zu werden, deshalb 
seine Vorliebe für das „Menschenstudium“, für Hypnose und Suggestion, 
die sich zu der grotesken Idee einer staatlichen Zwangshypnotisieranstalt 
versteigt. Daher auch sein unklarer Drang, „alles zu ergründen“,, und 
sein Kokettieren mit Wissenschaft und Philosophie. 

Und dieser von Jugend auf haltlose und pathologische Mensch 
gerät nun unter den Einfluß einer objektiv kindischen, subjektiv da¬ 
gegen sicherlich ehrlichen und tiefgehenden Leidenschaft. Wenn der Ge¬ 
sunde in solchem Zustande sich häufig an der Grenze des Normalen bewegt, 
«o Ist es klar, daß ein Mensch wie X. durch diesen Affekt vollends aus dem 
'relisohen Gleichgewicht kommen mußte. 

So klar das Seelenleben des Ang. vor Augen liegt, so schwierig 
ist es. dasselbe mit einem kurzen diagnostischen Schlagwort zu kenn¬ 
zeichnen. 

X. gehört in die große Gruppe der „Minderwertige n’’. 
Zunächst weist die Untersuchung das Vorhandensein eines erheblichen 
angeborenen oder jedenfalls sehr frühzeitig erworbenen Intelligenz¬ 
defektes nach. Neben diesem lassen sich nun noch eine Reihe mehr 
•der weniger charakteristischer Einzelzüge erkennen. X zeigt deut¬ 
sche manische Symptome, trotz seines äußerlich geordneten Ver¬ 
haltens. Ich finde dieselbe in seiner Ruhelosigkeit, seinem rastlosen 
Betätigungstriebe, wie ersieh in den unaufhörlichen, meist von Größen- 
deen zeugenden Streichen der letzten Jahre äußert, und vor allem 
a der Quantität und Qualität seiner schriftlichen Produktionen. 

Ferner finden sich deutliche hysterische Stigmata. Zu ihnen ge¬ 
hört das bereits oben geschilderte Überwiegen des Phantasielebens, 
•he Eitelkeit und Selbstbeweihräucherung, mit der er sich in seinen 
Triaaen stets in möglichst erhabene und bedeutungvolle Posen und 
>3Mt>.«en versetzt, dahin gehört ferner die Suggestibilität, die sich 
am aessprieht. daß X durch mein scheinbares Eingehen auf seine 
zu einer immer maßloseren Ausgestaltung seines Traum- 
veranlaßt wird, die abnormen Erinnerungslücken, die bei ihm 
ad den Gedanken an pathologische Bewustseinszuständc 
•Tagträumen), und endlich nicht zum wenigsten die Ano- 
sai«. o*r Sensibilität. Nur kurz sei noch auf ein Symptom hinge- 
tau in seinen Briefen mehrfach zeigt, nämlich eine Neigung 


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Blume, 


zu seltsamen Wortneubildungen. So spricht er einmal von der „In- 
sichglücksbefähigung“, ein anderes Mal von der „dishironisch-kalosti- 
schen Lebensqual“, dann wieder von der Nacht des „marvisierenden 
Winters“. X. weigerte sich, letzteres Wort zu erläutern; es gehöre zu 
einer Sprache, die er jetzt ausbilde zur ausschließlichen Verständigung 
zwischen Hypnotiseur und Medium. Z. T. stammen diese Bildungen 
wohl aus mystisch-spiritistischen Schriften, z. T. aber erinnern sie 
doch auch an die Silbenkombination, wie man sie bei der Dementia 
praecox findet. 

Es war unverkennbar, daß X. im Verlaufe der sechs Beobach¬ 
tungswochen kränker wurde. Er lebte sich immer mehr in die Rolle 
des verkannten Genies und Menschheitbeglückers hinein, er begann 
dann von „Intrigien“ zu sprechen, und es bedurfte nur einer kleinen 
expiratorischen Provokation, um ihn zu weiterer Ausarbeitung dieses 
paranoiden Systems zu bringen. Zunächst denkt er noch für einen 
Augenblick an seine frühere Braut, dann aber geht er ins Allgemeine: 
der Staat ist es, der ihn nicht aufkommen lassen will, die unteren 
Beamten fürchten für ihre Stellungen, deshalb muß er zum Schweigen 
gebracht werden. Freilich handelt es sich hier nicht um das uner¬ 
schütterlich eingewurzelte Wahnsystem eines Paranoikers. Immerhin 
aber ist es bedeutsam und steht im Einklang mit unseren sonstigen Er¬ 
fahrungen, wie wenig bei X. zu einem akuten psychotischen Auf¬ 
flammen des bei ihm vorliegenden geistigen Grundübels gehört. 

Nach alledem ergibt sich folgende ärztliche Beurteilung des Angekl. 
und seiner Handlungen: X. leidet an einem hochgradigen Defekt 
auf ethischem und intellektuellem Gebiet, verbunden mit einem 
krankhaft gesteigerten Trieb- und Phantasieleben. Dieser Zustand 
macht ihn unfähig, die Tragweite seiner Handlungen wie ein Normaler 
zu übersehen, beraubt ihn auch der physiologischen „Hemmungen“, 
mit denen ein gesunder Intellekt Versuchungen zu widerstehen ver¬ 
mag. Er hat sich bisher trotz empfindlicher Strafen als völlig unver¬ 
besserlich erwiesen, und seine Mutter erklärte mir gegenüber, als von 
seiner eventuellen Entlassung die Rede war, „da vergehen keine 
drei Tage, dann macht er wieder irgendeinen Unsinn“. 

Seine Strafhandlungen zeigen bei genauer Betrachtung dieselben 
Charaktere, auf die wir bei der Analyse seines Seelenlebens stießen: 
es fehlt ihnen eine normalpsychologische Motivierung, denn X wird 


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Phantastik und Schwachsinn. 


361 


von seinen Eltern völlig ausreichend unterstützt, und andererseits 
sind sie — eine Notlage X.s vorausgesetzt — zwecklos, denn die 
erschwindelten Vermögensvorteile sind so gering, daß von einem 
wirklichen Nutzen nicht gut die Rede sein kann. Sie werden mit 
so läppischem Ungeschick ausgeführt — X. gibt sich zwar meist 
einen faschen Titel und Namen, nennt aber seine richtige Adresse —, 
daß die Entdeckung alsbald auf dem Fuße folgt. Sie zeigen endlich 
den Einfluß seines krankhaften Phantasielebens, wie er besonders 
im Falle S. zutage tritt, wo X. keinerlei bösartige Absichten hegt, 
sondern sich damit begnügt, sich als Referendar auszugeben und mit 
dem verblüfften Geschäftsmann ein „Protokoll aufzunehmen“. 

Zusammenfassend äußerte sich das Gutachten dahin, daß X. 
mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zur Zeit der Tat geisteskrank 
im Sinne des § 51 StGB, gewesen sei. Das Gericht erkannte dem¬ 
entsprechend* auf Freisprechung, überwies jedoch den Angeld, als 
gemeingefährlich einer Irrenanstalt. 


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Königliche Landesanstalt für bildungunfShige 
Kinder zu Groß-Hennersdorf i. Sa. 

Von 

Anstaltsvorstand Oberarzt Dr. Meitzer. 

Die Landesanstalt liegt inmitten des etwa 1300 Einwohner 
zählenden Marktfleckens Großhennersdorf, 6 km entfernt von der 
nächsten Bahnstation Herrnhut der Strecke Löbau—Oberoderwitz 
in der sächsischen Ostlausitz. Die Gegend hat einen rein ländlichen 
Charakter, die Bevölkerung treibt meist Landwirtschaft und ver¬ 
einzelt auch Hausweberei. 

Im Jahre 1721 war durch eine Besitzerin des Rittergutes und Schlosses 
Großhennersdorf, Freiin Sophie v. Gersdorf, Großmutter des durch die 
Gründung der benachbarten Herrnhuter Brüdergemeine bekannt ge¬ 
wordenen Grafen Zinzendorf, eine „Armen- und Waisenhausstiftung zu 
Nutz und Frommen der Hennersdorfer Inwohner und insonderheit der 
aufwachsenden Jugend und daneben zum Besten des gemeinen Wesens 1- 
eingesetzt worden. Soweit sich aus den spärlichen Nachrichten aus jener 
Zeit ergibt, rentierte sich die Stiftung für den kleinen Ort viel zu wenig: 
die Rittergutsherrschaft mußte sie daher immer wieder finanziell stützen. 
Da die letztere nun immer mehr Beziehungen zur Herrnhuter Bruder¬ 
gemeine gewann, so wurde die Stiftung ihren Zwecken mit dienstbar ge¬ 
macht, um ihr auf diese Weise Einnahmen zu verschaffen. Die Anstalts¬ 
gebäude, die wiederholt Um - und Neubauten erlebten, wurden damals teils 
zu Asyls-, teils zu Erziehungszwecken verwendet. In den 30er Jahren 
vorigen Jahrhunderts ließen sich aber auch diese Institute nur mit Mühe 
und Kosten aufrecht erhalten; die Herrnhuter Unitätsdirektion beschloß 
daher ihre Auflösung. Da sich gerade damals im Lande die Notwendig¬ 
keit eines Landwaisenhauses fühlbar machte, so übernahm die Kgl. Sachs. 
Staatsregierung im Jahre 1838 die ehemaligen Stiftsgebäude aus den 
Händen der Herrnhuter Schwester Gräfin Charlotte v. Einsiedel unter 
der Bedingung, sie zu irgendeinem staatlichen Zweck zu verwenden, 
andernfalls sie an die Gutsherrschaft, die seit 1841 auch nominell immer 
die Herrnhuter Brudergemeine gewesen ist, zurückfallen sollte. — Die 


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Königliche Landesanstalt sn Groß-Hennersdorf i. S. 


363 


Nutzung der Stiftungskapitalien verblieb der Gemeinde Großhennersdorf 
für Kirchen* und Schulzwecke. 

Aus dem staatlichen Landwaisenhaus wurde spater eine Besserungs¬ 
anstalt für verwahrloste Knaben und im Jahre 1889 eine Erziehungs¬ 
anstalt für schwachsinnige Knaben, die im Jahre 1905 mit der analogen 
Anstalt für schwachsinnige Mädchen in Nossen und den sächsischen 
Blindenanstalten in der Landeserziehungsanstalt für Blinde und Schwach¬ 
sinnige zu Chemnitz-Altendorf vereinigt wurde. 

Aus der Geschichte der ehemaligen Hennersdorfer Erziehungsanstalt 
für schwachs. Knaben (über deren Organisation s. Meitzer, „Die staat¬ 
liche Schwachsinnigenfürsorge im Kgr. Sachsen“. Allg. Ztschr. f. Psych. 
1903, und Päd. Studien, Bleyl u. Kämmerer, Dresden, 1904) ist wegen 
der nachfolgenden Entwicklung der sächsischen Schwachsinnigenfürsorge 
von Wichtigkeit, daß schon damals die wohl durch die pädagogische Lei¬ 
tung beeinflußte Tendenz bestand, die bildungunfähigen Elemente von 
den bildungfähigen zu trennen. Sie wurde dadurch besonders nahegelegt, 
daß erstens ein Zusammenleben der ersteren mit den letzteren in einem 
blockartig gebauten Anstaltsgebäude manche Nachteile mit sich bringen 
mußte, und daß zweitens wohl gerade damals, als Folge des Aufschwungs 
der Heilpädagogik am Ende des Jahrhunderts, der Andrang der Auf zu¬ 
nehmenden ein größerer wurde, so daß bald der Platz in der Anstalt nicht 
mehr genügte. Es wurden daher jene bildungunfähigen Elemente, die 
nur der Pflege bedurften, die auch in hohem Maße Morbidität und Mor¬ 
talität beeinflußten und höchstens noch ein wissenschaftlich-medizinisches 
Interesse boten, in die große Landesirrenanstalt Hubertusburg wieder ab¬ 
geschoben. Dort war, wie ja bekannt, als eine der ersten deutschen An¬ 
stalten für Schwachsinnige im Jahre 1846 die Abteilung für schwach¬ 
sinnige Kinder gegründet worden, die bis 1889 bestanden hat. So wurde 
die ursprüngliche Mutteranstalt der sächs. Schwachsinnigenfürsorge 
wieder zur Hilfstation für die beiden Tochteranstalten Großhennersdorf 
und Nossen, und sie blieb es auch nach der Errichtung der gemeinsamen 
Landeserziehungsanstalt Chemnitz-Altendorf. Denn obgleich dort ein 
recht umfangreiches Haus für Blöde erbaut worden war, zeigte es sich 
doch sehr bald, daß dieses wohl genügte, um die allmählich aus dem 
zugeführten Material als bildungunfähig Ausfallenden zu beherbergen, 
aber nicht noch jene Hubertusburger Abteilung. Je mehr sich ferner Chem¬ 
nitz-Altendorf als eine Erziehungsanstalt auswuchs, deren Einrichtungen 
bildungfähigen Blinden und Schwachsinnigen mehr zugute kommen mußten 
als bildungunfähigen, je größer endlich der Zugang aus allen Landesteilen 
in die neue Anstalt wurde, desto weniger konnte noch an eine Vereinigung 
der beiden Abteilungen gedacht werden. Jene Hubertusburger „Abteilung 
einstweilig versetzter bildungunfähiger Zöglinge“ bestand also bis zur 
Eröffnung der hiesigen Anstalt am 30. September 1911, an dem ihr Be¬ 
stand von 36 Knaben und 46 Mädchen hierher überführt wurde. 


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Meitzer, 


So erklärt sich aus der geschichtlichen Entwicklung erstens die 
etwas abseitige Lage hiesiger Anstalt und zweitens die sonst vielleicht 
Verwunderung erregende Tatsache, daß wir hier in Sachsen eine 
besondere Anstalt für bildungunfähige neben der Erziehungsanstalt 
für bildungfähige Schwachsinnige haben. — Dem ursprünglichen 
Gedanken der Stiftung ist sie bis jetzt treu geblieben, insofern sie 
wie ehedem teils Asyl-, teils Erziehungszwecken dient, daß sie in 
Sonderheit der Jugend zugute kommt, und daß sie nicht nur den 
Hennersdorfern Inwohnern einen direkten und auch einen ganz be¬ 
trächtlichen indirekten Nutzen bringt, sondern auch „dem Besten des 
gemeinen Wesens“, dem Staatswohl dient, da sie alle jene bildung¬ 
unfähigen Idioten aus dem ganzen Königreich aufnimmt, die für ihre Um¬ 
gebung besonders störend und gefährlich sind. Um Gesagtes nicht zu 
wiederholen, kann Verf. hier auf seine Ausführungen in der Rede hin- 
weisen, die bei der Weihe der Anstalt am 5. November gehalten wurde 
(Ztschr. f. Behdlg. Schwache. Jg. 32, Nr. 5). Daneben soll sie später, 
wenn der Ausbau vollendet ist, geisteskranke Kinder, deren gemeinsame 
Verpflegung mit Erwachsenen in den Heil- und Pflegeanstalten immer 
gewisse Schwierigkeiten macht, aufnehmen. Die Zahl geisteskranker 
Kinder, selbst in einem so volkreichen Lande wie Sachsen, ist nicht 
groß. Es wird daher für diese Art Kinder immer nur eine kleine Ab¬ 
teilung nötig werden, die abseits von dem Hauptgebäude mit dem 
Krankenhaus verbunden werden wird. 

Zu erwähnen bleibt hier noch, daß die hiesige Anstalt genau 
wie alle anderen sächsichen Landes-Heil- und Pflege-, Erziehungs¬ 
und Strafanstalten unter der direkten Verwaltung des Ministeriums 
des Innern stehen. Diese direkte Unterstellung unter das Ministerium 
ist ein Beweis dafür, daß die Sächsische Regierung den Anstalten 
von jeher eine besondere Fürsorge und Bedeutung beigemessen hat. 
Sie ist auch für die Anstalten von Vorteil, weil der Geschäftsgang 
rascher ist, und weil in sämtlichen Landesanstalten besser nach einheit¬ 
lichen Gesichtspunkten verfahren werden dürfte. 

War die frühere Landeserziehungsanstalt für schwachs. Kinder ein 
schmuckloses Gebäude mit plattem Dach, das in der hiesigen lieblichen 
Berggegend wie ein großer, häßlicher Fremdkörper wirkte und von den 
meisten für eine Fabrik gehalten werden mußte, so steht jetzt an der¬ 
selben Stelle ein schmucker Bau, der hauptsächlich durch die schöne 


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Königliche Landesanstalt zu Groß-Hennersdorf i. S. 


365 


Gliederung des Daches und die Krönung mit einem Uhrturme, der zu¬ 
gleich der Ventilation dient, außerordentlich gefällig anmutet. Alle 
Tageräume sowie ein Teil der Schlafräume und der Garderoben sind 
nach Südwest orientiert. Neun von elf Schlafräumen haben an zwei 
Seiten Fenstern, so daß sie gut durchlüftbar sind und das Sonnenlicht von 
zwei Seiten hineinfluten kann. Daß ein Teil der Garderoben nach Süden 
liegt, entspricht nicht nur dem praktischen Zwecke, die Räume einer 
Abteilung möglichst nebeneinander zu haben, um Lauferei und Personal 
für die Aufsicht zu ersparen, sondern auch der hygienischen Absicht, 
diese Räume, die immer eine Brutstätte von Dünsten nach Kleider- und 
Lederzeug sind, möglichst der reinigenden Wirkung des Sonnenlichtes 
zugänglich zu machen. 

Vier der zentral gelegenen Schlafsäle grenzen direkt an große Ve¬ 
randen. von denen die eine im zweiten Geschoß offen, die andere im ersten 
Geschoß geschlossen ist. Sie gestatten im Winter und bei ungünstiger 
Witterung, die Kinder an die frische Luft zu bringen, ohne daß das Schuh¬ 
werk naß und schmutzig wird, und sie sollen im Sommer in ausgedehntem 
Maße zur Lüftung des Lagermateriales benutzt werden. Eis mag hier gleich 
vorweg genommen werden, daß teils aus Sparsamkeits-, teils aus hygie¬ 
nischen Gründen für die Kinder nur Strohsäcke in Gebrauch sind. Ihr 
Inhalt läßt sich leicht und billig ersetzen und das Überzeug völlig keimfrei 
machen, wenn Unreinigkeiten irgendwelcher Art herangekommen sind. 
Die übrigen Lagerungsbestandteile sind Wolldecken und Federkopfkissen, 
beides in weißem Halbleinen- bzw. Baumwollüberzug, für Unreinliche 
überdies eine Gummi- und Barchentunterlage. Die letztgenannten Unter¬ 
lagen werden genügend groß gewählt und bei sehr unreinlichen und un¬ 
ruhigen Kindern mit langen Wolistreifen (Überresten aus in Abgang 
gekommenen Wolldecken) um den Unterkörper befestigt, so daß für 
gewöhnlich Bettuch und Strohsack nicht beschmutzt werden. — Matratzen 
sind für diese Kinder unzweckmäßig und teuer. Dasselbe gilt von den 
Federkopfkissen, deren Inhalt man allmählich aufbrauchen und mit der 
Zeit durch Roßhaar ersetzen wird, das zwar teurer im Ankauf, aber 
besser rein zu halten, gut zu desinfizieren, unverwüstlich und die beste 
Kopflagerung ist, die es überhaupt gibt. Als Bettstatt werden hölzerne 
Bettstellen verwendet, die aus der früheren Anstalt noch in reichlicher 
Anzahl und guter Beschaffenheit vorrätig waren. Obgleich man als Arzt 
wohl immer mehr Freund der eisernen Bettstellen sein wird, so haben 
jene, besonders wenn die Seitenteile hoch sind, den Vorzug, daß das Kind, 
selbst wenn es sehr unruhig schläft, nicht herausfallen kann, daß es sich 
weniger hart stößt, was besonders bei der merkwürdig häufigen Tendenz 
tiefstehender Idioten zu Selbstverletzung in Betracht kommt, und 
daß sie die Wärme besser Zusammenhalten. Bei einer Infektion, die 
für eine ganze Anstalt bedenklich ist, z. B. bei Typhus, wird man die 
Bettstatt restlos durch Feuer vernichten, was nicht schlimm in die Wag- 

Zeitschrift für Psychiatrie. LX1X. 3, 26 


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Meitzer, 


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schale fällt, wenn sie aus einfachem Holze gebaut ist. Bei unbedenklicheren 
Infektionen kann man auch die hölzernen Bettstellen mit desinfizierenden 
Flüssigkeiten abreiben, durchlüften, durchsonnen und schließlich frisch 
streichen lassen. — Gegen Festsetzung von Ungeziefer schützen auch 
eiserne Bettstellen nicht. Weil sie schwerer auseinander zu nehmen sind, 
sind ihre Fugen sogar schlechter zugänglich und weniger zu kontrollieren. 
Die Dampfdesinfektion dürfte für eiserne wie für hölzerne Bettstellen 
gleich verderblich sein, für die ersteren durch den entstehenden Rost und 
durch Verbiegungen, die bei starker Hitze eintreten. 

In jedem Schlafsaale steht ein fahrbarer leichter Kleiderständer, 
der abends beladen mit Kleidern und Schuhwerk aus dem Saale und früh 
zum Ankleiden wieder hereingeschoben wird. Am Tage hängt daran für 
jedes Kind ein Handtuch. Da die hiesigen Kinder sich zum kleinsten Teile 
selbst waschen können, so ist nur auf jede Personalkraft ein Waschbecken 
im Schlafsaal gerechnet, in dem sie nacheinander die von ihr zu ver¬ 
sorgenden Kinder wäscht. Dagegen hat jedes Kind seinen Mundspül¬ 
becher, seine Zahnbürste und seinen Waschfleck. Falls gröbere Verun¬ 
reinigungen vorgekommen sind, so wird das Kind gleich in der bereit- 
stehenden Badewanne abgewaschen. Hier wie über allen Waschbecken 
befindet sich ein Hahn für Kalt- und Warmwasserleitung. Endlich be¬ 
finden sich in jedem Schlafsaal wie in jedem Tagesraume zwei Wasser¬ 
klosettsitze. — Die Aufstellung fester Klosettsitze in den Tagesräumen 
dürfte vielleicht nicht jedermanns Geschmack entsprechen. Wenn man 
aber bedenkt, daß unter den bildungunfähigen Idioten eine sehr große Zahl 
solcher sich befindet, die beständig unter sich lassen, wenn man weiß, wie 
unangenehm die Aufstellung und Handhabung von Nachtstühlen ist, und 
wieviel sie Personalkraft absorbiert, dann wird man diese Einrichtung 
bald für sehr nützlich erkennen, um so mehr, da die Beseitigung des Ge¬ 
ruchs und der Abgänge hierbei die denkbar gründlichste und schnellste 
ist. Direkt oberhalb der Klosettsitze sind die Ventilationsöflnungen 
angebracht, die dazu beitragen, die Gerüche im statu nascendi zu ent¬ 
fernen. Verf., der diese, wohl anderweit noch nicht übliche Einrichtung 
für die hiesige Anstalt empfohlen hat, glaubte erst diese Sitze durch 
irgendeine Vorrichtung dem Auge des Besuchers entziehen zu müssen. 
Davon ist er aber ganz abgekommen. Eine Anstalt für tiefstehende Idioten 
wird nie ein Schmuckkästchen sein können, mit dem man vor Fremden 
renommieren kann. Ihre Einrichtungen müssen in erster Linie praktisch 
und ihr Betrieb muß möglichst billig sein, damit diese Unglückskinder 
nicht dem Lande allzu teuer zu stehen kommen. Je übersichtlicher aber 
ein Tageraum ist, je mehr Pfleglinge eine Personalkraft gleichzeitig im 
Auge haben kann, desto weniger wird man Personal brauchen, ohne Unfälle 
zu riskieren. 

Übrigens gibt es für die größeren und reinlichen Idioten auch noch 
Aborte, die, leicht vom Tageraum zu erreichen, nach Norden gelegen sind. 


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Königliche Landesanstalt zu Groß-Hennersdorf i. S. 


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Die beiden für die Pfleglinge dort vorgesehenen Sitze sind durch eine 
Zwischenwand getrennt und nach vorn offen, damit die Kinder im Auge 
behalten werden können. 

Leider kommt man trotz aller dieser Einrichtungen in einigen Ab¬ 
teilungen nicht ohne gepolsterte Nachtstühle aus. Sie werden namentlich 
bei den Gelähmten verwendet, die nicht gehen können, und die man doch 
auch nicht den ganzen Tag im Bette liegen lassen will. 

Die Tageräume sind ebenso wie die Schlafräume weiß getüncht bis 
auf einen 1 y, m hohen Ölsockel. Die Dielen sind oder werden zum Teil 
noch mit Linoleum belegt. Auch in jedem Tageraurfle befindet sich ein 
fester Waschtisch mit 2 bis 3 Kippbecken. Sonst sind sie nur ausgestattet 
mit niedrigen hölzernen Tischen, Bänken und Stühlchen mit Seitenlehnen. 
Die Räume sind so berechnet, daß die Kinder dabei noch reichlich Platz 
haben, sich frei zu bewegen, und daß größere Kinderspielsachen wie Schau¬ 
keln, Pferde, Puppenwagen u. dgl. benutzt werden können, ohne daß 
sie die Bewegungsfreiheit hemmen. 

Im Laufe der Zeit werden die jetzt noch kahlen Wände mit ein¬ 
fachem, aber gutem und wenigstens noch für einige Kinder verständlichem 
Bilderschmuck versehen werden. Auch muß jeder Tägeraum ein Ar¬ 
rangement von Blumen erhalten. Diese Dekoration wird nicht nur viel¬ 
fach von den Kindern, ebenso wie von unruhigen Geisteskranken respek¬ 
tiert, sie gibt auch jedem Raume etwas Freundliches und verschafft den 
Eltern die tröstliche Gewißheit, daß ihr Kind gut aufgehoben ist, — 
denn wo für solche kleinen Dinge gesorgt wird, da geschieht dies auch 
im großen und ganzen, — und sie ist endlich eine Annehmlichkeit für 
das Personal, dessen Auge gern einmal darauf ruht, und dessen Hand 
die kleine Mühe der Pflege der Blumen nicht scheut. — Endlich gibt 
es für mehrere Abteilungen zusammen einen nach Norden gelegenen 
Putzraum, in dem Hader, Besen usw. aufgehoben und Arbeiten wie 
Schuhputzen u. ä. verrichtet werden. Sie sind wie die Korridore mit 
Fliesen bedeckt. Im Kellergeschoß befindet sich ein Baderaum mit 8 
emaillierten Eisenwannen, in denen das wöchentliche Reinigungsbad 
genommen wird. 

Das völlig ausgebaute Dachgeschoß enthält die Wohnzimmer für das 
Personal, das sind 1 Oberpflegerin für den Küchen-, 1 für den Aufsichts- 
dienst und für 7 in dem staatlichen Pflegerinnenhaus Hubertusburg aus¬ 
gebildete Pflegerinnen, die die zurzeit bestehenden 7 Abteilungen mit je 
2—3 Wärterinnen versorgen, und einen großen Schlafraum und einen 
Tageraum für die Wärterinnen. Im anderen Teil der Mansarde befindet 
sich ein größerer Raum, der zur Abhaltung der Gottesdienste und der Fest¬ 
lichkeiten für das Personal dient, ein Raum für Unterrichtstunden,, die 
der Arzt und der Seelsorger dem Personal erteilen, und die Wohnung des 
Arztes. Eine Familienwohnung in einem solchen großen Anstaltgebäude 

26* 


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368 


Meitzer, 


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hat nicht nur gewisse hygienische, sondern auch manche ästhetische Nach¬ 
teile für den Inhaber. Auf der anderen Seite ist es aber für die Anstalt, 
besonders im Beginn ihres Betriebes, ein großer Vorteil, wenn der Arzt 
im Gebäude selbst wohnt, daher schnell zu haben ist und immer und 
überall ein eigenes Interesse an der Reinhaltung bzw. an der Hygiene 
des Hauses hat. 

Es ist früher "davon die Rede gewesen, die Anstalt nur durch einen 
Arzt im Nebenamt versorgen zu lassen, um das Gehalt eines haupt¬ 
amtlich angestellten Arztes für eine solch unproduktive Anstalt zu sparen. 
Man kann sich schon nach dem oben Gesagten denken, daß dies ein Un¬ 
ding sein würde, und daß nicht nur binnen kurzem das Gebäude ver¬ 
seucht und ruiniert wäre, sondern auch dem unterhaltenden Fiskus aus 
falscher Behandlung des ja meist sehr untraitabeln Krankenmaterials oder 
gar aus Mißhandlung und Übergriffen des Personals ein Rattenkönig von 
Beschwerden erwachsen würde. In einer solchen Anstalt kann daher nur 
ein psychiatrisch und hygienisch vorgebildeter und auf dem Spezial¬ 
gebiet der Idiotie erfahrener Arzt Gutes wirken und die Interessen des 
Staates sowohl wie der Kranken richtig vertreten, ganz abgesehen davon, 
daß auch hier noch eine wissenschaftliche Tätigkeit Früchte zeitigen kann. 
(Zu vgl. Verf.s „Zur Weihe der Kgl. Landesanstalt Großhennersdorf“, s. 
Ztschr. f. d. Bhdlg. Schwachs. Nr. 5 Jg. 32. Herausg. v. Gürtler u. Meitzer. 
Marhold, Halle.) 

Das Erdgeschoß enthält Aufnahme-, Vorstandzimmer, die Expe¬ 
ditionsräume und die sehr geräumige Küche mit angrenzendem Vorrats-, 
Anrichte- und Zuputzraum. Ein Raum ist für wissenschaftliche Photo¬ 
graphie vorgesehen. Die Photographie soll zuweilen auch den sehr 
praktischen Zweck haben, allzu sorglichen Eltern ad oculos zu demon¬ 
strieren, daß sich ihr Kind in Anstaltpflege besser befindet, wie in der 
häuslichen. — Das ärztliche Inventar und Instrumentarium ist nach dem 
Grundsatz ausgewählt worden, daß man bei dem hiesigen Material mit 
dem einfachsten und billigsten durchzukommen suchen muß, damit sich 
nie eine Stimme erheben kann, die solche Aufwendungen als hinausge¬ 
worfenes Geld bezeichnen kann. Auf der anderen Seite muß aber auch 
den Terroristen, die in einer solchen Anstalt überhaupt einen Luxus 
sehen und am liebsten mit den Kindern nach spartanischer Art und Weise 
verführen, immer wieder entgegengetreten werden. Auch in dieser Hinsicht 
kann auf die Ausführungen des Verf.s in der obengenannten Abhandlung 
verwiesen werden. 

In dem früheren Ökonomiewirtschaftsgebäude an der Nordwestfront 
des Hofes, das jetzt nur noch zum kleinsten Teil zu ökonomischen Zwecken 
Verwendung finden dürfte, wird zurzeit noch ein kleines Krankenhaus 
mit Isolierabteilung für infektiöse Kranke hergerichtet, ferner ein Des¬ 
infektionsofen nach Budderbergschem System, ein Sektions- und ein 
Leichenraum und endlich ein Raum zur Spülung stark beschmutzter 


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Königliche Landesanstalt zu Groß-Hennersdorf i. S. 369 

Wasche und ein anderer zur Sortierung der gereinigten zurückkommenden 
Wäsche eingebaut. 

Die eigentliche Wäschereinigung wird in der benachbarten Königl. 
Heil- und Pflegeanstalt Großschweidnitz besorgt, wohin die Wäsche nach 
Auswaschen des gröbsten Schmutzes teils per Achse, teils per Bahn be¬ 
fördert wird. 

Die Anstalt bekommt das Licht von der Überlandzentrale in Zittau 
und bezahlt für die Kilowattstunde 25 Pfg. 

Sie besitzt eigene Wasserleitung. Das Wasser kommt aus vornehm¬ 
lich waldigem Gebiet und wird auf eigenem, vor wenigen Jahren käuflich 
erworbenem Grund und Boden, der mit Bäumen bepflanzt ist, gefaßt. 
Das Reservoir liegt so hoch, daß das Wasser durch den eigenen Druck 
bis in die Dachwohnungen gelangt. Damit auch das hohe Dach des Gebäudes 
bei Feuersgefahr geschützt werden kann, werden noch Anschlußhydranten 
an die Ortswasserleitung, die höheren Druck besitzt, geschaffen. Die 
Qualität des Wassers der Anstaltleitung hat seit der käuflichen Erwerbung 
des Quellfassungsgebietes nie zu Ausständen mehr Veranlassung gegeben. 
Die Ergiebigkeit beider Leitungen dürfte auch für alle Notfälle ausreichend 
sein. 

Die Abwässer einschließlich der Wasserklosettabgänge werden 
nach biologischem Verfahren geklärt. 

Was nun den inneren Betrieb der Anstalt anlangt, so dürfte zunächst 
Zahl und Art der Beamten und Bediensteten interessieren. Es sind vor¬ 
handen: 

a) folgende Staatsbeamte: 1 Anstaltsarzt (zugleich Anstaltleiter), 
t Expeditions Vorstand (Sekretär), 1 Kassen- und Wirtschaftsbeamter 
(Sekretär), 1 Oberpfleger, 1 Heizer, 1 Küchen Vorgesetzte, 1 Oberpflegerin 
: Abteilungspflegerinnen; 

b) folgende Nichtstaatsbeamte: 1 Diätist zu Hilfsarbeiten in Expe¬ 
dition, Wirtschaft und Kasse, 1 Hausarbeiter, 23 Wärterinnen, 4 Küchen- 
mädchen, 1 Nachtwächter. 

Das Verhältnis des Pflegepersonals zum Pflegematerial ist also bei 
dem gegenwärtigen Bestand von 150 Idioten, 7 Pflegerinnen und 23 Wärter¬ 
innen = 5:1. 

Wer darüber orientiert Ist, wie unreinlich, hilfs- und aufsichtbedürftig 
bildungunfähige Idioten sind, und weiß, daß das Personal sich nicht wie 
in Krankenhäusern und Irrenanstalten mancher Kranker zu Hilfsdiensten 
oder wenigstens zu einigen Handreichungen bedienen kann, daß sich fast 
keins dieser Kinder selbst an- und ausziehen kann, der wird einsehen, 
daß das Prozentverhältnis 1 : 5 nicht hoch ist, zumal wenn, wie hier, 
auch alle Hausarbeiten und das Auswaschen der stark beschmutzten 
Wäsche mit von demselben Personal besorgt werden muß. Das gleiche gilt 
von der Küche, die hier auch über keine nennenswerten Hilfskräfte verfügt 


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Meitzer, 


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und daher auch alle Zuputz- wie Aufwascharbeiten allein machen muß. 
Auf 1 Küchenkraft kommen 35 Esser. Es essen nämlich außer den 150 
Kindern das gesamte Personal, die unverheirateten Beamten und die 
26 erwachsenen Schwachsinnigen, die in der benachbarten Kolonie, einer 
Wohltätigkeitseinrichtung der Unterstützungskasse für entlassene Schwach¬ 
sinnige, gegen Bezahlung mit aus der Anstaltküche. Es muß endlich 
bei dem obengenannten Prozent Verhältnis 1 : 5 bedacht werden, daß 
dem Personal regelmäßig freie Tage zur Erholung gegeben werden müssen, 
und daß oft einmal Krankheit eine Pflegekraft dem Dienst auf längere 
Zeit entzieht. Dadurch sinkt das tatsächliche Verhältnis disponibler 
Pflegekräfte pro Tag auf 1 : 6—7 Pfleglingen, was in anbetracht des 
hiesigen Krankenmaterials sogar sehr niedrig ist. Da man sich aber bei 
einer solchen Anstalt wie der hiesigen, deren Pflegeanstaltcharakter natur¬ 
gemäß mehr vorwiegt, immer vor Augen halten muß, daß die Kosten nicht 
in das Ungemessene wachsen, so wird man eben auf alle Fälle versuchen, 
mit diesem Verhältnis auszukommen. 

Sparsamkeitserwägungen entspringt es auch, wenn hier nicht wie 
in den übrigen sächs. Landes-Heil- und Pfleganstalten vorwiegend in dem 
staatlichen Pflegerinnenhaus geschultes Personal angestellt ist, sondern 
ungeschultes Wärterinnenpersonal. Obgleich erst befürchtet werden 
mußte, daß sich in hiesiger Gegend wenige Mädchen zu diesem Dienste 
bereit finden würden, und der Zuzug erst ein recht spärlicher war, besteht 
jetzt ein Überangebot. Das ist wohl hauptsächlich dem Umstande zu 
danken, daß sich sehr bald bei den hier Bediensteten die Überzeugung 
Bahn gebrochen hat, daß sie hier nicht nur für eine saubere Haushaltung 
— trotz aller Beschmutzungen, die Vorkommen —, sondern auch in der 
Pflege der Kinder und in der Krankenpflege etwas lernen können. Sie 
erhalten hier wöchentlich vom Arzt eine Unterrichtstunde in Kranken¬ 
pflege und praktischen Übungen. Neben diesen ideellen Seiten werden 
natürlich auch die materiellen geschätzt. Ein gutes und billig zu ver¬ 
gütendes Essen wird immer ein Anziehungspunkt bleiben. Die Wärte¬ 
rinnen erhalten anfänglich pro Monat 40,50—43,50 Mk. Lohn, wovon etwa 
18 Mk. (täglich 60 Pfg. für Kost) und 2 Mk. Versicherungsbeiträge in 
Abzug gebracht werden. Sie steigen bei Bewährung bis zu 58,50 Mk. — 
Selbst bei diesem höchsten Satz kommt der Fiskus natürlich weit billiger, 
als wenn er geschulte Pflegerinnen anstellt, die hier Staatsdienerinnen sind 
und bis zu einem Monatsgehalt von 100 Mk. kommen. Während ferner das 
Wärterinnenpersonal fluktuiert, teils weil es sich verheiratet, teils weil 
es anderweit noch günstigere Stellen findet, wobei es die in der Anstalt 
erworbenen Kenntnisse und Fertigkeiten nutzen kann, verbraucht sich 
das Pflegerinnenpersonal in dem doch für sie recht eintönigen Anstalt - 
leben verhältnismäßig zeitig und muß oft vorzeitig pensioniert werden.— 
Im Anstaltleben sind Festtage und Anregungen nötiger als anderswo, 
weil hier die Sonntage in dienstlicher Beziehung den Wochentagen völlig 


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Königliche Landesanstalt zu Groß-Hennersdorf i. S. 


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gleichen. Es ist daher eine besondere Beamten- und eine besondere 
Pflegerinnenbibliothek geschaffen worden; der Geistliche (im Nebenamt) 
halt wöchentlich eine Unterhaltungsstunde ab, dreimal im Monat für die 
Pflegerinnen, einmal für die Wärterinnen. Alle vier Wochen findet Gottes¬ 
dienst für das Personal im Festraume der Anstalt statt, alle 14 Tage 
eine gemeinsame Singstunde und etwa jedes Vierteljahr ein Festabend, 
an dem Aufführungen, Vorträge usw. gehalten werden. Außerdem ist 
es dem Personal, soweit es am Sorfntage frei haben kann, möglich, zum 
sonntäglichen Gottesdienst zu gehen und sich an Festlichkeiten solcher 
Vereine des Ortes zu beteiligen, die keine staatsfeindliche Tendenz haben. 
Die Pflegerinnen haben wöchentlich einen ganzen freien Tag und jährlich 
einen Urlaub von 14 Tagen, die Wärterinnen wöchentlich einen halben 
und alle 4 Wochen einen ganzen freien Tag und im Jahre einen Urlaub 
von 7 Tagen, in denen der Lohn weiter gewährt wird. Da die Kinder 
hier beizeiten, nämlich schon um 7 Uhr zu Bett gebracht werden, so haben 
alle diejenigen, die nicht Schlafsaaldienst haben, etwa von 8 Uhr an Zeit, 
für sich zu arbeiten oder zu lesen. — Diese geistige Hygiene ist hier etwas 
breiter behandelt worden, weil sie vielerorts über der Pflege der Kranken 
vernachlässigt wird. Es würde aber ein ganz besonderer Nonsens sein, 
alles zu tun, um bildungunfähige Idioten zu hegen und zu pflegen, und 
darüber gesundes Personal geistig und körperlich zugrunde zu richten. 

Es erübrigt endlich noch, einen Überblick über die Verpflegung der 
Kinder, über ihre Beschäftigung und über den Tageslauf zu geben. Da 
die Anstalt erst ein Vierteljahr in Betrieb ist, da die Bau- und Einrichtungs- 
arbeiten selbst im Hauptgebäude noch nicht ganz vollendet sind, so kann 
er nur lückenhaft sein, da Verf., der nicht nur Leiter, sondern auch zugleich 
einziger Arzt ist, vorläufig wenig Zeit hatte, sich diesen Dingen zu widmen. 
Die Kinder werden früh y 2 7Uhr aus dem Bette genommen, gereinigt,ge¬ 
waschen und inTagesräume gebracht.wo ihnen zu einem recht beträchtlichen 
Teil das Frühstück, bestehend aus Milchmalzkaffee und 3 Semmeln, durch 
die Wärterinnen gereicht werden muß, weil sie nicht selbst essen und trinken 
können. Um V 2 IO Uhr erhalten sie das Frühstück, 3 /4l2 I hr das Mittag¬ 
essen, um 3 Uhr das Vesper und um Vö7 Uhr das Abendessen. 

Das Frühstück besteht aus einer Butterschnitte, dem je nach der 
Jahreszeit Obst und bei Bedürftigen etwas Milch hinzugefügt wird, 
das Vesper aus Milchmalzkaffee und einer mit Butter oder Zuckerhonig 
oder Marmelade gestrichenen Schnitte, das Mittagessen und Abendessen 
für solche, die festere und krümelige Speisen nicht essen können, aus einer 
nahrhaften breiigen Suppe und event. Kompot, für die anderen aus Ge¬ 
müse mit Fleischmachselung und Zugabe von reichlich Brot, damit auch die 
Zähne genügend in Anspruch genommen werden und genügende Speichel¬ 
absonderung stattfindet. Dreimal in der Woche wird Milch- oder 
Mehlspeise gegeben, die übrigen Male pro Tag etwa 50 g Fleisch. Abends 
wird meist kein Fleisch oder Fleischware und wenig Flüssigkeit verabreicht. 


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um Nerven und Nieren nicht durch Gewürze oder durch Wasserballast 
zu reizen. — Bei der jetzt eingehaltenen Qualität und Quantität wird ebenso 
eine Überfütterung wie eine Unterernährung vermieden und dabei der 
Etatsatz von 50 Pfg. pro Kopf nicht überschritten. — In den Zeiten 
zwischen den Mahlzeiten werden die Kinder vorläufig mit Spielzeug be¬ 
schäftigt und, soweit sie dazu fähig sind, angehalten, sich durch einzelne 
Handgriffe nützlich zu machen. Einige bessere Elemente bringen es dazu, 
anderen Kindern beim An- und Ausziehen zu helfen und sich selbst zu be¬ 
dienen, manche lassen sich als Wächter neben solche stellen, die beständig 
vom Platze fortstreben, manche wischen Staub oder Unreinigkeiten von 
der Diele weg, manche helfen mit Essen tragen, einige wenige sogar Kar¬ 
toffelschälen. — Wie überall so wird natürlich auch hier differenziert 
und diejenigen, die nach Alter, Geschlecht und psychischer Eigenart am 
besten zusammenpassen, in einer Abteilung vereinigt. Das hindert nicht, 
in mancher Abteilung Knaben und Mädchen nebeneinander zu haben. 
Es gibt, wie oben erwähnt, immer auch einige', die sich zu Hilfsdiensten 
eignen. Solche findet man daher auch in Abteilungen, wohin sie nach 
ihrer geistigen Beschaffenheit nicht gehören. Zweifellos lernen sie aber 
hier mehr als in der für sie sonst in Betracht kommenden Station. 
Es versteht sich von selbst, daß auch diese Kinder nie ohne Aufsicht 
sind, damit sie nicht gelegentlich garstig mit den andern Pfleglingen 
sind oder ihnen das Essen wegnehmen. Wir haben hier einige 
sehr gutmütige Mädchen im Alter bis zu 14 Jahren, die sich in 
der Chemnitzer Anstalt allen Erziehungsversuchen gegenüber re¬ 
fraktär verhielten, und die hier bei diesen bescheidenen Anforderungen 
doch eine kleine nützliche Wirksamkeit entfalten. Ist nicht auch schon 
etwas gewonnen, wenn der Wärterin, die doch nicht überall gleichzeitig 
sein kann, solche Handgriffe, wie sie oben angedeutet wurden, 
abgenommen werden? Wenn solch ein Kind andere, die durchaus dem 
Hange fröhnen, sich in der Stube herumzusiehlen oder automatische Be¬ 
wegungen zu machen, daran hindert? Wenn solche Kinder, die fort¬ 
während die Hände in den Mund stecken, was das lästige Geifern nur noch 
vermehrt, von zwei bessern Kindern an der Hand in der Stube herum¬ 
geführt werden, wenn solche, die beständig vom Klosett herunterdrängen, 
dort mit leichter Gewalt zurückgehalten werden? Solche kleine Hilfs¬ 
kräfte darf man selbstverständlich nur gutem, vertrauenswürdigem Per¬ 
sonal anvertrauen, wenn man nicht durch Unliebsamkeiten überrascht 
werden will. Auch dann ist es noch unumgänglich, daß Arzt und Ober¬ 
pflegerin ein wachsames Auge überall haben, damit es nicht zu Übergriffen 
oder dazu kommt, daß es sich das Personal zu leicht macht. Mißhand¬ 
lungen der Pfleglinge durch das Personal werden, wie hier jeder Wärterin 
beim Eintritt gesagt wird, mit sofortiger Entlassung bestraft, aber auch 
solche Handlungen, die nur entfernt wie jene aussehen, dürfen nicht unge¬ 
ahndet bleiben. Denn sowie hier die Zügel locker gelassen werden, dürfte 


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Königliche Landes&nstalt za Groß-Hennersdorf i. S. 


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in einer Anstalt wie der hiesigen mit den wehrlosen blöden Kindern der 
Gefahr grober Mißgriffe Tür und Tor geöffnet sein. 

Aus dem jetzt vorhandenen Material werden sich vielleicht auch 
noch solche Kinder herausfinden lassen, bei denen eine Fröbelbeschäf- 
tigung oder solche Bewegungspiele, wie Ballspiel, die in hervorragendem 
Maße Geschicklichkeit und Aufmerksamkeit üben, nicht nutzlos sind, 
damit das mehr ziellose Spielen mit Spielsachen nicht über den ganzen 
Tag ausgedehnt werden muß. Die Wärterinnen sollen daher, nachdem 
sie das Wichtigste über die pflegliche Behandlung der Idioten gelernt haben, 
auch einen Begriff von den Fröbelschen Arbeiten erhalten. 

Zu erwähnen bleibt noch eine Abteilung, auf der hier die unruhigsten 
und unreinsten Elemente vereinigt sind, damit nicht alle Abteilungen 
durch diese leiden. Hier befinden sich auch diejenigen, die am Tage wie 
in der Nacht oft Krampfanfälle haben. Neben dem Tagesraum und mit 
ihm durch eine offenstehende Tür verbunden ist hier ein kleineres Zimmer, 
in dem 5—6 Betten aufgestellt sind, die gestatten, ein solches Kind, 
wenn nötig, einzubetten und doch gleichzeitig ohne Personalvermehrung 
mit unter Aufsicht zu haben, was bei dem anliegenden großen Schlafsaal 
nicht möglich wäre, ganz abgesehen davon, daß dann der Schlafraum 
nicht so durchgelüftet werden könnte, wie es erwünscht ist. Ein gleiches 
Zimmer mit derselben Einrichtung hat die Abteilung, auf der solche ge¬ 
lahmten ruhigen Kinder sind, die gar nicht oder nicht dauernd sitzen können. 
Auf der ersterwähnten sog. „unruhigen Abteilung“ ist nachts Wache; 
diese hat die Pflicht, den Krampfkranken im Anfalle Hilfe zu leisten, die 
Unruhigen in das Bett zurückzubringen oder ihnen die verordneten Medi¬ 
kamente zu reichen und durch die im Nebenraume schlafende Hilfs¬ 
wärterin eventuell Meldung an die Oberpflegerin über besondere Vor¬ 
kommnisse erstatten zu lassen. Auch hat sie die Kinder, die wach sind, 
nachts abzuführen oder trocken zu legen. In den anderen Abteilungen 
?eschieht dies nur bis 10 Uhr abends ein- bis zweimal bei allen denjenigen, 
die regelmäßig oder vereinzelt einnässen, um ihnen nicht zu sehr den 
Nachtschlaf zu verkümmern und im Saale zu große Unruhe zu schaffen. 
— Jede Abteilungspflegerin hat der Oberpflegerin früh Bericht zu erstatten, 
wozu sie ein Buch mit eingezeichnetem Schema (I) zu benutzen hat. 
Die tägliche Eintragung macht nur sehr wenig Mühe und ermöglicht dem 
Arzt, sich rasch einen Überblick über die Abteilung zu verschaffen und 
darnach bei der Visite Weisungen zu geben, wie bei den einzelnen Kindern 
zu verfahren ist, um die Unreinheit zu bekämpfen, wie die Unruhe und 
die Krämpfe zu beseitigen sind u. dgl. mehr. Auch sind darin oft Notizen, 
die für die Krankengeschichte zu verwerten sind. — Die Oberpflegerin 
faßt diese Einzelberichte in einen Gesamtbericht nach Schema II 
zusammen, den sie dem Arzt früh vorlegt. Die Visite findet nicht sche¬ 
matisch zu derselben Zeit und immer in derselben Art statt, sondern un¬ 
regelmäßig und ungleichmäßig. Zuweilen erstreckt sie sich nur auf eine 


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bez. Abteilungswärterin: 


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einzelne Abteilung. Es wird dann dem Personal praktisch vorgeführt, 
wie es sich mit den Kindern und wie es diese unter sich zu beschäftigen 
hat, wie es sie zum Sprechen, zur Übung der Aufmerksamkeit und des 
Gedächtnisses, zum Selbstbedienen und zur Reinlichkeit anzuregen hat 
Es ist selbstverständlich, daß über jedes Kind eine Krankengeschichte 
angelegt wird, in der zuvörderst der Aufnahmebefund und dann die fort¬ 
laufenden Beobachtungen niedergeschrieben werden. Sehr häufig ver¬ 
langen die Eltern, die meist sehr an diesen elenden Kindern hängen, 
brieflich Auskunft über Gesundheit und event. Fortschritte. Da ist es 
gut, wenn bestimmte Beobachtungen festgelegt sind. Erkrankungen 
werden, wenn sie den Verdacht auf eine schwerere Verlaufsart offen lassen, 
stets an die Eltern gemeldet, dann aber, um unnötige Schreiberei zu ver¬ 
meiden, nur wenn Verschlimmerungen eintreten. Besuche der Kinder 
durch Eltern und Anverwandte sind jederzeit gestattet und gern gesehen, 
weil sie die Vorurteile, die manche gegen die Anstalten haben, zerstreuen. 
Je besser die Angehörigen den ganzen Betrieb kennen lernen, desto ver¬ 
trauensvoller überlassen sie ihre Kinder der Anstalt, und desto mehr wissen 
sie den Segen der Anstalt zu schätzen. 

Mechanische Beschränkungen werden nur angewendet, wenn ein 
Kind, wie dies bei tiefstehenden Idioten recht häufig vorkommt, gegen 
sich selbst wütet, oder dann, wenn Verletzungen vorhanden sind, die von 
dem Kinde fortwährend wieder aufgerissen werden oder sich durch üble 
Angewohnheiten verschlimmern können. Die Beschränkung besteht aber 
nur darin, daß die Arme gewöhnlich durch eine weiche Mullbinde so banda¬ 
giert werden, daß ein Abreißen des Verbandes oder ein Zerbeißen oder 
In-den-Mund-stecken unmöglich wird. Am gefährlichsten sind die Augen¬ 
leiden, die in Gestalt skrofulöser Phlyktänen äußerst hartnäckig sein und 
bei mangelhafter Überwachung leicht zu Verunstaltungen des Auges, 
ja zu Erblindungen führen können. Solche Kinder Tag und Nacht durch 
eine Personalkraft überwachen bzw. halten zu lassen, würde eine nutz¬ 
lose und kostspielige Quälerei sein, die nur ein starrer Verfechter des 
Norestraint-Prinzipes fertig bringen kann. — Jede Beschränkung dieser 
Art wird vom Arzt angeordnet und der Abteilungspflegerin besonders 
schriftlich bescheinigt. — Die Türen sind in den meisten Abteilungen 
offen und werden nur dort (zurzeit in zwei Abteilungen) geschlossen 
gehalten, wo sich Kinder befinden, die triebartig fortlaufen. Von der 
Anbringung von Gittern an den Fenstern ist beim Bau abgesehen 
worden. Doch werden voraussichtlich noch solche angebracht werden 
müssen, da die Fensterbrüstungen überall ziemlich niedrig sind und 
daher ein allzu rasches Klettern auf die Fenster durch die oft ganz 
unberechenbaren Kinder selbst bei bester Aufsicht und tüchtigem Per¬ 
sonal nicht mit absoluter Sicherheit verhütet werden kann. — Bei starker 
Erregung werden Dauerbäder und feuchtwarme Packungen in Anwendung 
gezogen; oft muß von Beruhigungs- oder Schlafmitteln, oft von solchen 


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Königliche Landes amtalt sn Groß-Hennersdorf i. S. 


377 


Medikamenten Gebrauch gemacht werden, die antiluisch, antiskro¬ 
fulös, antimyxödematös wirken. So liegt dem Arzte, der zugleich Erzieher 
des Personals und der Kinder sein muß, ein gar nicht undankbares Feld 
teils therapeutischer, teils prophylaktischer, teils hygienischer Wirksam¬ 
keit offen. 

Es wäre verfrüht nach 1 / t — 1 /, Jahr von Erfolgen zu reden. In 
welcher Richtung sie zu erzielen sein werden, das ist, um Wieder¬ 
holungen zu vermeiden, aus der schon oben zitierten Arbeit zu er¬ 
sehen. Es w&re ebenso verfehlt und dem gesunden Menschenverstand 
zuwiderlaufend, wollte man diese bildungunfähigen Idioten mit allen 
Mitteln medizinischer Kunst „aufpäppeln“, wie es unchristlich und un¬ 
moralisch wäre, die Kinder hilflos den sie überziehenden Krankheiten 
als Beute zu überlassen. Die aus der letzteren Konsequenz entsprin¬ 
genden Nachteile würden zweifellos nicht nur auf die gesunden, im 
Dienste dieser Kinder stehenden Pflegekr&fte fallen, sondern auch 
mit der Zeit dem Ansehen der Anstalt und damit des Staates schaden. 
Wenn aber einer Anstalt seitens des Publikums kein Vertrauen mehr 
entgegengebracht wird, dann verfehlt sie ihren Hauptzweck, der hier 
bei einer Anstalt für bildungunfähige Idioten darin besteht, diese 
asozialen Elemente der Familie, der sie meist enormen materiellen und 
psychischen Schaden bringen, abzunehmen und sie im Sinne christ¬ 
licher Liebe zu pflegen und zu bewahren. 

Vorläufig beherbergt die Anstalt nur Kinder bis zu 14 Jahren. 
Wenn dies Alter erreicht ist, dann müssen diejenigen, die unbedenklich 
in der Familie verpflegt werden können, dieser wieder zurückgegeben 
werden, während die gefährlichen an eine Abteilung für ältere Idioten, 
die noch in Hubertusburg besteht, abgegeben werden. Wahrschein¬ 
lich wird aber auch diese Abteilung einmal hierher verlegt werden, 
am dort Platz für Geisteskranke zu schaffen und um gleichartige 
Kranke auf einer Scholle zu vereinigen. 

Zudem besteht in Großhennersdorf als eine Schöpfung der pri¬ 
vaten Unterstützungskasse für entlassene Schwachsinnige die sog. 
.landwirtschaftliche Kolonie“, in der harmlose erwachsene, nicht 
ganz arbeitsunfähige Idioten männlichen Geschlechts gegen einen 
Verpflegungssatz von 60 Pfg. bis 1,25 Mk. Unterkunft und Beschäf¬ 
tigung finden. 

Hoffentlich eihält diese Wohltätigkeitskasse aus privaten Kreisen 
einmal eine solche finanzielle Stärkung, daß es möglich wird, auch 


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378 Meitzer, Königliche Landesanstalt zu Groß-Hennersdorf i. S. 

ein Gebäude für ebensolche weibliche Schwachsinnige, die, wenn sie 
der Erziehungsanstalt entwachsen sind, oft noch viel mehr dem Elend 
preisgegeben sind und überall als überflüssig empfunden werden, zn 
errichten. Manche von ihnen könnten recht wohl als halbe Kräfte 
in der Anstalt, die dadurch noch billiger wirtschaften würde, Ver¬ 
wendung finden. 

Um vorzeitige Überfüllung der Anstalt und kostspielige Er¬ 
weiterungsbauten zu verhüten, dürfte wahrscheinlich schon bald an eine 
Organisation der Familienpflege im Orte gedacht werden müssen. 
Wie für manche erwachsene Geisteskranke, so würde sie auch für 
viele Idioten durchaus angängig sein. Falls die Bevölkerung von der 
Pflege solcher Kinder materielle Vorteile hat, wird sie mit der Zeit 
auch Verständnis für diese Liebestätigkeit, die es trotzdem bleibt, 
gewinnen und auch dem Anstaltsarzt, der natürlich die Überwachung 
der Pfleglinge zu übernehmen hätte, das Aufsichts- und Beratungs¬ 
recht gern zugestehen. 


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Verhandlungen psychiatrischer Vereine, 


3. Jahresversammlung der Pommerschen Vereinigung 
für Neurologie und Psychiatrie am 17. Februar in 

Stettin. 

Vorsitzender: Herr Mercklin -Treptow a. R. 

Anwesend die Herren: Bendixsohn, Rra«unmg-Stettin, Coüa-Finken- 
walde, Deutsch, üncAe-Ückermünde, ürmiscA-Treptow a. R., Gundlach- 
Üekermünde, i/aec/cel-Stettin, Halbey - Ücker mü nde, Horstmann -Stral¬ 
sund, Mangelsdorf -Stettin, Marcus - Eckerberg, Mercklin -Treptow a. R., 
Neumeister, Niesei, Samuel, Schnitzer, «ScAutee-Stettin, Tomaschny, VoU- 
Aeim-Treptow a. R. 

Haeckel- Stettin: Über die Foer«<ersche Operation 

Die spastischen Lähmungen bei Störungen in der Pyramidenbahn, 
also besonders bei der Little sehen Krankheit, setzen sich aus zwei Kom¬ 
ponenten zusammen, einer paretischen und einer gesteigerten Reflex¬ 
erregbarkeit; letztere kommt zustande durch Unterbrechung der reflex¬ 
hemmenden, inhibitorischen Fasern, welche mit den motorischen zu¬ 
sammen in der Pyramidenseitenstrangbahn verlaufen. Die paretische 
Komponente kann man nicht beeinflußen, wohl aber die gesteigerte Re¬ 
ilexerregbarkeit, dadurch, daß man die Maße der andauernd ins Rücken¬ 
mark einströmenden sensiblen Reize vermindert. Das geschieht mit 
Durchschneidung von hinteren Wurzeln der Spinalnerven. — Da eine 
Anästhesie in einem bestimmten Bezirk erst entsteht, wenn drei neben¬ 
einanderliegende Wurzeln durchschnitten sind (Sherrington), so durch- 
trennt man zwei Wurzeln nebeneinander, läßt dann eine stehen usw. 
ln dieser Weise durchschneidet man bei spastischen Lähmungen der 
Beine die II., III., V. Lumbal- und II. Sakralwurzel. Foerster übertrug 
diese seine Ideen auch auf die Behandlung von gastrischen Krisen der 
Tabiker, von der Ansicht ausgehend, daß denselben ein primär sensibler 
Reizzustand zugrunde liege, und empfahl die Durchschneidung der VII. 
bis IX. hinteren Dorsalwurzeln. 

Wenn irgend möglich, soll man die Operation einzeitig vollenden ; 
denn wenn auch die schwere Schockwirkung durch die zweizeitige Operation 


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Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 


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vermieden wird, so wird doch die Asepsis dabei gefährdet. Durch Modi¬ 
fikationen der ursprünglichen Methode: Ersatz der Allgemeinnarkose durch 
Lokalanästhesie, Herabsetzung der Blutung aus der dicken Bücken¬ 
muskulatur durch Einspritzen von Adrenalin, Vermeidung des gefähr¬ 
lichen Liquorausflusses durch Nichteröffnung des Duralsackes und Durch¬ 
schneidung der Wurzeln außerhalb des letzteren {Guleke), Durchschneidung 
der Wurzeln nicht am Austritt aus dem Duralsack, sondern der einzelnen 
Wurzelfasern unmittelbar am Austritt aus dem Rückenmark (Wilms). 
ist es gelungen, die Schwere der Operation erheblich herabzumindern. 

Bisher sind 83 Operationen in der Literatur niedergelegt worden, 
dazu kommen 2 vom Vortragenden ausgeführte. Von diesen 85 Operierten 
sind 12 gestorben, d. i. eine Mortalität von 14%. 

Bei weitem die besten Erfolge erzielt man bei der Little sehen Krank¬ 
heit; Kinder, die elende Krüppel waren, hat man zum Gehen gebracht: 
von großer Wichtigkeit ist die Nachbehandlung mit ganz systematischen 
Bewegungsübungen. — Weniger gut sind die Resultate bei gastrischen 
Krisen der Tabiker. Die Erfahrung lehrte, daß man mehr W’urzeln durch- 
schneiden muß als die 7.—9. dorsale, da das Einstrahlungsgebiet der 
in Betracht kommenden Nerven ins Rückenmark größer ist, als man ur¬ 
sprünglich annahm. — Am wenigsten befriedigend sind die Erfolge bei 
spondylitischen Lähmungen und der multiplen Sklerose. Ähnlich wie 
bei den Kranken mit gastrischen Krisen hat man es hier mit sehr herunter¬ 
gekommenen Menschen (Morphium!) und mit progressiven Erkrankungen 
zu tun, während die Littlesche Krankheit ein abgeschlossener Prozeß ist. 
Von 6 wegen multipler Sklerose Operierten starben 3. 

Vortragender selbst hat zweimal operiert; beide Male wurde die 
Operation gut überstanden. Das eine Mal handelte es sich um eine 
31jähr. Kranke mit schwersten gastrischen und intestinalen Krisen, welche 
durch Nikotin und Morphium (40 Spritzen zu 1 cgr. pro Tag) sehr her¬ 
untergekommen war. Nach Durchschneidung der 7.—11. Dorsalwurzel 
(extradural nach Guleke) wurde das Erbrechen sehr viel seltener, die 
Magen- und Rückenschmerzen schwanden. — Die andere, 35jährige 
Kranke mit multipler Sklerose litt an äußerst lästigen, sehr schmerzhaften 
Spasmen der Beine. Die Wurzeldurchschneidung nach der Wifmsschen 
Modifikation beseitigte die Spasmen ganz; Gehen und Stehen war zunächst 
schlechter als vor der Operation, besserte sich aber bedeutend durch 
systematische Bewegungsübungen. 

Die ingeniös ausgedachte, mit der Exaktheit eines physiologischen 
Experimentes wirkende Operation Foersters stellt eine sehr wesentliche 
Bereicherung unserer Therapie sonst kaum einer erfolgreichen Behand¬ 
lung zugänglicher Zustände dar. 

Diskussion. — «ScAnifzcr-Stettin bemerkt, daß er an dem Vortrage 
des Herrn Haeekel ein besonderes Interesse habe, weil in den Kücken- 
mühler Anstalten eine erhebliche Anzahl von Kranken mit zerebraler 


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ßiplegie behaftet sei. Er fragt in bezug auf die Indikation, ob auch solche 
Kranke zur Operation empfohlen werden können, vieren Pyramiden - 
bahnen völlig zerstört sind, sodann, ob die Mitbewegungen endgültig 
verschwinden, und ob nicht zur vollen Ausnutzung des Erfolges eine nor¬ 
male Intelligenz erforderlich sei. Redner habe beobachtet, da 11 bei schwach¬ 
sinnigen Hemiplegikern und Diplegikern orthopädische Operationen 
keinen Dauererfolg brachten, weil die betreffenden Kranken bei vier 
Nachbehandlung infolge ihrer Intelligenzschwäche versagten. 

Haeckel: Bei den meisten Fällen besteht wohl eine vollkommene 
Unterbrechung der Pyramidenbahn, trotzdem sind die Resultate gut. 
Die Mitbewegungen werden durch die Unterbrechung des Reflexbogens 
aufgehoben. Intelligenzdefekte können unüberwindliche Schwurigkeiten 
machen, so daß die Übungstherapie nutzlos ist. 

Halbey- Ückermünde: über die Kombinationen narko¬ 
tischer und Schlafmittel und ihre Anwendung in 
der Behandlung der Geisteskrankheiten. 

Ausgehend von den wissenschaftlichen, experimentellen Unter¬ 
suchungen Bürgis (Dtsch. med. Wschr. 1910), der bewiesen hat, daß der 
pharmakologische Effekt eines Medikamentes durch hintereinander ge¬ 
reichte Teildosen verstärkt wird, und daß die Kombination von verschiedenen 
narkotischen Mitteln eine noch größere Wirkung erzielt, betrachtete der 
Vortragende die klinischen Erfahrungen, die von anderen Autoren und 
von ihm selbst mit zahlreichen Kombinationen von narkotischen und 
Schlafmitteln gemacht worden sind, die er zur Bekämpfung der Auf¬ 
regungszustände und der Schlaflosigkeit der Geisteskranken empfiehlt. 
(Der Vortrag wird an anderer Stelle in extenso veröffentlicht werden.) 

Diskussion. — 6o//a-Finkenwalde: Ich hatte die Absicht, zum 
heutigen Vortrage meine Erfahrungen über die gleichzeitige Verabreichung 
von verschiedenen Schlafmitteln zusammenzustellen, bin aber leider nicht 
dazu gekommen und will mich begnügen, einiges aus dem Gedächtnis 
mitzuteilen. Den ersten Anlaß zu Versuchen nach dieser Richtung gab 
mir vor etwa 12 Jahren die Erfahrung bei einem schweren Deliranten, 
•ten ich mit allen gebräuchlichen Mitteln nicht beruhigen konnte. Ghloral 
in großer D'r-is war hier ausg. hlo-sen. Ich versuchte schließlich auf 
Anregung des Bruders d—- P. Brornidia, da- früher in einem Alkohol- 
•blirium gut gewirkt haben .sollte. ,.\uf einen Teelöffel B. schlief p. -e<h-, 
•Stunden. Mit kleineren Do--r, g< !.«/:g e-, ihn ruhig zu halten, und unter 
hadern. Packungen Beruhigte er -i n dann völlig, wahrend Bromid»;» 
täglich dreimal zu 1-V, ah-;.:- 4.0 verabreicht wurde. Da die 
Zusammensetzung des B. r,i• h* bekannt war. kombinierte i* h mir 

für ähnli' he F-lle er. Mi* * -1 a .- Chloralh ydrat \.T, ».d-r Odoralarnid 2.0, 
Tinct opii spL 1.0. Hy~ i. und wandte <- mit E;fc;g h-; ’•*. 

l'rigkeit. die al \-zz. - -• r. ;• ne Unruhe bewirkt war, an. Ab-r 

teaärii *Ir rrr-urs* LI.VX. 


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als Mixtur halt sich diese Mischung nicht, namentlich mit Chloralamid. 
Später kombinierte ich die Mittel erst vor der Darreichung mit Hilfe der 
jetzt gebräuchlichen Tabletten. Nebenbei bemerkt, habe ich für Chloral 
auch Eglatolkapseln angewandt, und zwar 1 bis 2 Kapseln zu 0,5, aber 
ohne befriedigendes Resultat. 

Inzwischen hatte ich aber die neueren Schlafmittel benutzt, ohne daß 
ich die Kombination verschiedener Mittel prinzipiell anwandte oder 
erprobte. Meist kam ich mit Veronal, Veronalnatrium, Trional usw. aus. 
Erst ein Fall von Paraldehydismus führte mich wieder darauf, syste¬ 
matisch Beruhigungsmittel zu kombinieren. Es handelte sich um einen 
degenerativen Neurastheniker, der über 70 g Paraldehyd täglich nahm; 
zum Schlafen brauchte er abends 15 g. Ich erzielte nach verschiedenen 
vergeblichen Versuchen mit anderen Mitteln Schlaf durch 1,0 Veronal 
und 0,06 Codein. In geteilter Dosis am Tage gereicht (0,25 und 0,015) 
gestattete die Vereinigung dieser Mittel auch eine schnelle Entziehung 
des gesamten Paraldehyds. Eine sehr gute Wirkung hatte ich kürzlich 
noch bei einem schweren Neurastheniker, der durch zügelloses Leben 
total erschöpft zu mir kam. Er verfiel in einen großen Aufregungszustand 
mit Halluzinationen, schlief aber mit 1,0 Veronal, 0,06 Codein und 0,0003 
Scopolamin. In zwei Fällen von Paralysis agitans mit hartnäckiger Schlaf¬ 
losigkeit wirkten 0,5 Veronal mit 0^0005 Scopolamin sicher Schlaf er¬ 
zeugend. Beiläufig gesagt, habe ich einen Einfluß von Scopomorphin auf 
den Tremor bei der Paralysis agitans nie gesehen. In einem Falle von 
Morphinismus (Tagesdosis 0,6) gelang die sofortige Entziehung unter An¬ 
wendung von öfteren Dosen von 0,25 Veronal, 0,05 Codein, abends 1.0 
Veronal, 0,06 Codein neben hydriatischen Verordnungen und selbstver¬ 
ständlich Bettruhe. Eine Täuschung ist ausgeschlossen; doch gebe ich zu, daß 
ein Zurall mitsprechen kann. Neuerdings hat Robert ein Schlafmittel 
kombiniert, aus 0,5 Veronalnatrium und 0,3 Phenacetin, das sehr ge¬ 
rühmt wird. Interessant ist ja, daß auch dieNervina die sedative Wirkung 
verstärken. Ich möchte besonders zu Versuchen mit Lactophenin auf¬ 
fordern, das ja an sich schon eine geringe sedative Wirkung hat. 

Auch die Tatsache habe ich bestätigen können, die der Vortragende 
erwähnt hat, daß viele Schlafmittel, refracta dosi gereicht, besser wirken. 
Das gilt übrigens auch für andere Mittel, z. B. Aspirin. 

Ich glaube, daß wir, was die Kombination von Mitteln betrifft, vor 
unbegrenzten Möglichkeiten stehen, und es empfiehlt sich dringend, hier 
weitere therapeutische Versuche zu machen und die physiologisch-pharma¬ 
kologischen Gesetze der Wirkung zu erforschen. Zur Erzeugung von 
Schlaf, zur Beruhigung erregter Kranker und auch bei Entziehungskuren 
ist uns hier die Möglichkeit geboten, sicher und gefahrlos zu helfen. 

Mangelsdorf- Stettin: Das Dormiol, das in dem Referate gewisser¬ 
maßen mit einem Fragezeichen versehen wurde, ist von uns viel verwandt 
worden. Es ist besonders dadurch interessant, daß das Prinzip der gleich- 


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zeitigen Darreichung zweier verschiedener Mittel bei ihm auf die Spitze 
getrieben ist durch Zusammenschweißung der beiden Bestandteile, Amylen - 
hydrat und Chloralhydrat, zu einem neuen Moleküle; ob dies sehr zweck¬ 
mäßig ist, erscheint diskutabel, da ja nun der Körperzelle die Arbeit zu¬ 
fallen dürfte, dies Molekül erst wieder in seine Komponenten zu spalten 
und diese dann den eigenen Rezeptoren zuzuführen. Eis kommt dabei 
noch in Betracht, daß beide Einzelstoffe der gleichen Gruppe, den 
Körpern der Fettreihe, zuzurechnen sind; in unserer Praxis hat sich 
dementsprechend stets gezeigt, daß das D. seiner Wirkung nach in der 
Mitte zwischen Chloral und Amylen steht, und etwa, wie von früheren 
Beobachtern schon beschrieben, 1 g Chloral = 2 g Dormiol = 3 g Amylen 
zu werten sind. 

In dem Referat wurde das Isopral (Bayer) nicht erwähnt, das von 
uns nach seiner Einführung ausgedehnt erprobt und ebenso wie von 
anderen Beobachtern als vorzüglicher Ersatz des für Gefäß-, Herz- und 
Lungenkranke nicht ungefährlichen Chloralhydrats erfunden wurde; da 
die Dosen desselben nur halb so groß sind und die Toxizität eine um das 
vielfach geringere, so kann es für solche Fälle nur warm empfohlen werden, 
zumal es sehr gute und gefahrlose Kombinationsmöglichkeiten mit anderen 
Mitteln gewährt. Ausgedehntem Gebrauch steht für gewöhnliche An¬ 
staltverhältnisse leider ein sehr hoher Preis im Wege. 

Mercklin -Treptow warnt vor der Anwendung des Chloralhydrats in 
jedem Falle, wo eine genaue körperliche Untersuchung nicht vorgenommen 
werden kann. 

Horstmann - Str alsu n d demonstriert und erläutert den Bauplan der 
neuen Provinzialheilanstalt zu Stralsund. 

iVeumeisfer-Stettin: Zur Kasuistik der Epilepsie. 

Es erscheint mir fast vermessen, wenn ich als einfacher Praktiker 
in Ihrem Kreise zur Kasuistik der Epilepsie das Wort ergreife. Betrachten 
Sie es zunächst als ein Zeichen von Interesse, welches ich von Anbeginn 
an Ihrer Vereinigung nehme. Vielleicht ist es aber doch auch für Sie 
interessant, die Sie vorwiegend in Anstalten tätig sind, von einem Fall, 
der sich ganz außerhalb der Anstaltbehandlung mitten im praktischen 
Üben entwickelt hat und einen eigenartigen Verlauf zeigt, Bericht zu 
erhalten. Die Pat., um die es sich handelt, ist jetzt 41 Jahre alt und steht 
auch heute noch in voller geschäftlicher Tätigkeit an leitender Stelle, 
wo an ihre körperliche und geistige Spannkraft (Disponieren, Verkehr mit 
dem Publikum, Telephonieren, Bücher führen und Einkassieren) unge¬ 
wöhnlich hohe Anforderungen gestellt werden. Trotz des immerhin 
schweren Krankheitbildes hat sie denselben bis heutigen Tags vollauf 
genügen können. 

Ich behandele die Pat. seit etwa 18 Jahren, wo sie zuerst mit einem 
Lungenspitzenkatarrh und Hämoptoe zu mir kam. Ich behandelte sie 

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Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 


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damals mit Tuberkulin und schickte sie im Anschluß daran nach Reinerz. 
Sie reagierte prompt und erholte sich durch diese Kur zusehends. Bazillen 
wurden übrigens nicht gefunden. Der Prozeß in der Lunge ist zur Aus¬ 
heilung gekommen oder doch zum Stillstand. Wiederholt fuhr sie in den 
nächsten Jahren zu ihrer Erholung nach Reinerz und bekam dort vor etwa 
acht Jahren den ersten leichten epileptischen Anfall, der sich dann hier 
nach etwa sechs Wochen unter meiner Beobachtung wiederholte. Ich 
habe nun — gewiß ein seltener Fall — in diesen acht Jahren nahezu 
jeden einzelnen Anfall selbst zu beobachten vermocht. Gewöhnlich merkt 
die Pat. das Herannahen des Anfalls, so daß sie sich meist noch recht¬ 
zeitig zu Bett begeben kann. Die Anfälle haben sich im Laufe der Jahre 
etwas gesteigert. Meist fand ich die Pat. bereits völlig bewußtlos im 
vollkommen ausgebildeten Krampfzustand. In der Regel bildeten sich 
im Gesicht und am Halse Blutaustritte unter der Haut. Ich pflege ihr 
eine Morphiuminjektion zu machen (1—2 ctg), worauf sich in der Regel 
nach einigen Stunden ein Nachlaß des Krampfes zeigt. Am nächsten 
Tage finde ich sie dann völlig erschöpft und über Gliederschmerzen klagend, 
oft mit zerbissener Zunge, im Bett liegen. Am dritten Tage nimmt sie 
ganz regelmäßig ihre volle Tätigkeit wieder auf. Diese Anfälle sind nun 
in den letzten fünf Jahren, über welche ich genaue Aufzeichnungen be¬ 
sitze, in Intervallen von 14 Tagen bis höchstens sechs Wochen, meist 
aber alle drei Wochen — übrigens völlig unabhängig von den Menses — 
aufgetreten. In der ganzen Zeit habe ich fast regelmäßige, tägliche Tempe¬ 
raturmessungen vornehmen und aufzeichenn lassen. Dabei hat sich er¬ 
geben, daß die Temperatur in den Tagen vor den Anfällen, oft auch un¬ 
mittelbar nachher, erhöht war. 

Ein äußerer Anlaß für die Entstehung der Anfälle war nicht zu 
finden. Der zyklische Verlauf in Verbindung mit der Temperaturerhöhung 
brachte mich namentlich mit Rücksicht auf das Fehlen aller zerebralen 
Erscheinungen auf den Gedanken, die Ursache der Anfälle im Blute zu 
suchen. So gut wie es ein Praktiker eben vermag, habe ich zahlreiche 
Blutuntersuchungen vorgenommen und namentlich auch in Verbindung 
mit dem damaligen Bakteriologen am hiesigen Garnisonlazarett, Stabsarzt 
Hähnel, Kulturversuche mit Blutproben vor, in und nach dem Anfall 
gemacht. Sämtliche Proben blieben steril. Ab und zu zeigten sich an¬ 
scheinend Zei fallprodukte in den Blutproben, die während des Anfalls 
entnommen waren. Auch schien nach dem Anfall eine Vermehrung der 
Leukozyten vorhanden zu sein. 

Es ist wohl verständlich, wenn ich im Laufe der Jahre dir 
verschiedensten therapeutischen Versuche eingeschlagen habe. Ich will 
Sie mit den Einzelheiten nicht ermüden und bemerke nur, daß auch 
die Bromtherapie keinen bemerkenswerten nachhaltigen günstigen Ein¬ 
fluß hatte. In der ganzen Zeit ist es wohl nur einmal vorgekommen, daß 
die Anfälle einige Tage über sechs Wochen ausblieben. Die sehr intelligente 


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Pommersche Vereinigung für Neurologie und Psychiatrie. 385 


Pat. lehnte schließlich jedes Medikament und namentlich auch Brom 
entschieden ab, da sie unter der Nachwirkung desselben ihre Leistung¬ 
fäigkeit beeinträchtigt fühlte. 

Im Monat Mai (9. V.) dieses Jahres hatte sie nun im Anschluß an 
einen therapeutischen Eingriff, den ich gleich näher bezeichnen will, 
seit acht Jahren zum erstenmal einen freien Zeitraum von 17 Wochen. 
Ich halte diese Tatsache in Anbetracht des sonstigen regelmäßigen Auf¬ 
tretens der Krämpfe für wichtig genug, um sie Ihnen mitzuteilen. Im 
Anschluß an eine im vorigen Jahr mir zur Kenntnis gekommene Behand¬ 
lung von Bluterkrankheit durch Injektion von artfremdem Eiweiß kam 
ich auf die Idee, auch in diesem Falle, wo ich die Ursache der Krankheit 
im Blute vermutete, es mit einer Injektion von Diphtherieheilserum zu 
versuchen. Auch bei den Blutern nimmt man aus Bequemlichkeit dieses 
Serum. Am 9. Mai war der letzte Anfall. Am 22. Mai machte ich eine In¬ 
jektion von 1500 I. E ca. 4 ccm Serum. Der momentane Effekt war 
insofern ein sehr stürmischer, als die Pat. am nächsten Tage ein heftig 
juckendes Erythem über den ganzen Körper bekam und im Gesicht 
sowie am Halse geradezu elefantiastisch anschwoll. Die Erscheinungen 
dauerten 5—6 Tage und schwanden dann völlig. Interessant ist dabei, 
daß gerade die Körpergegenden am meisten Schwellung zeigten an denen 
sich auch bei den Anfällen die Blutaustritte fanden. Weiterhin ist be¬ 
merkenswert, daß die Pat. fast drei Monate völlig fieberfrei war. In den 
letzten Tagen des August trat das Fieber wieder auf, und am 31. August 
kam ein neuer Anfall, der von da ab in Zeiträumen von 3—4 Wochen in 
alter Weise wiederkehrte. Trotzdem die Pat. sich in jenen 17 Wochen 
ungewöhnlich erholt hatte, ist sie mit Rücksicht auf die schweren Er¬ 
scheinungen nach der Serumeinspritzung zunächst nicht mehr zu einer 
Wiederholung des Versuchs zu bewegen. Es war vielleicht ein Fehler von 
mir, daß ich damals gleich 15001. E. nahm, und ich würde in einem zweiten 
Falle, da es mir ja nicht auf die I. E. ankam, sondern nur auf das artfremde 
Eiweiß, die schwächste Lösung von Heilserum in einer Menge von etwa 
4 ccm einspritzen. 

Es ist mir natürlich nicht fremd, daß im vielgestaltigen Verlauf 
<ier Epilepsie mit und ohne Therapie oft lange Remissionen beobachtet 
werden. Aber im vorliegenden Fall scheint mir der kausale Zusammenhang 
zwischen Eingriff und der Remission doch kaum zu bezweifeln. Ich bin 
mir auch wohl bewaißt, daß mein therapeutisches Verfahren in diesem 
Falle auf krasser Empirie beruht. Aber gerade in einem Krankheitzustand 
wie die Epilepsie, der sowohl nach seiner Genese und seinem ganzen 
Verlauf recht viele Rätsel birgt, als auch in therapeutischer Hinsicht 
so wenig beeinflußbar ist, muß es dem Praktiker gestattet sein, gewisser¬ 
maßen instinktmäßig Heil versuche anzustellen. Es würde mich freuen, 
wenn einer oder der andere unter Ihnen unter den exakteren Bedingungen 


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Verhandlung psychiatrischer Vereine. 


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der Anstaltbeobachtung in einem geeigneten Falle meinen therapeutischen 
Versuch mit der Heilserumeinspritzung wiederholen würde. 

Schnitzer• Stettin ist der Ansicht, daß der Fall, über den Herr JWit- 

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meister berichtet hat, zur derjenigen Epilepsiegruppe zu rechnen sei, 
welche auf Stoffwechselstörungen beruhe und toxischen Ursprungs sei. 
Der Erfolg sei hier zu vergleichen mit denjenigen Fallen, wo nach Erysipel¬ 
erkrankungen oder nach Einspritzungen von Erysipelasserum längeres 
Ausbleiben der Krampfanfälle beobachtet wurde. 

Tomaschny -Treptow a. R.: Über Gehörshalluzinati¬ 
onen bei progressiver Paralyse. 

Angeregt durch die in der neueren Literatur vertretene Ansicht, 
daß die Halluzinationen der Paralytiker in letzter Zeit in der Zunahme 
begriffen seien, und auf Grund ähnlicher eigener Erfahrungen hat Vortr. 
die in der Heilanstalt zu Treptow a. R. in den Jahren 1910 und 1911 
aufgenommenen männlichen Paralytiker besonders auf das Vorkommen 
von Gehörstäuschungen beobachtet und dabei im ersten Jahre bei etwa 
35%, im zweiten Jahre bei etwa 60% dieser Kranken echte Gehörs¬ 
täuschungen nach weisen können. Ihrem Inhalte nach unterschieden sich j 
die Gehörstäuschungen der Paralytiker in nichts von den bei den übrigen 
Geisteskranken vorkommenden Gehörshalluzinationen. Sie bilden meist 
eine mehr oder minder rasch vorübergehende Erscheinung im Verlaufe 
der Krankheit, zuweilen wurde ein sog. halluzinatorisches Stadium beob¬ 
achtet. Einmal traten die Gehörstäuschungen auf im Anschluß an einen 
mit aphasischen Störungen verbundenen paralytischen Anfall. Im Beginn 
des Krankheitprozesses sind Halluzinationen selten, sie treten in der Regel 
erst später in die Erscheinung. In den beobachteten Fällen waren die 
Gehörstäuschungen nicht mit etwaigen früheren Alkoholexzessen in Zu¬ 
sammenhang zu bringen, sie waren offenbar durch den paralytischen 
Krankheitprozeß als solchen ausgelöst worden. 

Die Frage, ob—wie behauptet wird—die Halluzinationen bei Para¬ 
lyse in der letzten Zeit zugenommen haben, läßt sich nach Ansicht des 
Vortr. nicht von einer Stelle aus generell entscheiden. Denn in der Litera¬ 
tur finden sich von den zuverlässigsten Autoren derartig entgegengesetzte 
Angaben über die Häufigkeit der Halluzinationen bei Paralyse, daß wir 
hier offenbar irgendwelche territoriale oder durch den Volkscharakter 
bedingte Unterschiede voraussetzen müssen. Für Pommern glaubt Vortr. 
in Rücksicht auf seine in 14jähriger psychiatrischer Tätigkeit gemachten 
Erfahrungen eine Zunahme der Gehörstäuschungen bei Paralyse an¬ 
nehmen zu dürfen. Nieset 


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Psychiatrischer Verein za Berlin. 


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137. Sitzung des Psychiatrischen Vereins zu Berlin 

am 16. März 1912. 

Die Sitzung ist zahlreich besucht. Der Vorsitzende Ziehen gedenkt 
zunächst der verstorbenen Mitglieder Jastrowitz und Skierlo, zu deren 
Ehren sich die Versammlung erhebt. Dann wird in die Tagesordnung 
eingetreten. 

Weifer-Westend und Dr. jur. Werthauer (a. G.): Die Rechte 
der Ansta 111 eit er gegenüber internierten Gei¬ 
steskranken, insbesondere bei eingeleitetem Ent¬ 
mündigungsverfahren. 

1. Weiler- Westend: Die Mitteilungen, welche Herr Rechtsanwalt 
Dr. Werthauer und ich uns gestatten Ihnen heute zu machen, knüpfen 
sich an Ereignisse an, welche Ihnen wohl aus den seinerzeit in den Tages - 
blättern gebrachten Gerichtsverhandlungen größtenteils bekannt sind. Ich 
will Ihnen diese Vorgänge, welche den Ausgangspunkt für die heutige 
Besprechung geben sollen, kurz schildern. 

Der Krankheitfall selbst, welcher zu verschiedenen Gerichtsbe¬ 
schlüssen und Gerichtsverhandlungen Anlaß gegeben hat, bietet kein be¬ 
sonderes psychiatrisches Interesse. Ein an Paranoia leidender 25jähriger 
unverheirateter Kranker, welcher wiederholt in den letzten Jahren in 
offenen Sanatorien behandelt worden, dann in eine geschlossene Anstalt 
gebracht, aus derselben entwich, wurde im Juni vorigen Jahres auf An¬ 
trag seines Vaters in die geschlossene Abteilung der Westender Kur¬ 
anstalten aufgenommen, und zwar, nachdem der Kreisarzt seines Wohn¬ 
sitzes vorher das amtliche Attest ausgestellt hatte. Da der Kranke ein 
größeres eigenes Vermögen hatte, beantragte der Vater das Entmündi¬ 
gungsverfahren und Einsetzung einer vorläufigen Vormundschaft auf 
Grund eines Kreisarztattestes und eines Gutachtens eines Professors 
der Psychiatrie. Der Kranke erhielt die gerichtliche Zustellung, die vor¬ 
läufige Vormundschaft betreffend, mit der üblichen Aufforderung, Be¬ 
weismittel dagegen innerhalb 14 Tagen beizubringen. 

Obwohl es keine Gesetze und Bestimmungen gibt, nach denen ein 
Geisteskranker im Entmündigungsverfahren ein Recht auf den Beistand 
eines Anwaltes hat, oder ein Anwalt Zutritt zu einem Geisteskranken 
erzwingen kann, so ist doch bei mir — wie vermutlich in allen Irrenan¬ 
stalten — der nachgesuchte Rechtsbeistand fast immer gewährt worden. 
Dieser Kranke bestand auf den Beistand eines Rechtsanwalts E., welchen 
ich ihm aus bestimmten Gründen nicht gewähren konnte. Alle diesbe¬ 
züglichen Beschwerden des Kranken an die Behörden wurden abgeschickt. 
Das für die Entmündigung zuständige Amtsgericht Schöneberg ant¬ 
wortete dem Kranken: Es habe keine Einwirkung auf die Anstaltleitung 
betreffs Zulassung des Rechtsanwalts E. 


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388 Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 

Es spielt sich nun folgender Vorgang ab. Rechtsanwalt E. erwirkt 
bei dem für die Westender Kuranstalten zuständigen Amtsgericht Char¬ 
lottenburg einen Gerichtsbeschluß, welcher mir bei einer fiskalischen Strafe 
von 300 Mark für jeden Fall der Zuwiderhandlung aufgibt, seine Besuche 
beim Kranken zu dulden und seine Briefe an ihn auszuhändigen. Ich 
lehne beides ab, der Gerichtsbeschluß gelangt zur Vollstreckung, ich 
werde mit 900 Mark bestraft und zwar mit 300 Mark wegen Nichtzulassung 
des Anwalts und mit 600 Mark, weil ich zwei verschlossene Briefe, welche 
der Anwalt in der Hand hält, nicht entgegennehme. Die Polizei wird vom 
Gerichtsvollzieher zu Hülfe gerufen, und Anwalt, Gerichtsvollzieher und 
Schutzmann dringen in das Zimmer des Kranken. Mein Widerspruch 
mit der Begründung, daß der Internierte infolge von Geisteskrankheit 
prozeßunfähig und der Rechtsweg nicht gangbar sei, hat zunächst keinen 
Erfolg. Nach verschiedenen Terminen hebt das Amtsgericht Charlotten¬ 
burg die einstweilige Verfügung, soweit Rechtsanwalt E. Antragsteller 
ist, auf, bestätigt aber die Verfügung, soweit der Kranke Antragsteller, 
mit der Maßgabe, daß ich den Besuch des Rechtsanwalts bei dem Kranken 
zweimal wöchentlich zu dulden habe, bei Vermeidung einer fiskalischen 
Strafe von 300 Mark für jeden Fall der Zuwiderhandlung. Das Amtsgericht 
hielt also den Rechtsweg für zulässig, da Streitigkeiten zwischen Inter¬ 
nierten und Anstaltleiter die individuelle Rechtssphäre einer einzelnen 
Person beträfen, und meinte, die Prozeßfähigkeit des Kranken sei ge¬ 
geben. Denn im Entmündigungsverfahren gelte der zu Entmündigende 
als prozeßfähig und müsse infolgedessen die Mittel haben, diese Proze߬ 
fähigkeit ausüben zu können. Dies alles ereignet sich, obwohl bereit« 
ein vorläufiger Vormund in der Person eines Schöneberger Rechtsan¬ 
walts ernannt worden war. Dieser erhebt keinen Widerspruch, läßt sich 
jedoch dazu bestimmen, daß der Kranke nur in seiner oder meiner Ärzte 
Gegenwart Besuche des Rechtsanwalts E. empfangen darf. Bald dar¬ 
auf gelingt es dem Rechtsanwalt E., die vorläufige Vormundschaft über 
den Kranken beim Landgericht aufzuheben, obwohl sie auf Grund moti¬ 
vierter Gutachten ausgesprochen war. In dem betreffenden Landgerichts¬ 
beschluß heißt es: Nach dem gegebenen Sachverhalte erscheint der Be¬ 
schluß des Amtsgerichts nicht ausreichend begründet. Das Amtsgericht 
ist in eine Beweisaufnahme überhaupt nicht eingetreten. Es hat sich an¬ 
scheinend darauf beschränkt, die Gutachten des Prof. H. und des Kreis¬ 
arztes G. seinen Beschlüssen als Grundlage zu geben. Ein derartiges Ver¬ 
fahren erscheint unzulässig. Soll eine Person unter vorläufige Vormund¬ 
schaft gestellt werden, so erfordert es das Recht auf persönliches Gehör, 
daß eine so wichtige und überaus tief in die persönliche Selbstbestimmung 
eingreifende Maßregel nicht getroffen wird, ohne daß die Ermittlung 
sich besonders auf eine persönliche Vernehmung des zu Entmündigenden 
zu richten habe. Die bisherigen Ermittlungen haben keinen Anhalt ge¬ 
geben, daß der zu Entmündigende nicht vernehmungfähig ist, noch auch, 


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Psychiatrischer Verein zu Berlin. 


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daß die Person oder das Vermögen desselben so erheblich gefährdet ist, 
daß die persönliche Vernehmung nicht abgewartet werden kann. 

Gestützt auf diesen Landgerichtsbeschluß, welcher aus formellen 
Gründen die vorläufige Vormundschaft aufhebt, verlangt Rechtsanwalt 
F.. die Entlassung des Kranken. Diese wird selbstverständlich verweigert, 
und nun geschieht etwas ganz Seltsames. Die Aufhebung der vorläufigen 
Vormundschaft und vermutlich die Behauptung des Anwalts, daß sein 
Kranker gesund und widerrechtlich interniert, genügen für das Amts¬ 
gericht Charlottenburg, um einen Gerichtsbeschluß zu erlassen, welcher 
mir und jedem meiner Ärzte je 300 Mark Strafe androht für jede Stunde 
der Zurückhaltung des Kranken in der Anstalt. 

Durch schnelles Handeln gelingt es, diesen gesetzwidrigen Beschluß 
nicht zur Vollstreckung kommen zu lassen. Eine erneute Untersuchung 
des Kreisarztes konstatiert die noch bestehende gemeingefährliche Geistes¬ 
krankheit, das Charlottenburger Polizeipräsidium sichert mir zunächst 
zu, keine polizeiliche Hülfe zu gewähren, wenn sie vom Gerichtsvollzieher 
verlangt wird, ändert aber korrekterweise diese Zusage (weil die Polizei 
bei der Vollstreckung eines Gerichtsbeschlusses ihre Hilfe nicht versagen 
kann) dahin ab: der Kranke ist aus den Westender Anstalten zu ent¬ 
lassen, wird aber dann als gemeingefährlich Geisteskranker durch die 
Polizei in die zuständige öffentliche Irrenanstalt überführt. Am nächsten 
Tage schon bringt Herr Rechtsanwalt Dr. Werlhauer diesen Entlassungs- 
Peschluß zur Aufhebung. Damit ist die Periode der Gerichtsbeschlüsse 
zu Ende, und es setzt das ordentliche Gerichtsverfahren im Instanzen¬ 
wege bei Landgerichten und beim Kammergericht ein. Nebeneinander 
laufen zwei Verfahren: Die Klage gegen mich auf Zulassung des Rechts- 
Anwalts E. zum Kranken und die Klage auf Entlassung des Kranken 
unter Beantragung schwerer Freiheitstrafen. 

Bei der Landgerichtsverhandlung wird leider nicht entschieden, 
daß die Frage der Aufnahme eines Geisteskranken in eine Irrenanstalt, 
't'ine Behandlung und Entlassung ausschließlich dem öffentlichen Recht 
angehört, und daß der Rechtsweg an sich daher unzulässig war. Das Ge¬ 
richt beschränkt sich darauf, die Prozeßfähigkeit des Antragstellers zu 
prüfen, und weist die Entlassungsklage ab, weil der Antragsteller infolge 
von Geisteskrankheit im Sinne des § 104 Ziffer 2 BGB. prozeßunfähig 
^i. ln der schriftlichen Urteilsbegründung heißt es: Der Antrag war 
hiernach, da es an einer wesentlichen Prozeßvoraussetzung fehlte, von 
vornherein abzuweisen, ohne daß es eines Eingehens auf den Antrag 
selbst und darauf bedurfte, ob nicht die den Gegenstand des Rechtsstreites 
bildenden Fragen dem öffentlichen Recht angehören und der ordentliche 
Rechtsweg deshalb unzulässig ist. Vier Wochen später findet vor dem 
Landgericht die Verhandlung der zweiten Klage statt: Zulassung des 
Anwalts zu dem Kranken. Das Landgericht weist die Klage ab, weil der 
Antragsteller als geisteskrank und nicht prozeßfähig erachtet wird. 


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Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 


Es hebt also die Verfügung des Amtsgerichts Charlottenburg auf, auch 
soweit der Kranke Antragsteller ist. Im Urteil heißt es: Es handele sich 
hier um einen durch das Entmündigungsverfahren zwar veranlaßten, 
im übrigen jedoch ganz selbständigen Rechtsstreit, um ein Einschreiten 
gegen jemand, der den Antragsteller in der Ausübung des ihm angeblich 
zustehenden Rechts auf freie Willensbetätigung hindert. Für diesen 
Rechtsstreit müssen die allgemeinen Regeln des Prozeßrechts gelten. 
Mithin hatte das Prozeßgericht vom Amts wegen zu prüfen, ob die Par¬ 
teien prozeßfähig sind (§ 56 der ZPO.). 

Nun spricht allerdings im allgemeinen eine tatsächliche Verfügung 
dafür, daß, wer im Verkehrsleben steht, geistig gesund und prozeßfähig 
sein wird. Hier aber ist der Antragsteller auf formell ordnungmäßigem 
Wege in eine Irrenanstalt aufgenommen, mithin kann ihm eine tatsäch¬ 
liche Vermutung dafür, daß er geistig gesund ist, nicht zur Seite stehen. 
Prozeßunfähig ist, wer geschäftsunfähig ist. Geschäftsunfähig ist aber, 
wer sich in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustande 
krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet. Der Rechtsweg sei 
für bürgerliche Rechtsstreitigkeiten gegeben (§ 13 des Gerichtsverfassungs¬ 
gesetzes). Eine bürgerliche Rechtsstreitigkeit liegt vor, wenn sie um das 
Rechtsgut und die individuelle Rechtssphäre eines einzelnen geht 
oder auf privatrechtlicher Grundlage beruht, im Gegensatz zu einem Streit, 
der von einem Gegenstand des öffentlichen Interesses, des Gemeinwohls 
handelt. 

Bald darauf wird der Kranke erneut unter vorläufige Vormundschaft 
gestellt nach persönlicher Vernehmung durch den Richter, unter Hinzu¬ 
ziehung von zwei psychiatrischen Sachverständigen. Auf Grund der 
ausgesprochenen Vormundschaft erledigt sich dann von selbst vor dem 
Kammergericht die Klage auf Entlassung des Kranken und Zulassung 
des Rechtsanwalts, um so mehr, da der Vormund des Kranken seine Ein¬ 
willigung zu jeglicher Prozeßführung für sein Mündel versagt. 

M. H., für die Irrenanstalten sind ausschließlich die Vorschriften 
der Ministerialanweisung maßgebend. Absatz 4 des § 10 dieser Anweisung 
lautet: 

„Beantragt ein volljähriger Kranker, der weder entmündigt noch 
unter vorläufige Vormundschaft gestellt ist, schriftlich seine Entlassung, 
so hat der Vorstand der Anstalt, wenn er dem Anträge nicht, stattgeben 
will, den Antrag unter Darlegung der für die Ablehnung maßgebenden 
Gründe unverzüglich dem für die Stellung des Entmündigungsantrages 
zuständigen Ersten Staatsanwalt mitzuteilen.“ 

Es ist also in unserem Falle einem Anwalt gelungen, ungeachtet 
der klaren Bestimmungen der Ministerialanweisung ein Amtsgericht zu 
einstweiligen Verfügungen zu veranlassen und ein Streitverfahren über 
Zulassung eines Anwalts und Entlassung eines Geisteskranken aus der 
Irrenanstalt bei den Zivilgerichten anhängig zu machen. Die Gerichte 


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haben sich für ein derartiges Prozeßverfahren als zuständig erklärt; mit 
welchem Rechte, werden Ihnen die Ausführungen des Herrn Dr. Wert- 
Hauer zeigen. 

Ich möchte meine Mitteilungen nicht schließen, ohne besonders her¬ 
vorzuheben, daß es mir fern liegt, die Grundsätze der Humanität und 
Toleranz, auf denen seit vielen Jahrzehnten die Anstaltbehandlung be¬ 
ruht, nur in der geringsten Welse erschüttern zu wollen. Wir wollen aus 
den modernen Irrenanstalten keine Zwingburgen machen, welche gegen 
die Außenwelt abgeschlossen und nicht eingenommen werden können. 
Die uns anvertrauten Kranken sollen, soweit nicht ärztliche Bedenken 
dem entgegenstehen, nach wie vor Gelegenheit haben, ihre Beschwerden 
in weitestem Maße den Behörden zur Kenntnis zu bringen, sollen 
nach wie vor sich einen juristischen Beistand erwählen dürfen, wenn 
sie sich für unrechtmäßig interniert halten, oder wenn gegen 
sie eine vorläufige Vormundschaft oder das Entmündigungsverfahren 
beantragt worden ist. Wir wollen sogar in manchen Fällen über die be¬ 
stehenden Vorschriften hinausgehen und in großzügigster Weise unsern 
Kranken die Wahrung ihrer wirklichen oder vermeintlichen Rechte zu- 
gestehen, wir müssen aber andererseits auf Grund der bestehenden An¬ 
weisungen und Gesetze in der Lage sein, unsere Kranken vor Schädigungen 
bewahren zu können, um gegebenenfalles Persönlichkeiten von ihnen 
fernzuhalten, welche in unverständigerWeise oder böswillig 
mit ihren Interessen ein frivoles Spiel treiben. 

2. Dr. jur. Werthaueri Die rechtliche Stellung der in Irrenanstalten 
internierten gemeingefährlich Geisteskranken ist auf historisch-politischer 
Grundlage geordnet, welche aus der früheren Organisation des Staates 
hervorgegangen ist, deshalb zum Teil der Konstruktion moderner Gesetz¬ 
gebung nicht mehr entspricht und aus diesem Grunde dem Theoretiker 
und Praktiker vielfach nicht geläufig ist. Hinzu kommt, daß das Streben 
nach Trennung der Verwaltung von der Rechtspflege und nach Umklei¬ 
dung behördlicher Anordnungen mit verwaltungsrechtlichen Schutzma߬ 
regeln nach Einführung von Verfassungen in den einzelnen Ländern 
immer mehr hervortritt und deshalb frühere Vorschriften zur Regelung 
gewisser Zustände in Tragweite und Inhalt teils in Vergessenheit geraten 
sind, teils nicht immer verstanden werden und daher vielfachen Anfein¬ 
dungen ausgesetzt sind. Zunächst wird auf dem hier fraglichen Gebiet 
übersehen, daß das staatliche und gesellschaftliche Zusammensein von 
Menschen oft eine schleunige Hilfe durch die Staatsgewalt erfordert und 
deshalb alle jene Garantien, welche gegen staatliches Eingreifen sonst 
berechtigt sein mögen, mit Fug hier unmöglich sind, weil einerseits ein 
gewisser Grad von Vertrauen zu der Staatsbehörde, d. h. zu dem eigenen 
Staate, in diesen äußersten Grenzfällen nötig ist und andererseits die Natur 
so vielgestaltig in das Leben eingreift, daß es unmöglich ist, für jeden 
Fall von vornherein stets schützende Rechtsgarantien aufzustellen. 


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In dies Gebiet des selbständigen sofortigen Eingreifens der staatlichen 
Exekutive gehörte von jeher der Schutz gegen Epidemien, drohende 
Seuchen, die sofortige Isolierung von Kranken und die sichere Verwahrung 
bei plötzlich eintretender Geisteskrankheit. Es gibt keinen zivilisierten 
Staat, in welchem nicht eine derartige Befugnis dem Staate zustande, 
und es wird nie einen solchen geben, in welchem bei plötzlich eintretender 
Geisteskrankheit abgewartet werden dürfte, daß etwa in Form eines Zivil¬ 
prozesses die Krankheit festgestellt und dann die Internierung beschlossen 
werde. Auch die schleunigsten Arten des Zivilprozesses, wie einstweilige 
Verfügung, Arrest, summarisches Verfahren, und was immer die mo¬ 
dernen Prozeßordnungen hierüber enthalten, sind unbrauchbar gegenüber 
den Gefahren, die eine hereinbrechende Seuche oder ein ausbrechender 
Wahnsinn der Allgemeinheit bieten. Es bleibt stets nur übrig, die staat¬ 
liche Verwaltungsmacht mit der Befugnis zu versehen, in solchen Fällen 
sofort einzugreifen und höchstens nachher dem Gericht oder sonstigen 
Organen die Bestätigung oder Aufhebung der Maßregel zu über 
lassen. 

Schon diese allgemeine Erwägung ist in sehr vielen Fällen nicht 
beachtet worden, es ist in schriftstellerischen Abhandlungen das Gegen¬ 
teil ausgeführt und insbesondere das Eingreifen eines Zivilprozeßgerichts 
oder des Entmündigungsgerichts verlangt, ehe jemand einer Anstalt 
überwiesen werden solle. 

Aus diesem Grunde wird in der Presse oft behauptet, das Verfahren 
betr. die Unterbringung von Geisteskranken sei gesetzlich bei uns nicht 
völlig geregelt, es liege eine sogenannte Lücke in der Gesetzgebung vor. 
und was dergl. Dinge mehr sind. Dies ist absolut unrichtig. Unsere Gesetz¬ 
gebung bietet in dieser Beziehung keine Auslassung. Es ist auf das ein¬ 
gehendste und sorgfältigste durch die Gesetze selbst die hier fragliche 
Angelegenheit geregelt. Es sind die Gesetze durch Ausführungsanweisungen 
ergänzt. Es sind nur oft beide denen nicht bekannt oder geläufig, welche 
eine Lücke in der Gesetzgebung konstatieren. 

Die hier in Betracht kommenden Bestimmungen sind folgende: 
Nach der Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat vom 31. Januar 
1850, Art. 5, ist die persönliche Freiheit gesetzlich gewährleistet, indem 
die Bedingungen und die Formen, unter welchen eine Beschränkung 
derselben zulässig ist, durch Gesetz bestimmt werden müssen. 

Es wird nun oft in juristischen Gutachten, Schriftsätzen und Ab¬ 
handlungen behauptet, daß mangels diesbezüglicher gesetzlicher 
Bestimmungen die Einsperrung in eine Irrenanstalt unter allen Umständen 
objektive Freiheitsberaubung sei. Insbesondere hat ein Entmündigungs¬ 
richter des Königlichen Amtsgerichts Marburg, Geh. Justizrat Box¬ 
berger, eine Reihe von Artikeln in der Zeitschrift ,,Das Recht“ veröffent¬ 
licht, auch in einer konkreten Sache einen Beschluß gefaßt, durch den 
er tatsächlich feststellt, daß die Unterbringung in einer Irrenanstalt ob- 


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jektive Freiheitsberaubung sei, so daß „nur noch zu untersuchen sei, ob 
auch die subjektiven Voraussetzungen vorliegen“. 

Diese An- und Ausführungen sind völlig gegenstandlos. Das all¬ 
gemein gewährleistete Recht der „Freiheit“ ist im Einzelfall begrifflich 
nur denkbar, wenn gewisse Einschränkungen dem Begriff selbst erst Be¬ 
deutung verleihen, ebenso wie das Eigentum an einem Baugrundstück nie¬ 
mals die Freiheit gibt, darauf aufs Geratewohl Bauten auszuführen, weil die 
Freiheit des Eigentümers gewährleistet sei. Die Ausführung, daß wenig¬ 
stens objektiv der Tatbestand der Freiheitsberaubung vorliege, ist ebenso 
abwegig, als wenn man von einem Operateur, welcher eine Fingerampu¬ 
tation vornimmt, ausführen wollte, es liege wenigstens der objektive Tat¬ 
bestand der Körperverletzung vor. Der Tatbestand eines Strafgesetzes, 
wie der der Freiheitsberaubung, liegt entweder vor, indem alle Tatbestand- 
merkmale gegeben sind, oder er liegt überhaupt nicht vor, wenn ein solches 
fehlt. Das Vorliegen einiger Tatbestandmerkmale ist niemals iden¬ 
tisch mit dem Vorliegen eines Teiles des Strafdeliktes. Das Vorliegen 
einzelner Tatbestandmerkmale ist vollständig gleichgültig, da nur das 
Zusammentreffen der tatsächlichen Ereignisse, welche den Tat¬ 
bestand ausmachen, eine Handlung strafbar machen. 

Das preußische Gesetz, welches die Verfassung vorsieht, und 
welches das Recht zur Beschränkung der Freiheit mit Rücksicht 
auf die allgemeine Sicherheit gegenüber gemeingefährlich Geistes¬ 
kranken gibt, ist am 11. März 1850 erlassen. Es ist das Gesetz 
über die Polizeiverwaltung. Es beruht auf der Erwägung, daß 
in einem geordneten Staatswesen fortgesetzt plötzliche Ereignisse auf- 
treten, bei denen ein zielbewußtes Eingreifen der Staatsgewalt notwen¬ 
dig ist, bezüglich deren es widersinnig wäre, erst einen Rechtsstreit in der 
Form eines Prozesses darüber zuzulassen, ob die Voraussetzungen 
des Eingreifens gegeben sind, da durch derartige Zögerungen der Schaden 
in der Regel sich vergrößert, um dessen Verhütung es sich handelt, ln dem 
§ 5 dieses preußischen Gesetzes über die Polizeiverwaltung vom 11. März 
1850 ist ausdrücklich bestimmt, daß die mit der örtlichen Polizeiverwaltung 
betrauten Behörden befugt sind, ortspolizeiliche Vorschriften zu erlassen. 
Im § 6 ist gesagt, daß zu den Gegenständen der ortspolizeilichen Vor¬ 
schriften der Schutz der Person und des Eigentums gehört. Nach §11, 
12,13 a. a. O. in Verbindung mit den §§ 136, 138 des Landesverwaltungs- 
gesetzes, hat eventuell die Ministerialinstanz diese Anordnungen zu treffen. 
Dieselben sind Aasfluß der gesetzlichen Legislative, welche durch 
das gedachte Gesetz den Regierungsbehörden übertragen ist. Diese 
Eingriffe in die Freiheit des einzelnen bewegen sich deshalb durchaus 
im Rahmen des Artikels 5 der preußischen Verfassung mit Rücksicht 
auf ihre durch das Gesetz garantierte Anordnung und Regelung. 

Nicht hierher gehört das an dieser Stelle, insbesondere auch von 
Schriftstellern wie Boxberger, in Verkennung der Rechtslage zitierte Ge- 


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setz vom 12. Februar 1850, welches zum Schutz der persönlichen Freiheit 
erlassen ist. Dieses bestimmt über das Eingreifen der Verwaltungs¬ 
behörden aus politischen oder verwaltungsrechtlichen Gründen und ge¬ 
stattet z. B. die Sistierung politisch verdächtiger Personen bei Anwesen¬ 
heit fremder Souveräne auf einen Tag und dergl. Es betrifft den Eingriff 
aus politischen Gründen. Dagegen ist der Sitz der gesetzgeberischen Ma¬ 
terie für Maßregeln gegen Störungen von Eigentum und Personen das 
Gesetz vom 11. März 1850. 

Auf Grund dieser Bestimmungen sind nun für öffentliche und 
atepriv Irrenanstalten eine große Anzahl von Verordnungen ergangen, 
die ihre Ergänzung finden in dem Gesetz über die Bestellung von Kreis¬ 
ärzten, in deren Dienstanweisungen, in den Bestimmungen über die Er¬ 
teilung der Konzession für Privatanstalten nach der Gewerbeordnung 
und ähnlichen Vorschriften. Hier interessiert, soweit es sich um die Auf¬ 
nahme, Behandlung und Entlassung von Geisteskranken handelt, im 
wesentlichen nur die gemeinschaftlich erlassene Verfügung des Justiz - 
ministers, des Ministers der Medizinalangelegenheiten und des Ministers 
des Innern, betreffend den Erlaß einer Anweisung über Unterbringung in 
Privatanstalten für Geisteskranke, Epileptische und Idioten, vom 26. März 
1901. Diese Verfügung richtet sich an die Regierungspräsidenten und den 
Polizeipräsidenten von Berlin, damit diese Sorge dafür tragen, daß die 
Anweisung bei allen Privatanstalten des Bezirks an Stelle der früheren 
Anweisung vom 20. September 1895 zur Anwendung gelange. Im § 1 
und 4 ist Bestimmung getroffen über die Voraussetzungen zur Aufnahme 
in eine Anstalt. Im § 10 ist von der Entlassung und im § 5 von der Behand¬ 
lung der Kranken die Rede. Diese Bestimmung steht im engen Zusammen¬ 
hang mit dem Gesetz über die Bestellung von Kreisärzten und deren 
Dienstanweisung. Es mag deshalb in dieser Beziehung darauf hingewiesen 
sein, daß durch das Gesetz vom 16. September 1899 Kreisärzte angestellt 
sind und gemäß § 2 zu deren Befugnissen auch die Vorsorge für alle Kran¬ 
kenangelegenheiten ihres Bezirkes gehört, dieselben auch verpflichtet er¬ 
scheinen, von Amts wegen dafür Sorge zu tragen, daß eventuell die Organe 
des Staates eingreifen, das ist im vorliegenden Falle der Regierungspräsi¬ 
dent, unter welchem der Kreisarzt steht, und die demselben untergeord¬ 
neten Polizeiorgane. Nach den §§ 1 und 4 der Verfügung vom 26. März 1901 
erfolgt die Aufnahme, wenn ein Kreisarztattest oder ein gleichgestelltes 
Attest vorliegt, nach § 4, wenn in dringenden Fällen das Attest eines 
approbierten Arztes vorliegt, das innerhalb vier Tagen durch ein Kreis¬ 
arztattest zu verifizieren ist. Bei Entmündigten hat nach allgemein recht¬ 
lichen Grundsätzen natürlich der gesetzliche Vertreter den Aufenthalts¬ 
ort zu bestimmen, ebenso wie Selbständige den eigenen Aufenthalt be¬ 
stimmen können. Der gesetzliche Vertreter und der selbständige Kranke 
können auch in dem geschlossenen Teil einer Irrenanstalt den Aufenthalt 
wählen, es ist aber auch für diesen Fall gemäß $ 6 und 15 ff. eine ein- 


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gehende Anweisung ttber Aufnahme, Behandlung und Entlassung erfolgt. 
Zu der Behandlung gehört insbesondere auch die Bestimmung der Art 
des Aufenthaltes, zu letzterer wiederum die Isolierung, und zu dieser der 
Verkehr mit der Außenwelt durch Besuche, Rücksprachen, brieflichen 
und ähnlichen Verkehr. Die zur Einhaltung der vorstehenden Vorschrif¬ 
ten bestimmten Garantien bestehen darin, daß gewissen Behörden von 
der Aufnahme Mitteilung zu machen ist, andere Behörden Revisionen der 
Anstalten vorzunehmen haben und die Anstalten der jederzeitigen Auf¬ 
sicht von Behörden unterliegen. 

Diese Ministerialverfügung ist speziell für die geschlossenen Ab¬ 
teilungen von Privatanstalten gegeben, es bestehen aber genau ent¬ 
sprechende Bestimmungen für die geschlossenen Abteilungen öffentlicher 
Anstalten bzw. geschlossene öffentliche Unternehmungen. Der Unter¬ 
schied in der Aufnahme, Behandlung und Entlassung ist deshalb kein 
wesentlich davon abhängiger, ob die in Frage kommende Anstalt durch 
einen öffentlichen Rechtsverband gegründet oder unterhalten ist, oder 
ob ein Privatmann gemäß der Reichsgewerbeordnung eine Konzession 
zum Betriebe erhalten hat und daraufhin die Anstalt betreibt. Es darf 
deshalb die Frage nach der Rechtslage des einzelnen Individuums, das 
in einer Anstalt ist, nicht entschieden werden oder auch nur in Verbindung 
gebracht werden mit der Frage, ob die Anstalt auf öffentlicher oder pri¬ 
vater Grundlage organisiert ist, es ist vielmehr die Stellung des Anstalt - 
leiters der öffentlichen und der Privatanstalt gegenüber dem Kranken 
bzw. dessen Vertreter in allen ihren Konsequenzen rechtlich grundsätz¬ 
lich nach den gleichen Vorschriften geordnet und zu beurteilen. 

Die tatsächliche, nicht die rechtliche Unterbringung geschieht 
entweder gemäß dem insoweit noch vorhandenen Willen des Kranken 
oder auch ohne dessen Willen durch Hingeleitung, oder auch wider 
dessen Willen durch äußeren Zwang, mag dieser Zwang ausgeübt 
werden durch Privatpersonen oder durch die dazu berufenen Polizei- 
organe. Der Unterschied, wer die Aufnahme veranlaßt hat, ist 
für die Entscheidung der in Betracht kommenden Frage der rechtlichen 
Behandlung gleichgültig. Dies mag besonders hervorgehoben werden 
gegenüber einer Entscheidung des Königlichen Landgerichts III Berlin 
Z.-K. 2t vom 4. Oktober 1911, in welcher die diesbezügliche Klage eines 
Kranken zwar wegen dessen Prozeßunfähigkeit abgewiesen ist, aber, 
ohne daß ein äußerer Grund dazu zwang, doch Ausführungen gemacht 
sind, welche darauf hinauslaufen, daß es einen Unterschied mache, ob 
auf private oder polizeiliche Veranlassung die Aufnahme erfolgt sei. Dieser 
Unterschied ist gesetzlich unbegründet. Der hier in Betracht gezogene 
tatsächliche Konsens des Kranken ist kein rechtlich in Betracht kom¬ 
mender Wille, sondern eine in nicht genauer Verwendung des Wortes 
gebrauchte Bezeichnung für eine Seelenregung, die keineswegs einem 
rechtlich in Betracht zu ziehenden Willen gleichkommt. Es ist bei einem 


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Geisteskranken unerheblich, ob derselbe selbst in die Anstalt „will“ oder 
nicht, denn auch das erstere würde, wenn Anstaltbedürftigkeit nicht 
vorliegt, die Unterbringung nicht rechtfertigen, während der mangelnde 
Wille oder der Zwang auf den Willen die Aufnahme nicht hindert, wenn 
deren Voraussetzungen vorliegen. In das reine Gebiet der Tatsachen ge¬ 
hört auch, ob die Initiative auf Privatpersonen zurückzuführen ist, die 
nicht gesetzliche Vertreter sind, mögen diese direkt oder durch Anrufen 
der Polizeibehörde die Aufnahme bewirkt haben, unerheblich ist auch, 
ob die Polizei sie von selbst, oder auf Anlaß des Kreisarztes oder des Ver¬ 
wandten herbeiführte. In jedem Fall ist die Aufnahme ein Akt des An¬ 
staltleiters, der gegenüber einem gemeingefährlichen Geisteskranken er¬ 
folgt und nur dann, aber dann auch stets erfolgen darf, wenn dessen ge¬ 
setzliche Voraussetzungen vorliegen. Er ist kein Rechtsgeschäft, das 
zwischen Anstaltleiter und Kranken oder gesetzlichem Vertreter des Kran¬ 
ken geschlossen wird, soweit „die Aufnahme“ erfolgt. Selbst wenn ein 
Privatvertrag mit irgendeinem Dritten, einer Behörde, einer unterstützung¬ 
pflichtigen Vereinigung über die Aufnahme geschlossen wird, so hat dieser 
Vertrag nur gegenseitige zivilrechtliche Verpflichtungen zur Folge. Er 
hat mit dem „Akt der Aufnahme“ nichts zu tun. Es ist vielmehr die Auf¬ 
nahme ein Akt, dessen Vollziehung auf Grund der Gesetzgebung gewissen 
Personen anvertraut ist. Diese Gesetzgebung regelt den Akt der Auf¬ 
nahme, indem sie dafür Normativbestimmungen gibt. Es greift hier 
privates Recht in seinen Folgen in das öffentliche Recht ein, wie sich dies 
oft findet, z. B. bei der Herstellung einer Vaterschaftsbeziehung durch 
Rechtsakt, nämlich Adoption, oder die Schaffung eines rechtlich aner¬ 
kannten neuen Subjekts durch Gründung einer Aktiengesellschaft, oder 
die Vornahme staatshoheitrechtlicher Akte, welche Privatpersonen 
gestattet sind. Es wäre nicht einmal nötig, diese rechtliche Qualität 
des Aufnahmeaktes in Hinsicht auf öffentliches und privates Recht 
zu erörtern, da sich alle Konsequenzen, welche an den Aufnahme¬ 
akt geknüpft sind, ohnedies direkt aus den oben angegebenen Rechts¬ 
quellen regeln, so daß es der analogen Begründung zur Entscheidung 
etwaiger Zweifelsfragen gar nicht bedarf. Es ist aber die vorstehende 
Erörterung angeführt, weil fortgesetzt von Schriftstellern mangels rich¬ 
tiger Rechtsqualifizierung der Aufnahme unrichtige Meinungen aus der 
angeblichen Vertragsnatur der Privataufnahme aufgestellt werden. 
Ganz deutlich zeigt sich der Rechtsfehler, welcher aus dem Durchein¬ 
anderbringen des zivilrechtlichen Vertrages mit dem Rechtsakt der Auf¬ 
nahme folgt, in den Entscheidungsgründen des oben erwähnten Urteils 
vom 4. Oktober 1911, obwohl schon das Gegenüberstellen der Personen 
des Pflegschaftsvertrages gegenüber den zur Aufnahme nur interessierten 
Personen vor solcher Verwechselung hätte bewahren müssen. 

Die Erörterung der Rechtsnatur des Aufnahmeaktes ist von grund¬ 
legendem Nutzen ferner in den neueren Prozessen, in welchen ein auf¬ 
genommener, nicht entmündigter, großjähriger Geisteskranker gegen seine 


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eigene Aufnahme bei den Zivilprozeßgerichten eine Klage auf Entlassung 
nebst dazu gehörigem Antrag auf Erlaß einer diesbezüglichen einstweili¬ 
gen Verfügung erhebt. In früherer Zeit ist kaum ein derartiger Versuch 
gemacht worden, weil man früher den historisch gewordenen Rechts - 
quellen näherstand, und ein Mißverständnis der nach Gründung des Deut¬ 
schen Reiches erlassenen großen Prozeßgesetzgebungswerke kaum denk¬ 
bar war. Der Gebrauch der deutschen Sprache in diesen Gesetzen gegen¬ 
über den festgeprägten technischen Begriffen der früheren Praxis, die 
dadurch mit bewirkte etwas verschwommene Sprechweise, welche zu 
Mißverständnissen dem historisch nicht Vorgebildeten Anlaß gibt, das 
allmähliche Verbleichen der strikten Konstruktion des alten Rechts, 
haben in der letzten Zeit wiederholt dazu geführt, daß derartige prozeß- 
widrige Versuche unternommen worden sind, um auf Grund der neueren 
allgemeinen Prozeßgesetze unter völliger Verleugnung der historisch ge¬ 
wordenen Spezialgesetzgebung auf dem hier fraglichen Gebiete mit Hilfe 
von Zivilprozeßanträgen vorzugehen. Es sind namentlich im letzten Jahre 
solche Prozesse in der Presse wiederholt erörtert worden, indem auch zu¬ 
gleich fast stets trotz der klar hier vorliegenden, wenn auch nicht jedem 
geläufigen Gesetzgebung von einer angeblichen „Lücke“ in der Gesetz¬ 
gebung gesprochen wurde. Die Prozesse sind nicht immer und nicht 
sofort richtig entschieden worden, ja auch die schließlichen zutreffenden 
Urteile sind nicht immer mit richtigen Entscheidungsgründen versehen 
worden. Zwar sagt das Empfinden meist schon dem Juristen, daß ein 
derartiges Eingreifen rechtlich unmöglich ist, doch fehlt oft das Vertraut- 
sein mit den etwas abseits liegenden Rechtsquellen. Es mag deshalb 
folgendes ausgeführt sein. 

Nach § 13 des Gerichtsverfassungsgesetzes gehören bürgerliche 
Rechtsstreitigkeiten vor die ordentlichen Gerichte. Hierdurch soll die 
Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte, soweit bürgerliche Rechtsstreitig¬ 
keiten vorliegen, sichergestellt werden, da vor Erlaß dieser Bestimmungen 
eine Reihe von Sondergerichten, wie z. B. adlige Gerichte, Patrimonial- 
ge ichte, und dergl. existierten, deren Jurisdiktion soweit nicht aufrecht 
erhalten, abgeschafft werden sollten. Die Bestimmung enthält aber nichts 
darüber, was eine bürgerliche Rechtsstreitigkeit ist. Den Gegensatz zur 
bürgerlichen bildet die öffentliche Rechtsstreitigkeit, und die Grenze 
beider hat die Landesgesetzgebung der Einzelstaaten bestimmt. Es würde 
rin Eingriff in die Landeshoheit sein, wenn die deutsche Reichsgesetz¬ 
gebung das Gebiet der bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten bestimmt hätte, 
weil sie dadurch indirekt Sachen des öffentlichen Rechtes der Einzelstaaten 
batte anders ordnen können, als der Einzelstaat kraft seiner Souveränität 
dies will. Es ist natürlich für die deutsche Reichsgesetzgebung möglich, 
solche Bestimmungen zu treffen; sie hat es aber absichtlich bisher ver¬ 
mieden, und weil sie es nicht getan hat, bestimmen die Landesgesetze, 
Was öffentlichen Rechtes ist. 

Zwtwhiift für Psychiatrie. LXLX. 3. 27 


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In Preußen speziell ist öffentlichen Rechtes alles, was in irgendeiner 
Beziehung der öffentlichen Ordnung überlassen ist; privates Recht sind 
nur die Rechtsbeziehungen der einzelnen auf zivilrechtlichem Gebiete. 
Danach gibt es ein großes Gebiet von Grenzfällen, in welchen öffentliches 
und privates Recht sich mischen. Für diese sind grundlegende Gesetze 
geschaffen, die darin gipfeln, daß alle diese Gebiete als Zivilrecht nur zu 
erachten sind, soweit der Rechtsweg eigens zugelassen ist, da das öffent¬ 
liche Recht der Disposition von Zivilparteien auch nicht indirekt über¬ 
lassen werden soll. Es ist deshalb aus dem § 13 der Gerichtsverfassung 
für die hier fragliche Angelegenheit ebensowenig etwas zu gewinnen, als 
aus der oben erwähnten Bestimmung der preußischen Verfassung. Es 
muß vielmehr die Frage, ob öffentliches Recht vorliegt, und damit die 
Frage der Zulässigkeit des Rechtsweges entschieden werden allein auf 
Grund der Gesetzgebung des Preußischen Staates über öffentliches Recht, 
und dies bestimmt in den oben angegebenen Gesetzen und Anweisungen 
auf Grund öffentlichen Rechts, wie die Aufnahme, Behandlung und Ent¬ 
lassung gemeingefährlich Geisteskranker erfolgen solle, so daß der Rechts¬ 
weg hierüber unzulässig ist. Aus diesem Grunde kann niemals ein Zivil¬ 
gericht zur Entscheidung dieser Angelegenheiten in Streitfällen herange¬ 
zogen werden. Die diesbezüglichen Eingaben der Interessenten haben 
sich vielmehr zu beschränken auf Anträge bei der zuständigen Staats¬ 
anwaltschaft, welche auch nicht als Strafgerichtsbehörde, sondern als 
Verwaltungsbehörde tätig wird, und auf Anträge von Behörden, welche 
den öffentlichen und Privatanstalten übergeordnet sind. 

Zur Vermeidung von Mißverständnissen mag noch hervorgehoben 
werden, daß diese Erwägungen für diejenigen großjährigen, nicht entmün¬ 
digten, geisteskranken Personen, welche wegen Gemeingefährlichkeit in 
öffentliche oder Privatanstalten aufgenommen sind, Geltung haben. Sie 
beziehen sich auch auf andere Personen, wenn und soweit sie wegen Ge¬ 
meingefährlichkeit in die Anstalt gekommen sind; es treten bei diesen, 
wie namentlich Entmündigten, Minderjährigen, auf Grund behördlicher 
Anordnung der gesetzlichen Vertreter in Anstalten Aufgenommenen 
aber noch andere Bestimmungen in die Erscheinung, welche hier nicht 
in Betracht kommen. 

Ebenso treten für Personen, die auf Antrag von Strafbehörden 
oder Polizeibehörden in Anstalten untergebracht sind, noch anderweite 
erschwerende Bestimmungen in Kraft, die gleichfalls nicht in den Rahmen 
<ier hier zu erörternden Fragen gehören. 

Ebenso mag noch darauf hingewiesen werden, daß häufig in Ab¬ 
handlungen und Prozeßschriften Bestimmungen aus anderen rechtlichen 
Gebieten dazu benutzt werden, um eine Lösung der hier aufgeworfenen 
Fragen zu suchen. Insbesondere wird das Verfahren betreffend die Ent¬ 
mündigung, die vorläufige Vormundschaft einer großjährigen Person 
herangezogen; durchaus zu Unrecht. An sich gehören auch diese Ange- 


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legenheiten natürlich dem öffentlichen Recht an. Es würden also auch 
hierfür niemals Zivilgerichte zuständig sein. Gerade deshalb hat die 
deutsche Reichsgesetzgebung durch die deutsche Reichszivilproze߬ 
ordnung eine positive Bestimmung dahin getroffen, daß diese 
Verfahrensarten den Zivilgerichten besonders übertragen werden, um 
eine Einheitlichkeit für Deutschland zu schaffen. Diese Bestim¬ 
mungen waren nötig, weil sonst die Gerichte nicht zuständig gewesen 
wären. Um diese Verfahren dem Zivilprozeß ähnlich zu machen, bedurfte 
es einer ganzen Reihe besonderer Vorschriften, da in den Rahmen des 
Zivilverfahrens ein Entmündigungsverfahren nicht paßt. Die Vorschriften 
waren möglich, weil es sich um Untersuchung und Entscheidung von Zu¬ 
ständen handelt. Das erste Stadium des Entmündigungsverfahrens ist 
dem Amtsgericht übertragen. Der zu Entmündigende ist dabei reines 
Objekt des Verfahrens, nicht etwa Prozeßpartei. Er kann deshalb niemals 
einen „Prozeßbevollmächtigten“ bestellen. Er kann sich nach der Judi¬ 
katur eines Beistandes bedienen. Dieser Beistand hat nur das Recht, 
gehört zu werden. Die Quellen, aus denen er seine Kenntnis nimmt, sind 
ihm überlassen. Er kann Urkunden und Akten eventuell einsehen, er 
kann Rücksprachen mit Dritten und dem zu Entmündigenden halten, 
soweit dies angängig ist; er kann aber niemals deshalb, weil er zum Bei¬ 
stand bestellt ist, etwa seinerseits verlangen, daß er zu dem internierten 
Kranken zugelassen wird, wenn nach gewissenhafter Ansicht des An¬ 
staltleiters die Zulassung aus medizinischen Gründen nicht zulässig ist. 
Er muß dann die Quellen für seine Äußerung anderweit sich suchen. 

Nachdem der Entmündigungsbeschluß erlassen ist, gibt es eine 
Anfechtungsklage. Diese Klage ist in den direkten Formen eines Prozesses 
dahin geordnet, daß der Entmündigte als Kläger fingiert wird, der Staats¬ 
anwalt als Beklagter. Hier zeigt sich deutlich, daß es sich um künstliche 
Konstruktionen handelt, indem ein Gegenstand des öffentlichen Rechtes 
dem Zivilgericht übertragen ist. Innerhalb dieser beiden Parteien kann 
das Gericht vorläufige Verfügungen treffen, die aber selbstverständlich 
den Anstaltleiter nichts angehen. So wie das Kind gegen die Eltern 
unter Umständen Prozesse führen kann, indem ein Pfleger ihm bestellt 
wird, ebenso kann endlich ein Vormundschaftsgericht einem Entmündigten 
einen Pfleger bestellen, und dieser Pfleger kann gegen den Vormund 
zivilprozessuale Anträge auf Freilassung und dergleichen stellen. Dringt 
er damit durch, so ist der Vormund verpflichtet, diesbezügliche Anträge 
dem Anstaltleiter zu unterbreiten. Dieser hat aber denselben nur in¬ 
soweit zu entsprechen, als nicht etwa auf Grund der oben ausführlich 
erörterten Bestimmung über die Aufnahme und Entlassung gemein¬ 
gefährlicher Geisteskranker nach seinem eigenen medizinischen pflicht¬ 
gemäßen Ermessen Hinderungsgründe entgegenstehen. Soweit die Auf¬ 
nahme auf Grund der Anordnung eines gesetzlichen Vertreters in Betracht 
kommt, hat er, soweit nicht Gemeingefährlichkeit dem entgegensteht, 

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den diesbezüglichen Anträgen natürlich zu entsprechen. Es ist deshalb 
aus diesen Bestimmungen der Zivilprozeßordnung über das Entmün¬ 
digungsverfahren für die hier vorliegende Frage der Aufnahme, Entlassung 
und Behandlung großjähriger, nicht entmündigter Personen überhaupt 
nichts zu entnehmen. 

Ebenso unerheblich für die vorliegende Frage sind die Bestimmungen 
des Bürgerlichen Gesetzbuchs in Verbindung mit der Zivilprozeßordnung, 
welche die Geschäftsfähigkeit, Prozeßfähigkeit regeln, und die Aus¬ 
führungen, welche aus dem Rechte der Persönlichkeit, dem Recht aul 
persönliche Freiheit und dergleichen in meist mehr allgemein gehaltenen 
Redewendungen entnommen werden, wie sie insbesondere ein Gutachten 
des Professors Dr. Köhler heranzieht. Eis ist richtig, daß nicht jeder 
Geisteskranke willensunfähig ist. Wer aber so geisteskrank ist, daß er im 
Sinne des Bürgerlichen Rechts als willensunfähig zu erachten ist, ist 
eben nicht geschäftsfähig, und wer nicht geschäftsfähig ist, ist auch nicht 
prozeßfähig. Die gerichtlichen Entscheidungen haben dies durchweg 
trotz des Kohlerschen Gutachtens glatt anerkannt; es ist ferner davon 
gesprochen worden, daß aus dem Recht der Persönlichkeit trotz mangeln¬ 
der Geschäftsfähigkeit ein Klageantrag auf Entlassung gestellt werden 
könnte, weil ja gerade der Geisteskranke den besonders energischen „Willen“ 
habe, aus der Anstalt entlassen zu werden und dieser Wille insoweit Ge¬ 
schäftsfähigkeit mit sich bringt. Auf die Unrichtigkeit dieses sich ira 
Kreise drehenden Gedankenganges einzugehen, verlohnt nicht; der krank¬ 
hafte Wille wird eben, wenn er zu solcher Steigerung gelangt ist, daß eine 
Geschäftsfähigkeit nicht mehr im Sinne des Gesetzes vorliegt, überhaupt 
im Rechtswege nicht mehr beachtet, er ist kein „Rechtswille“. Auch 
die Erwägung, daß die Entlassung, die so sehr dem Willen des Kranken 
entspräche, ja außerdem eine zu seinem Vorteil gereichende Handlung 
sei, ist durchaus unrichtig, denn diese Entlassung würde ein tatsächlich 
ihn sogar schädigender Akt, übrigens überhaupt keine Rechtshand¬ 
lung sein. 

Ein Verwaltungsstreitverfahren ist ganz undenkbar, denn es handelt 
sich ja nicht um eine Polizeiverfügung, deren Rechtsgültigkeit oder Be¬ 
gründetheit bestritten wird, sondern um einen Aufnahme- und Festhaltungs¬ 
akt, der auf Grund öffentlich rechtlicher Bestimmung von den dazu ge¬ 
ordneten Personen, nämlich der Anstaltleitung, vorgenommen wird. Daß 
in dem Gutachten von Köhler sogar der Fehler untergelaufen ist, daß er 
an Stelle der gültigen Anweisung von 1901 die abgeschaffte von 1895 
noch als in Geltung befindlich betrachtet, kann vielleicht nur mit der 
besonderen Eile erklärt werden, mit der das Gutachten abgegeben ist 

Eis gibt auch sonst keine Rechtsbestimmung, welche als richtige 
Grundlage einer Entscheidung unterlegt werden könnte oder einer Prü¬ 
fung standhält, die auf Grund der vorstehenden Erwägungen angestellt 
wird. 


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Es ist demnach völlig unzulässig, über die Frage der Aufnahme, 
Behandlung und Entlassung eines großjährigen, nicht entmündigten, 
wegen Gemeingefährlichkeit in eine öffentliche oder private Anstalt auf- 
genommenen Geisteskranken die Zivilgerichte anzugehen, damit sie, 
sei es auf Klage, sei es durch Erlaß einer einstweiligen Verfügung, 
irgendeine Bestimmung treffen. Wenn gleichwohl ein solcher Beschluß 
oder ein Urteil unzulässigerweise ergangen war, ja wenn er rechtskräftig 
geworden wäre, so würde doch noch in der Zwangsvollstreckungsinstanz 
die Unzulässigkeit des Rechtsweges geltend zu machen sein, es würde 
jede Behörde den Beistand zur Vollstreckung inhibieren bzw. verwei¬ 
gern müssen. Da die Zivilgerichte für die Entscheidung der Kernfrage 
unzuständig sind, so sind sie auch für die Entscheidung der Nebenfragen, 
wie Zulassung von Personen zum mündlichen oder schriftlichen Verkehr, 
unzuständig. 

Wenn in den vorstehenden Ausführungen von gemeingefährlicher 
Geisteskrankheit gesprochen wird, so soll unter diesem abgekürzten Be¬ 
griff dasselbe verstanden werden, was die gemeinsame Anweisung der 
Minister vom 26. März 1901 im § 12 mit den Worten ausdrückt, indem 
sie sagt, „ein Kranker, welcher als für sich oder für andere gefährlich oder 
als für die öffentliche Ordnung störend anzusehen ist“. Es sei dies hervor¬ 
gehoben, weil auch der Begriff der Gemeingefährlichkeit sich erst langsam 
in historischer Entwickelung herausgebildet hat. Ursprünglich war darunter 
nur verstanden der Zustand de-jenigen Kranken, der etwa wie der Amok¬ 
läufer auf offener Straße mit einem Messer umherläuft und die Leute 
anfällt. Die feinere wissenschaftliche Unterscheidung ist mit dem Fort¬ 
schritt der wissenschaftlichen Bildung dazu übergegangen, als gemein¬ 
gefährlichen Zustand nicht nur zu erachten eine derartige, offensichtlich 
zutage tretende Gefahr, sondern auch die oft viel größere Gefahr, welche 
in anderer Weise Unsicherheit hervorruft. In Zeiten, in denen die Brow¬ 
ningpistole in der Form eines Taschenfeuerzeuges jederzeit mitgeführt 
werden kann und durch krankhaften Drang eines Gehirns mit einer ein¬ 
zelnen Patrone mehrere hintereinander stehende Personen tödlich durch¬ 
bohrt werden können, ist auch die Voraussetzung der Gemeingefähr¬ 
lichkeit in psychiatrischer Hinsicht nicht nach den Erfahrungen früherer 
Zeiten, sondern nach den furchtbaren Wirkungen der jetzigen gesteigerten 
Technik zu beurteilen. Eis ist weiter anerkannten Rechtes, daß eine Ge- 
meingefährlichkeit auch in der eigenen Gefährdung liegen kann. Wer 
selbst jeden Augenblick bereit ist, aus irgendwelchem unbedeutenden 
Anlaß infolge geistiger Erkrankung sich zum Fenster hinauszustürzen, 
nimmt auch nicht Rücksicht darauf, daß unten andere Vorbeigehen, die 
er tödlich treffen kann. Es füllt deshalb auch die Gefährdung der 
eigenen Person durch Selbstmordgedanken und dergleichen den Tat¬ 
bestand der gemeingefährlichen Erkrankung aus. Genau ebenso bildet die 
Störung der öffentlichen Ordnung eine allgemeine Gefahr, indem die 


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Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 


Anerkennung und Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung auch im 
sozialen Leben der einzelnen erforderlich ist, um überhaupt ein geordnetes 
Staatswesen aufrecht zu erhalten. Es entspricht deshalb die erläuternde 
Umschreibung, wie sie vorstehend im § 12 gegeben ist, den wissenschaft¬ 
lich technischen Anforderungen des Tatbestandmerkmals der Gemein - 
gefährlichkeit. 

Wenn in vorstehenden Ausführungen eine große Selbständigkeit 
den Dispositionen eines Anstaltleiters vindiziert ist, so wird deren recht¬ 
liche Bedeutung in keiner Weise dadurch beeinträchtigt, daß es Rechts¬ 
mittel gegen diese Dispositionen gibt, für welche übergeordnete Behörden 
zuständig sind. Es ist zum Beispiel in dem § 10 erwähnt, daß, wenn ein 
volljähriger, nicht entmündigter Kranker seine Entlassung beantragt, 
der Anstaltvorstand diesen Antrag der Staatsanwaltschaft weiterzugeben 
hat, die nunmehr über dieses Rechtsmittel Entscheidung zu treffen hat. 
Die Stellung dieser übergeordneten Behörde gegenüber der vorhergehenden 
Entscheidung des Anstaltleiters ist durchaus kein Indiz dafür, daß der 
Anstaltleiter nicht selbst entscheidende Dispositionen getroffen hat, denn 
in allen Fällen, in welchen gegen eine Entscheidung Appellation mög¬ 
lich ist, geht die Entscheidung der oberen Behörde der Vorentscheidung 
vor und hebt diese auf; diese besteht aber gerade bis zu dem Augenblick 
der Aufhebung, und eine zeitliche Beendigung hat nichts mit der quali¬ 
tativen Kraft zu tun. Ebenso beruht auf demselben Gedanken die Vor¬ 
schrift der §§ 4, 11 und 12 der Anweisung. 

Zutreffend ist die Ausführung, daß es nach den gegenwärtigen gesetz¬ 
lichen Grundlagen nicht möglich ist, einen Kranken, der nur zu H e i 1 u n gs- 
zwecken der Anstaltpflege bedürftig ist, wider seinen Willen dieser Heilung 
zu unterwerfen. Es könnte von einer künftigen Gesetzgebung gefordert 
werden, daß vielleicht auch eine solche Bestimmung Gesetz würde. Eine 
Notwendigkeit hierfür ist nicht anzuerkennen, denn es ist auch sonst 
bisher in dem geltenden Rechte nirgends vorgesehen, daß jemand, dessen 
Heilung für ihn selbst wünschenswert ist, wider seinen Willen zur Heilung 
gezwungen werden kann. Soweit eine Ausnahme für Trinker, für Mit¬ 
glieder von Krankenkassen und dergleichen getroffen ist, ist die Bestim¬ 
mung deshalb aufgehoben, weil im Interesse der Allgemeinheit die Heilung 
des betreffenden Individuums erforderlich erscheint, nicht weil im Inter¬ 
esse des Individuums selbst es wünschenswert ist. Von diesem Gesichts¬ 
punkte aus aber wird, wenn eine Geisteskrankheit die Allgemeinheit ge¬ 
fährdet, voraussichtlich auch schon auf Grund der gegenwärtigen Bestim¬ 
mungen die Internierung gefordert werden können, wobei dann zugleich 
auch der Heilungsprozeß mit berücksichtigt werden kann. 

Wenn sonach die Notwendigkeit einer neuen gesetzlichen Regelung 
nicht anerkannt werden kann, wenn insbesondere entschieden bestritten 
werden muß, daß in diesen Dingen die Gesetzgebung irgend eine Lücke 
enthalte, so soll doch auf der anderen Seite nicht geleugnet werden, daß 


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aus Zweckmäßigkeitgründen es dringend wünschenswert wäre, wenn der 
gegenwärtige Rechtszustand durch ein einheitliches neues Gesetz kodi¬ 
fiziert würde. Es würde sich dabei nicht um irgendwelche Einführung 
neuer Bestimmungen handeln, sondern um eine klare Wiederholung der 
in verschiedenen gesetzgeberischen Teilen bisher bereits in Preußen gel¬ 
tenden Anordnungen, und es würde auch nichts im Wege stehen, dieses 
neue Gesetz als Reichsgesetz zu erlassen. Es würde in dieser Beziehung 
eine einheitliche Regelung sogar einen großen Vorzug bedeuten. Es ist 
bekannt, daß in einzelnen Fällen die erheblichsten Schwierigkeiten dadurch 
entstanden sind, daß die Anordnungen in den einzelnen Staaten ver¬ 
schiedenartig getroffen sind. Die Übernahme der preußischen Bestimmun¬ 
gen erscheint hierbei durchaus wünschenswert, weil sie dem Leben, der 
Praxis und dem Rechte durchaus gerecht werden. Solch neues Reichsge¬ 
setz würde im Abschnitt 1 den BegrifT der anstaltbedürftigen Geistes¬ 
krankheit entwickeln und die Legitimation des Bundesrats bzw. der 
Staatsbehörde zum Erlaß der erforderlichen Vorschriften bei plötzlich 
ausbrechender Krankheit betreffend die Aufnahme, Verwahrung und 
Entlassung vorschreiben. Im Abschnitt 2 würden diejenigen Änderungen 
enthalten sein, welche für minderjährige, unter Vormundschaft gestellte 
Entmündigte, freiwillig Aufnahmesuchende gelten sollen, und im Ab¬ 
schnitt 3 würden die Garantien für die Aufnahme im Falle des Ab¬ 
schnittes 1 und die Rechtsmittel gegen die Anordnung betreffend die 
Aufnahme, Verwahrung und Entlassung enthalten sein. 

Wenn schließlich eine sachliche Probe darauf gemacht werden soll, 
ob die vorstehend gefundenen Rechtsgrundsätze hinsichtlich der öffent¬ 
lich rechtlichen Qualität der hier in Frage kommenden Dispositionen 
richtig ist, indem gefragt w T ird, ob dieselben den Anforderungen der medi¬ 
zinischen Wissenschaft entsprechen, so dürfte diese Frage zu bejahen sein, 
da auch diese Wissenschaft zu den gleichen Resultaten führt. Für den 
Mediziner ist es undenkbar, daß ein Amtsgericht bestimmen soll, ob der 
Zustand eines Kranken so ist, daß er in eine Anstalt plötzlich aufgenom- 
men oder aus ihr entlassen werden soll, oder daß er diesen oder jenen 
Besuch empfangen dürfe. Nur der Mediziner kann hier entscheiden, für 
etwaige Beschwerden hinsichtlich einer Entscheidung ist nur eine be¬ 
hördliche Rechtsmittelinstanz denkbar. Eis bedeutet eine Utopie, daß es 
im praktischen Leben vorgekommen ist, daß ein Amtsgericht einem An¬ 
staltleiter aufgibt, bei Vermeidung einer fiskalischen Strafe von 300 Mark 
für jeden Fall der Zuwiderhandlung einen Mann auf seinen Antrag zu ent¬ 
lassen, nachdem in den Akten sich das Attest angesehener Ärzte und 
des Kreisarztes befindet, daß dieser Mann geisteskrank sei. Jede andere 
Betrachtung der Sache führt aber zu solchen unhaltbaren Konsequenzen. 
Die Rechtserörterungen, wie sie vorstehend gegeben sind, weisen auf die 
Unmöglichkeit solchen Erkenntnisses mit zwingender Sicherheit hin. 
Von dem Standpunkt der medizinischen Wissenschaft sind deshalb 


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Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 


in völliger Übereinstimmung mit juristischer Rechtsanwendung die 
vorstehender Ergebnisse als richtig zu erachten. 

Diskussion. — A. Leppmann- Berlin: Der Vorredner hat uns 
bewiesen, daß die Unterbringung gemeingefährlicher Geistes, 
kranker, gleichviel ob dieselbe durch Behörden oder durch Angehörige, 
ob in öffentlichen oder Privatanstalten stattfindet, auf gesetzlicher Grund¬ 
lage steht. Das gleiche gilt aber nicht von den ungefährlichen, 
welche um ihrer selbst willen, namentlich zu Heilzwecken, oder um nicht 
zu verwahrlosen oder ausgebeutet zu werden, oder um durch Auffällig¬ 
keiten sich nicht zu kompromittieren, ihre Zukunft nicht zu gefährden, 
in Anstalten kommen. Für sie fehlt der gesetzliche Boden, man müßte 
denn den Begriff der Gemeingefährlichkeit so dehnen, wie er‘s nicht 
verdient, indem man dem Staat, der die Pflicht hat, seine Bürger vor 
Schaden zu bewahren, auch diesen Pflichtenkreis, die Wahrung aller 
Lebensinteressen des Erkrankten als eines Staatsbürgers, zuweist. 

Klarer und sicherer wäre es, diese Lücke durch ein Gesetz auszu¬ 
füllen, welches uns namentlich gegen solche Überraschungen schützt, 
wie wir sie jüngst erfahren haben, und gegen welche wir im Interesse 
unserer Kranken und unseres Standes raschen und sicheren Schutz haben 
müssen. 

Der Grundzug des Gesetzes müßte dahin gehen: 1. für die Überwei¬ 
sung und Festhaltung in der Anstalt ist nicht die Gemeingefähriichkeit 
allein, nein, auch das Interesse des Kranken maßgeblich. 

2. Der Anstaltaufenthalt bedingt neben der Beschränkung der 
Bewegungsfreiheit im allgemeinen eine Beschränkung der Besuche und 
des Briefverkehrs. 

3. Gegen alle den Anstaltaufenthalt betreffenden Anordnungen ist 
ein Widerspruch nur durch Beschwerde bei der zuständigen Regierung 
oder durch ein Verwaltungsstreitverfahren möglich. 

Dabei können die bestehenden Rechte des Vormundschafts- und 
Entmündigungsrichters unberührt bleiben. 

EmanueZ-Charlottenburg: Ich bin nicht der Ansicht des Herrn 
Dr. Werthauer, daß nach den bestehenden gesetzlichen Bestimmungen 
die Machtbefugnis des leitenden Arztes ohne weiteres ausreicht, um einen 
Kranken, den er als für sich oder für andere gefährlich erachtet, gegen den 
Willen des gesetzlichen Vertreters des Kranken in der Anstalt zurück¬ 
zuhalten. Für diesen Fall umgrenzt nämlich § 12 der Ministerialverord- 
nung vom 26. März 1901 die Befugnis des Anstaltleiters in ganz bestimm¬ 
ter Weise: wird nämlich die Entlassung eines solchen Kranken gefordert 
so hat lediglich die Ortspolizei des künftigen Aufenthaltsortes die Ent¬ 
scheidung über die Entlassung des Kranken zu treffen. 

Ziehen sieht die Hauptschwierigkeit darin, daß ein gemeingefähr¬ 
licher und deshalb anstaltbedürftiger und auch in einer geschlossenen 


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Anstalt internierter Patient noch dispositionsfähig sein kann ; dann 
fehlt eine sichere Richtschnur für den Anstaltleiter, wie weit er befugt 
ist, die Rechtshandlungen des Patienten zu beschränken. 

Dr. Werthauer erkennt eine gewisse Lücke an, sofern es sich 
uro nicht gemeingefährliche Geiteskranke handelt. Es werde aber der 
Begriff der Gemeingefährlichkeit meist weiter gefaßt; es werde auch ein 
Kranker, der sich selbst gefährde, zu der bezeichneten Kategorie ge¬ 
rechnet, so daß nur wenig Ausnahmen anzuerkennen seien. Wird durch 
Irrtum des Zivilgerichts in einem bestimmten Fall die Entmündigung 
aufgehoben, so kommt das aufgestellte Prinzip zu Recht, daß ein gemein¬ 
gefährlicher Geisteskranker nicht entlassen werden darf. In bezug auf 
die Dispositionsfähigkeit sei darauf hinzuweisen, daß eine Geistes¬ 
krankheit stets auf das geschäftliche Leben einwirke. So habe in einem 
bestimmten Falle ein an Eifersuchtwahn erkrankter Ehemann zwar, so¬ 
weit sich ermitteln ließ, seine Geschäfte tadellos geführt, aber große Sum¬ 
men Geldes für Detektivs ausgegeben, um die vermeintliche Untreue der 
Ehefrau zu ermitteln. 

EmanuW-Charlottenburg: Wenn der Anstaltleiter das Recht hätte, 
einen gemeingefährlichen Geisteskranken zurückzuhalten, dann brauchte 
er sich nicht nach den Verwandten oder Vormund zu richten. 

Weiter-Westend betont im Schlußwort, daß unberechtigten An¬ 
griffen gegen die .Irrenanstalten energisch entgegengetreten werden müsse. 
Eine gesetzliche Regelung der ganzen Materie sei zu wünschen. 

Herr Ziehen demonstriert Präparate eines Falles, in dem zum ersten¬ 
mal während des Lebens die Wahrscheinlichkeitsdiagnose auf die zuerst 
von Dejerine und Thomas beschriebene „Atrophie olivo-ponto- 
c6r6belleuse“ bzw. eine Ubergangsform zwischen ihr und der 
Friedreich-Marie sehen Krankheit gestellt wurde (Nouv. Iconogr. de la 
Salp. 1900, S. 330; vergl. auch Marie u. Guillain, Rev. neurol. 1903). 
Es handelte sich um eine 33jährige Tischlerfrau. Der Vater soll an Krämpfen 
gelitten haben, die Mutter früher geisteskrank gewesen sein. Ein Bruder 
soll ähnlich krank sein wie die Pat. selbst, so namentlich auch beim Gehen 
taumeln. Sein Arzt hat uns mitgeteilt, daß er die Diagnose auf Tabes 
gestellt hat, daß Rombergsches Schwanken, lanzinierende Schmerzen in 
den Beinen und Ataxie bestehen, und daß Lues bestritten wird. Eine 
Schwester soll früher einmal irre gesprochen haben, eine andere Schwester 
ist an Schwindsucht gestorben. 

Entwicklung in der Kindheit normal. Menstruation stets unregel¬ 
mäßig, blieb manchmal 3 Monate aus. Heirat mit 23 Jahren. Keine 
Aborte, 5 normale Geburten. 1 Kind ist an Brechdurchfall gestorben, 
die übrigen sind gesund. Syphilis wird durchaus bestritten. 

Mit 27 Jahren plötzlich Ausgleiten in der Stube (infolge Taumelns?). 
Sie schlug mit dem Kopf auf den Herd. Keine Kommotionssymptome. 


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Spater noch wiederholt Hinfallen (stets ohne Kommotion). Alkoholismus 
usw. liegt nicht vor. 

Schon vor 6 Jahren wurde die Pat. auf der Straße darauf aufmerk¬ 
sam gemacht, sie taumele, sie „gehe wie eine Betrunkene“. Als sie ihrem 
Manne dies mitteilte, erwiderte er, „sie gehe schon lange so“. Bei starkem 
Wind konnte sie daher auch nicht gegen den Wind angehen. Ganz all¬ 
mählich nahm das Taumeln zu. Mit 23 Jahren oft plötzlich ziehende 
(nicht lanzinierende), sehr heftige Schmerzen im linken Bein, die in An¬ 
fällen von wenigen Minuten Dauer auftraten. Seit 6 Wochen statt deren 
ganz analoge anfallweise Schmerzen im linken Arm (und zwar tief in 
den Knochen). Wegen der letzteren Aufnahme in die Nervenklinik 
der Charitd am 7. Juli 1911. Seit einigen Wochen auch Sprach Verschlech¬ 
terung. Beim Urinlassen muß Pat. gelegentlich pressen, beim Husten 
geht gelegentlich Urin unwillkürlich ab. 

Untersuchungsbefund (zusammenfassend für die ganze 
Zeit der Beobachtung und unter Weglassung vieler normaler und unwe¬ 
sentlicher Befunde): Herz und Lungen normal. Keine Anämie. Leichte 
Skoliose. Urin normal. Wassermannsche Blutuntersuchung negativ. 
Augenhintergrund normal. 

Pupillen mittelweit, gleich; alle Reaktionen prompt, Augenbewe¬ 
gungen ausgiebig (außer nach oben), aber in den Endstellungen verbleiben 
die Bulbi nicht, sondern gehen unter groben Nystagmus bewegungen 
bald wieder zurück. 

In der Ruhe fortwährendes, ziemlich schnellschlägiges, rhythmisches 
Kopfschütteln (meist im Sinne eines Verneinungsschütteins). Fort¬ 
gesetzt auch unwillkürliche Bewegungen in beiden Ar¬ 
men, namentlich im linken; es handelt sich dabei vorzugweise um 
Bewegungen und Streckungen des Vorderarms, oft aber gleichen die 
Bewegungen bezüglich ihrer Mannigfaltigkeit und Zusammengesetzt¬ 
heit auch in hohem Maß choreatischen. Seltener erinnern sie an einen 
kortikalen klonischen Krampf. 

Keine Trigeminusstörungen. 

Flüstersprache durch den verfügbaren Rtum gehört. Rinne rechts 
negativ, Weber (c“) nach links lateralisiert. 

Gaumen- und Fazialisinnervationen symmetrisch; später starkes 
Zurückbleiben der rechten Gesichtshälfte bei Stirnrunzeln und Zähne¬ 
fletschen. Leichte Zungenabweichung nach rechts, später nach links. 

Sprache langsam, skandierend. 

Trizepsreflex rechts erhalten, links wegen des starken Schütteins 
nicht sicher zu prüfen. 

Dynamometer, r. max. 55, links 40 (rechtshändig). 

In den gespreizten Fingern nur links feinschlägiges Zittern (neben 
den oben erwähnten groben unwillkürlichen Bewegungen in den pro¬ 
ximalen Gelenken). 


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Fingernasenversuch: beiderseits, namentlich links schwere 
Ataxie. Schreiben unmöglich: „der Griffel fliegt immer weg“. 

Pronatorisches und supinatorisches Handschütteln (Diadocho- 
k i n e s e) beiderseits sehr unbeholfen, namentlich links. 

Antagonistenhemmung bei dem Ellenbogenversuch beiderseits 
prompt. 

Bauchdeckenreflex beiderseits schwach. 

Aufrichten aus der Rückenlage ohne Hilfe der Arme gelingt nicht. 

Leichte Hypotonie der Beine. 

Knie - und Achillessehnenphänomene nicht er¬ 
hältlich. 

Fußbildung normal. 

Plantarreflex neutral. 

Mendelscher und Oppenheimscher Reflex normal. 

Grobe mot. Kraft der Beine erhalten. 

Spiel der Zehenbewegungen unbeholfen. 

Bei Steh- und Gehversuchen starkes Taumeln, 
das teils durch ataktische Beinbewegungen (spinale Ataxie), teils durch 
schwere, von Beinbewegungen unabhängige Rumpfschwankungen (zere¬ 
bellare Ataxie) bedingt ist. Dabei auch Zunahme des Kopfzitterns. 

Kniefersenversuch: beiderseits schwere Ataxie. 

Unwillkürliche Bewegungen treten nur hin und wieder auch im 
linken Bein auf. 

Sensibilität : 

Passive Großzehenbewegungen werden zuweilen falsch angegeben. 

Stereognose im allgemeinen erhalten, doch werden Geldstücke rechts 
und links oft verwechselt. 

Prüfung des Raumsinns nach der vom Vortr. kürzlich angegebenen 
Methode (Ztschr. f. päd. Psychol. Bd. 1, S. 216) ergibt rechts und links 
nur leichte Störungen. 

Im übrigen keine sicheren Sensibilitätstörungen. 

Lumbalpunktion : mäßiger Druck, wasserhelle Flüssig¬ 
keit, Phase 1: null bis Spur Opaleszenz, Phase 2: leichte Trübung; Lym¬ 
phozytose 0, Wasserm. Reaktion negativ (0,2 bis 1,0 Extrakt). 

Intelligenz intakt. Stimmung sehr labil. 

Der Verlauf änderte an dem Krankheitbild kaum etwas. 
Erwähnt sei nur noch, daß später im linken Arm der statische Tremor 
den lokomotorischen überwog und daß beim Spreizen der Finger regel¬ 
mäßig der 4. und 5., zuweilen auch der 3. Finger unter dem Niveau des 
1. und 2. Fingers zurückblieb. 

Am 21. Februar 1912 traten klonische Krampfanfälle auf, zunächst 
im linken Arm und in der linken Schulter. Die folgenden Anfälle be¬ 
gannen regelmäßig mit Drehung des Kopfes und des Rumpfes nach links. 
Keine konjugierte Deviation der Augen. Auf Anruf keine Reaktion, auf 


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Stiche Schmerzverziehen des Gesichts und Abwehrbewegungen. Bei den 
späteren Anfällen ist auch der rechte Arm beteiligt. Im ganzen Ober 
20 Anfälle. Einnässen, Zungenbiß. Links ausgesprochenes Babinskisches 
Phänomen (22. Februar). Am folgenden Tag, 23. Februar, morgens 38,5, 
abends 39, 3. Kein Anfall. Fortgesetzt Tremor und Klonus im linken 
Arm. Der Arzt wird morgens falsch bezeichnet. Keine Schluckstönwg. 
Mehrmals Einnässen. Abends ein allgemeiner klonischer Krampf¬ 
anfall mit Einnässen. 

24. II. Temp. Morg. Rectum 40,1°, linke Achsel 39,8, rechte 
Achsel 38,9; Ab. „ 39,8, „ „ 40,2, „ 

„ 38,6; 26. II. „ 41,0, „ „ 40,8, 

„ 39,7 Vorm. Tod. 

Sektionsbefund (pathol. Institut) makroskopisch: Graue 
Verfärbung des GolLschen Strangs im ganzen Rückenmark, mäßiges 
ödem der weichen Rückenmarkshaut. Gallertiges Aussehen der Oliven. 

Die mikroskopische Untersuchung ist noch nicht abgeschlossen, der 
Vortr. demonstriert vorläufig nur einen Schnitt durch die Med. oblongata 
und zum Vergleich Schnitte eines Falles der Marie sehen Krankheit und 
weist — vorbehaltlich einer weiteren Untersuchung — 
auf die außerordentliche Ähnlichkeit des Bildes mit dem von Dejerine 
und Thomas veröffentlichten hin. 

Die Diagnose schwankte im wesentlichen zwischen multipler Skle¬ 
rose, Tabes, Friedreichscher Krankheit und Marie scher Krankheit (der 
sog. hereditären Kleinhirnataxie). 

Gegen multiple Sklerose sprach die Intaktheit des Augen¬ 
hintergrundes, das Fehlen eigentlicher Augenmuskellähmungen und das 
Fehlen aller Seitenstrangsymptome (mit Ausnahme des Auftretens des 
Babinskischen Phänomens im Anschluß an die Krampfanfälle). Ein¬ 
zeln genommen, ist natürlich keines dieser Momente irgendwie ausreichend, 
um eine multiple Sklerose auszuschließen oder auch nur unwahrscheinlich 
zu machen. In ihrer Gesamtheit mußten sie erhebliche Zweifel an der 
Diagnose einer multiplen Sklerose wachrufen. 

Äußerst unwahrscheinlich war eine Tabes, wie sie der Arzt bei 
dem Bruder diagnostiziert hat. Der negative Ausfall der Wassermannschen 
Reaktion im Blut und in der Zerebrospinalflüssigkeit (ohne vorausge¬ 
gangene spezifische Kur), das Fehlen der Lymphozytose, der so gut wie 
negative Ausfall der 1. Phase der Nonne-Apeltschen Reaktion, die aus¬ 
geprägt zerebellare Komponente der Gehstörung sprechen mit Bestimmt¬ 
heit gegen eine tabische Erkrankung. 

Demgegenüber sprachen sehr viele Momente zugunsten einer Fried¬ 
reich sehen oder einer Marie sehen Krankheit. Vor allem 
schien schon die Erkrankung des Bruders, die wohl nicht ohne Bedenken 
mit dem Arzt als Tabes aufgefaßt werden kann, auf eine solche oft fami- 
lial auftretende Krankheit hinzudeuten. Dazu kam die gemischte spinal- 


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sehe Varietät wiesen in der Tat auch einige Symptome hin, wahrend 
die starke Ataxie der Arm- und Beinbewegungen (auch unabhängig vom 
Gehen und Stehen) den Fall von dem Dejerine-Thomasschen unterscheidet 
und auf eine sehr erhebliche Beteiligung der Hinterstränge im Sinne der 
Friedreichschen Krankheit hinwies. 

Die Sektion hat in der Tat bestätigt, daß die Hinterstränge schwer 
erkrankt sind, und daß außerdem wohl eine Sklerose der Olivengegend 
vorliegt. Das Kleinhirn war makroskopisch nicht verkleinert. Die mikro¬ 
skopische Untersuchung wird nachweisen müssen, wie weit auch das Klein¬ 
hirn im Sinne der Jlfarieschen Varietät beteiligt ist, ferner inwieweit der 
Prozeß auch das Brückensystem und die Seitenstränge des Rücken¬ 
marks in Mitleidenschaft zieht. Die Analen Krampfanfälle fordern auch 
zu einer Untersuchung der motorischen Region auf, doch ist zu bedenken, 
daß nach manchen neueren Beobachtungen (Weber, eigenen des Vortr.) 
auch vom Kleinhirn aus ausnahmweise Jackson -ähnliche Anfälle aus¬ 
gelöst werden können. Endlich bedarf auch die histologische Natur des 
Prozesses (systematische abiotrophische Veränderungen im Sinne von 
Gotvers oder primäre neurogliöse Sklerose) der Aufklärung durch die weitere 
Untersuchung. Unter den psychischen Symptomen war nur die eigen¬ 
tümliche Stimmungslabilität der Pat. sehr bemerkenswert. 

Kutzinski -Berlin stellt eine 26jährige Kranke vor, deren erste Geburt 
und jetzige Schwangerschaft normal verlief, bei der keine Belastung, 
keine hysterische oder epileptische Disposition nachweisbar ist, und bei 
der ein im Verlauf der EröfTnungsperiode der Geburt aufgetretener mehr¬ 
stündiger Dämmerzustand bestanden hat. Die Pat. war motorisch er¬ 
regt, dabei ohne sprachliche Äußerungen; der Gesichtsausdruck war ge¬ 
spannt, nicht ausgesprochen ängstlich. Meist hielt sie die Augen geschlos¬ 
sen. Auf Anrufe oder Nadelstiche reagierte sie mit Abwehr- oder Zornbe¬ 
wegungen. Auch ihre sonstige motorische Unruhe war durch derartige 
Bewegungen charakterisiert. Über Halluzinationen war nichts feslzusteilen, 
nur Ael es auf, daß sie oft deutende Bewegungen nach der Wand und 
der Decke hin ausführte. Eine Viertelstunde nach der Geburt sprach sie 
spontan. Dabei zeigte sie sich räumlich unorientiert, verkannte die Um¬ 
gebung. Nach einer weiteren halben Stunde zeigte sie sich bereits orien¬ 
tiert, hat aber Amnesie für die Geburt und für ihr Verhalten. Die Er¬ 
innerungslücke erstreckt sich auch noch einige Stunden weiter zurück. 
Das letzte, was sie genau wissen will, ist, daß ihr Abendbrot gereicht 
wurde, daß sie um 7 Uhr des Abends Wasser verlangte. Für die Zeit von 
7—12 y 4 bleibt auch bei einer erneuten Exploration, die am übernächsten 
Tage nach der Geburt stattfand, die Ausdehnung der Amnesie unverändert. 
Für die Beurteilung des Zustandes ist es wichtig, daß deutliche psychische 
Störungen zu einer Zeit bestanden, in der die Blutungen noch sehr un¬ 
erheblich waren. Daß Erschöpfungen, Fieber keine Rolle spielten, sei 


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noch besonders betont, auch Medikamente waren nicht verabfolgt. Ebenso 
sei auf die Tatsache hingewiesen, daß die Aflekterregungen, die bei heim¬ 
lich Gebärenden, namentlich Erstgebärenden so bedeutsam sind, wie 
Sorge um die Zukunft, Scham über die verlorene Geschlechtsehre, Schrecken 
bei der Geburt, Reue wegen des Fehltritts bei unserer Kranken nicht in 
Frage kommen. Es handelte sich um eine Zweitgebärende. Die Ange¬ 
hörigen waren über ihren Zustand orientiert. Sie brauchte nichts zu ver¬ 
bergen, sie hatte keine Nahrungsorgen. 

Bei der Spärlichkeit derartiger einwandfrei beobachteten Fälle er¬ 
scheint die Mitteilung gerechtfertigt. Daß es sich um eine Ohnmacht nicht 
gehandelt hat, zeigt das Fehlen der typischen Prodomalsymptome einer 
solchen und die retrograde- Amnesie. Die Ätiologie des Zustandes 
ist schwierig: Erschöpfung, starker Blutverlust und ähnliches lag nicht 
vor. Hysterische Stigmata fehlten. Auch sonst bot der körperliche Befund 
keine Besonderheiten. Eine psychische Erklärung ist vielleicht möglich, 
wenn man berücksichtigt, daß es sich um ein von jeher gegen Schmerz 
empfindliches Individuum handelte, und daß die Schmerzwellen bei der 
Pat., deren Geburt nur^ Stunden dauerte, sehr schnell aufeinander folgten. 
Es scheint also ein Schmerzdämmerzustand bestanden zu haben, (aus¬ 
führliche Veröffentlichung folgt). Hans Laehr. 


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Kleinere Mitteilungen. 


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Nekrolog Jastrowitz. — Am 25. Januar d. J. wurde 
der Geheime Sanitätsrat Dr. Moritz Jastrowitz unerwartet aus segens¬ 
reicher Tätigkeit abgerufen. Nur in engem Rahmen sei es mir verstattet, 
seinen äußeren Lebensgang zu skizzieren, wenn ich mir auch wohl bewußt 
bin, selbst mit diesem kurzen Gedenken weder dem Wunsche, noch dem 
schlichten Sinne des Verstorbenen zu entprechen. 

Jastrowitz wurde im Dezember 1840 zu Löbau geboren. Unbefrie¬ 
digt vom kaufmännischen Berufe, für den er bestimmt war, studierte 
er nach absolviertem Abiturium mit gereiftem Ernste Medizin. Nach 
einem mit Auszeichnung abgelegten Staatsexamen trat er als Assistent 
in die Charitö ein und war dort zunächst in der inneren Abteilung bei 
Traube und sodann in der Psychiatrischen und Nervenklinik eine Zeit¬ 
lang mit Westphal zusammen unter Griesinger tätig. Von diesem empfing 
er die wertvollsten Anregungen für sein späteres Sondergebiet. Da ihm 
eine staatliche Anstellung nicht vergönnt war, wurde er Ausgang der 70er 
Jahre leitender Arzt an der Maison de Santd in Schöneberg, um schlie߬ 
lich im Jahre 1892 dem Direktorium der Privat-Heil- und Pflegeanstalt 
Berolinum-Lankwitz beizutreten, dem er bis zu seinem Tode angehörte. 

Wenn er auch auf psychiatrisch-neurologischem Gebiete seine volle 
Befriedigung fand, blieb er doch mit allen übrigen Zweigen der Heilkunde 
in dauerndem Kontakt, namentlich widmete er sein Interesse den inneren 
Krankheiten. Jahrzehnte hindurch war er Schriftführer des Vereins für 
innere Medizin und folgte ihren Verhandlungen stets mit gleicher Regsam¬ 
keit. 

Sein besonderes Augenmerk richtete er von jeher auf die patholo¬ 
gischen Ausscheidungen des Harns. Er übte bis zur letzten Stunde eine 
umfangreiche, zumeist konsultative Praxis, wie auch eine hervorragende 
gutachtliche Tätigkeit aus. Seit geraumer Zeit schon litt er an gesundheit¬ 
lichen Störungen, die er mit stoischer Ruhe ertrug, ohne in seiner Be¬ 
rufsfreudigkeit nachzulassen. So überraschte ihn auch der Tod mitten 
in der Arbeit. 


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Kleinere Mitteilungen. 


413 


Jastrowitz war ein Mensch von seltenen Geistesgaben und Charakter¬ 
eigenschaften. Überaus sprachgewandt, belesen auch in der ausländi¬ 
schen Literatur, von leichter Auffassung und unterstützt von einem 
ungewöhnlichen Gedächtnis, offenbarte er eine scharfe Beobachtungs¬ 
gabe. Naturwissenschaftlich auf das beste vorgebildet und ausgerüstet 
mit reichen Kenntnissen in allen medizinischen Sonderfächern, fand er 
in seinen Kundgebungen allenthalben Zustimmung. Dabei war er von 
bewundernswerter Bescheidenheit und persönlicher Anspruchlosigkeit; 
er blieb stets im Hintergründe und verzichtete gern für sich auf jede An¬ 
erkennung. 

Von lauterer und wahrer Gesinnung, wohlwollend und milde in der 
Beurteilung der Schwächen anderer, konnte er selbst als ein Vorbild 
strengster Pflichterfüllung und hingebender Hilfsbereitschaft gelten. 
Der unzähligen Kranken, die ihn vertrauensvoll suchten, nahm er sich 
mit wahrer Herzensgüte an. 

Bestimmt im Urteil, suchte er aus dem großen Schatze seiner Er¬ 
fahrungen willig zu raten und zu helfen. Er war vielseitig und unermüd¬ 
lich tätig, die Stunden der Erholung nur zu wissenschaftlichen For¬ 
schungen nutzend. Abgesehen von zahllosen längeren oder kürzeren 
Bemerkungen in den Diskussionen der Sitzungen, verdanken wir ihm eine 
Keihe von Veröffentlichungen: 

1865 De fistula vesico-vaginali, Diss. Berlin. 

1868 Multiple Erweichungsherde vorwiegend in der Gehirnrinde. Arch. 
f. Psych. I, 478. 

1870 Über Encephalitis der Neugeborenen. Arch. f. Psych. II, 239. — 
Über die therapeutischen Wirkungen des Chloralhydrats. Berl. 
klin. Wchnschr. S. 414 u. 425. — Studien üb. d. Encephalitis u. 
Myelitis des ersten Kindesalters. Arch. f. Psych. II. u. III. 

1872 Entgegnungauf Arndt, Histologie des Gehirns. Arch.f.Psych. III.S.483. 

1874 Fall von Geistesstörung nach Kopfverletzung. Arch. f. Psych. IV, 
S. 257. 

1875 Beitrag zur Pathologie der Hemiplegieen. Berl. klin. Wchschr. 
S. 428. — Historische Notiz über Aphasie. Berl. klin. Wchschr. 
S. 323. 

1876 Über die Bedeutung des Großhirns für die Sinneswahrnehmung. 
Arch. f. Psych. VI, 616. — Versuche über das Ausreichen einer 
Hemisphäre für die Motilität, sensorielle Tätigkeit und Intelligenz 
des ganzen Körpers. Arch. f. Psych. VI, S. 612, u. VII, S. 638. 

1877 Tumor im I. Hinterlappen, Aphasie, rechtseitige Hemianopsie. 
Zentralbl. f. prakt. Augenheilkunde. — Der gegenwärtige Stand¬ 
punkt der staatlichen Oberaufsicht über die Irren- und Pflege¬ 
anstalten in Preußen und Vorschläge zur Verbesserung derselben. 
Vierteljahrschr. f. ger. Med. u. öffentl. Sanitätswesen. Jan. S. 93 
u. April S. 327. 

Mteehrift für Psychiatrie. LXIX. 3 . 28 


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Kleinere Mitteilungen. 


1879 Bemerkungen zur Therapie der Angstzustände. Allg. Ztschr. f. 
Psych. Bd. 36, S. 602. 

1880 Über den Tod durch Verbrennen vom gerichtsärztlichen Stand¬ 
punkte aus. Vierteljahrschr. f. ger. Med. Bd. 32, S. 1. 

1882 Über die Beurteilung des Schwachsinns und Blödsinns im allge¬ 
meinen u. in foro insbesondere. Allg. Ztschr. I. Psych. Bd. 39, S. 271. 
— Disk, zum Vortr. Jacusiels über Encephalitis interstit. Med. Ges. 
8. Nov. 

1883 Ein Fall von Thrombose der Pfortader aus luetischer Ursache. 

Vortrag. Dtsche. med. Wchschr., Nr. 47 u. V. f. innere Med.. 

Okt. — Disk, zum Vortr. v. Virchow üb. Encephalitis cor gen., V. f. 
inn. Med., Okt. 

1884 Über einen Fall von Zwangsvorstellungen vor Gericht nebst 

einigen Bemerkungen über Zwangsvorstellungen. Dtsche. med. 
Wchschr. Nr. 31 u. 32. — Demonstr. einer Herzvergrößerung mit 
großer Thrombose an d. Herzspitze. V. f. inn. Med., 15. Dez. 

1885 Zerebraltumor am Fuße d. r. mittleren Stirnwindung. V. f. inn. 

Med., 15. Juni. 

1887 Über einen Fall von Lues universalis, insbesondere des Zentralnerven¬ 
systems. Dtsche. med. Wchschr. Nr. 15 u. V. f. inn. Med., 7. Febr. 
— Einiges über das jetzige Provokationsverfahren. Allg. Ztschr. 
f. Psych. Bd. 43, 134. 

1888 Beiträge zur Lokalisation im Großhirn und über deren praktische 
Verwertung. Dtsche. med. Wchschr. Nr. 5 (u. V. f. inn. Med 7. Nov.) 
— Zur Kenntnis des jetzigen Entmündigungsverfahrens. Allg. 
Ztschr. f. Psych. Bd. 44, S. 667. 

1889 Über die Behandlung der Schlaflosigkeit. Ebenda Nr. 31 

1892 Über den besonderen und praktischen Wert der gänzlich durchge- 
führten Trommers chen Probe. Dtsche. med Wchschr. Nr. 7 u. 8. 
— J. u. Salkowski, Über eine bisher noch nicht beobachtete Zucker - 
art im Harn. Med. Centralbl. Nr. 19. — Über Influenza (Psychosen 
danach) (Leyden und S. Guttmann). Wiesbaden, J. F. Bergmann. 
— Über ein Verfahren zur Entfernung von Fremdkörpern aus dem 
Verdauungskanal. Allg. Ztschr. f. Psych. Bd. 48, S. 532. 

1895 Über die ministerielle Anweisung vom 20. September 1895, betr. 
die Privatirrenanstalten. Ztschr. f. Psych. Bd. 52, S« 1182. — Über 
Bitartrate of Lithion. V. f. inn. Med 1. JulL — Nachruf auf J. H. 
Heymann, ibid., Okt. 

1896 Die Röntgenschen Experimente mit Kathodenstrahlen und ihre 
diagnostische Verwertung. Dtsche. med Wchschr. XXII 5. 

1898 Zur Kenntnis und Behandlung der Neuralgia occipitalis. Dtsche. 
med. Wchschr. Nr. 14. 

1899 Akute rheumatische Chorea nebst Bemerkungen über die Natur 
der choreatischen Bewegungen. Dtsche. med. Wchschr. S. 557. — 


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Kleinere Mitteilungen. 


415 


Verschwinden der Ataxie bei Tabes. Allg. med. Zentralztg., Nov. 
— Demonstration eines Falles v. Tabes dors. V. f. inn. Med., 30. Okt. 
1900 Heilung und Nichtheilung der Syphilis. Medizin. Woche, S. 361.— 
— Disk, zum Vortr. Bial üb. zwei Fälle v. Pentosurie. V. f. inn. 
Med. 5. Febr. — Nachruf auf Pionski u. Fr. Rubinstein, ibid. 18. Juni. 

1902 Disk, zum Vortr. F .Krause über Gehirnchirurgie, ibid. 24. März, 

u. zum Vortr. Stadelmann üb. Späterkrankungen d. Gehirns nach 
Schädeltraumen, ibid. 1. Dez. 

1903 Einiges über das Physiologische und über die ärztliche Beurteilung 
der außergewöhnlichen Handlungen im Liebesieben des Menschen. 
Dtsche. med. Wchschr. Vereinsbeilage Nr. 33. 

1904 Morphinismus. Deutsche Klinik VI. Abtlg. 2. 

1905 Demonstration einiger Fälle von Dementia praecox. Neurolog. 
Zentralblatt XXIV (Psych. Verein). — Eine Modifikation zur Ver¬ 
deutlichung der Gerhardtschen Eisenchloridprobe auf Azetessig- 
säure im Harn. Berl. klin. Wchschr. Nr. 5. — Nachruf Wernicke, 

v. Wegener, Croner , V. f. inn. Med. 19. Juni. 

1906 Disk, zum Vortr. Bönniger über Pathologie d. Herzschlages. V. f. 
inn. Med. 17. Dez. 

1907 Disk, zum Vortr. von Goldseheider über die psychoreflektorischen 
Krankheitsymptome. Dtsche. med. Wchschr. 905. 

1911 Disk, zum Vortrage Gutzmann über Aphasie u. Anarthrie. V. f. 
inn. Med. 1. Mai. — Disk, zum Vortr. Leppmann über irrenärztliche 
Tagesfragen. Berl. Med. Ges. 8. Nov. 

Jastrowitz wird nicht nur allen denen, die sein sympathisches Wesen 
kennen zu lernen Gelegenheit hatten, unvergeßlich bleiben: er wird auch 
dauernd einen ehrenvollen Platz, namentlich in der Geschichte der Psy¬ 
chiatrie, einnehmen. Fraenkel- Lankwitz. 


Nekrolog Tauben. — Am 7. April 1912 starb plötzlich 
Dr. Fr. Tauben, Oberarzt an der Provinzial-Heilanstalt zu Lauenburg 
i. Po., im 37. Lebensjahre. Er hat sieb in der Lite/atur durch eine wert¬ 
volle Arbeit über die periodischen Psychosen (insbes. Ausgang und Sek¬ 
tionsbefund, Arch. f. Psychiatr. Bd. 47 S. 66) und durch seinen Danziger 
Vortrag über periodische Indikanurie beim manisch-depr. Irresein (Allg. 
Zisch, f. Psych. Bd. 66 S. 941) bekannt gemacht. Ehe er zur Psychiatrie 
kam, hatte er umfassende philosophische Studien getrieben, besonders 
über Kant. In der Anstalt machte er physiologisch-chemische Arbeiten, 
für welche ihm ein besonderes Laboratorium eingerichtet worden war. 
Im letzten Winter halte er sich in Berlin in StofTwechseluntersuchungen 
ausgebildet. Nun hat der Tod alles vernichtet. Siemens. 


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Kleinere Mitteilungen. 


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Über die Zulassung von Rechtsanwälten zu Be¬ 
suchen bei Pfleglingen der Heil- und Pflegean¬ 
stalten hat anläßlich eines strittigen Einzelfalles das Großh. badische 
Ministerium der Justiz in Verbindung mit dem Großh. Ministerium des 
Innern die in den folgenden Erlassen ausgedrückte Stellungnahme prä¬ 
zisiert : 

Ministerium des Innern. — Wir übersenden im An¬ 
schlüsse Abschrift der von uns erhobenen Äußerung des Großh. Mini¬ 
steriums der Justiz, des Kultus und Unterrichts vom 24. März 1911 
Nr. B 2675 zur Kenntnisnahme und mit dem Aufträge, künftig hiernach 
zu verfahren. Dabei ist zu beachten, daß nur die wegen Geisteskrankheit 
entmündigten Personen nach § 104 Ziff. 3 BGB. geschäftsunfähig sind, 
während die wegen Geistesschwäche, Trunksucht oder Verschwendung 
entmündigten Personen nach § 114 BGB. in der Geschäftsfähigkeit nur 
beschränkt und zum Einspruch und zur Klage nach dem Irrenfürsorge- 
gesetz befugt sind. 

Soweit die Zuziehung eines Rechtsanwalts hiernach nicht verhindert 
werden kann und dieselbe nicht im Aufträge der zahlungpflichtigen An¬ 
gehörigen oder des gesetzlichen Vertreters des Kranken erfolgt, sind diese 
von der Zuziehung zu verständigen mit dem Bemerken, daß die Anstalts- 
verwaltung nicht in der Lage sei, die Zuziehung zu verhindern. 

gez. I. V.: Glöckner. 

Ministerium der Justiz, des Kultus undUnter- 
r i c h t s. — Der Verkehr von in Heil- und Pflegeanstalten untergebrachten 
Kranken, soweit dieselben nicht geschäftsunfähig sind (vgl. § 104 BGB.), 
mit auf ihre Veranlassung und ihren Wunsch hin sie besuchenden Rechts¬ 
anwälten findet unseres Erachtens nur in den Vorschriften der Haus¬ 
ordnung und dem Gesundheitszustand der Kranken selbst, sofern dieser 
etwa einen Verkehr mit dritten Personen als für sie schädlich erscheinen 
läßt, eine Schranke. Abgesehen davon, daß diese Kranken unter Um¬ 
ständen zur Besorgung der verschiedenartigsten Rechtsangelegenheiten 
eines juristischen Beistandes bedürfen, steht ihnen nach §§ 4, 5, 9 des 
Irrenfürsorgegesetzes auch ein Recht auf Klage bzw. Einspruch gegen 
ihre Unterbringung bzw. Zurückbehaltung in der Anstalt zu, und, soweit 
sie auch zur Geltendmachung dieser Rechte der Zuziehung eines Rechts¬ 
anwaltes nicht unbedingt bedürfen sollten, so kann ihnen doch die Zu¬ 
ziehung eines solchen nicht versagt werden. 

Anders wird die Frage bei geschäftsunfähigen, insbesondere also 
bei entmündigten Personen sich gestalten, da diese im allgemeinen keine 
Rechtshandlungen ohne ihren gesetzlichen Vertreter vornehmen können, 
ein Verkehr des Rechtsanwalts mit ihnen daher in der Regel nicht nötig 
fallen, sondern der Verkehr zwischen dem Rechtsanwalt und dem gesetz¬ 
lichen Vertreter des Entmündigten genügen wird. 


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417 


Aber auch hier kommt in Betracht, daß, insoweit der Entmündigte 
seine Entmündigung bekämpfen will, die Zivilprozeßordnung ihm hierfür 
verschiedene Rechtsbehelfe an die Hand gegeben hat (vgl. §§ 664, 675, 679 
Abs. 3 ZPO.), deren er sich in eigener Person ohne Zuziehung seines 
gesetzlichen Vertreters bedienen kann, und daß, sofern er behufs Geltend¬ 
machung dieser Rechte sich eines Rechtsanwalts bedienen will, ihm dies 
nicht versagt werden kann. Eis wird daher auch der Verkehr entmündigter 
Geisteskranker mit Rechtsanwälten nur insoweit gehindert werden können, 
als es sich dabei nicht um die Aufhebung der Entmündigung handelt, 
sondern um die Wahrnehmung anderer Rechte, welche der Entmündigte 
überhaupt nicht selbständig, sondern nur durch seinen gesetzlichen Ver¬ 
treter geltend machen kann. 

gez. I. V.: Hübsch. 


Die Junisitzung des psychiatrischen Vereins zu Berlin 
findet mit Rücksicht auf die Jahresversammlung des Deutschen Vereins 
für Psychiatrie erst Sonnabend, 29. Juni, statt. 


Die Jahresversammlung Bayerischer Psychia¬ 
ter findet am 29. und 30. Juni 1912 in Regensburg und Wöllershof bei 
Neustadt a. d. Waldnaab statt. Referat: Psychiatrische Jugendfürsorge 
(Prof. Dr. Gudden und Priv.-Doz. Dr. Isserlin- München). Am 29. Juni 
Sitzungen in Regensburg, am 30. Juni Besichtigung der neueröffneten 
zweiten oberpfälz. Heil- und Pflegeanslalt Wöllershof. — Anmeldung 
von Vorträgen bis 31. Mai er. erbeten an Prof. AfzAeimer-München, 
Nußbaumstraße 7 oder Med.-Rat KocAe-Eglfing bei München. 


Die 84. Versammlung deutscher Naturforscher und 
Ärzte wird vom 15. bis 21. September in Münster stattfinden. Vorträge 
in den allg. Sitzungen: Czerny-Heidelberg: Die nichtoperative Behand¬ 
lung der Geschwülste; 2?ecÄer-Münster: Leib und Seele; Graf Arco- Berlin: 
Über drahtlose Telegraphie; v. Wettstein- Wien, Czerny-Straßburg, v. Hann¬ 
slein-Berlin und Kerp- Berlin: Die Wissenschaft vom Leben in ihrer Be¬ 
deutung für die Kultur der Gegenwart; Correns - Münster und Gold- 
schmidl-Miinchen: Vererbung und Bestimmung des Geschlechts; Straub- 
Freiburg: Über die Bedeutung der Zellmembran für die Wirkung che¬ 
mischer Substanzen; Nernst- Berlin: Zur neueren Entwicklung der Ther¬ 
modynamik; Sarasin- Basel: Uber den gegenwärtigen Stand des Welt- 
naturschutzes; Kültner- Breslau: Moderne Kriegschirurgie.— Vorträge und 
Demonstrationen für die psychiatrisch -neurologische Abteilung sind bis zum 
16. Mai anzumelden bei einem der Einführenden: Geh.-Med.-R. Dr. 
Gerlach Heerdestr. 13, Dir. Dr. Kleffner, Prov.-Heilanstalt, Dr. Többen, 
Ludgeristr. 72. 

Zeitschrift (Qr Psychiatrie. LXIX. 3. -9 


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418 Kleinere Mitteilungen. 

PersonabuicJirichten. 

Dr. Joh. Köhler, Oberarzt in Gabersee, ist in dauernden Ruhestand 
getreten. 

Dr. Franz Blachian, Oberarzt in Werneck, ist zum Direktor der 
neuen Kreisanstalt bei Haar, 

Dr. Friedr. Utz zum Oberarzt der Kreisanstalt Ansbach, 

Dr. Ernst Rüdin , Priv.-Doz., zum Oberarzt der psychiatr. Klinik in 
München, 

Dr. Ernst Jeß in Eberswalde, 

Dr. Herrn. Riemann, gleichfalls in Eberswalde, und 

Dr. Wilh. Plaskuda in Lübben sind zu Oberärzten ernannt worden. 

Dr. Karl v. Ehrenwall in Ahrweiler ist Geh. Sanitätsrat geworden. 

Dr. Jos. Peretti, Geh. San.-Rat, Dir. von Grafenberg und Dozent an der 
Akademie für prakt. Medizin in Düsseldorf, hat den Titel Pro¬ 
fessor erhalten. 

Dr. Th. Ziehen, Prof, und Geh. Med.-Rat, jetzt in Wiesbaden, ist der 
Rote Adlerorden 3. Klasse mit Schleife, 

Dr. H. F. Rubarth, Geh. San.-Rat in Marsberg, der Kronenorden 
3. Klasse verliehen worden. 

Dr. Ad. SeeligmüUer, ao. Prof, und Geh. Med.-Rat in Halle, ist ge¬ 
storben. 

Dr. Friedr. Skierlo, Oberarzt der Prov.-Anstalt in Potsdam, ist am 5. März, 

Dr. Friedr. Taubert, Oberarzt der Prov.-Anstalt in Lauenburg, am 
7. April gestorben. 


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Die Bedeutung der Anstalt Zwiefalten für das 
Irrenwesen Württembergs 1 ). 

Von 

Oberarzt Dr. A. Schott, leit. Arzt der Heil- und Pflegeanstalt 

Stetten i. R. 

Die ersten Anfänge der Irrenfürsorge Württembergs gehen auf 
das Jahr 1746 zurück, in welchem Jahre der damals regierende Herzog 
Karl, der Begründer der hohen Karlsschule, eine Verfügung erließ, 
welcher zufolge „zur besseren Besorgung der im Land hier und da 
sich befindenden unbemittelten melancholischen und blöden Leute, 
auch der maniaci und furiosi“ ein eigenes Institut errichtet werden 
sollte. Schon im Jahre 1749 war das für 11 Kranke berechnete „Toll¬ 
haus“ fertig gestellt und mit dem schon in Ludwigsburg be¬ 
stehenden Fürstl. Zucht- und Arbeithause vereinigt worden. Aus 
der steigenden Zahl der anstaltbedürftigen Geisteskranken und aus 
der Verbindung des Irrenhauses mit dem Zucht- und Arbeithaus 
ergaben sich für die Dauer Unzuträglichkeiten und störende Unvoll¬ 
kommenheiten. Durch Kgl. Verordnung vom 14. Mai 1811 wurde 
bestimmt, daß das Irrenhaus in die Bäume des ehemaligen Benedik¬ 
tinerklosters Zwiefalten verlegt werden solle, welches im Jahre 
1802 an Württemberg gekommen und 1803 aufgehoben worden war. 
Schon im Jahre 1812 wurden die 46 geisteskranken Insassen des Toll¬ 
hauses von Ludwigsburg nach Zwiefalten überführt und damit die 
erste Heil- und Pflegeanstalt des Landes eröffnet. Zwiefalten sollte 
nicht nur unheilbare Geisteskranke verwahren, sondern auch dem 
Heilzwecke dienen. Die Zahl der zur Verfügung stehenden Plätze 
belief sich auf 70—80. Die steigende Nachfrage nach Anstaltplätzen 

J ) Am 29. Juni d. J. feiert die K. Württ» Heilanstalt Zwiefalten 
ihr hundertjähriges Jubiläum. Im Hinblick hierauf sind die ersten 
7 Aufsätze dieses Heftes geschrieben, mit denen unsere Zeitschrift an 
der festlichen Begrüßung der Hundertjährigen teilnimmt. 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXIX 4. 30 

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Schott. 


führte im Jahre 1829 zu dem Beschlüsse, eine besondere Heilanstalt 
zu errichten. Als geeignet für diesen Zweck wurde das Schloß zu 
Winnental erkannt, welches früher eine Deutschordenskommen- 
thurei gewesen war und sich damals im Besitze der Krone befand. 
Es wurden dort durch bauliche Veränderungen zunächst Plätze für 
90 heilbare Kranke geschaffen. Die Anstalt wurde am 1. März 1834 
unter dem Anstaltsarzt Albert Zeller eröffnet und erfreute sich bald 
infolge der hervorragenden ärztlichen wie persönlichen Eigenschaften 
ihres Leiters eines großen Rufes weit über die Grenzen des Landes 
hinaus. Zwiefalten trat jetzt mehr in den Hintergrund; es wurde zur 
Pflegeanstalt bestimmt und übernahm in der Folgezeit einen großen 
Teil seiner Kranken von Winnental, wo von 1840 bis 1842 der spätere 
berühmte Berliner Psychiater W. Griesinger als Assistenzarzt tätig 
war und Erfahrungen für sein erstmals 1845 erschienenes Lehrbuch der 
Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten sammelte. 
Trotz der Eröffnung von Winnental mußte auch in Zwiefalten die Ver¬ 
mehrung der Anstaltplätze in rascher Folge vor sich gehen. Während 
im Juni 1835 nur 71 Pfleglinge in der Anstalt untergebracht waren, 
stieg ihre Zahl in den Jahren 1838—1852 auf durchschnittlich 150 
im Jahre und in den Jahren 1853—1865 auf einen Bestand von 165 
bis 170. Durch vielfache bauliche Veränderungen sowie durch das 
Hinauslegen von Wohnungen konnten in der ersten Hälfte der 70er 
Jahre 300 Plätze geschaffen werden. Durch den Einbau großer Dach- 
stockräume und Überbelegung erreichte die Krankenzahl in den 
Jahren 1888/39 eine Höhe von über 500 Pfleglingen. Diese erhebliche 
Steigerung der Belegung erfolgte, obwohl im Jahre 1875 eine dritte 
Staatsirrenanstalt eröffnet worden war. Die Wahl fiel auf die ehe¬ 
malige Prämonstratenser-Abtei zu Schussenried, wo sofort 
für 300 Kranke Plätze geschaffen wurden, welche jedoch bald besetzt 
waren und Erweiterungsbauten notwendig machten. Schussenried 
wurde ebenfalls, ähnlich w>e Winnental, in erster Linie als Heil¬ 
anstalt errichtet, so daß nunmehr Zwiefalten gezwungen war, aus 
den beiden Heilanstalten des Landes unheilbare Kranke zu über¬ 
nehmen. Dieser Aufgabe konnte es auf die Dauer nicht mehr ge¬ 
nügen, zumal die örtlichen Verhältnisse eine nennenswerte Ver¬ 
größerung nicht zuließen. Dieser Notlage verdankt Weißenau 
seine Entstehung. Diese Pflegeanstalt wurde am 1. April 1892 er- 


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Die Bedeutung der Anstalt Zwiefalten für das Irrenwesen Württembergs. 421 


öffnet, ebenfalls in einem froheren Klostergebäude, dem ehemaligen 
Prämonstratenserkloster zu Weißenau im Schussental, 20 Minuten 
von der Stadt Bavensburg entfernt, an der Bahnlinie Ulm-Friedrichs- 
hafen gelegen. 

Im Jahre 1899 erhielt Zwiefalten, wie die übrigen Staatsirren¬ 
anstalten, die Bezeichnung „K. Heil- und Pflegeanstalt“ und einen 
kleinen Aufnahmebezirk zugewiesen, aus welchem auch heilbare 
Geisteskranke aufgenommen werden durften. Im Jahre 1903 ist 
anläßlich der Eröffnung der neuen Anstalt Weinsberg — der 
einzigen neuerbauten des Landes — sämtlichen Staatsirrenanstalten 
die Bezeichnung „K. Heilanstalt“ gegeben worden. Im Jahre 1905 
hat jede der Anstalten einen entsprechend großen Aufnahmebezirk 
erhalten, aus welchem die Anstalt die Geisteskranken ohne Unter¬ 
schied aufzunehmen hat. Die Zahl der Aufnahmen betrug in den 
Jahren 1906 bis 1910 durchschnittlich jährlich 102, der Abgang 
96 Kranke. Der Krankenstand in der Hauptanstalt beläuft sich der¬ 
zeit auf etwa 520 Pfleglinge. 

Dies ist in äußeren Zügen nach Camerer der äußere Werdegang 
der Anstalt, wie er sich ergibt im Verein mit den Fortschritten der 
Irrenfürsorge Württembergs. Dieser geschichtliche Bückblick war 
nötig, um die Bedeutung Zwiefaltens für die einzelnen Abschnitte des 
württembergischen Irrenwesens zu beleuchten. 

Die Eröffnung der Irrenanstalt Zwiefalten bedeutet für Württem¬ 
berg die Anerkennung des Grundsatzes, daß Geisteskranke besonderer 
Anstalten und Einrichtungen bedürfen. Daß diese damaligen Ein¬ 
richtungen heutzutage vielfach Kopfschütteln erregen, teilt Zwie¬ 
falten mit allen Anstalten jener Zeit. Schon der Umstand, daß Sträf¬ 
lingen die Wartung der Kranken noch eine Beihe von Jahren anver¬ 
trant war, erregt unser Befremden. 

Dem Geiste der damaligen Zeit und der herrschenden irren- 
ärztlichen Ansicht entspricht es durchaus, daß auch in Zwiefalten 
an Geisteskranken körperliche Züchtigungen vorgenommen worden 
sind. Demgegenüber verdient hervorgehoben zu werden, daß anderer¬ 
seits schon zu jener Zeit der freien Behandlung und der Arbeitstherapie 
in weitem Maße Bechnung getragen worden ist. Die Arzneibehandlung 
kam ebenfalls nicht zu kurz. Der Hydrotherapie wird schon bei den 
Plänen zur Einrichtung der Irrenanstalt in Zwiefalten Erwähnung 

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422 


Schott, 


getan, indem gefordert wird, daß „auf ein Badzimmer und auf die 
in dem Klinikum zu Tübingen vorhandenen Einrichtungen zu einem 
Sturzbad, einem Tropfbad und einem Dampfbad“ Rücksicht ge¬ 
nommen werden solle. Die räumliche Trennung der ruhigen von den 
unruhigen Kranken war von Gründung der Anstalt an stets im Auge 
behalten und nach Möglichkeit durchgeführt worden. Wir können 
also mit Befriedigung feststellen, daß schon die ersten Jahrzehnte der 
Irrenbehandlung in Zwiefalten durchaus den Stempel der Humanität 
trugen und auf damals modernen irrenärztlichen Grundsätzen be¬ 
ruhten. Dazu mag nicht zum wenigsten beigetragen haben, daß der 
zweite Hausarzt der Anstalt, Dr. Elser (1817—1837), um die Mitte 
der zwanziger Jahre eine Instruktionsreise nach Paris und kurze Zeit 
darauf eine solche auf den Sonnenstein ausführen konnte. 
Letztere Anstalt wurde im Jahre 1811 als erste in Deutschland ge¬ 
gründet, welche die Heilung der Kranken als ihre Aufgabe in den 
Vordergrund stellte. Dr. Elser legte großen Wert auf die Beschäf¬ 
tigung der Kranken im Freien; ferner beantragte er die Anschaffung 
eines galvanischen Apparates, um auf die verstimmte und herab¬ 
gesunkene Muskeltätigkeit einwirken zu können, und einer Schaukel, 
um das Gehirn und den Unterleib, den gewöhnlichen Sitz der Geistes¬ 
und Gemütskrankheiten, wohltätig und mit Kraft zu erschüttern. 

Einen erheblichen Schritt in der Entwicklung vorwärts tat die 
Anstalt unter ihrem ersten ärztlichen Direktor Dr. v. Sehäffer (1838 
bis 1874), welcher es meisterhaft verstand, aus den Unheilbaren zu 
machen, was irgendwie noch zu machen war. Er hob sie durch er¬ 
sprießliche erzieherische Maßnahmen sozial, machte sie äußerlich 
geordnet und vielfach wieder gesellschaftfähig, weckte in ihnen schlum¬ 
mernde Interessen und ruhenden Tätigkeitstrieb. So gelang es ihm 
manchen Kranken aus dem Stumpfsinn zu erwecken und zu nutz¬ 
bringender Beschäftigung zu veranlassen. Seine Erfolge auf dem Ge¬ 
biete der Arbeitstherapie können auch heute noch in mehr als einer 
Richtung als musterhaft bezeichnet werden. Daneben wurde Dr. 
v. Sehäffer in der ganzen Umgegend als der geschickteste und hervor¬ 
ragendste Arzt geschätzt und aufgesucht. Seine großen Verdienste 
um die Anstalt wurden auch höheren Ortes gewürdigt und ihm Aus¬ 
zeichnungen mehrfach zuteil Wissenschaftlich ist Dr. v. Sehäffer 
kaum hervorgetreten; es liegt von ihm nur ein Bericht über die Brech- 


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Die Bedeutung der Anstalt Zwiefalten für das Irrenwesen Württembergs. 423 


ruhrepidemie im Jahre 1854 vor, welcher in der Allg. Ztschr. f. Psych. 
zum Abdruck gelangt ist. 

Den Höhepunkt in wissenschaftlicher Hinsicht erreichte Zwie¬ 
falten unter seinem zweiten ärztlichen Direktor Dr. J. L. A. Koch 
(1874—1898); sein Name hat die Anstalt Zwiefalten außerhalb des 
engeren Vaterlandes erst bekannt gemacht. Sein umfassendes Wissen, 
sein Verständnis- und liebevolles Entgegenkommen, sein klarer Blick 
und seine Menschenkenntnis befähigten Dr. J. L. A. Koch dazu, bei 
seinen Assistenzärzten den wissenschaftlichen Sinn zu wecken, sie 
vielseitig anzuregen und zu fördern. Seine Lehre von den psycho¬ 
pathischen Minderwertigkeiten wird ihm in der psychiatrischen Lite¬ 
ratur dauernd einen Ehrenplatz sichern. Die praktischen Konse¬ 
quenzen dieser Lehre treten jetzt mehr und mehr zutage und zeigen, 
wie fruchtbar die Anregungen gewesen sind, welche Dr. J. L. A. Koch 
gab und noch weiterhin geben wird. 

Wenn wir uns den Vorentwurf zu einem deutschen Strafgesetz¬ 
buch vergegenwärtigen, so können wir uns nicht der Überzeugung 
entsehlagen, daß gar manches aber die verminderte Zurechnungs¬ 
fähigkeit, über die Beurteilung der jugendlichen Straffälligen sowie 
über den Strafvollzug an Jugendlichen und Psychopathen auf die 
Lehren Koch s zurückgeht und von ihm inspiriert worden ist. Ähn¬ 
liches gilt auf dem Gebiete der Pädagogik und der Psychotherapie; 
auch hier finden wir auf Schritt und Tritt Beziehungen zu Kochs 
Anschauungen und Abhandlungen. Es dürfte nicht ein Zufall sein, 
daß die heutige Psychiatrie wieder mehr sich diesem überaus wich¬ 
tigen Gebiete zuwendet, auf welchem insbesondere Ziehen in letzter 
Zeit tätig ist. Für Württemberg bedeutet Kochs Lehre die Wieder¬ 
aufnahme kriminalpsychologischer Studien und Untersuchungen von 
ärztlicher und juristischer Seite, deren sozial einschneidende Be¬ 
deutung das neue deutsche Strafgesetzbuch dereinst dartun wird. 
Hat so Dr. J. L. A. Koch in wissenschaftlicher Beziehung bahn¬ 
brechend gewirkt, so ist ihm andererseits der Blick für die praktischen 
Aufgaben der Anstalt dadurch nicht getrübt worden. Hier galt es 
viel unter erschwerenden Umständen und Hindernissen zu leisten. 
Bei einem Krankenstand bis zu 560, lange Zeit mit einer ärztlichen 
Hilfskraft nur arbeitend, war die Arbeitslast eine gewaltige und auf 
die Dauer unerträgliche, seine Gesundheit erschütternde. Als die lang 


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424 


Schott, 


ersehnten und erstrebten Änderungen und Reorganisationen endlich 
zur Tat werden sollten, da war die Kraft Dr. J. L. A. Kochs gebrochen, 
so daß er den größten Teil der praktischen Durchführung seinem 
1. Oberarzt Dr. P. Kemrüer , einem Schüler Wemickes und Kräpdm, 
überlassen mußte. Kemmlers hervorragender organisatorischer Be¬ 
gabung gelang es, in den Jahren 1895—1898 grundlegende Verände¬ 
rungen im inneren und äußeren Ausbau der Anstalt teils einzuleiten, 
teils durchzuführen. Die Zellenbehandlung wurde, soweit irgend 
möglich, eingeschränkt und in umfassendem Maße die Bettbehand- 
lung eingeführt, es wurden Wachabteilungen und Dauerbäder einge¬ 
richtet, Kostformen geschaffen und der Genuß geistiger Getränke 
verdrängt. Die freie individualisierende Verpflegungsform war der 
Leitstern der ärztlichen Behandlung und Tätigkeit geworden. Durch 
zahlreiche Entlassungen und durch Einführung der familialen Ver¬ 
pflegung wurde für Beschaffung von Anstaltplätzen Sorge getragen. 
Im Frühjahr 1898 mußte Dr. J. L. A. Koch aus Gesundheitsrück¬ 
sichten um Enthebung von seinem Dienst bitten. Ihm folgte als 
dritter ärztlicher Direktor Dr. 0. Binder , welcher leider schon im Jahre 
1901 einer Blutvergiftung zum Opfer fiel. Dr. 0. Binder suchte den 
weiteren inneren Ausbau der Anstalt der Vollendung zuzuführen; 
insbesondere ließ er es sich angelegen sein, die individuelle Kranken¬ 
behandlung möglichst zu vervollkommnen und die Kranken¬ 
pflege zu heben. Daneben fand er noch Zeit, sich wissenschaftlich zu ' 
betätigen. Alle seine Abhandlungen zeugen von einem umfassenden \ 
Wissen, einer scharfen Beobachtung und trefflichen Darstellung. 
Von seiner Arbeitskraft und Schaffensfreude hätte die württem- 
bergische Psychiatrie noch manche schöne Frucht erhoffen dürfen. 

Seit 1901 steht die Anstalt unter dem ärztlichen Direktor Dr. 
Krimmd , welcher in zielbewußter Weise sowohl die bauliche Vervoll¬ 
kommnung der Anstalt, als auch die verwaltungstedmische Moderni¬ 
sierung des Betriebes und die Weiterentwicklung der praktischen Irren¬ 
pflege in Angriff genommen und bedeutend gefördert hat. Ihm ist es 
heute zu danken, daß die Anstalt sowohl nach außen wie nach innen 
den Vergleich mit keiner andern Anstalt zu scheuen hat, und daß 
sie nach 100 Jahren noch die regen Triebe des Vorwärtsstrebens und 
der Aufwärtsentwicklung in unverminderter Kraft besitzt und be¬ 
tätigt. 


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Die Bedeutung der Anstalt Zwiefalten für das Irrenwesen Württembergs. 425 


Daß in einem Lande von der Größe Württembergs mit nunmehr 
fünf staatlichen Irrenanstalten Zwiefalten jederzeit eine bedeutende 
Rolle gespielt hat, ist ohne weiteres verständlich. Schon ihre Stellung 
als Mutteranstalt der lange Jahre überragenden Anstalt Winnental 
verbürgt ein gewisses Ansehen. Die Bedeutung ihrer ärztlichen Leiter, 
sei es in praktischer, sei es in wissenschaftlicher Beziehung, hat die 
Anstalt Zwiefalten während 100 Jahren ehrenvoll bestehen lassen. 
Ihr Einfluß auf die anderen Anstalten ist in vieler Richtung ein sehr 
nennenswerter; dazu trägt schon der Umstand bei, daß frühere Zwie- 
faltener Ärzte sich an sechs Anstalten des Landes befinden und als 
lebendige Vermittler dort gesammelter Anschauungen und Erfahrungen 
wirken. Die gerichtliche Psychiatrie des Landes hat von Zwiefalten 
den stärksten und nachhaltigsten Anstoß erhalten. In der Moderni¬ 
sierung der Einrichtungen und des Betriebes ist Zwiefalten den An¬ 
stalten Schussenried und Winnental vorangegangen. Die in Zwie¬ 
falten bewährten Reformen haben sich bei der Errichtung Weißenaus 
und noch mehr beim Neubau Weinsbergs nicht verleugnet und ihre 
Früehte getragen. 

Alles in allem dürfen wir wohl sagen, die Anstalt Zwiefalten ist 
der Ursprung der württembergischen Psychiatrie, sie bildet auch jetzt 
noch ein Bindeglied zwischen den anderen Anstalten und hat es trotz 
ihrer 100 Jahre verstanden, den neuzeitlichen Forderungen, soweit 
es die Verhältnisse gestatten, vollauf gerecht zu werden. 

Möge ihr auch das zweite Jahrhundert ihres Bestehens reiche 
Erfolge bescheren! 


Literatur. 

Medizinalrat Dr. Camerer, Die Entwicklung der Irrenfürsorge im Kgr. 

Württemberg. Carl Marhold. Halle a. S. 1911. 

Med.-Räte Dr. Camerer und Krimmel, Geschichte der Kgl. württ. Heil¬ 
anstalt Zwiefalten 1812—1912. 

Med.-Rat Dr. J. Z* A. Koch, Zur Geschichte des Irrenwesens in Württem¬ 
berg. Württ. Med. Korrbl. 1879. 

Marquart, Zur Geschichte des Irrenwesens in Württemberg. Württ. 
Med. Korrbl. 1905, 1906, 1907. 


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Die Lungenheilstätte der Kgl. Heilanstalt 

Zwiefalten. 

Von 

Medizinalrat Dr. Krlmmel, Direktor der Anstalt. 

Die Bekämpfung der Tuberkulose in den Irrenanstalten ist 
ebenso wichtig als schwierig; wichtig, weil die Tuberkulose die Sterb¬ 
lichkeit in den Irrenanstalten in hohem Grade beeinflußt, schwierig, 
weil die Zerstreuung der Krankheitserreger nur schwer zu verhüten 
und andererseits die Widerstandfähigkeit der Geisteskranken gegen 
Ansteckung und deren Folgen vielfach erheblich vermindert ist. 
Erste Voraussetzung einer wirksamen Bekämpfung der Tuberkulose 
in den Irrenanstalten ist die Trennung der tuberkulösen Kranken 
von den anderen Pfleglingen. Hiezu stehen den neuen, im Pavillon¬ 
system erstellten Anstalten besondere Häuser zur Verfügung. Un¬ 
gleich weniger günstig liegen die Verhältnisse in den adaptierten 
Anstalten wie Zwiefalten, die aus einem großen Gebäudeblock be¬ 
stehen. Die Absonderung tuberkulöser Kranken begegnet da mancher¬ 
lei Schwierigkeiten. 

Auch in Zwiefalten Üeß sich die Trennung der Kranken nur un¬ 
vollkommen durchführen. Deshalb wurde im Jahr 1903 zur Unter¬ 
bringung tuberkulöser Männer auf dem Gebiet der 1897 eingerichteten 
Männerkolonie Loreto eine Döckersche Baracke aulgestellt. Die 
Baracke, die Baum für 9 Kranke und 2 Wärter bot, wurde, nachdem 
sich deren versuchweiser Betrieb gut bewährt hatte, im Jahr 1905 
durch eine größere und fester gebaute Döcker-Unmacksche Baracke 
ersetzt. Die Lungenheilstätte liegt etwa 710 m über dem Meer und 
160 m über der Talsohle am Südabhang des Bergrückens, auf dessen 


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Die Lungenheilstätte der Kgl. Heilanstalt Zwiefalten. 


427 


Höhe die Wirtschaftgebäude der Kolonie Loreto stehen, eines in das 
zum Gebiet der Donau gehörige Aachtal vorspringenden Ausläufers 
der schwäbischen Alb. Sie lehnt sich unmittelbar an den Berg an 
und ist durch ihn gegen Nord- und Nordostwinde, gegen Westwind 
durch einen Buchenwald geschützt. Die Lage ist durchaus ruhig 
und völlig staubfrei. 

Vor der Baracke, die ein kleines Gärtchen ziert, breiten sich bis an 
die weiter unten sich anschließenden Wälder duftige Bergwiesen aus. 
Ein schöner Blick Über die umgebende Landschaft und eine herrliche 
Fernsicht erhöhen den Reiz der Lage. Das Klima von Loreto entspricht 
etwa dem Klima des als Kurort für Lungenkranke bekannten Schömberg 
auf dem Württ. Schwarzwald; die Schwankungen der Temperatur scheinen 
auf Loreto noch etwas geringer zu sein, wie in Schömberg. Die hohe und 
gegen Süden offene Lage sichert der Lungenheilstätte eine lange und 
starke Sonnenbestrahlung, die gleichwohl selbst im Hochsommer nie 
lästig wird. Dichte Nebel sind selten. Die Entfernung von der Anstalt 
beträgt etwa 40 Minuten. 

Die Baracke bietet in zwei lichten und behaglichen Räumen Platz 
für 16 Kranke. In der Mitte befinden sich zwei mit den Krankenräumen 
durch ein kleines Fenster verbundene Gelasse für je einen Wärter, ein 
Geräteraum und eine Spülküche, sowie zwei Aborte. Besondere Venti¬ 
lationseinrichtungen ermöglichen auch bei geschlossenen Fenstern gründ¬ 
liche Entlüftung, zwei Mantelöfen gehörige Erwärmung der Baracke; 
zur Beleuchtung dienen Petroleumlampen. Die Doppelfenster haben 
Dorn Verschluß, aber keine Vergitterung; die unteren Flügel der Fenster 
werden wie die Eingangtüre meist geschlossen gehalten, dagegen können 
die oberen Flügel, ohne die Sicherheit der Kranken zu gefährden, geöffnet 
werden. Unmittelbar neben der Baracke befindet sich eine Liegehalle 
für 10 Kranke, sowie ein kleines Gartenhaus. Den Dienst in der Lungen¬ 
heilstätte besorgen zwei Wärter; die Verköstigung erfolgt von dem wenige 
Minuten entfernten Wirtschaftgebäude der Kolonie. Der Gesamtaufwand 
für die Erstellung der Baracke betrug etwa 12 000 Mk. Der Aufwand 
für ein Krankenbett kam sonach auf 750 Mk. zu stehen. 

Die so eingerichtete Lungenheilstätte bietet nicht nur Gelegenheit, 
tuberkulöse Kranke, soweit sie nicht dauernder Überwachung oder 
besondrer Pflege bedürfen, von den anderen Kranken zu trennen, 
ja sie ganz aus dem Bereich der Anstalt zu entfernen, sondern auch 
die Möglichkeit, ihnen eine den neusten Anforderungen der Phthiseo- 
therapie entsprechende Heilstättenbehandlung angedeihen zu lassen. 
Die in der Heilstätte verpflegten Kranken werden, so oft es nur die 
Witterung gestattet, von morgens bis abends in die Liegehalle verbracht: 


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428 


Krimmel, 


und dies ist dank der günstigen Lage den ganzen Winter hindurch 
möglich. Unterstützt wird die Freiluftkur durch kr&ftige Ernährung, 
abhärtende und anregende Abwaschungen sowie durch Verabreichung 
von Kreosotpräparaten, neuerdings in geeigneten Fällen auch durch 
Behandlung mit Tuberkulin. Die Kranken erhalten die gewöhnliche 
Kost der III. Verpflegungsklasse, dazu aber noch Zulagen von Milch 
und Butter. Um den Kranken eine möglichst gute und bekömmliche 
Milch bieten zu können, wurde auf Loreto Ziegenhaltung und Ziegen¬ 
zucht eingeführt. 

Der Betrieb der Heilstätte verlief bisher .ohne Störung und ohne 
Unfall. Die Baracke hat sich als dauerhaft und wetterbeständig 
erwiesen. Die Heilstättenbehandlung wirkte äußerst günstig. Die in 
der Heilstätte behandelten Kranken nehmen zumeist und zum Teil 
erheblich an Körpergewicht zu. Das Allgemeinbefinden der Kranken 
erfährt in der Hegel eine auffallende Besserung; bei der Mehrzahl 
ließ sich auch eine Besserung des Lungenleidens selbst feststellen. 
Fast durchweg gewinnen die Kranken nach kurzer Zeit ein frischeres 
und gesünderes Aussehen; Appetit und Nahrungsaufnahme bessern 
sich. Die Kranken selbst fühlen sich in der Heilstätte recht wohL 

Rechtfertigt der Betrieb der Heilstätte sonach alle Erwartungen, 
so bleibt nur zu bedauern, daß die Einrichtung der Heilstätte eine 
Beschränkung in der Auswahl der Kranken insofern nötig macht, 
als unruhige, sowie besonderer Überwachung und Pflege bedürftige 
Kranke nicht in der Heilstätte untergebracht werden können. Leider 
ist ein weiterer Ausbau der Heilstätte wegen der Schwierigkeit der 
Beschaffung von Trink- und Nutzwasser auf Loreto kaum möglich. 
Dagegen könnte wohl eine nahe gelegene Domäne, Mochental, einst 
ein herrlicher Sommersitz der Äbte des Klosters Zwiefalten, leicht 
und ohne allzu große Kosten als Zweiganstalt von Zwiefalten zu 
einer Heilstätte für lungenkranke Geisteskranke beiderlei Geschlechts 
und jeder Zustandform eingerichtet werden, die nicht nur für die 
absonderungbedürftigen Kranken Zwiefaltens, sondern auch der 
beiden andern oberschwäbischen Staatsirrenanstalten Schussenried 
und Weißenau Raum genug böte. Damit bekäme Württemberg eine 
Anlage, um die es allerorts beneidet werden müßte. Der Plan, Mochen¬ 
tal für Zwecke der Irrenpflege einzurichten, ist schon wiederholt, 
erstmals in den 40er und dann in den 70er Jahren des vergangenen 


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Die Lungenheilstätte der Kgl. Heilanstalt Zwiefalten. 429 

Jahrhunderts, sowie erst wieder in den letzten Jahren aufgegriffen, 
aber immer wieder auigegeben worden. Sollten die guten Erfahrungen 
mit der Lungenheilstätte Loreto den Gedanken aufs neue zu beleben 
oder gar zu der endlichen Verwirklichung des Planes Anlaß zu geben 
vermögen, so gäbe die Anstalt Zwiefalten damit für die Weiterent¬ 
wicklung der württembergischen Irrenfürsorge im folgenden Jahr¬ 
hundert eine in ihren Folgen höchst segensreiche Anregung. 




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Die Entwickelung der familialen Verpflegung der 
Königl. Heilanstalt Zwiefalten. 

Von 

Oberarzt Dr. Gatekunst, Zwiefalten. 

Schon in den sechziger Jahren haben sich Boiler und Griesinger 
mit der Frage der familialen Irrenpflege beschäftigt. Griesinger hat 
damals die Worte ausgesprochen, daß die familiäre Verpflegung für 
einen gewissen Teil der Irren die eigentlich und einzig richtige sei. 
Sie gewähre, was die prachtvollste und bestgeleitete Anstalt der 
Welt niemals gewähren könne, die volle Existenz unter Gesunden, 
die Rückkehr aus einem künstlichen und monotonen in ein natür¬ 
liches und soziales Medium, die Wohltat des Familienlebens. Zu 
praktischen Versuchen ist es jedoch lange nicht gekommen, Griesinger 1 ) 
wurde wegen seiner Reformideen sogar vielfach heftig angegriffen, und 
jahrelang wurden über die Frage der familialen Verpflegung Geistes¬ 
kranker in zum Teil leidenschaftlicher Weise Erörterungen gepflogen. 
Allmählich ist jedoch eine Ruhe in den Erörterungen über dieses 
Thema eingetreten, man machte Versuche, und die Praxis hat gelehrt, 
daß die Familienpflege als eine Ergänzung der therapeutisch not¬ 
wendigen Verpflegungsformen, als ein wichtiger therapeutischer 
Faktor in der Irrenpflege anzusehen ist. 

Der Einführung der familialen Irrenpflege in Württemberg hat 
Medizinalrat Dr. Rank 2 ) inWeißenau, damaliger Oberarzt der Provinzial¬ 
irrenanstalt Niet eben bei Halle a. S. in seiner Abhandlung über „Die 
familiale Irrenpflege mit besonderer Berücksichtigung der öffentlichen 

1 ) Von 1840—1841 Assistenzarzt der K. Heilanstalt Winnental. 

*) Von 1879—1883 Assistenzarzt der K. Pflegeanstalt Zwiefalten. 


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Die Entwicklung der fainilialen Verpflegung usw. 


431 


Irrenfürsorge in Württemberg“, Juli 1891, warm das Wort geredet. 
Er wies darauf hin, „daß sich Württemberg ja schon an und für sich 
vermöge des konservativen Charakters seiner Bevölkerung und deren 
vorzugweisen Beschäftigung mit Kleinlandwirtschaft mehr als irgend¬ 
ein anderes Land zu einem derartigen Versuche eigne. H 

Im Jahre 1895 wurde in Schussenried der erste Versuch mit der 
familialen Verpflegung zweier Kranker gemacht. Der Versuch schlug 
in beiden Fällen fehl Der erste nach 5 Tagen „durch Eintritt eines 
unerwarteten schweren Exaltationsstadiums“ des Kranken, der 
andere „ohne Nachteil für die Kranke dadurch, daß diese sich in die 
Verhältnisse der Pflegefamilie weniger zu schicken wußte, als in die 
der Anstalt“, ln Zwiefalten war es nun, wo im Jahre 1896 
die familiale Verpflegung zuerst in ausgedehntem Maße 
eingeführt worden ist. Besondere Verdienste hat sich um ihre Ein¬ 
führung Med.-Rat Dr. Kemnüer 1 ) in Weinsberg, damaliger Sekundär¬ 
arzt in Zwiefalten, erworben, er hat die familiale Verpflegung in 
Zwiefalten gewissermaßen ins Leben gerufen. 

Bevor ich auf ihre Installation i. J. 1896 zu sprechen komme, dürfte 
•■s interessieren, daß in Zwiefalten unter der Direktion des Ober-Med.-Rat 
Dr. Schaeffer *) schon in den Jahren vor und um 1870 verschiedene Kranke 
••ine Verpflegungsform genossen haben, welche der familialen Verpflegung 
in gewissem Sinne nahegekommen war. So arbeiteten 2—3 Kranke bei 
hiesigen Handwerkern. Sie verließen morgens die Anstalt, beschäftigten 
-ich tagüber bei den betreffenden Handwerkern, in deren Familie sie ver¬ 
köstigt wurden, und kehrten abends zum Nächtigen in die Anstalt zu¬ 
rück. Etwa 6—8 Kranke halfen im Sommer und im Herbst den Land¬ 
wirten der Umgebung bei ihren landwirtschaftlichen Arbeiten. Sie kehrten 
lum Teil abends in die Anstalt zurück, zum Teil genossen sie über diese 
Zeiten Wohnung und Verpflegung im Hause der betreffenden Landwirte. 
Einige Kranke betätigten sich in dem der Anstalt gegenüberliegenden 
Bräuhaus, sie besorgten das Geschäft des Einschänkens. Allmählich 
•-oheint diese freie Art der Behandlung, welche den jetzigen Idealen auch 
nur wenig zu entsprechen vermag, zu Unzuträglichkeiten geführt zu 
haben. Sie wurde im Jahre 1874 eingeschränkt und verschwand in den 
folgenden Jahren ganz. 

Die Familienpflege im eigentlichen Sinne ist, wie schon erwähnt, 
in» Jahre 1896 in Zwiefalten eingeführt worden. Über den Mechanismus 


’) Von 1895—1901 Sekundär- bzw. Oberarzt der K. Heil- und 
Pfleganstalt Zwiefalten. 

’) Von 1838—1874 Direktor der K. Pfleganstalt Zwiefalten. 


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ihrer Einführung und ihren praktischen Betrieb hat Oberarzt Dr. Schot ;'». 
zurzeit dirig. &nl in SteHen, damaUgar der hiesigen An*ty.U, 

i.ii. «einer Mitteilung iih«i*'ndi* Erfahrungen mit di'r faÄiiUal«‘A Verpflegung 
von im Jahre 1904 

ausführlich bericht ei. Der praktisch»; Betrieb der Famihrnpflege ist auch 
heute noch derselbe gehiicbciu pü <k.ß es .4ich eröhr»gt, hierauf ndch cinmAJ 
des näheren •einzugehen.- 

In der Z’jit vü.ö 1890—1911 gind iin gäuzen 191 Kranke (UM) 
Frauen uod 91 Männer) m faihüiaie Verpieguog geg»i^i wurden, 
•die . wtalerholl m Famdiftiejpfiege. gegebenen' Kranken emgecechuet. 


der Tabelle I s, b and e ergichtlM'it, Diese. Tabelle ilittsiFjdrt zugleich 
die Zahl der in dem jeweiligim Jahre wieder aus der Farn dien pflege 
ausgetretenen Kranken iipd den Bestand der FaiuiliehpftfgÜBge am 
Ende des Jeweiligen Jahres. 

ThIvÜo i 

—- ♦ Zahl "der. in dem j@W« Jahr iu di« Farmlsenpflege einge- 

tr*-t o o* n. Krank-uv. 

. . . Zahl der in dem Jahr aus der Faimlienpflege aus¬ 
getretenen Kranken* 

-—_- Zahl der Fainitieitpflegiings am Ende des jcw. Jahres. 

a) Männer. 


k) : Von ;4S96r-:T89? ^ssBteozarit und ron tOOl 
K. lieitanstäb Zw•iefalteu. 

x ) Würft. Med. Korrespondeuzbl' 1904 . 


J 90 U Oberarzt der 


ÖfijitizMtfyy, 




.* \ • Oridiraificdv? , - " 

ÜNiVEftSft VQf/Mck\G 



<4 


v 





Die Entwickelnd der famiisaleti usw 


•i«; Fratseju 


c) Männer und Frauen zusammen 


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frrirfi,' 


üNjyjsRsrrf'öFtWicwfcA.N,' 


»ritt, ‘ ? f • i t f \ ivti, • ■ f ;.** \\ 












434 


Gutekunst, 


Überblickt man diese zahlenmäßige Entwicklung der familialen 
Verpflegung, so sieht man, daß die Zahl der Familienpfleglinge in den 
Jahren 1897 (damal. Sekundärarzt Dr. Kemmler), 1899 (Direktor 
Dr. Binder l )), 1902 (Direktor Dr. Krimmel *)) die höchste Höhe erreicht 
hat. Mit dem Steigen der Zahl der in Familienpflege Eingetretenen 
steigt auch in der Regel schon in demselben Jahre oder in den dm 
Anstieg zunächst folgenden Jahren die Zahl der aus der Familien¬ 
pflege Ausgetretenen, was sich leicht aus dem Umstand erklärt, daß 

Tabelle II. 

Zahl der Familienpfleglings am Ende des jeweiligen Jahres. 

Männer- 

Frauen . 

Männer u. Frauen zus.- 



1 ) Von 1898—1901 Direktor der K. Heil- und Pfleganstalt Zwiefalten. 
*) Seit 1901 mit der Leitung der K. Heilanstalt Zwiefalten betraut. 


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Die Entwicklung der familialen Verpflegung usw. 


435 


von der in jenen Jahren nicht unerheblichen Zahl der Familienpfleg¬ 
linge manche beurlaubt wurden, sich als ungeeignet erwiesen, körper¬ 
lich erkrankten oder aus anderen später noch zu erwähnenden Gründen 
wieder in die Anstalt zurückgenommen worden sind. 

Der Bestand der Familienpfleglinge berechnet auf das Ende des 
jeweiligen Jahres hat deshalb zunächst wohl einen Aufstieg erfahren 
und hat in den Jahren 1897,1899 und 1902 die höchste Zahl erreicht, 
er vermochte sich jedoch nicht auf dieser Höhe zu erhalten. Dies ist 
sowohl aus den Tabellen I bzw. Ic, als auch aus den Kurven der 
Tabelle II deutlich ersichtlich, welche über den Bestand der Familien¬ 
pfleglinge am Ende des jeweiligen Jahres Aufschluß gibt. Der höchste 
derart berechnete Bestand wurde im Jahre 1902 mit 41 Familien¬ 
pfleglingen (22 Männern und 19 Frauen) erreicht — bei einem Ge¬ 
samtkrankenbestand von 567 Pfleglingen (826 Männern und 241 
Frauen). Vorübergehend war in diesen Jahren ab und zu 
eine höhere Zahl von Kranken in Familienpflege, im Jahre 1902 haben 
sich einmal kurze Zeit 45 Kranke in familialer Pflege befunden. 

Tabelle III. 

—-Zahl der in dem jeweiligen Jahr erstmals in die F.-Pflege 

eingetretenen Kranken. 

-Zahl der in dem jeweiligen Jahre erstmals und wiederholt in 

<iie F.-Pflege eingetretenen Kranken, d. h. Gesamtzahl der in F.-Pflege 
gegebenen Kranken in dem jeweiligen Jahre. 

a) Männer. 





























liwtekunst 


l.»> Fr.wn. 


x) Mäiuier and Frauen zwsarnm?« 













Die Entwicklung der familialen Verpflegung usw. 


437 


Unter den Familienpfleglingen waren nun schon vom Jahre 1897 
ab Kranke, welche nicht zum ersten Male, sondern wiederholt in 
familiale Verpflegung gegeben worden sind. Wie sich die Zahl der 
erstmals in dem jeweiligen Jahre in die Familienpflege eingetretenen 
Kranken zu der Zahl der in dem jeweiligen Jahre erstmals und wieder¬ 
holt in Familienpflege Eingetretenen, also zu der Gesamtzahl der in 
dem jeweiligen Jahre in Familienpflege hinausgegebenen Kranken 
verhält, bringt die graphische Darstellung Tabelle III a, b und c zum 
Ausdruck. 

Aus diesen Tabellen geht hervor, daß es schon nach der ersten 
Auslese der für die Familienpflege geeigneten Kranken in den Jahren 
1896 und 1897 recht schwierig war, weitere geeignete Pfleglinge aus 
dem Gesamtkrankenbestand herauszufinden. So darf es nicht über¬ 
raschen, daß bei dem nochmaligen Ansteigen der Zahlen der Familien- 
Pfleglinge in den Jahren 1899 und 1902 in dem ersteren Jahre von 26 
nur 19 und im Jahre 1902 von 23 nur noch 7 solcher Kranker waren, 
welche zum ersten Male familiale Verpflegung genießen durften. 


Den Grund des Austritts aus der familialen Verpflegung 
bzw. deren Unterbrechung bildeten bei den 91 Männnern: 


Entlassung bzw. Beurlaubung. 

Entweichung und Beurlaubung. 

Abgang durch Tod. 

Rückkehr in die Anstalt auf eig. Wunsch .. 

Körperliche Erkrankung . 

Vorübergehende psychische Erregung teilw. 

infolge Wirtshausbesuches . 

Drang zum Weglaufen . 

Unbotmäßigkeit, sexuelle Erregung, Neigung 

zu Betteln. 

Unreinlichkeit . 

Unzweckmäßige Behandlung durch die Pflege- 

familie. 

Sonstige Gründe (Krankheit und Verziehen 
der Pflegeeltern, Brandfall im Hause der 
Pflegeeltern) . 


15 Fälle 
6 „ 

3 „ 
10 

19 „ 

11 „ 

4 „ 

6 „ 

4 


Zusammen 86 Fälle 


Am Ende des Jahres 1911 befanden sich 5 Männer in Familienpflege. 
Den Grund des Austritts aus der familialen Verpflegung bzw. deren 
Unterbrechung bildeten bei den 100 Frauen : 

Bl* 


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438 


Gutekunst, 


Entlassung bzw. Beurlaubung. 

Entweichung und Beurlaubung. 

Abgang durch Tod... 

Rückkehr in die Anstalt auf eigenen Wunsch 

Wunsch nach Wechsel der Pflegestelle. 

Körperliche Erkrankung . 

Vorübergehende psych. Erregung . 

Drang zum Weglaufen . 

Unverträglichkeit, sexuelle Erregung, Pflege- 

bedürftigkeit . 

Unreinlichkeit. 

Unzweckmäßige Behandlung durch die Pflege« 

familie . 

Sonstige Gründe (Erkrankung, Verziehen der 
Pflegefamilie) . 


6 Fälle 
0 

1 „ 

12 „ 

5 „ 

23 „ 

13 „ 

16 „ 

13 „ 

4 „ 


2 

4 


Zusammen 99 Fälle 


Am Ende des Jahres 1911 befand sich 1 Frau in Familienpflege. 

Die absolute Zahl der Kranken, welche von 1896—1911 im 
Genuß der familialen Verpflegung gestanden sind abzüglich der wieder¬ 
holt in Familienpflege Untergebrachten, beläuft sich auf 116 Pfleg 
linge (65 M. und 51 Fr.). 

Von den 65 Männern konnten 21 entlassen bzw. beurlaubt werden, 
wovon 3 später wieder aufgenommen werden mußten. 10 erwiesen sich 
trotz mehrfacher Versuche als ungeeignet zur familialen Verpflegung. 
3 Kranke starben. Die anderen Kranken wurden aus den oben erwähnten 
Gründen in die Anstalt zurückgenommen. Von den 5 männlichen Kranken, 
welche Ende 1911 noch in familialer Pflege untergebracht waren, befindet 
sich 1 Kranker seit 1897, 1 Kranker seit 1899, 1 Kranker seit 1900, 
1 Kranker seit 1902 ununterbrochen in Familienpflege. Bei 1 Kranken 
mußte die seit 1897 bestehende familiale Verpflegung wegen eines im 
Hause der Pflegefamilie entstandenen Brandfalles auf kurze Zeit unter¬ 
brochen werden. 


Von den 51 Frauen wurden 6 entlassen bzw. beurlaubt. 13 erwiesen 
sich trotz wiederholter Versuche als ungeeignet zu familialer Verpflegung. 
1 Kranke ist gestorben. Die anderen Kranken kamen aus den oben er¬ 
wähnten Gründen in die Anstalt zurück. Die Kranke, welche Ende 19H 
in F.-Pflege untergebracht war, befindet sich seit 1903 in familialer Ver¬ 
pflegung. 

Was die psychischen Krankheitformen der in 
Familienpflege hinausgegebenen Kranken betrifft, verteilen sie sich 
auf die 116 Familienpfleglinge wie folgt: 


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Die Entwicklung der famiiialen Verpflegung usw. 


439 


Von den 65 männlichen F. -Pfleglingen litten bzw. leiden an 


Dementia praecox 

Hebephrenie . 26 

Katatonie . 4 

Halluz. Demenz . 2 32 

Chron. paran. Erkrankung . 17 

Idiotie, Imbezillität. 14 

Konstitutionelle Entartung . 1 

Senile Demenz . 1 

Von den 51 weiblichen F.-Pfleglingen litten bzw. leiden an 
Dementia praecox 

Hebephrenie .22 

Katatonie . 3 

Halluz. Demenz . 2 27 

Chron. paranoische Erkrankung.15 

Idiotie, Imbezillität. 5 

Senile Demenz . 2 

Chron. Alkoholismus . 1 


Akute halluzinatorische Verwirrtheit .... 1 


Zu den Pflegestellen sind für die 191 in Familienpflege 
Untergebrachten insgesamt 94 verschiedene Pflegefamilien in Anspruch 
genommen worden. Von diesen 94 Pflegestellen wurden 89 ihrer Aufgabe 
gerecht, 5 erwiesen sich als ungeeignet. Den einen mangelte das Verständ¬ 
nis für die Kranken, die anderen ließen es an der nötigen Beaufsichtigung 
und Reinlichkeitspflege fehlen. Ein Kranker wurde von dem Pflegevater 
geschlagen. 


Die Pflegestellen verteilen sich auf folgende Orte in der Umgebung 
Zwiefaltens: 


Name 

Entfernung von 

des Ortes: 

Zwiefalten: 

Aichstetten . 


Baach . 

. 2 „ 

Emeringen . 

. 6 „ 

Friedingen . 

.10 „ 

Gauingen . 


Geisingen . 

. 6 „ 

Georgenhof . 

. 10 „ 

Hayingen . 

. 8 ., 

Hochberg . 

. 4 .. 

Huldstetten . 

. 6 .. 

Ittenhausen . 

. 13 ,. 

Moersin gen . 


Oberwilsingen 



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440 


Gutekunst, 


Name Entfernung von 

des Ortes: Zwiefalten: 

Pflummern .40 km 

Sonderbuch . 4 „ 

Wimsen . 4 „ 

Zwiefalten .— „ 

Seit Jahren wurde der Kreis dieser Ortschaften immer enger gezogen, 

und Ende 1911 waren die Familienpfleglinge ausschließlich in den Zwie¬ 
falten naheliegenden Ortschaften Baach, Gauingen, Hochberg unter¬ 
gebracht. 

Das Vorhergehende sollte ein Versuch sein, ein Bild vod der 
äußeren Entwicklung der Familienpflege der K. Heilanstalt Zwie¬ 
falten zu geben. Welche Erfahrungen haben wir nun mit der familiaSen 
Verpflegung bisher gemacht, und was dürfen wir aus ihrer bisherigen 
Entwicklung folgern? 

Von schwereren Unglücksfällen sind die Familienpfleglinge bisher 
verschont gebliebeu. Einmal erlitt ein Kranker durch einen Pferde¬ 
hufschlag eine Verletzung im Gesicht, die sich jedoch nicht als sonder¬ 
lich schwer erwies. Die in Familienpflege Verstorbenen starben eines 
natürlichen Todes: 2 Männer an akuter Herzinsuffizienz, 1 an einer 
rasch zum Tode führenden Hirnblutung. Bei der in Familienpflege 
verstorbenen Frau bildete ein Leberkrebs die Todesursache. Die 
Kranke setzte der Absicht, sie wegen ihrer Erkrankung in die Anstalt 
zurückzuverbringen, energischen Widerstand entgegen. Sie wurde 
von ihrer Pflegefamilie mit großer Aufopferung bis zu ihrem Tode 
gepflegt. 

Auch sonst hat die familiale Verpflegung zu keinen erheblichen 
Unzuträglichkeiten geführt. Gewaltakte von seiten der Kranken sind 
nicht vorgekommen, wenn manche Familienpfleglinge sich zuweilen 
auch als unbotmäßig und gereizt erwiesen. Uber solche Zeiten vor¬ 
übergehender Erregung wurden sie in die Anstalt zurückgenommen. 

Im Oktober 1897 belästigte ein an angeborenem Schwachsinn lei¬ 
dender Kranker ein sechsjähriges Mädchen. Er soll es in den Arm genom¬ 
men und geküßt haben. Der Kranke wurde daraufhin sofort in die An¬ 
stalt zurückgenommen. Einmal wurde zur Anzeige gebracht, daß Kinder 
durch eine Kranke bedroht worden seien. Nachforschungen ergaben die 
völlige Harmlosigkeit dieser Bedrohungen. 

Im Jahre 1905 wurde in der Finanzkommission der Kammer der 
Abgeordneten zur Sprache gebracht, „daß schon von dritter unbeteiligter 
Seite beobachtet worden sei, wie sog. Familienpfleglinge den Kindern der 


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Die Entwicklung der familialen Verpflegung usw. 


441 


Familie, in welcher sie untergebracht waren, durch ihr Verhalten (schlechte 
Manieren oder gar sexuelle Ausschreitungen) gefährlich geworden seien“. 

Die damals angestellten umfangreichen Erhebungen haben nichts 
ergeben, was für dergleichen Vorkommnisse gesprochen hätte. Zwei 
weibliche Kranke mit Neigung zu obszönen Schimpfereien auch sexuellen 
Inhalts waren schon 1904 wegen ihres ungeeigneten Verhaltens in die ge¬ 
schlossene Anstalt zurückgenommen worden. 

Im Jahre 1907 ist über einen Kranken in einem anonymen Briefe 
berichtet worden, daß er für Kinder gefährlich sei. Die angestellten Nach¬ 
forschungen ergaben ebenfalls die völlige Haltlosigkeit dieser Beschul¬ 
digung. Das Motiv der Anzeige waren offenkundig Neid und Mißgunst 
eines nicht mit einem Familienpllegling bedachten Bauern. 

Im April 1911 verursachte ein Familienpflegling versehentlich einen 
belanglosen Waldbrand. Die Pflegefamilie hatte es in diesem Falle an der 
gehörigen Beaufsichtigung fehlen lassen. Der Kranke wurde in die An¬ 
stalt zurückgenommen. 

Dies sind die störenden Zwischenfälle, die bisher in der Familien¬ 
pflege vorgekommen sind. Man darf wohl sagen, daß sie bei der hohen 
Zahl der Versuchsfälle und bei der immerhin schon langen Dauer der 
Ausübung der familialen Verpflegung in Zwiefalten gegen diese Ver¬ 
pflegungsform kaum ins Gewicht fallen dürften. Bleiben wir doch in der 
geschlossenen Anstalt selbst keineswegs von unliebsamen Vorkommnissen 
und Unfällen bewahrt. Immerhin weisen diese Fälle darauf hin, daß die 
Auswahl sowohl der Familienpfleglinge als auch der Pflegefamilien be¬ 
sonderer Sorgfalt und Vorsicht bedarf. 

Der Boden für die Ausführung der Familienpflege erwies sich in 
Zwiefalten als denkbar günstig. Die Erfahrung bestätigte durchaus 
die Hoffnungen, welche in dieser Hinsicht vor Ausübung der Familien¬ 
pflege auf die hiesige Gegend gesetzt wurden sind. Die Albdörfer und 
Höfe der hiesigen Umgebung bieten in ihrer idyllischen, abgeschiedenen 
Lage den Kranken Ruhe und die für sie wünschenswerten einfachen 
Verhältnisse. Größere Städte sind nicht in der Nähe, Fabriken fehlen, 
die Dörfer haben wenig Verkehr. Die Dorfbewohner sind bei einfacher, 
bescheidener, nicht an große Bedürfnisse gewöhnter Lebensweise 
ehrbar und mäßig. Sie treiben außer wenigen Handwerkern aus¬ 
schließlich Landwirtschaft in der Form des landwirtschaftlichen 
Kleinbetriebes und stehen seit Jahrzehnten in geschäftlicher Ver¬ 
bindung mit der Anstalt. Die Umgebung, welche die Entwicklung der 
Anstalt seit einem Jahrhundert miterlebt hat, steht dem Umgang 
mit Geisteskranken mit viel weniger Voreingenommenheit und Mi߬ 
trauen gegenüber, als andere Gegenden. Die Bevölkerung hat sich 


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442 


Gutekunst. 


an den Umgang mit Geistesgestörten gewöhnt. Von besonderem Werte 
ist die Tatsache, daß schon seit Jahrzehnten männliche und weibliche 
Angehörige zahlreicher Familien der hiesigen Umgebung eine Ehre 
darein s:tzen, in den Anstaltdienst treten zu dürfen. Sie bleiben zu¬ 
meist mehrere Jahre im Dienst der Anstalt, eignen sich gewisse Kennt¬ 
nisse in der Irren- und Krankenpflege an und machen sich mit dem 
Wesen und der Behandlung Geisteskranker einigermaßen vertraut. 
Eine ansehnliche Zahl dieser Wärter und Wärterinnen haben sich zu 
allen Zeiten, besonders auch in den letzten Jahren, in der hiesigen 
Umgebung niedergelassen, so daß zahlreiche Pflegefamilien vorhanden 
sind, deren erwachsene Mitglieder als Pflegepersonal im Dienste der 
Anstalt gestanden haben. Gerade diese Pflegefamilien erhielten aus 
Zweckmäßigkeits- und aus BilTgkeitsgründen den Vorzug, zumal 
da sie häufig der Anstalt und den Ärzten große Anhänglichkeit be¬ 
wahren, mit Stolz von ihrer Anstaltzeit sprechen und es als Ehren¬ 
sache betrachten, nicht nur einen Familienpflegling zu erhalten, 
sondern auch den an sie gestellten Anforderungen in dem Verständnis 
und in der Sorge für den Kranken gerecht zu werden. Die Erfahrung 
hat gelehrt, daß man solchen Pflegefamilien oft schwierige Aufgaben 
zumuten durfte. Sie brachten auch schwer zu behandelnden Kranken 
gutes Verständnis entgegen. Aus wohl verständlichen Gründen war 
die Nachfrage nach Kranken, welche im landwirtschaftlichen Betrieb 
beschäftigt werden konnten, ziemlich groß. Dieser Gesichtspunkt 
war jedoch nicht allein maßgebend zur Aufnahme von Familien- 
Pfleglingen. So erwähnt Schott z. B. folgenden Fall: Eine vermögliche 
Bauernfamilie, deren erwachsene Kinder sich auswärts befanden, 
nahm lediglich der Unterhaltung wegen eine Kranke bei sich auf und 
verpflegte sie in „so üppiger Weise“, daß die Auslagen für die Ver¬ 
köstigung usw. die Höhe des für die Kranke bezahlten Verpflegungs¬ 
geldes sicherlich erheblich überschritten. — Manchen Pflegefamilien 
war es Ehrensache, durch das Alter gebrechlich gewordene Kranke, 
die zu keinerlei Arbeit mehr fähig waren, in ihrem Hause mit großer 
Sorgfalt und unter Aufwendung einer besonders geeigneten Be¬ 
köstigung solange zu pflegen, bis die weitere Verpflegung außerhalb 
der Anstalt aus ärztlichen Gründen nicht mehr angängig war. Ego¬ 
istische Motive dürften bei solchen Familien schließlich keine Rolle 
mehr gespielt haben. Das Verhältnis der Pflegefamilien zu den Kranken 


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Die Entwicklung der familialen Verpflegung usw. 


443 


wurde eben, nachdem sich beide Teile aneinander gewöhnt hatten, 
häufig ein herzliches und fürsorgliches, die Kranken nahmen all¬ 
mählich die Stellung von Familienmitgliedern im Hause ein. 

Mit den Wohnungsverhältnissen durfte man zufrieden sein. Die 
Wohnungen entsprechen kleinbäuerlichen, jedoch keineswegs ärm¬ 
lichen Verhältnissen. Sie sind zumeist gut gelüftet, die Pflegefamilien 
kommen auch den Forderungen der Sauberkeit und Reinlichkeit nach. 
Die Betten sind gut und reinlich gehalten. 

Über die Art und Weise der Verköstigung wurden den Pflege- 
familien keinerlei Vorschriften gemacht. Klagen über die Verköstigung 
sind trotz der liberalen Handhabung dieser Frage nach Ausweis der 
Akten weder früher noch in der letzten Zeit von Familienpfleglingen 
eingegangen. Die Kost ist einfach und ländlich. Sie sagt jedoch dem 
Geschmack manches aus bäuerlichen Verhältnissen hervorgegangenen 
Familienpfleglings vielleicht mehr zu, als die in der Anstalt gereichte 
auch dem verwöhnteren Gaumen Rechnung tragende Nahrung. 

Die Kranken waren mit ihren Pflegestellen in der Regel auch 
zufrieden außer einigen nörglerischen, unzufriedenen Elementen, deren 
Wünsche nirgends zu befriedigen sind. Diese Art von Kranken war 
es auch vorwiegend, die auf eigenen Wunsch in die Anstalt zurück¬ 
verlangten oder, wie besonders einige weibliche Familienpfleglinge, 
einen Wechsel der Pflegestelle anstrebten. 

Grobe Behandlung Kranker von seiten der Pflegefamilie kam nur 
einmal vor. Im Jahre 1897 wurde ein Pflegling von seinem Pflege¬ 
vater geohrfeigt. Der Kranke wurde in die Anstalt zurückgenommen; 
in jener Pflegefamilie wurden keine Familienpfleglinge mehr unter¬ 
gebracht. 

Daß die meisten Pflegefamilien es nicht an der nötigen Beauf¬ 
sichtigung der Kranken fehlen ließen, dafür spricht deutlich die Tat¬ 
sache, daß von 94 Familien nur 4 in dieser Beziehung ihrer Aufgabe 
nicht gewachsen waren. Im ganzen standen also 89 brauchbare Pflege - 
familien zur Verfügung, eine Zahl, die der beste Beweis dafür sein 
dürfte, daß für die familiale Verpflegung in dieser Hinsicht hier die 
denkbar besten Verhältnisse gegeben sind. Wurde doch auch schon 
nach kurzer Zeit der Ausübung der Familienpflege erreicht, was von 
Anfang an angestrebt worden ist, daß die Annahme eines Pfleglings 
nicht als eine Gefälligkeit der Bevölkerung gegen die Anstalt, sondern 


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444 


Gutekunst, 


als eine Vergünstigung der Anstalt der Bevölkerung gegenüber auf¬ 
gefaßt wird. 

Die therapeutischen Erfolge der freien Behandliwgs- 
form der familialen Verpflegung sind nach der bisherigen Erfahrung 
recht gute. Die meisten Kranken sind in ihrem psychischen Verhalt® 
weitergekommen. Sie lebten in dem ihnen von Haus aus gewohnt® 
ländlichen Milieu auf und zeigten bald für alles Mögliche Interesse. 
Viele Pfleglinge, die in der Anstalt zu keiner Betätigung zu beweg® 
waren, griffen zur Arbeit und entwickelten sich allmählich zu wohl 
brauchbaren landwirtschaftlichen Kräften. 

So arbeitet ein Kranker, welcher sich in der Anstalt nie zu einer 
Beschäftigung herbeigelassen und sich gegen die Unterbringung in Fa¬ 
milienpflege geradezu gewehrt hatte, heute tüchtig und selbständig in 
der Landwirtschaft mit. Er fühlt sich sehr wohl in seiner Pflegestelle, 
ist durchaus zufrieden und unterhält freundliche Beziehungen mit seiner 
Pflegefamilie und den Dorfbewohnern, während er sich in der Anstalt 
stets von seiner Umgebung zurückgezogen und gegen Ärzte und Personal 
ablehnend verhalten hatte, ein Verhalten, das sich auch den Ärzten gegen¬ 
über seit langem geändert hat. 

Intellektuell nicht mehr sonderlich hochstehende Pfleglinge ließen 
sich wenigstens zu mechanischen Arbeiten (Holztragen, Wasserholen usw.) 
gerne heranziehen und fühlten sich wohl bei dieser wenn auch einfachen 
Beschäftigung. Ein mutazistischer Katatoniker, welcher sich heute 
noch in Familienpflege befindet, hat sich in der Ortschaft, in welcher 
seine Pflegefamilie wohnt, über die örtlichen Verhältnisse und auch über 
die einzelnen Familien wohl orientiert. Er besorgt Aufträge, welche ihm 
schriftlich mitgegeben und welche auf schriftlichem Wege auch wieder 
erledigt werden, richtig und prompt. Während dieser Kranke seiner Pflege¬ 
familie gegenüber zumeist willig und freundlich ist, zeigt er gegen den Arzt 
in der Regel ein ablehnendes Verhalten und hört häufig über die Zeit 
der Anwesenheit des Arztes mit der Arbeit auf. 

Die Kranken haben die Freiheit der familialen Verpflegungsform 
stets angenehm empfunden und sie schätzen gelernt. Auch blöderen Fa¬ 
milienpfleglingen kam die größere Freiheit und Selbständigkeit wohl 
zum Bewußtsein. So versäumte z. B. ein Kranker, welcher allmählich 
eine erhebliche intellektuelle Einbuße erlitten hatte, nie, wenn er zum 
regelmäßigen Bad in die Anstalt geführt wurde, seinen Pflegeeltern auf¬ 
zutragen, daß sie ihn auch wieder mit nach Hause nehmen sollten. 

Daß die familiale Verpflegung von günstigem Einfluß auf die Kranken 
war, geht auch daraus hervor, daß von 116 Pfleglingen 27 = 23% ent¬ 
lassen bzw T . beurlaubt werden konnten, nachdem sie sich nach den mit 
ihnen in der Familienpflege gemachten Erfahrungen den normalen Lebens¬ 
bedingungen gewachsen gezeigt hatten. 


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Die Entwicklung der famiiialen Verpflegung usw. 


445 


Zur Unterbringung in Familienpflege eig¬ 
neten sich nach unseren Erfahrungen, wie aus der früher ge¬ 
gebenen Zusammenstellung ersichtlich ist, am besten die an Dementia 
praecox Leidenden und unter ihnen vorzugweise die hebephrenischen 
Kranken, welche durch die mancherlei Anregungen der Familie und 
des landwirtschaftlichen Betriebes aus ihrer Apathie aufgerüttelt 
wurden. Auch Imbezille und chronisch-paranoische Kranke stellten 
ein etwas größeres Kontingent. Die an anderen Krankheitformen 
Leidenden konnten nur vereinzelt in familiale Behandlung gegeben 
werden. Versuche mit manisch-depressiven, periodisch-manischen usw. 
Kranken wurden hier nie gemacht. Sind bei solchen Pfleglingen die 
freien Intervalle nur kurz, so eignen sie sich nicht zur Unterbringung 
in Familienpflege; haben die freien Zeiten längere Dauer, so kommen 
die Kranken in der Hegel schon so frühzeitig zur Entlassung, daß sie 
die Zwischenstufe der Familienpflege nicht mehr zu passieren ver¬ 
mögen. 

Fassen wir das über den therapeutischen Wert der famiiialen 
Verpflegungsform Gesagte zusammen, so können wir mit den hier 
gemachten Erfahrungen nur die recht guten Erfolge bestätigen, 
welche auch andere Anstalteü innerhalb und außerhalb Württem¬ 
bergs in dieser Hinsicht mit der Familienpflege gemacht haben. 

Wie kommt es nun, daß trotz des für die Familienpflege hier so 
günstigen Bodens und trotz der guten therapeutischen Erfolge die Zahl 
der Familienpfleglinge langsam aber stetig zurückgegangen ist? 

Die Ursache für diesen Rückgang ist nicht in inneren, sondern 
lediglich in äußeren Gründen zu suchen. Zur Zeit der Einführung der fami- 
lialen Verpflegung im Jahre 1896 war es bei der Art der damals in Zwie¬ 
falten untergebrachten Kranken — Zwiefalten war damals noch Pflege¬ 
anstalt und beherbergte in der Hauptsache chronisch Kranke — wohl 
möglich, aus dem Gesamtbestand eine erkleckliche Anzahl für Familien¬ 
pflege geeigneter Kranken auszulesen. Schon in den der ersten Auslese 
folgenden Jahren war es erheblich schwieriger, weitere für die Familien - 
pflege geeignete Kranke ausfindig zu machen, was in Berichten der 
Direktion im Jahre 1899 bei der zweiten Auslese schon zum Ausdruck 
gebracht worden ist. In Wirklichkeit war auch unter den in späteren 
Jahren in die Familienpflege hinausgegebenen Kranken ein großer Teil 
solcher Kranker, welche — wie aus den Tabellen III hervorgeht — nicht 
zum ersten Male, sondern wiederholt in familialer Verpflegung unter¬ 
gebracht worden waren. Trotzdem wurde im Jahre 1902 durchMed.-Rat 
Dr. Krimmel noch einmal eine sorgfältige Auswahl getroffen, und manche 


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446 


Gatekunst. 


früher mißglückten Versuche wurden wiederholt, so daß sich die Familien* 
pflege damals einer hohen Blüte erfreute. In den folgenden Jahren jedoch 
setzte der langsame aber stetige Rückgang ein. Die Zahl der Familien¬ 
pfleglinge wurde durch Entlassungen, Tod, Erkrankung, Zurücknahme 
von Kranken in die Anstalt aus den anderen früher erwähnten Gründen 
allmählich nicht unerheblich gelichtet. Die Zahl der in die Familienpflege 
Eintretenden vermochte aber mit der Zahl der aus der familialen Ver¬ 
pflegung Austretenden nicht mehr Schritt zu halten, denn nach der drei¬ 
maligen Auslese in den Jahren 1896/97, 1899, 1902 war es nachgerade 
nicht mehr möglich, aus dem alten Krankenbestand neue für die Familien¬ 
pflege geeignete Kräfte zu finden. Der Bestand mußte also vorwiegend 
aus den Neuaufnahmen ergänzt werden. Dies wird durch äußere Ver¬ 
hältnisse jedoch außerordentlich erschwert. 

Im Jahre 1899 bzw. 1903 wurde Zwiefalten des Charakters einer 
reinen Pflegeanstalt entkleidet. Seither mehrten sich die Aufnahmen 
Neuerkrankter, während vorher in der Hauptsache nur chronisch Kranke, 
unter welchen sich eher zur F.-Pflege geeignete Pfleglinge finden ließen, 
zur Aufnahme gelangt bzw. von anderen Anstalten nach Zwiefalten ver¬ 
setzt worden waren. Nach Zuteilung eines bestimmten Aufnahmebezirks 
an Zwiefalten im Jahre 1905 nahm der Andrang Neuerkrankter immer 
mehr zu, so daß es bald zur Überfüllung der Anstalt kam. Infolge der 
Überfüllung aber vermochte man seit Jahren nur die Schwerkranken 
aufzunehmen, die für F. -Pflege auch späterhin zumeist nicht in Betracht 
kamen. 

Nach der Bekanntmachung des KgL Medizinalkollegiums vom 
27. V. 1907 sind die Verpflegungsgelder der Staatsirrenanstalten neu 
geregelt bzw. erhöht worden. Infolge dieser Erhöhung der Verpflegungs¬ 
gelder haben sowohl die zahlungpflichtigen Armenbehörden, welche 
seither häufiger in Anspruch genommen werden, ein vermehrtes Interesse 
daran, einmal, daß die Kranken möglichst frühzeitig, sobald es ihr Zustand 
einigermaßen erlaubt, zur Beurlaubung kommen, zum andern, daß chro¬ 
nische Kranke, welche infolge ihres psychischen Verhaltens nicht mehr 
unbedingt irrenanstaltbedürftig sind, wohl aber noch eine sachver¬ 
ständige Pflege brauchen, in Pflege- und Bewahranstalten um ein billigeres 
Verpflegungsgeld untergebracht werden. Diese letzte Tendenz der Armen¬ 
behörden usw. wird aus Gründen der Evakuierung der überfüllten An¬ 
stalten von den Anstalten selbst energisch unterstützt. 

Unter diesen Verhältnissen war und ist es nahezu nicht mehr 
möglich, in den letzten Jahren gebesserte Kranke vor der Entlassung 
die Zwischenstufe der Familienpflege passieren zu lassen und von 
dieser wohl bewährten Verpflegungsform trotz besten Willens und 
eifrigsten Bestrebens der Ärzte ausgiebigen Gebrauch zu machen. 
Die familiale Verpflegung kam, wie die Erfahrung imm er mehr gelehrt 


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Die Entwicklung der fainilialen Verpflegung usw. 


447 


hat, in der Regel nur noch für Kranke in Betracht, welche infolge 
Fehlens von Angehörigen überhaupt oder infolge ungünstiger sozialer 
Verhältnisse in der eigenen Familie keine Unterkunft finden konnten. 
Und nicht einmal solche Kranke blieben immer im Verband der An¬ 
stalt. So haben in einigen Fällen die zahlungpflichtigen Armen¬ 
behörden aus pekuniären Gründen bei Kranken, welche in Familien- 
pflege untergebracht waren, die Beurlaubung aus dem Anstalts¬ 
verband erwirkt und haben diese Kranken auf ihre eigene Verant¬ 
wortung hin Pfiegefamilien der hiesigen Umgebung zur Verpflegung 
übergeben. 

Dies sind die Gründe, welche den Rückgang der Familienpflege 
in Zwiefalten erklären. Und verfolgt man die Entwicklung der fami- 
iialen Verpflegung anderer württembergischer Anstalten, so will 
mir scheinen, als ob auch sie ähnliche Erfahrungen wie Zwiefalten 
gemacht hätten. 

Zum Schluß fasse ich die Erfahrungen, welche 
seither mit der familialen Verpflegung in Zwiefalten gemacht worden 
sind, dahin zusammmen: 

Der Boden für die Entwicklung der Familienpflege ist in der Um¬ 
gebung der hiesigen Anstalt ein sehr günstiger. 

Die Familienpflege hat sich bisher aufs beste bewährt und hat 
sich als ein wertvoller therapeutischer Apparat unter den Behand¬ 
lungsformen der Irrenfürsorge erwiesen. 

Aus äußeren Gründen vermag zurzeit die familiale Verpflegungs- 
fonn zur Entlastung der Anstalt kaum zu dienen. 

Die bisherigen guten Erfolge der Familienpflege befestigen und 
fördern uns jedoch in dem Bestreben, diese bewährte Verpflegungs- 
form soweit als möglich dem Wohl der Kranken zugute kommen 
zu lassen. 


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Drei Fälle von Spätgenesung. 

Mitgeteilt von Medizinalrat Dr. Kreuser in Winnental. 

Während des größeren Teils ihres jetzt hundertjährigen Bestehens 
hat die Kgl württ. Heilanstalt Zwiefalten die wenig dankbare Auf¬ 
gabe zu erfüllen gehabt, der Aufnahme und Verpflegung von Geistes - 
* krankheiten zu dienen, bei denen von anderer Seite zuvor die Hoff¬ 
nungen auf Wiedergenesung aufgegeben gewesen waren. Aus dieser 
bescheidenen Stellung ist Zwiefalten in gleiche Linie mit den übrigen 
Kgl Heilanstalten des Landes eingerückt. Auf den dorthin verbrachten 
Kranken lastet nicht von Anfang an mehr die Voraussetzung der Un- 
heilbarkeit; die Anstalt ist in der Lage, die Erwartungen zu über- 
treffen, auf die sie lange Zeit hindurch beschränkt geblieben war. 

Als kleine Festgabe zum Jubiläum dieser Anstalt diene daher 
eine psychiatrische Erfahrung, die ihrem Lose einigermaßen an die 
Seite treten darf: Wiederherstellungen zu vollwertigen Leistungen 
im bürgerlichen Leben bei Kranken, deren lange Leidensdauer die 
HoSnung auf solche kaum hatte aufrechterhalten lassen. 

Von Spätgenesungen habe ich schon im Jahre 1900 l ) 
eine Anzahl bekannt gegeben, veranlaßt durch ihre praktische Be¬ 
deutung für die seit Einführung des BGB. unter bestimmten Voraus¬ 
setzungen in Deutschland allgemein zulässig gewordene Ehescheidung 
wegen Geisteskrankheit von wenigstens dreijähriger ununterbrochener 
Dauer. Einen weiteren Beitrag zu dieser Frage hat aus meinen per¬ 
sönlichen Erfahrungen 1905 Sigel 2 ) gegeben. Aber auch sonst ist 
ihr seither in der psychiatrischen Literatur mancherlei Bedeutung 
zuteil geworden; besonders eingehend und kritisch 1908 durch Petren *). 

M Kreuser, Allg. Ztschr. f. Psych. LVII S. 543 u. 771. 

*) Sigel, Allg. Ztschr. f. Psych. LXII 8. 325. 

*) Petrin, über Spätheilung von Psychosen; eine monographische 
Studie. Stockholm. In.«Diss. 


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Drei Fälle von Spätgenesung. 


449 


In der differentialdiagnostischen Auffassung, wie in der Beurteilung 
der Genesung nimmt dieser Autor einen anderen Standpunkt ein, 
als ich dies getan hatte. Ohne hier auf die früher veröffentlichten Fälle 
and ihre diagnostische Bezeichnung zurückkommen zu wollen, möchte 
ich nur nochmals die Wichtigkeit auch der nicht ganz einwandfreien 
Wiederherstellungen betonen und dem anfügen, daß man meines 
Erachtens an die Krankheiteinsicht nicht immer allzu strenge An¬ 
forderungen stellen darf. Gibt es doch Fälle, in denen die Unvoll¬ 
ständigkeit der Erinnerungen an die Vorgänge während der Kr nkheit 
die Gewinnung vollkommener Einsicht erschwert, andere, in denen 
die Rekonvaleszenten glauben, durch nichts besser ihre Genesung zu 
zeigen, als wenn sie von allen Gedankengängen während der Krankheit 
nichts mehr wissen wollen, wie endlich gewisse Naturen, die unter 
der Herrschaft einer von ihrer Krankheit unabhängigen Voreinge¬ 
nommenheit ihr eigenes Verhalten viel lieber in der gezwungensten 
Weise aus allerlei äußeren Umständen ableiten, als aus inneren und 
krankhaften Vorgängen. Bewähren sich trotzdem Personen nach 
schwerer und langdauemder Geisteskrankheit in keineswegs ein¬ 
fachen Lebensstellungen über Jahr und Tag, so haben wir das Recht 
and die Pflicht, ihnen die Anerkennung ihrer Genesung nicht vorzu¬ 
enthalten, wenn auch zu wünschen gewesen wäre, daß sie sich den 
Anforderungen der psychiatrischen Wissenschaft gegenüber noch etwas 
gefügiger gezeigt hätten. — Bis zu einem gewissen Grade gilt dies 
auch von den drei weiteren Fällen von Spätgenesung, die hier folgen. 

1. N. N., geboren 1863. Von mütterlicher Seite indirekt belastet. 
Als Kind zart, gute geistige Entwicklung, wegen Kurzsichtigkeit railitär- 
frei. Akademisches Studium von gutem Erfolge begleitet; strebsamer, 
tüchtiger Beamter, seit 1895 in selbständiger Stellung. Heiratet 1891, 
drei gesunde Kinder. In dem sehr geschäftsreichen Amt bald überarbeitet. 
Migräneanfälle, an denen er schon als Student gelitten, häufen sich von 
1895 an. Vor Ostern 1898 aufgeregtes Wesen mit gehobenem Selbstbe- 
wußtsein; von Ostermontag an deprimiert; sucht dies seiner Umgebung 
zu verbergen, besorgt sein Amt weiter, wenn auch mit subjektiver Er¬ 
schwerung und bei zeitweise recht gereizter Stimmung. Von Juni 1898 
wird der Schlaf sehr mangelhaft, weitere Tätigkeit unmöglich. Ein Urlaub 
bringt nur unvollständige Erholung; ist nach Wiederaufnahme des Amts 
mit seinen objektiv einwandfreien Arbeiten selbst stets unzufrieden. 
Seit Ende Oktober vollständig melancholisch. Aufenthalt bei einem ver¬ 
wandten Arzte. Nach 3 % Monaten entschiedene Besserung, so daß er 


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450 


Kr euser, 


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nach einem weiteren Erholungsaufenthalt am 1. V. 1899 ins Amt zurück - 
kehrt. Erweist sich dabei bald als ungenügend erholt, so daß er im No¬ 
vember 1899 wieder aussetzen muß. Die anfängliche Besserung des Be¬ 
findens kehrt sich nach einem Anfalle von Influenza bald zu wesentlicher 
Verschlimmerung, so daß er am 7. VI. 1900 selbst in die Anstaltsaufnahme 
willigt. Bietet hier bei blassem Aussehen, aber gutem Ernährungszustand 
vorzugweise neurasthenische Erscheinungen: Kopf druck, Schlaflosigkeit, 
Empfindlichkeit gegen Geräusche, mäßig gedrückt, mutlose Stimmung, 
allgemeine Mattigkeit. — Mit Dormiol etwas besserer Schlaf, anscheinend 
freier; macht Spaziergänge außerhalb der Anstalt mit anderen Patienten. 
Auf einem solchen entspringt er am 6. VII. seinem Begleiter. Wird ver¬ 
geblich gesucht. In der Frühe des folgenden Tages findet er sich in be¬ 
freundetem Hause ein mit Schnitt- und Stichwunden am Halse, den Hand¬ 
gelenken und in der Herzgegend, die er sich im Walde selbst beigebracht 
hatte. Wachabteilung. Bereut den Suizidversuch; schwere Selbstvor¬ 
würfe. Gute Wundheilung. Ende Juli schwere Angstzustände mit beun¬ 
ruhigenden Gehörshalluzinationen; zunehmend ungenügendere Nahrungs¬ 
aufnahme. Obstipation. Hypochondrische Wahnvorstellungen: es gehe 
nichts mehr durch seinen Körper hindurch. L. facialis stärker innerviert 
als der rechte, langsame, leise Sprache. — Dieser Zustand bleibt fast 
zwei Jahre lang unverändert; allgemeiner Ernährungszustand dürftig, 
blasses Aussehen, zunehmende Arteriosklerose, gebückte, schlaffe Haltung, 
verharrt stundenlang in denselben Stellungen. Einförmige Klagen be¬ 
sonders hypochondrischen Inhalts, zeitweise auch über Heimweh. Sonst 
ganz apathisch. Bettbehandlung bringt keine Besserung. Im März 1902 
veranlaßt eine nachweisbare Gast~ektasie Magenspülungen. Auch nach 
Besserung dieser Affektion psychisch unverändert, Ernährung kaum 
gebessert. Erst von Juli 1902 an erscheint er etwas weniger gedrückt, 
liest er wieder Zeitungen, gibt er etwas bereitwilliger Antwort; bald 
bessert sich auch das Aussehen. Wird überrascht über der Anfertigung 
einer kleinen Zeichnung. Kann im September von der Wachabteilung 
weggenommen werden. Wird im Verkehr mit der neuen Umgebung bald 
lebhafter, gewinnt die früheren Interessen zurück, erholt sich körperlich 
und erlangt Krankheiteinsicht. Im November und Dezember leichte 
hypomanische Erregung, fährt noch im Mondschein Schlittschuh, wird 
vielgeschäftig und pfeift, kann aber am 22. XII. 1902 als genesen ent¬ 
lassen werden. — Nachdem er sich zu Hause noch weiter erholt hatte, 
seit Juli 1903 zunächst als Hilfsarbeiter verwendet. Hat im Laufe des 
nächsten Jahres, besonders bei stärkerem Geschäftsandrang, noch mit 
Stimmungsschwankungen zu kämpfen, die aber bei wohlwollender Rück¬ 
sichtnahme der Behörde überwunden werden. Im Jahre 1906 wird er 
wieder mit einem selbständigen Amte wie früher betraut, das er seither 
zur vollen Zufriedenheit besorgt. Von einer gelegentlichen Animosität 
gegen die Anstalt scheint er indessen nicht ganz frei geworden zu sein. 


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Drei Fälle von Spätgenesung. 


451 


Es liegt also eine Erkrankung vor, die au! endogener Veranlagung 
beruht, durch geistige Überanstrengung aber zum Ausbruch gekommen 
ist. Nach dreijährigen nervösen Beschwerden setzt mit kurzem hypo¬ 
manischem Vorläufer um Ostern 1898 ein neurasthenischer Depres¬ 
sionszustand ein, der im Oktober zur ausgesprochenen Melancholie 
wird. Von Frühjahr bis Herbst 1899 Remission, dann erneute Depres¬ 
sion, die im Sommer 1900 zu vollem Ausbruch kommt und nach 
mißglücktem Selbstmordversuch in äußerst schwere hypochondrische 
Melancholie übergeht unter Begleiterscheinungen, die an Katatonie 
erinnern und Ausgang in Verblödung befürchten lassen müssen. Fast 
zwei Jahre lang bleibt dieser Zustand stationär. Dann allmähliche 
Besserung und Wiederherstellung zur früheren beruflichen Leistung¬ 
fähigkeit, nachdem nochmals ein leicht hypomanisches Stadium 
durchgemacht worden war. Krankheitseinsicht ist erlangt worden, 
aber keine Anhänglichkeit an die Anstalt. Nichtsdestoweniger darf 
von Genesung gesprochen werden. Die Krankheitsdauer kann je nach 
Bewertung der Remission im Jahr 1899 zu drei oder zu vier Jahren 
gerechnet werden. — Diagnostisch ist der Fall bei der Melancholie 
einzureihen oder wenn man dies vorzieht, beim „Manisch-depressiven 
Irresein“. Den Rahmen der Neurasthenie hatte er jedenfalls über¬ 
schritten. 

2. N., geb. 1857 in Indien als Sohn eines deutschen Missionars; 
in Deutschland aufgewachsen. Keine Heredität. Kräftig entwickelt und gut 
veranlagt. Tüchtiger Rechtsanwalt. In der Lebensweise zu schroffen Wech¬ 
seln, aber nicht zu Exzessen geneigt; verheiratet, acht gesunde Kinder. 
Großer Naturfreund; den Ärzten stets abgeneigt. 

Im September 1901 unerwartet außergewöhnliche und verantwor¬ 
tungvolle Berufsarbeit, die zu viel Reisen nötigt. Fühlt sich auf einer 
solchen Reise der Sache plötzlich „entrückt“; überträgt sie einem anderen, 
um sich zu erholen. Erscheint diesem, wie der eigenen Ehefrau sofort 
krank. Überschätzt die eigenen Vermögensverhältnisse, fährt 1. Kl.; 
nimmt im Hotel 3 Stunden lang ein „mystisch-elektrisches“ Bad. De¬ 
peschiert an den König, trinkt ziemlich viel Wein. Läßt sich schließlich 
bestimmen, mit der Frau einen Landaufenthalt aufzusuchen; setzt dort 
zahlreiche Telegramme auf und geht ohne Hut nach der nächsten Stadt. 
Wegen der rasch zunehmenden Erregung am 28. IX. Aufnahme in Schüssen - 
ried. Hier zunächst heiter erregt, sehr ruhelos, völlig verwirrt: spricht 
nur in abgerissenen, zusammenhanglosen Silben und Worten, verweigert 
die Nahrung, duldet keine Kleider, gewalttätig, spuckt um sich. Nach 
einigen Tagen klarer; „froh, wieder auf der Erde zu sein“. Bald vor- 
Zeitschrift für Psychiatrie. LXIX. 4. 32 


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Kreuser. 


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wiegend gereizt; Speisen und Bäder sind vergiftet; ignoriert die Ärzte, 
„magnetisiert“ andre Pfleglinge. Dann äußerlich ruhiger, aber einsichtlos. 
Beschwerdeschrift an das Ministerium über widerrechtliche Freiheits¬ 
beraubung, beantragt seine Entmündigung, um gerichtliches Einschreiten 
zu bewirken. Beim Besuche der Frau am 31. X. gute Selbstbeherrschung, 
verlangt seine Entlassung und setzt diese durch, nachdem er teilweise 
Krankheitseinsicht geäußert, aber seinen Rechtsstandpunkt gewahrt und 
sich weitere Schritte gegen die Ehefrau Vorbehalten hatte. — Reist mit 
der Frau nach M., wobei er sie als Geisteskranke so „behandelt“, daß sie 
unterwegs erschöpft Zurückbleiben muß, während er nach Hause reist, 
mißtrauisch alles nach rechtswidrigen Eingriffen durchsucht und gegen 
die Schwiegermutter eine so drohende Haltung einnimmt, daß polizeiliche 
Hilfe in Anspruch genommen und er am 15. XI. in die Tübinger psychia¬ 
trische Klinik gebracht werden muß. Dort starke, bald mehr heitere, 
bald mehr gereizte Erregung, besonders über die Ärzte erbost, wiederholte, 
formell ziemlich geordnete Beschwerdeschriften. Am 30. IV. 1902 Über¬ 
lieferung nach Winnental. Verwahrt sich sofort gegen die Unterstellung 
unter den inzwischen von Schussenried hierher übergesiedelten Direktor 
und bleibt gegen diesen völlig abweisend, während er mit einem ihm noch 
fremden Arzte der Anstalt freundlich verkehrt. — Anhaltende Erregung, 
die nur im Grade wechselt. Beständiger Bewegungs- und Rededrang 
teilweise in lautem, kaum artikuliertem Aufschreien, bei Nacht mit Vor¬ 
liebe in „Bauchrednerkunststücken“, in denen er Abwesende und Ver¬ 
storbene reden läßt. Beschäftigt sich in „mystisch-asketischen“ Übungen 
mit religiösen Fragen, will das Christentum mit den indischen Religionen 
in Einklang bringen. An ruhigeren Tagen des Eingreifens der Gerichte 
gewärtig, da er nie geisteskrank, sondern nur zeitweise in begreiflicher 
Erregung gewesen sei. Außer gegen die Ärzte besonders auch gegen die 
Ehefrau aufgebracht, die ihm nur noch die „Mutter seiner Kinder“ und 
„Gegenpartei“ ist. Wenig Interesse für die Außenwelt; seinen sonstigen 
Gewohnheiten entgegen viel Verlangen nach Tabak. Auf sein Verlangen 
wird ein Entmündigungsverfahren eingeleitet mit Vernehmung am 18. 
VIII., wobei er sich ziemlich korrekt zu verhalten vermag. Zeiten etwas 
ruhigeren Verhaltens werden immer wieder unterbrochen durch mehr¬ 
tägige Erregungszustände, in denen er allerlei Erinnerungen phantastisch 
ausbaut und mit seinen Größenideen durchflicht; singt sinnlose Silben¬ 
zusammenstellungen mit eigener Melodie. 

Dieser Zustand erhält sich wesentlich unverändert über Jahr und Tag. 
wobei im Laufe des Jahres 1903 das Körpergewicht beträchtlich steigt 
Läßt die Erregung nach, so tritt eine demonstrative Gleichgültigkeit in 
den Vordergrund; nachdem seine Sache einmal gerichtlich anhängig 
geworden, werde er schon zu seinem Rechte kommen; der zu gewärtigende 
Schadenersatz verspreche reichliche Entschädigung für den Ausfall an 
Einnahmen; je länger die Sache sich hinziehe, desto günstiger für ihn. 


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Drei Fälle von Spätgenesung. 


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Wird nachlässiger in seinem Äußeren; die lauten Selbstgespräche gehen 
mehr und mehr in geräuschvolles Brummen und Grunzen über. Während 
er bisher den Gartenausgang nie mißbraucht hatte, entweicht er am 
6. VI. 1904 nach St., wo er in seinem saloppen Anzug sofort erkannt und 
zurückgebracht wird. Reist am 12. VII. mit einem Wärter zum gericht¬ 
lichen Termin, wo er seine Sache formell korrekt führt, während er unter¬ 
wegs die Leute öfters durch sein Brummen erschreckt. In der Folge 
wieder mehr ablehnendes Verhalten. Erhebt gerichtliche Klage gegen die 
Ehefrau, worauf vom Gericht anderweitige Beobachtung angeordnet wird. 
Deshalb mehrere Wochen in E. Nach seiner Rückkehr von dort 1905 
auf die Abteilung für gesellschaftfähige Kranke (die er bisher abgelehnt 
hatte) verbracht, etwas zugänglicher als seither, will geduldig das Gut¬ 
achten abwarten, das sicher zu seinen Gunsten lauten werde; fährt mit 
..Bauchrednereien“ fort, bleibt fast ganz untätig meist auf seinem Zimmer. 
Einen Besuch seiner Frau lehnt er schroff ab (Juli 05). Im Herbst etwas 
freundlicher, genießt jetzt auch mehr Bewegungsfreiheit. Will nur noch 
durch das Gericht befreit werden; entsprechend schroffes Verhalten gegen 
einen Kollegen, der ihm Hilfe anbietet (Oktober 1906). Bleibt ganz auf 
dem Standpunkt, gegen die angebliche Geisteskrankheit zu protestieren, 
bewegt sich dabei vollkommen frei, befindet sich körperlich wohl; für 
Besuche der Söhne zugänglicher; verkehrt viel mit den Mitkranken. 
Gegen die Frau immer gleich schroff; doch schreibt er ihr wenigstens ab 
und zu. Gegen den Anstaltsdirektor formell korrekter, doch grundsätz¬ 
lich ablehnend gegen sein Urteil. Von Herbst 1907 an wird ein manie¬ 
rierter Stil mit besonderer Orthographie auffällig, was sich während der 
folgenden Monate in gehäuften sinnlosen Zuschriften mit allerlei ver¬ 
worrenen Größenideen an den Sohn immer mehr vordrängt. Derlei ge¬ 
suchte Schreibkunststücke dauern bis in den Sommer 1908 fort, während 
sich die Bauchrednereien verlieren. Im August 1908 mehrere Wochen 
zu Besuch bei einem Verwandten in der Nähe. Dort nimmt er auch den 
Besuch der Frau an. Im September 1908 versuch weise nach Hause beur¬ 
laubt. 

War nun zunächst einige Monate bei einem befreundeten Kollegen 
tätig, wobei sich das Familienleben leidlich gestaltete. Im Februar 1909 
erhielt er eine Stellung angeboten, die seinem Wunsche, sich möglichst 
aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen, entsprach. Er hat sich nun auch 
mit der Anstaltsleitung in brieflichen Verkehr darüber gesetzt, ob im 
Hinblick auf seine Erkrankung Bedenken gegen diese Stellung zu erheben 
seien, und dankbar hat er über das zu diesem Zwecke ausgestellte ärztliche 
Zeugnis bescheinigt. Seit drei Jahren versieht er seine neue Stelle zur 
vollen Zufriedenheit, und auch das Familienleben hat sich wieder wie 
früher gestaltet. 

Es liegt also vor: eine ganz akut aus geistiger Überanstrengung 
bei einem nicht Belasteten entstandene Psychose, die erst als akute 

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Kreuser, 


Verwirrtheit auftritt, weiterhin als schwere Manie verläuft. Dabei 
flechten sich ausgesprochene paranoide Züge ein, die schließlich einen 
so manierierten Charakter annehmen, wie man ihn sonst nur bei Ver¬ 
blödungsprozessen zu Anden pflegt. Trotzdem kommt es nach sieben¬ 
jähriger ununterbrochener Dauer der Krankheit, die nur in ihrer 
Heftigkeit schwankt, zu weitgehender Besserung, und wenn jetzt seit 
drei Jahren nicht nur volle Leistungsfähigkeit in neu gewonnener 
Lebensstellung, sondern auch die Wiederherstellung des so 
gründlich gestörten Familienlebens wieder erreicht worden ist, 
so wird man auch hier eine Genesung anzunehmen haben, 
selbst wenn die Krankheiteinsicht noch etwas verklausuliert ge¬ 
blieben sein mag, wie den Briefen vom Februar 1909 immerhin zu 
entnehmen ist. Diagnostisch kann der Fall wohl nur bei der Manie 
eingereiht werden, wenn auch deren typisches Krankheitbild nach 
mehr als einer Richtung überschritten wird. 

3. Frau Y, geb. 1860; stammt aus schwer belasteter Familie. War als 
Kind schwächlich, mit 14 Jahren Scharlach; in den Entwicklungsjahren 
viel Kopfschmerzen. Begabung mäßig; zu Mißtrauen und Zornmütigkeit 
stets geneigt. Im elterlichen Hause viel Mißgeschick. Heiratet 1888 
einen verwitweten Beamten; verträgt sich schlecht mit dem Stiefsohn: 
vier eigene Kinder, wovon eines bald nach der Geburt gestorben ist. — 
Seit 1896 häufig verstimmt; im Jahr 1900 melancholische Depression mit 
Suizidgedanken ohne eigentliche Selbstvorwürfe, die nach */ 4 Jahr wieder 
schwindet. Im Dezember 1901 labiler, vorwiegend reizbarer Stimmung, 
Beziehungswahn, einzelne Halluzinationen; im Januar 1902 verwirrt, 
am 30. I. Aufnahme in die Tübinger psychiatrische Klinik. Hier stark 
manisch erregt, ideenflüchtig; allerlei Personenverkennungen; vereinzelte 
Sinnestäuschungen (das Bad ist elektrisiert); starker Stimmungswechsel, 
bald liebenswürdig aufdringlich, bald abweisend und gereizt. Seit März 
steigende motorische Unruhe, lärmend, aggressiv, unrein. 

Am 30. V. 02 erfolgte die Überführung nach Winnental. Hier ober¬ 
flächlich orientiert, stark gehobene Stimmung, ideenflüchtig, spricht Deutsch 
und Französisch durcheinander, tut vornehm herablassend und neigt zu 
Witzeleien. Große Neigung, sich in die Angelegenheiten anderer Kranker 
zu mischen; starker Bewegungsdrang, besonders auch bei Nacht, viel 
lautes Schreien. Neigung zu höhnischen, wie zu obszönen Redewendungen. 
Sehr reizbar und leicht tätlich. Trotz reichlicher Dauerbadbehandlunt: 
hat sich dieser Zustand mehr als 6 Jahre lang mit nur ganz geringen 
Schwankungen wesentlich unverändert erhalten, ist sie eine der schwierig¬ 
sten Kranken der Anstalt geblieben. Überlaut und brutal gewalttätig 
war sie ebenso störend als gefährlich; wiederholt konnten bedenkliche 


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Drei Fälle von Spätgenesung. 


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Unfälle nur eben noch verhütet werden. Gegen die Ihrigen blieb sie völlig 
ablehnend; der Ehemann wurde bei jedem Besuche mit den niedrigsten 
Beschimpfungen wieder fortgejagt; von irgendwelchen gemütlichen Be¬ 
ziehungen auch zu den Kindern war gar keine Rede mehr. Auch für jede 
sonstige Annäherung war sie völlig unzugänglich geblieben, während sm 
gelegentlich aus ihrer Erinnerung vollkommen Zutreffendes Vorbringen konnte 
und in boshaften Bemerkungen aller Art nicht Unzutreffendes anzu- 
bringen verstand. Erst im Juli 1908 ist im Anschluß an einen heftigen 
Kolikanfall infolge eines Diätfehlers einige Beruhigung eingetreton, war 
sie wieder zu besserer Konzentration ihrer Aufmerksamkeit fähig. Von 
Herbst 1908 deutliche Besserung, beginnt zu arbeiten, wieder Interesse 
für die Ihrigen zu zeigen und bessere Manieren anzunehmen. Von Dezember 
an ganz ruhig und geordnet, aber noch leicht ermüdbar und dann auch 
zerfahren; knüpft aber die alten Beziehungen wieder an und weiß sich, 
als bei einer Spazierfahrt im März 1909 ein Zusammenstoß mit einem Auto 
erfolgt, wobei der Kutscher verunglückt, dieses sehr besonnen arizunchmcn. 
In der weiteren Rekonvaleszenz ab und zu gedrückte Stimmung. Am 
13. September nach Hause entlassen mit durchaus befriedigender Krank¬ 
heiteinsicht. Nicht so ganz leicht hat sie sich dort wieder eingelebt. 
Sohn und Töchter waren inzwischen erwachsen, die Hausfraueupfüchten 
waren von anderer Seite besorgt worden. Bis sie sich damit einigermaßen 
abgefunden und den veränderten Verhältnissen angepaßt hatte, ist noch 
mehr als ein Jahr vergangen. Seither kann sie als genesen gelten, ist sie 
nur etwas zurückhaltender als früher geblieben. 

In diesem Falle ist es bei eine* - endogen veranlagten Person nach 
vorübergehendem Depreseionsizurtjuad zu schwerer Manie gekommen, 
die nach nahezu siebenjähriger Dauer ihre Lösung gefunden hat. 
nicht ohne aber j'aligre leichte Depression in ihrem Gefolge, ein Spiegel¬ 
bild des ersten Falles. Trotz aller Schwere der Lr&cheinungeu war 
die Möglichkeit eines günstigen Verlaufs stets au frech terhalten ge¬ 
blieben. Mit der Gefahr späterer Wieder erkrat ■ i:ung muh natürlich 
gerechnet werden. 

Allen drei Fällen gemeinsam ist die Herkunft der Kranken aus 
besseren Familien, in denen die Ansprüche an die Wiederherstellung 
flieht unerheblich sind. Ist dir Probezeit dafür in den beiden letznt 
Fällen noeb eine verhähmsmätiig kurze, so beträgt sie doch zwe und 
drei, im ersten Falk über neun Jahre seit dein Austritt am der Anstalt. 
l>aÄ die Wiederanpassung an die Verhältnisse des bürgerlicher Lebern 
nicht ganz ohne Schwierigkeiten erfolgt ist. wird niemand beiiemdei 
Gehmpen ist sie in aller Fähen und haben wir darum auci voi G e 


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Kreuser, 


nesungen zu sprechen, selbst wenn die Krankheitseinsicht den 
allerstrengsten Anforderungen nicht genügen sollte. 

Alle drei Patienten waren noch in der Vollkraft der Jahre ge¬ 
standen und hatten während dieser bemerkenswerte Leistungen aul- 
zuweisen, deren Überspannung im zweiten Falle akut, im ersten und 
dritten allmählich zur Erkrankung geführt hatte; nur im 3. Falle 
war dafür erbliche Belastung in Betracht gekommen. Sowohl die 
depressiven Erscheinungen im ersten, wie die exaltativen in den beiden 
anderen sind als ungewöhnlich schwer zu bezeichnen. In allen drei 
Fällen hat es nicht an Anzeichen gefehlt, die für prognostisch an¬ 
günstig gelten. So im ersten Falle die schwere und anhaltende Apathie, 
im dritten die ungewöhnlich starke Verkehrung aller gemütlichen 
Empfindungen, während im zweiten mehrere äußerst bedenkliche Züge 
Zusammentreffen: die nur teilweise aus der Berufsstellung abzuleitende 
hartnäckige Bechthaberei, die ausschweifenden Phantastereien, die 
stereotype Wiederholung sinnloser Gewohnheiten, die Manieriertheit 
und Zerfahrenheit der Geistesprodukte! 

Trotzdem und trotz der ungewöhnlich langen, fast unveränderten 
Dauer der Krankheiterscheinungen war in allen Fällen die Möglich¬ 
keit einer günstigen Prognose stets aufrechterhalten worden; waren 
doch unzweideutige Anzeichen geistigen Zerfalls nicht nachweisbar 
gewesen; nicht unwichtige Seiten der geistigen Tät ; gke ; t waren imm er 
noch leidlich erhalten geblieben, scheinbar am meisten im ersten Falle. 
Der Ausbruch der Krankheit war jeweils unter Umständen und unter 
Erscheinungen erfolgt, welche ihren Wiederausgleich nicht aus¬ 
schließen lassen durften. Diesen letzteren Gesichtspunkt möchte ich 
auch heute wieder erneut hervorheben im Gegensatz zu der Richtung 
in der Psychiatrie, durch welche den Endzuständen vorzugweise 
differentialdiagnostische Bedeutung beigelegt wird. Sie hat nur allzu 
leicht zur Folge, daß im Interesse der Diagnostik auf positive Zeichen 
des geistigen Zerfalls der Schwerpunkt bei der Untersuchung unserer 
Kranken gelegt wird, daß diese dann vorzeitig angenommen werden 
und daß darüber ungenügend berücksichtigt bleibt, worin die Krank¬ 
heit wurzelt und was nej)en bedenklichen Anzeichen etwa noch ver¬ 
hältnismäßig gut erhalten ist. Nicht nur unser therapeutisches Ver¬ 
halten hat an letzterem Punkte anzugreifen, sondern auch unsere 
Diagnostik und unsere Prognostik haben ihm eingehende Beachtung 


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Drei Fälle von Spätgenesung. 


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za schenken. Auch dürfen die individuellen Züge des Einzelfalls nicht 
unterschätzt werden über den Bestrebungen der Systematik. Wird 
doch die letztere unvollkommen bleiben müssen, solange die anato¬ 
mischen Vorgänge der Untersuchung am Lebenden noch so wenig 
zugänglich sind, solange wir auch über sichere Beziehungen der Ver¬ 
änderungen an der Leiche zu den Krankheitsursachen nicht verfügen. 

Unbefangen durch irgendwelche Lehrmeinung haben wir unseren 
Kranken gegenüber zu bleiben. Mehr als irgendwelcher andere Zweig 
der Medizin hat es die Psychiatrie nicht so sehr mit Krankheiten zu 
tun, als mit erkrankten Personen. Ihre Geschicke haben wir im Auge 
zu behalten, und sind uns dabei weniger glänzende Erfolge beschieden 
als den Kollegen auf anderen Spezialgebieten, so wollen wir uns desto 
mehr freuen über die Wiederherstellungen, die nach so langer Zeit 
erst fast wider Erwarten noch erfolgen. Es dürften deren doch wohl 
mehr Vorkommen, als es nach einer Literatur den Anschein haben mag, 
die sich nicht so gern mit Fällen befaßt, für die der endgültige Ab¬ 
schluß noch fehlt. Doch kann ich kaum glauben, daß anderen solche 
Beobachtungen, wie ich sie jetzt doch schon mehrfach mitzuteilen 
in der Lage gewesen bin, nicht in ähnlichem Maße zur Verfügung 
stehen sollten. Ihre praktische Wichtigkeit in sozialer Hinsicht sollte 
weniger damit zurückhalten lassen! 


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Die Behandlung psychopathisch minderwertiger 
Strafgefangener jetzt und nach dem Vorentwurf 
zu einem deutschen Strafgesetzbuch. 

Von 

Sanitätsrat Dr. Steiger, Hohenasperg. 

Die erheblichen Änderungen, die der Vorentwurf zu einem neuen 
Strafgesetzbuch in der strafrechtlichen Behandlung der vermindert 
zurechnungfähigen Verbrecher bringt, mögen es gerechtfertigt er¬ 
scheinen lassen, zu untersuchen, ob und wieweit diese Änderungen 
als Fortschritte und Verbesserungen anzusehen sind. 

Bisher enthielt das Strafgesetzbuch, das den Begriff der ver¬ 
minderten Zurechnungfähigkeit nicht kannte, auch keinerlei Be¬ 
stimmungen über die Behandlung psychopathisch minderwertiger 
Gefangener; es war daher Sache der einzelnen Justizverwaltungen, 
in ihrem Bereich dahingehende Verordnungen zu treffen. 

Daß die Lösung dieser Frage ein dringendes Bedürfnis war und 
bleiben wird, erhellt am deutlichsten aus der Tatsache, daß nach 
Ansicht aller derjenigen, die einen Einblick in diese Verhältnisse 
haben, die Zahl der psychopathisch minderwertigen Strafgefangenen 
eine außerordentlich hohe ist. So berechnet Asehafferiburg unter 
200 SittlichkeitsVerbrechern die Zahl der Degenerierten auf 75%. 
Bonhöffer hat unter den Bettlern und Vagabunden ebenfalls 75° 0 
Minderwertige gefunden, ebenso Leppmann unter den Sittlichkeits- 
Verbrechern des Zuchthauses. Gewiß variieren diese Zahlen je nach 
der Kategorie, dem Alter usf. der Verbrecher; man wird sich aber 
keiner Übertreibung schuldig machen, wenn man sagt, die geistig 
Minderwertigen sind in den Strafanstalten nicht die Ausnahme; geht 
doch PoUitz, der als Psychiater und Strafanstaltsvorstand zur Beur¬ 
teilung dieser Frage gewiß besonders zuständig ist, so weit, zu erklären. 


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Die Behandlung psychopathisch minderwertiger Strafgefangener usw. 459 


daß der geistig Minderwertige bei sorgfältiger Analyse zum mindesten 
die Mehrheit des Strafanstaltbestandes bilden wird. 

Was sind Degenerierte? 

Es ist nicht der Zweck dieser Zeilen, eine Schilderung der psycho¬ 
pathischen Degeneration zu geben; auch scheint es zweifelhaft, ob 
bei dem fließenden Übergang zwischen gesund und minderwertig 
und zwischen .minderwertig und geisteskrank eine scharfe Definition 
überhaupt möglich ist. Immerhin kann die Definition Kocks, des 
ehemaligen Direktors von Zwiefalten, des Begründers der wissen¬ 
schaftlichen Lehre der psychopathischen Minderwertigkeit und ihres 
besten Kenners, auch heute noch Anspruch auf allgemeine Zust immung 
erheben. Koch faßt unter dem Ausdruck psychopathische Minder¬ 
wertigkeiten „alle sei es angeborenen, sei es erworbenen, den Menschen 
in seinem Personenleben beeinflussenden psychischen Regelwidrigkeiten 
zusammen, welche auch in schlimmen Fällen doch keine Geistes¬ 
krankheiten darstellen, welche aber die damit beschwerten Personen 
auch im günstigsten Falle nicht als im Vollbesitze geistiger Normalität 
uud Leistungfähigkeit erscheinen lassen“. 

Die psychopathisch Minderwertigeil sind die große Gruppe von 
Menschen, die das weite Gebiet zwischen geistiger Gesundheit und 
Geisteskrankheit ausfüllen, und wie das geistige Leben von unend¬ 
licher Mannigfaltigkeit ist, so sind die Abweichungen von der Norm 
unendliche. Wir können Abweichungen nach der quantitativen und 
solche nach der qualitativen Seite hin unterscheiden, es gibt Störungen 
mehr auf dem Gebiete des Intellekts und solche mehr auf dem Gebiete 
des Empfindens und Wollens. Charakteristisch aber für den Minder¬ 
wertigen ist die abnorme Reaktion auf die Reize des 
Lebens; und diese abnorme Reaktion ist letzten Endes das wich¬ 
tigste Kriterium für die Intensität und die Bedeutung der pathologischen 
Abweichung. 

Es liegt nun nahe, auf Grund der oben angeführten sehr großen 
Zahl der Minderwertigen im Strafvollzug anzunehmen, daß diese in 
den Strafanstalten nur sehr schwer unterzubringen seien, daß ihre 
Behandlung, zumal soweit sie hie und da ein Abgehen von der straffen 
Hausordnung notwendig macht, zu weitgehenden Schwierigkeiten führe, 
und daß der vielfach gehörte Ruf nach „Sonderanstalten für Minder¬ 
wertige“ wohl begründet sei. Von all dem ist nach unseren Erfahrungen 


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Staiger, 


keine Hede. Nicht als ob die Minderwertigen keine Schwierigkeiten 
machen würden, aber diese sind nicht unüberwindlich. Voraussetzung 
zur Überwindung der Schwierigkeiten ist das Erkennen der Minder¬ 
wertigen, ihre zweckmäßige Unterbringung und Behandlung. 

Das Erkennen der Minderwertigen ist Sache des Arztes, der über 
die notwendigen psychiatrischen Kenntnisse verfügen muß. Weiter¬ 
hin ist erforderlich, daß auch die Oberbeamten mit dem Wesen der 
geistigen Anomalien hinreichend vertraut sind. Gewiß sind Minder¬ 
wertige — sofern sie nicht schon im gerichtlichen Verfahren einer 
psychiatrischen Beobachtung unterworfen waren und dort als Minder¬ 
wertige erkannt und bezeichnet worden sind — nicht sofort und ohne 
weiteres — auch vom Arzte nicht — zu erkennen. Doch läßt sich aus 
dem verständnisvollen Zusammenarbeiten von Vorstand, Arzt, Geist¬ 
lichem und Lehrer, aus hinreichender Anamnese und genauer Unter¬ 
suchung, aus guten Beobachtungen des Personals über Arbeit¬ 
fähigkeit, Verhalten bei der Arbeit, Benehmen den Mitgefangenen 
gegenüber, aus Disziplinarstrafen, Verhalten im Arrest und dergleichen 
mehr unschwer ein Bild der geistigen Verfassung des Gefangenen 
gewinnen. Schließlich muß — und davon wird hier reichlich Gebrauch 
gemacht — die Beobachtung auffallender Gefangener in der lrreu- 
abteilung tunlichst leicht gemacht werden. Unter diesen Voraus¬ 
setzungen ist die Erkennung der minderwertigen Gefangenen nicht 
allzu schwierig. Ihr weiteres Verhalten hängt fernerhin von der rich¬ 
tigen Behandlung und ebensosehr von der richtigen Unterbringung 
in der Strafanstalt ab. Letzteres hat sich uns mehr und mehr als 
Kardinalpunkt in der Behandlung der Minderwertigen erwiesen. 
Es gibt kein Schema, das für alle paßt. Eine individualisierende 
Behandlung verträgt sich sehr wohl mit dem Strafvollzug, sie ist 
eigentlich selbstverständlich überall da, wo wie in jeder großen Straf¬ 
anstalt langzeitige und kurzzeitige, alte und junge, kräftige und 
weniger widerstandfähige Gefangene sich finden. Nachteile für den 
Strafvollzug haben sich uns daraus nicht ergeben. Daß auch gegen 
minderwertige Gefangene Disziplinarstrafen verhängt werden, ist 
selbstverständlich. Voraussetzung ist nur, daß der Gefangene als 
psychisch abnorm bekannt ist, daß der Arzt vor dem Vollzug der Strafe 
gehört wird, und daß einem etwaigen Bedenken des Arztes Rechnung 
getragen werden muß. 


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Die Behandlung psychopathisch minderwertiger Strafgefangener usw. 461 


Die Übertragung des Disziplinarrechts und der Strafmilderung 
bei Minderwertigen an den Arzt, wie dies Aschaffenburg verlangt, 
scheint uns undurchführbar. Es würde dadurch ein unheilvoller, 
zu Reibungen und Differenzen schlimmster Art Anlaß gebender Dua¬ 
lismus in den Betrieb der Anstalt eingeführt werden. Dazu kommt, 
daß der Arzt, da die Minderwertigen in der Strafanstalt wohl die 
Mehrzahl sind, auch die Mehrzahl der Disziplinarfälle zu entscheiden 
hätte. Wer hätte, wenn ein Gefangener sich etwas zuschulden kommen 
läßt, zu bestimmen, ob der zu Bessernde dem Direktor oder dem 
Arzt zuzuführen ist? Schließlich liegt m. E. der Vorschlag Aschaffen- 
burgs auch gar nicht im Interesse des Arztes, seiner Stellung und 
Tätigkeit. 

Was die vielbesprochene Frage der Einzelhaft anlangt, so wäre 
?s falsch, anzunehmen, daß Minderwertige grundsätzlich 
davon auszuschließen seien. Wir haben im Gegenteil die Erfahrung 
gemacht, daß gerade schwer zu behandelnde Degenerierte, solche mit 
epileptoider Reizbarkeit und Empfindlichkeit sich in Einzelhaft viel 
besser gehalten und sich dort auch wohler gefühlt haben, als in Ge¬ 
meinschaftshaft, wo die strenge Beaufsichtigung, die Reibung mit 
und an anderen Gefangenen immer wieder zu hausordnungwidrigem 
Verhalten Anlaß gegeben haben. Daß Degenerierte mit ungünstigem 
Einfluß auf andere, Hetzer, Aufwiegler, Ausbruchverdächtige um der 
Ordnung der Anstalt willen isoliert werden und isoliert werden müssen, 
bedarf wohl keiner besonderen Begründung. Die Mehrzahl der Minder¬ 
wertigen eignet sich indes nicht für die Einzelhaft; insbesondere 
nicht Nervöse, Neurastheniker mit Angstgefühlen, Hypochonder, Leute 
mit Schlaflosigkeit, ebensowenig naturgemäß Gefangene mit zahlreichen 
und schweren epileptischen Krampfanfällen. Alle diese müssen in 
Gemeinschaftshaft untergebracht werden. Sie hier zweckmäßig und 
ihrer besonderen Art entsprechend unterzubringen, gehört zu den wich¬ 
tigsten Aufgaben eines rationellen Strafvollzugs. — Der Betrieb einer 
großen und gut eingerichteten Strafanstalt bietet eine solche Fülle 
von Möglichkeiten, die Minderwertigen zweckmäßig unterzubringen, 
daß es in der Regel nicht allzu schwer fällt, einen Platz ausfindig 
zn machen, wo solche Gefangene ihren Fähigkeiten und auch ihrer 
geistigen Besonderheit entsprechend beschäftigt werden. Eine große 
Strafanstalt verfügt in ihrem Betriebe über leichte und schwere 


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Staiger, 


Arbeitmöglichkeiten, vom Dütenkleben der Buchbinderei, Flechterei 
an bis zu Schreinerei, Schuhmacherei, Flaschnerei, Schlosserei osi. 
Viele Minderwertige, insbesondere Neurastheniker eignen sich mehr 
für häusliche Arbeiten, in Küche, Bäckerei, Wäscherei, Gärtnerei, 
andere werden zweckmäßig in der Außenarbeit beschäftigt. 

Weiterhin besitzt das Zuchthaus Ludw'gsburg in der Filialstraf- 
anstalt Hohenasperg eine Abteilung für sozial weniger gefährliche, 
speziell erstmals mit Zuchthaus bestrafte Gefangene. Auch diese 
Abteilung verfügt über verschiedene Werkstättenbetriebe, ebenso 
auch über Außenarbeit im Garten, Weinberg, Steinbruch und in der 
Landwirtschaft. Für Unterbringung in der Filialstraf anstatt — in 
der nebenbei bemerkt auch die Abteilungen für tuberkulöse Gefangene 
sämtlicher Strafanstalten sich finden — eignen sich insbesondere solche 
minderwertige Gefangene, bei denen aus gesundheitlichen Gründen 
mehr Aufenthalt in frischer, staubfreier Luft angezeigt ist. Auf einer 
dieser zahlreichen Abteilungen, sei es in Ludwigsburg oder auf Hohen* 
asperg, sei es in Einzelhaft oder in Gemeinschaftshaft, findet sich für 
die Mehrzahl der Minderwertigen immer ein Platz, an dem sie zweck¬ 
mäßig untergebracht werden können. Der größere Teil der Minder¬ 
wertigen kann, das ist unsere Erfahrung, im geordneten Strafvollzug 
mitgeführt werden, ohne diesen zu stören und ohne andererseits 
Schaden zu nehmen. Für sehr viele ist der Emst des Strafvollzugs, 
die Unterwerfung unter die Anstaltordnung, das Angehaltensein zu 
regelmäßiger strenger Arbeit, zu Gehorsam und Selbstbeherrschung 
von erzieherischem Wert. 

Nun gibt es aber, darüber ist kein Zweifel, unter den Minder¬ 
wertigen eine große Anzahl von Gefangenen, die nicht im geordneten 
Strafvollzug mitgeführt werden können; sie finden sich insbesondere 
unter den Nervösen, Neurasthenikern, Hypochondern, manchen Se¬ 
nilen, insbesondere Epileptikern mit zahlreichen Anfällen und speziell 
Rekonvaleszenten der Trrenabteilung, kurz bei solchen geistig minder¬ 
wertigen Gefangenen, denen der volle Strafvollzug allzu beschwerlich 
ist und zu einer Steigerung ihrer Beschwerden führt. Für solche 
Gefangene besteht seit dem Jahre 1888 auf dem Hohenasperg eine 
Invalidenabteilung, die bestimmunggemäß dazu dient, solche Ge¬ 
fangenen aufzunehmen, denen gegenüber „wegen durch Alter oder 
körperliche Gebrechen herbeigeführter Arbeitunfähigkeit, wegen 


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Die Behandlung psychopathisch minderwertiger Strafgefangener nsw # 463 


geistiger Schwäche oder sonstiger geistiger De¬ 
fekte eine den Grundsätzen der Hausordnung entsprechende Be¬ 
handlung nicht durchführbar erscheint, mit Ausschluß der Geistes¬ 
kranken“. Zunächst sind der Invalidenstrafanstalt im wesentlichen 
körperlich gebrechliche Gefangene zugeführt worden. Bald aber diente 
sie weiterhin zur Aufnahme der Epileptiker sämtlicher Strafanstalten 
und allmählich, zumal seit Errichtung der Irrenabteilung, nimmt sie 
mehr und mehr psychopathische Minderwertige, Senile und Rekon¬ 
valeszenten nach überstandener geistiger Erkrankung auf. Eine auf 
26. März d. Js. gemachte Zusammenstellung der Insassen der In¬ 
validenstrafanstalt eigab unter einem Bestand von 80 Gefangenen: 

Epileptiker.11 

Nach abgelaufener Geisteskrankheit aus der Irrenabteilung 

entlassen.10 

Früher in Irrenanstalten gewesen.5 

An organ. und funkt. Gehirnkrankheiten leidend .... 5 

Zusammen: 31 

Fast zwei Fünftel des Bestandes der Invalidenstrafanstalt fällt 
somit unter den Begriff der psychopathischen Minderwertigkeit im 
engeren Sinne, ohne daß die zahlreichen Senilen — jenseits des 
70. Lebensjahres, bei denen die körperliche Gebrechlichkeit im Vorder¬ 
grund steht, mitgerechnet worden sind. Diese 31 Gefangenen sind 
vorwiegend solche, die im ordentlichen Strafvollzug nicht oder nur 
mit Mühe und unter mehr oder weniger großen Schwierigkeiten hätten 
mitgeführt werden können. Die Vorteile der Invalidenstrafanstalt 
für die geistig minderwertigen Gefangenen beruhen in kürzerer Arbeit- 
und längerer Erholungszeit, Wegfall des Arbeitpensums und in häu¬ 
figerem und in vielen Fällen regelmäßigem ärztlichem Besuch, der 
insbesondere dadurch erleichtert und gewährleistet wird, daß die 
Spitalabteilung für körperlich Kranke, die von dem auf Hohen- 
asperg selbst wohnenden Arzt täglich mehrmals besucht wird, sich 
in der Invalidenstrafanstalt befindet und auf diese Weise ein häufiges 
Begehen der Invalidenabteilung und Besuchen ihrer Insassen durch 
den Arzt ermöglicht ist. Wenn die intern, krimin. Vereinigung auf 
ihrer Versammlung im Jahre 190& den Beschluß gefaßt hat, daß 
Minderwertige im Strafvollzug mit Rücksicht auf diesen geistigen 
Zustand zu behandeln und unter besondere Aufsicht des Arztes zu 


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Staiger, 


stellen sind, so sind diese Forderungen m. E. bei uns insofern erfüllt, 
als dank dem Entgegenkomemn des Anstaltvorstandes alle wichtiges, 
die Behandlung und Disziplinierung der Minderwertigen dieser Ab¬ 
teilung betreffenden Fragen unter Würdigung ihrer geistigen Eigen¬ 
art und im Benehmen mit dem Arzte entschieden werden. Irgend¬ 
welche Gegensätze haben sich hiebei noch n i e ergeben. Auf diese 
Weise ist die Behandlung der Minderwertigen in der Invalidenstraf¬ 
anstalt ohne besondere Schwierigkeiten möglich. Daß erregte Epi¬ 
leptiker zuweilen Störungen machen, läßt sich naturgemäß nicht voll¬ 
ständig vermeiden. Immerhin kann — und das ist vom ärztlichen 
Standpunkt aus besonders dankbar anzuerkennen — ein nicht geringer 
Teil von hausordnungwidrigem Verhalten (besonders bei erregten 
Epileptikern) in der ärztlichen Sprechstunde erledigt werden durch 
Aufnahme ins Spital oder aber auch durch Antrag auf Versetzung 
in die Irrenabteilung. Der Betrieb verläuft zumeist glatt und ohne 
ernstere Störung, was um so bemerkenswerter ist, als die Invaliden¬ 
strafanstalt keine Isolierräume besitzt. In der Mehrzahl der Fälle 
ist es gelungen, kurzdauernde epileptische Erregungs- oder Ver- 
stimmungszustände an Ort und Stelle durch Bettbehandlung zu über¬ 
winden. In schwereren Fällen ist vorübergehende Aufnahme in die 
Irrenabteilung notwendig geworden, die dank den bestehenden Vor¬ 
schriften und den hiesigen Verhältnissen in dringenden Fällen auf 
Grund telephonischer Anfrage bei der Direktion sofort vollzogen werden 
kann. Zwei Momente sind es, die uns in der Behandlung der Minder¬ 
wertigen schwereren Grades und der Epileptiker besonders wertvoll 
scheinen; das ist einmal die nahe räumliche und organische Ver¬ 
bindung der Irrenabteilung mit der Invalidenstrafanstalt, die einen 
gegenseitigen Austausch der Gefangenen im Bedarfsfälle erleichtert, 
dann aber auch die Tatsache, daß die Invalidenstrafanstalt eben nicht 
nur geistig minderwertige Insassen enthält. Gerade die Anwesenheit 
zahlreicher körperlich gebrechlicher, siecher Gefangener erleichtert 
die Unterbringung geistig Minderwertiger. Sie finden unter den übrigen 
Gefangenen keinen geeigneten Resonanzboden für ihr Hetzen und 
Aufwiegeln. Eine Abteilung, die nur degenerierte und geistig minder¬ 
wertige Gefangene beherbergen würde, müßte, darüber sind wohl alle 
einig, die auf diesem Gebiete Erfahrung haben, zu Mißständen aller¬ 
schlimmster Art Anlaß geben. Das hat uns die Erfahrung in der 


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Die Behandlung psychopathisch minderwertiger Strafgefangener usw. 465 


hiesigen Irrenabteilung, wo wir in der ersten Zeit zahlreiche Degene¬ 
rierte aufgenommen hatten, handgreiflich genug gelehrt. Gerade die 
in der Invalidenstrafanstalt mögliche Verdünnung des Materials der 
Degenerierten durch körperlich Gebrechliche und Sieche erleichtert 
deren Behandlung in hohem Grade. Immerhin soll nicht geleugnet 
werden, daß auch in der Invalidenstrafanstalt gelegentlich Fälle Vor¬ 
kommen, in denen — bei nicht geisteskranken Degenerierten und Epi¬ 
leptikern — feste Bäume, insbesondere Einzelräume sich als wün¬ 
schenswert erwiesen haben. Demzufolge ist in neuester Zeit von der 
Anstaltdirektion der Antrag auf Errichtung einer eigenen Abteilung 
gestellt worden, die in eigenem Gebäude, unmittelbar anschließend 
an die Invalidenstrafanstalt, im wesentlichen Epileptiker und solche 
Degenerierte beherbergen soll, die in der relativ freien Invaliden- 
abteilung stören und andererseits für die Irrenabteilung noch nicht 
in Betracht kommen. Diese Abteilung — für 15—20 Gefangene be¬ 
rechnet — soll mit allem hiezu Nötigen, insbesondere mit einigen 
festen Einzelräumen ausgestattet sein. Nach Errichtung dieser Ab¬ 
teilung werden die drei auf Hohenasperg befindlichen Sonderabtei¬ 
lungen (Invalidenstrafanstalt, Epileptiker- und Degenerierten- und 
Irrenabteilung) imstande sein, alle diejenigen Minderwertigen und 
Degenerierten aufzunehmen, denen gegenüber ein modifizierter Straf¬ 
vollzug angezeigt ist, und wir glauben nicht zu weit zu gehen, wenn 
wir hoffen, so allen Eventualitäten gewachsen zu sein. 

So kann das Ergebnis vorstehender Ausführungen dahin zusam- 
mengefaßt werden, daß die Mehrzahl der geistig minderwertigen Ge¬ 
fangenen im geordneten Strafvollzug belassen werden kann, ohne 
diesen zu stören und ohne andererseits Schaden dadurch zu erleiden. 
Ein kleiner Teil benötigt insofern eine gewisse Berücksichtigung, als 
er der Unterbringung in Invalidenstrafanstalten und Epilektiker- 
anstalten bedarf; ein sehr kleiner Prozentsatz kommt 
für die Irrenabteilung in Betracht. Ein Bedürfnis nach Sonder- 
abteilungen für geistig minderwertige Gefangene, etwa mit der Be¬ 
stimmung, alle oder auch nur den größten Teil der geistig Minder¬ 
wertigen aufzunehmen, liegt nach unserem Ermessen und nach unserer 
Erfahrung nicht vor. Schwierigkeiten besonderer Art sind uns 
nicht erwachsen. 

Diese entstehen in der Regel erst mit Schluß der Strafzeit, wenn 


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Staiger, 


die Degenerierten entlassen werden. Für den einmal kriminell ge¬ 
wordenen geistig Minderwertigen bringt der Aufenthalt in der Freiheit 
in der Mehrzahl der Fälle wieder neue Konflikte mit dem Strafgesetz¬ 
buch. Deshalb wird als ganz besonders unzweckmäßig der Umstand 
empfunden, daß die Strafzeit der Degenerierten und geistig Minder¬ 
wertigen in der Regel viel zu kurz ist. Unser auf dem Boden der 
Vergeltung beruhendes Strafgesetz bestimmt die Strafe nach der 
Schuld; geringere Widerstandfähigkeit gegen verbrecherische An¬ 
triebe bedingt geringere Schuld, hat also auch geringere Strafe zur 
Folge. So kommt der Degenerierte fast immer mit kürzeren Strafen 
weg, und diese Strafen haben für manchen, da sie in der Invaliden¬ 
strafanstalt oder in der Irrenabteilung verbüßt, viel von ihrer Schärfe 
verloren; an der ihnen zuerkannten psychopathischen Minderwertig¬ 
keit tragen sie nicht schwer, sehen vielmehr hierin nur einen gewissen 
Freibrief zu weiteren strafbaren Handlungen. Nicht im Straf¬ 
vollzug, sondern in der unzweckmäßigen kur¬ 
zen Strafzumessung liegt die Hauptschwierig¬ 
keit in der Behandlung der geistig Minder¬ 
wertigen. Man mag über die Vergeltungstrafe denken wie man 
will, daß sie den kriminellen vermindert Zurechnungfähigen gegenübe. 
vollständig versagt und versagen muß, steht außer Zweifel. Sie läßt 
den Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung außer acht. 
Nicht mildere, sondern andere Strafe bzw. Behandlung der Minder¬ 
wertigen ist angezeigt. Ihre abnorme geistige Verfassung, die sie zu 
verbrecherischen Handlungen geradezu verleitet, ist nach dem geltenden 
Recht ein Grund, sie kürzer zu bestrafen, m. a. W. sie bälder wieder 
zu verbrecherischem Tun hinauszulassen; während diese geistige 
Minderwertigkeit umgekehrt große Sicherheitsmaßregeln förmlich 
herausfordert. 

Schutz der öffentlichen Sicherheit vor den kriminellen Degene¬ 
rierten und ebenso vor den gewerb- und gewohnheitmäßigen Ver¬ 
brechern, das ist es, was wir vom neuen Strafgesetzbuch erwarten. 

Bringt uns der Vorentwurf zum neuen Strafgesetzbuch diesen 
erhofften Schutz? 

Es war nicht anzunehmen, daß der Entwurf zum neuen Straf¬ 
gesetzbuch den Vergeltungstandpunkt verlassen und sich ganz den 
neuen Strafrechtstheorien anschließen würde. Das hat er auch nicht 


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Die Behandlung psychopathisch minderwertiger Strafgefangener usw. 467 


getan. Er hat eben in Würdigung des Umstandes, daß den geistig 
minderwertigen Rechtbrechern gegenüber eine schärfere Betonung 
des Schutzes der öffentlichen Ordnung notwendig ist. für diese nach 
Ablauf der gegen sie erkannten Strafe eine Sicherheitsverwahrung 
vorgeschlagen. 

Der Vorentwurf bringt in § 63 die Bestimmungen über die durch 
geistige Mängel bedingten Strafausschließungs - und Milderungsgründe. 
Er lautet: 


§ 63. Nicht strafbar ist, wer zur Zeit der Handlung geisteskrank, 
blödsinnig oder bewußtlos war, so daß dadurch seine freie Willensbestim¬ 
mung ausgeschlossen wurde. 

War die freie Willensbestimmung durch einen der vorbezeichneten 
Zustände zwar nicht ausgeschlossen, jedoch in hohem Grade vermindert, 
jo finden hinsichtlich der Bestrafung die Vorschriften über den Versuch 
(§76) Anwendung. Zustände selbstverschuldeter Trunkenheit sind hiervon 
ausgenommen. 

Freiheitstrafen sind an den nach Abs. 2 Verurteilten unter Berück¬ 
sichtigung ihres Geisteszustandes und, soweit dieser es erfordert, in be¬ 
sonderen, für sie ausschließlich bestimmten Anstalten oder Abteilungen 
zu vollstrecken. 

§ 65. Wird jemand auf Grund des § 63 Abs. 1 freigesprochen 
«der außer Verfolgung gesetzt oder auf Grund des § 63 Abs. 2 zu einer 
milderen Strafe verurteilt, so hat das Gericht, wenn es die öffentliche 
Sicherheit erfordert, seine Verwahrung in einer öffentlichen Heil- oder 
Pflegeanstalt anzuordnen. War der Grund der Bewußtlosigkeit selbst¬ 
verschuldete Trunkenheit, so finden auf den Freigesprochenen oder außer 
Verfolgung Gesetzten außerdem die Vorschriften des § 43 über die Unter¬ 
bringung in einer Trinkerheilanstalt entsprechende Anwendung. Im Falle 
des § 63 Abs. 2 erfolgt die Verwahrung nach verbüßter Freiheitstrafe. 

Auf Grund der gerichtlichen Entscheidung hat die Landespolizei¬ 
behörde für die Unterbringung zu sorgen. Sie bestimmt auch über die 
Dauer der Verwahrung und über die Entlassung. Gegen ihre Bestimmung 
ist gerichtliche Entscheidung zulässig. 

Die erforderlichen Ausführungsvorschriften werden vom Bundes- 
rate erlassen. 

Diesem von der hiezu bestellten Sachverständigenkommission 
im Jahre 1909 ausgearbeiteten Vorentwurf ist inzwischen in neuester 
Zeit ein von der Strafrechtskommission bearbeiteter weiterer Ent¬ 
wurf gefolgt, der in seinen Grundzügen in der Juristenzeitung ver¬ 
öffentlicht ist. Auch er bringt für die wegen verminderter Zurech- 

Zeitschrift für Psychiatrie. LIIX. 4. oo 


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468 


Staiger. 


nungfähigkeit milder zu bestrafenden Rechtbrecher die nach erfolgter 
Strafe in einer öffentlichen Heil- oder Pflegeanstalt zu vollziehende 
Sicherheitsverwahrung. Auch er verlangt bei Vollstreckung von 
Freiheitstrafen gegen vermindert Zurechnungfähige Berücksichtigung 
ihres Geisteszustandes und, soweit dieser es erfordert, Unterbrngung 
in besonderen Anstalten oder Abteilungen. 

Es unterliegt keinem Zweifel, daß mit diesen Bestimmungen des 
Vorentwurfs ein bedeutsamer Schritt nach vorwärts geschehen ist 
in der rationellen Bekämpfung des Verbrechens. 

Die Forderung nach Berücksichtigung des Geisteszustandes der 
vermindert Zurechnungfähigen beim Strafvollzug ist etwas Selbst¬ 
verständliches und geschieht wohl jetzt auch schon in den meisten 
Strafanstalten. Zu begrüßen ist die gesetzliche Fixierung 
dieser Forderung, weil damit zugleich psychiatrisch vorgebildete Ärzte 
an allen Strafanstalten notwendig werden, denn nur dann läßt sich die 
Voraussetzung dieser gesetzlichen Bestimmung, nämlich Feststellung 
des Geisteszustandes der auf psychopathische Minderwertigkeit ver¬ 
dächtigen Gefangenen erfüllen. 

Von größerer Bedeutung für die Allgemeinheit ist die neu aufge¬ 
nommene Bestimmung, wonach kriminelle geistig Minderwertige, 
wenn es die öffentliche Sicherheit erfordert, 
nach Ablauf der gegen sie erkannten Strafe in einer öffentlichen Heil¬ 
oder Pflegeanstalt untergebracht werden sollen, ln dieser Bestimmung 
dürfen wir einen Fortschritt von grundsätzlicher Bedeutung erblicken. 
Es wird damit im Prinzip gebrochen mit der bisherigen Anschauung, 
wonach die Tat als solche vergolten wird; in Zukunft wird bei der 
Strafe auch die verbrecherische Gesinnung, die soziale Gefährlichkeit 
des Verbrechers berücksichtigt. Damit wird einem längst als drückend 
empfundenen Mißstand, der kurzen Detinierung des kriminellen 
Minderwertigen, abgeholfen. 

So sehr man aber an sich von dem Standpunkt der öffentlichen 
Sicherheit aus die Verwahrung der kriminellen Degenerierten auch 
über die Zeit der Strafe hinaus begrüßen muß, so schwere Bedenken 
erheben sich gegen die Bestimmung, daß diese Degenerierten in 
öffentlichen Heil- oder Pfleganstalten verwahrt werden müssen. Die 
Begründung zum Vorentwurf enthält nichts darüber, warum kriminelle 
Minderwertige nach Ablauf ihrer Strafzeit nun gerade in Heil- oder 


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Die Behandlung psychopathisch minderwertiger Strafgefangener usw. 469 

Pfleganstalten verwahrt werden sollen. Alles spricht eigentlich da* 
gegen, Verbrecher, von denen man weiß, daß sie — zwar vermindert 
zorechnungfähig — aber nicht geisteskrank sind, und die zu bestrafen 
das Gericht keinen Anstand genommen hat, nach Ablauf der Strafe 
nun in eine Anstalt für Geisteskranke einzureihen. Es ist eine In¬ 
konsequenz, einen Verbrecher, deD’man für zurechnungfähig und für 
strafvollzugfähig hält, nach der Haft in eine Irrenanstalt zu sperren. 
In der Strafanstalt steht hinter dem Gefangenen die straffe Disziplin 
und die Macht und der Wille des Vorstandes, ihn unter die Hausordnung 
zu beugen. Die Irrenanstalt verfügt über keinerlei Disziplinarmittel. 
Dazu kommt, daß die auf diesem Wege eingewiesenen Verbrecher 
nicht geisteskrank sind. Dem Irrenanstaltsvorstand sind aber, auch 
wenn er noch so sehr die Überzeugung hat, daß der Eingewiesene 
nicht geisteskrank und, wie die unmittelbar vorausgegangene Strafe 
dargetan hat, straffähig ist, doch die Hände gebunden: er muß einen 
Menschen, den er nicht für geisteskrank hält, behalten. Dazu kommt 
als weiterer empfindlicher Mißstand, daß solche Insassen erfahrung- 
gemäß zum Teil zu den unangenehmen Patienten gehören, daß sie 
iu die Irrenanstalt Gewohnheiten und Eigenschaften mitbringen, 
die in einer Irrenanstalt außerordentlich störend sind, und die vor allem 
nur sehr wenig wirksam und jedenfalls nur mit Mitteln bekämpft 
werden können, die nach den in der Psychiatrie allgemein gültigen 
Anschauungen in einer Irrenanstalt nicht verwandt werden (Arrest 
und andere Disziplinarmittel). Nur wenn diese degenerierten Ver¬ 
brecher so untergebracht sind, wie in der Strafanstalt, nur dann wird 
man mit ihnen verhältnismäßig leicht fertig. In eine Irren¬ 
anstalt gehören und passen sie nicht. So hat 
auch der Deutsche Verein für Psychiatrie in seiner letzten Jahres¬ 
versammlung in Stuttgart (April 1911) auf Grund eines Vortrags 
von Cramer-Göttingen über den Vorentwurf zu einem Deutschen 
'Strafgesetzbuch sich dahin ausgesprochen, daß, soweit es sich bei 
den vermindert Zurechnungfähigen um Unterbringung in Anstalten 
bandeln würde, Anstalten für Geisteskranke nicht in 
Frage kopimen könnten. Die vom Vorentwurf vorgeschlagene Art 
der Verwahrung der geistig minderwertigen Kriminellen wird am 
einmütigen Widerstand der Irrenanstalten scheitern. Es bleiben als 
Art der Unterbringung dieser kriminellen Minderwertigen zwei Mög- 

33 * 


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Staiger, 


lichkeiten: entweder ihre Verwahrung in Zentralanstalten oder ihre 
Belassung in den Strafanstalten bzw. in Adnexen der Strafanstalten. 

Wer viel mit kriminellen Degenerierten zu tun hat, wird Zentral¬ 
anstalten kaum das Wort reden. Die Anhäufung dieser Elemente 
gibt Anlaß — darüber ist man wohl einig — zu den größten Schwierig¬ 
keiten. Ein mehr oder weniger großer Teil der Degenerierten gehört 
zu den gewalttätigen, komplott- und fluchtbereiten Verbrechern. 
Die Sicherungshaft nach verbüßter Strafhaft wird von ihnen zweifel¬ 
los als himmelschreiendes Unrecht angesehen, dem sie sich mit allen 
Mitteln werden zu entziehen versuchen. Ausbruchversuche werden 
an der Tagesordnung sein, so daß, obwohl diese Anstalten ein Zwischen¬ 
ding zwischen Straf- und Irrenanstalten sein sollen, viel schärfere 
Sicherheitsmaßregeln notwendig sein werden, als in Strafanstalten. , 
wo die Möglichkeit eines Milieuwechsels und damit eine individuali¬ 
sierende Behandlung weit eher gegeben ist, als in den Zentralanstalten. , 
die ein im wesentlichen doch mehr gleichartiges Material beherbergen, j 
An das Personal müßten sehr große Anforderungen gestellt werden. 
Anforderungen, denen es auf die Dauer nicht gewachsen sein dürfte. 
Wir haben hier bei der Ansammlung einer viel geringeren Zahl von 
Degenerierten in der Irrenabteilung so erhebliche Schwierigkeiten 
erwachsen sehen, daß wir uns nur durch Rückversetzung dieser Ver- 
brecher, die nun einmal nicht in Irrenabteilungen passen, in die Straf¬ 
anstalt helfen konnten. i 

So bleibt als einzige zweckmäßige Art der Unterbringung übrig: 
die Strafanstalt, bzw. ein der Strafanstalt 
angegliederter Adnex. In den Adnexen würden die mehr 
harmlosen und die nicht gefährlichen Degenerierten untergebracht 
werden, und es ließen sich für solche Abteilungen, in denen dem Straf¬ 
anstaltsarzt besondere Befugnisse zu erteilen wären, ohne Schwierig¬ 
keiten Bestimmungen treffen, die zum Ausdruck bringen, daß es 
sich bei den Insassen nicht um Strafgefangene, sondern um verwahrung- 
bedürftige Degenerierte handelt, Erleichterungen und Vergünstigungen, 
die geeignet wären, den Aufenthalt dort zu erleichtern. Gefährliche 
und ausbruchverdächtige Degenerierte müßten wie in der Strafanstalt 
untergebracht bleiben; ihre Versetzung in die Verwahrungsabteilung 
würde nur erfolgen bei tadelloser Führung und als Belohnung für 
Wohlverhalten. In der Belassung der Degenerierten in der Strafanstalt 


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Die Behandlung psychopathisch minderwertiger Strafgefangener usw. 47 1 

auch Aber die Dauer der ungeordneten Verwahrung kann weder ein 
Unrecht noch eine besondere Härte erblickt werden. Einmal handelt 
es sieh in der Mehrzahl der Fälle um Gewohnheitsverbrecher, die 
ohnehin sich in der Freiheit nur kurze Zeit halten und mit kurzen 
Unterbrechungen jeweils bald wieder der Strafanstalt zugeliefert 
werden; dann aber ist es nicht sowohl der Strafvollzug, als vielmehr 
die Freiheitsentziehung, die sie schwer empfinden, und diese ist in 
der Irrenanstalt, in der Zentralanstalt für Degenerierte und in der 
Strafanstalt die gleiche. Zudem würden die in der Strafanstalt ver¬ 
wahrten Degene rierten durch Wohlverhalten eine Versetzung in die 
Yerwahrungsabteilung für Minderwertige erreichen können. 

Diese Lösung der Verwahrungsfrage der vermindert Zurechnung' 
lihigen Verbrecher scheint uns die zweckmäßigste. In der Straf¬ 
anstalt sind, das haben wir im ersten Teil unserer Darstellungen 
auszuführen versucht, die Degenerierten gut untergebracht, sie machen 
haue besonderen Schwierigkeiten, und mit den schlimmen Elementen 
unter ihnen wird man hier am leichtesten fertig. Auf diese Weise, 
durch Verwahrung der geistig minderwertigen Verbrecher in der 
‘itrifminiMlt bzw. in einer der Strafanstalt angegliederten Abteilung, 
wird allen Seiten geholfen. Die Öffentlichkeit ist gesichert gegen diese 
Schädlinge, die Irrenanstalten sind befreit von Insassen, deren An¬ 
wesenheit sie — und das mit Recht — als störend und lästig empfinden, 
besondere Zentralanstalten sind überflüssig. 

Wenn in der Begründung zum Vorentwurf die Ansicht vertreten 
ist, „daß die Verwahrung bloß gemindert Zurechnungfähiger, die zu¬ 
nächst ihre Strafe zu verbüßen haben, verhältnismäßig selten Vor¬ 
kommen wird, schon weil die Strafe dazwischen liegt, deren Wir¬ 
kungen eine demnächstige Verwahrung oft erübrigen werden“, so ist 
dies eine Anschauung, der wir uns nicht anzuschließen vermögen; 
wir hoffen vielmehr zuversichtlich, daß es 
recht viele sind, deren verbrecherischem Tun 
auf diese Weise ein Riegel vorgeschoben wird. 
Nun bringt der neueste von der Strafrechtskommission ausgearbeitete 
Vorentwurf nicht nur für die geistig Minderwertigen die Verwahrung, 
er ordnet auch für gewerb- oder gewohnheitmäßige Verbrecher nach 
erstandener Strafzeit eine Sicherheitshaft an. Degenerierte Verbrecher 
und gewerb- oder gewohnheitmäßige Verbrecher sind zwei Begriffe. 


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Staiger, 


die sich nicht ganz decken; aber gerade in den schweren Fällen werden 
sie es tun, und so ist zu hoffen, daß in all den Fällen, wo die geistige 
Minderwertigkeit nicht genügt, die Verwahrung anzuordnen, die 
Merkmale^ des Gewohnheitsverbrechers gegeben sind, so daß der 
Degenerierte auf diese Weise verwahrt werden kainn. 

Wenn so nach dem Willen des neuesten Vorentwurfs sowohl die 
geistig minderwertigen als auch die unverbesserlichen gewohnheit¬ 
mäßigen Verbrecher auf lange Zeit in den Strafanstalten zurück- und 
von verbrecherischem Tun abgehalten werden, dann wird wieder ein 
bedeutsamer Schritt vorwärts getan sein in der Bekämpfung des 
Verbrechens, ein Schritt vorwärts auf dem Wege, den der VII. Inter¬ 
nationale Kongreß für Kriminalanthropologie in Köln gewiesen hat. 
wo er den Antrag angenommen hat, „die unbestimmte Verurteilung, 
d. h. die Verurteilung zu einer Strafe, deren Dauer (die sich in den 
weitesten Grenzen ziehen ließe) von dem Anpassungsvermögen des 
Subjekts an die sozialen Vorschriften abhängig gemacht würde, zu 
empfehlen für diejenigen Verbrecher, deren Verbrechen im Prinzip 
auf einer mangelhaften Anpassung an die Gesellschaft beruhen.“ 

Wir begrüßen die vom Vorentwurf vorgeschlagene Verwahrung 
und Sicherungshaft der Degenerierten und Unverbesserlichen als 
bedeutsamen Fortschritt. Letzten Endes aber versprechen wir uns 
von der Strafe einen vollen Erfolg erst dann, wenn sie, losgelöst vom 
Vergeltungsgedanken, nichts anderes sein wird, als die Abwehrma߬ 
regel der Allgemeinheit gegen Schädlinge am Volkskörper. 


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Psychiatrie und Fürsorgeerziehung in Württemberg. 

Von 

Oberarzt Dr. Schott, leit. Arzt der Heil- und Pflegeanstalt Stetten i. R. 

Das psychiatrische Interesse an den Fürsorgezöglingen hat sich 
in den letzten Jahren in zunehmendem Maße betätigt und dank 
sorgfältiger und umfangreicher Untersuchungen viel Bedeutungvolles 
zutage gefördert. In Württemberg liegen die Verhältnisse für irren- 
ärztliche Durchuntersuchung des gesamten Materials an Fürsorge- 
Zöglingen aus äußeren Gründen nicht günstig. Die Wichtigkeit und 
Vielseitigkeit der Beziehungen, welche zwischen den Fürsorgezög¬ 
lingen einerseits, dem Gebiete der Irrenheilkunde andererseits bestehen, 
lassen es dringend wünschenswert erscheinen, daß in nicht zu ferner 
Zeit eine einheitliche Durchnntersuchung der gesamten Fürsorge¬ 
zöglinge unserer 38 württembergischen Rettungsanstalten mit 656 
männlichen und 386 weiblichen, also insgesamt 1042 Fürsorgezög- 
lingen bewerkstelligt werden kann. Daß eine derartige umfassende 
Erhebung große Anforderungen an Zeit und Mühe stellt, bedarf 
keiner besonderen Ausführung, zumal bei der großen Zahl der An¬ 
stalten und ihrer Zerstreutheit über das ganze Land. Unsere größte 
Rettungsanstalt mit 206 Insassen, darunter 60 Fürsorgezöglingen, 
ausschließlich weibliehen Geschlechts ist Untermarchtal. dann folgt 
Heiligenbronn O.-A. Horb mit 131, darunter 15 Fürsorgezöglingen 
männlichen Geschlechts, dann Schelklingen mit 128 bzw. 96 und Schoen- 
bühl mit 114 bzw. 113 Knaben. An letzterer Anstalt konnte ich unter 
liebenswürdiger Unterstützung und Beratung des Herrn Inspektors 
Fi «eher im Laufe des Jahres 1910 im ganzen 80 Zöglinge eingehender 
untersuchen. Ehe ich auf das Ergebnis meiner Untersuchungen übergehe, 
dürfte es sich empfehlen, einen kurzen Einblick in das Gesetz 1 über die 
Fürsorgeerziehung Minderjähriger in Württemberg vom 29. Dezember 


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Schott, 


1899 /11. November 1905 zu geben. Die Fürsorgeerziehung (Zwangs¬ 
erziehung) ist der auf Staatskosten erfolgende Eingriff des Staats 
in das persönliche Elternrecht der Kindererziehung. Verfolgt wird 
dabei immer ein sozialer Zweck: Besserung oder Vorbeugung, zu¬ 
nächst zugunsten des Minderjährigen, in letzter Linie aber zum Schutze 
der Gesellschaft. Die Fürsorgeerziehung ist eine notwendige Er¬ 
gänzung der Strafrechtpflege. Über den Erfolg der Fürsorgeerziehung 
in Württemberg liegen zurzeit noch keine abschließenden Aufstellungen 
vor. Die fortschreitende Abnahme der Zahl jugendlicher Gefangener 
in Württemberg läßt keinen Schluß darauf zu, ob das Fürsorge- 
erziehungsgesetz (F. E. G.) einen Rückgang der Kriminalität Jugend¬ 
licher herbeigeführt hat, da die seit 24. Februar 1896 in Württemberg 
eingeführte bedingte Begnadigung immer mehr zur Anwendung ge¬ 
langt 2 , Jugendlichen gegenüber sogar fast regelmäßig. Die An¬ 
wendung des F. E. G. bringt es ferner mit sich, daß fortwährend 
eine nicht geringe Anzahl verwahrloster Elemente sich in sicherer 
Hut befindet, also zu Straftaten fast gar keine Gelegenheit hat. Nach 
drei Anstaltberichten sind von etwa 60% die Ergebnisse als zufrieden¬ 
stellend zu bezeichnen. Für Preußen liegt eine Statistik über das Nach¬ 
leben aller früheren Fürsorgezöglinge, welche in der Zeit vom 1. April 
1904 bis zum 31. März 1909 aus der Fürsorgeerziehung ausgeschieden 
sind, vor 4 . 

Es sind 9931 Zöglinge gewesen. Von diesen waren verstorben, 
geisteskrank, ausgewandert usw. 480 Zöglinge, nicht ermittelt wurden 
984 männliche und 348 weibliche Zöglinge, so daß tatsächlich 8155 Zög¬ 
linge ermittelt worden sind. Über diese sind sehr genaue Erkundigungen 
eingezogen worden. Polizeiorgane wurden dabei nicht in Anspruch 
genommen. Nur die früheren Fürsorger, Anstaltvorsteher, Familienväter. 
Lehrmeister usw. wurden befragt. Etwaige gerichtliche Verurteilungen 
wurden durch Anfrage bei den Strafregisterbehörden festgestellt. Diese 
amtliche Statistik lehrt uns, daß die Erfolge der staatlichen Fürsorge¬ 
erziehung außerordentliche sind. Aus den ausführlichen 29 Tabellen, 
welche vom Kgl. Preuß. Ministerium des Innern ausgearbeitet worden 
sind, ergibt sich, daß von den 8155 ermittelten ehemaligen Zöglingen 
sich zurzeit führen: 

männliche weibliche 


genügend bis gut 3177 (70% ) 

zweifelhaft bis gut 489 (10,8% ) 

ungenügend bis schlecht 872 (19,2% ) 


2484 (68,7%) 
433 (11,9%) 
700 (19,4% ) 


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Psychiatrie und Fürsorgeerziehung in Württemberg. 47^ 

Diese Durchschnittsziffern werden bei den im Alter bis zu 14 Jahren 
in Fürsorgeerziehung Überwiesenen übertroffen: von ihnen haben 85,1% 
der männlichen und 88% der weiblichen, von den im Alter von 14 bis 
16 Jahren Zugeführten 75,1% der männlichen und 75,4% der weiblichen 
Personen eine genügende bis gute Führung aufzuweisen. Selbst bei den 
erst im Alter von 16—18 Jahren Überwiesenen sinkt die Ziffer der mit 
befriedigender Führung Ermittelten nur wenig unter den Durchschnitt, 
nämlich auf 64% bei den männlichen und auf 65% bei den weiblichen 
Personen. 

Diese Ergebnisse lassen erkennen, daß die geleistete Arbeit nicht 
vergeblich war. Je früher die Fürsorgeerziehung einsetzt, desto 
bessere Erfolge werden im allgemeinen zu erwarten sein. 

Es ist eine leidige Tatsache, daß, ähnlich wie bei der Anstaltunter¬ 
bringung Geisteskranker oder der Entmündigung Trunksüchtiger, 
die entsprechenden Maßnahmen vielfach reichlich spät getroffen 
werden. Es ist damit der fürsorgliche Zweck des Gesetzes nicht ge¬ 
nügend gewahrt. 

Geschichtlich interessant 1 ist die Feststellung, daß schon die 
zweite württembergische Landesverordnung vom 10. April 1515 eine 
Strafbestimmung gegen denjenigen enthält, welcher sein Vermögen 
verpraßt und Weib und Kind betteln läßt. Die Armenordnung vom 
27. März 1531 enthält die allgemeine Ermahnung, man solle Kinder 
and Dienstboten in die Kirche schicken, damit sie von Unarten und 
Verbrechen abgehalten werden. 

Die Unterbringung in einer Erziehungs- oder 
Besserungsanstalt ist erstens möglich, „wenn der Minderjährige 
vor Vollendung des 12. Lebensjahres eine Handlung begangen hat, welche 
im Fall der Begehung durch einen Strafmündigen sich als Verbrechen 
oder Vergehen oder als eine Übertretung im Sinne des § 361 Ziff. 3 oder 
| 4 StrGB. (Landstreicherei oder Bettel) darstellen würde, und die Für¬ 
sorgeerziehung mit Rücksicht auf die Beschaffenheit der Handlung, auf 
die Persönlichekit des Minderjährigen, seiner Eltern oder sonstigen Er¬ 
zieher und auf seine übrigen Lebensverhältnisse zur Verhütung weiterer 
sittlicher Verwahrlosung erforderlich ist“. (F. E. G. Art. 1, Abs. 1, Ziff. 1.) 
Also nicht eine strafbare Handlung an sich genügt zur Anordnung der 
Unterbringung, sondern die gesamten Verhältnisse des Minderjährigen 
und seiner Umgebung müssen so beschaffen sein, daß die Unterbringung 
zur Verhütung weiterer sittlicher Verwahrlosung 
erforderlich ist. Demnach ist, wie Landsberg sich ausdrückt, nicht die 
Tat, sondern der Zustand maßgebend. 

Der zweite Fall, welcher zur Einleitung der Fürsorgeerziehung führt. 


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Schott, 


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ist vom Gesetz sehr allgemein gefaßt (Art. 1, Ziff. 2 F. E. G.): „wenn 
sonstige Tatsachen vorliegen, welche die Fürsorgeerziehung zur Verhütung 
des völligen sittlichen Verderbens notwendig machen“. Ziff. 1 und 2 ist 
also gemeinsam, daß die bloße in den Verhältnissen der Umgebung, der Er¬ 
ziehung des Minderjährigen liegende Gefahr der Verwahrlosung 
nicht zum Eingreifen genügt, sondern daß ein gewisser Grad 
von Verwahrlosung schon vorliegen muß. Bei 
Verschulden der Eltern im Sinn der §§ 1666, 1838 BGB. 
genügt diebloßeGefahr zur Anordnung der Fürsorgeerziehung; 
die gesetzlichen Bestimmungen sind hier rein vorbeugend. 

Die Fürsorgeerziehung erstreckt sich nur auf die sittliche Ver¬ 
wahrlosung; körperliche Verwahrlosung als solche kann die Einleitung 
der Fürsorgeerziehung nicht begründen. 

Einverständnis der Eltern ist keine Voraussetzung für die Ein¬ 
leitung der Fürsorgeerziehung, welche nur anzuordnen ist, wenn der Minder¬ 
jährige das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Württemberg hat 
diese Altersgrenze mit einer Reihe von kleineren Bundesstaaten fest¬ 
gesetzt, während z. B. die Gesetze von Preußen, Baden und Hessen erst 
mit Vollendung des 18. Lebensjahrs die Einleitung der Fürsorgeerziehung 
axisschließen. Eine untere Altersgrenze hat das Gesetz nicht bestimmt. 
Die Zahl der im Alter unter 6 Jahren eingewiesenen Zöglinge betrug in 
Württemberg im Jahre 1906 immerhin 13,3% der Gesamtzahl. 

Die Anwendbarkeit des F. E. G. erleidet eine bedeutende Ein¬ 
schränkung durch den Abs. 3 des Art. 1; 

„Die Anordnung der Fürsorgeerziehung kann in den Fällen des 
Abs. 1 Ziff. 1 und 2 nur erfolgen, wenn die Erziehungsgewalt der Eltern 
oder sonstigen Fürsorger und die Zuchtmittel der Schule, sowie ander¬ 
weitige, der Gefahr sittlicher Verwahrlosung des Minderjährigen vor¬ 
beugende Maßregeln sich als unzulänglich erweisen, und wenn dem Bedürf¬ 
nis nach einer geordneten Erziehung nicht auf anderem W T eg (durch die 
öffentliche Armenpflege oder die Vereinstätigkeit) ausreichend ent¬ 
sprochen wird.“ 

Die Anordnung der Fürsorgeerziehung soll das letzte Auskunfts¬ 
mittel sein, wenn auf andere Weise dem Bedürfnis nach einer geordneten 
Erziehung nicht ausreichend entsprochen werden kann (Vollzugsver¬ 
fügung vom 14. II. 1900). 

Zuständig für das Fürsorgeerziehungsverfahren ist nach Art.! 
F. E. G. das Vormundschaftsgericht. Art. 2 bestimmt dazu: 
„Vormundschaftsgericht im Sinn der §§ 1666 Abs. 1 und 1838 des BGB. 
sowie des Art. 1 Abs. 1 Ziff. 1 und 2 dieses Gesetzes ist das Amts¬ 
gericht“. Das Vormundschaftsgericht beschließt von Amts wegen 
oder auf Antrag (Art. 4Abs. 1 F. E. G.). Eine Antragpflicht 
statuiert das Gesetz selbst nicht. § 3 Abs. 2 der Vollzugsverfügung vom 
14. II. 1900 macht den antragberechtigten Behörden ausdrücklich zur 


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Psychiatrie und Fürsorgeerziehung in Württemberg. 


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Pflicht, den Antrag auf Fürsorgeerziehung zu stellen, wenn entsprechende 
Tatsachen zu ihrer Kenntnis gelangen. Diese Tatsachen sollen nebst 
den Beweismitteln im Antrag spezifiziert werden. Die Behörden werden 
noch besonders daraufhingewiesen, den Antrag rechtzeitig, d. h. 
vor Eintritt weitgehender sittlicher Verwahrlosung des Kindes zu stellen. 

Zur Stellung des formellen Antrags sind gemäß 
Art. 4 Abs. 2 F. E. G. zunächst folgende Einzelpersonen be¬ 
rechtigt : die Eltern, die Großeltern, der Vormund, Gegenvormund 
oder Pfleger des Minderjährigen und der Beistand seiner Mutter. Von 
diesem Antragrecht wird nicht häufig Gebrauch gemacht: im Jahr 1906 
ist die Einweisung nur in 19 von 316 Fällen auf Antrag einer dieser Per¬ 
sonen erfolgt. Bei Antragstellung seitens der Eltern oder Großeltern 
hat der Richter besonders zu prüfen, ob es sich nicht nur um einen Versuch 
derselben handelt, der Sorge für das Kind sich zu entledigen. 

Weiterhin sind antragberechtigt „diejenigen Behörden, 
welche von der Verwahrlosung eines Minderjährigen Kenntnis erhalten“. 
Das sind in erster Linie die Gemeinde-, Kirchen- und Schulbehörden; 
im Jahr 1906 veranlaßten deren Anträge 68° * sämtlicher F'ürsorge- 
erziehungsbeschlüsse. Ferner kommen in Betracht die Staatsanwaltschaften 
schäften, die ordentlichen Vormundschaftsgerichte, die Polizeibehörden, 
>owie die amtlichen Ärzte. Diese Befugnis der amtlichen Ärzte 
*etzt die Kenntnis der hauptsächlichsten Punkte des Fürsorgeerziehung»- 
gesetzes voraus; daraus rechtfertigt sich auch die vorstehende summarische 
Geset zesübersicht. 

Schott* 3 verdanken wir eine Übersicht über die Fürsorge¬ 
erziehung Minderjähriger in Württemberg im Rechnungsjahr 1909. 

Die Gesamtzahl der 1909 in Fürsorgeerziehung gestandenen Zöglinge 
betrug 2053, davon entfallen 61,4% auf Knaben und 38,6% auf Mädchen 
Am 1. Dezember 1909 waren in den württembergischen Rettungs¬ 
anstalten (22 evangelische und 12 katholische) 863 Für»orgezöglinge 
und zwar 515 männliche und 348 weibliche untergebracht. 793 Zöglinge 
= 43,1% genossen Familienerziehung. Ein Wechsel von der 
Familien- zur Anstaltserziehung fand bei 64, ein solcher von der Anstalt*- 
lur Familienerziehung bei 6 Zöglingen statt. Es sei ferner noch bemerkt, 
daß die Durchführung der Fürsorgeerziehung in Württemberg ausschlie߬ 
lich von Wohltätigkeitsanstalten bewerkstelligt wird. Die nach dem 
Gesetz nur in außergewöhnlichen Fällen zulässige Ausdehnung der Für¬ 
sorgeerziehung über das 18. Jahr hinaus wurde im Jahr 1909 bei 35 Zög¬ 
lingen (darunter 21 Mädchen), im Jahre 1908 bei 42 Zöglingen (darunter 
25 Mädchen) ausgesprochen¬ 
en den 2053 Fürsorgezöglingen de» Jahre» 1909 waren ehelich 
geboren: 1608 = 78,3% ; unehelich geboren: 445 = 21.7%. 

Bei Beginn der Fürsorgeerziehung standen die meisten, 1823 — 
88,8%. in einem Alter unter 14 Jahren. Die Zahl derer, welche das 


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Schott, 


14. Lebensjahr schon überschritten hatten, betrug 230 = 11,2% der 
Gesamtheit. 

Dem Religionsbekenntnisse nach teilen sich die Zöglinge 
in 1423 = 69,3% mit evangelischer Konfession, 

627 = 30,6% „ katholischer „ 

3 = 0,1% „ sonstiger „ 

Nach der Volkszählung vom 1. Dezember 1905 entfielen von der 
Bevölkerung auf Evangelische 68,7%, auf Katholische 30,2% und son¬ 
stige Konfessionen 1,1%. Die vorstehenden Zahlen entsprechen also 
ziemlich genau der allgemeinen Bevölkerungstatistik. 

Die Ursachen, welche zur Anordnung der Fürsorgeerziehung 
genötigt haben, sind verschiedener Art, häufig wirken mehrere zusammen. 
Bald ist es die Unzulänglichkeit der häuslichen Zucht, die Verwahrlosung 
und Gefährdung der Kinder durch die Eltern, bald die eigene Verderbtheit 
und Verkommenheit der ersteren, bald sind es Mängel und schlechte Nei¬ 
gungen (Trunksucht, Stehlen, Gewerbsunzucht, Betteln usw.) bei Eltern 
und Kindern zugleich. 

Der ganze Erziehungsaufwand auf die Fürsorgezöglinge hat sich 
seit 1900 mehr als verdreifacht, er ist von 71 604 Mk. im Jahr 1900 auf 
244 924 Mk. im Jahr 1909 gestiegen, der Aufwand des Staates und der 
Landarmenverbände von je 28 553 Mk. auf je 97 036 Mk. 

Der durchschnittliche Aufwand für 1 Fürsorgezögling belief sich 

im Jahr 1900 auf 96,50 Mk. 

,, „ 1905 „ 104,62 „ 

„ „ 1908 „ 117,57 „ 

„ „ 1909 „ 119,30 „ 

Gegenüber den gesunden Zöglingen sind nach Schott * 3 die in 
geistiger oder körperlicher Beziehung Anormalen in auffallender Minder¬ 
heit. Im Jahr 1909 war die Zahl der letzteren nur 15 = 4,5%, im Jahr 
1908 11,2%. Dabei ist die Zahl der geistig Minderwertigen 5, die der kör¬ 
perlich Bresthaften 10. 

Vorbestraft wären, in der Hauptsache wegen Betteins und 
Diebstahls, 76 Zöglinge. 

Je mehr sich die Psychiatrie mit der Frage des Verbrechers 
als Individualität befaßt hat, um so lebhafter wurde ihr Interesse 
an den Jugendlichen der Verbrecherwelt. Die verbrecherische Jugend 
ist es, welche den überwiegenden Bruchteil der erwachsenen Recht¬ 
brecher darstellt und aus welcher sich der sog. „geborene Verbrecher“ 
rekrutiert. Die Kriminalpsychologie hat richtig erkannt, daß es 
leichter -ist, in das Seelenleben der jugendlichen Verbrecher einen 
Einblick zu erlangen, als bei Erwachsenen. Es lag die Vermutung 
nahe, daß entsprechende Untersuchungen einen wertvollen Anhalt- 


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Psychiatrie and Fürsorgeerziehung in Württemberg. 


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punkt für die psychologische bzw. psychopathologische Bewertung 
des Verbrechers bilden werden. Daraus muhten sich Folgerungen 
ergeben sowohl hinsichtlich der Entstehung und Verhütung des Ver¬ 
brechens, ab auch in bezug auf die gerichtliche und irrenärztliche 
Beurteilung der hierher gehörigen Individuen mit Rückwirkung auf 
den Strafvollzug. Der Vorentwurf zu einem Deutschen Strafgesetz¬ 
buch gibt Zeugnis davon, daß die Erfahrungen und Beobachtungen 
der Richter und Strafvollzugbeamten, der Erzieher und Fürsorger 
sowie die eingehenden irrenärz liehen Untersuchungen und Er¬ 
hebungen Werte gezeitigt haben, welche für das soziale Leben der Zu¬ 
kunft von weittragender Bedeutung sind und noch sein werden. 
Mönkemoller * hat im Jahre 1898 durch seine Arbeit „Psychiatrisches 
aus der Zwangserziehungsanstalt“ erneut auf die große Anzahl geistig 
Abnormer unter den in Zwangserziehung befindlichen Zöglingen 
hingewiesen und dadurch die Aufmerksamkeit für diese aktuellen 
Fragen frisch entfacht. Nach Einführung des Fürsorgeerziehungs¬ 
gesetzes in Preußen 1901 ist die Zahl der Fürsorgezöglinge erheblich 
gewachsen. Seit dieser Zeit sind zahlreiche Untersuchungen an diesem 
Material nach den verschiedensten Gesichtspunkten angestellt worden. 

Es seien hier ‘nur Laquer 7 , Seelig *, Kluge *, Tippei 10 , Wilmanns 11 
u. a. gennant. Kluge 11 hat auf der Versammlung des Deutschen Vereins 
für Psychiatrie am 29. IV. 1907 ein Referat „über die Mitwirkung des 
Psychiaters bei der Fürsorgeerziehung“ erstattet. Er fand 45—50% 
defekter und abnormer Fürsorgezöglinge. Der Schwachsinn — vom 
tiefsten Idiotismus bis zum leichtesten Grad der Debilität — herrscht 
vor. Es erscheint nach Kluge ** geboten, den sachkundigen Arzt schon 
bei der E i n 1 e i t u n g des Fürsorgeerziehungsverfahrens heranzuziehen, 
um hier schon Aufschluß über den Geisteszustand des seiner Umgebung 
zu entziehenden Kindes oder Jugendlichen zu geben und danach schon die 
weitere Untersuchung anzuraten. Kluge 11 empfiehlt fernerhin die Ein¬ 
richtung einer Beobachtungstation für alle bei der ersten 
Untersuchung nicht ganz einwandfrei festgestellten Fälle, am besten im 
Anschluß an eine ärztlich geleitete Idioten* oder Epileptikeranstalt. 
Meister 13 betont unter anderem, daß der Staat Vorkehrungen treffen 
sollte, damit die mit der Fürsorgeerziehung berufmäßig betrauten Er¬ 
zieher, namentlich aber die Leiter größerer Anstalten, sich mit den Er¬ 
gebnissen der einschlägigen Sonderforschungen und Erfahrungen auf 
pädagogischem, kriminalistischem, psychologischem und psychiatrischem 
Gebiete vertraut machen, und daß zu diesem Zwecke neben anderem 
auch Unterrichtkurse eingerichtet werden sollten. 


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480 


Schott 


Wie schon gesagt, bilden die Schwachsinnigen das Gros der 
abnormen Fürsorgezöglinge; sie bieten, falls der Defekt vorherrschend 
die intellektuelle Seite betrifft, der Erziehung die geringsten Schwierig* 
keiten. Das Gegenteil in dieser Richtung bilden die konstitutionellen 
Psychopathen. An dritter Stelle stehen die Epileptiker mit meist 
sehr vereinzelten Anfällen, aber epileptischen Äquivalenten und Ent¬ 
artungsäußerungen. Ihnen folgen dann nach Thoma 14 die Hyste¬ 
rischen an Zahl. Eigentliche Psychosen in Form von manisch-depres¬ 
sivem Irresein, Hebephrenie sowie schwere Formen von Idiotie 
werden seltener erwähnt. 

Thoma 14 fand bei einem Untersuchungsmaterial von 620 Zöglingen 
(357 Knaben und 263 Mädchen) im ganzen 322 = 51,9% als geistig 
abnorm : schwerer S c h w a c h s i n n in 5, mittlerer in 9 und leichter 
in 156 (25,2% ) Fällen. Ausgesprochener sittlicher Mangel konnte nur 
in 4 Fällen (0,6% ) angenommen werden. Den intellektuell Minderwertigen 
kamen die Psychopathen an Zahl am nächsten, von denen wieder 
eine größere Anzahl auch Intelligenzdefekte aufwies und zum Teil ah 
imbezill angesehen werden mußte — im ganzen 95 Individuen (15,3% V 
Ausgesprochene Hysterie fand sich 36 mal (5,8% ). 

Epilepsie lag 13 mal vor (2%). 13 Zöglinge (2,1%) waren 

geistesgestört oder hatten Anfälle von geistiger Störung durch¬ 
gemacht. 

Eigene Untersuchung: Das Material stützt sich auf 
80 Insassen der Rettungsanstalt Schoenbühl 0. A. Schorndorf. Diese 
Anstalt beherbergt durchschnittlich 110 männliche Zöglinge im Alter 
von 8 bis 18 Jahren. 

Von den untersuchten Individuen waren rund 26% unehe¬ 
lich geboren (Reichsdurchschnitt 10,3%). Bei 2 Zöglingen war die 
Geburt vorehelich, was sozial bedeutungvoll ist. Erb¬ 
liche Belastung in nervöser Hinsicht fand 
sich sicher bei 48%; dieselbe bestand fast ausschließlich 
in Trunksucht der Erzeuger, nämlich bei 42%. Erb¬ 
liche Belastung in krimineller Hinsicht ist in 
66% erwiesen; bei 16% sind beide Eltern vorbestraft. 

Diese Zahlen erhöhen sich voraussichtlich noch, wenn man be- i 
rücksichtigt, daß in 8 Fällen die Akten keinen genauen Aufschluß 
über die Erzeuger geben. Wir werden wohl nicht fehlgehen, wenn 
wir die erbliche Belastung in nervöser Hinsicht auf 60% und solche 
in krimineller Richtung auf 60% als Minimum annehmen. Da die 


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Psychiatrie und Fürsorgeerziehung in Württemberg. 


481 


Erhebungen von nervöser Belastung nicht von ärztlicher Seite und von 
ärztlichen Gesichtspunkten ausgehend angestellt worden sind, so ist 
naturgemäß auf diese Komponente der Verbrechernatur kein besonders 
großer Wert gelegt worden. Die erbliche Belastung in krimineller 
Hinsicht dürfte sich schon mehr den tatsächlichen Verhältnissen 
nähern, obgleich auch hier einige Lücken vorliegen. Nur in 3 Fällen 
= 3,7% war Geistesstörung bei einem der Erzeuger vermerkt. 

Was die sozialen Verhältnisse betrifft, denen die 
Zöglinge entstammen, so sind in rund 75% dieselben in den Akten 
als „schlecht, traurig, trostlos“ und ähnlich charakterisiert; es handelt 
sich hierbei im wesentlichen um verbrecherische bzw. trunksüchtige 
Familienglieder und deren Leben und Treiben. Unter Berücksich¬ 
tigung der trunksüchtigen Erzeuger, sonstiger trunksüchtiger Um¬ 
gebung (Stief-, Pflegeeltern, Geschwister u. a. m.) sowie eigener 
Trunkliebe, muß bei 65% dem Alkohol eine verhäng¬ 
nisvolle, Verbrechen befördernde Wirkung zu¬ 
gestanden werden. 

Bei 7 Fürsorgezöglingen werden die häuslichen Verhältnisse als 
„geordnet“ bezeichnet; 5 mal werden die Eltern „ordentlich“ be¬ 
nannt, 4 mal heißt es ausdrücklich, daß die allein stehende Mutter 
trotz guten Willens „zu schwach“ zur Erziehung sei. In 3 Fällen be¬ 
standen ungünstige Verhältnisse insofern, als die Eltern teils krank, 
teils durch ihre Arbeit tagüber von Hause abwesend waren. 

Auf Groß-Stuttgart entfallen 34% unserer Zöglinge, 
während die übrigen sich ziemlich über das Land verteilen. Groß- 
Stuttgart, das etwa den achten Teil der Landesbevölkerung ausmacht, 
überragt also hier fast um das Dreifache. 

27% der Fürsorgezöglinge entstammen Handwerkerkreisen, 22% 
sind aus Taglöhnerfamilien hervorgegangen, 15% rekrutieren sich 
aus dem Fabrikarbeiterstande. Die übrigen 36% verteilen sich auf 
verschiedene Berufe, wovon streng genommen 10% eigentlich ohne 
festen Beruf sind. 

Von besonderem Interesse sind die Aufzeichnungen aus 
der Schule, welche ziemlich vollständig vorliegen. 

Was die Begabung im allgemeinen anbetrifft, so 
wird nach den vorliegenden Schulzeugnissen die „Fähigkeit“ bei 7 


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482 


Schott, 


als „gut“, bei 19 als „befriedigend“, bei 30 als „genügend“ und bei 
24 als „ungenügend bzw. schlecht“ geschätzt. 

Unter den Letzten, bzw. der Letzte saßen 28, 12 davon kamen 
mit ihren Altersgenossen überhaupt nicht mit. 

Es stehen also, nach dem Maßstabe der Schule gemessen, 35% 
unter dem Durchschnittmaß der Begabung. Wenn wir die Note 
„genügend“ als den Durchschnitt annehmen, so entfallen hierauf 
37,5%. Über den Durchschnitt erheben sich 26 bzw. 7 oder rund 
33% bzw. 9%. Von 9% („gut“) kann man jedenfalls sagen, daß 
sie ü b e r der Durchschnittbegabung stehen. Hinsichtlich der Durch* 
Schnittbegabung dürfte es richtiger sein, die Noten „befriedigend“ 
und „genügend“ zusammenzufassen, womit wir einen Prozentsatz 
von 61% erhalten. Letztere Zahl dürfte den tatsächlichen Verhält¬ 
nissen mehr entsprechen. 

Was die in den Akten aufgeführten Eigenschaften der 
Fürsorgezöglinge betrifft, so wäre darüber folgendes zu sagen: An 
der Spitze aller schlimmen Eigenschaften steht der Hang zum 
Stehlen; in nicht weniger als 64 Fällen = 80% liegen Eigen¬ 
tumsdelikte vor. Es stimmt diese Feststellung mit der bekannten 
kriminalistischen Erfahrung überein, daß der Diebstahl das weitaus 
vorherrschende Delikt der Jugendlichen ist. Bei 60% der Fürsorge¬ 
zöglinge wird die Neigung zum Lügen hervorgehoben und 
in einzelnen Fällen als „unglaublich“ bezeichnet. Ein unbezwing¬ 
barer bzw. ungezügelter Freiheitstrieb spricht 
aus der Erscheinung, daß 40 = 50% unserer Fürsorgezöglinge, sei 
es des öfteren „die Schule geschwänzt“, sei es einmal 
oder mehrfach aus „ihrer Lehrstelle entlaufen“ sind. 
Diese Eigenschaft erklärt auch die zahlreichen Entweichungen 
aus der Erziehungsanstalt. 

Diesen drei Charakterzügen gegenüber fallen die anderen in den 
Akten erwähnten schlechten Neigungen nicht so sehr in das Gewicht: 
meist finden sich natürlich mehrere derselben bei einem und demselben 
Individuum aufgeführt, wie z. B. „lügt, stiehlt, schwänzt Schule“ 
oder „frech, unfolgsam, arbeitscheu und diebisch“ u. a. m. 

An vierter Stelle kommt die F a u 1 h e i t bzw. Arbeitscheu, 
nämlich in 46%. 

Als frech werden 17, als widerspenstig bzw. unbotmäßig 16, 


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Psychiatrie und Fürsorgeerziehung in Württemberg. 


483 


als verschlagen 15, als leichtsinnig 9, als gleichgültig 8, als verschlossen 
7. als gutmütig und haltlos 5, als reizbar und gewalttätig je 4, als roh 
3 und als schüchtern 2 bezeichnet. 

Den Anlaß zur Einleitung der Fürsorge¬ 
erziehung bildeten in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle 
Straftaten, voran Eigentumsdelikte, nämlich in 61 Fällen. 
Wegen mehrfachen Weglaufens aus der Lehre wurden 6, wegen hart¬ 
näckigen Schulschwänzens 4 in Fürsorgeerziehung gegeben. Bettel 
und Landstreicherei haben 4, Sittlichkeitsverbrechen und Urkunden¬ 
fälschung je 2 und Körperverletzung 1 Zögling der Anstalt zugeführt. 
Bei 5 Fürsorgezöglingen lag außer Diebstahl noch Brandstiftung vor. 

Der Antrag auf Anordnung der Fürsorgeerziehung ging nur 
in den seltensten Fällen, nämlich in 9 = 11,2% von den Eltern aus. 

Vorbestraft bei der Einweisung in die Erziehungsanstalt 
waren 32%; wegen strafbarer Handlung in Untersuchung 
standen 58%. 

Bei 29 kriminellen Vorfahren fand sich 22 mal beim Nachfahre 
dasselbe Delikt. Bei krimineller Belastung von seiten beider Erzeuger 
überwog der Einfluß der Mutter. 

Bei der ärztlichen Untersuchung legten 16 ein 
schüchtern-verlegenes, 16 ein ruhiges und überlegtes, 9 ein freches, 
7 ein stumpfes, 16 ein verschlossenes und 16 ein munteres Wesen an 
den Tag. Nach dem Lieblingsfach in der Schule befragt, 
gaben 57 = 71% an, ein solches oder mehrere zu haben; 23 erklärten, 
kein Lieblingsfach zu besitzen. An der Spitze der Lieblings fächer 
stehen Geographie und Geschichte bei je 10, dann Rechnen 8, Zeichnen 
und Schönschreiben je 7, Lesen und Diktat je 4, Aufsatz 3, Singen 
und Auswendiglernen je 2. 

Befragt, ob sie einen Freund in der Anstalt besäßen, stellten 
dies 37 = 46,2% in Abrede. 

Auf körperlichem Gebiete sind zu erwähnen: Entartungs¬ 
zeichen bei 80%. Die Asymmetrie des Gesichtschädels war be¬ 
sonders häufig. Linkshänder waren 5 — 6,2%. Farbenstörung 
ließ sich in 2 Fällen nachweisen. Bettnässen bestand bei 10 = 12,5%; 
darunter befanden sich 4, welche auf Epilepsie verdächtig waren. 
Stottern wiesen 3 auf. Tätowierungen zeigten 8 = 10%, davon waren 
3 psychiatrisch verdächtig und 3 besonders kriminell veranlagt. In 

Zeitschrift für Psychiatrie LXTX. 4 34 


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484 


Schott, 


gegen 40% konnte eine Schwellung der Schilddrüse festgestellt werden, 
welche wohl mit der Entwicklung der geschlechtlichen Reife in Zu¬ 
sammenhang stehen dürfte. In nur 3 Fällen konnte von einer Struma 
gesprochen werden. Vasomotorisches Nachröten und mechanische 
Muskelerregbarkeit erwiesen sich in 60% lebhaft, davon in einem 
Drittel der Fälle entschieden gesteigert. Ein ähnliches Verhalten 
zeigten die Sehnenreflexe. Ein Drittel der Individuen war im Längen¬ 
wachstum gegenüber dem Durchschnitt ihres Lebensalters zurück. 

4 Individuen waren verdächtig auf Tuberkulose; bei 6 bestanden 
Erscheinungen einer Mittelohreiterung. Ausgesprochene Herzfehler 
kamen bei den untersuchten 80 Fürsorgezöglingen nicht zur Beob¬ 
achtung, ebensowenig Lues. 

Psychiatrisch verdächtige Fälle waren es 
19 = r u n d 2 4%; eine besondere kriminelle Anlage zeigten 12 

= 15 %. 

Unter den psychiatrisch verdächtigen Fällen befanden sich 7 mit 
dem Verdacht auf E p i 1 e p s i e. Bei keinem derselben bestanden 
ausgesprochene Krampfanfälle. Die Personalien derselben sind in 
Kürze: 

1. F. B. aus B., 15 J. alt, Schulschwänzer. Vater Trinker, Mutter 
Dirne. Zahlreiche Narben auf dem behaarten Kopf. Demographie, mecha¬ 
nische Muskelerregbarkeit und Sehnenreflexe erhöht. Periodische Ver¬ 
stimmungen. Nach dem Bericht des Inspektorats „ein schwieriger Knabe, 
der gute Tage und Wochen hat, aber der auf einmal wieder trotzig und 
unbotmäßig sein kann“. Degenerationszeichen. 

2. P. K. aus H., 14 J. alt, mehrfache Diebstähle begangen. Vater 
vorbestraft wegen Körperverletzung und Urkundenfälschung. Mutter zu 
nachgiebig, soll an „Krämpfen“ leiden. Im J. 1909 Kopfverletzung mit 
Bewußtlosigkeit und nachfolgender Wundeiterung. Druckempfindliche 
Narbe, öfteres Auftreten von Übelkeit. Ein Ohnmachtanfall in der 
Erziehunganstalt. Degenerationszeichen. 

3. G. R. aus B., 16 J. alt, Brandstiftung. Vater P., Stiefmutter 
Dirne. Drei Brüder ganz verkommen, „unsittlich, zündeln, stehlen und 
betrügen“. Bettnässer zeitweise. Starker sittlicher Defekt. Zuzeiten 
sehr erregbar; viel Kopfweh. Degenerationszeichen. 

4. A. L. aus H., 18 J. alt, Sittlichkeitsvergehen. Vater P., Mutter 
Dirne. Verschlagen und frech. Verdacht auf Tb. Reflexe, vasomotorisches 
Nachröten und mechanische Muskelerregbarkeit gesteigert. Zeitweise 
mürrisches und gereiztes Wesen. Viel Kopfweh. Bettnässen. „Ohn¬ 
machtanfälle“. Degenerationszeichen. Tätowierung. 


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5. P. \L aus M.. 19 J. alt. Raub und Diebstahl i. R. Vater P., Mutter 
geistig schwach, f. Lügt und betrügt, stiehlt und ist roh. Periodisch 
mürrisch-aufgeregtes Wesen. Fünfmal in diesen Zeiten aus der Anstalt 
entwichen. Erhöhte Reilexerregbarkeit. R. Schilddrüsenlappen vergrößert. 
Trigeminuspunkte I u. II L druckempfindlich. Zeitweises Bettnüssen. 
Mehrfache Tätowierungen. 

6. G. R. aus M-. 16 J. alt, Diebstahl. Eltern ordentlich. Zeitweise 
Schwindelgefühl mit Erbrechen. Gesteigerte Reflexerregbarkeit. Zeiten 
mürrischer Verstimmung. Gelegentliches Einnässen. Degeneration; - 
seichen. 

7. F. Zw. aus L.. 17 J. alt. Diebstahl. Stiefmutter P. und Unzucht. 
Zwei Schwestern sittlich verkommen. Schlechter Schüler. Narben am 
Kopf. Ausgesprochene Verstimmungen reizbaren Charakters. Ab und 
zu Klagen über Kopfweh. Otitis med. 1. Zeitweises Einnässen. Reflex¬ 
erregbarbeit erhöht. Entartungszeichen. 

In 6 weiteren Fällen besteht ein Schwachsinn mittleren 
Grades. 4 Fürsoigezöglinge sind starke Psychopathen, 
darunter 1 mit homosexuellen Neigungen. 

Bei einem Fall besteht Verdacht auf eine organische Ge¬ 
hirne r kr ankung: 

J. N. aus H., 17 J. alt. Diebstahl. Vater P., vorbestraft. Faul 
und unbotmäßig, lügnerisch und heimtückisch; bedroht und mißhandelt 
die Mutter. Schlechter Schüler gewesen. Doppelts. Otitis med. purul. 
Strabismus diverg. 1. R. Pupille stark erweitert und von geringer Reak¬ 
tion. Konsensuelle Reaktion von R. nach L. gut, von L. nach R. wenig. 
Puls verlangsamt und gespannt. Reflexsteigerung. Zeitweises Schwindel¬ 
gefühl. 

In 1 Fall wurde das Vorhandensein einer manisch-depres¬ 
siven Anlage angenommen. 

Es handelt sich hierbei um einen 14jähr. Knaben, E. S. aus R. 
Diebstahl. Vater P. Wenig begabt. Sehr wechselnd in Stimmung und 
Leistungfähigkeit. „Oft könnte ich in der Schule der Erste werden, 
ein anderes Mal weiß ich wieder fast gar nichts.“ Mehrfache Degenerations- 
zeichen. Lebhafte Reflexe. Bald träumt der Knabe vor sich hin, bald 
ist er heiter und gesprächig. 

12 Individuen =16% der Gesamtzahl zeigen 
eine beson ders ausgesprochene kriminelle.An- 

l *g«. 

1. W. B. aus L., 10 J. alt, EinbruchsdiebstahL Vater wegen Betteins 
vorbestraft, Mutter mehrfach wegen Diebstahls und Hehlerei bestraft, 
gilt für händel- und streitsüchtig. Der Lehrer äußert sich über B. wie 
folgt: B. ist ein in jeder Beziehung durchaus verwahrloster, verdorbener 

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Schott, 


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und roher Mensch; lügt, betrügt und stiehlt, quält Menschen und Tiere, 
schwänzt die Schule und hat selbst dem Lehrer schon mit Erschießen 
gedroht. Hang zum Diebstahl außerordentlich stark entwickelt. Schul¬ 
zeugnis: Fähigkeit befriedigend — Betragen ungenügend — Fleiß unge¬ 
nügend — Kenntnisse ungenügend — 58/58. 

Die Anstaltleitung berichtet über den Zögling: B. ist ein Knabe 
von ungewöhnlicher Verdorbenheit und schwieriger Charakteranlage . . . 
Der Knabe ist so lügenhaft, verschlagen, heuchlerisch, boshaft und diebisch, 
daß es ganz unmöglich erscheint, ihn in einer Familie vor Ausschreitungen 
zu bewahren. Die Fortsetzung der Anstaltzucht ist unbedingtes Er¬ 
fordernis. 

Noch nicht konfirmiert. Körperlich außer Entartungszeichen und 
erhöhter Reflexerregbarkeit nichts Besonderes. Orientiert, Stimmung 
vergnügt. Kenntnisse gering. Gesteht seine Straftaten unumwunden ein. 
Keine Reue. 

2. K. C. aus H., 16 J. alt; Diebstähle, Unterschlagungen und Ur¬ 
kundenfälschung. Familie sittlich tiefstehend, Kinder werden zum Betteln 
angehalten. Vater vorbestraft. Mutter hat uneheliche Kinder. Bei der 
Untersuchung albernes Wesen. Keine Organerkrankung. Residuen über¬ 
standener Rachitis. Entartungszeichen und Tätowierung. Urteilskraft 
gering. Sittliche Vorstellungen oberflächlich. Schlechter Schüler, dürftige 
Schulkenntnisse. 

3. K. E. aus L., 14 J. alt, wiederholt gerichtlich bestraft (Mund 
raub, Sachbeschädigung, Diebstahl). Vater arbeitscheu und trunkliebend. 
Nach Auskunft des Lehrers gut begabt, aber faul und frech; lügt, betrügt 
und stiehlt, wegen Tierquälerei angezeigt, Fähigkeit genügend, Betragen 
ungenügend, Fleiß befriedigend, Kenntnisse ungenügend — 57/58. Bei 
der Untersuchung ist das Verhalten auffällig ruhig und sicher. Der Blick 
hat etwas Lauerndes und wird meist gesenkt gehalten. Residuen von 
Rachitis. L. otitis med. chron. Reflexe lebhaft. Mehrfache Entartungs¬ 
zeichen. Schulkenntnisse ordentlich. Beschönigt seine Handlungen nicht. 
Keine Reue. Er macht einen sozial recht ungünstigen Eindruck; hat bis 
jetzt in der Anstalt sich ordentlich geführt. 

4. A. F. aus H., unehelich geb., 10 J. alt. Diebstahl. Mutter steht 
in schlechtem Ruf. Nach Angabe des Lehrers ist p. F. verschlossen, 
hinterlistig, unter Aufsicht duckmäuserisch, ohne solche ausgelassen, 
lügnerisch. Fleiß gering, doch nicht faul. Kenntnisse gering — 55/57. 
p. F. befand sich zuerst in der Anstalt Stammheim, wurde aber wegen 
fortgesetzter Diebereien in die Anstalt Schoenbühl versetzt. Bei der 
Untersuchung scheues, ängstliches Wesen. Antworten erfolgen zögernd. 
Blasses Aussehen, mürrisch-verdrießlicher Gesichtsausdruck. Verdacht 
auf Tb. Lebhafte Reflexe. Mehrfache Entartungszeichen. Orientiert. 
Antworten zutreffend. Klagt über Schmerzen in der Herzgegend und gibt 
noch von sich aus an, er habe Zeiten, wo es ihm so schwer ums Herz sei. 


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zu anderen Zeiten fühle er sich leichter. Beschönigt seine Handlungen 
nicht. Reue nicht zu erkennen. 

5. P. G. aus O., 17 J. alt, 5mal wegen Betteins bestraft; Vater 
wegen Körperverletzung 2mal bestraft, hat sich an P. G. des öfteren ver¬ 
griffen. Nicht unbegabt. Zu wiederholten Malen seinem Lehrherrn ent¬ 
laufen und sich arbeitlos und bettelnd in Württemberg und Bayern herum - 
getrieben. Bei der Untersuchung gewandtes Auftreten, etwas Lauerndes 
im Blick. Körperlich kein krankhafter Befund. Feine Gesichtszüge. 
Vollständiges Gebiß. Tätowierung. Entartungszeichen. Orientiert. Ant¬ 
worten prompt und zutreffend. Schulkenntnisse befriedigend. Sittlicher 
Tiefstand. 

6. K. H. aus K., unehel., 18 J. alt, Unterschlagung und Betrug. 
Mutter ist gut prädiziert, hat selbst den Antrag gestellt. Das Pfarramt 
bezeichnet den p. H. als einen abnorm veranlagten, zu allem 
Unfug aufgelegten, mit gewöhnlichen Mitteln nicht zu bändigenden 
Schlingel. Der Klassenlehrer hat den Eindruck erhalten, daß K. H. ein 
durchaus verlogener, zu allen Verstellungen fähiger Mensch sei, der durch 
die Zuchtmittel der Schule und des Elternhauses auf den Weg der Ordnung 
nicht gebracht werden könne und namentlich einen unüberwindlichen 
Hang zum Vagabundieren zeige. Bei der Untersuchung langsam und wort¬ 
karg, stottert etwas. Gehör und Gesicht gut. Reflexe erhöht. Links. 
Kopfweh soll zeitweise bestehen. Mehrfache Entartungszeichen. Blick 
dauernd zu Boden gesenkt. Wesen scheu, unaufrichtig. Orientiert. 
Antworten zutreffend. Kentnisse gering, ebenso das sittliche Empfinden. 

7. W. J. aus S., 14 J. alt, Diebstahl. Häusliche Verhältnisse so 
zerfahren, daß eine Besserung durch die Eltern ausgeschlossen erscheint, 
zumal der Vater als Reisender häufig auswärts ist. Der Lehrer urteilt 
wie folgt: W. J. ist durch das Lesen von Indianerbüchlein verwildert, 
*r nahm an einer Verbrecherbande teil. Seiner Mutter hat er Geld unter¬ 
schlagen; später war er bei einem Onkel im Laden unehrlich, dann in 
einer Lehrstelle. Ein Bruder von ihm ist Lehrer; seine Geschwister sind 
wohlerzogen. Häufige Schulversäumnisse gehabt, gefälschte Briefe ge¬ 
schrieben. Aus dem Konfirmationsunterricht ausgewiesen. Bei der Unter¬ 
suchung ruhiges, sicheres Benehmen. Antworten erfolgen prompt. Geistig 
lebhaft. Befriedigende Schulkenntnisse. Körperlich nichts Besonderes 
mit Ausnahme mehrfacher Entartungszeichen. Geringes sittliches 
Empfinden, macht einen sozial recht ungünstigen Eindruck. 

8. B. K. aus L., 13 J. alt, Raub und mehrfach Diebstahl. Vater f. 
Mutter wird nicht mehr fertig mit ihm. Sie äußerst sich über ihren Sohn, 
wie folgt: Mein Sohn lügt gern, folgt mir nicht, geht trotz Ermahnung 
nicht mehr in den Knabenhort. Der Lehrer bezeichnet Iv. als ein Ärgernis 
und schlimmes Beispiel für seine Mitschüler; seit der Sommervakanz 1909 
ist er ein unverbesserlicher Schulschwänzer, ein frecher, trotziger Bursche 
mit einer vielleicht vom Vater angeborenen Neigung zu Roheiten und 


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Ausschweifungen. Begabung gut, Fleiß in jüngster Zeit unbefriedigend, 
früher befriedigend. Betragen ungenügend — 34/53. In früheren Jahren 
war K. ein ordentlicher Schüler, kam später in schlechte Gesellschaft. 
Während der Untersuchung häufl g lachend und kichernd. Blasses Aus¬ 
sehen, unruhiger und mißtrauischer Blick. Leicht hydrozephaler Schädel; 
linkshändig; lebhafte Reflexe; mehrfache Entartungszeichen. Antworten 
prompt und zutreffend. Orientiert. Ordentliche Kenntnisse. Beschönigt 
nicht. Geringes sittliches Empfinden. Gebahren sozial ungünstig. 

9. F. K. aus S., 17 J. alt, Diebstahl. Vater hitzig und jähzornig. 
Eltern selbst haben den Antrag gestellt, da ihr Sohn ein Tunichtgut sei, 
mit dem sie nicht mehr fertig werden. Der Lehrer gibt folgende Charak¬ 
teristik; Verhalten ganz ungenügend, frech, lügnerisch, vollständig ver¬ 
lottert; hat durch seine Unarten fortwährend dqp Unterricht gestört und 
sich nichts sagen lassen. Sein früherer Lehrmeister mußte ihn wegen 
seines bösartigen, herausfordernden und losen Wesens aus der Lehre ent¬ 
lassen; auch aus einer anderen Stelle wurde K. wegen Frechheit und 
Unbrauchbarkeit fortgeschickt. Wiederholt schon mit Dirnen geschlecht¬ 
lich verkehrt. Seinen Eltern Geld gestohlen. Bei der Untersuchung freches 
Wesen. Antworten prompt. Robuster Körperbau. Lebhafte Reflexe. 
Keine Organerkrankung. Mehrfache Entartungszeichen. Schulkenntnisse 
befriedigend. Will Chauffeur werden und trinkt am liebsten Sekt! Sozial¬ 
prognose schlecht. Keinerlei sittliche Hemmungsvorstellungen. 

40. A. K. aus L., 46 J. alt, mehrfache Diebstähle. Vater Potator, 
mehrfach bestraft. Mutter wegen Diebstahls und Nachtruhestörung 
bestraft. Eltern sind mit der Fürsorgeerziehung einverstanden; ihr Sohn 
sei faul und arbeitscheu, habe schon dreimal die elterliche Wohnung 
verlassen und sich tageweise und die Nacht über umhergetrieben, in einer 
Badeanstalt Kleider und Schuhe gestohlen. Das Stadtpfarramt hat den 
Antrag auf F.E. gestellt und begründet wie folgt: K. ist ein Schwachbe¬ 
gabter, übelgearteter Knabe, der unmittelbar nach seiner Schulentlassung, 
noch vor der Konfirmation, zu vagabondieren angefangen hat. Seinen 
Eltern hat er Geld gestohlen und seine Lehrstelle verlassen. Der Lehrer 
bezeichnet ihn als faul und gleichgültig. Während der Untersuchung 
lebhaftes, etwas freches Wesen. Antworten prompt und zutreffend. Schul¬ 
kenntnisse mäßig. Orientiert. Beschönigt kaum; keine Reue. Reflex¬ 
erregbarkeit erhöht. Mehrfache Entartungszeichen. Mitunter links. 
Kopfweh. Gehör und Gesicht gut. Nur oberflächlich haftende sittliche 
Vorstellungen. 

44. W. S. aus B., 47 J. alt, unehel., Diebstahl. Unterschlagung und 
Hehlerei. Mutter nervenleidend, ein Bruder epileptisch. Das Pfarramt 
bezeugt, daß der Knabe schon während der Schulzeit üble Eigenschaften 
zeigte; Trotz, Frechheit, Bummelei. Die Mutter hat ihm immer sehr den 
Kopf gehalten. Er trieb sich viel in verrufenen Wirtschaften umher. 
Bei der Untersuchung ruhig und sicher, räumt seine Straftaten in aller 


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Psychiatrie und Fürsorgeerziehung in Württemberg. 


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Seelenruhe ein, zeigt keine Reue. Kenntnisse mäßig. Sittliches Empfinden 
schwach. Urteilskraft beschränkt. Orientiert. Keine Organerkrankung. 
Reflexe lebhaft. Mehrfache Entartungzeichen. Sozialprognose: schlecht. 

12. H. W. aus T.,14 J. alt, Einbruchdiebstahl. Vater Trinker und 
Blutschänder. Schwester leichtsinnig. Mutter zu schwach zur Erziehung. 
Gemeindewaisenrat gibt an: traurige Familienverhältnisse; seltene Ge¬ 
riebenheit und ganz erstaunliche Lügenhaftigkeit. Der Lehrer äußert 
sich über W., daß er schmutzig und in zerrissenen Kleidern zu spät in 
die Schule kommt und dieselbe oft versäumt. Boten fanden ihn singend 
an der Hecke liegen. Gering begabt und faul, der Letzte unter 68. Strafen 
fruchten nichts. W. ist eigensinnig und trotzig, manchmal unbotmäßig. 
Bei der Untersuchung weinerliches Benehmen, daneben hat sein Wesen 
etwas Verstecktes und Unaufrichtiges. Keine Organ er krankung. Reflexe 
lebhaft. Schulkenntnisse gering. Orientiert. Mehrfache Entartungs¬ 
zeichen. Geringe Urteilskraft und sittliche Entwicklung. Haltlos und 
leicht beeinflußbar. 

Es unterliegt keinem Zweifel, daß es sich bei diesen stark kri¬ 
minell Veranlagten größtenteils um erhebliche Psychopathen handelt, 
von denen nicht wenige zu den leichteren Formen des Schwachsinns 
gehören. Was vor allem in die Augen springt, ist ihre sittliche Defek- 
tuosität und moralische Frigidität. Diese beiden Eigenschaften haben 
ja zur Aufstellung des Symptomenkomplexes der „moral Insanity“ 
geführt und die Charakteristik des geborenen Verbrechers, des delin- 
qnente nato, begründet. Über die Berechtigung zur Aufstellung 
eines besonderen Krankheitbildes aus diesen Charaktereigenschaften 
ist viel geschrieben und gestritten worden. Wertvoller als diese theo¬ 
retischen Ausführungen ist das tatsächliche Vorherrschen dieser 
Züge bei schwer kriminell Veranlagten. Von weitgehender praktischer 
Bedeutung ist fernerhin der Umstand, daß diese Individuen es waren, 
welche Psychiatrie und Rechtspflege bald entzweit, bald zusammen¬ 
geführt haben. Nachdem sich der Furor psychiatricus auf diese Indi¬ 
viduen geworfen und sie der rächenden Hand des Richters zu ent¬ 
ziehen gesucht hatte, tauchte bald die bittere Erkenntnis auf, welche 
die Worte charakterisieren: „Die Geister, die ich rief, werd’ ich nicht 
mehr los“. Jetzt haben sich die Wogen der gegenseitigen Erregung ge¬ 
legt, und ruhige Erwägung, gepaart mit wechselseitiger Wertschätzung, 
verspricht für die Zukunft Ersprießliches. Als äußeres Zeichen der 
Zusammenarbeit ist der Vorentwurf zu einem deutschen Strafgesetz¬ 
buch zu begrüßen; hoffentlich wird es auch gelingen, die praktischen 
Schlußfolgerungen in befriedigender Weise zu ziehen. 


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Wenn wir auch zugeben, daß 60—70% der Fürsorgezöglinge 
Psychopathen sind, und daß etwa 40% unter dem Durchschnitt der 
Begabung stehen, so ist es deshalb durchaus nicht nötig, daß alle 
diese Individuen ausschließlich irrenärztlicher Behandlung bedürfen. 
Die Rettungsanstalten Württembergs mögen weiterhin ihre schwere 
Aufgabe mit anerkennenswerter Geduld und Hingabe bewältigen. Die 
geringe Größe der einzelnen Anstalten bringt mehr Vor- als Nachteile. 
Gerade die Schwierigkeit der erzieherischen Tätigkeit erfordert es. 
daß der Leiter der Anstalt in der Lage is f , das einzelne Individuum 
genau kennen zu lernen und sich dessen Vertrauen durch Fürsorge 
und Verständnis zu erwerben und zu erhalten. 

Wenn wir vom Juristen und Erzieher verlangen, daß er in die 
Grundzüge der Psychiatrie einen Einblick besitzt, welcher ihn befähigt, 
rechtzeitig den Psychiater zu Rate zu ziehen, so erfordert es die Billig¬ 
keit, zu erwarten, daß auch der Irrenarzt sich mit Kriminalistik und 
Kriminalanthropologie, mit Pädagogik und Heilpädagogik insoweit 
vertraut macht, um der Gegenseite mit ihrem Wirken und Streben 
gerecht werden zu können. Die bedeutungvolle Auf¬ 
gabe, welche so viele Probleme in sich schließt, 
kann nur von allen Beteiligten erfolgver¬ 
sprechend in Angriff genommen und gelöst 
werden. Wenn irgendwo, so gilt hier der Satz: 
in der Beschränkung zeigt sich der Meister 
— es gibt für alle genug zu tun. 

Was wir für Württemberg von irrenärztlicher Seite wünschen 
würden, wäre: 

1. Die Möglichkeit, das gesamte Fürsorgezöglingsmaterial 
psychiatrisch durchuntersuchen und im Auge behalten zu können; 

2. die Einrichtung von psychiatrischen Einführungs- und 
Fortbildungskursen für das Erziehungspersonal der Rettungs- 
anstalten; 

3. Kriminalistische Einführungs- und Fortbildungskurse, ge¬ 
leitet von Strafvollzugbeamten und Strafanstaltärzten gemein- 
s a m für Juristen, beamtete Ärzte und die Vorstände der Rettungs¬ 
anstalten; 

4. die Schaffung einer unter psychiatrischer Leitung stehenden 
Beobachtungsabteilung für Fürsorgezöglinge beiderlei Geschlechts 


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Psychiatrie und Fürsorgeerziehung in Württemberg. 


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Meine Darlegungen haben zur Genüge bewiesen, wieviel au! dem 
Gebiete der Fürsorgeerziehung zu tun ist. Diese Arbeit wird nur ge¬ 
lingen, wenn alles herbeigezogen wird, was dazu beiträgt, das Er¬ 
ziehungsobjekt nach allen Richtungen hin zu erkennen und verstehen 
zu lernen. Der Schutz der Allgemeinheit und das Wohl des Staates 
erheischen gebieterisch, die Ursachen des sittlichen Niederganges mit 
allen uns zu Gebote stehenden Mitteln zu bekämpfen! 

Literatur. 

1. Dr. jur. Schneider, Die Fürsorgeerziehung Minderjähriger in Württem¬ 

berg. Stuttgart 1909. J. B. Metzlersche Buchhandlung. 

2. Finanzrat Dr. Schott, Statistik über die Zwangserziehung Minder¬ 

jähriger in Württemberg. Württ. Jahrbücher Jg. 1905. 

3. Derselbe, Die Fürsorgeerziehung Minderjähriger in Württembrg im 

Rechnungsjahr 1909. Mitt. des Kgl. Statist. Landesamts. Nr.2 
vom 28. I. 1911. 

4. Statistik über die Erfolge der Fürsorgeerziehung usw. Kgl. Ministerium 

des Innern. Rawitsch 1911. 

5. Landsberg, Das Recht der Zwangs- und Fürsorgeerziehung. Berlin 

und Leipzig 1908. 

6. Mönkemöller, Psychiatrisches aus der Zwangserziehungsanstalt. Allg. 

Ztschr. f. Psych. Bd. 56. 

7. Laquer, Mitwirkung des Arztes bei der Ausführung des preußischen 

Fürsorgegesetzes. Viertelj. f. gerichtl. Med. 3. Folge, Suppl. 11. 

8. See/ig-Herzberge, Psychiatrische Erfahrungen an Fürsorgezöglingen. 

Allg. Zeitschr. f. Psych. Bd. 63, 1906, S. 506. 

9. Kluge, Uber Wesen und Behandlung der geistig abnormen Fürsorge¬ 

zöglinge. Samml. d. Abhdlgen. a. d. Gebiete der pädagog. 
Psychologie und Physiologie. Berlin 1905. 

10. Tippe/-Kaiserswerth, Fürsorgeerziehung und Psychiatrie. Allg. Ztschr. 

f. Psych. Bd. 62, S. 583. 

11. Wilmanns, Das Landstreichertum, seine Verhütung und Bekämpfung. 

Monatsschr. f. Kriminalpsychol. 

12. Kluge, über die Mitwirkung des Psychiaters bei der Fürsorgeerziehung. 

Allg. Ztschr. f. Psych. Bd. 64, S. 473. 

13. Dr. CI. Neisser, Psychiatrische Gesichtspunkte in der Beurteilung der 

Fürsorgezöglinge. Halle a. S. Carl Marhold. 

14. E. Thoma, Untersuchung an Zwangszöglingen in Baden. Allg. Ztschr. 

f. Psych. Bd. 68, S. 699. 


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Beitrag za der Lehre vom Querulantenwahnsinn.*) 

Von 

Oberarzt Dr. Buder. 

Der Begriff der Paranoia als einer Krankheit sui generis ist unter 
dem Einfluß der KräpelimcAien Lehre mehr und mehr eingeengt 
worden. Der Querulantenwahnsinn, wie ihn Hitzig und Kräpdm 
definieren, galt aber noch immer als das Prototyp der chronischen 
Verrücktheit, und noch in der siebenten Auflage seines Lehrbuchs 
konnte Kräpdvn schreiben, der Querulantenwahnsinn sei diejenige 
klinische Form, deren Zugehörigkeit zur Paranoia am wenigsten 
umstritten sei. Das ist in den letzten Jahren anders geworden. Der 
Best der Paranoia, der nach Abspaltung der Kräpelinschen Dementia 
paranoides noch geblieben ist, droht sich zu verflüchtigen. 

Specht*) spricht der Paranoia die Daseinsberechtigung als selb¬ 
ständige Krankheit überhaupt ab und will sie als ein Zustandbild des 
manisch-melancholischen Irreseins aufgefaßt wissen. 
Maßgebend für diese Auffassung war für Specht gerade das Studium des 
Querulantenwahnsinns: nicht nur die Stimmungsanomalie, sondern das 
ganze Inventarium der Manie lasse sich beim Querulantenwahn fest - 
stellen. „Der Querulantenwahn verdient darum nicht den klinischen 
Namen Querulantenparanoia, sondern Querulantertmanie“. 

Zu einer wesentlich anderen Auffassung des Querulantenwahnsinns 
und seiner nosologischen Stellung kommen Heilbronner, Bonhöffer. 
Siefert, Wilmanns, Rüdin u. a. 

Heilbronner 3 ) will den Querulantenwahn von der Paranoia trennen. 
Die Unterscheidung Kräpelins zwischen echten Querulanten und Pseudo- 

*) Aus der K. Heilanstalt Winnental (Direktor Medizinalrat Dr. 
Kreuser .) 

*) Specht , Über die klinische Kardinalfrage der Paranoia. Gaupps 
Centralblatt 1908. 

*) Heilbronner, Hysterie und Querulantenwahn. Gaupps Central¬ 
blatt 1907. 


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Beitrag za der Lehre vom Querulanten Wahnsinn. 


493 


querulanten, von denen nur die ersteren zur Paranoia gerechnet werden, 
halt er nicht für stichhaltig. Nicht Verlauf und Ausgang, der mit Sicher* 
heit nie vorher gesagt werden könne, sondern Beginn und psychopatho- 
logische Entwicklung seien das Wesentliche; beim Paranoiker, zum min¬ 
desten in den für die Beurteilung wichtigen Beginnstadien, finde sich eine 
ganz diffuse, krankhafte Eigenbeziehung, beim Querulanten ein wirk¬ 
licher Beziehungswahn im Sinne einer überwertigen Idee. 

Beobachtungen, die in der Hauptsache an Strafgefangenen gemacht 
worden sind, haben zu der Auffassung des Querulantenwahns als einer 
Form der Entartung geführt. Nach Bonhöffer *) handelt es sich beim 
Querulantenwahn in den meisten Fallen lediglich um paranoische Episoden 
bei abnorm veranlagten Individuen, die infolge äußerer Verhältnisse 
entstanden sind und wieder verschwinden können. Sie stehen der Kräpelin- 
schen Paranoia im engsten Sinne nahe, sind aber doch nur als äußerlich 
ausgelöste Reaktionen eines paranoischen, zur Bildung überwertiger Ideen 
disponierten Temperaments zu betrachten. Einen ähnlichen Standpunkt 
vertritt Siefert *): der Querulantenwahn ist keine Erkrankung im eigent¬ 
lichen Wortsinn, sondern eine künstliche Bildung aus Artung und äußeren 
Umständen, wie sie das freie Leben nur selten, die Haft um so häufiger 
und in wechselnder Form hervorbringt. 

Wilmann8 *) 4 ) schließt sich dieser Auffassung an. Auch er hält den 
Querulantenwahnsinn nicht für eine endogene, aus inneren Ursachen 
heraus sich entwickelnde geistige Störung von unter allen Umständen 
progredientem Charakter, sondern für die durch ein affektbetontes Er¬ 
eignis bewirkte krankhafte Entwicklung einer bestimmten degenerativen 
Anlage. 

Ist es richtig, diese Anschauungen, die aus Beobachtungen an den 
vorwiegend degenerativen Insassen der Strafanstalten hervorgegangen 
sind, zu verallgemeinern ? Sind die Formen des freien Lebens und die der 
Strafhaft tatsächlich klinisch gleichwertig, sind jene die Entwicklung 
meist schwererer Grade der Entartung als diese, die das Resultat von Ent¬ 
artung und der Wirkung eines anerkannt schädlichen Milieus sind? Wil- 
manns selbst zweifelte an der Richtigkeit dieser seiner Ansicht, als er 
einen in der Freiheit erkrankten Querulanten beobachtete, bei dem sich 
im Laufe der Zeit neben einem gespreizt schrulligen Wesen und einer 
entschiedenen Abnahme der geistigen Regsamkeit Einschränkung der 
Interessen, Verlust jeder Neigung zu nutzbringender Tätigkeit, Abblassen 


*) Bonhöffer , Klinische Beiträge zur Lehre von den Degenerations- 
psychosen. Halle 1907. 

*) Siefert, über die Geistesstörungen in der Strafhaft. Halle 1907. 
*) Wilmanns, Gaupps Centralblatt 1907, S. 417. 

*) Derselbe, Zur klinischen Stellung der Paranoia. Gaupps Central¬ 
blatt 1910. 


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494 


Buder, 


der Beeinträchtigungsideen und eine Fülle von Größenideen und gleich 
sinnigen Erinnerungsfälschungen eingestellt hatte. Allein auf Grund von 
Beobachtungen, die Rüdin 1 ) mitgeteilt hat, daß nämlich bei zu 
lebenslänglichem Zuchthaus Verurteilten die Fälle von Querulantenwahn¬ 
sinn eine gleich ungünstige Entwicklung nehmen, wenn ihnen keine Ge¬ 
legenheit zur Heilung gegeben ist, weil die Schädigungen der Haft chro¬ 
nisch werden, hält Wilmanns doch an seiner Ansicht der Gleichwertigkeit 
solcher Fälle fest. 

Wir haben im Laufe der letzten Jahre einen Fall von Queru¬ 
lantenwahnsinn beobachten können, der gerade im Hinblick auf die 
eben skizzierte Frage nicht ohne Interesse ist. Mit Rücksicht auf den 
mir zur Verfügung stehenden Raum kann ich die sehr ausführliche 
Krankengeschichte nur im Auszug wiedergeben. 

P. K., geboren am 2. April 1861, ist erblich nicht belastet; als Kind 
soll er kränklich gewesen sein und an Gichtern gelitten haben; mit zwei 
Jahren habe er eine Gehirnentzündung durchgemacht. Er war ein mittel¬ 
guter Schüler und schon als Knabe nervös und reizbar: er hat einmal einem 
Lehrer, der ihn zu Unrecht geschlagen habe, ein Buch an den Kopf ge¬ 
worfen. Er litt längere Zeit an Bettnässen und einige Male an Nacht¬ 
wandeln; er habe viel an Kopfweh gelitten. Getrunken habe er wie andere 
auch. Sein ältester, bei der Aufnahme 12 Jahre alter Knabe leidet an 
Anfällen, in denen er bewußtlos vom Stuhle fällt. 

1896 fiel er von einem Baum 10 Meter hoch herab, war 10 Minuten 
bewußtlos; er war zw r ei Jahre lang nicht mehr recht arbeitfähig und bekam 
eine Unfallrente, die er auf Veranlassung seines Schultheißen verloren habe; 
dieser habe angegeben, daß er wieder alles arbeiten könne, was bewußt 
gelogen gewesen sei. Verklagt habe er den Schultheißen nicht, weil er 
gefürchtet habe, dann noch mehr gedrückt zu werden. Mit der Familie 
des Schultheißen stehe seine Familie schon lange in Streit. Seit er vor 
fünf Jahren bei einer Gemeinderatswahl gegen den Schultheißen agitiert 
habe, werde er von diesem überall gedrückt. 

Seit 1905 lebt K. in Streit mit seiner Nachbarin. Vor etwa 12 Jahren 
hatte er ein Haus mit einem Hofraum gekauft und den Hofraum als sein 
ausschließliches Eigentum betrachtet, bis es seiner Nachbarin einfiel. 
ein Wegerecht an diesem Hofraum geltend zu machen. Es kam darüber 
zu einem Prozeß, den K. verlor. Aus den gerichtlichen Akten geht hervor, 
daß nach den Kaufverträgen der Platz zwischen den beiden Häusern 
dem K. gehört, daß aber im Jahre 1841 der damalige Besitzer des Hauses 
des K. dem Besitzer des Nebenhauses erlaubt hat, durch den Zwischen¬ 
raum zu gehen. Das Gericht ließ es in seiner Entscheidung dahingestellt. 

*) Rüdin. Über die klinischen Formen der Seelenstörungen bei zu 
lebenslänglichem Zuchthaus Verurteilten. München 1909. 


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Beitrag zu der Lehre vom Querulantenwahnsinn. 


495 


ob der Raum zwischen den Häusern dem K. gehört, und ob das Recht 
des Durchgehens nur dem damaligen Nachbarn eingeräumt wurde. Es 
hat aber den Beweis durch verschiedene eidliche Aussagen als erbracht 
angesehen, daß in den letzten 30 Jahren der Zwischenraum öfter von den 
jeweiligen Nachbarn als Durchgang benutzt und damit ein Wegerecht 
ergangen worden sei. 

Daß ihm sein jahrelang unbestrittenes Eigentum nun plötzlich 
von Gerichts wegen nicht mehr unbeschränkt gehören sollte, daran konnten 
nur die Zeugen schuld sein, die samt dem Schultheißen Meineide geschworen 
hätten. K. verlor den Prozeß auch in der Berufungsinstanz. Als er die 
Zeugen wegen Meineid verklagen wollte, tat sein Rechtsanwalt nicht mehr 
mit, er wandte sich daher an Winkeladvokaten und wurde von der Staats¬ 
anwaltschaft abgewiesen und um 100 Mk. bestraft; noch zweimal wurde 
erbestraft, weil er nicht nachgeben wollte. Nun glaubte er, daß die Staats¬ 
anwaltschaft vom Amtsrichter beeinflußt sei; dieser habe es wohl bemerkt, 
»laß er ihm Unrecht getan habe, und wolle es jetzt verhüten, daß es auf- 
komme. Die Richter seien von vornherein gegen ihn eingenommen ge¬ 
wesen und hätten nur die Zeugen der Gegenpartei vernommen; deshalb 
habe sein Prozeß so ausgehen müssen. Weil er sein vermeintliches Recht 
nicht linden konnte, ging K. zum Justizminister. Weil dieser ihn damit 
begrüßt habe: „Sie sollen, scheint es, ein etwas mißtrauischer Mensch sein“, 
schloß er daraus, daß der Justizminister schon unterrichtet sei. Wahr¬ 
scheinlich sei der Schultheiß vor ihm beim Minister gewesen; auch alle 
Rechtsanwälte habe jener beeinflußt; beweisen könne er es nicht, aber 
er fühle es eben. K. ging zu einer ganzen Anzahl von Rechtsanwälten, die 
c eine Vertretung ablehnten; das habe seinen Grund darin, daß sie einen 
Verein, einen Bund miteinander hätten. Er habe auch gemerkt, daß sein 
Rechtsanwalt mit dem der Gegenpartei unter eine Decke stecke. 

Jetzt nahm K. seine Sache selber in die Hand, er machte Eingabe 
um Eingabe, weil er sicher gewußt habe, daß er im Recht sei. Es folgten 
Meineidsanzeigen an die Staatsanwaltschaft, an den Justizminister. 
1000 Mk. allein an Geldstrafen mußte K. bezahlen, im ganzen verlor er 
»■twa 6000 Mk. Er kam Zahlungsbefehlen nicht mehr nach und mußte 
gepfändet werden. Er verlor schließlich fast sein ganzes Hab und Gut, 
vernachlässigte Haus und Familie, schickte die Kinder nicht mehr zur 
fkhule und kam darüber auch mit seinem Pfarrer in Konflikt. 

Im Februar 1908 kam er von selbst in die psychiatrische Klinik T.; 
dort gab er an, krank zu sein, er könne nicht mehr recht arbeiten und 
wolle dafür ein Zeugnis. Mit diesem wolle er zum König und beweisen, 
daß das Gericht gegen ihn als kranken Mann unrecht vorgegangen sei. Wenn 
ihm niemand mehr helfe, wende er sich an den König oder werde katho¬ 
lisch und gehe zum Papste, weil ja der evangelische Pfarrer gegen ihn sei. 

Nach Hause zurückgekehrt, schloß er sich ein, weil die jungen 
Burschen des Orts ihm nachstellten. Da man jetzt nicht mehr an einer 


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496 


Buder, 


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geistigen Störung zweifelte, wurde er unter Anwendung von Zwangs¬ 
mitteln in die Anstalt gebracht (am 12. Mai 1908). 

Hier gab er zunächst nur ungern und kurz Auskunft über sein 
Schicksal; er beschwerte sich vor allem (und anscheinend nicht ganz mit 
Unrecht) über die Art seiner Behandlung im Bezirksirrenlokal; er erklärte, 
zu Unrecht in die Anstalt verbracht worden zu sein, und verweigerte anfangs 
hartnäckig die Nahrung: in der Anstalt wolle er nicht essen, zu Hause 
habe er genug zu essen. Später gab er an, er habe nichts gegessen, weil er 
geglaubt habe, daß er dann bälder wieder fortkomme; und wenn er einmal 
etwas sage, dann bleibe er auch dabei, e i n Wort von ihm sei wie tausend. 
Er mußte wochenlang mit der Sonde ernährt werden, bis er im Anschluß 
an einen Besuch seiner Frau wieder spontan Nahrung nahm. Er war 
immer zurückhaltend; auch über seine Prozeßangelegenheiten hat er erst 
auf Befragen Auskunft gegeben. In der Anstalt habe er gleich gemerkt, 
daß man es gut mit ihm meine. Er erzählte weiter, daß die Nachbarin 
einmal unter seinen Salat im Garten Gift getan habe, so daß seine ganze 
Familie an diesem Tag Erbrechen gehabt habe. Er beklagte sich auch 
hin und wieder, daß die Kranken seiner Umgebung ihm keine Ruhe ließen: 
wie er es auch mache, werde er verhöhnt. Einmal beschwerte er sich dar¬ 
über, daß er nicht auch, wie ein neben ihm liegender Katatoniker, mit 
der Sonde durchs linke Nasenloch ernährt werde, sondern durchs rechte. 
Ob auch Sinnestäuschungen vorhanden waren, ließ sich nicht sicher fest- 
stellen. Seine Stimmung war anfangs mehr weniger gereizt. Später wurde 
die Stimmung gleichmäßiger. Gegen die Ärzte war er immer freundlich 
und dankbar. Intelligenzdefekte ließen sich nicht nachweisen, ebenso 
wenig war von einer gemütlichen Stumpfheit etwas zu bemerken. 

Unbelehrbar und unerschütterlich hielt er aber daran fest, daß ihm 
Unrecht geschehen sei, auch als er am 4. November 1908 versuchweise 
nach Hause entlassen wurde. Anfangs schien es, als ob er sich Mühe gebe, 
wieder hochzukommen; bald aber dehnte er seine Verfolgungsideen weitei 
aus: der Vertrauensmann des Vereins für rekonvaleszente Geisteskranke, mit 
dessen Hilfe seine Verhältnisse geordnet werden sollten, wolle ihn um sein 
Vermögen bringen, der Pfarrer sei die Triebfeder, daß es seinen Kindern 
schlecht gehe. Die Stimmung wurde immer gereizter, so daß K., um 
Unheil zu vermeiden, am 4. Februar 1910 abermals in die Anstalt auf- 
genommen werden mußte, wo er sich seither befindet. 

Von selbst spricht er auch jetzt selten von seinen Beeinträchtigungs- 
ideen, die er aber bei jedem Anlaß mit mehr weniger starkem Affekt 
vorbringt. Sie bestehen unverändert fort, und er hat sie auch auf seine 
neue Umgebung übertragen, wenn sie auch nur gelegentlich geäußert 
werden; so ist er gegen den Direktor stark gereizt, weil der schuld daran 
sei, wenn seine Kinder verhungern; die Leute um ihn herum beobachten 
ihn, sprechen über ihn heimlich. Gerichtliche Zustellungen nimmt er nicht 
an, da er mit dem Gericht nichts zu tun habe. Das Testament der Mutter, 


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Beitrag zu der Lehre vom Querulantenwahnsinn. 497 

durch welches er zugunsten seiner Kinder enterbt wird, will er sich nicht 
gefallen lassen; dieses sei auch nur zustande gekommen, weil der Schult¬ 
heiß die Mutter betrogen habe; wenn er einmal entlassen werde, dann 
werde das Recht schon zutage treten; Tyrannen, göttliche und mensch¬ 
liche Erbteilfresser und Gottesverächter müssen sehen, daß Gott 
Richter ist. 

Neben diesen Verfolgungsideen werden seit seiner zweiten Auf¬ 
nahme aber auch phantastische Größenideen vielfach religiösen Inhalts 
geäußert und namentlich in seinen zahlreichen, umfangreichen Schrift¬ 
stücken in breiter Ausführlichkeit entwickelt. Er fühlt sich in besonderem 
Maße berufen zur Auslegung der Bibel, in der er eine Menge Beziehungen 
auf seine Person und seine Abstammung findet. Schon vor 30 Jahren 
sei ihm von einer Zigeunerin sein ganzes Leben vorausgesagt worden, 
er werde vor Gericht kommen, er werde noch der frömmste Mann und 
gehöre zum auserwählten Korps. Am Schluß werde ihm Glück auf Glück 
zuteil werden, gerade das Gegenteil des jetzigen Zustandes. Er habe die 
Gabe, alles vorauszusehen; schon sein Vater habe diese Gabe gehabt; 
es werden ihm Dinge eingegeben, die andern Tags wahr werden; auch 
das habe er voraxisgesehen, daß er wieder in die Anstalt müsse. Vor drei 
Tagen habe er die ganze Luft voll Menschengestalten gesehen, Milliarden 
von Geistern auf Pferden. Auch Stimmen höre er, vielerlei, namentlich 
wenn er sich mit keinem Gedanken gegen Gott oder Menschen verfehlt 
habe. Das seien keine Sinnestäuschungen, sondern göttliche Eingebungen. 
Auch die heilige Dreieinigkeit habe er in voller Klarheit gesehen. Wenn 
andere Leute so etwas nicht sehen oder hören, so liege das daran, daß 
es ihnen am rechten Glauben fehle. Er könne durch Naturkunde einen 
Blinden sehend und einen Taubstummen hörend und sprechend machen. 
Geisteskranke, die menschliche Weisheit bis dato noch blindlings als 
unheilbar erklärt, könne er heilen. Er habe eine geistige Wiedergeburt 
durchgemacht u. a. m. 

Intelligenzdefekte sind auch heute noch nicht nachzuweisen. Die 
Stimmung ist im allgemeinen gleichmäßig, wird aber gereizt und zorn¬ 
mütig, wenn er auf seine Beeinträchtigungsideen zu sprechen kommt. 
Zu einer nützlichen Tätigkeit hat er keinerlei Lust; sein Hauptinteresse 
konzentriert sich auf die Lektüre von Bibel und Gesangbuch. Aus dem 
körperlichen Befund ist nichts von Bedeutung hervorzuheben. 

Bemerkenswert ist, daß die, übrigens beschränkte, Ehefrau des K. 
ihren Mann nicht für krank hält; die Stimmen, die er hört, sind nach 
ihrer Ansicht keine Sinnestäuschungen, sondern Eingebungen von oben, 
Daß ihrem. Manne Unrecht geschehen ist, daß er von schlechten Menschen 
gedrückt worden ist, daß der Schultheiß daran schuld sei, daß es 
so gegangen ist, davon ist sie ebenso fest überzeugt, wie ihr 
Mann. Sie hat darüber die Erziehung ihrer Kinder derart ver¬ 
nachlässigt, daß Fürsorgeerziehung angeordnet werden mußte. 


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498 


Bader, 


Der Wert einer länger dauernden Beobachtung für die Beurteilung 
des mitgeteilten Falles liegt auf der Hand. Hätten wir den Kranken 
nach seiner Entlassung aus der Anstalt aus den Augen verloren, so 
wäre eine gegensätzliche Auffassung gegenüber der oben skizzierten 
Wümcmns nicht zu begründen gewesen. Der erste Beginn im Anschluß 
an den Entzug einer Unfallrente nach einer nicht unerheblichen 
Kopfverletzung, eine gewisse Besserung nach Entfernung aus dem 
schädlichen Milieu durch Aufnahme in die Anstalt, endlich die psy¬ 
chische Infektion der Ehefrau: lauter Züge in dem Krankheitsbild, 
in denen Wilmams eine Bestätigung seiner Anschauung sieht. 

Bei der zweiten Aufnahme aber hatte sich das Krankheitsbild 
wesentlich geändert: neben den Querulantenwahnsinn, ihn teilweise 
überwuchernd und zeitweise verdrängend, sind phantastische Größen - 
ideen besonders religiösen Inhalts und Sinnestäuschungen getreten. 
Intelligenzdefekte oder eine gemütliche Abstumpfung sind jetzt so 
wenig vorhanden, als früher. Eine gewisse Einengung seiner Interessen 
freilich ist nicht zu verkennen, was vielleicht doch schon den Beginn 
einer, geistigen Schwäche andeutet. Zu einer irgendwie nützlichen 
Beschäftigung ist K. nicht zu bewegen, daran ist auch die Absicht, 
wieder einen Versuch mit seiner Entlassung zu machen, gescheitert, 
weil er es ablehnte, draußen zu arbeiten; die ihn zu unrecht um Hab 
und Gut gebracht haben, sollen ihn auch jetzt erhalten. Zum Teil 
sind wohl die jetzt geäußerten Wahnvorstellungen schon während 
der ersten Aufnahme vorhanden gewesen, nur sind sie damals nicht 
in Erscheinung getreten; zum Teil scheint es sich dabei auch um 
Erinnerungsfälschungen zu handeln. 

Ich kann mir nun nicht vorstellen, daß eine derartige Entwick¬ 
lung mit phantastischen Größenideen und Sinnestäuschungen mit der 
Annahme einer psychologisch verständlichen krankhaften Entwicklung 
eines Psychopathen vereinbar sein soll. Um ihre Entstehung zu er¬ 
klären, kann doch wohl nicht die degenerative Anlage und ein affekt¬ 
betontes Ereignis genügen, selbst wenn, was bei K. nicht der Fall 
ist, ein schädigendes äußeres Milieu dazu käme. Vielmehr „spricht 
eine solche Beobachtung für die Existenz einer Form des Queru- 
lantenwahnsinns, die, von der heilbaren der Haft verschieden, ans 
inneren Ursachen fortschreitend zu einem eigenartigen Schwächezu¬ 
stand führt“ (Wümanns). Ist diese Annahme richtig, werden der- 


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Beitrag za der Lehre vom Querulantenwahnsinn. 


499 


artige Fälle von Querulanten Wahnsinn wie seither zur Paranoia ge¬ 
rechnet werden müssen. 

Man wird gegen diese Auffassung einwenden können, daß es 
sich im Fall K. nicht um echte Paranoia handle, sondern um Dementia 
paranoides. Nun ist es immerhin mißlich, gerade im gegenwärtigen 
Augenblick, wo wir in Erwartung des zweiten Bands seines Lehrbuchs 
Kröpelins neueste Ansicht noch nicht kennen, auf diese Frage ein¬ 
zugehen, zumal da Kröpelin selbst die Einordnung der Dementia 
paranoides in die Gruppe der Dementia praecox nur als eine vor¬ 
läufige bezeichnet hat. Aber soviel kann doch gesagt werden, daß 
der Fall K. durch seine Entwicklung wieder einmal die Schwierigkeit 
einer grundsätzlichen Trennung von Paranoia und Dementia para¬ 
noides aufs deutlichste zeigt. Im ersten Stadium der Definition der 
Kräpelin&chen Paranoia entsprechend (die Nahrungsverweigerung ist 
keine selbständige Willensstörung, kein katatonisches Symptom, 
sondern psychologisch erklärt), weist die zweite Phase, in der phan¬ 
tastische Wahnvorstellungen und zahlreiche Sinnestäuschungen das 
Krankheitbild beherrschen, die Merkmale der Dementia paranoides 
auf. Aber eine Demenz ist nicht vorhanden, wenn man nicht die 
phantastische Wahnbildung als ein Defektsymptom bezeichnen will. 
Solange wir kein allgemeines befriedigendes Einteilungsprinzip kennen, 
wird man auf die symptomatologische Beobachtungsweise nicht ganz 
verzichten können, und der mutmaßliche Verlauf und Endzustand, 
ein Produkt nicht bloß der pathologischen Affektion, sondern ebenso 
sehr der individuellen Veranlagung, wird nicht allein maßgebend 
für die systematische Stellung einer Psychose sein dürfen. Durchaus 
zutreffend erscheint Heilbronners Vorschlag, unter die Dementia para¬ 
noides nur diejenigen Fälle mehr oder weniger systematischer Wahn- 
bildung zu rechnen, bei denen von Anfang an Defektzustände 
auftreten, wie sich das bei den typischen Fällen der Dementia para¬ 
noides des Jugendalters tatsächlich zumeist feststellen läßt. 


Zeitschrift für Psychiatrie. LXIX. 4. 


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Statistische und klinische Beobachtungen über 
Veränderungen im Vorkommen und Verlauf der 
progressiven Paralyse in Elsaß-Lothringen 1 ). 

Von 

Oberarzt Dr. Hans Joachim. 

Die Frage, ob die progressive Paralyse im Laufe der letzten Jahr¬ 
zehnte in ihrem Vorkommen überhaupt, wie in ihrem Verlaufe einem 
Wandel unterlegen ist, ist in neuerer Zeit wiederholt aufgeworfen 
worden und von verschiedenen Autoren verschieden beantwortet 
worden. Und ebenso wie schon die Ansichten darüber auseinander¬ 
gehn, ob eine Zu- oder Abnahme der Paralyse stattgefunden hat, 
ebenso unterschiedlich sind auch die Angaben, ob und welche Ände¬ 
rungen in der Erscheinungsweise zur Beobachtung gelangt sind. 
Die Schwierigkeit, diese Fragen mit einiger Sicherheit zu beantworten, 
ist einmal dadurch gegeben, daß uns erst die letzten 20 Jahre eine 
überall gleichmäßige und stetige Diagnosestellung gebracht haben, 
so daß wir bei Kurvenschwankungen diagnostische Schwankungen 
ausschließen können, dann aber auch darin, daß das Interesse an 
dem weiteren Verlauf dieser Krankheit, soweit es wenigstens in den 
Krankengeschichten zum Ausdruck kommt, nach der definitiv ge¬ 
stellten Diagnose, dem Todesurteil des Patienten, in der Regel grade 
eine Zunahme nicht erfährt. Einige kurze Beispiele mögen das Für 
und Wider der gegebenen Antworten beleuchten. 

Eine ältere Statistik von Althaus läßt in dem langen Zeitraum von 
1838—1871 eine Steigerungder Zahl der Paralytiker in England 
von 12,61% auf 18,11% erkennen; Regis bekundet für französische 
Anstalten eine Zunahme um 33,3%. Und in Deutschland sprechen die 


*) Aus der elsässischen Bezirksanstalt Stephansfeld (Direktor 
Sanitätsrat Dr. Ransnhoff.) 


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Original fro-rri 

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Statistische and klinische Beobachtangen über Veränderungen usw. 501 


Zahlen der Berliner Charitö, der Anstalten Eberswalde, Deggendorf für 
ein Anwachsen der Erkrankungen an Paralyse. 

Ein entgegengesetztes Resultat ergeben dafür die Unter¬ 
suchungen Stewarts, Sommers für die Anstalt Allenberg, Eickholt für 
Grafenberg, Stark und Baer für Stephansfeld; andere (Sprengeler für 
Göttingen) können weder das eine noch das andere bestätigen; und während 
Kröpelin noch 1899 sagt, die Häufigkeit dieser Krankheit scheine ihm 
in stetiger Zunahme begriffen zu sein, äußert er sich 1910 dahin, daß 
eine gewisse Zunahme der Paralyse als sehr wahrscheinlich zu gelten habe, 
betont jedoch dabei, daß er aus den statistischen Angaben verschiedener 
Beobachter nicht ohne weiteres vergleichende Schlüsse ableiten möchte, 
und verweist darauf, daß die Aufstellung seiner Klinik sogar zu der 
trügerischen Annahme einer erheblichen Abnahme führen müßte. 

Ähnlich gehn auch die Angaben über eine eventuelle Änderung 
in dem Verlauf und der Erscheinungsweise der progressiven Paralyse 
auseinander. Das allmählich stärkere Überwiegen der dementen 
Form, das Zurücktreten der typischen expansiven und agitierten 
Form, das häufigere Vorkommen von Remissionen wird von den 
einen ( Mendel , Behr , Oberstemer ) mehr betont als von den andern 
(Kröpelin). Die von diesem konstatierte Abnahme der Anfälle fanden 
hingegen Behr und Obersteiner nicht bestätigt. 

Ein abschließendes Urteil mithin scheint über diese Seite der 
Krankheit, so sehr wir sonst über sie orientiert sind und unser Interesse 
anderen Gebieten zuzuwenden pflegen, noch nicht gewonnen zu sein. 
Und doch verdient sie gerade jetzt vielleicht eine größere Beachtung 
als früher, wo die Hauptursache der Paralyse, die Lues, Gegenstand 
einer neuen Behandlungsweise geworden ist, deren günstige Erfolge 
immerhin die Möglichkeit nicht von der Hand weisen lassen, daß 
auch die metaluischc Paralyse einst auf dieser Basis gewissen Än¬ 
derungen ihres Vorkommens und ihrer Erscheinungsweise unter¬ 
liegen könnte. Schon jetzt vor solcher Einwirkung vor sich gehende 
Wandlungen als vorhanden oder nicht vorhanden nachzuweisen und 
gegebenenfalls deren Richtlinien anzugeben, kann für einstige spätere 
Untersuchungen von Wert sein und es rechtfertigen, das große schon 
bearbeitete Paralysenmaterial noch zu vermehren. 

Die Aufgabe, die ich mir gestellt, derartige Untersuchungen 
unter den Paralysen von Elsaß-Lothringen vorzunehmen, fand ich 
erleichtert durch zwei frühere statistisch-klinische Arbeiten, die ähn¬ 
liche Zwecke verfolgten, es sind dies ein Vortrag des Direktors der 

35* 


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502 


Joachim, 


Anstalt Stephansfeld, Stark, „Zur Frage der Zunahme der progressiven 
Paralyse 4 ’ aus dem Jahre 1890 und die Arbeit von Baer „Die Para¬ 
lyse in Stephansfeld 44 aus dem Jahre 1900. Beide zusammen um¬ 
fassen zeitlich den Abschnitt von 1872—1900 und örtlich die Bezirke 
Unter- und Oberelsaß mit Ausschluß der Fälle, die in der Straßburger 
psychiatrischen Klinik Aufnahme fanden, ohne in die Anstalt Stephans¬ 
feld weiter zu gelangen. Diese, sowie die lothringischen Paralysen 
der Anstalt Saargemünd, die elsässischen aus den Jahren 1901-1910 
und endlich die oberelsässischen, die in den Jahren 1909 und 1910 
der neuen Anstalt Bufach zugeführt wurden, galt es hinzuzufügen 
und zu einem gemeinsamen Bilde zu vereinen. Dabei bin ich zur 
Beurteilung von etwa 1000 Krankengeschichten gelangt, aus denen 
ich 730 als sichere Fälle von progressiver Paralyse ausscheiden und 
einzeln verwerten konnte. Alle nicht einwandfreien Fälle habe 
ich nicht berücksichtigt. Für die sonstigen statistischen Berechnungen 
boten mir die Jahresberichte der Anstalten genügende Unterlagen. 

Im einzelnen möchte ich noch vorweg bemerken, daß ich auch 
die aus dem Ausland id est die nicht aus Elsaß-Lothringen erfolgten 
Aufnahmen in die Anstalten des Landes mitgezählt und verwertet 
habe, um einen Ausgleich zu schaffen für diejenigen eisaß-lothringischen 
Paralytiker, die außer Landes gegangen sind. Fenier werde ich die 
Resultate zunächst stets getrennt für die verschiedenen Aufnahme¬ 
bezirke geben, da sie nicht unerheblich voneinander abweichen und 
erst so auch die Erkennung feinerer Verschiebungen innerhalb des 
Landes ermöglichen. Und endlich sollen die eingefügten Tabellen 
einen schnellen Überblick gewinnen lassen. 

Wenn Obersteiner in seiner Monographie schreibt: „es lautet 
also die Anschauung vieler Anstaltsärzte der verschiedenen Länder 
dahin, daß die Paralyse in bedeutender Zunahme begriffen sei, 44 so 
sind zunächst die Zahlen, die uns die Anstalt Stephansfeld an die 
Hand gibt, doch von einigem Interesse. Sie umfassen die Jahre 1872 
bis 1910 und setzen sich aus Aufnahmen des Unterelsasses und Ober- 
elsaßes zusammen mit Ausschluß der in die Straßburger Klinik ge¬ 
kommenen und nicht überführten Paralysen, freilich nur bis zum 
Jahre 1908, doch habe ich in diesem Falle die Resultate aus der Anstalt 
Rufach (1909/10) zu den obigen hinzugeschlagen, um eine für beide Be¬ 
zirke fortlaufende Statistik zu erhalten. Gewissermaßen als historische 


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Statistische und klinische Beobachtungen über Veränderungen usw. 503 


Tabelle L 


Jahrg. 

Gesamtaufnahme 

Darunter 

Paralytiker 

% -Verhältnis der 
Paralytiker. 


M. 

Fr. 

S. 

M. 

Fr. 

S. 

M. 

Fr. 

S. 

1872 

92 

107 

199 

21 

2 

23 

22,8 

1,8 

11,5 

1873 

111 

114 

225 

17 

4 

21 

15,3 

3,5 

9,3 

1874 

75 

73 

148 

15 

4 

19 

20,6 

5,4 

12,8 

1875 

97 

81 

178 

21 

1 

22 

21,6 

1,2 

12,3 

1876 

92 

86 

178 

17 

4 

21 

18,3 

4,6 

11,7 

1877 

89 

84 

173 

21 

4 

25 

23,5 

4,7 

14,3 

1878/9 

123 

117 

240 

30 

7 

37 

24,3 

5,9 

15,4 

1879/80 

115 

97 

212 

17 

5 

22 

14,7 

54 

10,3 

1880/1 

123 

92 

215 

31 

11 

42 

25,2 

11,9 

19,5 

1881/2 

114 

90 

204 

27 

5 

32 

23,6 

5,5 

15,6 

1882/3 

103 

77 

180 

19 

4 

23 

18,4 

5,2 

12,7 

1883/4 

100 

94 

194 

22 

3 

25 

22,0 

3,1 

12,8 

1884/5 

106 

78 

184 

18 

1 

19 

16,9 

1,2 

13,2 

1885/6 

97 

95 

192 

17 

0 

17 

17,5 

— 

8,8 

1886/7 

114 

102 

216 

19 

5 

24 

16,6 

4,9 

11,1 

1887/8 

117 

117 

234 

7 

6 

13 

5,9 

5,0 

5,5 

1888/9 

92 

102 

194 

18 

2 

20 

19,5 

1,9 

10,3 

1889/90 

107 

95 

202 

20 

6 

26 

18,6 

6,3 

12,8 

1890/1 

126 

112 

238 

23 

3 

26 

18,2 

2,6 

10,9 

1891/2 

143 

132 

275 

21 

2 

23 

14,6 

1,5 

8,3 

1892/3 

136 

152 

288 

18 

7 

25 

13,2 

4,6 

8,6 

1893/4 

127 

109 

236 

18 

7 

25 

14,1 

6,4 

10,5 

1894/5 

139 

132 

271 

19 

9 

1 28 

13,6 

6,8 

10,3 

1895/6 

158 

150 

308 

17 

8 

! 25 

10,7 

5,3 

8,1 

1896/7 

179 

144 

323 

17 

8 

25 

9,5 

5,5 

7,7 

1897/8 

151 

126 

277 

17 

3 

20 

11,2 

2,3 

7,2 

1898/9 

157 

: 141 

298 

31 

9 

40 

19,1 

6,3 

13,5 

1899/00 

162 1 

' 147 

309 

25 

7 

32 

15,4 

j 4,8 

10,3 

1900/1 

156 | 

161 

317 

i 

39 

10 

49 

25,0 

6,2 

15,5 

1901/2 

176 ! 

165 

i 341 

20 

16 

36 

11,4 

9,7 

10,6 

1902/3 

189 

208 

397 

27 

19 

46 

14,2 

9,1 

11,6 

1903/04 

179 

210 

389 

23 

8 

31 

12,9 

3,8 

8,0 

1904/05 

193 

196 

3^9 

25 

8 

33 

12,9 

4.1 

8,5 

1905/06 

198 

| 214 

412 

26 

10 

36 

13,1 

4,7 

8,7 

1906/07 

230 

230 

460 

36 

10 

46 

15,6 

4,4 

10,0 

1907/08 

228 

271 

499 

22 

12 

34 

9,6 

4,4 

6,8 

1908/09 

230 

214 

444 

27 

16 

43 

11,6 

7,5 

9.7 

1909/10 

371 

307 

678 

46 

10 

56 

12,4 

5,6 

8,3 


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Gck igle 


Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 







504 


Joachim, 


Reminiszenz aber möchte ich drei Prozentzahlen aus der Zeit der ersten 
Stephansfelder Paralysediagnosen, aus den Jahren 1856, 57 und 59 
voranstellen, die ich Berichten Dagonets verdanke, der in dem Jahres¬ 
berichte von 1856 eine erste und zutreffende Schilderung der „Para- 
lysie gönörale“ gibt: Damals machten die Paralytiker 2,3%, 6,8% 
und 7,8% der Gesamtaufnahmen aus; selbstverständlich drückt 
dieses wachsende prozentuale Verhältnis wohl nur die wadisende 
diagnostische Erkenntnis aus, auch fallen unter den Begriff der pro¬ 
gressiven Paralyse damals wie auch noch geraume Zeit später andre 
organische Himerkrankungen. Und nun zu dem 38jährigen Zeitraum 
von 1872—1910. Wie es meist geschieht, habe ich der größeren Ver¬ 
gleichsmöglichkeit halber die Zahl der Paralytikeraufnahmen in Ver¬ 
hältnis gesetzt zur Zahl der Gesamtaufnabmen und folgende Tabelle 
für diese Zeit aufstellen können (1. Tab. I auf S. 503). 

Überblickt man diese Zahlen, so sieht man ohne weiteres, wie er¬ 
heblich die einzelnen aufeinanderfolgenden Jahrgänge voneinander ab¬ 
weichen und wie weit die Minima und Maxima voneinander gelegen 
sind. Wir begegnen bei den männlichen Paralysen 25,2% und 5,9% 
und bei den weiblichen 11,9% und 0%. Läge auch für die ersten 
beiden Dezennien noch die Möglichkeit vor, diese großen Schwan¬ 
kungen zu erklären durch solche der Diagnosenstellung, so kann 
das gleiche für die letzten beiden sicher nicht mehr in Betracht kommen, 
und die schon von Stark gegebene Begründung — sein Hinweis auf 
die wechselnde Intensität der wirkenden Ursachen und auslösenden 
Momente — erscheint mir durchaus plausibel Kehren nun auch 
Prozentzahlen aus den 70 er Jahren im neuen Jahrhundert wieder, 
so ist doch die Tendenz einer Abnahme ersichtlich. Eine zweite Tabelle, 
die den Durchschnitt von vier zusammengefaßten Zeitperioden wieder¬ 
gibt, läßt diese deutlich erkennen: 



M. 

Fr. 

Total 

1872—80/81 

20,7% 

4,9% 

12,8% 

1880/81—88/89 

18,4% 

4,3% 

12,1% 

1888/89—99/00 

14,8% 

4,5% 

9,6% 

1899/00—09/10 

13,5% 

5,5% 

9,5% 


Noch anschaulichergibt dies die Kurve I wieder (s. folgende S.). 
Die obere Kurvenlinie bezeichnet die Prozentzahlen der para¬ 
lytischen Männer, die untere die der paralytischen Frauen, die mittlere 


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Kurvn 


Statistische und klinische Beobachtungen über Veränderungen usw. 505 



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,-Verhältnis der Paralyse-Aufnahmen zu den Gesamtaufnahmen in Stephansfeld 1872—1910 (1909/10 + Rufach). 



















506 


Joachim, 


die beider Geschlechter zusammen. Die männliche Kurve ist zunächst 
die höherwertige, sie steigt und fällt rapider, aber s*e zeigt in ihrem 
ganzen Verlauf doch eine fallende Tendenz. Nicht so die weibliche 
Kurve. Sie bewegt sich in niederen Werten, zeigt geringere Schwan¬ 
kungen und hält sich im allgemeinen auf gleicher Höhe mit einer 
mäßigen Neigung im letzten Dezennium zu steigen. Tabellen und 
Kurven ergeben somit für den angezogenen Aufnahmebezirk, daß 
die Totalsumme und der Prozentsatz der paralytischen Männer ständig 
abgenommen hat, die Ziffer der paralytischen Frauen sich ziemlich 
gleichgeblieben und erst in den letzten 10 Jahren etwas gestiegen ist. 

Vergleichen wir damit die Zahlen, die uns der Aufnahmebezirk 
Lothringen gibt; seine Anstalt Saargemünd nimmt leider erst seit dem 
Jahre 1898 eine Trennung der progressiven Paralyse von einer para¬ 
lytischen senilen Gruppe vor und nur die Angaben Stössnm, die sich 
aber summarisch auf die Jahre 1887—1896 erstrecken, lassen das prozen¬ 
tuale Verhältnis der Paralytikeraufnahmen zu den Gesamtaufnahmen 
für diesen Zeitraum berechnen; es ergeben sich dabei die Zahlen 
18,9% für die Männer, 6,1% für die Frauen und 12,9% für beide 
Geschlechter zusammen. Ich lasse nunmehr die Zahlen folgen, wie 
ich sie für die Jahre 1898—1909 gefunden habe. 


Tabelle HL 


Jahrg. 

I. Gesamtaufn. 

M. Fr. , Tot. 

II. Paralyt. 
Aufn. 

M. | Fr., Tot. 

III. % -Aufnahme 
von II/I 

M. | Fr. ] Total 

1898 

83 

92 

175 

13 

1 

4 1 

17 

15,7 i 

4,4 

9,7 

1899 

90 

76 

166 

12 

2 , 

14 

13,3 j 

2,6 

8.4 

1900 

86 

78 

164 

16 

2 i 

18 

18,6 j 

2,8 

11,0 

1901 

108 

70 

178 

10 

4 

14 

9,3 ; 

5,7 

7.8 

1902 

109 

61 

170 

24 

2 j 

26 

22,0 i 

3,3 

15,3 

1903 

128 

87 

215 

24 

8 1 

32 

20,3 1 

9,2 

15,6 

1904 

100 

49 

149 

10 

2 

12 

10,0 ' 

4,1 

8.1 

1905 

113 

77 

190 

20 

2 

22 

i7,7 , 

2,6 

11,6 

1906 

97 

49 

146 

11 1 

: 1 

12 

11,3 

2,0 

! 8,2 

1907 

94 

70 

164 

17 

3 

20 

18,1 1 

4,3 

12,2 

1908 

101 

73 

174 

18 1 

** 

J ; 

25 

17,8 

9,6 

14,4 

1909 

107 

62 

169 

22 

1 

23 

20,6 | 

1,6 

13.6 


Auch die Saargemünder Prozentziffem schwanken zwischen den 
Extremen 9,3% und 22,0% bei den Männern und 1,6% und 9,6% 


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Statistische und klinische Beobachtungen über Veränderungen usw. ö07 


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Kurve II. 


08 09 00 01 OS 03 04 03 06 07 OS 09 10 



_ M. 

. Fr. 

-Tot. 

H—h ++ M. Stph. 


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508 


Joachi ni, 


bei den Frauen, und auch hier will ich zwei Jahrperioden einander 
gegenüberstellen: 



M. 

Fr. 

Total 

1898—1903 . . 

. . . 16,9 

4,8 

11,8 

1904—1909 . . 

. . . 16,0 

4,2 

11,5 


Eine wesentliche Verschiebung innerhalb dieser Zeit ist mithin 
nicht zu verzeichnen, wohl aber, wenn wir den gesamten Zeitraum 
mit den von Stössner gefundenen Werten vergleichen. 


M. Fr. Total 

1887/96 . 18,9% 6,1% 12,9% 

1898/09 . 16,2% 4,5% 11,6% 


Es ergibt sich dann, daß auch Lothringen einen Rückgang seiner 
Paralyseaufnahmen zu verzeichnen hat. Im Gegensatz zum Elsaß 
aber halten sich die Prozentziffera seiner männlichen Paralytiker, 
die in den 80er und 90er Jahren ungefähr mit den elsässischen Zahlen 
übereinstimmen, im neuen Jahrhundert auf größere Höhe wie diese, 
eine Erscheinung, die ich mir durch das Anwachsen der lothringischen 
Industriezentren zu erklären suche, worauf ich noch später zu sprechen 
komme. Diesen Unterschied veranschauliche ich durch eine Kurven¬ 
tabelle (II, auf voriger S.), in der einmal die lothringischen Zahlen 
eingezeichnet sind, dazu aber auch die Kurvenlinie der elsässischen 
männlichen Paralytiker des gleichen Zeitraumes. 

Wesentlich anders und nicht ohne weiteres vergleichbar sind 
endlich die Verhältnisse, wie sie uns die Straßburger Klinik bietet 
Der größte Teil aller Paralytiker des Elsasses (des Oberelsasses wenigstens 
bis zur Eröffnung der Anstalt Rufach) benutzt sie ja nur als Durch¬ 
gangstation und erscheint in den Prozentzahlen der Bezirksanstalten 
wieder. Um nun so eine doppelte Buchführung zu vermeiden, habe 
ich nur die Paralysen der Klinik gezählt, die nicht sofort oder später 
in unseren Landesanstalten Aufnahme fanden, also die, die in der 
Klinik starben, nach Haus entlassen wurden, ohne später in den 
Bezirksanstalten wieder aufzutauchen, und die, die in ausländische 
Anstalten überführt wurden; ihre Zahlen (B) habe ich dann auch nur 
in Verhältnis (C) setzen können zur Summe aller der Aufnahmen (A), 
die das gleiche Schicksal mit ihnen teilten. Auf diese Weise erhielt 
ich für die Straßburger Klinik folgende Ziffern: 


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Statistische und klinische Beobachtungen über Veränderungen usw. 509 


Tabelle IV. 


Jahrg. 

M. 

A 

Fr. 

| Tot. 

M. 

B 

Fr. 

Tot. 

M. 

C 

Fr. iTot. 

1897 

118 

142 

260 

11 

1 

12 

9,3 

0,7 

4,6 

1898 

125 

136 

261 

11 

1 

12 

8,8 

0,7 

4,6 

1899 

133 

136 

269 

16 

3 

19 

12,0 

2,2 

7,1 

1900 

148 

144 

292 

12 

2 

14 

8,0 

1,4 

4,8 

1901 

167 

173 

340 

8 

3 

11 

4,8 

1,7 

3,2 

1902 

153 

124 

277 

8 

4 

12 

5,2 

3,2 

4,3 

1903 

191 

143 

334 

10 

1 

11 

5,2 

0,7 

3,3 

1904 

207 

143 

350 

8 

2 

10 

3,9 

1,4 

2,9 

1905 

246 

200 

446 

13 

1 

14 

5,3 

0,5 

3,1 

1906 

255 

172 

427 

18 

0 

18 

7,1 

— 

4,2 

1907 

267 

267 

534 

17 

2 

19 

6,4 

0,7 

3,6 

1908 

272 

257 

529 

14 

5 

19 

5,1 

1,9 

3,6 

1909 

217 

242 

459 

6 

3 

9 

2,8 

1,2 

2,0 


Die Extreme liegen hier zwischen 2,8% und 12,0% bei den Männern 
und 0% und 3,2% bei den Frauen, also wesentlich niedriger als z. B. 
in Saargemünd. Doch möchte ich diesen Werten keine besondere 
Beachtung schenken, da die andersartige, aber notwendige Art ihrer 
Berechnung vergleichende Schlüsse nicht einfach erlaubt. Für den 
Unterschied möchte ich den Umstand verantwortlich machen, daß 
ja die wenigsten Paralysen nur Aufnahmen der Klinik bleiben, wäh end 
umgekehrt dies bei einem größeren Teil der übrigen Psychosen der 
Fall ist. Dies muß notwendigerweise auch in ihrem Verhältnisse 
zum Ausdruck kommen. 

Aber auch so läßt sich ein mäßiges Sinken desAufnahmeverhält- 
nimes feststellen. Durchschnittlich verhalten sich drei einzelne Jahr¬ 
perioden wie folgt: 


Tabelle V. 


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Jahrperiode 

M. 

Fr. 

Tot. 

1898—01 .... 

. 8,2% 

1,5% 

4,8% 

1902—05 .... 

4,9% 

1,3% 

3,3% 

1906—09 .... 

. 5,4% 

1,1% 

3,3% 

»y Google 



U 


Original fro-m 






510 


J oachim, 


Das gleiche zeigt auch die Kurventabelle: 

Kurve HI. 


98 M 00 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 



-M. 

-Fr. 

. Total 

Paralyt.-Aufn. in # / 0 der Gesamt-Auf d. 

So verschieden sich auch für unsre in Betracht kommenden 
Anstalten somit die Stärke der Abnahme verhält, die Tendenz zu 
einer solchen ist überall deutlich. Dies tritt am besten in Erscheinung, 
wenn ich durch Addition der einzelnen Zahlen mir eine Tabelle für 
ganz Elsaß-Lothringen aufstelle, die in Bücksicht au! die schon ge¬ 
machten Ausführungen keines besonderen Kommentars mehr bedarf: 


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Statistische und klinische Beobachtungen über Veränderungen usw. 511 


Tabelle VI. 


Jahrg. 

M. 

Fr. 

Jahrg. 

M. 

Fr. 

1898 

11,4% 

2,3% 

1904 

8,4% 

2,8% 

1899 

15,5% 

4,2% 

1905 

mm 

2,3% 


13,4% 

4,1% 

1906 

ESU 

2,5% 

1901 

13,2% 

5,6% 

1907 

11,8% 

i 2,6% 

1902 

11,9% 

6,3% 

1908 



1903 

12,2% | 

6,4% 

1909 

9,9% 

3,8% 


Die Durchschnittswerte für drei einzelne Jahrperioden lauten'dann: 

1898/1901 13,4% M. — 4,0% Fr. 

1902/1905 10,7% „ — 4,4% „ 

1906/1909 10,0% „ — 3,3% „ 

Und endlich soll eine Kurventabelle das Bild für ganz Elsaß- 
Lothringen vervollständigen: 

Kurve IV. 

98 99 DO 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 

20 

19 

18 

17 

16 

15 

14 

13 

12 

11 

10 

9 

8 

7 

6 

5 

4 

3 

2 

1 

0 



o 

i 

to 

s 


£ 


tu 

+ 

+ 

+ 

+ 


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512 


Joachim, 


Hier zeigt die obere Kurvenlinie durch ihr langsames Fallen 
die allmähliche Abnahme der Paralytikeraufnahmen männlichen 
Geschlechts, die rote untere läßt erkennen, daß die weiblichen Para¬ 
lysen sich ziemlich auf gleicher Höhe halten, zum mindesten aber keine 
Zunahme erfahren. Es ist somit für das Reichsland erwiesen, daß 
des Prozentsatz der an Paralyse erkrankten Männer allmählich abge¬ 
nommen, der der Frauen weder nennenswert zu- noch abgenommen hat. 

Dieses letztere Ergebnis, die Häufigkeit weiblicher Paralyse 
betreffend, ist insofern interessant, als es sich nicht ganz mit den 
Resultaten anderer Untersuchungen deckt. Eine große Reihe von 
Autoren spricht von einer Zunahme der weiblichen Paralyse und 
folgert sie aus der Verschiebung in dem Verhältnis der Prozent- 
Ziffern der paralytischeu Männer und Frauen. Eine solche Ver¬ 
schiebung hat nun freilich auch bei uns stattgefunden; es lauten 
nämlich die Verhältniszahlen der beiden Geschlechter z. B. für die 
Anstalt Stephansfeld (+ Rufach) n dem Zeitraum 

1872—1880/81 = 4,2 :1,0 

1881—1888/89 = 4,3 : 1,0 

1890—1899/1900 = 3,25 :1,0 
1900—1910 - 2,5 :1,0. 

Das ganze Land weist in dem Zeitraum 1898—1901 und 1906—09 
das Verhältnis 3,3 :1,0 und 3,0 :1,0 auf, also eine geringere Ver¬ 
schiebung in den aber auch jüngeren Zeiträumen. Doch ist bei 
diesen Verhältniszahlen zu bemerken, daß diese Verschiebung zu¬ 
ungunsten der weiblichen Paralyse mehr durch die Abnahme der 
männlichen Paralyse als durch die Zunahme der weiblichen zu erklären 
ist. Eine faktische Zunahme dieser können wir nicht nachweisen, 
sie ist höchstens eine ideelle, relative. Diese Erscheinung entspricht 
wohl auch dem Charakter von Elsaß-Lothringen, dessen weibliche 
Bewohner noch nicht wie anderswo der Industrialisierung verfallen 
sind. 

Die bisherigen Zahlen und Tabellen gebe nun wohl einen Umriß 
über das Vorkommen der Paralyse in Elsaß-Lothringen, doch sagen 
sie uns nichts über die Verschiedenartigkeit, mit der die Paralyse 
innerhalb der einzelnen Landesteile beobachtet wird. Auch hier 
Veränderungen zu begegnen, müssen wir gefaßt sein. Die Bevölkerung 
des Landes überhaupt stellt in ihren Lebensbedingungen kein ein- 


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Original fro-rri 

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| Statistische and klinische Beobachtangen über Veränderungen usw. 513 

| 

heitliches Ganze dar. Bezirken mit ausgesprochener, hochentwickelter 
Industrie wie den lothringischen Kreisen Saargemünd, Diedenhofen 
Wert, Metz Ld., den obereis ässischen Kreisen Kolmar, Mülhausen 
stehen vorwiegend ländliche, acker- und weinbautreibende gegenüber 
wie die Kreise Weißenburg, Erstein, Wolsheim, Schlettstadt, Rap¬ 
poltsweiler, Bolchen, St. Avold, Saarburg, und es gewährt einen 
großen Reiz, zu untersuchen, wie sich die Paralyse auf die einzelnen 
Kreise verteilt, und ob eingetretene Wandlungen sich durch den 
im Laufe der Zeit veränderten Charakter des betreffenden Landes - 
teils erklären lassen. 

fiine derartige statistische Bearbeitung haben die Kreise des 
Elsaß bereits im Jahre 1900 in der mehrfach zitierten Baer sehen 
Arbeit gefunden. Den dort niedergelegten Prozentzahlen (1872 bis 
1900) stelle ich die von mir für die Zeit von 1900—1910 berechneten 
an die Seite; um vergleichen zu können, beschränkte ich mich in 
diesem Falle auf die männlichen Aufnahmen der Anstalt Stephansfeld. 

0 Q-Verhältnis der Paralytiker zu den männlichen Gesamtaufnahmen. 


Kreise 

1872—1900 

1900—1910 

Straßburg (Stadt) .... 

39,0 

22,1 

Straßburg (Land) .... 

10,8 

9,3 

Erstein. 

11,4 

5,6 

Hagenau. 

13,9 

11,1 

Molsheim. 

11,8 

5,9 

Schlettstadt. 

9,8 

6,4 

Weißenburg. 

7,9 

2,4 

Zabern . 

9,8 

! 5,3 

Altkirch . 

12,4 

! 4,4 

Colmar. 

15,0 

12,4 

Gebweiler. 

14,2 

l 6,0 

Mülhausen. 

23,3 

j 15,7 

Rappoltsweiler. 

17,5 

7,7 

Thann . 

11,6 

7,9 

Unterelsaß. 

15,9 

15,7 

Oberelsaß. 

17,0 

15,9 

Elsaß. 

16,4 

15,7 


In dieser Tabelle tritt naturgemäß ebenfalls die relative Ab¬ 
nahme der männlichen Paralysen hervor, die sich auf alle Kreise er- 


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Original fro-m 

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514 


Joachim, 


streckt. Doch ist dieser Rückgang nicht überall ein gleichmäßiger, 
vielmehr unterscheiden sich die einzelnen Kreise nicht unwesentlich 
voneinander; so schwanken die Differenzen zwischen 1,5% und 16,9% 
Abnahme. Auffällig ist dabei die Erscheinung, daß gerade der Kreis 
mit der höchsten Prozentziffer auch die höchste relative Abnahme 
aufweist, die Stadt Straßburg (von 39,0% auf 22,1%), während z. B. 
der benachbarte Kreis Straßburg Land nur um 1,5% zurückgeht. 
Man ist versucht, dabei an die Entwicklung der Straßburger Vor¬ 
orte zu denken, die ja in den Landkreis fallen. Hervorzuheben sind 
ferner die großen Unterschiede bei den Kreisen Mülhausen, Gebweiler, 
Rappoltsweiler, Altkirch, doch möchte ich es nicht wagen, dies 
mit einem Rückgang der dortigen Textilindustrie in Verbindung zu 
bringen, denn so einfach liegen ja die Dinge nicht bei der progressiven 
Paralyse. 

Ich habe es mir nicht versagen können, auch für Lothringen eine 
ähnliche Kreistabelle anzulegen, um den Unterschied zwischen den 
einzelnen Landstrichen auch hier zu verfolgen. Um aber einen noch 
besseren Maßstab für die Schätzung zu gewinnen, habe ich in einer 
gemeinsamen Tabelle für das letzte Jahrzehnt alle Paralytiker, männ¬ 
liche und weibliche, von Elsaß (mit Einschluß der Aufnahmen der 
Straßburger Klinik) und Lothringen kreisweise zusammengestellt und 
ihre Summe in Verhältnis gesetzt zur Einwohnerzahl des betreffenden 
Kreises, so daß die erhaltenen Ziffern sich auf je 10 000 Einwohner 
beziehen. Damit erhalte ich zugleich auch eine mehr absolute Zahl 
für das Vorkommen der Paralyse in diesen Kreisen (s. Tab. VIII). 

Der fundamentale Unterschied zwischen Stadt und Land springt 
sogleich in die Augen. Die Kreise Straßburg Stadt, Metz Stadt und 
in weiterem Abstande Mülhausen, Colmar, Saargemünd erheben sich 
zum Teil erheblich über den Durchschnitt von Elsaß bzw. Lothringen, 
es sind die Kreise mit den großen, industriereichen Städten des Landes; 
interessant ist, daß die beiden Hauptstädte in ihrer paralysenfördernden 
Tätigkeit sich fast völlig gleichen. Weiterhin ist zu bemerken,daß zwischen 
den weinbautreibenden Kreisen Straßburg Ld., Mölsheim, Schlett- 
stadt, Gebweiler, Rappoltsweiler, Metz Ld. und Chäteau-Salins und 
den weinbaufreien sich wohl Unterschiede ergeben, die es aber kaum 
rechtfertigen lassen, daraus weitergehende Schlüsse zu ziehen. Eher 
ist dies vielleicht angängig bei Berücksichtigung der Bevölkcrungs- 


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Statistische and klinische Beobachtungen über Veränderungen usw. 515 


Tabelle VIII. 


Kreise 

Anzahl der 
Paralyt. 

0 / 

/ 000 

Verhältnis 

1. Straßburg (Stadt) . . 

146 

8,71 

2. Straßburg (Land). . . 

27 

2,86 

3. Erstein. 

11 

1,72 

4. Hagenau. 

23 

2.87 

5. Molsheim. 

10 

L47 

6. Schlettstadt. 

15 

2,21 

7. Weißenburg. 

3 

0,53 

8. Zabern. 

12 

1,36 

9. Altkirch. 

4 | 

0,79 

10. Colmar. 

31 

3,21 

11. Gebweiler. 

17 

2.75 

12. Mülhausen. 

72 

3,95 

13. Rappoltsweiler .... 

16 

2.66 

14. Thann . 

12 

1,97 

15. Metz (Stadt) .... 

51 

8,5 

16. Metz (Land). 

21 

1,88 

17. Bolchen. 

2 

0,47 

18. Chäteau-Salins .... 

6 

1,29 

19. Diedenhofen 0. . . . 

5 

0,87 

20. Diedenhofen W. ... 

8 

1,07 

21. Forbach. 

13 

1,58 

22. Saarburg. 

9 

1,36 

23. Saargemünd. 

23 

3,14 

24. Unterelsaß ...... 

247 

3,6 

25. Oberelsaß. 

152 

2,97 

26. Elsaß. 

399 

3,3 

27. Lothringen. 

138 

2,24 

28. Ausland. 

53 

— 


dichte. Die Kreise mit der größeren Dichtigkeit haben auch die 
höheren Zahlen aufzuweisen, Straßburg Ld., Hagenau, Erstein, Schlett- 
stadt, Gebweiler, Rappoltsweiler, Forbach, Saargemünd mit 100, 
200 und mehr Einwohner pro qkm übertreffen die Kreise Molsheim, 
Weißenburg, Zabern, Altkirch, Bolchen, Diedenhofen 0. u. W., 
Chäteau-Salins mit 50—100 Einwohnern pro qkm. Dies sind zugleich 
auch die mehr agrarischen Kreise. Im einzelnen ist der Unterschied 
zwischen den benachbarten Diedenhofen 0. u. W. charakteristisch, 
bei ungefähr gleicher Dichte hier Minen- und Eisenindustrie, dort 
Aekerbau. Überhaupt bietet Lothringen mit seiner noch schärferen 

Zeitschrift für Psychiatrie. LX1X, 4 36 


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516 


Joachim, 


Abgrenzung von Industrie- und Ackerbaukreisen als das Elsaß ein 
noch besseres Beispiel für den Einfluß, den die äußeren Lebens¬ 
bedingungen wohl für das Zustandekommen der Paralyse ausüben. 

Die Bedeutung, die diese „Zivilisation“ für die Entstehung der 
progressiven Paralyse hat, kommt nun aber auch noch in einer anderen 
Erscheinung zu deutlichem Ausdruck, ich meine, in der Verteilung 
der Paralyse auf die verschiedenen Schichten der Bevölkerung, auf 
die Berufe. Oberstemer sagt hierzu: „Die Krankheit ist relativ häu¬ 
figer in höheren als niederen Ständen“. 

Nach Baer waren unter 563 paralytischen Männern der Anstalt 
Stephansfeld (1872—1900): 

a) höhere Beamte, Gelehrte, Künstler 11,5% 


b) Offiziere.2,7% 

c) Kaufleute.13,7% 

d) Niedere Beamte .16,0% 

e) Handwerker, Gewerbetreibende . . 32,5% 

f) Landwirte.8,7% 

g) Tagelöhner, Fabrikarbeiter .... 14,9% 

Es bildeten also die mittleren Stände das Hauptkontingent der 


Paralytiker, besonders gering war der Anteil der Landwirte im Ver¬ 
gleich zu dem von Müller (31,2%) und Kundt (37,8%) berechneten. 
Das gleiche Ergebnis haben im allgemeinen für das letzte Dezennium 
des gleichen Aufnahmebezirks meine Untersuchungen gehabt, wenn 
auch vielleicht die Neigung eines gewissen Vordringens in die niederen 
Bevölkerungsschichten erkennbar wird. Eine relative Verringerung 
ihres Anteils erfahren dabei die höheren Stände, eine merkbare Ver¬ 
mehrung die Arbeiter und Tagelöhner, während die Landwirte keine 
wesentliche Änderung zeigen. Ähnlich liegen auch für den gleichen 
Zeitraum die Verhältnisse bei den Lothringern; ihre Zahlen weichen 
nicht sehr von denen der Anstalt Stephansfeld ab. Im Gegensatz zu 
beiden steht dafür die Straßburger Klinik, deren Lage und Aufnahme¬ 
verhältnisse zwanglos die höheren Werte bei den höheren Ständen 
erklären lassen; für das Sinken des Anteils der Handwerker und Ge¬ 
werbetreibenden freilich weiß ich ohne weiteres keinen plausiblen 
Grund; beträchtlich ist auch die relative Abnahme der Landwirte hier, 
und gleich bleibt sich der Anteil der Arbeiter. 

Folgende Tabelle erläutert und veranschaulicht die gemachten 
Angaben: 


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Statistische und klinische Beobachtungen über Veränderungen usw. 517 


Tabelle IX. 





Saarg. 

00-10 

Klinik 

94—00 


1 

Eis. | 

900—10 

Lothr.|Els.-L. 

Höhere Beamte, 
Künstler, Gelehrte 

11,5 

4,9 

2,6 

2,1 

5,8 

5,2 

2,6 

4,6 

Offiziere. 

2,7 

0,8 

2,6 

14 

2,9 

1,4 

2,6 

1,7 

Kaufleute . 

13,7 

11,9 

13,2 

15,8 

21,4 

14,8 

13,2 

14,3 

Niedere Beamte . . 

16,0 

12,7 

13,2 

16,8 

22,3 

15,6 

13,2 

15,0 

Gewerbetreibende 
Handwerker . . . 

32,5 

37,7 

34,2 

40,o 

28,2 

34,9 

34,2 

34,7 

Landwirte. 

8,7 

7,0 

7,9 

6,3 

1,0 

5,2 

7,9 

5,9 

Tagelöhner, Arbeiter . 

14,9 

25,0 

26,3 

17,9 

18,4 

23,1 

26,3 

23,9 


Berufsanteil in Prozent ausgedrücl 

ct. 




Den so gern und oft zitierten „fehlenden“ katholischen Geist¬ 
lichen habe auch ich bei meinen Untersuchungen nicht entdecken 
können, ebenso hat sich noch nicht trotz zahlreicher Aufnahmen von 
Ordensschwestern die paralytische Nonne gezeigt. Für die weib¬ 
lichen Paralysen habe ich es unterlassen, eine besondere Tabelle zu 
konstruieren, da die meisten beruflos sind, die wenigen Berufs¬ 
angaben sich aber nur auf die niederen Stände erstrecken. Eine 
Paralyse der höheren habe ich nicht konstatieren können. 

Daß bei dem Lebensalter, in dem Paralyse vorzukommen pflegt, 
in weitaus stärkerem Maße die Verheirateten betroffen sein müssen, 
ist ja nur natürlich. Doch ist die Zahl der Ledigen relativ hoch, 
Mendel zählt 27,1% Ledige, Obersteiner 31,2%. So hoch sind unsere 
Ziffern nicht, doch zeigen die Beispiele der folgenden Tabelle, daß all¬ 
mählich ein Anwachsen des Anteils der Ledigen stattgefunden hat. Dies 
könnte damit Zusammenhängen, daß im Laufe der Zeit der Beginn der 
Erkrankung früher fällt oder der Termin der Verheiratung später oder 
beides zusammen wirksam ist. Die Tabelle gibt die Prozentzahlen an: 


Tabelle X. 



Steph. + Ruf. 

Klinik 

Saargem. 

Eis. 

Loth. 

EIS. "Li* 


97/00 

01/05 

06/10 

97/00)01/10 





01/10 

Verheiratet 

75,9 

74,6 

71,1 

75,0 

72,0 

83,0 

77,8 

75,8 

72,5 

76,8 

73,4 

Ledig . . 

20,3 

15,3 

21,9 

20,8 

22,9 

10,6 

17,5 

19,4 

19,9 

18,4 

19,5 

Verwitwet 

2,5 

9,9 

5,3 

4,1 

2,0 

6,4 

4,8 

3,2 

6,2 

4,0 

5,7 

Geschieden 

1,3 

0,7 

1,8 

— 

2,0 

— 

— 

1,6 

1,7 

0,8 

1,5 


36* 


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518 


Joachim, 


Die Frage nach dem Lebensalter beim Ausbruch der Paralyse 
findet im allgemeinen dahin eine Beantwortung, daß der größte 
Prozentsatz in die Periode vom 40. bis 45. Lebensjahre fällt, daß 
vom 30. Lebensjahre ab ein allmähliches Ansteigen, nach dem 50. 
ein rapides Sinken statthat. 

Bei meinem Material (Bezirksanstalten und Klinik, aus der 
Zeit nach 1900) habe ich nur einen einzigen Fall von juveniler Paralyse 
feststellen können. Die Frühformen zwischen dem 20. und 30. Lebens¬ 
jahr halten sich für alle drei Aufnahmebezirke auf ungefähr gleicher 
Höhe, die Zunahme, die sie bei dem einen (Klinik) gefunden haben, 
wird durch die Abnahme bei dem andern (Saargemünd) ausgeglichen. 
Das vierte Lebensjahrzehnt zeigt in Saargemünd eine beträchtliche 
Zunahme, während es in der Klinik auf derselben Höhe sich hält 
und in Stephansfeld nicht unbedeutend abfällt. Dabei sind die Ziffern 
der Klinik wesentlich höher als die der Bezirksanstalten. Umgekehrt 
verhält sich grad das nächste fünfte Jahrzehnt mit den höchsten 
Prozentzahlen. Hier zeigen die Bezirksanstalten die höheren Werte; 
im einzelnen steigen die Stephansfelder Ziffern, sinken etwas die der 
Klinik und unter erheblicher Schwankung die von Saargemünd. Im 
sechsten Dezennium fallen nur die Zahlen dieser Anstalt, während 
sie sonst ziemlich unverändert bleiben. Jenseits des 60. Lebensjahres 
konnte ich im ganzen nur 7 Fälle zählen. 

Übersieht man jedoch die Resultate des ganzen Landes, so er¬ 
gibt sich, daß die Schwankungen, die im einzelnen die Dezennien 
im Verlauf der Jahre zeigen, sich zusammen ausgleichen und sich über¬ 
haupt erhebliche Veränderungen in dem Anteil der verschiedenen 
Jahrzehnte nicht nachweisen lassen. 

Leider hat Baer , der Bearbeiter der Zeit vor 1900, sich nur sum¬ 
marisch ausgesprochen. 

Tabelle XI (s. folgende S.) enthält die Prozentzahlen der ein¬ 
zelnen Dezennien, innerhalb deren die Paralyse zum Ausbruch gelangte. 

Bemerkenswert bleibt, daß die Prozentzahlen des v ; erten Jahr¬ 
zehnts im ganzen Lande nicht sehr unter denen des fünften sich halten 
im Gegensatz zu Resultaten anderer Länder. 

Die Dauer der Erkrankung zu bestimmen, begegnet gewissen 
Schwierigkeiten, da die Angaben über den Beginn der Erkrankung 
oft unzuverlässig, unsicher und unbestimmt sind. Wenn ich auch 


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Statistische und klinische Beobachtungen über Veränderungen usw. 519 


Tabelle XL 


Lebens¬ 

jahre 

Steph. u. 
97 — oo|oi— 06 

Ruf. 

[(»—10 

Si 

07—00 

aargei 

01—06 

n. 

05—10 

96-00 

Klinik 
|oi—oojoe —10 

Elsaß -Lothr. 

97— 00 01—05 jo»— 10 

0-20 

20-30 

i 

2,8 

1 | 

3,1 

3,2 

0 

9,1 

3,1 

0 

2,9 

7,7 

1,4 

4,8 

0,4 

4,0 

30-40 

41,7 

| 38,3 

1 31 

29,8 

48,5 

45,3 

51,4 

50 

51,9 

38,4 

42,9 

38,3 

40-50 

37,5; 

40,6 

48,1 

53,2 

28,8 

40,6 

37,8 

32,3 

,32,7 

43,8 

35,9 

43,4 

50-60 

16,7 

15,6 

15,8 

14,9 

13,6 

9,3 

8,1 

14,7 


14,4 

14,9 

12,9 

60 und 
darüber 

1*4 

j 2,3 

1,9 

2,1 

0 

1,6 

2,7 

0 

• 0 

2,0 

1,3 

1,5 


versucht habe, f&r die letal geendeten Fälle die Dauer der Erkran¬ 
kung zu bestimmen, so bin ich mir wohl bewußt, daß die erhaltenen 
Resultate doch nur einen sehr beschränkten Wert haben können. 
Und wenn ich gar finde, daß Baer für die Paralysen in Stephansfeld 
als durchschnittliche Dauer der Männer 2 Jahr 9 Monate, der Frauen 
3 Jahr 11 Monate berechnet hat, ich dagegen für jene 2 Jahr 7 Monate, 
so kann ich doch nicht so recht glauben, daß tatsächlich eine Ver¬ 
kürzung im letzten Dezennium sich ergäbe, es widerspräche zu sehr 
den allgemeinen Erfahrungen und auch eigenen Eindrücken der Praxis. 
Hier muß es sich meines Erachtens um subjektive Fehlerquellen 
handeln. Immerhin will ich meine gefundenen Werte in einer Tabelle 
folgen lassen, deren Ziffern prozentualiter ausdrücken, wieviel der 
aufgenommenen Paralysen 1, 2 usw. Jahre gedauert haben: 


Tabelle XU. 


Dauer 

0—1 

1—2 

2—3 

3-4 j 

4—5 | 

5—10 ; 

10 Jahre u. m. 

1897—00 

25,5 

| 21,4 | 

18,4 

12,2 

10,2 

i 11,2 1 

1,0 

1901—05 

13,8 

20,4 

26,9 

15,6 

8,9 

: 13,2 

1,2 

1905—09 

27,3 

, 25,3 

22,0 

13,3 

6,0 

6,0 

0 


Dazu möchte ich bemerken, daß das letzte Quinquennium, dessen 
Aufnahmen ja zum Teil noch leben, naturgemäß in den Kolumnen 
0—3 hohe Zahlen aufweisen muß, also nicht gut zu irgendwelchen 
Schlüssen verwandt werden kann. Im übrigen läßt sich aus der Tabelle 
innerhalb des beurteilten Zeitraums vielleicht eine geringe Verlängerung 
der Dauer herauslesen. 

Eine statistische Prüfung der ätiologischen Faktoren, die für die 
Entstehung der Paralyse verantwortlich zu machen sind, hat heute 
nicht mehr die Bedeutung wie früher, wo es galt, gegebenenfalls auf 


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520 


Joachim, 


diesem Wege die Frage zu lösen. Es besteht wohl zurzeit kein Zweifel 
mehr darüber — das haben die Wassermmn-Plautschen Untersuchungen 
ergeben —, daß ohne Syphilis keine Paralyse entsteht. Ob wir nun¬ 
mehr bei so oder soviel Prozent unsrer Paralytiker Lues als sicher 
oder wahrscheinlich nachweisen können, hat eigentlich nur noch den 
Zweck, uns erkennen zu lassen, wie schlecht unsere an mnestischen 
Angaben beschaffen sind. Und daß sie herzlich dürftig sind, das 
lehren die Zahlen, die ich bei 505 Paralysen der letzten 10 Jahre in 
Elsaß-Lothringen fand; nur 109 mal konnte ich Lues als sicher an¬ 
nehmen (21,6%) und 95 mal als wahrscheinlich (18,8%). Es lohnt 
sich nicht, im einzelnen hier nach Veränderungen zu suchen. 

Unter der gleichen Zahl von Paralysen konnte ich 83 mal Alkohol¬ 
mißbrauch verzeichnet finden, also 16,4% Potatoren, für die Anstalt 
Stephansfeld allein gar nur 13,8%. Bei ihren Gesamtaufnahmen des 
gleichen Zeitraums (1901—1910) waren dagegen 20,5% Trinker zu 
finden. Diese Tatsache der geringeren Alkoholantezedentien.bei Para¬ 
lytikern im Vergleich zu den Gesamtaufnahmen hat schon Stark an 
unsrer Anstalt ebenfalls für einen zehnjährigen Zeitraum feststellen 
können, nur mit dem Unterschied, daß damals höhere Zahlen sich 
ergaben, für die Paralytiker 22,7% und für die Gesamtaufnahmen 
29,4% Potatoren. Auch Baer berechnet bei 23,2% der Paralytiker 
Alkoholmißbrauch. Wir haben es also in Elsaß-Lothringen mit einem 
geringen Prozentsatz von Potatoren unter unsern Paralytikern zu 
tun, zudem noch mit einer Abnahme desselben, die freilich auch mit 
einem allgemeinen Rückgang der Trunksucht Hand in Hand zu gehen 
scheint. Ähnlich wie Stark nachgewiesen hat, daß kein Parallelismus 
zwischen Paralytiker- und Alkoholikeraufnahmen in den einzelnen 
Kreisen des Elsasses besteht, habe ich schon an früheren Stellen gezeigt, 
daß sich keine Gesetzmäßigkeit zeigt zwischen dem Auftreten der 
Paralyse und der Betätigung des Weinbaus. 

Das Trauma, dem die gleiche ätiologische Rolle wie dem Potus 
zugeschrieben wird, fand ich unter 505 Fällen 17 mal erwähnt als 
direkte Ursache, also bei 3,4%. Baers Statistik gibt fast das Doppelte, 
6%. Der Unterschied erklärt sich wohl aus dem größeren Tnteresse, 
das damals diesem ätiologischen Faktor zuteil wurde. 

Eine ähnliche Differenz wie beim Alkoholmißbrauch zwischen den 


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Statistische und klinische Beobachtungen über Veränderungen usw. 521 

Prozentzahlen der Paralytiker und der Gesamtaufnahmen ergibt 
auch die Berechnung der Heredit&t. Für die Anstalt Stephansfeld 
fand ich bei den Paralytikern der Jahre 1901—1910 nur in 9,8% der 
Fälle hereditäre Belastung verzeichnet im Gegensatz zu 37,3% bei 
den Gesamtaufnahmen. Bur fand 17% erblich belastete Paralytiker. 
Für Elsaß und Lothringen erhielt ich in den Jahren 1901—1905 
13,7% und in den Jahren 1906—1910 10,7%. An und für sich haben 
diese Zahlen keinen so hohen Wert, da der Begriff der Heredität 
ganz verschiedener Auffassung unterliegt; daher auch die großen 
Unterschiede bei den Angaben der meisten Autoren (Ziehen 40%, 
Kräpelin 50%, Siemerling 11%, Westphal 5,4%). 

Unstreitig das interessanteste Kapitel bildet die Beantwortung 
der Frage, ob die progressive Paralyse heute eine andere ist wie vor 
Jahren, ob sich eine Änderung ihres Charakters, kenntlich durch eine 
solche der Verlaufsform, bemerkbar macht. Bevor ich dieser Frage 
mit statistischem Material nähertrete, kann ich es mir nicht ver¬ 
sagen, etwas von dem Eindruck wiederzugeben, den ich beim Lesen 
von Krankengeschichten erhielt, deren Abfassung nicht mehr als 
10 Jahre zurücklag, und deren Einträge ich nun verglich mit unsren 
heutigen. Ich muß sagen, der Unterschied war ein so sinnfälliger 
— nicht nur bei einzelnen Fällen —, daß man am liebsten ohne weiteres 
die Frage nach einem Wechsel mit Ja beantwortet hätte. 

Schon äußerlich tritt dieser Unterschied zutage. Die älteren Kranken¬ 
geschichten waren interessanter gewissermaßen, weil sie mehr Abwech¬ 
selung boten, aus demselben Grunde wohl auch umfangreicher. Ihre 
Schilderungen farbiger, ihre Einträge häufiger, durch den öfteren Wechsel 
«les Zustandbildes veranlaßt, und ihr Inhalt nicht so oft durch die 
•Stereotypie des Stat. idem verunziert. Ein weiteres Merkmal, daß die 
einzelnen Verlaufsbilder bei weitem nicht so oft sich ähnlich sahen wie 
heute. Nur eins haben sie im Gegensatz zu den heutigen gemeinsam, 
die so oft, so viele Mal wiederkehrende Bemerkung: ,,Erregt, ins Einzel¬ 
zimmer“ oder tobt, zerreißt, Injektion von 0,001 Hyoscin“ und deren 
beliebig zu vermehrende Varianten. Bei uns in Stephansfeld sehn wir 
damals meist den neuaufgenommenen Paralytiker in die .»Loge“ (unruhige 
Abteilung) wandern, Morphium- und Hyoscininjektionen bleiben im 
weiteren Verlaufe wohl keinem erspart. Und doch beweist die Schilderung 
des Erregungszustandes, daß diese Maßnahmen durchaus am Platze. 
Bis zu Wochendauer müssen einzelne in mehrfacher Wiederkehr in der 
Zelle isoliert werden, und erst spät nach ihrer Aufnahme treten sie den 
Weg zur Pflegeabteilung an. Mein persönlicher Eindruck aus der Praxis 


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522 


Joachim, 


der letzten Jahre ging ja schon dahin, daß unsre Paralytiker jetzt ruhiger 
sein müßten als früher; so bedeutend, wie er mir hier entgegentrat, hatte 
ich mir jedoch den Unterschied nicht vorgestellt. Was mich Stephans- 
feld lehrte, fand ich auch ähnlich in Saargemünd bestätigt, wenn auch 
nicht so augenfällig. Anders stellte sich die Straßburger Klinik dar. 
naturgemäß, da sie ja meist nur relativ kurze Zeit und in den ersten Stadien 
die Paralytiker beherbergt; hier ließen sich derartige greifbare Unter¬ 
schiede nicht feststellen. 

Das häufigere und protrahierte Auftreten von Erregungszuständen 
verschiedenster Art also kennzeichnet die früheren Paralysen im all¬ 
gemeinen. Im einzelnen kam es ferner damals eher zu ausgedehnten 
Anfallserien als heute, aber die Häufigkeit der Anfälle selbst konnte 
natürlich erst eine statistische Zusammenstellung entscheiden. 

Wesentlich anders aber spiegelt sich die heutige Paralyse in den 
Krankengeschichten wieder. Schon die Aufnahmen erfolgen—in Ste¬ 
phansfeld — in überwiegender Zahl sofort in die Pflegoabteilung, die 
gewissermaßen Paralytikerabteilung geworden. Das dort zur Ver¬ 
fügung stehende eine Einzelzimmer wird meist nur aus Gründen 
der Überfüllung belegt; die Notwendigkeit seiner Belegung aus inneren 
Gründen macht sich bei unsern Paralytikern äußerst selten geltend; 
geschieht es, so ist die Isolierung doch nur von kürzerer Dauer. Auch 
das seit dem Jahre 1908 in Betrieb befindliche Dauerbad wird nur in 
geringem Umfange und für kurze Zeit von Paralytikern benützt. 
Die Erregungszustände klingen meist rascher ab, rezidivieren nicht 
so häufig und anhaltend und erreichen auch nur selten noch ihre frühere 
Heftigkeit. So kommt es, daß die Morphium- oder Hyoscininjektion 
eines Paralytikers ein seltenes Ereignis darstellt, so selten, daß — bei 
dem auch sonst seltenen Bedarf — die trockengewordene Spritze 
ihren Dienst versagt. Kurz, die Paralytiker sind heute vielmehr 
Gegenstand der Pflege als der Überwachung geworden. Deshalb er¬ 
scheinen auch die Krankheitschilderungen eintöniger, überein¬ 
stimmender, uninteressanter. 

Nach diesem Bilde, das mehr einen rein persönlichen Eindruck 
wiedergibt, sollen nunmehr die Zahlen objektiv die Frage beleuchten, 
die ich gewonnen habe aus dem Einzelstudium von 652 Paralysen. 
Ich habe dabei versucht, mich frei zu machen von der Einwirkung 
einer leitenden Vorstellung, wie sie etwa das subjektive Vorurteil 
geben konnte. 


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Statistische und klinische Beobachtungen über Veränderungen usw. 523 


Der Form nach unterschied ich dem allgemeinen Beispiel folgend 
die vier Gruppen der dementen, expansiven, agitierten und depres¬ 
siven Paralyse; Fälle, die mir nach dieser Richtung dauernd unklar 
blieben oder wegen der Kürze der einmaligen Beobachtung bleiben 
mußten, schied ich gänzlich aus. Das untersuchte Material umfaßt 
sämtliche Paralysen aller in Betracht kommenden Anstalten Elsaß - 
Lothringens vom Jahre 1897—1910. Dabei kam ich zu dem in Ta¬ 
belle XIII niedergelegten Resultat. Sie gibt die Zahlen der Klinik 
und der drei Anstalten des Landes zusammen an, während die drei 
folgenden Tabellen XIV—XVI nur die einzelnen Anstalten umfassen. 


Tabelle XIII. 


Jahr¬ 

periode 

Zahl d. 
Fälle 

de 

Zahl 

m. 

! % 

exp. 

Zahl ! % 

agit. 

Zahl | «/o 

depr. 

Zahl | «/o 

1897-1900 

147 

78 

53,1 

43 

29,3 

13 

8,8 

13 

8,8 

1901-05 

233 

137 

58,8 

53 

22,7 

21 

9,0 

22 

9,4 

1906-1910 

272 

185 

68,0 

57 

20,9 

21 

7,7 

10 

3,7 


In den drei Jahrperioden begegnen wir also einem stetigen An¬ 
wachsen der dementen Form von 53,1% auf 68,0%, also um 14,9%. 
einer dauernden Abnahme der expansiven Form um 8,4% (von 29,3% 
auf 20,9%); im Gegensatz dazu weist geringe Schwankungen auf die 
agitierte Form mit dem Endresultat einer kleinen Abnahme, so die 
depressive Form mit dem einer etwas größeren. Die einzelnen Faktoren, 
die dieses Ergebnis zeitigen, verhalten sich nun aber keineswegs 
ebenso, vielmehr differieren sie nicht nur quantitativ, sondern auch 
qualitativ, indem sie da Abnahme zeigen, wo die Gesamtziffer auf 
Zunahme weist. Dies erläutern die Einzeltabellen für die Anstalten 
Stephansfeld und Rufach zusammen (Tab. XIV), für Saargemünd 
(Tab. XV) und für die Straßburger Klinik (Tab. XVI). 


Tabelle XIV (Stephansfeld und Rufach). 


Jahrg. 

IlBfl 

HgQ 

dem. 

Zahl | % 

■ 1■ 

agit. 

Zahl! % 

depr. 
Zahl! % 

1897—1900 

73 

36 

48,5 

21 

28,8 

9 

12,3 

7 

9’6 

1901—1905 

133 

83 ! 

62,4 

27 i 

20,3 

13 

9.8 

10 

7.5 

1906—1910 

164 

114 

1 

69,4 

33 

20,1 

13 

| 7,9 

4 

2.4 


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Original fro-m 

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524 


Joachim, 


In Stephansfeld zeigt sich also eine ganz erhebliche Zunahme der 
dementen Form (um 20,9%) und eine gleichmäßige Abnahme der 
anderen Formen. 


Tabelle XV (Saargemünd). 


Jahrg. 

Zahl d. 

dem. 

exp. 

agit. 

depr. 

Fälle 

Zahl 

% 

Zahl 

% 

Zahl 

% 

Zahlj 

<y 

,x> 

1897—1900 

47 

26 

55,3 

13 

28,0 

3 

6,3 

5 1 

10.6 

1901—1905 ! 

70 

39 

55,7 

18 

25,7 

6 

8,6 

7 i 

10,0 

1906—1910 

64 

49 

76,6 

9 

14,1 

5 

7,8 

2 

3,1 


Ebenfalls finden wir bei den Saargemünder Paralysen ein be¬ 
trächtliches Anwachsen der dementen Form um 21,3%, ferner ein 
Zurückgehen der expansiven um 13,9%, der depressiven um 7,5%. 
dagegen eine geringe Zunahme der agitierten um 1,5%. 


Tabelle XVI (Straßburg). 


Jahrg. 

Zahl d. 

dem. 

exp. 

agit. 

depr. 

Fälle 

Zahl | % 

Zahl 

% 

Zahl 

% 

Zahl 

1 0 / 

i A b 

1895—1900 

38 

25 ! 67,5 

10 

26,3 

1 

2,6 

2 

' 5,3 

1900—1905 

34 

15 | 50,0 

8 

26,7 

2 

6,7 

5 

16,7 

1905—1910 

52 

22 50,0 

15 

34,1 

3 

6,8 

4 

1 

9,1 


Die Straßburger Klinik weist im Gegensatz zu den Landesanstalten 
ein ganz anderes, fast umgekehrtes Bild aut Hier nimmt die demente 
Form um 17,5% ab, die übrigen nehmen um 7,8%, 4,2% und 3,8%, 
zu. Dieser Gegensatz erklärt sich dadurch, daß die Fälle der Klinik 
— es handelt sich bekanntlich um solche, die nicht später in die Landes¬ 
anstalten Aufnahme fanden, nur relativ kurze Zeit beobachtet wurden, 
so daß die später vielleicht den Verlauf beherrschende Demenz noch 
nicht so zum Ausdruck gelangen konnte. Je schneller Entlassungen 
erfolgten, desto eher sind die erregten Formen vorherrschend. 

Folgende drei Kurventabellen endlich sollen diese Unterschiede 
noch anschaulicher darstellen. Die schwarzen Linien bezeichnen die 
Entwicklung der dementen Form, die gestrichelten die der expansiven, 
die punktierten die der agitierten und die durch Kreuze gebildeten 
die der depressiven. 


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Statistische and klinishhe Beobachtangen über Veränderungen usw. 525 

Kurve V. 

Stpb. & Ruf ach 

97 98 99 00 01 02 03 04 05 06 07 08 09 

»9900 01 Ö2Ö3Ö405Ö6Ö708Ö9iÖ 

% 

80 

75 
70 
65 
60 
55 
50 
45 
40 
35 
30 
25 
20 
15 
10 
5 
0 

-dem. 

-exp. 

. agit. 

+ + + + depr. 

Die dauernde Tendenz der Zunahme der dementen Form in den 
beiden ersten (S. 525 u. 526), der Abnahme in der dritten Kurve 
(S. 527) tritt dabei sehr deutlich hervor. 

Kürzer kann ich mich fassen bei der weiteren klinischen Beob¬ 
achtung. Taboparalyse kam im Zeitraum von 1897 bis 1900 im ganzen 
Land in 2,7% der Fälle vor, von 1901 bis 1905 in 4,3% und von 1906 
bis 1910 in 6,3%. 

Paralysen, in deren Verlauf sich paralytische Anfälle einstellten, 
zählte ich 1897—1900 21,8%, 1901—1905 21,9% und 1906—1910 
17,6%, mithin läßt sich eine geringe Abnahme des Auftretens von 
Anfällen konstatieren. 



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526 


Joachim, 


Kurve VI. 

Saargemünd 

97 98 99 00 01 02 03 04 05 06 07 08 09 

85 
80 
75 
70 
65 
60 
55 
50 
45 
40 
35 
30 
25 
20 
15 
10 
5 
0 

Deutliche Remissionen zeigten sich in denselben Zeitabschnitten 
in 1,4%, 1,7% und 4,0% der Fälle. Es wäre also jetzt das Vorkommen 
dieser ein häufigeres Ereignis. 

Zum Schluß möchte ich noch einmal die wesentlichsten 
Punkte zus ammenf assen , in denen sich Än¬ 
derungen in dem Vorkommen und Verlauf der 
progressiven Paralyse feststellen ließen. Im 
allgemeinen ist die Frage nach solchen Veränderungen mit einem 
J a zu beantworten, und zwar zeigten sich solche: 

1. bei der Zahl der aufgenommenen männlichen Paralytiker. Sie 
ist im Verhältnis zu den Gesamtaufnahmen allmählich gesunken; 

2. bei der Verteilung der männlichen Paralysen auf die einzelnen 
Kreise des Landes. Es ließen sich nicht unwesentliche Verschiebungen 
hier nachweisen; 



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Original fro-m 

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Statistische und klinische Beobachtungen über Veränderungen usw. 527 


Kurve VH. 

Klinik. 

Jahrg. 94 95 90 97 98 99 00 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 

80 
75 
70 
65 
60 
55 
50 
45 
40 
$5 
30 
25 
20 
15 
10 
5 
0 

3. bei der Verteilung der männlichen Paralysen auf die Berufe; 
ein wenn auch geringes Vordringen in die niederen Schichten ist 
unverkennbar; 

4. bei dem Anteil der Ledigen an der Erkrankung, der eine Stei¬ 
gerung erfahren hat; 

5. bei der Dauer der Erkrankung, die eine aber nur geringe Ver¬ 
längerung aufweist; 

6. bei dem ätiologischen Faktor, dem Potus, der deutlich seltener 
in der Anamnese erscheint; 

7. bei der Erscheinungsweise der Paralyse; die dementen Formen 
Qberwiegen mehr und mehr die übrigen; 

8. Anfälle scheinen seltener aufzutreten; 

9. Remissionen sind ein häufigeres Vorkommnis geworden; 

10. Tabes scheint sich häufiger mit der Paralyse zu vergesell¬ 
schaften. 



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Original from 

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528 Joachim, Statistische und klinische Beobachtangen usw. 


Literatur. 

1 . Allgemeine Zeitschrift f. Psych. Bd. 37, 41, 50, 54, 56. 

2. Archiv f. öffentl. Gesundheitspfl. in Els.-Lothr. XIV, 1. 

3. Arch. f. Psych. 26 ( Wollenberg ). 

4. Charitee-Annalen XI (1886). 

5. Baer, Die Paralyse in Stephansfeld. Dissertation Straßburg 1900. 

6 . Jahresberichte d. Anstalten Stephansfeld und Saargemünd. 

7. Journ. of ment. sc. Bd. 47 (Stewart). 

8 . Kröpelin, Lehrbuch f. Psych. 1899 u. 1910. 

9. Med. Times and Gazette 1876. 

10 . Neurol. Zentralbl. 1898. 

11. Obersteiner, Die progress. allgem. Paralyse. 

12. Rtgis, Sur la paralysie etc. L’Encdphale 1883. 


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Ein Fall yon akuter Psychose nach chronischem 

Yeronalgehranch. 

Von 

Dr. Hans Laehr in Schweizerhof. 

Ein Fall von akutem Irresein nach 6%jährigem Veronalgebrauch 
scheint mir der Veröffentlichung wert, weil er auf der Höhe große 
Ähnlichkeit mit dem alkoholischen Delirium und in den letzten Tagen 
mit dem halluzinatorischen Wahnsinn der Trinker zeigte, dabei aber 
doch bemerkenswerte Abweichungen darbot. In der Literatur habe 
ich ähnliche Fälle nicht gefunden, vielleicht weil ein so langer und 
dabei regelmäßiger Veronalgebrauch überhaupt selten Vorkommen 
dürfte. Ich bringe die Krankengeschichte ohne wesentliche Ab¬ 
kürzung, da so der Vergleich der äußeren Beobachtung mit den nach¬ 
träglichen schriftlichen und mündlichen Angaben der Pat. über die 
Zeit der Krankheit ermöglicht wird. Man sieht daraus, daß die 
Erinnerung namentlich für die letzten Tage der Krankheit ver¬ 
hältnismäßig gut erhalten war, und zugleich werden manche 
Einzelheiten verständlicher. 

Frau X., 53 J. alt. Der Vater starb mit 70 J.; die Mutter hatte in 
ihren letzten Lebensjahren Morphium gebraucht und starb im 56. Jahre 
(Ursache dem Manne nicht bekannt. Vgl. damit die Angaben der Pat. 
unter dem 21.5., S. 549). Eine Schwester starb mit 16 Jahren an einem 
Gehirnleiden. — Pat. selbst war als Kind ziemlich kräftig, besuchte die 
Töchterschule mit gutem Erfolg. Stets sehr lebhaft, oft sehr vergnügt, 
aber nie ohne Klagen, zu unnötigen Befürchtungen und Unzufriedenheit 
neigend. 1884 Hochzeit. Glückliche Ehe, aber daneben stets Mädchen - 
ärger, immer etwas, was zur Verstimmung Anlaß gab. 4 Kinder, 26, 25, 
24, 18 Jahre alt, gesund. Entbindungen und Wochenbetten normal; 
nicht selbst genährt. Seit etwa 10 Jahren öfters Schlafmittel und Brom. 
Vor 7 Jahren Scheidung einer unglücklich verheirateten Tochter; Pat. 
dadurch sehr mitgenommen, schlaflos, erhielt Veronal und nahm dies 
seitdem regelmäßig, in letzter Zeit auch Medinal, 1—1 y 2 Tabletten (vgl. 
S. 547 unter d. 16. 5.). Geistige Getränke genoß sie stets nur sehr wenig. 


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530 


Laehr, 


in den letzten Jahren ganz ausnahmweise und in kleinen Quantitäten. 
Tagüber war Pat. stets klar und geordnet, stand der Wirtschaft vor und 
disponierte verständig; nur morgens oft wie berauscht. Im letzten Jahre 
stets bedrückt; keine Angstzustände, aber hin und wieder Lebensüberdruß 
geäußert, das Leben habe für sie keinen Wert; nie Suizidversuche. Vom 
2 . Februar bis 13. März 1912 Erholungsreise mit dem Gatten nach dem 
Süden, nahm aber andauernd Schlafmittel. Von da ab wieder zu Hause. 
Hier Enttäuschung, daß der Sohn nicht in das Regiment in N. ein- 
treten konnte. Pat. wurde im Anschluß hieran unruhiger, nahm das 
Schlafmittel in größeren Dosen, zuletzt 1 V 2 bis 2 Medinaltabletten oder 
1—1 Yi Veronaltabletten, manchmal in der Nacht auch vielleicht noch eine 
Extradosis. Appetit stets genügend, nur die letzten 14 Tage schlecht ge¬ 
gessen. Stuhlgang letzthin oft angehalten (Angaben des Gatten und der 
Schwägerin). 

Aufnahme in Schweizerhof 3. 4. 1912. Trennte sich leicht vom 
Gatten, legte sich zu Bett, sprach lallend; glänzende Augen. Bestätigte 
die Angaben des Gatten. Aß gut. Stuhlgang nach Einlauf. Einstündiges 
Bad abends. Nacht ruhig gelegen, stundenweise geschlafen. 

4. 4. Große, schlanke Frau, Muskulatur schlaff. Kopf und Wirbel - 
säule nicht schmerzhaft auf Druck und Beklopfen, nur am letzten Lenden - 
wirbel mäßiger Druckschmerz. Herzgrenzen nicht verbreitert, Töne rein. 
Lungen o. B.; flacher Brustkorb. Unterleib weich, nirgends druckschmerz¬ 
haft; Bauchreflexe nicht auslösbar. Kniereflex beiderseits vorhanden. 
Fußsohlenreflex normal, kein Fußklonus. Radialreflex beiderseits ge¬ 
steigert. Trizepsreflex fehlt rechts, links normal. L. Arm kräftiger als 
der r. Augenbewegungen frei. Pupillen gleich, reagieren prompt auf 
Lichteinfall. Zunge gerade vorgestreckt, ohne fibrilläres Zittern. Fazialis- 
innervation intakt. Geringer Tremor der Hände. Kein Romberg. Sprache 
artikuliert, ohne Störungen, lallt heute nicht. Sensibilität und Motilität 
o. B. — Klagen über ziehende, rheumatische Schmerzen im r. Arm; 
vermöge mit der r. Hand nicht die Feder zu führen, habe keine Gewalt 
über die Feder, schreibe so unleserlich, daß sie ihre Schrift selbst nicht 
entziffern könne. (Vgl. S. 549 unter d. 22. 5.) Gewicht 58,2 kg. 

5. 4. Gestern Besuch des Mannes. Abschied diesmal schwerer, 
da er nach Haus reiste. Pat. erzählte von ihrer Sorge um das Befinden 
ihrer ältesten Tochter, die eine Entbindung vor sich habe. Unzufrieden, 
daß ihr Geld und Schere abgenommen wurden, fügte sich dann aber. 
Gut gegessen. Abends 1 y a St. gebadet, dabei die Sachen nochmals sehr 
genau durchsucht und im Handschuhkasten unten versteckt zwei volle, 
uneröffnete Gläser mit Veronaltabletten gefunden. (Bei dem ersten 
Durchsuchen der Sachen, das flüchtiger geschah, weil Pat. dabeisaß 
und sich darüber aufregte, war nur ein halb gefülltes Glas mit Veronal¬ 
tabletten gefunden worden.) Nacht nicht geschlafen (Brausepulver). 
Heute früh sehr niedergeschlagen, möchte am liebsten abreisen. 


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Ein Fall von aknter Psychose nach chronischem Veronalgebrauch. 531 


6. 4. Gestern früh von selbst reichlich Stuhlgang. Aß wenig den 
Tag über. Nach ärztlichem Besuche, bei dem sie sich ohne weiteres ein¬ 
verstanden erklärt hatte,. Bettruhe auch weiter einzuhalten, schalt Pat. 
erregt: das bekomme sie nicht über sich, die Pferdekur durchzumachen, 
wochenlang zu liegen, bis sie schlafe. Müsse Schlafmittel bekommen. 
Abends 1 1 / 2 Std. gebadet, dann rotes Gesicht, erregt. Nach kühlen Kopf- 
umschlägen, Brausepulver, Baldriantinktur ruhiger, lag die ganze Nacht 
ruhig, fürchtete einen Herzschlag, schlief nur y 2 Std. Heute rotes Gesicht; 
Puls 72, regelmäßig, ziemlich kräftig. Liegt mit erhöhtem Kopf, weil sie 
sonst Schwindel bekomme. Der Kopf sei benommen, aber keine Kopf¬ 
schmerzen. Bekomme diese Benommenheit immer nach kalten Um¬ 
schlägen, wie sie sie auf unsern Rat gestern abend gemacht; ,.als ob das 
Blut dann noch mehr in den Kopf gezogen wird, und das Blut liegt dann 
so schwer in den Augen. Das ist nur von den Umschlägen.“ An Kopf¬ 
schmerzen leide sie überhaupt nicht. Könne auch die hiesigen Speisen 
nicht recht vertragen, keine abgekochte Milch trinken; daher komme 
auch ihre Schwäche. Stößt beim Sprechen öfters an. Herztöne leise, 
rein. Händedruck beiderseits gleich schwach. Nirgends Schmerzen. 

7. 4. Gestern allmählich freundlicher. Besuch der Schwägerin; dann 
besonders gute Stimmung. Aß gut und schlief diese Nacht viel besser, 
habe nur sehr viel wüst geträumt. 

8. 4. Tagüber ganz leidlich. Nur mehrmals über das Essen ge¬ 
scholten, aß aber gut, fürchtete dann, zu viel gegessen zu haben. Nacht 
erst stundenlang kalte Umschläge gemacht, einige Tropfen Baldrian- 
tinktur genommen, dann ganz ruhig gelegen. Heute: habe zwar nicht 
geschlafen, das komme vom Essen, da seien Zwiebeln dran gewesen, das 
vertrage sie nicht. Und heute früh Kuchen, das vertrage sie gar nicht 
(hatte gestern statt Semmeln Kuchen verlangt). Puls 86. Klagt „Herz¬ 
klopfen und das furchtbare Aufsteigende; mein Kopf glüht ja ordentlich; 
kein bißchen geschlafen! Jetzt lieg ich ebenso, wie ich gestern abend 
mich ins Bett gelegt habe“. Kopf rot. Habe in der Nacht verdächtige 
Geräusche gehört, es müßte wohl Jemand gestorben sein. 

9. 10. Gereizte Stimmung gestern vormittag. Nach Tisch: habe 
hier Quecksilber bekommen, denn dadurch werden ja schädliche Stoffe 
ausgetrieben; im Bade sei Quecksilber. (Vgl. S. 553 unter 26. 5.) Später 
gern beim Vorlesen zugehört, dabei Teilnahme gezeigt und gelacht. Abends 
verlangte Pat. zu lüften, im Zimmer sei Schwefel oder Phosphor. Schlief 
bis 1 Uhr. Dann vom Sturm erwacht. Später nochmals geschlafen. Habe 
den Arzt in der Nacht im Hause sprechen hören (nicht dort gewesen); 
er habe der Pflegerin etwas über eine Kranke diktiert. Puls 98. Erzählt 
heute, sie sei durch das Schreien einer anderen Pat. (in der Tat hatte die 
Nachbarin im Schlafe aufgeschrien) erwacht und dann infolge des Sturms 
nicht wieder eingeschlafen; habe allerlei Geräusche gehört, ihnen unwill¬ 
kürlich gelauscht und sich allerlei zusammengereimt. Die Pflegerin habe 
sich über sie gebeugt und sich dann am Fenster zu schaffen gemacht, 

Zeitschrift ftr Psychiatric. LI IX- 4. 37 


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532 


Laehr, 


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dabei habe Pat. geglaubt, an der Fensterseite zu liegen, während sie auf 
der Seite gegenüber liegt; das sei also wohl im Halbschlaf gewesen. Dann 
aber habe sie nicht mehr geschlafen und sei doch abends so ruhig gewesen, 
weil sie ein eigenes Kopfkissen, das sie sich hatte schicken lassen, unter 
dem unsrigen gehabt in dem sicheren Gedanken: auf eigenem Pfühl werde 
ich zuerst einschlafen. Das furchtbare Geschrei (außer jenem Aufschrei 
nichts gewesen) nach dem Selbstmord habe sie ganz deutlich gehört, 
„Selbstmord kann ja leicht Vorkommen, in Berlin kommt er jeden Augen¬ 
blick vor“, und dann die Stimme des Arztes ganz deutlich erkannt, wie 
er der Pflegerin an die Mutter der Selbstmörderin, nachdem er diese in 
sorgfältigster Weise verbunden, einen sehr tröstlichen Brief diktiert und 
darin gebeten habe, jetzt nicht zu kommen, da dies die Tochter nur auf¬ 
regen würde. Dadurch sei Pat. ganz beruhigt worden; das sei gewesen, 
als es hell wurde. Der Arzt sei mit dem Wagen vorgefahren, auch das habe 
sie deutlich gehört. Bittet den Arzt, ihr offen zu sagen, ob er dagewesen, 
da man es ihr bestritten habe. Glänzende Augen, Beben der Gesicht¬ 
muskeln, der Zunge und besonders der Hände. Habe auch oft Flimmern 
vor den Augen, besondere nachts, weniger im Hellen. 

10. 4. Phantasierte den ganzen Tag. Hörte Kinder im Haus und 
auf der Veranda, bald den einen, bald den anderen Arzt darunter. Man 
solle ihr doch lieber sagen, was los sei, es sei ja schrecklich. Dann hörte 
sie Dr. L. Vorfahren; eine Gesellschaft finde im Hause statt. Ein Besuch 
einer Nichte ohne Eindruck. Abends im Bade sprach Pat. von elek¬ 
trischen Drähten, Säure im Wasser. Die ganze Nacht unruhig, lief umher, 
kam aus dem Zimmer, wollte hinunter, weil sie die Stimme ihres Schwagers 
hörte; der solle ermordet werden. Heute ganz erschöpft im Bett. Puls 
92, kräftig. Liegt regunglos, läßt kalte Stirnumschläge machen. [Schmer¬ 
zen?] „Ich hatte vorher leichte Schmerzen hier (Bauch), da dachte ich. 
es wäre wohl ganz gut, wenn Sie einmal nachsähen. Ich fühle es, als 
wenn da eine kleine Geschwulst wäre, so seit 1 y 2 Stunden.“ Oberhalb des 
1. Poupartschen Bandes leichter Druckschmerz, sonst k. B. Stuhlgang 
täglich von selbst gewesen. Druck auf die Crista ilei außen und innen 
nicht schmerzhaft. Kein Bauchreflex. Starker Tremor der Hände, 
geringerer der Zunge; starkes Zucken in den Gesichtmuskeln; blickt 
starr vor sich hin. Bestätigt, gestern Stimmen von Kindern (vgl. S. 648 
unter d. 16. 5.) und Ärzten gehört zu haben. „Was ich aber jetzt höre, 
da stimmen ja alle Nachrichten miteinander überein. Ich habe seit gestern 
nachmittag meinen Mann und alle meine Kinder verloren. [Woher diese 
Annahme ?] Weil mir das erzählt worden ist; ich habe ja auch gelesen die 
Depeschen. [Wo gelesen ?] Den einen habe — also die erste Nachricht habe 
ich vorlesen hören, aber ich kann nicht sagen, wo das war. Ich denke, daß 
das wohl im Park von Zehlendorf gewesen ist, und daß ich da Erlaubnis be¬ 
kommen habe, hinzugehen. [Seit wann in Zehlendorf?] Seit heute bin 
ich wohl nach Zehlendorf gefahren, oder nein, ich bin wohl in Zehlendorf 


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Ein Fall von akuter Psychose nach chronischem Veronalgebrauch. 533 

zwei Tage wohl gewesen, d. h. wohl in der Klinik von Dr. Z. (dem Arzt in 
der Nähe ihres Heimatortes, der sie hierher geschickt. Vgl. S. 552 u.) Das 
kann ich aber nicht sehr auseinanderhalten, das ist ein wüstes Chaos. Es ist 
mir jetzt auch gesagt worden, daß meine Tochter den Brief hat vorlesen 
hören. [Wer gesagt?] Das kann ich jetzt nicht so sagen, ob mir das 
geschrieben ist, oder ob meine Nichte das gesagt hat; es ist in meinem 
Kopf noch so wüst. (Sehr resigniert:) Ich habe nur noch meine beiden 
Töchter. [Die Depesche selbst gelesen?] Ja, das muß ich gestehen, das 
weiß ich nicht mal so genau, wie das mit der Depesche war. — Nein, 
die werde ich wohl gelesen haben, denn als ich wieder zurückkam nach 
Zehlendorf, da war meine Tochter ja schon abgefahren nach Berlin.“ 
Bei leichtem Druck auf die geschlossenen Augen berichtet Pat., sie sehe 
kleine Schränke mit Stickerei, deren Farbe sich langsam ändere; die 
Schubladen werden herausgezogen, darin ist nichts, auch keine Briefe 
und Depeschen. Hört nur, was in der Tat zu hören ist, zählt es auf: Vogel¬ 
gezwitscher, Bürsten auf dem Korridor, mein Schreiben im Notizbuch. 
Dann: „jetzt wäscht sie Geschirr au«, jetzt klappert sie mit dem Eimer“, 
was auf Illusion zu beruhen scheint. Worte habe sie eben nicht gehört, 
„nein, jetzt nicht“. Hat aber vorher deutlich gehört: „Guten Tag, Herr 
von Berg!“ (Vgl. S. 563 unter 26. 6.) „Ich habe gar nicht darauf hingehört; 
ich hörte nur, er hatte sich die Särge alle hier angesehen, und da hatte 
er gesagt, das seien alles alte Muster, und da müßte zuerst nachgesehen 
werden in solchen Magazinen, wo zurückgestellte Särge sind, die dazu 
passen. Aber weiter habe ich mich nicht darum bekümmert.‘‘ [Daraus 
entnahmen Sie, daß die Ihrigen tot seien?] „Daraus nicht, nein, nein; 
ich habe es auch aus verschiedenem andren gehört. Nein, das war ja 
am Abend, wo ich alles das habe vorlesen hören. Aber was ich da getan 
habe, das weiß ich wirklich nicht; denn als ich da gestern abend nach 
Hause kam, da sagte ich: nun sind wir doch zu Hause; da sagte die: nein, 
wir sind doch hier in der Zehlendorfer Straße. Aber das war mir auch 
manchmal so, da war es *411 Uhr vormittags, und ich sagte zur Schwester: 
Na, es ist doch Kaffeetrinken jetzt. Aber das ist heute schon besser. 
Ich hatte ja auch fast gar nichts gegessen. [Wo jetzt?] Jetzt bin ich noch 
in Zehlendorf. [Welcher Tag?] Heute haben wir — ja da muß ich wohl 
erst noch rechnen; Sonntag, denke ich. (Mittwoch!) [Überlegen!] Ja, 
nein, heute ist wohl Sonnabend erst. [Datum?] Das ist mir gänzlich ent¬ 
fallen, gänzlich entfallen. [Monat?] Ich weiß wohl, daß es ein Schalt jahr ist, 
und daß ich vor Schaltjahren stets. Sie mögen ja darüber lachen, daß ich da 
Angst stets gehabt habe, denn in jedem Schaltjahre hatte ich stets ver¬ 
schiedene Arten, Todesfälle u. dgl. (vgl. S. 653 unter 26.5.), da sagte ich auch: 
ich will erst froh sein, wenn das alte Schaltjahr vorüber ist, mir hat es nie 
etwas Gutes gebracht. [Monat?] Ja, wir haben also April. [Wie lange 
hier?] Ja, das weiß ich nun auch wieder nicht genau, das sind erst 
einige Tage her, daß hier — ich hier bin; aber ob meine Tochter, die ja 

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534 


Laehr, 


auch in der Klinik gewesen ist, da wurde denn gesagt, daß der Sarg von 
ihrem Manne dort vorübergetragen wurde, und daß sie den noch mal 
sehen wollte, aber das, ja das muß mir erst allmählich einfallen. [Jahr?] 
Also 1912. [Den Brief mit den Nachrichten gelesen?] Ja, neulich hatte 
ich das ja nur gehört, wohl durch eine Seite der Tür, aber ich weiß noch, 
daß ich die Worte hörte. Aber daß meine Tochter den Brief hat vorlesen 
hören in dem Coupe — [die Tochter gesehen?] Nein, gesehen habeich 
sie nicht; entweder ist sie nicht hingekommen, oder sie ist noch nicht hier. 
Es ist ja wohl noch nicht %6 (vorm. 10 Uhr!), da kommt sie. Ach, meine 
arme Bertha, die hat die Depesche gekriegt. [Woher wissen Sie das?] 
Weil nach dem Wagen telephoniert ist. Wir haben doch eigenes Fuhrwerk 
und haben nicht die Bahnstation B. (vgl. S. 553 unter 26. 5.). Augenblick¬ 
lich — ach nein, ich soll ja noch bei Ihnen sein; jedenfalls ist es dasselbe 
Zimmer, wo ich bei Ihnen behandelt bin, wo ich den hübschen Blick 
auf den Garten hatte. [Glaubten Sie, wo anders zu sein?] Ja, eben wußte 
ich mal wieder nicht genau, ob ich in Zehlendorf war oder in Mentone, 
aber jetzt sehe ich ganz genau, es ist das Zimmer, das ich in Zehlendorf 
hatte. [Alles wie Traum?] Ja, ja, das wird sich ja sofort ändern, wenn 

— ja, diese Nacht und am Tage, da konnte ich mich dem ja ganz hingeben, 
weil ich keine Pflichten hatte, und weil ich Zeit hatte, und weil ich keine 
Kräfte hatte, ich könnte wenigstens sehr wenig leisten, wenn ich auf 
wäre. [Liegen nötig. All das Befürchtete nicht geschehen, alle leben.] 
(Resigniert, bestimmt:) Mein Mann hat sich hier vor meinen Augen er¬ 
schossen. [Das gesehen?] Ja. [Gar nicht hier gewesen.] Mein Mann? 
Ja. Aber das ist ja auch aus der Zeit, wo ich mir gar nicht klar bin, wo 
ich bald hier, bald da war. Auch nachher ist mir ja noch alles durchein¬ 
andergegangen, klar bin ich mir ja erst heute morgen geworden. [Mann 
lebt. ] Dann würde meine Tochter doch schon hier sein, ich habe den Wagen 
doch schon Vorfahren hören. [Alle leben wirklich.] Mein Gott, das sollte 
möglich sein! [Gewiß. ] Aber es war heute vormittag bei meiner Tochter 
doch alles anders, als es sonst da war. [Was anders?] Das Eßzimmer, 
das war ganz anders eingerichtet als sonst, ich habe gefrühstückt dort. 
Und dann nachmittags — das könnte ja gleich geschlichtet werden zwischen 
dem alten Stubenmädchen und der — ja sollte die nun Stubenmädchen 
für hier sein (vgl. S. 554 unter 26. 5.)? Und dann der Frl. B. (Oberin) 

— die hatte ja wohl auch hier gehen wollen, die beide reisen jedenfalls 
heute abend ab. [Gar nicht bei Tochter gewesen.] Ja, meinen Sie? das 
ist mir ja auch etwas wunderbar gewesen. — Aber wir haben doch unten 
im Eßzimmer Mittag gegessen. Allerdings auch, das war anders eingerichtet 
wie sonst. Aber ich weiß, daß die beiden übrig gebliebenen Brüder meines 
Mannes da waren. Der eine war schon abgefahren zum Bahnhof nach 
J, (Bahnstation unweit des Wohnortes der Pat.), und der andre ging auf 
und ab, ich saß da, und da äußerter er sich nicht so freundlich in ver¬ 
schiedenen Punkten, so daß ich da aufstand und nach oben ging. [Alles 


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Ein Fall von aknter Psychose nach chronischem Veronalgebrauch. 535 

erträumt; nicht aus dem Zimmer gekommen.] Ach wenn das Traum 
sein könnte! (faltet die Hände). Ja, es war mir ja auch, die Gründe, alles 
so — ich meine, eben der Schwiegersohn, der doch der jüngste Bruder meines 
Mannes ist (der Bruder ihres Mannes lebt in glücklicher Ehe mit ihrer 
Tochter und in sehr guten Verhältnissen), der hätte alles verjubelt, die 
Pachtung sollte abgegeben sein, das kann doch gar nicht so rasch ge¬ 
schehen und war vor vier Wochen doch noch nicht. Das allerdings macht 
mich stutzig, als wir in das Zimmer heut kamen, wo wir jetzt sind, daß 
— da hatte ich mir Bilder schicken lassen von Hause, und da fragte ich 
mich: wo kommen die Bilder nur her? (Welche Bilder?] Ich habe sie 
alle jetzt abgenommen, sie standen im Stehrahmen da sehr offen.“ Die 
Bilder hat Pat. heute tatsächlich weggeräumt. Die Vorstellungen vom 
Tode der Ihrigen brachte Pat. ohne Pathos, aber mit wehmütiger, etwas 
müder Fassung hervor, wie: sehr schwer, muß aber getragen werden. 
Lebhafter bewegt dagegen bei der Versicherung, daß dem nicht so sei. 
Sprach langsam, etwas eintönig (wederlallend noch stockend); doch öfters 
längere Pausen, sprach dann erst auf die eingeschobenen Fragen weiter. 
Wenig Bewegungen, gerötetes Gesicht, brennende Augen, meist vor sich 
hin gerichtet. Wiederholte nach dem Weggang des Arztes mehrfach: es 
sei wohl ein Traum gewesen, der Arzt hätte ihr das versichert. Aß gut. 

11. 4. Badete 11—12 Uhr; dann so müde, daß sie schlafen könnte. 
Schlief auch etwas. Nachm, wieder 2 y 2 Stunden gebadet. Erst im Bade 
immer klarer, dann viele Gehörstäuschungen. Im Zimmer erregter: der 
Schrank müsse aufgeschlossen werden, da seien Leutnants drin (vgl. 
S. 653 unter 24. 5.). Sie müsse zum Begräbnis und habe keine schwarze 
Kleidung. Hörte Kinder, den Arzt, Wagen usw. Aß gut. Die ganze 
Nacht unruhig, wollte zuletzt den Schrank Umstürzen, weil die Leutnants 
drin seien. Rief einmal laut um Hilfe. Zuletzt im Bett geblieben, sie 
wolle ihre Ruhe haben. Aber dieselbe Unruhe dann auch im Bett. Heute 
Puls 96, regelmäßig, kräftig. Starrt meist vor sich hin. Bei Augen - 
bewegungen zugleich Zucken der Augen, ebenso Nachzucken bei Bewe¬ 
gungen der Gesichtmuskeln (als kämen diese erst durch ein Zitterstadium 
hindurch zur Ruhe). Stuhlgang regelmäßig von selbst. — ..Viel Appetit habe 
ich nicht gehabt, aber es war mir genügend.“ ,,Ich denke noch immer, daß 
ich in Zehlendorf bin, das täuscht noch immer, ich kann nicht darüber 
hin kommen, ob es ein Tag oder eine Nacht ist. [Wo jetzt?] Na, augen¬ 
blicklich fällt es mir ja immer wieder ein, daß ich in Zehlendorf bin. 
[Mann tot?] Nein, das ist nicht wieder gekommen, manchmal wohl, 
aber doch nicht so bestimmt. [Von wem der heutige Brief?] Ja, der war 
von meinem Mann. (Richtig.) [Also klar darüber ? ] Ja, ja. [Täuschungen?] 
Na, die bezogen sich immer auf die Örter, in denen ich war, bald in Berlin, 
bald in Zehlendorf, ich war in Berlin oder in Zehlendorf [Meine Stimme 
nachts gehört?] Nein, aber heute z. B., als ich Sie auf der Treppe hörte, 
da erkannte ich Sie gleich. [Wann?] Ach. das war wohl gestern nach- 


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mittag; nun, als Sie zum letztenmal hier waren, ich weiß nicht, war es 
heute oder gestern nachmittag. [Wie war das in der Nacht mit dem 
Schrank?] Nein, darauf kam es nicht an, sondern auf die Erscheinung 
an der Decke (vgl. S. 663 unter 24. 5.). [Was?] Ja, das habe ich gar nicht 
zu wissen gekriegt. Es sollte mir wohl nicht mitgeteilt werden, damit 
ich mich nicht aufregen sollte, sonst wäre mir doch wohl etwas gesagt worden 
da. [Eine Erscheinung?] Ja. Gott, wie war es denn eigentlich? Eben, 
Geräusche, und als ob ein Vorhang heruntergezogen würde. [Was hinter 
dem Vorhang?] Nein, dahinter war wohl nichts, nur als wie so ein Gleiten 
des Vorhangs, so ein Rascheln, auch Schieben, und das hörte sich wohl 
auch an, als wenn da Klingeln wären; nicht Klingeln, sondern Schlüssel 
da aneinanderklangen an den Türen. [Jetzt?] Ja, höre ich einen Wagen 
fahren. (Richtig.) [Dasselbe Geräusch wie da, als ich im Wagen gekommen 
sein sollte?] Ja, ja, das wußte ich immer, das war das Richtige. (Greift 
nach etwas auf ihrem Deckbett, sucht herum, wischt, wirft etwas an¬ 
scheinend heraus, ohne etwas zwischen den Fingern zu haben; ganz damit 
beschäftigt). [Was da?] Nein, es war nichts, es ist bloß ein Muster drauf, 
das verfolgte ich eben, ein kleines Blumenmuster, so ein eingewobenes 
weißes Blumenmuster. (Richtig; betrachtet das Muster ganz genau. Rote 
umschriebene Flecke auf den Wangen; mäßiges Beben der Hände, weniger 
der Zunge, die auf Aufforderung langsam nach vorn gestreckt wird.) 
[Schmerzen?] Nein, die sind nach dem Bade ganz fort.“ Bei ppssiven 
Bewegungen der Füße und Beine mäßiger Widerstand, auch wenn Pat. 
bedeutet wird, zu erschlaffen. Keine Kniereflexe. Bei leichtem Druck 
auf die Augen sieht Pat. einen Stock, der sich bewegt, hell auf dunklem 
Grunde, dann löst er sich in Kugeln auf. Keine Gesichter. „[Gedächtnis?] 
Das ist noch schlecht, ja. [Datum?] Heute haben wir — 11, 12, 13, 14, 
den 15., denke ich. [Monat?] April. [Wieso der fünfzehnte?] Ich 
rechnete es mir schnell aus mit Ostern, das hatten wir doch am 7. 
(Richtig.) [Wochentag?] Montag. (Wäre richtig, wenn der 15.) [Nein, 
Donnerstag, der 11.] Ach so, richtig, ja. [Wie kamen Sie darauf, daß 
Ihr Gatte gestorben sei?] Ja, das ist mir vollständig unklar. Die ganze 
Woche, weder bei Tage noch bei Nacht, habe ich gewußt, was ich zur 
Stunde gerade vornahm. [Das wissen Sie nicht?] Nein, das ist mir voll¬ 
ständig klar, unklar vielmehr. Das wird wohl das Liegen so gewesen sein, 
und das beim Baden, da horcht man immer viel, und da ist man auf 
diese Gedanken gerichtet, da unwillkürlich. [Brettspiel?] Ja, das habe 
ich auch schon mal gemacht, Halma habe ich mal gespielt. [Vorlesen 
lassen?] Ja, ja, vorlesen und Patience spielen, ja.“ Hat dies vor einigen 
Tagen getan; vorgestern und gestern unmöglich. — 11—12 Uhr im Bade, 
darin größere Unruhe. Nachher gereizt. Hörte von 2 Uhr ab telepho¬ 
nieren, antwortete. Blieb im Bett, nur zweimal heraus. Nachm. 5 Uhr 
Puls 84, gleichmäßig, nicht so stark. „Ja, es geht ganz gut. [Gut ge¬ 
gessen?] Ja, ich habe etwas gegessen. [Schmerzen?] Nein (hebt etwas 


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Ein Fall von akuter Psychose nach chronischem Veronalgebrauch. 537 

die r. Hand, hält sie steif oberhalb der Bettdecke). — Ja, ich finde auch, 
er ist — es ist wohl bald alle. [Mit wem sprechen Sie?] Mit Herrn Sani¬ 
tätsrat Bürger (vgl. S. 554 unter 26. 5.) in — in — na, in der Stadt. Wo 
kam er doch her, na, wo kamen jetzt doch die Herren her ? — Nein, nein, 
es ist gut so. (Gesicht rot; sieht starr meist nach oben bald mehr 1., bald 
r., jetzt auf die Bettdecke und zupft hier und da.) Nein, noch gar nichts. 
— Ma—Ma—Marie (s. S. 663 unter 26.6.) also.— Bertha, hier sind andere 
Sitten, ich will nicht den betrunkenen Mann. Hier wird nämlich auch mal 
wieder sehr weit fortgefahren. [Wer ist denn da ? ] Das weiß ich nicht mal. — 
Was war denn das für ein Kind?—Ein Knabe oder ein Mädchen? —Also 
gewiß, was war? — Also groß, schwarz, — braune Augen, — weiße 
Hände, — schöner Leib (wie nacbsprechend). — Bitte, schwinde. — 
[Hörten Sie die Schilderung des Kindes?] Ja, das höre ich. [Von wem?] 
Von der Decke kommend. — Na, dann ist es ja mal schön (immer Pausen, 
wie nachsprechend oder antwortend. Hebt die Hand, dann den Arm 
hoch, hält ihn so). — Wie wird er aufgehängt? — Wie kommt ihr denn 
da hinauf mit dem Ding ? — Ach so, sie hatten wohl hier unten so ein Ding, 
nicht? — Ja wohl, der wird unten in dem Teich wird er wohl bleiben. — 
Ja, Marie, macht mal; Marie, bind’ mal zu. — Es ist ja kein Band da. — 
So? — Na, ist denn kein Dr. mit? [Was ist denn los?] Ja, ich komme 
nicht dahinter, ich weiß es nicht. [Sehen Sie nichts?] Ja, ja, es ist jetzt 
eine gläserne Kugel, und nun soll — [die Kugel?] Ja, und die soll an 
eine Kette gehängt werden, nicht ? Ist das nicht so ? — Na, da irrst du 
dich sehr. (Sieht nach dem Fenster, legt sich anders, plinkt lebhaft mit 
den Augen.) — Ja, das kenne ich auch nicht, die ganze Geschichte, was 
das alles soll? Ja, so, sie hat dort ein Heiligenbild, das muß nach der 
Straße zu sehr hübsch aussehen. — Nein, dann mach’ ich’s wieder zu. 
(Bewegt die Hand, als wenn sie etwas zumacht; auch weiterhin mit den 
Händen entsprechende Bewegungen.) — (Lachend:) Also W’ein ist es. — 
Das soll da hereingegossen werden? Und dann tanzen die Juden alle da? 
[Sehen Sie die, mit denen Sie sprechen?] Nein, ich sehe euch nicht hier. 
Aber lauter bunte Farben gibt es, tititititititi.“ — Fährt fort, sich in 
gleicher Weise zu unterhalten und Bewegungen zu machen. Ganz be¬ 
schäftigt mit den Delirien, hört Pat. doch jede Frage, hört auch, befragt, 
jedes leise Geräusch draußen. Beides geht nebeneinander her, ohne sich 
zu stören. Widerspruch stört sie nicht. Z. B. „[Ich sehe nichts.] Nein, 
das können Sie wohl auch nicht.“ Als sie einmal aus dem Bett wiU und 
aufgefordert wird, darin zu bleiben: „Ja, das ist wohl auch besser, ich 
kann ja doch dabei nichts nützen.“ (Pat. weiß, daß ihre Tochter im 
August ihrer Niederkunft entgegensieht. Diese hat schon mehrmals 
Frühgeburten und schwere Geburten mit Absterben des Kindes hinter 
sich, Pat. hat vor zwei Jahren eine solche im Hause der Tochter erlebt.) 
T. 37,2°. Auch in den Tagen vorher kein Fieber. 

12. 4. Sprach auch weiterhin viel von Kindern, suchte im Bett nach 


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Kindern, fragte, wie man Kinder behandle, sie sei schon lange außer Übung; 
tat dazwischen, als ob sie nähe, zerriß dabei ihre Bettdecke. Aß gestern 
wenig, nur abends gut. Blieb im Bett. Schlief gar nicht. Heute früh 
gut gegessen. Puls 116. Rote Backen. Starkes Zittern der Hände und 
der (nicht belegten) Zunge. Starrer Blick und starre Mienen, dazwischen 
rasche Bewegungen der Augen und des Gesichts, denen kurze Zuckungen, 
wie Nachwellen, folgen. Plinkt heute besonders oft und lange mit den 
Augen. Sucht „Eierschalen“ auf der Bettdecke, bittet um einen Teller, 
sie da hineinzutun, legt die eingebildeten Schalen dann sorgfältig in den 
eingebildeten Teller, streift mit den Fingern anscheinend ab, was an der 
Hand sitzen geblieben ist, stellt den Teller dann weg, alles eifrig, mit 
großem Ernst, stumm, nur auf Fragen kurz antwortend. Sucht dann 
nach einer Nadel auf der Bettdecke, nimmt sie anscheinend und steckt 
sie an einer anderen Stelle wieder hinein. Wischt mit den Fingern auf 
ihrer Zungenspitze herum, „muß dort etwas herunternehmen“, es geht 
aber anscheinend nicht herunter, sie wischt immer von neuem, „ja, es 
klebt sehr fest“, kann aber nicht angeben, was es ist. „[Geschlafen?] 
Ja, ich habe ganz von allein geschlafen, sehr schön geschlafen.“ Nimmt 
dann „Teile von einer Uhr“ sorgfältig von der Bettdecke, „die lagen — 
na oder ich weiß nicht mal genau. Er brachte mir das eben in der Hand, 
er ist soeben über den See geritten (vgl. S. 564 unter 26. 5.) —.[Über den 
See?] Ja, da läßt sich ganz schön reiten, mein Sohn reitet manchmal. 

ja er reitet sehr gut . (.bedeutet hier und weiterhin, daß 

Worte, die Pat. gesprochen, nicht nachstenographiert werden konnten). 
[Sehen Sie den See und den Sohn?] Ja, da (deutet und blickt zum 
Fenster, während sie vorher nach der Wand, also nach der anderen Seite, 
gesehen hat), da sehen Sie das kleine Stückchen, jetzt, ja der Schnee 
über dem See (man sieht durch das Fenster schneebedeckte Baumkronen 
und Schneeflocken). Da war das Begräbnis gewesen, von wem war es 
doch gerade mal? — [Tut etw’as weh?] Ja, etwas Schmerzen hat er 
dabei wohl, er hatte ja furchtbare Mühe. [Ihnen weh?] Ich habe mich 
in die Zunge wohl ein bißchen geschnitten (faßt an die Zungenspitze, 
als wenn sie da etwas abnimmt, legt es auf die Bettdecke, wiederholt das 
mehrmals). — [Tag?] Heute haben wir also den — 14. April. [Wochen¬ 
tag?] Sonntag. [Woran erkannt?] So, ja an dem gewöhnlichen Leben 
der Tage, was so der Tag mit sich bringt; aber heute, weil da nun etwas 
Besonderes mit war, daß der nun so über den See geritten hat, so sind 

ja. übermütige Leute. die N.er Regimenter ja so schwer zu 

besetzen, und da kam er nach F. . . . und er hatte sich gefunden, und 

sie ritten.hatte ihm den Roßschweif genommen und um die Beine 

gewickelt, ja. ja, und seine Freunde hatten das gesehen. und er 

reitet wirklich über den Fluß_zurück nach N., und da hat ihn der 

Oberst noch angenommen, ja, er hatte ihn angenommen, es ist doch 
immer noch eine Frist für Offiziere. Wenn Sie vielleicht ein wenig 


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Ein Fall von aknter Psychose nach chronischem Veronalgebrauch. 539 

mal weggehn wollten, ich muß doch sehen, wie das Wasser kommt (sucht 
im Bett mit Händen und Blicken), das Wasser da aus dem See, es steht 
schon da unten in meinem Bett. Und wollen Sie mal sehen, wie der Dunsl 
da herauskommt (zeigt hinter sich unten auf die Matratze, sieht aber 
nicht hin, sondern starr vor sich auf die Bettdecke). [Wasser und Dunst 
nicht zu sehen.] Na, das weiß ich auch nicht. (Schweigt und blickt ge¬ 
spannt nach vorn, nimmt dann wieder anscheinend etwas von der Zungen¬ 
spitze herunter). [Was ist das auf der Zunge?] Das ist so eklig, ich tue 
es ja bloß, weil es ein so unangenehmes Gefühl ist.“ — Geht auch heute, 
wie in den letzten Tagen, ohne Unterstützung zum Bade, dabei kein 
Schwanken, auch nicht auf der Treppe; mehrmals leistete sie früher erst 
kräftig Widerstand, fügte sich dann aber (auch später Gang stets gut. 
so schwach Pat. auch sonst schien; durch das Zimmer lief sie bisweilen 
sehr flink). — Sprach im Bad vorm, ruhig vor sich hin viel von kleinen 
Fischen und Tieren, griff danach. Blieb dabei freundlich. Dann plötzlich: 
„Nun will ich aber raus.“ Aß gut. Sah dann Särge, batte Angst, rief 
die Namen ihrer Kinder, sah draußen ihren Mann, einen Hund, wollte 
hinaus, sich betätigen, nähen, knüpfte den Bettbezug auf und zu, zupfte 
Fäden aus, suchte nach einer Nadel, die sie verloren habe. 37,1°. Nach 
5 Uhr Puls 104, kräftig (im Bade). Spielt mit dem Badetuch. Keine 
Schmerzen. „[Hören?] Ja, ja, das ist ja auch ganz natürlich. Denn 

jetzt ist auch der Zwischengang. (nicht verstanden) .und an 

den Seiten ist jetzt das fortgenommen, und da kann das ja nicht aus- 
weichen. (Starrt wie sonst. Rotes Gesicht.) Ja, Herr Doktor, die sind 
ja auch sonst nicht ängstlich damit. Wo ungefährlich die Sachen sind, 
da bin ich ja auch nicht dagegen, aber da draußen gehen die mit dem 
Kinde, und ich kann es hier nicht finden“ (sieht auf ihr Knie, wischt herum. 
Sehr starkes Zittern der Hände). 

13. 4. Badete gestern nachmittag 3 Stunden bis y 2 7 Uhr, dann 
bis «411 Uhr ruhig gelegen, sei müde, sprach wenig. Abend; wieder mehr 
gesprochen, besonders vom Sohne, der nicht aufgenommen werde im 
Regiment. Ermahnte den Sohn, er möge solide sein, gute Bücher lesen 
usw. Gar nicht geschlafen. Heute morgen ganz erschöpft, in Schweiß. 
Verschiedene Stimmungen im Wechsel, heiter, geängstigt; dies nament - 
lieh, wenn sie hörte, Mann oder Söhne und Töchter stürben. Hatte einmal 
auch sechs kleine Kinder im Bett, die versorgt werden mußten. Be¬ 
kommt heute einen Brief der Tochter, die ihre Freude darüber ausspricht, 
daß Pat. sich hier eingewöhnt, und gute Nachrichten gibt. Las den Brief, 
dazwischen aber — beides ineinander geflochten —, was ihr durch den 
Kopf ging (oder was sie hörte?), ganz ohne Zusammenhang zwischen 
den einzelnen Sätzen aus dem Briefe vor. Hatte gestern nachmittag 
auch von der Kaffeetasse, nachdem sie sie lange genau angesehen, alles 
Mögliche abgelesen und später ebenso von einem leeren Blatt Papier 
Heute morgen dann nach dem Briefe der Tochter erregt, drängte heraus 


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zum Fenster hin, so daß der Laden vorgelegt wurde. Die Tochter habe 
geschrieben, Pat. solle zu ihr, solle ihr Nachricht geben, warum sie nicht 
schreibe (nicht der Fall); sie bekomme aber kein Papier (hatte nicht 
schreiben wollen, obwohl es ihr angeboten war). Möchte nicht so „ein- 
gefenst“ sein, sei ganz ruhig, könne alles machen. Ihre Briefe werden nicht 
bestellt, die Tochter habe geschrieben, „ich soll zu ihr kommen, sie liegt 
im Bett, und so viel Besuche sind da. [Brief zeigen!] Ja, die eine Dame 
hat ihn fortgenommen. Lassen Sie mich doch hin, es sind ja nur ein 
paar Schritte bis zu meiner Tochter. [Weit von hier.] Na ja, wenn ich 
auch in Zehlendorf bin (davon war nichts gesagt), so ist es — na ja, es 
kann ja doch nichts helfen. Wenn mein Mann nicht da mal mit Gewalt 
durchdringt—(ißt). [Nacht?] Ich habe wundervoll geschlafen.“ Ißt. 
Kopf zittert leicht; will aufstehen, bleibt aber auf Ermahnung liegen, 
blickt zur Wand, nachdem sie ordentlich gegessen und den Teller fort- 
gestellt; nimmt schließlich ein Buch vor, starrt auf den Deckel, sieht 
ihn dann von außen und innen genau an, schlägt auf, sieht lange starr 
auf eine Seite, dann schnelle Augen- und Kopfbew’egungen wie eines 
rasch Lesenden; dabei lautes Ausstößen von Gas per anum. Als Pat. 
anscheinend die Seite zu Ende gelesen, schlägt sie mit vieler Umständlich¬ 
keit um, bekommt aber trotz aller Mühe eine falsche Seite und liest auf 
ihr weiter. Starrt dazwischen auf die Wand, liest dann aber weiter, hält 
dabei das Buch mit beiden Händen kräftig, alles schweigend. Plötzlich 
zu mir aufblickend: „Also das ist hier A. (Wohnort der Pat. Sieht auf 
die Wand, wiederholt den Namen langsam und deutlich in Silben abge¬ 
trennt, als spreche sie nach oder vor, drückt auf verschiedene Stellen 
der Wand.) Ob das hier aufgeht? — Hier? (Rasch hier und da bald mit 
dem Finger, bald mit der ganzen Hand gegendrückend.) Ich komme 
hier nicht raus. — (Laut rufend:) Nicht rauszukommen. — Nein, nein. 
— Ja. — Ja. (Klopft an die W’and.) — Sie möchten mich mal ein bißchen 
hier rauskommen lassen, sagt H. San.-Rat Laehr. Sie möchten mir hier 
an der Spitze mal aufmachen. Früher w T ar das doch alles hier auf, und 
man konnte in dem und in dem (nach rechts und links zeigend) Garten 
sein. — Nein, versucht hat sie nicht, aufgemacht hat sie nicht (letzteres 
zum Ref.)“. Nimmt dann wieder das Buch mit zitternden Händen und 
blickt hinein. Urin von heute früh etwa 150 ccm; 1,033; reichliche Urate; 
eine Spur Eiweiß (Kochen mit NOaH), kein Zucker, kein Azeton, keine 
Fe»Cle-Reaktion; keine Zylinder. — Körpergewicht: 57 kg. 

14. 5. Sprach weniger vor sich hin, antwortete aber auf Stimmen 
und rief nach ihren Angehörigen, wollte zu ihnen, telephonierte mit ihnen; 
mehr Angst, die Kinder werden erschossen. Antwortete. Badete vorm. 2, 
nachm. 2 Std. Aß genügend, nur mittags schlecht, trank viel Milch. 
Schlief nach Tisch 1 y 2 Std., zuckte dabei mehrmals zusammen. Abends 
0,01 Morph., lag danach ruhig, schlief y 4 St., dann wdeder dasselbe. Angst, 
daß ihren Kindern etwas geschehe, bat den Landrat für sie, lag heute 


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Ein Fall von akuter Psychose nach chronischem Veronalgebranch. 541 

gegen 7 Uhr erst ruhiger, ließ sich waschen und das Haar machen, sprach 
hierüber klar. Liegt seitdem ruhig. Stuhlgang wie sonst von selbst. Puls 
nicht so kräftig, durchaus normal weich, 70—80. „Es geht mir eigentlich 
ganz gut.“ Zittern erheblich geringer, Gesicht nicht so rot. „[Nacht?] 
In der Nacht war es mir ein wenig unruhiger, aber jetzt seit y 2 8 Uhr habe 
ich ganz still gelegen den ganzen Vormittag. [Geschrieben?] (Pat. hatte 
gestern davon gesprochen, aber nur Striche zu Papier gebracht.) Nein, 
es hat ja keinen Zweck, wenn man auch sagt, daß man ein Blatt Papier 
haben will, man bekommt es ja doch nicht. Daß man selbst etwas veran¬ 
lassen kann, das ist ja ganz ausgeschlossen.** Sagt dies nicht gereizt, 
lächelt. 

15. 4. Blieb gestern (abgesehen vom zweimaligen Bade) im Bett, 
rief aber oft nach ihrem Sohn und dem Landrat. Der Landrat sollte den 
Sohn beim Regiment anbringen. Glaubte dann, daß ihr Mann sich Veronal 
angewöhnt habe (vgl. Aufzeichnung S. 560), nachdem er so viel darüber 
gescholten, daß sie Veronal genommen; ihr sei das hier so gut bekommen, 
und sie schlafe so ausgezeichnet, daß er nun auch hierher kommen solle. 
Versuchte auf Aufforderung zu schreiben, konnte erst nicht recht, der 
Bleistift hafte am Papier; schrieb dann zittrig: „Herr Geheimrat!“ (vgl. 
S. 552 unter 24.5.), kam nicht weiter; an ihren Mann schreibe sie nicht, 
der wisse ja doch durch den Arzt Bescheid. Aß ziemlich gut. Stuhlgang 
von selbst. Kein Urin im Nachttopf (bei Stuhlgang und Bad verloren?). 
Abends zuerst ruhig im Bett. Höre Gepolter, als wenn ihr Mann oder 
Sohn im Hause sei, die möchten doch kommen. Beruhigte sich, als sie 
hörte, daß unten noch reingemacht werde. Dann erst noch hin und wieder 
gerufen, 1—3 Uhr geschlafen, dann wieder geklopft, gerufen, aber nicht 
aus dem Bett gekommen. Puls 88, voll, aber nicht hart. „Mir geht’s ganz 
gut; es wäre doch viel schöner, wenn ich draußen etwas herumgehen könnte.“ 
Rötung des Gesichts noch deutlich, aber weniger stark. Ebenso Zittern 
der Hände deutlich, aber auch geringer. Zunge, fest um die Unterlippe 
gelegt, zittert nicht, ist nicht belegt. Trizeps- und Radialisreflex sowie 
1. Kniereflex nicht hervorzurufen, aber auch keine völlige Entspannung. 
R. Kniereflex einmal deutlich, aber sehr schwach. „[Nacht?] Ja, ich 
habe diese Nacht sehr schön geschlafen und schlafe auch gleich ein. Na, 
die Nächte waren verschieden, mal habe ich ruhiger geschlafen, mal 
unruhiger; daß ich eine wie die andere geschlafen habe, das kann ich nicht 
sagen. — Ja, mir ist immer und auch heute gesagt worden, ich möchte 
mich mit allen Fragen an Sie wenden, H. San.-Rat. Sie wissen doch 
ganz so gut wie ich, daß mein Mann gestern hier gestorben ist (gar nicht 
deprimiert im Ausdruck). Und da war mein Schwager heute hier, um 
mit mir zu sprechen, was ich als Witwe zu tun habe. — [Ihr Mann ge¬ 
storben? Was bringt Sie zu der Meinung?] Ja, also, daß er erst hier 
war, das weiß ich ja. Als ich im Bade war, da hörte ich ihn ja. [Gesehen 
auch?] Ja, wie ich im Bade war, ja, da war er auch im Flur gewesen, 


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und er wußte auch, daß ich da im Bade war, und er wollte mich noch ein¬ 
mal sehen, aber da ward ich da an ihm vorbeigeschoben, das vergesse 
ich auch mein Lebtag nicht, und er rief noch: lassen Sie mich sie doch 
noch einmal sehen, aber nein, das gab’s nicht. [Weshalb nehmen Sie an. 
daß er nun tot ist?] Weil ich nachher bei Tisch, da lag ich nachher zum 
Ausruhen, na ich kann da nicht immer so unterscheiden, ich merke das 
immer an Kleinigkeiten, so ein Ideechen am Kleiderschrank oder an der 
Lage merke ich es, ich habe auch in anderen Zimmern gelegen (stets 
in demselben!), die dieselben Bezüge haben und Decken, aber doch etwas 
anders sind. Also da hörte ich von einem der Zimmer, die nach der Wohnung 
des Geheimrats zu liegen, ein Laufen, und hörte ich, wie der Geheimrat 
sagte — [Welcher Geheimrat ?] Ja, ich denke immer, daß er jetzt Ge¬ 
heimrat ist, unser Landrat (vgl. S. 552 unter 24.5.), von unserem Kreise, 
von E. Und die ganze landrätliche Wohnung, die geht doch da entlang 
(vgl. S. 550, Aufzeichnung). Die Frau habe ich doch auch gehört. [Hier 
im Hause keine landrätliche Wohnung.] Ja, in Verbindung muß sie wohl 
sein. Ja, gestern, da war ich drüben in dem Flügel, ich glaube, das war 
nach dem Mittagessen. Aber abends war ich dann wieder auf dem andren 
Flügel und bin nun wohl in dem Zimmer, in dem ich in der Nacht gelegen 
habe, das weiß ich nicht, ja, das muß es aber wohl eigentlich sein. (Hört 
eine längere Auseinandersetzung, daß ihr Mann lebt, sie immer in diesem 
Zimmer oder in der Badestube gewesen, weder Mann noch Landrat hier 
gewesen usw., ohne äußere Erregung an. Nur einmal: „O nein.“ Dann 
nach einer Pause:) Was ist denn über mich beschlossen mit dem nach 
Haus fahren? Ich muß doch hin. Diese Steppdecke z. B., die liegt nun 
schon den zweiten Tag, ohne daß der weiße Bezug darüber ist. Auch meine 
Toilette-Gegenstände sind eingepackt und kommen nicht wieder. Auch 
hörte ich von zwei Gepäckdroschken reden, hoffentlich können wir nach 
Haus fahren zu meinem Schwiegersohn, und von Wagen war auch die 
Rede. [Wagen nicht hier; von Abfahren nicht die Rede.] Na, ich meine 
nur, ob wir heute schon abfahren können. [Heute noch nicht.] Na, wenn 
ich heute noch nicht fahren darf, so möchte ich doch sehr um Erlaubnis 
bitten, daß mein Sohn, der seit gestern hier ist, zu mir kommen kann. 
Er hat schon hier und da seinen Kopf zu mir hereingesteckt, das arme 
Kind. Er ist schon ganz verzweifelt ordentlich, nun kriegt er mich auch 
nicht zu sehen (vgl. Aufzeichnung S. 550) und — [Er nicht hier; alles 
wache Träumerei.] Ja, und eben deshalb finde ich das viel besser, wenn 
ich ein wenig in Tätigkeit hineinkomme. Man liegt hier so und guckt 
vor sich hin, das ist wirklich, da wird man ja verrückt von. Sonst habe 
ich doch Besuch gehabt in der ersten Zeit und zu lesen, jetzt liege ich 
aber ganz so, da werden die Glieder natürlich unwillkürlich geschwächt.“ 
(Lesen, Brettspiel, Vorlesen gestern umsonst versucht; am ruhigsten, 
wenn Beaufsichtigung vom Nebenzimmer aus.) Als der Pat. jetzt ein 
Buch gereicht wird, sieht sie hinein, wirft es aber, als Ref. kurz darauf 


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Ein Fall von akuter Psychose nach chronischem Veronalgebrauch. 543 

hinausgeht, schon aus dem Bett zu Boden. Schreibt gegen Mittag auf 
einem Briefumschlag an ihren Sohn (zittrig, undeutlicher als sonst, Linien 
nicht ganz gerade; richtige Adresse; vgl. hiermit und mit dem folgenden 
die Aufzeichnung der Pat., S. 550—551, und ihre Ergänzungen am 24. 5. 
S. 552): „Fahre gleich nach F. (wo er ist, und wohin auch der Brief 
adressiert ist) zu Deinem Hauptmann und bitte ihn um Rat, da Du nie¬ 
mand hättest. Kannst Du nicht bleiben, bitte Onkel N. in L. bei F. um 
seinen Rat und lerne Landwirtschaft, er soll Dir eine Stellung zum Lernen 
besorgen, später wird es dann anders. Du tust mir so schrecklich leid 
mein armes Kind und sie lassen Dich nicht zu mir, damit wir alles be¬ 
sprechen können, ich werde auch heute in eine Irrenanstalt gebracht, 
so wird man langsam dahingebracht, wenn wir uns heute nicht Wieder¬ 
sehen, werden wir’s wohl nimmer. In treuer Liebe Deine Mutter. — Laß 
Dir auch noch Geld geben, es ist da. — Versuchs auch hineinzukommen.“ 

Nachm. 5 Uhr im Bade: „Ich habe doch gehört, daß der Ludwig 
(Sohn) hier ist, und von Rechts wegen, gebe ich ja zu, vertrüge es sich 
doch besser mit seiner Ehre, wenn er sich eine Kugel durch den Kopf 
schießt, aber er ist doch gar nicht so schuldig, und ich habe ja schon auf¬ 
geschrieben, daß er zum Hauptmann fahren soll. Und von Ihrem Stand¬ 
punkt halten Sie es doch auch dafür, daß er nicht ganz seine volle Gesundheit 
hat, und da könnten sie ihm doch auch so etwas ausstellen, so ein Zeugnis, 
wie für mich auch. Alle die Quakelei ist doch mehr ein Zufall, was da 
in E. passiert ist. Und dann würden Sie wohl auch für ein sicheres Fort¬ 
kommen zum Bahnhof sorgen können. Ach, dann hätte ich doch auch 
eine ruhige Stunde mal wieder! Ach, es ist ja nicht ganz richtig, das; 
das weiß ich. — Ach Gott, Sie sollten ihm doch nur eine Stube geben, 
es regt mich so auf, auf dem Korridor, ich versteh’s ja auch nicht, und geben 
Sie ihm doch auch reichlich Geld mit, es soll Ihnen kein Schaden daraus 
erwachsen, wenn das alles ordentlich aufgeschrieben wird und— [Hören 
Sie wieder viel?] Na, das ist ja verschieden doch, z. B. heute nach Tisch 
oben, da war es ja ganz ruhig oben und ordentlich, es ist ja nur so, wo der 
Schall zu mir herüber kommt. [Im Bade ?] Ja, ich glaube, ich habe richtig 
gehört alles. Ich war ja auch infolgedessen so furchtbar in Aufregung, 
das sage ich ganz offen. Wenn er ihnen in die Finger fiele, da würde er ja 
ganz in Stücke gerissen. Dafür müssen Sie schon sorgen. Kann er nicht 
in den Krankenwagen hineinkommen mit, in dem ich fahre?“ Scheint 
durch die Erklärung, daß dem Sohn keine Gefahr drohe, und daß zu Haus 
alles gut stehe, beruhigter, „dann ist’s ja gut“, aber doch nicht g^nz über¬ 
zeugt, „ich habs aber doch gehört“, „helfen Sie ihm nur fort!“ — Urin 
von der Nacht 350 ccm; klar; 1,029; kein Eiweiß, kein Zucker. 

16. 4. Hatte schon gestern vorm, davon gesprochen, daß ihr Sohn 
in hölzerne Ketten gelegt sei wegen eines dummen Streiches; der Landrat 
verberge ihn jetzt und habe mit Pat. gesprochen und ihr guten Mut 
gemacht, bei ihm könne dem Sohn nichts geschehen. Aber wo nun mit 


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Laehr, 


diesem hin? Am besten in die Irrenanstalt, in die Pat. kommen solle. 
Gestern nachmittag: man müsse die Vögel verhindern zu pfeifen, denn 
dadurch-höre sie immer ihren Sohn pfeifen und zwar so gräßliche Melo¬ 
dien. Mittags und nachmittags nicht viel gegessen. Habe Hunger, könne 
aber das Essen nicht herunterwürgen, habe zuviel durchgemacht in diesen 
Tagen; was sie und ihr Sohn gelitten, könne man gar nicht sagen. Gegen 
Abend sprach Pat. öfters in gereizter Weise, was der Arzt gesagt, glaube 
sie nicht; sie wisse genau, daß es andres sei, habe es doch gehört und 
wisse daher, was hier vorgehe, höre doch auch jetzt die Ihrigen, man 
könne ihr doch also nichts vormachen. Schlief in der Nacht mehr, wenn 
auch mit vielen Unterbrechungen, zuckte im Schlaf öfters zusammen. 
Heute Puls 72. Hat ein Journal vor. „[Noch Angst?] Ach ne, heute geht 
es ja wieder. [Wie kam das gestern? Hörten und sahen Sie ihren Sohn?] 
Natürlich hörte ich ihn, und einmal hörte ich auch seine Schritte, da 
guckte ich aus dem Fenster, und da sah ich ihn da Vorbeigehen, sonst 
habe ich ihn immer nur gehört.“ Sie sei fest überzeugt davon, daß sie 
ihn gehört und das eine Mal auch gesehen habe. „[Auch heute gehört?] 
Nein, nein, nun habe ich das ja auch rausgemerkt, daß er gestern bloß 
bis Z. gekommen ist, da hat ihn denn sein eigner Onkel totgeschossen. 
[Heute sonst Stimmen gehört?] Nein, nein. [Sohn lebt. Wollen ihm 
schreiben und um Antwort bitten, damit Pat. sich selbst überzeugt; sie 
möge seine Adresse sagen.] Er ist ja nicht hingekommen, er wollte ja 
nach F. fahren zu seinem Regiment. Sonst ist es ja auch gut so. Wenn 
ich nur wüßte, was mit seiner Leiche geschehen ist. Denn mein Schwager 
war ja gestern abend noch da, der ist ja auch die Nacht hier geblieben 
mit meinem anderen Schwager zusammen. [Den Schwager heute gehört ?] 
Nein, heute habe ich nichts gehört; d. h., es war mir so, ganz weit ent¬ 
fernt, daß das seine Stimme war. Aber gestern abend habe ich ihn ganz 
deutlich gehört, da habe ich ihn ja auch hier stehen sehn. [Im Zimmer?] 
Nein, ich guckte so um die Ecke durch die Tür, da sah ich ihn dort stehn 
(vgl. S. 552 unter d. 24. 5.) und hörte ihn ja auch sprechen da. [Heute 
nicht?] Nein, nein, heute gar nicht.“ Auf Aufforderung, an Sohn oder 
Mann zu schreiben: das werde sie nicht tun, das sei ja doch umsonst. 
Aber an ihre Schwägerin, die sei ja gar nicht mehr gekommen. „Bin ich 
denn überhaupt noch in dem Zehlendorf in Berlin, wo meine Schwägerin 
mich besucht hat?“ Hatte vorher die Pflegerin fortgewiesen, die solle 
ihr nicht so nahe kommen, da? schade ihr (der Pat.); sprach dann von 
Elektrizität und elektrischen Drähten, als ob diese von der Pfleg, aus- 
gingen. Ruhig, als die Pflegerin sich vor die Tür setzte. Erwähnte dem 
Ref. als Grund für die Annahme, daß alle tot seien, auch dies, daß sie 
keine Briefe erhalten, und daß auch die Schwägerin in den letzten Tagen 
nicht gekommen sei. Als sie hörte, daß Ref. letztere gebeten, einige Tage 
nicht zu kommen: der Besuch hätte ihr auch nicht geschadet; sie müsse 
doch denken, wenn niemand sich um sie kümmere, daß etwas Schlimmes 


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Ein Fall von akuter Psychose nach chronischem Veronalgebrauch. 545 

passiert sei. Schreibt an die Schwägerin und an eine Freundin kurz um 
Besuch, datiert vom 23. 4., aber Schrift gut, keine zittrigen Linien. 
Schrift nach Aussage der Schwägerin wie aus gesunder Zeit. — Nacht¬ 
urin 580 ccm, klar; 1,016; kein Eiweiß. 

17. 4. Sprach gestern vormittag noch davon, daß im gegenüber¬ 
liegenden Zimmer ihre beiden Schwäger wohnten; sie habe sie ja am 
Abend vorher gesehen; ob die schon ausgeschlafen hätten? Immer freier. 
Nachmittags sprach Pat. nur vom Baden und von hiesigen Verhältnissen, 
Frühjahrsreinmachen usw., nichts mehr vom Tod der Ihrigen oder dem 
hiesigen Aufenthalt derselben. Ließ sich vorlesen, las dann selbst. Schlief 
abends 9—11 Uhr, ließ dann Licht aufdrehen, weil sie Angstgefühl habe, 
aus dem Schlaf geschreckt sei, schlief anscheinend wieder von 12—5 Uhr, 
später nochmals. Kein Zusammenzucken im Schlaf beobachtet. Hatte 
gestern gut gegessen. T. 37,1° (stets ohne Fieber gewesen), Puls 94. „Ja, 
geschlafen habe ich, nur so vor 12 kam etwas Unruhe, die ging aber bald 
wieder vorüber.“ Zunge nicht belegt, zittert fast gar nicht; auch Hände 
viel weniger. Täuschungen nicht mehr, scheint keine genaue Erinnerung 
daran zu haben, als sie danach gefragt wird. Dann aber auf die Frage, 
ob sie noch glaube, daß sie das alles wirklich gehört, unsicher: „Na, das 
weiß ich doch nicht so sicher.“ Nachturin 540 ccm, klar; 1,023; kein Eiweiß. 

18.4. Gestern auch weiterhin nichts von Täuschungen. Nachmittags 
Besuch der Schwägerin. Nachher: sei beruhigt, habe bis jetzt doch ge¬ 
dacht, die Ihrigen seien tot, habe sich schon ganz damit abgefunden, 
zur Schwägerin ziehen zu müssen. Auch daß hier die Pflegerin nachts 
ihr Bett elektrisch gehoben habe, sei ihr bisher glaubhaft gewesen, und 
sie habe immer geglaubt, schon eine Woche weiter zu sein. Leidlich ge¬ 
gessen und mit Unterbrechungen nachts geschlafen. Puls 72, weich. 
Habe in der Nacht einmal Angstgefühl gehabt, aber ganz allgemein ohne 
besondren Gegenstand. Jetzt nicht. Höre nicht mehr Stimmen. Be¬ 
ruhigt über die Ihrigen, namentlich nach Brief des Mannes (heute morgen). 
Großes Schwächegefühl. Zittern der Zunge ganz, des Gesichts und der 
Hände fast ganz vorüber. Kniereflexe bdsts. schwach. Liegt ganz ruhig. 
Liest manchmal. Nachmittags Brief an ihren Mann (richtig datiert): 

..Heute früh erhielt ich Deinen lieben Brief und danke Dir für 

alle guten Nachrichten. Ich war wohl acht Tage sehr krank, habe unter 
entsetzlichen Träumen gelitten und kann auch jetzt keinen Übergang 

von damals zu jetzt finden. Gestern war auch.ein Stündchen hier 

und bestätigte mir, daß Ihr alle lebtet, ich hatte mich schon damit abge¬ 
funden, daß Bertha und ich allein übrig geblieben, der schreckliche Ft. trieb 
Ludwig in den Tod. Ich schlafe noch immer wenig, nachts sehr unruhig und 
voll Angst, ich werde ja immer einen Tag auf den andren vertröstet, 

liege auch noch immer im Bett. Viele treue Grüße.“ — Nachturin 

400 ccm, klar; 1,023; kein Eiweiß, kein Zucker— Körpergewicht: 58 kg. 

19. 4. Nur abends gebadet zwei Stunden. Dabei sehr behaglich. 


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Bald eingeschlafen; nach zwei Stunden mit Angst aufgewacht; habe 
wieder das Gefühl, als werde sie in Stücken zerrissen, wie sie es auch 
sonst schon gehabt. Es mußte Licht gemacht werden, damit sie sah, 
daß nichts Besonderes im Zimmer war. Dann ruhig gelegen. Heute Puls 
80. Dies sei schon die dritte Nacht, wo sie um Mitternacht aufgewacht sei 
mit dem Gefühl, „als sollte ich in Stücke zerrissen werden, daß ich die 
Füße fest anstemme oder gegenstemme aus Furcht. Dann rufe ich, 
und dann geht es bald vorüber“; „als wenn an mir herumgezerrt wird: 
ja, ich möchte sagen, ich fühle das so von außen“, „Füße und Hände ganz 
fest angepreßt, die Füße ans Bett und die Hände aneinander, so ein Angst¬ 
gefühl und Unruhe; in V 2 St. geht es dann vorüber.“ Habe vorher nicht 
geträumt. „Daß ich richtig sagen kann: ich habe jetzt geschlafen, das 
kann ich überhaupt nicht sagen. Aber mir war es gestern den ganzen 
Tag sehr gut gegangen, ich habe gelesen usw.“ Beim Gefühl des Zerrissen - 
Werdens ein Kribbeln, kein Schmerz, „ein Gefühl: wenn ich mich jetzt 
nicht dagegen wehre, dann kommt’s.“ Nachher habe sie wohl manchmal 
im Halbschlaf, jedenfalls nur unruhig gelegen, „na, ein Stündchen mag 
ich ja dann eingeschlafen sein, das kann ich ja nicht sagen“. Nachturin 
840 ccm, klar; 1,015; kein Eiweiß. 

20. 4. Leidlich. Nach ^ständigem Besuch der Schwägerin: das greife 
sie doch noch sehr an, das könne sie noch nicht ertragen. Nach Bad bis 
12 Uhr geschlafen, dann aufgewacht, aber ohne Angst und ohne zu rufen. 
Gegen Morgen noch geschlafen. Gut gegessen. 

21. 4. Besuch ihrer Pflegemutter. Klagte bei Tage mehrmals, 
nun halte sie es im Bett nicht mehr aus und sei doch noch so schwach. 
Geschlafen 10—12 und 1 — l / 2 l Uhr. Habe um 12 Uhr Angst gehabt, 
aber ruhig gelegen. 

22. 4. Vorm, über Blumensendung erfreut; nachm, verstimmt. 
Habe auf Wunsch des Arztes ein Loch gestopft, das habe sie angegriffen 
Dann wieder: es sei langweilig; warum sie noch nicht an Geselligkeit 
teilnehmen dürfe? Nachts erst 3 Uhr eingeschlafen, aber ohne Angst. 

23. 4. Sehr gern draußen in der Hängematte. KafTee in Geselligkeit 
getrunken. y 4 Std. spazieren. Nacht „recht gut“; um 11 Uhr nach der 
Pflegerin gerufen, weil Angst. Aber als Licht gemacht, wieder einge¬ 
schlafen. 

24. 4. Freundlich, aber alle Glieder wie zerschlagen, ganz matt. 
Nicht spazieren, könne nicht. Nacht gut. 

25. 4. Nachm, und nachts Schmerzen im r. Arm, sei in der Nacht, 
vom heftigen Reißen aufgewacht, sonst aber gut geschlafen. Aber auch 
nach gutem Schlaf w-ache sie stets matt und abgespannt auf. 

28. 4. Nach guten Tagen gestern ärgerlich und gereizt, daß sie mit 
einer Pflegerin, statt wie bisher mit der Oberin, spazieren gehen sollte. 
Tat es nicht, ging nur um das Haus herum. Klagte auch, daß bei ihrem 
Herkommen ihre Sachen gezählt worden sind; das sei doch dazu angetan, 


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Ein Fall von akuter Psychose nach chronischem Veronalgebranch. 547 

jemanden aufzuregen. Sie brauche das nicht, sei nicht so krank. Diese 
Nacht ohne Bad geschlafen. Körpergewicht: 59 kg. 

I. 5. Ging mit der Pflegerin und anderen . Pat. spazieren (sie 
hatte der Schwägerin noch vor wenigen Tagen viel über hier geklagt 
und erklärt, daß sie das nie tun würde), war vorher, nachdem sie dem 
Wunsche des Arztes zugestimmt, rot und stumm, nachher ganz gesprächig. 
Nacht geschlafen. Muskelzucken im Gesicht heute wieder recht lebhaft, 
namentlich im r. orbic. oculi. 

4. 5. Schlaf, Appetit und Stimmung gut. Besuch des Gatten. Macht 
jetzt gern Handarbeit. Erzählte, zum Veronal sei sie gekommen infolge 
der vielen Gedanken, die sie sich um das Familienunglück machte. 

6. 5. Besuch des Gatten. Machte mit ihm aus, bis Ende des Monats 
hier zu bleiben. Sehr guter Stimmung. — Körpergewicht: 60,5 kg. 

9. 5. Vergnügt. Starkes Augenplinken, auch sonst Zucken der Ge¬ 
sichtmuskeln, besonders der Stirn. Erzählte, wenn jemand etwas sage, 
was mit ihren Delirien Zusammenhang habe, dann möchte sie sagen: 
ja wohl, das habe ich auch gesehen oder gehört, und dann falle ihr erst 
ein, daß das ja in der Krankheit gewesen sei. 

II. 5. Spielte Klavier, dann sehr roter Kopf. Klagte Schmerzen 
im r. Arm. 

16. 5. Hat der Schwägerin, die Pat. öfters besucht, seit dem Besuch 
des Mannes nicht mehr geklagt. Hat auch uns gegenüber, abgesehen 
vom r. Arm, keine Klagen, ist munter, voll Interessen. Beim Klavier¬ 
spiel allmählich weniger rot, wohl aber oft plötzlich während des Ge¬ 
sprächs. Gibt über die Vergangenheit anscheinend ganz unbefangen 
Auskunft. Habe früher gelegentlich einmal wegen Schlaflosigkeit ein 
Morphiumpulver genommen, aber nur selten. Seit 6 x / 2 Jahren aber regel¬ 
mäßig Veronal. Damals habe sie wegen der Scheidungsangelegenheit 
ihrer Tochter viel Erregung und Sorge gehabt, sei fast ganz schlaflos 
geworden, und da habe ihr ein bekannter Herr geraten, 1 y 2 Tabletten 
Veronal zu nehmen, was er täglich tue; Gefahr sei nicht dabei. Sie habe 
das getan und wie eine Tote geschlafen, deshalb sei sie bald auf 1 Tablette 
(0,5) heruntergegangen. Dabei sei sie etwa 3 Jahre geblieben (tgl. 0,5), 
habe gut geschlafen, morgens keine Beschwerden gehabt, sich tagüber 
frisch gefühlt und durchaus wohl befunden. Dann sei sie auf 1 y 2 Tabletten 
gestiegen und dabei etwa 2 y 2 Jahre geblieben, von da ab 1 l / 2 —2 Tabletten, 
2 Tabletten namentlich, wenn sie ausgewesen oder mehr gesprochen. 
Doch seien auch 2 y 2 —3 Tabletten vorgekommen. Bei Tage oder in der 
Nacht habe sie nichts genommen. Einmal — es mögen 2 y 2 Jahre her 
sein — habe Pat. auf Wunsch ihres Gatten, der alles vom Veronal ableitete, 
wenn sie mal nicht wohl oder reizbar war, 3 Wochen nichts genommen, 
aber in dieser Zeit gar nicht geschlafen, ganz elend geworden, bis sie 
wieder zum Veronal überging oder vielmehr zum Medinal in gleicher Dosis, 
weil sie Veronal nicht mehr ohne Rezept bekam und ein Arzt ihr trotz 

Zeitschrift für PsyohUtri«. LIIX. 4. 38 


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Laehr, 


anfänglichen Abratens schließlich auf ihr Drängen Medinal verschrieb, 
das wenigstens immer noch besser als Veronal sei. Sie nahm hiervon bis 
zu 3 Tabletten. Medinal wirkte schneller. Dazwischen nahm Pat. ab 
und zu auch Veronal, wovon sie noch von früher Vorrat besaß. Bis vor 
kurzem fühlte sie sich dabei immer wohl, nie benommen, hatte nie Aus¬ 
schlag oder sonstige Störung. Erst im letzten Jahr nach schwerer Krank¬ 
heit der Tochter, über die Pat. sich sehr erregte, fühlte Pat. sich oft ange¬ 
griffen, verstimmt, reizbar, hatte nicht mehr Lust zu irgend etwas. Ver¬ 
stimmung und Beschwerden nahmen zu und waren zuletzt recht stark. 
Als nun auch die Reise nach dem Süden im Februar und März, auf die 
Pat. große Hoffnung gesetzt, nichts änderte, ihr auch da alles gleich¬ 
gültig war, sie keine Freude hatte wie früher, entschloß sie sich rasch zum 
Sanatorium, denn sie sah ein, es mußte sein. — Wein und Bier habe 
sie nie vertragen, habe danach nie geschlafen, sondern sei nur erregt danach 
geworden und lebhaft. Seit etwa 3 Jahren habe sie daher kaum etwas 
getrunken, höchstens, wenn sie in Gesellschaft war, mal ein halbes Glas; 
Likör gar nicht seit vielen Jahren, weil sie danach gar nicht habe schlafen 
können. Dagegen habe sie nachm, gern zwei Tassen starken Kaffee ge¬ 
trunken, weil sie nach der halbstündigen Mittagruhe sich meist matt 
und abgespannt gefühlt habe bis zum Kaffee. Tee gar nicht getrunken. 
Geschwitzt habe sie schon als Mädchen nicht, statt dessen sei sie stets 
sehr leicht und sehr stark rot und heiß im Gesicht und Kopf geworden, 
so regelmäßig, wenn sie mehr gesprochen, Klavier gespielt, sonst etwas 
mit Eifer getan habe (dies leichte Erröten von der Schwägerin bestätigt). 
Sie erinnere sich nur, daß sie als junge Frau beim Plätten geschwitzt; 
die Plättstube sei ungewönhlich heiß gewesen, und da seien ihr wohl mal 
Rücken und Oberarme feucht geworden, mehr auch da nicht, dagegen 
der Kopf so rot, daß es ängstlich aussah. Später habe sie nicht mehr mit- 
geplättet. — Jetzt seien ihr die scheinbaren Erlebnisse der kranken Zeit 
noch so deutlich in Erinnerung und so lebendig, daß sie das mit der Wirk¬ 
lichkeit leicht mal verwechseln könne. Als neulich vom Gesang der Tochter 
des Ref. die Rede war, hätte sie beinahe gesagt: Die habe ich auch schon 
singen hören, weil sie in der kranken Zeit die Kinder der hiesigen Ärzte 
so wunderschön habe singen hören (vgl. S. 532 unter d. 10. 4.); gerade, 
als sie das aussprechen wollte, erkannte sie noch zur rechten Zeit, daß 
das ja unter die Täuschungen gehörte. Und so gehe es ihr öfters. Sie 
habe schon neulich ihrem Mann gesagt, dessen Bruder (= R. im Brief 
S. 545) möchte sie vorläufig nicht sehen, weil der sich in ihren Traum- 
erlebnissen so scheußlich benommen habe und sie den hieraus erwachsenen 
Unwillen trotz besserer Erkenntnis noch nicht überwinden könne. 

18. 5. Schmerzen im Arm besser, dagegen jetzt im Nacken. Schlief 
auch bei Tage im Freien. Nächte gut. 

19. 5. Gestern Besuch von vier Damen. Das sei doch etwas viel 
gewesen. Auch jene empfanden, daß Pat. aufgeregter als sonst sei. Nachts 
einmal aufgewacht. 


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Ein Fall von akuter Psychose nach chronischem Veronalgebranch. 549 

20. 5. Wundere sich, daß sie seit der Entziehung nie mehr das Ge- 
fohl der Mattigkeit habe. Dagegen jetzt wieder häufiger starke Rötung des 
Gesichts, was eine Zeitlang zurückgetreten war. Erst um 11 Uhr einge¬ 
schlafen. 

21. 5. Vielfach roter Kopf. Das Blut schieße ihr immer hinein, 
das sei schon mal besser gewesen. Nachts erst 3 Uhr eingeschlafen, dann 
gut bis 7 Uhr. Beschäftigt sich fleißig. Puls 84. Habe mit 46 Jahren ihr 
Unwohlsein verloren, nachdem es vorher schon monatelang ausgeblieben (zu - 
erst mit 44 J.). Im ersten Jahr der Menopause sei häufig das Blut plötzlich 
ohne Veranlassung in den Kopf geströmt, sogar manchmal so, daß kalter 
Schweiß auf der Stirn entstand. Die letzten Jahre sei das aber ausge¬ 
blieben und erst jetzt seit 1 % Wochen wieder aufgetreten. Am roten 
Kopf habe sie ja schon immer gelitten, schon als kleines Mädchen, und 
leide auch jetzt daran, sobald sie etwas lebhaft werde. Was sie jetzt meine, 
sei aber etwas anderes; es trete auf, wenn sie nichts spreche, nichts denke, 
nichts tue. Unangenehm sei beides, aber hier sei das Gefühl des Voll- 
seins stärker, sie fühle die Adern anschwellen, sogar in den Händen. Das 
Unwohlsein habe sie mit 12 Jahren bekommen, während ihre Schwester, 
die immer bleichsüchtig gewesen und an Gehirntuberkeln im 15. Jahre 
gestorben sei, es überhaupt nicht bekommen habe. Ihr Vater sei 68 Jahre 
alt an Lungenentzündung gestorben; ihre Mutter sei immer sehr zart 
gewesen und habe durch Erkältung schon in den 30er Jahren ihr Unwohl¬ 
sein verloren, habe in ihren letzten Jahren viel an Erbrechen und Aus¬ 
husten von Blut gelitten, doch solle die Lunge ganz gesund gewesen 
sein; im Winter habe sie immer gelegen und im Sommer sich erholt, sei 
mit 49 Jahren gestorben an zunehmenden Blutungen und Schwäche. 

22. 5. Morgens nach dem Erwachen starke Schmerzen im r. Arm 
(liege nachts stets auf der r. Seite), die aber in wenigen Minuten sehr 
viel besser werden und im Verlauf des Vormittags ganz verschwinden. 
Gute Stimmung. Puls 72. Bauchreflex nicht deutlich; Radialisreflex 
nicht deutlich; Kniereflex nur mit Jendrassik und auch da schwach. 
Beide Arme gleich kräftig. Erklärt den früheren Unterschied damit, 
daß sie jetzt beide Arme benütze und daher geübt sei, während sie vor 
ihrer Erkrankung zuletzt nur die 1. Hand benutzt habe. Habe zuletzt 
kaum noch geschrieben, weil ihre Schrift so unleserlich war und sie sich 
deshalb genierte. Die Angehörigen hätten schon gewußt, daß das Be¬ 
finden der Pat. aus ihrer Handschrift zu erkennen war. War sie ange¬ 
griffen, so konnte niemand die Schrift lesen; ging es ihr gut, so war auch 
die Handschrift gut. So sei das seit zwei Jahren gewesen. Stellt aber 
nicht in Abrede, daß auch die Unsicherheit in Bewegungen und das Zittern 
Einfluß auf die Handschrift gehabt haben möge. Auch Handarbeit sei 
Ihr in den letzten Jahren schwer gefallen, während sie sie früher sehr 
gern gemacht habe und auch jetzt ohne Anstrengung mache. — Sie habe 
in den Delirien alles mit der größten Deutlichkeit wahrgenommen; alle 

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Situationen wechselten, nur zuletzt blieb der Zusammenhang bestehen 
mit dem Schicksal ihres Sohnes; es war eigentlich alles schrecklich, aber 
ungemein deutlich, so daß sie sich auch der Einzelheiten erinnere. Z. 6. 
stehe ihr noch lebhaft vor Augen, wie die Gestalten aus dem Schrank 
heraustiegen. 

23. 5. Schrieb gestern auf Wunsch des Ref. von ihren Erinnerungen 
auf, wolle aber nicht mehr schreiben, weil sie sich zu sehr dabei aufrege. 
Sie habe ja so viel erlebt mit allen möglichen Personen. Heute früh 
Schmerzen im Nacken und r. Arm, obwohl sie diesmal mit Willen nicht 
auf der r. Seite gelegen. Puls 78. Kopf und Rücken nirgends druck¬ 
schmerzhaft, auch die unteren Lendenwirbel nicht. Ebensowenig Schulter 
und Arm r., abgesehen von geringem Schmerz bei stärkerem Druck auf 
den Deltoides. Zunge gerade heraus ohne Zittern, nicht belegt. Hände¬ 
zittern ganz gering. Übergibt das Schriftstück; mehr habe sie nicht auf- 
geschrieben, weil sie doch Erregung gespürt: nicht Angst, mehr Mitleid 
mit sich selbst. Wisse viel mehr, habe nur rasch niedergeschrieben, was 
ihr gerade einfiel. 

Die Aufzeichnung betrifft den 15. April und lautet: „Mein jüngster 
Sohn Ludwig war nach glänzend bestandenem Abiturientenexamen in 
ein Regiment eingetreten, glücklich, dies Ziel erreicht zu haben, und 
voller Hoffnungen für die Zukunft. Da tauchten im Regiment Gerüchte 
auf, daß mein Mann infolge verschwenderischen Lebens sein ganzes Ver¬ 
mögen verloren habe und, da er sich dem unmäßigen Genuß von Veronal 
hingegeben hatte (vgl. S. 541 unter d. 15. 4.), auch seine Lebensstellung. 
Der Oberst teilte dies meinem Sohne mit, und er kehrte nach Hause zu¬ 
rück, gänzlich gebrochen und mit dem Bestreben, Gewisses über diese 
Gerüchte zu erfahren. Hier fand er niemand, da mein Mann in die weite 
Welt gegangen, ich in einem Sanatorium untergebracht war und seine 
Geschwister, wie ein großer Teil seiner Verwandten sich das Leben ge¬ 
nommen hatten. Von meinem Schwiegersohn und einem Schwager, 
die von der nächsten Familie am Leben geblieben, aber ebenfalls ihr ganzes 
Vermögen verloren hatten, wurde er aufs Unfreundlichste empfangen, 
da sie die Verpflichtung zu haben glaubten, nun, obgleich sie selbst nichts 
hatten, für ihn sorgen zu müssen. Da suchte er mich, die ich in einem 
Sanatorium in E., unmittelbar neben der Wohnung des uns bekannten 
Landrats, war (vgl. S. 542 u. 552), auf—ich hörte ihn sprechen und gehen, 
doch wurde uns ein Wiedersehen verweigert, so sehr ich auch darum bat 
(vgl. S. 542). Der Landrat nahm sich seiner mitleidig an, gab dem gänzlich 
Ausgehungerten zu essen und versuchte ihn zu trösten. Inzwischen hatten 
verschiedene Familien aus A., die sich unserer Familie plötzlich feindlich 
gegenüberstellten, von Ludwigs Rückkehr und seinem Aufenthalt beim 
Landrat gehört, sie kamen im Automobil nach E. und veranstalteten 
eine Art Gottesgericht, trotzdem ich, die ich hiervon hörte, dies mit dem 
Hinweis, daß wir doch nicht mehr im Mittelalter lebten, zu verhindern 


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Ein Fall von akuter Psychose nach chronischem Veronalgebrauch. 551 

suchte. Ludwig, der gänzlich Unschuldige, der sich stets durch Fleiß 
und tadellose Führung im Kadettenkorps ausgezeichnet, sollte für das 
wilde Leben seiner Angehörigen büßen, es sollte ihm unmöglich gemacht 
werden, des Königs Rock zu tragen. Allen voran hetzte der A.er Arzt, 
dessen Sohn der Spielgefährte Ludwigs gewesen. Dieser, da er nicht nach 
Oberprima versetzt war, wollte auch die Offizierslaufbahn einschlagen. 
fand aber kein Regiment zum Eintreten und nun zieh der Vater Ludwig 
der Unkameradschaftlichkeit, da er kein passendes Regiment ihm vor¬ 
geschlagen. Eis war schrecklich, wie der arme Junge litt, als ihm alle 
möglichen Sünden und Vergehen seiner Eltern und Angehörigen öffent¬ 
lich vorgeworfen wurden, ebenso aber auch ich, weil ich dies mit anhören 
mußte, wußte, das alles erdichtet und erlogen war und ihm dies nicht 
sagen konnte, da mir immer wieder ein Sprechen mit ihm verwehrt wurde. 
Zum Schluß kam auch noch mein Schwager und bezichtigte ihn der 
Ehrlosigkeit, da er geliehenes Geld, das Ludwig glaubte von ihm geschenkt 
erhalten zu haben, nicht zurückerstattet hatte. Da wurde ihm das Leben 
abgesprochen und Jeder, der ihn traf, durfte ihm dieses nehmen. Er 
sowohl wie ich wußten, daß die Ehre ihm gebot, sich selbst durch eine Kugel 
zu töten, doch war der Wunsch, noch zu leben, so groß in ihm, daß er 
zu fliehen versuchte, aber nur bis in das Sanatorium kam, da er bereits 
überall verfolgt wurde. Auch mir war es furchtbar, dies junge hoffnungs¬ 
volle Leben so enden zu sehen, — ich schrieb ihm auf einem Couvert, 
da ich kein anderes Papier hatte, daß er sich seinem Hauptmann oder 
einem in der Nähe von F. wohnenden Onkel anvertrauen solle und flehte 
zugleich Herrn San.-Rat Dr. Laehr an, ihm bei seiner Flucht behilflich 
zu sein und ihn vorläufig auf seine Fürsprache hin in eine Irrenanstalt, 
wohin ich auch zu kommen glaubte, zu schicken. In Verkleidung und mit 
Hilfe von Herrn Dr. Hohljeld kam er ungesehen in die Bahn — ich glaubte 
ihn gerettet, da kam die Nachricht, daß mein Schwager ihn in Z. im Zuge 
erkannt, ihn hinausgezerrt und gegenüber dem .... Schlosse selbst er¬ 
schossen habe. Am Abend hörte ich dann noch meinen Schwager und 
Schwiegersohn in das Sanatorium kommen — er w’ollte, wie ich ihn sagen 
hörte, mir die Uhr und einige Papiere meines Sohnes bringen. — Entsetzt 
von so viel Roheit und Schlechtigkeit der Menschen und gänzlich ge¬ 
brochen von dem Gedanken, daß mir nichts von meinem früheren Glück 
geblieben, da auch mein Mann sich inzwischen das Leben genommen 
hatte, beschloß ich, nie wieder nach A. zurückzukehren, sondern nach meiner 
Genesung vorläufig auf Reisen zu gehen und mir dann irgendwo ein neues 
Heim zu gründen.“ 

24. 5. Gestern nachm, durch Besuch ihres Sohnes sehr erfreut. 
Bei Vortrag und Teeabend bis zuletzt frisch und interessiert. Nacht sehr 
gut. Erläutert ihren schriftlichen Bericht auf Befragen: Ihr Sohn habe 
wirklich ein sehr gutes Abiturientenexamen gemacht und sei, nachdem er 
in N. nicht angekommen, in F. als Avantageur eingetreten. Für die dann 


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Laeh r, 


folgenden Phantasieerlebnisse finde sie keinen Anhalt in ihrer Erinnerung, 
abgesehen davon, daß sie seit einigen Jahren mit dem Arzt in A. nicht 
mehr verkehrten (daß die Söhne auch jetzt miteinander freundschaftlich 
verkehrten, sei richtig), während sie mit den übrigen A.er Familien in 
gutem Einvernehmen ständen; aber weder Selbstmorde noch Verarmungen 
seien in der Familie oder bei Bekannten vorgekommen, auch habe sie 
ihres Wissens nichts Derartiges in letzter Zeit gelesen oder gehört, was 
ihr stärkeren Eindruck machte, ebenso gehe es ihr mit dem Gottesgericht. 
Aber Selbstmorde hätten in ihren Phantasien ja auch vorher schon eine 
große Rolle gespielt, indem fast alle Personen, die in diesem letzten Zu¬ 
sammenhang vorkamen, sich schon in den Träumen der vorhergehenden 
Tage das Leben genommen hatten, so auch ihr Gatte und ihr Sohn. Ihrem 
Schriftstück könne sie noch viele Einzelheiten hinzufügen, so denke sie 
z. B. eben, daß sie während der ganzen Erlebnisse, die ihren Sohn be¬ 
trafen, sehr oft Glockenklänge gehört habe, die die Verfolger einander 
gaben. Als sie freier wurde, habe sie erkannt, daß die Anstaltuhr den 
gleichen Klang hatte, wie jene Glockenzeichen, und daß sie deren Schläge 
offenbar als Glockenzeichen aufgefaßt habe. Um das Sanatorium wären 
elektrische Vorrichtungen gewesen, die jeden Eintretenden festgehalten 
hätten — sie wisse gar nicht, ob es derartiges gebe —, die hätten auch 
ihren Sohn, ihren Schwager und ihren Schwiegersohn festgehalten, und 
der Nachtwächter habe sie dann befreien müssen. Das alles habe sie durch 
die Stimmen erfahren und so die Entwicklung miterlebt. Gehört habe 
sie die Stimmen meist durch das Fenster, gesehen einmal deutlich ihren 
Schwager (vgl. S. 544) im Mantel, als sie ihn durch den Korridor 
vor ihrem Zimmer gehen hörte und nun, einen Fuß aus dem Bett setzend, 
durch die offene Tür hinaussah; er sei in das dem ihrigen gegenüber¬ 
liegende Zimmer gegangen, und sie habe daher geglaubt, daß er dort 
logiere. Wiederholt habe sie auf der Zimmerwand Inschriften gesehen, 
so eine mit roter Schrift: „Das Opfer ist Ludwig von X.“ (der Sohn heißt 
Ludwig X., das „von“ gehört der Phantasie an). Auf die Frage, ob der 
Landrat schon lange Geheimrat sei (vgl. S. 541 u. 542 unter d. 14. 4.), stutzt 
Pat. und wird unsicher. Nach kurzer Überlegung: die Landräte würden 
gewöhnlich nach 25 Jahren Geheimrat, dieser sei aber noch jung und 
nicht lange im Amt, er könne noch nicht Geheimrat sein — nein, jetzt 
wisse sie auch, daß er es nicht sei. Weshalb sie ihn in der Phantasie dazu 
gemacht habe, sei ihr ganz unklar. Übrigens versichert Pat., darüber ganz 
klar zu sein, daß sie den Zusammenhang der im Schriftstück wiederge¬ 
gebenen Erlebnisse nicht erst nachträglich hineingebracht habe. Die 
Orte — Zehlendorf und E. — seien öfters ineinander geflossen, ein Sana¬ 
torium in E. existiere gar nicht. Sehr deutliche Gesichtstäuschungen 
habe Pat. auch in Verbindung mit dem Schrank in ihrem Zimmer gehabt, 
aber außer Zusammenhang mit den späteren Erlebnissen. Sie habe im 
Schrank einen Taschenspieler gehört, der allerlei Bilder und Szenen von 


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Ein Fall von akuter Psychose nach chronischem Veronalgebranch. 553 

Vorgängen auf die Zimmerdecke projizierte (in der Nacht zum 11. 4., 
s. S.536), die habe sie ganz deutlich gesehen, und dann sei er selbst oben 
durch die Schrankdecke hervorgekommen, bald mit dem Kopf, bald 
mit dem Oberleib, bald in ganzer Figur (ganz deutlich zu sehen), da¬ 
zwischen sei er auch wiederholt durch den Boden des Schranks und durch 
die Dielen in die Tiefe gefahren, das habe sie aber natürlich nur gehört 
und nicht sehen können. Das sei ihr aber alles ängstlich gewesen, am 
schlimmsten aber zuletzt, als der Taschenspieler von oben mit einer 
Pistole auf sie losgefahren sei und die Pistole auf sie abgeschossen habe; 
sie habe den Schuß deutlich aufblitzen sehen. Dann sei der Mann wieder 
zurück und durch die Schrankdecke in den Schrank und weiter in die 
Tiefe gefahren. Auf die Frage, ob sie nicht mehrere Personen im Schrank 
gehört habe, da sie einmal (s. S. 535 unter 11.4.) von mehreren gesprochen: 
das sei früher gewesen, da habe sie mehrere Leutnants, Freunde ihres 
Sohnes, im Schranke gehört, die hätten nicht herausgekonnt. Das sei 
aber ein Erlebnis für sich gewesen, daran erinnere sie sich lange nicht so 
deutlich wie an die der letzten Tage. 

25. 5. Mit dem Sohne eine vierstündige Partie nach Potsdam. Kam 
frisch und angeregt zurück. Nacht gut. Stuhlgang stets regelmäßig. 

26. 5. Gute Stimmung. Röte auch bei längerem Sprechen nicht mehr 
in früherer Weise. Puls 72. Der Stuhlgang sei auch früher meist in Ord¬ 
nung gewesen, verzögert nur nach Anstrengungen, wie langem Gehen, 
Ausfahrten u. dgl. — Ein Herr von Berg (vgl. S. 533 unter d. 10. 4.), eine 
Bahnstation B. (vgl. S. 534 unter d. 10.4.), ein San.-Rat Bürger (vgl. 
S. 537 unter d. 11. 4.) sind Pat. ganz unbekannt, und sie erinnert sich 
nicht, daß sie in ihren Phantasien vorgekommen. Marie (s. S. 537) sei der 
Name einer Freundin, doch erinnert Pat. sich nicht, daß diese in den Delirien 
vorgekommen ist. Der Gedanke an das Schaltjahr (s. S. 533) sei ihr, so 
albern dies auch klinge, immer etwas unheimlich gewesen, auch in gesunden 
Tagen; Tod der Mutter, des Vaters, der Schwester, die Scheidung der Tochter 
und manches andre sei gerade im Schaltjahr erfolgt. Die Phantasien 
von der Entbindung der andren Tochter möchten vielleicht an die Erleb¬ 
nisse der Pat. vor 2 Jahren anknüpfen, doch erinnere sie sich an diese 
Traumerlebnisse weniger. Dagegen sei ihr gut im Gedächtnis, daß sie im 
Bade allerlei Substanzen oder Elektrizität vermutet habe, weil das Wasser 
Kribbeln und Brennen in der Haut hervorrief; sie habe auch bis jetzt 
gedacht, daß etwas Besondres drin gewesen, und würde das künftig stets 
behauptet haben, müsse mir ja aber glauben, daß es einfache Wasser¬ 
bäder gewesen. Daß elektrische Kräfte in der Badestube und in ihrem 
Zimmer wirksam gewesen, habe sie an den feinen Stäubchen erkannt, 
die durch die Luft flogen, und wenn sie in der Nähe der elektrischen 
Lampe vorbeiging, habe sie die Elektrizität an besonderen Empfindungen 
um die Augen gespürt und daran, daß ihre Haare angezogen wurden, 
sie sei deshalb immer möglichst rasch daran vorbeigegangen. Auch in 


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der Waschschüssel in ihrem Zimmer seien Blasen aufgestiegen und habe 
es geknackt. Erinnere sich nur dunkel, daß ihr Sohn über einen See 
geritten sei (vgl. S. 538 unter d. 12. 4); sie habe sich noch gesagt: das ist 
unmöglich, kann aber Näheres nicht angeben, auch nicht, weshalb er 
hinübergeritten sei. Dagegen entsinne sie sich, daß sie eine hiesige Pfle¬ 
gerin (vgl. S. 534 unter d. 10. 4.) (damals als Hausmädchen von ihr ange¬ 
sehen) für eine Bekannte und zugleich für die Braut ihres Sohnes (für 
den die Bekannte jedoch viel zu alt sei) gehalten habe; jetzt sehe sie, 
daß die Pflegerin gar keine Ähnlichkeit mit dieser Dame habe. Auch 
die hiesige Oberin Frl. B. habe sie als Stütze ihrer Tochter angesehen, 
bei der sie sich damals zu befinden glaubte. 

27. 5. Kniereflexe nur mit Jendrassik. Trizeps-, Radialis-, Bauch- 
reflexe nicht zu erzielen. Zucken im Gesicht noch öfters bei ärztlichem 
Besuch, gestern auch stark, als Pat. in der Kirche gewesen und mit der 
Predigt unzufrieden war. Sonst jetzt kaum noch bemerkt. Erinnert 
sich gar nicht, von einer Tasse Worte abgelesen zu haben; überhaupt 
habe sie sich schon gefragt, wovon sie eigentlich in der kranken Zeit 
gelebt habe, da sie sich gar nicht entsinne, während derselben je gegessen 
zu haben. Auch daß sie aus dem Briefe andres vorgelesen, als wirklich 
darin stand, entsinnt sie sich nicht (vgl. S. 539 unter d. 13. 5.). 

3. 6. Stimmung, Schlaf, Appetit sehr gut. Gewicht 62,7 kg. Ent¬ 
lassen. 

Es handelt sich also um eine stets lebhafte und deprimierenden 
Gefühlen leicht zugängliche, jetzt 53jährige Dame, die etwa y 2 Jahr 
nach Eintritt der Menopause wegen Schlaflosigkeit, die im Anschluß 
an ein erregendes Familienereignis eingetreten war, vor 6 y 2 Jahren 
Veronal genommen und dies seitdem — von etwa einem Monat ab¬ 
gesehen — regelmäßig abends verbraucht hat, von 0,5 bis zuletzt 
1,5 (Medinal*) ) steigend. Wahrscheinlich hat sie seit ihrer Aufnahme 

1 ) Veronal ( = ^ C / X CO^ unterscheidet sich von Medinal 

\ Cfcgrig / \ LU^Nii / / 

( = ^ 2 o 5 ^ C / in der Wirkung nur dadurch, daß das 
\ IjjHj / \ LU—JN H / / 

Medinal, in welchem ein H des Veronals durch Na ersetzt ist, in gleicher 
Dosis nur 90% der Veronalwirkung hat. Im übrigen wirkt das schwerer lös¬ 
liche Veronal im allgemeinen etwas später, was hier nicht in Betracht kommt. 
Da nun das Medinal im sauer reagierenden Magen in Veronal übergeführt 
wird, um sich erst im Darm wieder in Medinal umzusetzen, und ebenso 
das als solches eingenommene Veronal sich im Darm in Medinal umsetzt 
und als solches im Blute kreist, hat für die Beurteilung des vorliegenden 
Falles der Unterschied zwischen Veronal und Medinal keine Bedeutung. 


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Ein Fall von akuter Psychose nach chronischem Yeronalgebraoch. 555 

am 3. April, sicher seit dem Abend des 6. April *) kein Veronal oder 
Medinal mehr genommen. Die nächsten Tage ist sie reizbar, ver¬ 
stimmt, unzufrieden, hört in der Nacht zum 8. April verdächtige 
Geräusche, als ob Jemand gestorben, spricht am 8. April davon, daß 
dem Bade Quecksilber zugesetzt sei, und vermutet in ihrem Zimmer 
Schwefel und Phosphor, hört aber noch beim Vorlesen aufmerksam 
zu. In der Nacht zum 9. April setzen dann im Anschluß an einen 
wirklich gehörten Schrei traumhafte Delirien ein, namentlich mit 
Gehörs-, aber auch mit Gesichtstäuschungen zunächst elementarer 
Art (Flimmern vor den Augen, besonders nachts). Anfangs handelt 
es eich um wechselnde, aber unter sich zusammenhängende, wesent¬ 
lich auf Gehörstäuschungen beruhende Wahnerlebnisse, die die 
Kranke zwar wegen ihrer Sonderbarkeit zeitweis beunruhigen, aber sie 
und ihre Familie nichts angehen. Später schwindet der Zusammen¬ 
hang mehr, Visionen treten zahlreich auf und übernehmen z. T. die 
Hauptrolle. Pat. ist nicht völlig desorientiert, bleibt für wirkliche 
Eindrücke empfänglich, kann sich aber nicht zurechtfinden und 
bezeichnet selbst den Zustand als „wüstes Chaos“. Dabei besteht in 
ihrer Intensität wechselnde Unruhe und zeitweis deutliches Be¬ 
schäftigungsdelir. Am 12. und 13. April haben diese Erscheinungen 
ihre größte Höhe erreicht. Dann wird Pat. äußerlich ruhiger, die jetzt 
wieder fast ganz an Gehörstäuschungen geknüpften und in ein die 
Pat. aufs nächste berührendes Erlebnis zusammenfließenden traum¬ 
haften Delirien dauern aber noch bis zum 16. April an. An diesem 
Tage verlieren sich die Sinnestäuschungen ziemlich plötzlich, auch 

1 ) Am Abend des 4. April wurden zwei Veronalgläser im Besitz der Pat. 
gefunden, die aber unberührt waren (s. S. 530, unter 5. 4.). Genaue Durch¬ 
suchungen in den nächsten Tagen und von da ab in größeren Zwischen¬ 
räumen waren stets ergebnislos. Daß die sehr verständige Schwägerin bei 
ihrem Besuch am 6. April (s. S. 531 unter 7. 4.) der Pat. kein Medikament 
zugesteckt hat, halte ich für ganz sicher. Die nach dem Besuch besonders 
gute Stimmung der Kranken,, die darauf hindeuten könnte, erklärt sich 
dadurch, daß die Stimmung schon vorher freundlicher geworden war 
und nun durch den Besuch ein Wunsch der Pat. erfüllt wurde, auf dessen 
Erfüllung sie kaum gehofft hatte; ihr war nämlich nach der Abreise des 
Gatten gesagt worden, sie werde nun voraussichtlich in der nächsten Zeit 
keinen Besuch haben dürfen. Auch wurde während des abendlichen 
Bades in den Sachen und im Zimmer der Pat. nichts Verdächtiges gefunden. 


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Laehr, 


der Inhalt der Delirien wird der Hauptsache nach noch am selben 
Tage korrigiert, während Einzelheiten noch länger festgehalten 
werden und nachwirken, ln mehreren Nächten tritt noch um .Mitter¬ 
nacht nach anfänglichem Schlafe Angst auf, die aber nie bis zu einer 
Stunde andauert und durch Andrehen des Lichts abgekürzt wird. 
Im übrigen erfolgt rasch Genesung. 

Neben diesen psychischen gehen körperliche Krankheiterschei¬ 
nungen einher. Seitens des Gefäßsystems von Anfang an 
mehr oder weniger starke Rötung des Kopfes und auf der Höhe der 
Erkrankung beschleunigter, kräftiger Puls; die Frequenz steigt von 
72 Schlägen (am 6. April) auf 116 (am 12. April), sinkt dann zugleich 
mit dem Absinken der psychischen Krankheiterscheinungen rasch ab 
und hält sich vom 14. April ab zwischen 70 und 88. F i e b e r be¬ 
steht nie. Der Urin enthält auf der Höhe der Erkrankung (am 
13. April) etwas Eiweiß ohne Zylinder. Die Nahrungauf¬ 
nahme ist wechselnd, aber nie dauernd schlecht, die Zunge 
nie belegt, der Stuhlgang, der in der Zeit vor der Aufnahme 
bisweilen träge gewesen war, jetzt durchaus regelmäßig. Das Ge¬ 
wicht, das am 4 April 58,2 kg beträgt, sinkt bis zum 13. April 
auf 57 kg, ist aber am 18. April schon wieder auf. 58 kg gestiegen 
und nimmt von da ab Leiter zu (6. Mai: 60,5; 30. Mai: 62,7 kg). Der 
Schlaf ist erst wechselnd, setzt dann vom 9. April ab fast ganz 
aus (nur am 10. April nachm, ein wenig Schlaf), und erst am 13. April 
nachmittags schläft Pat. 1 y 2 Std., in der folgenden Nacht (nach 
0,01 Morph., dem einzigen Mittel, das während der ganzen Zeit ge¬ 
reicht wurde) % Std., in der Nacht zum 15. April 2 Stunden. Dann 
aber bessert sich der Schlaf verhältnismäßig rasch. Die Motilität 
ist im ganzen wenig gestört. Wohl nimmt entsprechend den sonstigen 
Erscheinungen das Zittern an Stärke und Umkreis zu, Muskelunruhe 
und Zucken ist zeitweis recht stark, aber Pat. kann für den Augen¬ 
blick Kraft anwenden und täglich, wenn auch immer nur ganz kurze 
Entfernungen, aufrecht und flink gehen, auch zweimal täglich unge- 
stützt die Treppe zum Bade hinunter- und hinaufsteigen. Am 14. April 
schreibt sie durchaus deutlich, wenn auch mit zitternden Buchstaben, 
und schon am 16. April gut wie in gesunden Tagen, obwohl sie in der 
letzten Zeit zu Hause „infolge rheumatischer Schmerzen im r. Arm“ 
nicht mehr leserlich hatte schreiben können. Zucken im Gesicht, 


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Ein Fall von akuter Psychose nach chronischem Yeronalgebranch. 557 


besonders im r. orbic. ocul., fällt noch spät in der Rekonvaleszenz 
öfters auf. Die Sehnenreflexe sind auf der Höhe der Erkran¬ 
kung und z. T. noch lange nachher aufgehoben. Der Kniereflex ist 
am 4. April vorhanden, fehlt später (am 11. April, wo die Muskeln 
allerdings nicht recht schlaff wurden), ist aber bereits am 15. April 
im r. Bein deutlich und am 22. Mai beiderseits, wenn auch nur mit 
Jendrassik, zu erzielen. Der Trizepsreflex fehlt am 4. April am r. Arm, 
am 27. Mai beiderseits. Der Radialisreflex ist am 4. April beiderseits 
gesteigert, am 22. Mai als nicht deutlich und am 27. Mai als nicht 
vorhanden angegeben. Bauchreflexe fehlen vor- wie nachher. Die 
„rheumatischen“ Schmerzenimr. Arm, die vor der Entziehung 
lebhaft waren, sind während derselben verschwunden und treten 
erst spät und in mäßiger Stärke wieder auf. Zuletzt bestehen sie nur 
des Morgens nach dem Erwachen minutenlang. Sonstige Schmerzen 
fehlen. Druckschmerz wird vor der Erkrankung über dem letzten 
Lendenwirbel gefunden, nachher (23. Mai) nicht mehr. Parästhesien 
der Hautnerven (Brennen und Kribbeln im Bade, besondere Empfin¬ 
dungen um die Augen und an den Haaren in der Nähe der elektrischen 
Lampen) waren zeitweis jedenfalls vorhanden; ob sie auch das Be¬ 
schäftigungsdelir unterstützten, bleibt fraglich. 

Während Fälle akuter Veronalvergiftung häufig beschrieben sind, 
habe ich in der Literatur nur 8 Fälle von Veronalismus gefunden. Bei 
fast allen läßt sich eine gewisse Disposition nachweisen. Der 
58jährige Kranke, über den Laudenheimer 1 * * ) berichtet (I), war lang¬ 
jähriger Morphinist, Hoppes *) 26jähriger Pat. (II) Neuropath und Alko¬ 
holiker; über den Fall von Sendenheimer (III) kann ich in Beziehung 
auf Disposition nichts aussagen *); Höftmanns 4 ) beide Kranke (IV u. V) 
waren hochgradig nervös, die eine davon (V) frühere Morphinistin; die 
23jährige Kranke von Kreß*) (VI) litt an Hysteria gravis, die 37jährige 


l ) R. Laudenheimer, Notiz über gewohnheitsmäßigen Mißbrauch 
des Veronals (Veronalismus). Therapie d. Gegenwart, 1904, S. 47. 

*) Hoppe, Ein Fall von chronischem Veronalismus. Vortrag vom 
6. II. 05. D. med. Wchnschr. 1905, S. 971. 

*) Der Fall von Sendenheimer wird von Hoppe angeführt, ich habe 
die Originalmitteilung nicht aufgefunden. 

4 ) Höftmann, Diskussionsbemerkung zum Vortrag Hoppe. Ebenda. 
*) Kreß, Veronalismus. Therapeut. Monatshefte, 1905, S.’ 467. 


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Kranke Dobrsehanskys l ) (VII) an Dem. praecox; Steinitz 1 ) gibt Ober 
seine 68jährige Pat. (VIII) nur an, daß sie wegen Emphysems mit Schlaf¬ 
losigkeit Veronal nahm, hier bestand aber besonders große Empfänglich¬ 
keit für Veronalwirkung, da Pat. gleich das erste Mal und ebenso weiter¬ 
hin nach 0,5 auffallend lange und tief schlief und am nächsten Tage wie 
betrunken war und keinen Gedanken fassen konnte. ■— Nur im Falle VII 
handelt es sich um ärztlich angeordneten und überwachten Veronalge- 
brauch, während in den übrigen Fällen — abgesehen von III, über den 
ich nichts angeben kann — das Veronal, meist nach anfänglicher ärzt¬ 
licher Verordnung, weiterhin eigenmächtig genommen wurde. 

Die Dauer des Veronalgebrauchs war im Falle VI etwa ein Jahr, 
bei VII und VIII etwa Vz Jahr, bei I 2 Monate, bei II weniger. In den 
übrigen 3 Fällen ist die Dauer ungewiß, kann aber nicht über 1 Vs Jahr 
ausmachen, da die Mitteilungen aus dem Februar 1905 stammen und das 
Veronal erst 1903 als Medikament eingeführt worden ist. 

Die Menge des täglich genossenen Veronals belief sich im Falle I 
auf durchschnittlich über 4,0 (250,0 in 2 Monaten), II und V hatten tägl. 
2,0—3,0, VI zunächst 0,5, später bis 2,0, VII gleichmäßig 0,5 und VIII 
0,25 bis 0,5 tägl. genommen. Über II kann ich nichts angeben. 

Die Erscheinungen sind — abgesehen von Fall VII — nicht 
so von einander abweichend, als wohl angenommen worden ist *). Im 
Falle I bestand, während der Kranke das Veronal nahm, gleichgültig 
heitere und behagliche Stimmung, die Phantasie war wenig angeregt, die 
körperliche und geistige Leistungfähigkeit (im Gegensatz zur Morphium¬ 
wirkung) nie gesteigert, vielmehr fiel dem Pat. Denken und zumal Schreiben 
schwerer. Beim Gehen taumelte er wie ein Betrunkener und fiel öfters 
auf der Treppe hin, so daß er bei seiner Umgebung für einen Trinker galt, 
zumal auch die Hände stark zitterten und die Sprache zuweilen lallend 
war; starrer Blick, die Wangen oft flammend rot (Verf. sah auch in einigen 
anderen Fällen vorübergehende Kongestivzustände nach Veronalgebrauch). 
Fester Schlaf trat bei Tage nicht ein, doch duselte Pat., sobald er längere 
Zeit ruhig sitzen mußte. Appetit nie gestört. Auffallend spärliche Urin- 
sekretion während des Veronalgebrauchs (nur einmal tägl. etwa v 4 Ltr.): 
doch litt Pat. schon länger an Harnröhrenfistel und Cystitis. Als Pat. 
sein Veronal verbraucht hatte und nur noch die ärztlich verordnete Dosis 
(jeden 2. Abend 0,5) nahm, zeigte sich weder Veronalhunger noch Ab¬ 
stinenzerscheinungen, doch ist dazu zu bemerken, daß er Morphium in 


*) M. Dobrschansky. Einiges über Malonal. Wiener raed. Presse. 
1906, S. 2146. 

s ) Steinitz, Zur Symptomatologie der akuten Veronalvergiftungen. 
Ther. d. Gegenw. 1908, S. 203. 

s ) Rosendorff, Über einen Fall von Veronal Vergiftung. Berl. klin. 
Wchenschr., 1910, S. 934. 


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Ein Fall von akuter Psychose nach chronischem Veronalgebrauch. 559 

hohen Dosen weiter brauchte. — II lag Vorm, in tiefem Schlaf, aus dem 
er kaum zu erwecken war, ging Nachm, ins Geschäft, hielt sich aber nur 
durch 8—10 Tassen starken Kaffees und starkes Rauchen aufrecht und 
machte wiederholt den Eindruck eines Berauschten. — Bei III bestand 
motorische Unruhe und Schwäche, dauernder rauschartiger Zustand 
und Euphorie. — IV und V boten neben starker,psychischer Erregung 
eine eigentümlich schleppende oder lallende, etwas stotternde Sprache, 
V auch Selbstmordtrieb. Beide machten andauernd den Eindruck von 
Trunkenen. — VI zeigte lebhafte depressive Erregtheit (doch war diese 
hysterische Kranke schon vorher zeitweise unruhig aufgeregt gewesen 
und hatte depressive Gedanken und Weinkrämpfe gehabt), starke motori¬ 
sche Unruhe, leichte Verwirrtheit, Taumeln, das aber bei Nichtbeachtung 
für energisch gewollte Aktionen erheblich nachließ; auch in Briefen 
taumelnde, flüchtige Schriftzüge; Sehnenreflexe gesteigert, Pup.-Refl. 
intakt, lebhafter tremor der Finger. Nachts sehr unruhiger Schlaf. 
Nahrungaufnahme befriedigend, zeitweis Übelkeit und Erbrechen; 
Stuhlgang nur auf Klysma, dann aber normal (schon vor dem Veronal¬ 
gebrauch Widerwille gegen Speisen, ructus hyst., stete Stuhlträgheit). 
Prämenstruelle Steigerung der ängstlichen Unruhe und Schlaflosigkeit 
(auch früher Steigerung der Erscheinungen während der Menses), die 
nach 4 Tagen vorüberging und episodische Verwirrtheit und Unorientiert- 
heit stärker hervortreten ließ. In Gegenwart des Verf.s ziemlich klar 
antwortend, rafft sich Pat. sichtlich zusammen; dann wieder verwirrt, 
will in Hemd und Mantel spazieren gehen. Am Tage darauf sichtliche 
Verschlechterung des Allgemeinbefindens: Verwirrtheit und stärkere 
Bewußtseinstörung wechseln mit klaren, 5—10 Min. währenden Episoden 
voll unbestimmter Angst; nach 2 Stunden setzen Krampfanfälle ein, und 
es erfolgt der Tod im status epilepticus. Im Nachttisch wurde eine größere 
Anzahl geleerter Pulverhüllen gefunden. —VII zeigte während des Veronal- 
gebrauchs neben wahnhaft bedingter, zeitweiliger Nahrungverweigerung, 
regellosem Erbrechen und Kolikschmerzen im Epigastrium ohne objek¬ 
tiven Befund eine konstante, anfänglich langsame, später rapide Ab¬ 
nahme des Körpergewichts (von 72 auf 48,5 ko) und eine damit Hand in 
Hand gehende zunehmende Anämie, zuletzt auch burgunderrote Ver¬ 
färbung des Harns, bedingt durch reichliche Mengen von Hämatopor- 
phyrin und Urobilin, die 14 Tage nach Aussetzen des Veronals völlig ver¬ 
schwunden waren. Auch nach dem Aussetzen blieb Pat. appetitlos und 
anämisch, doch das Erbrechen wurde seltener, die Leibschmerzen schwan¬ 
den fast, das Körpergewicht blieb stationär. — VIII war einige Wochen 
hindurch andauernd ziemlich wirr, vergeßlich, sah schlecht und bekam 
zuletzt heftig juckenden Ausschlag. Sie ließ nun das Veronal fort. 
2 Tage darauf fand Verf. intensives, durchaus scharlachähnliches Exan¬ 
them am ganzen Körper; T. 38,2; Puls 100, regelm. und leidlich kräftig; 
Pup. etwas eng und verzogen, reag. deutlich; Konj.- und Kornealrefl. 
sehr herabgesetzt, Rachenrefl. fehlt; Sehnenrefl. gesteigert; Sensorium 


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etwas benommen, Pat. reagiert auf Fragen, jedoch langsam; sehr schwer 
besinnlich, zeitlich und örtlich mangelhaft orientiert, Gedächtnis und 
Merkfähigkeit erheblich gestört, sucht nach Worten, Silbenstolpern; 
motor. Kraft gering, zeitweis Zittern am ganzen Körper, bei Bewegungen 
Zittern der Hände, Beben des Unterkiefers. Sensibilität für Berührung 
und Schmerz etwas abgestumpft. Nachts starke Unruhe (Morph.-Inj.). 
Urin spärlich und konzentriert, spontan entleert. 3 Tage später blaBt 
das Exanthem unter Abschuppung ab, T. normal, Kornealreflex lebhafter, 
Sensorium etwas aufgehellt, nachts keine erhebliche Unruhe mehr; Urin¬ 
sekretion etwa normal. Allmählich weitere Besserung, aber noch 18 Tage 
nach Aussetzen des Veronals bei der Entlassung Pup. etwas eng u. ver¬ 
zogen, Gedächtnis u. Merkfähigkeit beeinträchtigt, Silbenstolpern vor¬ 
handen, Zittern noch häufig, wenn auch viel schwächer; Gang unsicher. 

Die Fälle I bis V ergeben ein ziemlich einheitliches Bild; wenn in 
Fall I Taumeln und Zittern, lallende Sprache, starrer Blick, Erschwerung 
des Denkens, euphorische Stimmung aufgeführt werden, so stimmt damit 
gut die zusammenfassende Angabe über die anderen Fälle überein, daß 
Pat. den Eindruck eines Trunkenen machte oder sich in einem rausch- 
artigen Zustand befand. Daß in IV und V statt ruhiger, euphorischer 
Stimmung psychische Erregung, in V auch Selbstmordtrieb bestand, 
ist wohl weniger auf Rechnung des Veronals, als der schon vorher be¬ 
stehenden hochgradigen Nervosität zu setzen. Anders steht es mit Fall VII, 
wo als Folge des Veronalgebrauchs starke Gewichtabnahme und Anämie, 
zuletzt auch Hämatoporphyrinurie angegeben sind. Da aber der Kranke 
(Dem. praecox!) zeitweilig infolge von Wahnideen die Nahrung ver¬ 
weigerte und an regellosem Erbrechen und Kolikschmerzen litt, möchte 
ich nur die Hämatoporphyrinurie, die nach Aussetzen des Mittels in 
14 Tagen verschwand, als seltene VeronalWirkung ansprechen l ), während 
Gewichtabnahme und Anämie wohl von den Begleiterscheinungen ab- 
hingen, zumal auch nach dem Aussetzen des Mittels das Körpergewicht 
auf seinem niedrigen Stande verblieb und Appetitlosigkeit und Anämie 
fortbestanden. Dagegen zeigen Fall VI und VIII wieder die aus den 
ersten 5 Fällen bekannten Erscheinungen, nur in stärkerer Ausbildung; 
Verwirrtheit, Unorientiertheit und zeitweis starke Unruhe treten hervor, 
dazu quantitative Abweichungen und Fehlen der Reflexe. Aber während 
bei VIII Benommenheit und Schwerbesinnlichkeit vorherrscht, kommt 
es im Fall VI bei der schon früher depressiv erregten Hysterica zu lebhafter 
Angst, es besteht also ein ähnliches Verhältnis wie bei V; der Tod im 
Status epilepticus scheint dann durch akute Veronalvergiftung (worauf 
wenigstens die nachher gefundenen leeren Pulverhüllen hindeuten) auf 
dem Boden der chronischen Veronalvergiftung hervorgerufen zu sein. 
Das fieberhafte Exanthem in VIII gehört, wenn es auch bei akuten Veronal- 

*) Sie wird auch von Mary E. Martin erwähnt: A Case of Veronal 
poisoning. Brit. med. J. 1910, II, S. 457. 


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Ein Fall von akuter Psychose nach chronischem Veronalgebrauch. 561 


Vergiftungen öfters angeführt wird 1 ), zu den ungewöhnlicheren Folgen 
des Veronals und muß zum größeren Teile auf Prädisposition zurückge¬ 
führt werden, und ob die engen verzogenen Pupillen im gleichen Falle, 
die noch beim Abgang der Pat. beobachtet wurden, überhaupt etwas mit 
dem Veronal zu tun hatten, bleibt wenigstens fraglich. Eher dürfte die 
Sehstörung, die auch bei akuten Veronalvergiftungen mehrmals beschrieben 
ist *), mit dem Veronalgebrauch Zusammenhängen. 

Neben den positiven Erscheinungen des Veronalismus ist aber auch 
das Fehlen von Störungen namentlich von Seiten des Herzens und der 
Verdauungsorgane wichtig. Wohl hat bei akuter Veronalvergiftung 
v. Embden *) eine bei der Autopsie nicht mehr nachweisbare gewaltige 
Herzdilatation und M. Senator 4 ) Oppressionsgefühl, Präkordialangst und 
kleinen, jagenden, arhythmischen Puls beobachtet, anderen') ist Erbrechen 
ln Verbindung mit schweren, urämieartigen Erscheinungen vorgekommen, 
sonst aber wird überall die Unschädlichkeit des Veronals für die Zirkula- 
tions- und Verdauungsorgane hervorgehoben. Dies gilt auch für den 
Veronalismus, wie die oben aus der Literatur angeführten Fälle zeigen. 
Denn daß die Magendarmstörungen der Hysterica von Kreß (Fall VI) 
und des Dem. praecox-Kranken von Dobrschansky (Fall VII) demVeronal 
nicht zur Last gelegt werden können, ergibt sich daraus, daß ähnliche 
schon vor dem Gebrauch des Mittels bestanden hatten, und die flammend 
roten Wangen im Fall I, die Laudenheimer auch sonst und ebenso andre 
Beobachter bei akuter Veronalvergiftung gesehen haben, sind harmloser 
Art und stets ohne üble Folgen geblieben. 

Daß nun auch die Erkrankung der Frau X. aufdem Boden 
des chronischen Verona lg ebrauchs entstanden ist, 
dürfte keinem Zweifel begegnen. Die Muskelunruhe und das Zittern, 
das den psychischen Krankheiterscheinungen entsprechend sich ver¬ 
stärkt und mit ihnen heruntergeht, sowie das Verhalten der Reflexe 
stimmt zu dem Bilde des Veronalismus, das sich aus der Literatur 
eigeben hat, ebenso die lallende (s. 4. IV) oder anstoßende (s. 6. IV) 
Sprache, die glänzenden Augen (s. 4. IV) in den ersten Tagen des 
hiesigen Aufenthalts. Auch besondere Erscheinungen, wie die zeit- 

*) Derartige Fälle führt Schepelmann an: Seekrankheit u. Veronal. 
Therap. Mon.-Hefte 1910, S. 681. 

*) Fall 2 und 4 von Steinitz 1. c.; Doppelsehen bei H. Neumann: 
Veronalvergiftung u. Glykosurie, Berl. klin. Wchnschr. 1908. 

*) v. Embden, Bericht über einen Fall von Veronalvergiftung. Münch, 
med. Wchnschr. 1908, S. 1050. 

•) M. Senator, Eine Beobachtung über Zirkulationsstörungen durch 
Veronal. Deutsche med. Wchnschr. 1904. 

*) S. Schepelmann 1. c. 


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Laehr, 


weise sehr starke Rötung des Kopfes und die Erschwerung des Schrei¬ 
bens (s. S. 549 unter 22. 5.), die Möglichkeit, für kurze Zeit sich zu¬ 
sammenzuraffen, sind in anderen Fällen (II, VI) gleichfalls beobachtet 
worden. Dagegen gehen die Erscheinungen, die sich vom 8. IV ab, 
also erst einige Tage nach dem Fortfall des Veronals, bei unserer 
Kranken namentlich auf der psychischen Seite entwickeln, weit über 
die dagegen verhältnismäßig einfachen Störungen hinaus, welche die 
Literatur darbot, und zeigen während des Höhestadiums eine große 
Ähnlichkeit mit dem Delirium potatorum: zahl¬ 
reiche Sinnestäuschungen, darunter auch solche der Lageempfin¬ 
dungen (Aufheben des Bettes, vgl S. 545 unter d. 18. April), die Ver¬ 
kennung der Umgebung, die Situationsänderungen teils in chaotischem 
Gewirr, teils in zusammenhängenden Wahnerlebnissen, die weiter 
durch Kombination ergänzt werden, die Möglichkeit, die Kranke 
vorübergehend auf wirkliche Eindrücke einzustellen, aber auch durch 
leichten Druck auf die geschlossenen Augen Gesichtstäuschungen 
hervorzurufen, das Nebeneinandergehen und Ineinanderfließen von 
Wirklichkeit und wahnhaften Vorgängen, das Schwanken in der ört¬ 
lichen Orientierung, die Beschäftigungsdelirien, die vorherrschende 
Unruhe und Angst und dann wieder auf der Höhe schrecklicher Wahn¬ 
erlebnisse der unnatürliche Gleichmut. Ich verweise hierfür auf den 
11. bis 13. April (S. 536—540). 

Trotz dieser Ähnlichkeit kann an Alkoholdelirium nicht gedacht 
werden. Frau X hat nach den allseitig übereinstimmenden Angaben 
Alkohol weder in größeren Gaben noch gewohnheitmäßig getrunken, 
und zudem unterscheidet sich ihr Delirium doch auch in manchen 
Zügen vom Delirium der Alkoholiker. Vor allem möchte ich hier das 
Fehlen von Störungen im Verdauungskanal hervorheben. Die Zunge 
war nie belegt, die Nahrungaufnahme nur ganz vorübergehend 
beeinträchtigt, der Stuhlgang regelmäßig, die Gewichtabnahme dem¬ 
entsprechend verhältnismäßig gering. Auch von seiten der Kreis¬ 
lauforgane fehlten bedenkliche Erscheinungen, die Herztätigkeit war 
regelmäßig und zeigte nur am Tage, als die Akme überwunden war 
(14. April), größere Frequenzschwankungen, der Puls war gerade auf 
dem Höhestadium voll und ward erst in der Rekonvaleszenz weich. 
Auf psychischem Gebiet fallen die zusammenhängenden, romanhaften 
Traumerlebnisse ängstlichen Inhalts, die noch dazu vorwiegend in 


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Ein Fall von akuter Psychose nach chronischem Veronalgebrauch. 563 


Gehörstäuschungen und kombinatorischer Ergänzung derselben ver¬ 
laufen, aus dem Rahmen des alkoholischen Deliriums heraus. Da¬ 
gegen • erinnern sie sehr an den halluzinatorischen Wahnsinn der 
Trinker, auch darin, daß Pat. das Ganze nur als gewissermaßen unbe¬ 
teiligte Hörerin durchmacht. Ein gewisser Unterschied scheint 
mir jedoch darin zu liegen, daß in allen diesen Wahnerlebnissen die 
Pat. persönlich gar nicht bedroht ist, und daß es sich teilweis über¬ 
haupt nicht um Beeinträchtigungswahn handelt. So gleich das wahn¬ 
hafte Erlebnis in der hiesigen Anstalt zu Beginn der Erkrankung in 
der Nacht zum 9. April (S. 531—532), ferner die Gesellschaft im Hause 
mit dem Singen der Kinder am 9. April (S. 532 u. 548), die telephonische 
Mitteilung über die Entbindung der Tochter (S.537 unter d. 11. April). 
Auch den letzten schreckenvollen Roman (S. 542 —544 unter dem 15. u. 
16. April) durchlebt Pat. in persönlicher Sicherheit, und die allge¬ 
meine Aufmerksamkeit und wilde Verfolgung richtet sich nicht gegen 
sie, sondern gegen ihren Sohn. Wäre dies nur eine Episode und Pat. 
wenigstens gelegentlich selbst Objekt der Verfolgung, so würde ich 
nichts Besonderes darin sehen, so aber scheint mir auch diese Eigen¬ 
tümlichkeit von der gewöhnlichen Alkoholhalluzinose ein wenig ab¬ 
zuweichen. 

Sind nun die Besonderheiten, die den vorliegenden Fall von den 
akuten Alkoholpsychosen unterscheiden, auf das Veronal oder auf 
persönliche Anlage zurückzuführen? An letztere zu denken, werden 
wir um so mehr geneigt sein, als wir um sie auch dann nicht herum¬ 
kommen, wenn wir nach einer Ursache für das Zustandekommen 
des dauernden Veronalgebrauchs und weiter für das Auftreten der 
Veronalpsychose suchen. Frau X. ist psychopathisch veranlagt in der 
Richtung erleichterter Gefühlserregung und des Hanges zu Klagen 
und Unzufriedenheit. Dies macht sich schon vor dem Veronalgebrauch 
bemerklich und kann sogar als dessen Voraussetzung betrachtet 
werden: Pat. wird durch die Gemütserregung während der Ehe¬ 
scheidung ihrer Tochter so angegriffen, daß schwere Schlaflosigkeit 
eintritt und Anlaß zum dauernden Veronalgebrauch gibt. Und ebenso 
kann die gleiche Veranlagung als ein Faktor für den Eintritt der 
Psychose angesehen werden. Wir werden ja im Anschluß an die Vor¬ 
stellungen, die sich über die Gelegenheitsursachen des alkoholischen 
Deliriums herausgebildet haben, in unserem Fall nicht nur die Ent- 


Zeitschrift fdr Psychiatrie. LXIX. 4. 


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Laehr, 


Ziehung des Veronals, sondern auch den Anstaltaufenthalt zu berück¬ 
sichtigen haben, der die Pat. aus ihrer gewohnten Umgebung reißt 
und sie einer sic erregenden Behandlung aussetzt. Ich denke an die 
Durchsuchung ihrer Sachen, die um so peinlicher wirken muß, als Pat. 
noch zwei Gläser Veronal im Handschuhkasten verborgen weiß, an 
das Fortnehmen des Geldes und der Schere, an die der Pat. un¬ 
sympathische Bettruhe, an das allgemeine Sich-fügen-sollen. Ist 
das alles auch an sich nicht so schlimm, so haben wir es hier doch 
eben mit einer Pat. zu tun, die von Natur zu stärkeren und in be¬ 
sonderem Maße zu depressiven Gefühlen neigt, und die zudem durch 
langjährigen Veronalgebrauch in letzter Zeit noch besonders reizbar 
geworden ist. Auf sie mag der Anstaltaufenthalt wirken wie das 
Gefängnis auf den Alkoholiker. Voraussetzung aber ist auch hier 
die besondere Veranlagung. 

Auf sie könnte man nun auch die oben angeführte Eigentümlich¬ 
keit der zusammenhängenden, gehörshalluzinatorischen Delirien in 
unserem Falle beziehen. Nicht nur die Entstehung des chronischen 
Veronalgebrauchs ist der äußeren Ursache nach auf das Geschick 
eines Kindes zurückzuführen, sondern auch das Auftreten der ersten 
beschwerlichen Folgen i. J. 1911 und 1912 deren Steigerung. Jenes 
knüpft an die Erkrankung einer Tochter, diese an eine Enttäuschung 
des Sohnes an. Man könnte nun einen Zusammenhang, der in der 
besonderen Veranlagung der Pat. gegeben wäre, finden zwischen der 
Tatsache, daß nicht eigne unangenehme Erfahrungen, sondern Er¬ 
regungen, die durch Schwierigkeiten oder Krankheit der Kinder 
vermittelt sind, den Veronalgebrauch veranlaßt und gefördert haben, 
und dem Umstand, daß in den Delirien die eigene Person mehr als 
sonst zurücktritt, und daß die Verfolgungsvorstellung, die durch die 
Art der Erkrankung hervorgerufen wird, sich auf den Gatten und zu¬ 
mal auf den Sohn projiziert, dem die zuletzt wirksamen deprimierenden 
Gefühle gegolten haben. 

Weiter aber läßt die Veranlagung sich nicht zur Erklärung heran¬ 
ziehen. Als Ursache für die wesentlichen Verschiedenheiten im Ver¬ 
halten der Verdauungs- und Kreislauforgane, die zwischen unsrem 
Fall und den typischen Alkoholpsychosen bestehen, kann nur die 
besondere Wirkung des Veronals herangezogen werden. Wir können 
aber hier auch an Bekanntes anknüpfen. Wenngleich nach ver- 


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Eia Fall von akuter Psychose nach chronischem Veronalgebraach. 565 

breiteter Ansicht die Äthylgruppen im Veronal den Hauptanteil an 
seiner Wirkung auf das Nervensystem haben sollen, so ist doch die 
Harmlosigkeit des Veronals für die Verdauungs- und Kreislauforgane 
ebenso anerkannt wie die Verderblichkeit des Alkohols für dieselben. 
Man könnte daher schon rein theoretisch die Vernutung hegen, daß 
auch dann, wenn Alkoholismus und Veronalismus sehr ähnliche 
Wirkungen auf das Nervensystem haben sollten, die Erscheinungen 
an den Verdauungs- und Kreislauforganen*) gerade die Unterschiede 
zwischen ihnen aufweisen müßten, die, entsprechend den Beobach¬ 
tungen über weniger andauernden Veronalgebrauch, unser Fall in 
der Tat herausgestellt hat. 

Daß unser Fall den neueren Anschauungen über Intoxikations¬ 
psychosen sich gut einfügt, wie sie kürzlich in sehr übersichtlicher 
Weise P. Schröder 2 ) dargelegt hat, brauche ich nach dem Gesagten 
nur anzudeuten. Gerade bei Frau X. läßt sich nachweisen, wie die 
in der psychopathischen Veranlagung gegebene Prädisposition zu 
psychischer Erkrankung durch den langjährigen Veronalgebrauch 
verstärkt wird und umgekehrt die Veranlagung ihrerseits zum Veronal¬ 
gebrauch und zu dessen Steigerung führt, wie später der Ausbruch 
der Psychose und deren besondres Gepräge durch die individuelle 
Veranlagung der Pat. mitbestimmt wird, und wie diese Psychose 
nicht unmittelbare Wirkung des Giftes auf den prädisponierten Or¬ 
ganismus sein kann. Nur auf den letzten Punkt möchte ich noch kurz 
eingehen. 

*) Eine Besonderheit unsres Falles, die Neigung zu starker Rötung 
des Kopfes, ist nicht direkt auf das Veronal, sondern zunächst auf eine 
voraussichtlich angeborene Schwäche des Zirkulationsapparates und somit 
doch auch auf Veranlagung zurückzuführen. Daß aber auch die während 
der Psychose fast beständige starke Rötung nicht direkt mit dem 
Veronal zusammenhing, wie in nunctien Beobachtungen über weniger an¬ 
dauernden Veronalgebrauch, möchte ich daraus schließen, daß sie erst nach 
Fortfall des Veronals stärker auftrat, mit dem Nachlaß der Krankheit¬ 
erscheinungen ganz wesentlich nachließ und in vermindertem Grade 
zuletzt nur bei leichten Erregungen sich zeigte in der Art, wie Pat. sie auch 
in früheren Jahren gezeigt haben soll. — In anderen Fällen, wie denen 
Laudenheimen, scheint es sich um direkte Veronal Wirkung bei disponierten 
Leuten gehandelt zu haben. 

*) P. Schröder, Intoxikationspsychosen. Deuticke, Leipzig u. 
Wien, 1912 (Handbuch der Psychiatrie, hg. von Aschaffenburg, B, 3). 


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Laehr, 


Das Veronal verschwindet in wenigen Tagen aus dem Organi nn s. 
Fischer und Hoppe *) fanden es nur noch 4 Tage nach dem Aussetzen 
des Mittels im Urin wieder, und hiermit stimmen die Versuche C. 
Bachems 2 ) an Tieren überein. Dabei ist hervorzuheben, daß die 
Ausscheidung in rasch abnehmender Menge erfolgt, und daß am 3. 
und 4. Tage nur noch Spuren im Körper enthalten sind. Wenn also 
bei unsrer Pat. nicht nur die psychischen, sondern auch die rein nervös¬ 
bedingten Erscheinungen (Muskelunruhe, Zittern und Zucken, Reflex¬ 
abweichungen, Steigerung der Pulsfrequenz, Rötung des Kopfes) sieh 
erst tagelang nach dem Fernhalten des Mittels einstellen oder ver¬ 
stärken, so kann dies auf „ätiologische Zwischenglieder“ (Bonhöffer) 
zurückgeführt werden. Aber diese durch das Veronal hervorgerufe¬ 
nen Zwischenglieder bleiben hier nicht nur wirksam, nachdem die 
Veronalzufuhr abgeschnitten ist, sondern sie äußern ihre Wirkung 
gerade dann erst in steigendem Maße, nachdem direkte Folgen de< 
Veronals, wie glänzende Augen, lallende oder anstoßende Sprache, 
verschwunden sind. Stände unser Fall isoliert, so würde man an 
unmittelbare Folge der Abstinenz denken. Heute ist man mehr ge¬ 
neigt, die Abstinenz als mitwirkenden Faktor ganz auszuschalten. Daß 
dies zu weit geht, dafür spricht auch unser Fall Man wird hier eine 
Wirkung, mindestens eine mittelbare Wirkung der Veronalentziehung 
auf den Ausbruch der Psychose annehmen müssen. Wenn ich (S. 564 o.) 
ausführte, daß als ein äußerer Anlaß auch der Anstaltaufenthalt 
gelten könne, so darf doch nicht übersehen werden, daß er in stärkerem 
Maße nur durch die Verbindung mit der Abstinenz wirken konnte, 
da bei Fortgebrauch des Mittels Schlaf und Stimmung nicht in solchem 
Grade gelitten hätten. Auch haben mir die Angehörigen nachträglich 
angegeben, daß der Versuch der Kranken, sich zu Haus das Mittel 
abzugewöhnen (vgl S. 547), hauptsächlich deshalb aufgegeben werden 
mußte, weil sich bedenkliche Erscheinungen auch psychischer Art. 
speziell delirienartige Zustände, einstellten. Wenngleich die Er¬ 
scheinungen damals gewiß viel milder waren, wie dies auch dem 

1 ) Fischer u. Hoppe, Das Verhalten des Veronals im menschlichen 
Körper. Münch, ined. Wchnschr. 1909, S. 1429. 

*) C. Bachem, Das Verhalten des Veronals im Tierkörper bei ein¬ 
maliger n. bei chronischer Darreichung. Arch. f. exper. Pathol. Bd. 63, 
S. 228. 


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Ein Fall von akuter Psychose nach chronischem Veronalgebrauch. 567 

kürzeren und geringeren Veronalgebrauch (damals 4 Jahre und zu¬ 
letzt 0,75 tägL, jetzt 6*4 Jahre und zuletzt 1,5 tägL) entsprechen 
würde, so bleibt doch bemerkenswert, daß Delirien nach Fortlassung des 
Veronak auch zu Hause auftraten. Dann aber k mmt dem Anstaltauf¬ 
enthalt keine andere Bedeutung z i als den Erregungen, denen Pat. auch 
zu Hause ausgesetzt war, und das wesentliche Moment ist in beiden 
Fällen der Fortfall des Veronals und die dadurch bedingte Verminde¬ 
rung der Widerstandfähigkeit gegen äußere Eindrücke. Diese waren 
Gelegenheitsursachen, die erst dann wirkten, als die aus der Veran¬ 
lagung durch die „ätiologischen Zwischenglieder“ und die psychischen 
Folgen des chronischen Veronalgebrauchs entstandene Disposition 
durch den Fortfall des Veronals gewissermaßen ihres letzten Schutzes 
beraubt und jedem Angriff preisgegeben ward. 


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Kleinere Mitteilungen. 

Die Jahresversammlung der Vereinigung katholischer 
Seelsorger an deutschen Heil-und Pflegean¬ 
stalten findet am 27. August in der Heil- und Pflegeanstalt St. 
Vincenz zu Rottenmünster bei Rottweil (Württ.) statt. Beginn 8% Uhr. 
Ref.: De absolutione conditionata (Dr. .Fami/fer-Regensburg); De assi- 
stentia in articulo mortis (Pf. .Si/non-Eglfing); Grundzüge für die Dienst¬ 
vorschriften der Hausgeistlichen, a) an staatlichen Anstalten (Dr. Familler- 
Regensburg), b) für klösterliche Anstalten (Kapl. Beutez -Rottenmünster). 
Nachm. Besichtigung der dortigen Anstalt der Barmh. Schwestern von 
Untermarchtal. Am 28. August Besuch der Kgl. Württ. Heilanstalt 
Zwiefalten und des Klosters in Untermarchtal. 

Die diesjährige (III.) öffentliche Tagung des Internationalen 
Vereins für medizinische Psychologie und Psy¬ 
chotherapie wird am 8. und 9. September in Zürich in unmittel¬ 
barem Anschluß an den Schweizer Psychiatertag und die Tagung der 
Internationalen Liga gegen Epilepsie stattfinden. I. Referate: 1. Das 
Unbewußte resp. Unterbewußte, a) Das Unbewußte (Prof. Bleuler), 
b) Der psychische Mechanismus der Wahnideen (Dr. Hans Maier); 
2. Theorien der sensiblen Leitung, a) The peculiarities of sensibility 
found in coutaneous areas supplied by regenerating nerves (Dr. Davies), 
b) Conductibililö de la sensibilitö (Dr. Bertholel); 3. Methoden und 
Grenzen der vergleichenden Psychologie, a) Etudes des phönomenes 
mnömiques chez les organismes införieurs (Dr. RoAn-Paris), b) Die Be¬ 
deutung der neuentdeckten Zellstrukturen für die Zellphysiologie und 
Psychologie (Dr. 5’/aM//acAer-Frauenfeld), c) Methoden und Sinn der 
vergleichenden Psychologie (Dr. A. Forel). II. Vorträge: Die Psycho¬ 
therapie auf der inneren Klinik (Dr. v. iV/aM/ZenAerg-München); The 
relation of anxiety-neurosis to anxiety-hysterie (Dr. Jones-Toronto); 
Über das Verhalten der psychogalvanischen Reflexphänomene bei Alkohol- 
Wirkung (Dr. Ph. Stein- Budapest). Anmeldungen von Vorträgen an 
Prof. Dr. A. Forel, Yvorne, Kant. Waadt. 


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Kleinere Mitteilungen. 


569 


Die bisherige Filialanstalt Hördt im Elsaß ist seit dem 1. April 
von Stephansfeld abgetrennt worden und hat eigene Verwaltung er¬ 
halten. Sie ist jetzt gemeinsame Pflegeanstalt der drei Bezirke des 
Reichslandes. Die Oberaufsicht führt der Bezirkspräsident des Unter - 
eisaß. Ferner ist das in Hördt neu errichtete feste Haus eröffnet worden, 
welches zur. Aufnahme gefährlicher Geisteskranker aus den drei Bezirken 
dienen soll. 

Der Reichs verband der deutschen Presse (Vor¬ 
sitzender: Marx, Chefredakteur des „Tag“) hat auf seiner Generalver¬ 
sammlung am 17. Juni einige Beschlüsse gefaßt, die auch für uns von 
Interesse sind. So soll der Vorstand dahin wirken, „daß die Gerichts¬ 
berich t-erstatter von Zeitungen sich der Berichterstattung über den Teil 
von Prozessen, in denen von sexuellen Feststellungen die Rede ist, enthal¬ 
ten, für den die Öffentlichkeit zwar ausgeschlossen, die Presse aber zu- 
gelassen ist“. Auch sei anzustreben, daß Stimmungsbildern über der¬ 
artige Prozeßverhandlungen jede sensationelle Ausschmückung fernge¬ 
halten werde. Ferner ward beschlossen, zwei Vertreter zu einer psy¬ 
chiatrisch * publizistischen Vertrauen skommis- 
sion*) zu delegieren, die durch ihre Zusammensetzung die Gewähr 
für eine objektive Prüfung aller derjenigen Fälle der Aufnahme und Be¬ 
handlung in Irrenanstalten bieten soll, welche zu öffentlicher Kritik 
Anlaß geben. Die Kommission soll beitragen zur Beseitigung von Mi߬ 
ständen und Mißverständnissen auf dem Gebiete der Irrenpflege, nament¬ 
lich der Internierung usw. Mitglieder der Kommission sollen außerdem 
3 Psychiater sein. Nicht ohne Bedeutung für die Berichterstattung über 
medizinische K o n g r e s s e ist endlich folgender Beschluß: Der 
Reichsverband spricht sich mit Entschiedenheit gegen die Bestrebungen 
aus, die freie Berichterstattung über Kongresse zu hindern und den Zei¬ 
tungen die alleinige Verwendung offizieller Kongreßberichte vorzu- 
schreiben. Er erwartet, daß jeder derartige Versuch mit völliger Ein¬ 
stellung der Berichterstattung über die betr. Veranstaltung beantwortet 
wird“ (D. med. Wchnschr. Nr. 26). 


Dem Verein zum Austausch der Anstaltbe¬ 
richte ist die gemeinsame Pflegeanstalt der drei Bezirke des Reichs¬ 
landes in Hördt beigetreten. 


Personalnachrichteti. 

Dr. Alois Alzheimer, ao. Professor und wissenschaftlicher Assistent an 
der psychiatrischen Klinik zu München, ist als o. Professor 

*) Vgl. diese Ztsehr., S. 145 dieses Jahrgangs. 


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570 


Kleinere Mitteilungen. 


und Direktor der psychiatr. und Nervenklinik nach Breslau 
berufen und hat die Berufung angenommen. 

Dr. Bruno Koritkowshi hat seine Privatheilanstalt für gemütskranke 
Herren von Groß-Lichterfelde nach Bergstücken - Neu ¬ 
babelsberg verlegt. 

Dr. Joh. Haberkant, bisher Oberarzt, ist Direktor der gemeinsamen 
Pflegeanstalt des Reichslandes in Hördt geworden. 

Dr. Viktor Tomaschny , Oberarzt, ist von Treptow a. R. an die neugebaute 
Anstalt bei Stralsund versetzt worden. 

Dr. Franz Kramer, Priv.-Doz. in Breslau, hat den Titel Professor 
erhalten. 

Dr. Carl Moeli, Prof. u. Dir. der städt. Anstalt Herzberge in Berlin- 
Lichtenberg, Ref. im Ministerium des Innern, ist zum Geh. 
Obermedizinalrat, 

Dr. Ludwig Römheld, Direktor in Alzey, und 

Dr. Hans Dietz, Oberarzt an der Landesanstalt Gießen, sind zu Medi¬ 
zinalräten, 

Dr. Wilh. Horstmann , Dir. der Prov. Heilanstalt Stralsund, zum Sani¬ 
tät s r a t ernannt worden. 


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Am Abend des 5. September entschlief sanft in Göttingen der 
Geheime Medizinalrat 

Professor Dr. August Cramer 

im 62. Lebensjahre. 17 Jahre hat er der Universität Göttingen als 
Lehrer, davon 11 Jahre als o. Professor angehört Aber wie er in 
dieser kurzen Zeit nach allen Richtungen gewirkt hat, das lehrt ohne 
Weiteres ein Blick auf das Provinzialsanatorinm Rasemflhle, auf die 
neaentstandene Klinik, auf die umgewandelte Provinzialanstalt mit 
den ihr neuangegliederten Instituten und, wenn wir Aber Göttingen 
hinausschauen, der Unterschied in der Bedeutung der Psychiatrie für 
die Provinz Hannover jetzt und vor 12 Jahren. Denn so viel Cramer 
rein wissenschaftlich geleistet hat, seine Begabung drängte fast mehr 
noch auf Betätigung in der praktischen Psychiatrie — in der er vor 
der Göttinger Zeit die vorzügliche Schulung August Zinns in Ebers¬ 
walde durcbgemacht hatte — und auf die Nutzbarmachung der 
psychiatrischen Wissenschaft auf weiteren Gebieten; ich erinnere nur 
daran, wie viel ihm die gerichtliche Psychiatrie und die Fürsorge¬ 
erziehung zu verdanken haben. 

So drang Cramer, einem Eroberer vergleichbar, in raschem 
Ansturm nach allen Seiten vor, Erfolge und Ehren, wie sie einem 
Psychiater erreichbar sind, fielen ihm in verhältnismäßig frühen Jahren 
zu, und nach Ablehnung der Berliner Professur schien er, das Urbild 
männlicher Kraft und Frische, auf der Höhe seiner Leistungfähigkeit 
und seines Einflusses angelangt, da stand vor ihm der Allsieger Tod: 
eine bösartige Geschwulst zwang den kräftigen Körper in wenigen 
Monaten nieder. Durch eine Operation vorübergehend von seinen 
Beschwerden befreit, nahm Cramer noch in früherer Lebendigkeit an 
der Pfingstversammlung des Deutschen Vereins für Psychiatrie in Kiel 
teil, und wenige werden geahnt haben, daß wir so bald an der Bahre 
des magerer und blasser gewordenen, aber noch immer starken und 
lebensfreudigen Mannes trauern würden. 

Ein reichbegabter und tatkräftiger Mensch, ein ebenso fleißiger 
Arbeiter wie tüchtiger Organisator, ein hervorragender Arzt und Lehrer, 
ein erfolgreicher Forscher und Schriftsteller ist in ihm dahingeschifeden, 
vor allem aber eine sieghafte und glückliche, lebensprühende Per¬ 
sönlichkeit, die auch Femerstehenden unvergeßlich bleiben wird. 

H. L. 


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Dementia paralytica bei den Eingeborenen yon 

Java und Madura. 

Von 

P. C. J. ran Brero, 

vorm. Direktor der Staatsirrenanstalt zu Lawang (Java). 

Fast alle Autoren, die über Geisteskrankheiten bei unkultivierten 
Rassen geschrieben haben, waren bis jetzt der Meinung, daß dort 
Dementia paralytica äußerst selten sei oder sogar gänzlich fehle. 
Die wünschenswerten Daten hierüber findet man in der wertvollen 
Arbeit von Revesz. 

Für die niederländisch-ostindische Inselgruppe entsprach dieser 
Auffassung die anscheinende Tatsache, daß die Paralyse bei den nicht- 
europäischen Insassen der Irrenanstalten sich sehr wenig zeigte. 
Diese Bevölkerung besteht aus Eingeborenen von Java, Madura 
und anderen weniger bekannten Inseln des Archipels und zuletzt 
aus fremden Orientalen, zu denen die Chinesen einen nicht unbeträcht¬ 
lichen Bruchteil stellen. Es ist dies also eine sehr heterogene Menschen¬ 
gruppe angesichts nicht nur der Rasseneigentümlichkeiten, sondern 
auch der großen sozial-ökonomischen Ungleichheiten, die die Be¬ 
urteilung recht erschweren. 

Infolge dieser Überlegung zog ich, um das Verhältnis der Paralyse 
zu den übrigen Irrsinnsformen auf andere Weise festzustellen, nur 
die eingeborenen Geisteskranken von Java und Madura in 
Betracht, weil die Eingeborenen dieser beiden politisch zueinander 
gehörigen und am besten bekannten Inseln, trotz ihrer verschiedenen 
Benennung, in anthropologischer und sozial-ökonomischer Beziehung 
einander am nächsten stehen. Sie werden nämlich unterschieden 
in Sundanesen, welche den westlichen Teil Javas, in eigent¬ 
liche Javaner, welche Mittel- und Ost-Java und in Madu- 
resen, die Ost-Java und Madura bewohnen. 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXIX. 5. aq 


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van Brero, 


Noch eine zweite Überlegung beeinflußte mein Vorgehen; sie 
gründete sich auf der Beobachtung, daß die Sterblichkeit bei dieser 
organischen Psychose sich schon in den ersten manifesten Stadien 
der Krankheit nachdrücklich geltend macht, daß sozusagen der Tod 
gerade bei den inländischen Anstaltinsassen eine für die Paralyse 
ungünstige Auslese ausübt, wie untenstehende Tabelle ausweist, 
wo unter 30 Todesfällen innerhalb oder kurz nach dem ersten Halb¬ 
jahre der Verpflegung, 7 Paralytiker, also beinahe 23,5%, sich befanden 
und von den 20 im ganzen gestorbenen Paralytikern 7, also 35%, 
schon innerhalb des ersten Halbjahres aus den Anstaltlisten ver¬ 
schwanden. 


Sterbefälle 
bei den inländischen 

im 1. 
oder kurz 

im 2. 

im 3. 

im 4. 

im 6. 

im 6. 


Insassen der Irren- 

nach dem 

Halb- 

Halb- 

Halb- 

Halb- 

Halb- 

Total 

anstatt Lawang von 
Juli 1902 bis Mai 1909. 

1. Halb¬ 
jahr 

jahr 

jahr 

jahr 

jahr 

jahr 


Amentia . 

11 

3 

4 

2 

3 

6 

29 

Periodische Manie ... 

1 

2 

1 

— 

— 

— 

4 

Paranoia. 

— 

—• 

— 

— 

— 

1 

1 

Hypochondrie. 

Epilepsie. 

Idiotie. 

2 

1 

1 

1 

— 

1 

1 

1 

4 

1 

7 

4 

Dementia secundaria. 

9 

2 

3 

— 

2 

38 

64 

Dementia paralytica . 

7 

3 

6 

— 

— 

4 

20 

Total 

30 

11 

16 

2 

7 

54 

120 


Dies und auch der Umstand, daß damals in der Anstalt zu 
Buitenzorg die Krankenbewegung für eingeborene Geistes¬ 
kranke nicht lebhaft war, weil die neu eröffnete Anstalt zu L a w a n g 
für diese fast ausnahmlos bestimmt war, mag wohl die Ursache sein, 
daß Kraepelin im erstgenannten Ort gar keine eingeborenen Para¬ 
lytiker traf. 

Es wurden also nur die einheimischen, geisteskranken Bewohner 
von Java und M a d u r a und von diesen nur diejenigen, welche 
nicht aus anderen Irrenanstalten übernommen wurden, in Betracht 
gezogen. 

Tabelle der von Juli 1902 bis Mai 1909 aufgenommenen, männlichen 
Eingeborenen Javas und Maduras (Nomenklatur und Klassi¬ 
fikation hauptsächlich nach Meynert): 


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Original fro-rri 

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Dementia paralytica bei den Eingeborenen von Java and Madnra. 573 



Melancholie || 

Manie || 

Amentia 

Paranoia | 

Hypochondrie | 

£> 

*c 

© 

CO 

X 

.2 

*55 

Q- 

.2 

'S. 

W 

zirk. Psychosen || 

per. Melancholie | 

period. Manie || 

period. Amentia 

Idiotie 1 

Imbecillita8 || 

Dementia 

secundaria 

Dementia 

paralytica 

noch nicht 
diagnostiziert 

1 

Javaner... 

2 

_ 

263 1 ) 2 ) 

6 

2 

B 

36 

2 

_ 

68 

1 

9 

6 

101 

28 

10 

534 

Sundanesen 

1 

— 

24i)2) 

— 

1 

B 

— 

B 

— 

8 

— 

— 

— 

29 

4 

— 

67 

Maduresen 

— 

— 

231)2) 

J_ 

H 

B 


B 

B 

3 

— 

— 

— 

6 

1 

3 

38 

Total 

□ 


310 

7 

3 

— 

37 

2 

— 

79 

n 

o 

6 

136 

33 

13 

639 

Prozentisch 


— 

48 

1,1 

0,5 

— 

6,9 

0,3 

— 

12 

0,16 

1,6 

1 

21,3 

5 

2 

— 


Unter den 626 von 1902—1909 in die Anstalt zu L a w a n g 
aufgenommenen einheimischen Irren befanden sich also 33 Paralytiker 
oder beinahe 5,3%, und zwar für die Javaner 5,4%, die Sundanesen 
6%, die Maduresen 2,8%, Zahlen, welche im Vergleich mit denen der 
Kulturstaaten nicht hoch, aber doch nicht ganz unbeträchtlich sind, 
und das um so mehr, als ohne Zweifel der wirkliche Prozentgehalt 
höher anzuschlagen ist; erscheint doch die Zahl der sekundär Dementen 
(136 auf 626) noch sehr groß, was für viele eine schon seit längerer 
Zeit vor der Aufnahme in die Irrenanstalt bestehende Geisteskrankheit 
bedeutet. 

Es wäre nicht undenkbar, daß auch in anderen Tropenländern 
höhere Ziffern sich heraussteilen würden, wenn die Statistik in dieser 
oder ähnlicher Weise einer Prüfung unterstellt würde. 

Um ein richtiges Krankheitverhältnis zu bekommen, ist unbedingt 
an erster Stelle nötig eine ausgiebig und leicht zugängliche Anstalt, 
die noch in den meisten Tropenländern vermißt wird, übrigens 
sind in letzter Zeit von Stieda in Japan (15%), von Sicard in 
Algier (9,77%), von Marie in Ägypten, Wolff in Syrien, 
Moreira in Brasilien und Berkley in den Vereinigten 
Staaten steigende Zahlen festgestellt worden; nach dem letzt¬ 
genannten Autor befällt die Paralyse die Neger in beiden Geschlechtern 
sogar weit häufiger als die Weißen, während sie noch vor wenigen 
Jahren bei ihnen fast unbekannt war. 

*) Wobei mit Amentia cum Stupore 38 Javaner, 6 Sundanesen, 
2 Maduresen. 

*) Wobei mit Amentia transitoria 9 Javaner, 0 Sundanesen, 
2 Maduresen. 

40* 


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Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 

































574 


van Brero, 


Einige kurze Notizen über die Bevölkerung Javas und die 
Merkmale der bei diesen Kranken beobachteten Paralyse mögen 
hier folgen. 

Die beiden Inseln, zusammen 2388 Q geographische Meilen 
groß, zählen 29 715 900 Eingeborene, welche, die Zentren ausgenommen, 
fast ausschließlich den Ackerbau treiben. Die Arbeit ist noch nicht 
spezialisiert, so daß der einzelne selber die Wohnung baut, größten¬ 
teils die einfachen Werkzeuge herstellt und die Frau seine Kleidung 
besorgt. Die Heiraten finden früh statt, können leicht gelöst und 
erneuert werden. Die Lebensbedingungen sind nicht drückend, und 
so lebt der Eingeborene, der sich den Kopf für den morgigen Tag 
nicht zerbricht, ohne große Sorgen und einfach, weil die Mittel zu 
Ausschreitungen ihm meistens fehlen. Der Gefahren eines Aufbrauches 
des Nervensystems sind darum auch nicht Viele. 

Seine Glaubenslehre ist die musulmanische, diese ist aber nur 
formell, im Grunde denkt er animistisch, wie seine heidnisch ge¬ 
bliebenen Landgenossen im T e n g e r gebirge. 

Er hat seine guten und schlechten Eigenschaften; zu den letzten 
gehören eine hochgradige Indolenz, auch für körperliches Leiden, 
und eine reizbar-schwache Auffassung von Ehrensachen. 

Über Syphilis und Genußmittel verweise ich der Kürze halber 
auf meinen Aufsatz über die Geisteskrankheiten der Bevölkerung 
des malaiischen Archipels in dieser Zeitschrift Bd. 53, S. 25. 

Die Symptomatologie der Paralyse ist bei den Eingeborenen 
nicht sehr verschieden von der bei Europäern, die Größenwahnideen 
werden nicht so laut und ungefragt und nicht so barock geäußert. 

Die in der Anstalt beobachtete Form ist die klassische, mit Exalta¬ 
tion anfangend und mit Demenz endend; die demente Paralyse wird 
viel weniger angetroffen, wahrscheinlich kommen diese gewöhnlich 
harmlosen Kranken nicht zur Aufnahme. Deutlich stationäre Formen 
bin ich nicht in der Lage zu geben, weil mir eine genügend lange Beob¬ 
achtungzeit fehlte; vermutlich werden sie aber nicht vermißt. Klare 
Remissionen sah ich auch nicht, jedenfalls keine langdauemde. Beim 
18. Fall war eine Andeutung vorhanden, und möglicherweise waren im 
20. Fall die Erscheinungen von Amentia bei der Aufnahme schon als 
Anfang der späteren Paralyse und die Heilung (mit Krankheit¬ 
einsicht) als Beginn einer Remission aufzufassen. 


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Original fro-rri 

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Dementia paralytica bei den Eingeborenen von Java und Madura. 575 

Das Prodromalstadium kommt dem Irrenarzt bei den Eingeborenen 
nicht zu Gesicht; auffallend ist die häufig vorkommende Neigung 
• zu Brandstiftungen, die oft den Grund zur Aufnahme bildet. 

Über die Dauer der Krankheit ist wegen der ungenügenden Daten 
nicht viel zu sagen; bei der Mehrzahl fiel die Psychose in das 40. bis 
50. Lebensjahr; diese Lebenszeit ist indessen nur geschätzt, weil das 
genaue Geburtsdatum bei Eingeborenen in der übergroßen Zahl 
unbekannt ist. 

Weder beim Weibe der polynesischen noch der gemischten Rasse 
fand ich Paralyse; die Bedingungen zur Entstehung der Krankheit 
beim weiblichen Geschlecht sind offenbar noch nicht so stark und 
dringlich. 

Von den 27, deren Beruf bekannt ist, sind je 3 Landwirte und 
Taglöhner, wozu nur geringe geistige Fähigkeiten erforderlich sind; 
mit Ausnahme des Bettlers gehören die übrigen zu den öffentlichen, 
kommerziellen und industriellen Berufen, welche schon höhere in¬ 
tellektuelle und emotionelle Anforderungen an das Gehirn stellen. 
Auch hier zeigen sich also die Personen mit erhöhtem Nervenaufbrauch 
am meisten gefährdet. 

Alkohol und die schädlichen Faktoren des Kulturlebens fallen 
ätiologisch in diesen Tropenländern aus, über Heredität und Syphilis 
läßt sich anamnestisch nichts Sicheres eruieren. Körperlich ließen sich 
bei 21 Kranken Zeichen von Lues feststellen, bei 1 verdächtige Sym¬ 
ptome, bei 9 keine, und bei 2 blieb dies unbekannt. Man geht wohl 
nicht fehl, wenn man die Syphilis bei diesen Kranken als unbehandelt 
annimmt, wie dies bei fast allen einheimischen Tropenbewohnern 
der Fall ist. Degenerationszeichen fanden sich in 21, keine in 8 Fällen, 
während dies in 4 Fällen nicht bemerkt ist. 

Die pathologische Anatomie bietet keine Unterschiede bei der 
weißen und gefärbten Rasse. 

Es sollen hier die kurzen und nur oft zu mangelhaften Kranken¬ 
geschichten folgen; mikroskopische Untersuchungen des Leichen¬ 
materials konnten leider nicht angestellt werden. 

1. Sundanese, Kleinhändler, 35 J., verheiratet, seit anfangs De¬ 
zember 1903 irrsinnig, 24. Februar 1904 aufgenommen und 29. August 
1906 gestorben. 

Veranlassung zur Aufnahme: Wutausbrüche, Neigung zum Brand¬ 
stiften und Selbstmord. 


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Original fro-m 

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576 


van Brero, 


Erscheinungen: Dämmerzustand mit unzweckmäßigen Handlungen, 
Unruhe, Verwirrtheit, Schlaflosigkeit, Unreinlichkeit. Nach eingetretener 
Ruhe und Luzidität wird erheblicher Blödsinn und Silbenstolpern deut¬ 
lich, weitere Untersuchungen wegen ängstlichen Widerstandes unmöglich, 
Kubitaldrüsen verhärtet. 

Patient fiel im Badezimmer, wodurch er sich eine leichte Kopfwunde 
zuzog, ward bewußtlos und zeigte stertoröses Atmen mit vollem, regel¬ 
mäßigem Pulse, allgemeine Hypertonie der Gliedermuskeln, verstärkte 
Patellarreflexe, aufgehobene Konjunktival- und erhaltene Kornealreflexe 
mit aufwärts gedrehten Bulbi; nach zwei Tagen ist das Bewußtsein wieder- 
gekehrt, sind die Pupillen normal weit, nicht auf Licht reagierend, r. >* 1.; 
Stehen und Gehen wegen Spasmus unmöglich, Schlucken erschwert, 
drohender Dekubitus. Ein bald sich einstellender apoplektiformer Insult 
machte dem Leben ein Ende. Keine Sektion. 

2. Madurese, Landwirt, 60 J., verheiratet, seit Oktober 1903 geistes¬ 
krank, Juli 1904 aufgenommen, September 1904 gestorben. 9 Monate 
vor der Aufnahme Fieber mit klonischen Krämpfen in Armen und Beinen 
mit nachfolgender Verwirrtheit, Unruhe, Herumirren und Aggression. 

Erscheinungen: Dämmerzustand, greift um sich her, klammert sich 
an alles fest, stößt allerlei Laute aus, nur nach eindringlicher Frage gibt 
er seinen Namen an. Heruntergekommene Person mit einem Abszeß 
unter der linken Brustwarze und vielen verdächtigen Wunden an den 
Gliedern, aber keine Drüsenschwellungen. 

11. Juli. Epileptiformer Anfall mit tonischen Krämpfen aller 
Gliedermuskeln, erhöhter Temperatur, aufgehobenem Bewußtsein, Zähne¬ 
knirschen, beweglichen Pupillen, rechts etwa 4, links 2 mm weit, rechts 
Othämatom. Bewußtsein kehrt bald wieder, ohne Lähmungen zu hinter- 
lassen. 

16. Juli. Epileptiformer Anfall mit klonischen Krämpfen der 
rechten Körperhälfte, welcher den folgenden Tag ohne motorische Störungen 
verschwindet; Dekubitus am Sakrum. 

Unter zunehmendem Marasmus stirbt Patient in Sopor mit einer 
Temperaturerhöhung, welche vom 11. Juli mit unregelmäßigen Remissionen 
und Intermissionen fortdauerte und nicht auf Chinin reagierte. Sektion 
konnte nicht gemacht werden. 

3. Sundanese, ohne Beruf, 54 J., verheiratet, seit Mai 1904 krank, 
20. September 1904 aufgenommen und 30. September 1904 gestorben. 

Aufnahmegründe: Zerstörungstrieb, Mißhandlung seiner Kinder, 
Verwirrtheit. 

Erscheinungen: Dämmerzustand, Mutismus, zweckloses Herum¬ 
greifen, Aufschreien derselben Laute und Worte, Weinen, Unreinheit, 
starke Unruhe, so daß Untersuchung unmöglich ist. 

25. September. Epileptiformer Insult, gänzlich besinnunglos. 
Pupillen etwa 2 mm weit, gleich, ohne Lichtreaktion. Arm in Flexion-, 


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Dementia paralytica bei den Eingeborenen von Java und Madura. 577 

1. Bein in Extensionstellung, r. Fuß mit klonischen Krämpfen, faszikuläre 
Zuckungen im rechten Arm. Mundfazialis und breite Bauchmuskeln 
in klonischen Konvulsionen. Mittags waren die Krämpfe verschwunden, 
nur hier und dort faszikuläre und fibrilläre Zuckungen. 

26. September. Alle Muskeln rigide, besonders 1. R. Antlitzhälfte, 
Arm und Bein mit faszikulären Zuckungen, auch im 1. Beine, besonders 
nach Berührung dieser Körperteile. Bulbi nach 1. gedreht, Schlucken 
ist erschwert, Dekubitus. 

29. September. Nur Crampi Muse, front, und einzelne Konvul¬ 
sionen im r. Arm, Bewußtsein bleibt tief gestört. Exitus am folgenden 
Tag; Sektion konnte nicht stattfinden. 

4. Javaner, Füselier, 35 J., unverheiratet, 29. November 1903 
aufgenommen, 6. Februar 1905 gestorben. 

Aufnahme wegen Zerstörung, Größenwahns, Aggression, Brand¬ 
stiftungneigung. 

Erscheinungen: Unorientiertheit, Personenverwechslung, Unruhe, 
vor sich hin Schwatzen, Unreinlichkeit, progressive Demenz, allmähliche 
Parese der Unterextremitäten mit schleppender Gangart, tremulierende 
Sprache, erhöhte Patellar- und Ulnarreflexe, verengte, unbewegliche 
Pupillen, zunehmende Schwäche und Decubitus Sacri. Weit abstehende, 
flache Ohren. 

Stirbt in Koma mit allgemeinen Konvulsionen. 

Ätiologie: Syphilis. 

Sektion: Hirngewicht 1333. Dura mit Schädeldach verwachsen, 
Leptomeningen stark verdickt, sehr trübe und ödematös; nicht mit der 
Rinde verwachsen. Frontalgyri sehr verdünnt; starker Hydrocepnalus 
internus, keine Ependymgranulationen. 

5. Javaner, kein Beruf, 40 J., unverheiratet, August 1903 auf¬ 
genommen, Juni 1905 gestorben. 

Erscheinungen: Verwirrtheit, Unorientiertheit, Größenwahn, reiz¬ 
bare Stimmung, Silbenstolpern, bei Zeiten unruhig und schlaflos, pro¬ 
gressive Demenz und allmähliche Ruhe. Langsam eintretende Parese 
der Beine, 1. Fazialis paretisch, stark erhöhter Kniereflex, Unreinlichkeit, 
Pupillen wegen ängstlichen Widerstandes nicht zu untersuchen. Unregel¬ 
mäßiger Stand der Zähne, schiefe Augen, überall am Körper Ulzerationen, 
Drüsenschwellung, stirbt im Marasmus. 

Sektion: Hirngewicht 1112. Dura mit Pia verwachsen, letztere 
ödematös, anämisch, trübe, nicht adhärent. Gyri centrales, besonders 
die frontales, verdünnt, Ventrikelhöhlen erweitert, leicht körnige Ober¬ 
fläche der Corpp. caud. und des Bodens des IV. Ventrikel. 

6 . Javaner, Hausdiener, 40 J., verheiratet gewesen, seit Oktober 
1901 geisteskrank, aufgenommen 23. Oktober 1902, starb marantisch 
November 1905. 

Aufnahmegründe: Zerstörungstrieb, Aggression 


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UMIVERSITY OF MICHIGAN 



578 


van Brero, 


Erscheinungen: Tiefe Demenz, reizbare Stimmung, Neigung zur 
Aggression, zurzeit unruhig, Sammelsucht. Schlaffe Haltung, schleppender 
Gang, blöde Gesichtzüge, Patellar- und Radiusreflexe erhöht, Babinski +, 
Pupillen normaler Größe, reagieren träge auf Licht. Fibrilläre Zuckungen 
der Mundmuskeln und Zunge, Silbenstolpern und tremulierende Sprache, 
Salivation, Unreinlichkeit. Flaches Hinterhaupt und Caput progenaeum, 
keine Luessymptome. 

4. Dezember. Leichter paralytischer Insult ohne folgende Läh¬ 
mungen. 

Januar 1903. Othämatom beiderseits. 

Vom 13. bis 23. Juli epileptiformer Anfall mit klonischen, in Inten¬ 
sität wechselnden Konvulsionen r., welche als fibrilläre Zuckungen endeten, 
Krämpfe der Muse, front, beiderseits, gänzlich bewußtlos. 

22 . August. Kurzdauernder epileptiformer Insult mit klonischen 
Zusammenziehungen r. 

Nach einer monatelangen y 2 —1° C. erhöhten ‘Mittagstemperatur, 
nicht auf Chinin reagierend, stirbt Patient ganz gelähmt in tiefster Demenz. 

Sektion: Hirngewicht 1095. Haematoma durae matris älteren 
Datums, stark mit Dura, leicht mit Pia verwachsen; letztere trübe, aber 
nicht adhärent, Fronto-parietalwindungen schmal, Sulci verbreitert, 
Boden des IV. Ventrikels granuliert. Blutgefäße ohne sichtbare Ver¬ 
änderungen. 

7. Javaner, Kuli, 40 J., aufgenommen August 1904, gestorben 
September 1905. 

Aufnahmegründe: Belästigung der Umgebung. 

Erscheinungen: Unruhe, Verwirrtheit, Desorientation, Größenwahn, 
erheblicher Blödsinn, zwecklose Handlungen, später Dämmerzustand. 

Patellarreflexe nicht zu bestimmen; r. Pup. > 1., keine Lichtreaktion; 
linke Fazialis paretisch; Gang breitbeinig und schleppend; unreinlich; 
keine Sprachstörungen; Dekubitus am Sakrum und Trochanteren; Narben 
in der Inguinalgegend beiderseits und am Penis, allgemeine Drüsen- 
Schwellung. Caput progenaeum. Stirbt in Marasmus. 

Sektion: Hirngewicht 1029. Pia front, und parietal, trübe, stark 
verdickt und ahhärent, Gyri, besonders die Frontales, sehr dünn. Hydro- 
cephalus internus, keine Ependymgranulationen. 

8 . Javaner, Kanonier, 45 J., unverheiratet, seit November 1902 
geisteskrank, aufgenommen Juli 1903, starb Oktober 1907 in Marasmus. 

Aufnahmegründe: Angstanfälle mit Neigung zu Gewalttätigkeiten. 

Erscheinungen: Verwirrtheit, Neigung sich auszuziehen und zu 
schmieren, Schlaflosigkeit, Unruhe, Salivation, Dämmerzustand mit 
folgender progressiver Demenz bis zur Sprachlosigkeit, schrie vorher 
allerhand unartikulierte Laute. Gang breitbeinig und schleppend, zuletzt 
gänzlich paralytisch, 1. Fazialis gelähmt, Pup. verengt und unregelmäßig 
geformt, Kniereflexe erhöht, später verschwunden. Keine Erscheinungen 


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Dementia paralytica bei den Eingeborenen von Java und Madnra. 579 

von Lues, an der 1. Seite des Vorderkopfes eine große Haut - und Knochen - 
narbe. Plumper Gesichtschädel. 

Sektion: Hirngewicht 1243, keine Verwachsung von Dura und 
Schädelknochen an der Frakturstelle, Pia nicht adhärierend, Frontalgyri 
verdünnt, keine Granulationen, sehr weite mit heller, weißgefärbter 
Flüssigkeit gefüllte Ventrikelhöhlen. 

9. Javaner, ohne Beruf, 40 J., verheiratet, aufgenommen Dezember 
1903, gestorben Mai 1906. 

Aufnahmegründe: Verwirrtheit. 

Erscheinungen: Unorientiertheit, fortschreitender Blödsinn bis zur 
Sprachlosigkeit, vorher verwirrt, unreinlich, ruhig, spastische Parese der 
Beine bis zur völligen Paralyse und Kontraktur, verstärkte Haut- und 
Sehnenreflexe, keine Fazialisparese, Pupillen 1 mm weit ohne Licht¬ 
reaktion, Othämatom, keine Lueserscheinungen, Arcus senilis praecox; 
in den letzten Lebenstagen Fieber ohne Chininreaktion. 

Sektion: Hirngewicht 1262, Pia mit Rinde verwachsen, Frontalgyri 
sehr verschmälert, Hirngewebe sehr ödematös, keine Granulationen, 
bedeutender Hydrocephalus internus und externus. 

10 . Javaner, Kleinhändler, 40 J., verheiratet, seit April 1902 
geisteskrank, aufgenommen Dezember 1903, August 1907 plötzlich ge¬ 
storben nach bedeutender Gewichtzunahme. 

Aufnahmegründe: Reizbarkeit, Neigung zur Aggression und Vaga- 
bondage, Größenwahn und Verwirrtheit. 

Erscheinungen: Tiefster Blödsinn, ruhig, aber ängstlich wider¬ 
strebend, bisweilen aggressiv, nicht unreinlich. 

Haut- und Kniereflexe erhöht, Babinski +, Gang schleppend, 1. 
Fazialis paretisch, Pup. nicht zu untersuchen, Silbenstolpern, tremulierende 
Sprache bis zur Unverständlichkeit, Narben von beiderseitigem Othäma¬ 
tom, indolente Drüsenschwellung in cubitu, plump geformtes Antlitz. 

Sektion: Hirngewicht 1289, Frontalgyri verschmälert und Sulci 
verbreitert, Pia trübe, nicht verwachsen, Hirnhöhlen erweitert, keine 
Granulationen. 

11 . Javaner, Marinematrose, 45 J.. aufgenommen Juli 1905, in 
Marasmus gestorben Dezember 1905. 

Erscheinungen: Tiefe Demenz, sprachlos, ab und zu unartikulierte 
Laute, zweckloses Umherirren mit einzelnen stereotypen Handlungen. 

Gang breitbeinig und schleppend, r. Fazialis paretisch, fibrilläre 
Zuckungen der Mundmuskeln bei der Ernährung, Pupillenuntersuchung 
wegen ängstlichen Widerstands unmöglich, schnell heilender Dekubitus 
an den Trochanteren, keine Zeichen von Syphilis, Caput progenaeum, 
Prognathie. Zunehmende spastische Lähmung mit Babinski, Dekubitus 
und Keratitis mit Hypopion, in Panophthalmie endend, blutige Blasen 
an den Füßen, Monate lang subfebrile Mittagtemperatur, nicht auf Chinin 
reagierend. 


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580 


van Brero, 


Sektion: Hirngewicht 1239, Leptomeningen sehr ödematös, trübe, 
hyperämisch, adhärierend. Frontalgyri verdünnt, Hirnhöhlen erweitert. 

12 . Javaner, Kutscher, 40 J., verheiratet, seit Juni 1905 irrsinnig, 
Oktober 1905 aufgenommen, Juni 1906 gestorben. 

Aufnahmegründe: Verwirrtheit, Aggression und Schlaflosigkeit. 

Erscheinungen: Fortschreitende Demenz, Verwirrtheit, stereotype 
Laute, amönomane Stimmung bis zur Unruhe, Größenwahnideen, Brady- 
lalie, zurzeit Silbenstolpern. 

Allmählich eintretende Paresen bis zur Bettlägerigkeit, Unreinlich¬ 
keit, 1. Fazialis paretisch, Hände ataktisch, Patellarreflexe erhöht, Pup. 
2 mm weit, gleich, nicht auf Licht reagierend. Allgemeine indolente Drüsen - 
Schwellung, auch in cubitu, plumpe Ohrmuscheln, 1. Hämatom in Dezember 
1905. Im Juni zwei kurz dauernde epileptiforme Anfälle, stirbt in Marasmus. 

Sektion: Hirngewicht 1200. Durahämatom jüngeren Datums 
mit ziemlich viel heller subduraler Flüssigkeit. Pia trübe, nicht adhärierend, 
sonst keine makroskopische Änderungen. 

13. Javaner, Schneider, 40 J., verheiratet, seit Juni 1905 irrsinnig, 
Oktober 1905 aufgenommen und Oktober 1906 seinen Verwandten über¬ 
liefert. 

Aufnahmegründe: Verwirrtheit, Unruhe, Aggression. 

Erscheinungen: Mäßiger, später völliger Blödsinn, neutrale Stim¬ 
mung, sonst keine psychischen Abweichungen. Bedeutende Ataxie der 
Bein - und Armmuskeln, später in Parese übergehend, Hahnentritt, deut - 
licher Branch-Romberg, r. Fazialis paretisch, Pup. gleich, normaler Größe, 
nicht auf Licht reagierend. Reflexe nicht zu bestimmen wegen Muskel¬ 
spannung; sehr starkes Silbenstolpern mit Zuckungen der Mund- und 
Vorderhauptmuskeln. Indurierte Kubitaldrüsen und Psoriasis palmaris, 
plumpes Antlitz, Caput progenaeum. 

14. Javaner, Kutscher, 40 J., verheiratet, bei der Aufnahme No¬ 
vember 1905 schon seit 1 Jahr und 8 Monaten krank, starb nach fünf¬ 
tägiger Verpflegung. 

Aufnahmegründe: Verwirrtheit und Nackt-Herumziehen. 

Erscheinungen: Dämmerzustand, allerlei zwecklose Handlungen, 
greift alles an; schlaffe Paresen der Beine, Unfähigkeit zu stehen und gehen, 
keine deutliche Fazialisparese, Pupillenuntersuchung wegen fortschreitender 
Unruhe unmöglich, Patellarreflexe aufgehoben, kein Babinsk' 1 , unrein¬ 
lich, keine bestimmte Degenerationszeichen. 

Drei Tage nach der Aufnahme kontinuierliches Fieber mit Zuckungen 
im r. Arm; drohender Dekubitus am Sakrum und Trochanteren, stirbt 
an Herzlähmung. 

Keine Zeichen von Lues, welche aber in der Erkundigungsliste als 
sehr schwer bezeichnet wird. 

Sektion: Hirngewicht 1294. Leptomeningen trübe, sonst keine 
auffallende Änderungen. 


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Dementia paralytica bei den Eingeborenen von Java und Madura. 581 

15. Javaner, Aufseher einer Arbeitergruppe, 40 J., verheiratet, 
seit Juni 1904 geisteskrank, September 1904 aufgenommen, August 1906 
an Ruptura lienalis gestorben. 

Aufnahmegründe: Wutausbrüche, Aggression, Größenwahn, soll 
fünf Tage vor der Entstehung der Psychose schweres Fieber gehabt 
haben. 

Erscheinungen: Verwirrtheit, zeitliche Orientation schlecht, ört¬ 
liche besser, schwatzt viel vor sich hin, ist unruhig und reizbar, will ent¬ 
fliehen, ist bisweilen unreinlich, zuletzt apathisch und blödsinnig. Sehnen¬ 
reflexe verstärkt, Gang wacklig, Pupillen wegen ängstlichen Widerstandes 
nicht zu untersuchen, Othämatom 1., indurierte Kubitaldrüsen, plump 
geformtes Antlitz. Sektion nicht gestattet. 

16. Javaner, Aufseher einer Arbeitergruppe, 35 J., verheiratet, 
seit Januar 1905 krank, November 1905 aufgenommen und März 1907 
gestorben. 

Aufnahmegründe: Unruhe, Verwirrtheil. 

Erscheinungen: Verwirrtheit, Unruhe, Blödsinn. Patellarreflexe 
erhöht, Pup. gleich, normal weit, aber ohne Lichtreaktion, später ein- 
tretende Parese der Beine, starkes Silbenstolpern und Tremulieren bis zur 
Unverständlichkeit, unreinlich, leichter Dekubitus, keine Zeichen von 
Syphilis, Prognathie. 

Stirbt unter klonischen Krämpfen, welche sich in tonische um- 
wandeln und sich über alle Streckmuskeln ausbreiten, Pupillen erweitert 
und ohne Lichtreaktion, Deviation der Bulbi nach 1. 

Sektion: Schädeldach dünn, subdurales Hämatom über der ganzen 
Hirnoberfläche, auch der Basis, mit Ausnahme der Frontalpole und be¬ 
sonders 1. Hirn ödematös. wiegt 1320, überall kleine Blutpünktchen, 
keine Granulationen, Ventrikelhöhlen erweitert, Frontalgyri verschmälert. 

17. Javaner, Kupferschmied, 50 J., verheiratet, seit fünf Monaten 
krank, Dezember 1906 aufgenommen und Juni 1908 gestorben. 

Aufnahmegründe: Brandstiftung. 

Erscheinungen: Fortschreitende, tiefe Demenz, Größenwahn, bis¬ 
weilen Unruhe mit Aggression, später eintretende Unreinlichkeit und 
gänzliche Parese, Fazialis rechts paretisch, Pup. nicht zu untersuchen, 
keine Sprachstörungen, r. Mundmuskeln fibrillär zuckend beim Sprechen, 
Haut- und Sehnenreflexe erhöht, plumpes Antlitz, Arcus senilis, keine 
Erscheinungen von Syphilis. Starb in apoplektischem Anfall. 

Sektion: Hirngewicht 1447. Pia trübe, nicht adhärierend, Frontal - 
undParietalgyriverschmälert, Gehirnhöhlenein wenig erweitert, enthalten 
eine trübe weiße Flüssigkeit, keine Granulationen. 

18. Javaner, Telephonbedienter, 35 J., verheiratet, seit 4 Monaten 
krank, Januar 1907 aufgenommen, Januar 1908 seinen Verwandten 
überliefert. 

Aufnahmegründe: Aggression nnd Vagabondage. 


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van Brero, 


Erscheinungen: Unruhe, Neigung zum Entfliehen, Größenwahn, 
bisweilen Silbenstolpern, Tremor der Hände, Lippen und Zunge, Haut- 
und Sehnenreflexe verstärkt, keine Parese oder Inkoordination, 1. Pup. <r.> 
Reaktion nicht zu prüfen. 

War einige Wochen ohne psychische Abweichungen, hatte aber 
keine Krankheiteinsicht (Remission?), wurde aber bald wieder verwirrt 
mit Größenwahn, Negativismus. L. Fazialis paretisch, starkes Tremu¬ 
lieren und deutliches Silbenstolpern, keine Paresen der Extremitäten. 
Gekrümmte Ohrmuscheln, indurierte Kubitaldrüsen. 

19. Javaner, kein Beruf, 40 J., unverheiratet, seit 2 Jahren geistes¬ 
krank, Januar 1907 aufgenommen, August 1907 an Dysenterie gestorben. 

Aufnahmegründe: Unruhe, Verwirrtheit, Neigung zur Selbst¬ 
verstümmlung. 

Erscheinungen: Verwirrtheit, tiefer Blödsinn, ziemlich ruhig, er¬ 
schwerte, lallende Sprache, bisweilen Silbenstolpern, Haut- und Sehnen- 
reflexe erhöht, Ataxie der Beine, kein Branch - Romberg, 1. Fazialis 
paretisch, Pup. eng, gleich groß, keine Lichtreaktion, keine Erscheinungen 
von Lues, keine bestimmten Degenerationszeichen. 

Sektion: Hirngewicht 1140. Leptomeningen trübe, adhärierend, 
Rinde verschmälert. Ventrikelhöble erweitert, keine Granulationen. 

20 . Javaner, Gartendiener, 40 J., Dezember 1907 aufgenommen, 
Oktober 1908 in einem paralytischen AnfaU gestorben, wurde vorher 
von Juli 1906 bis März 1907 wegen Amentia verpflegt und geheilt ent¬ 
lassen. 

Erscheinungen: Unruhe, Aggression, Verwirrtheit, Blödsinn, Un- 
reinlichkeit, alle Haut- und Sehnenreflexe erhöht, schleppender Gang, 
r. Fazialis paretisch, r. Pup. > 1., keine Lichtreaktion, bekam Dezember 
1907 motorische Aphasie ohne sonstige Lähmungserscheinungen mit 
folgender Bradyphasie, Silbenstolpern bei monotoner Stimme. Keine 
bestimmten Degenerationszeichen, keine luischen Erscheinungen, große 
Narbe am Penis. Sektion konnte nicht gemacht werden. 

21 . Javaner, Kleinhändler, 40 J., verheiratet, seit 1 Monat krank, 
Juni 1907 aufgenommen, war Mai 1909 noch am Leben. 

Aufnabmegründe: Verwirrtheit und Unruhe. 

Erscheinungen: Blödsinn, gehobene Stimmung, Größenwahn, 

Unreinlichkeit während einzelner Tage, Patellarreflexe erhöht, Parese 
der Extensoren der Unterschenkel, ausdruckloses Antlitz, 1. Fazialis 
paretisch, starkes Silbenstolpern, starker Tremor der Zunge, allgemeine 
Drüsenschwellung, Narbe an der Eichel, keine bestimmten Degenerations- 
zeichen. 

22 . Javaner, Kuli, 50 J., verheiratet, aufgenommen August 1907, 
Dezember 1907 unter epileptiformen Anfällen gestorben. 

Erscheinungen: Tiefe Demenz, Größenwahn, keine Unruhe, schlaffe 
Haltung, schleppender Gang, r. Fazialis paretisch, 1. Pup. ;>• r., Tremor 


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Dementia paralytica bei den Eingeborenen von Java und Madura. 583 

der Lippen und Zunge, Silbenstolpern mit undeutlicher Sprache, Knie¬ 
reflexe erhöht, Psoriasis palmaris, Halsdrüsen geschwollen, nicht die 
cubitales, Narbe am Penis, plumpes Antlitz. Bei den epileptiformen 
Anfällen Retentio urinae. Sektion nicht möglich. 

23. Javaner, Landwirt, 45 J., Dezember 1907 aufgenommen, 
Februar 1909 seinen Verwandten überliefert. 

Erscheinungen: Tiefe Demenz, sonstige psychische Erscheinungen 
fehlen. Haut- und Kniereflexe erhöht, 1. Fazialis paretisch, Pup. eng, 
gleich groß, ohne Lichtreaktion. Sprache undeutlich. Induricrte Kubital- 
drüsen, Narbe am Penis, keine bestimmte Degenerationszeichen. 

24. Javaner, Polizeidiener, 40 J., unverheiratet, seit 8 Monaten 
krank, Januar 1907 aufgenommen, Juli 1907 gestorben mit kontinuier¬ 
lichem, nicht auf Chinin reagierendem Fieber. 

Aufnahmegründe: Unruhe und Umherirren. 

Erscheiningen: \erwirrtheit, Größenwahn, Blödsinn, leichte Un¬ 
ruhe, am Tage des Eintritts Incontinentia urinae, später nicht mehr, 
war nachher unreinlich. Gang schleppend und unsicher, Branch-Romberg 
stark, r. Fazialis paretisch, Pup. gleich groß, weitere Untersuchung unmög¬ 
lich, deutliches Silbenstolpern und Tremulieren mit Tremor der Lippen 
und Zunge, Kniereflexe nicht zu bestimmen, leichte Mißbildung des linken 
Ohres. Lymphdrüsen induriert, auch die Kubitaldrüsen, Psoriasis pal¬ 
maris. 

Sektion: Hirngewicht 1229. Starker Hydrocephalus externus und 
internus, Pia trübe, nicht adhärierend, keine wesentliche Verschmälerung 
der Rinde, keine Ependymwucherung. 

25. Sundanese, Kleinhändler, 40 J., aufgenommen November 1907, 
war Mai 1909 noch am Leben. 

Erscheinungen: Tiefer Blödsinn, Größenwahn, ruhig, wackliger 
Gang, r. Fazialis paretisch, 1. Pup. > r., Reaktion nicht zu bestimmen, 
Silbenstolpern und Tremulieren, Tremor der Lippen, Hände und besonders 
der Beine. Radialis- und Patellarreflex verstärkt, Babinski und Fuß- 
klonus. Kubitaldrüsen geschwollen. 

26. Javaner, kein Beruf, 30 J., Januai 1908 aufgenommen, Juni 
1908 seinen Verwandten überliefert. 

Erscheinungen: Anfangs verwirrt und unruhig mit Größenwahn, 
allmählich progressiv dement, Silbenstolpern und Tremor der Lippen. 
Beine paretisch, Pupillen und Reflexe nicht zu untersuchen. Keine Er¬ 
scheinungen von Syphilis, keine bestimmten Degenerationszeichen. 

27. Javaner, Bettler, 50 J., aufgenommen Februar 1908, gestorben 
Oktober 1908 an Tuberculosis pulm. 

Erscheinungen: Tiefster Blödsinn, gänzlich paralytisch, sprachlos, 
unreinlich, weitere Untersuchung wegen ängstlichen Widerstandes ein¬ 
gestellt. 

Indolente Drüsenschwellung, große, weit abstehende Ohren. 


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van Brero. 


Sektion: Hirngewicht 1275, sonst keine wesentlichen Änderungen. 

28. Javaner, Aufseher einer Arbeitergruppe, 40 J., verheiratet, 
seit 4 Monaten geisteskrank, aufgenommen Juni 1908, war Mai 1909 
noch am Leben. 

Aufnahmegründe: Abwechselnde Unruhe, Entblößung, Nahrung¬ 
verweigerung. 

Erscheinungen: Bis zum unverständlichen Lallen zunehmender 
Blödsinn, Größenwahn, ruhig. Keine Paresen, 1. Fazialis paretisch, Pup. 
ohne Abweichungen, anfangs Bradylalie, Silbenstolpern und Tremor 
der Lippen, Zunge und Finger; Haut - und Sehnenreflexe erhöht, spastischer 
Gang. Rupiaartige Ulzera auf Kopf und Beine, indurierte Drüsen, Narbe 
an der Eichel, große Ohrläppchen, zwei Haarwirbel. 

29. Sundanese, Landwirt, 50 J., verheiratet, aufgenommen Juli 
1908, gestorben Oktober 1908 an Marasmus nach zweitägigem Fieber. 

Erscheinungen: Tiefer Blödsinn; greift unaufhörlich um sich her; 
unreinlich, leichter Dekubitus, gänzlich paralytisch, r. Fazialis paretisch, 
1. Pup. ;> r., Lichtreaktion nicht zu bestimmen, völlig unverständliche, 
undeutliche Sprache mit Tremor der Zunge und Lippen, 1. Patellarreflex 
aufgehoben. 

Indurierte Drüsen, Narbe am Penis, keine bestimmten Degeneration* - 
Zeichen. 

Sektion: Hirngewicht 1285, geringer Hydrocephalus ext. und int., 
leichte Trübung der Frontalpia, sonst keine wesentlichen Abweichungen. 

30. Javaner, Kuli, 45 J., Juli 1908 aufgenommen, Oktober 1908 
seinen Verwandten überliefert. 

Erscheinungen: Größenwahn, progressive Demenz; anfangs unruhig, 
nicht unreinlich. 

Parese der Beine bis zur Bettlägerigkeit, 1. Fazialis paretisch, Bradv- 
phasie, später Silbenstolpern bis zur weitgehenden Undeutlichkeit. Pup. 
nicht zu untersuchen, Patellarreflexe aufgehoben, körperlich abnehmend. 

Indurierte Drüsen, unregelmäßiger Stand der Unterzähne. 

31. Javaner, Ex-Soldat, 45 J., seit 9 Monaten krank, Januar 1909 
aufgenommen, war Mai 1909 noch am Leben. 

Erscheinungen: Demenz, Größenwahn, anfangs unruhig, nicht 
unreinlich, keine bestimmte Paresen, 1. Fazialis paretisch, r. Pup. < 1., 
beide träge auf Licht reagierend, Sprache bisweilen undeutlich, kein 
Silbenstolpern oder Tremulieren, Patellarreflexe erhöht, Othämatom 1. 

Indurierte Drüsen, Sattelnase, angewachsene Ohrläppchen, exzentri¬ 
scher Haarwirbel, Hernia inguin. 

32. Javaner, Eisenbahnmaschinist, 45 J., seit 10 Monaten krank, 
Februar 1908 aufgenommen, war Mai 1909 noch am Leben. 

Erscheinungen: Blödsinn, Größenwahn, gehobene Stimmung, anfangs 
unruhig, schwatzt und lacht viel, nicht unreinlich, Gang breitbeinig und 
schleppend, 1. Fazialis paretisch, Silbenstolpern bis zur Unverständ¬ 
lichkeit, 1. Pup. > r., beide ohne Lichtreaktion, Patellarreflexe erhöht. 


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Dementia paralytica bei den Eingeborenen von Java und Madura. 585 

Psoriasis linguae, indolente Drüsenschwellung, auch im Kubital- 
gebiete, keine bestimmten Degenerationszeichen. 

33. Javaner, ohne Beruf, 50 J., aufgenommen April 1909, war 
Mai 1909 noch am Leben. 

Erscheinungen: Blödsinn, Größenwahn, nicht unreinlich, ruhig, 
keine Paresen, 1. Fazialis paretisch, enge, starre Pupillen, Silbenstolpern, 
Patellarreflexe geschwächt, Kubitaldrüsen induriert, unregelmäßiger 
Stand der Zähne, angewachsene Ohrläppchen, zwei exzentrische Haar¬ 
wirbel. 

Einzelne, wie es scheint, in Europa weniger bekannte ursächliche 
Faktoren für eine der Paralyse ähnelnde Hirnkrankheit mögen hier 
kurz hervorgehoben werden. 

Abgesehen von der merkwürdigen Schlafkrankheit der 
Neger in Afrika, soll nach Marie die Pellagra in Kairo eine Pseudo- 
paralyse hervorrufen; besonders zeigt das Schlußstadium der pellagrösen 
Jrreseinsformen oft Symptome der Paralyse, welche sich weder klinisch 
noch pathologisch von dieser unterscheiden lassen. Dieser Autor beob¬ 
achtete auch paralytische Araber, welche an Syphilis und Pellagra zugleich 
litten. Chronische Malaria sah Marandon de Montyel in drei 
Fällen bei Prädisponierten Paralyse erzeugen, welche schnell verlief, 
symptomatologisch und anatomisch keinen speziellen Charakter zeigte. 
In einem dieser drei Fälle konnte nur die chronische Malaria als Ursache 
erkannt werden. 

Plehn fand bei der larvierten und unzureichend behandelten Malaria 
Erscheinungen, welche denen der Paralyse ähnelten, aber dem Chinin 
und der Übersiedlung wichen. 

Lemoine und Chaumier meinen eine Dementia pseudoparalytica 
von Malariaursprung annehmen zu dürfen und zitieren dabei Benhier, 
Kraepelin und Bard, welcher letztere einen durch Chinin geheilten Fall 
mitteilt. 

Von vielen Autoren wird über Malariapsychosen berichtet, die in 
grundverschiedenen Formen verliefen. Es ist schwierig zu begreifen, 
warum dieselbe Ursache und dieselben anatomischen Veränderungen im 
Gehirn so ganz auseinanderlaufende Krankheitformen erzeugen können. 
Vielmehr muß man da an verschiedene Veranlagung denken, wo die 
lokalen Läsionen höchstens als Gelegenheitsursache wirken, was durch die 
Tatsache, daß bei vielen Autopsien die gleichen Veränderungen der 
Gehirnkapillaren gefunden werden, ohne zeitlebens Geistesstörungen 
veranlaßt zu haben, um so wahrscheinlicher wird. 

Eine merkwürdige Beobachtung hat Lynch auf den Fidschi- 
insein gemacht, wo er in 20 Jahren bei den Eingeborenen keine Syphilis 
fand und dennoch diese an Paralyse leiden. Framboesia tropica 


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van Brero, 


hingegen war äußerst allgemein, und dies wäre nach ihm eine Ursache» 
daran zu denken, daß Syphilis und Framboesia zwar nicht identisch, aber 
dennoch eng verwandt seien (zitiert nach Revesz). Ich möchte bei¬ 
läufig an die günstigen Ergebnisse der Salvarsantherapie bei Framboesia 
erinnern. 

Rüdin hält die Seltenheit der Paralyse in Algier nicht nur für 
scheinbar, sondern für faktisch und schreibt dies dem Fehlen der 
Domestikation zu bei den un- und niedrig kultivierten Rassen. 
Die dadurch fehlende Ausmerzung, die verminderte Widerstandkraft, 
verursacht durch Störungen in der Gewebsernährung und durch Ver¬ 
giftungen des Kulturlebens, dabei die überstarke Inanspruchnahme 
der nervösen Zentralorgane verleihen dem Syphilisgift beim Kultur¬ 
menschen einen mühelosen Angriffpunkt am Zentralnervensystem 
und daher die große Frequenz der Paralyse und Tabes. 

Die Anerkennung der Metasyphilis als, ich möchte sagen, funda¬ 
mentale Ursache der Paralyse wird wohl kaum noch Widerstand 
begegnen; zum Ausbruch sind aber noch andere Umstände vonnöten. 

Es ist sonderbar, daß von Luikern, welche unter gleichartigen, 
ungünstigen Verhältnissen leben, dennoch nur ein Bruchteil der 
Krankheit anheimfällt. Dieses Rätsel würde sich der Lösung nähern, 
wenn bekannt wäre, was vom Syphilisgift bevorzugt wird, das Nerven¬ 
gewebe oder dessen Gefäßsystem. Es scheint nun je länger je mehr 
wahrscheinlich, daß das letztere der Fall ist, wobei aber noch die Frage 
bleibt, warum das Gift die Blutgefäße gerade des Nervensystems 
bevorzugt; kommt doch nach Haut und Knochen das Nervensystem 
an nächster Stelle in der Frequenz der syphilitischen Affektionen 
des menschlichen Körpers. 

Da scheint mir für die vorliegende Frage nicht bedeutunglos, 
daß verschiedene Autoren betonen, bei unkultivierten Rassen niste 
die Syphilis sich gerade in Haut und Knochen ein und schone das 
Nervensystem. Gonder (zitiert bei Revesz) fand dies in Bosnien, 
Moreira und Peixolo in Brasilien, Sicard in Algier und ich in Nieder¬ 
ländisch Ost-Indien. Die Haut ist dort Prädilektionstelle für Syphilis, 
weil sie den verschiedensten schädlichen Einflüssen ausgesetzt ist, 
besonders bei den eigentlichen Tropenbewohnern, welche zum Teil 
nackt herumgehen und bei welchen die Hautfunktion erhöht ist, 
was bei einer heißen, mit Wasserdampf gesättigten Luft leicht zu 


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Dementia paralytica bei den Eingeborenen von Java und Madnra. 587 


allerlei Leiden Veranlassung gibt. So fand Scheuer in Java bei 45 500 
Poliklinikpatienten nicht weniger als 11370 Hautleidende. 

Weil bei diesen Völkern meistens von einer Syphilistherapie 
nicht die Rede ist, bleibt die Haut sehr lange erkrankt und hat die 
Lues Gelegenheit, sich dort auszutoben; dies mag ein Grund dafür 
sein, daß ander« wichtige Organe verschont bleiben. 

Bei der allgemein von den ersten Fachmännern geforderten 
rigorosen und frühzeitigen Syphilisbehandlung wage ich nur zögernd 
die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, daß man die relativ harmlosen 
Hauterecheinungen nicht zu energisch bekämpfen möge. «4 

Urstein meint, der reichlichen Schweißabsonderung, infolge deren 
das Syphilisgift den Organismus frühzeitiger verlasse, sei die niedrige 
Frequenz der Paralyse unter den Eingeborenen zuzuschreiben. 
Die weiße und die gemischte Bevölkerung der Tropen aber schwitzt* 
auch nicht wenig, wenn auch vielleicht nicht so profus, und doch ist 
bei ihr die Paralyse gar nicht selten. 

Literatur. 

Bela Revisz, Die rassenpsychiatrischen Erfahrungen und ihre Lehren. Bei¬ 
heft 5 zum Archiv für Schiffs- und Tropenhygiene. 1911. 
Berkley, zitiert bei Revisz. 1911. 

Kraepelin, Psychiatrisches aus Java. Zentralbl. f. Nervenh. u. Psy¬ 
chiatrie. 1904. 

Lemoine et Chaumier, Les troubles psychiques dans l’impaludisme. Anna- 
les mödico-psychologiques. 1887. 

Marandon de Montyel, Contrib. k l’4tude des rapports de l’impaludisme et de 
la paral. gönör. Arch. de Neurol. Vol. 9. 1900. Cfr. Jahresber. 
auf dem Gebiete der Neurologie und Psychiatrie 1901. 

Marie , La lögende de rimmunitö des Arabes syphilitiques relativement k 
la paralysie gönörale. Revue de mödecine. 1907. 

Ders., Folies pellagreuses des Arabes. Paris. 1907. Cfr. Rioesz. 
Moreira et Peixoto, Les maladies mentales dans les climats tropicsux. 
Annales mödico-psychol. 1907. 

Plehn, Über Hirnstörungen in den heißen Ländern und ihre Beurtei¬ 
lung. Arch. f. Schiffs- und Tropenhygiene. 1906. 

Rüdin, Zur Paralysisfrage in Algier. Allgem. Zeitschr. f. Psych. 1910. 
Sicard, Etüde s. 1. fröquence des maladies nerveuses chez les indigönes 
musulmans d'Algerie. Thöse de Lyon. 1907. 

Stieda, Über die Psychiatrie in Japan. Zentralbl. f. Nervenh. u. Psy¬ 
chiatrie. 1906. 

Uretein, zitiert bei Rioisz. 1911. 

Woiß, zitiert bei Rivisz. 1911. 

ZeitnWlt (Br Tijohitbii. LX1X. 5. 41 


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Über Gelegenheitsursachen gewisser Neurosen und 

Psychosen 1 ). 

Von 

Dr. H. Bertschinger, 

Kant. Heilanstalt Schaffhausen. 

Der Ausdruck „Lebenslüge“ findet sich in Ibsens Wildente. 
Kandidat Relling sagt (V. Akt, 1. Szene) zu Werale jun.: „Nehmen 
Sie einem Durchschnittsmenschen die Lebenslüge, so nehmen Sie ihm 
gleichzeitig das Glück.“ 

Der Ausdruck Lebenslüge paßt so gut zu gewissen Beobachtungen, 
die ich gemacht habe, daß ich ihn zum Titel meines Themas hätte 
wählen können. 

Wer davon überzeugt ist, daß es auf psychischem Gebiete ebenso 
wenig einen Zufall gibt, wie auf mechanischem, dem drängt sich immer 
wieder die Frage auf, warum in einem bestimmten Falle eine Krankheit, 
die latent sicher schon seit vielen Jahren bestand, gerade jetzt, in 
diesem bestimmten Zeitpunkt manifest wird. 

Es kann doch kein Zufall sein, daß ein Mensch, der nachweisbar 
schon von Jugend auf „nervös“ oder „launisch“ oder „sonderbar“ 
war, gerade mit 30, 50 oder 60 Jahren plötzlich so schwer neurotisch 
oder manisch-depressiv oder katatonisch wird, daß er ärztliche Be¬ 
handlung oder sogar die Irrenanstalt aufsuchen muß. Warum kam er 
nicht schon früher? Warum kann er sich nicht noch länger halten? 

Man hat sich in solchen Fällen gewöhnlich damit begnügt, eine 
innere, mit der Krankheit selber zusammenhängende und nicht weiter 
erklärbare Ursache für’ das Manifestwerden schwerer Erscheinungen 
anzunehmen, oder hat irgendein zeitlich ungefähr damit zusammen- 

*) Nach einem Vortrag gehalten in der Versammlung Schweiz. 
Irrenärzte in Basel am 28. V. 1912. 


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Uber Gelegenbeitsarsacben gewisser Neurosen und Psychosen. 589 


fallendes, körperliches oder psychisches Trauma als sogenannte 
Gelegenheitsursache verantwortlich gemacht, ohne sich weiter darüber 
Rechenschaft zu geben, wie ein an und für sich oft recht banales 
Ereignis nun auf einmal eine so heftige Reaktion hervorrufen konnte, 
oft sogar bei Menschen, an denen objektiv viel schwerere Schicksal¬ 
schläge spurlos vorüber gegangen sind. 

Betrachtet man Kranke, die an Neurosen oder gewissen Psychosen 
leiden, als Menschen, die sich aus inneren, psychischen Gründen der 
Wirklichkeit schlecht oder gar nicht anpassen können, und die Krank¬ 
heit als letztes Abwehrmittel, das ihnen zu Gebote steht, um die ihnen 
unerträgliche Wirklichkeit auszuschalten, und es ist dies eine Annahme, 
die sehr viel für sich hat, so erklären sich manche Rätsel nicht nur der 
Besserungs- und Heilungsvorgänge, sondern auch des zeitlichen 
Ausbruches akuter Krankheiterscheinungen. 

Berücksichtigt man, wie oft auch der Gesunde sich selber anlügt, 
und wie leicht wir uns anlügen können, so ist es gar nicht so merk¬ 
würdig, daß so viele Geisteskranke es verstehen, mit Hilfe von allerlei 
Mechanismen, die alle den Zweck der Selbsttäuschung verfolgen und 
die ich deshalb Lebenslügen nennen will, sich jahrzehntelang der Wirk¬ 
lichkeit scheinbar anzupassen. Sie müssen allerdings ihre Lebenslüge 
mit allen zu Gebote stehenden Hilfsmitteln stützen, und dies um so 
mehr, in je größerem Widerspruch sie zur Wirklichkeit steht. Versagt 
eine oder mehrere der wichtigsten Hilfshypothesen, oder verändert 
sich die Wirklichkeit zum schlimmen, so läßt sich, oft mit einem 
Schlage, die Lebenslüge nicht mehr aufrechterhalten, und die Neurose 
oder Psychose bricht aus. 

Eis gibt eine unzählbare Menge von Stützen für die verschiedensten 
Arten von Lebenslügen. Die häufigsten und wichtigsten sind: 

Die unterbewußt stets vorhandene Hoffnung, daß das große 
Glück doch noch eintreffen werde, das. in Wirklichkeit nicht erreicht 
wurde, ferner die Sublimierung unbefriedigter Aspirationen resp. 
die Verschiebung auf andere Gebiete, z. B. sexueller Wünsche in die 
Berufstätigkeit oder religiöse und künstlerische Bestrebungen oder 
der Liebesgefühle auf Personen, die für ein eigentliches Sexual¬ 
verhältnis außer Betracht fallen. 

Ein sehr häufig benütztes Hilfsmittel zur Aufrechterhaltung 
der Lebenslüge ist eine leichte Dauemarkose, z. B. durch Alkohol. 

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Bertschinger, 


Audi Konversionen oder wirkliche körperliche Krankheiten aller 
Art dienen sehr oft der Lebenslüge als wirksame Stützen. Sie erlauben 
dem Kranken, in unauffälliger Art gewisse Wirklichkeiten von sich 
fernzuhalten, die in allzu krassem Widerspruch mit der Glückfiktion 
oder der sie stützenden stillen Hoffnung, daß das Wunderbare doch 
noch kommen werde, stehen würden. Es gibt z. B. Frauen, die frigid 
sind oder an nervösen Sexualkrankheiten leiden, welche den Koitus 
verunmöglichen, nur weil sie sich die Fiktion der Jungfräulichkeit, 
wenigstens der psychischen, machen müssen, weil sie sich sozusagen 
aufsparen wollen für den im Unterbewußten stets noch erhofften 
wirklichen Geliebten. 

Es liegt auf der Hand, daß die meisten der angeführten Hilfs¬ 
mittel zur Aufrechterhaltung der Lebenslüge sehr oft versagen und 
z. T. irgend wann einmal versagen müssen. Die stille Hoffnung auf 
das Kommen des großen Liebesglückes läßt sich z. B. nicht über ein 
gewisses Alter hinaus festhalten. Sollte das nicht eine Erklärung 
geben können für den so häufigen Ausbruch stürmischer Kr ankh aft- 
erscheinungen kurz vor oder im Klimakterium? 

Die stille Hoffnung, der nichtige möchte noch kommen, welche 
so manchem alternden Mädchen erlaubt, ledig scheinbar glücklich 
zu sein, muß von einem bestimmten Alter an, sagen wir anfangs der 
30er Jahre, versagen. Dürfte das nicht die nicht seltenen „letzten 
Terminpsychosen“ erklären, wie man sie nennen könnte? 

Die unterbewußte Hoffnung, sich für den eigentlichen Geliebten 
aufsparen zu können, muß sie nicht unhaltbar werden, wenn eine 
Schwangerschaft oder gar die Geburt erfolgt? 

Es gibt latent homosexuell empfindende Menschen, die sich für 
sexuell normal halten und diese Fiktion mit der stillen Hoffnung 
stützen, die bisher vermißten sexuellen Erregungen werden sich schon 
einstellen, wenn nur erst die oder der Richtige komme. Naht sich der 
letzte Termin, so verloben sie sich oft auffallend schnell und unerwartet, 
um dann kurz vor oder nach der Hochzeit mit angstneurotischen 
Beschwerden den Arzt aufzusuchen. 

Die Fiktion, in der Pflege einer Freundschaft, in Beruf und Pflicht¬ 
erfüllung einen vollgültigen Ersatz für das entgangene Liebesglück 
gefunden zu haben, läßt sich nicht mehr aufrechterhalten, wenn die 
Surrogatperson z. B. stirbt oder der Beruf schwere Enttäuschungen 


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Uber Gelegenheitsursachen gewisser Neurosen und Psychosen. 591 


bringt. Die Übertragung der Liebesgefühle vom innerlich ungeliebten 
Manne auf den Sohn versagt, wenn er sich der Mutter entzieht. 

Eine seltenere Art der Lebenslüge ist folgende: Ein von Hause 
aus mit gewalttätigen Trieben ausgerüsteter Mensch wird durch 
Überkompensation besonders brav und tugendhaft. Dabei unter¬ 
stützt ihn die stille Hoffnung, daß ihm das, was er durch Gewalt 
nicht erlangen will, schließlich doch noch als Belohnung seiner Tugend 
in den Schoß fallen werde. Erntet er nun fortgesetzt Verkennung 
und Enttäuschung, so kann er seine Lebenslüge nicht mehr länger 
aufrechterhalten, er wird krank oder Verbrecher. 

Eine ganz unzuverlässige Stütze der Lebenslüge ist natürlich der 
Alkohol und andere Narkotika, denn sie führen ihrerseits zu psychischen 
Krankheiten, mit denen zugleich dann die latente Neurose oder Psychose 
zum Ausbruch kommt. 

In jedem einzelnen Falle sind immer mehrere der von mir an¬ 
geführten Hilfshypothesen nachweisbar, und deshalb führen auch 
meistens verschiedene sogenannte Gelegenheitsursachen zusammen 
den Krankheitausbruch herbei. 

Im folgenden sollen einige Beispiele verschiedenster Formen von 
Lebenslügen mitgeteilt werden. Leider erlaubt der Umfang eines 
Vortrages nicht, alle Krankengeschichten ausführlich anzuführen. 
Die meisten müssen der Kürze halber zum Schaden ihrer Beweiskraft 
auf ein paar Sätze reduziert werden. 

Eine der allerhäufigsten Lebenslügen ist die, glücklich 
verheiratet zu sein, während man es in Wirklichkeit nicht ist. 

Sicher ist selten ein Teil allein am Unglück einer Ehe schuldig. 
Es scheint, daß grobe, auch nach außen in Erscheinung tretende 
Fehler des einen Gatten den anderen Teil seltener unglücklich machen, 
als man im allgemeinen annimmt. Es sind wohl immer psychische 
Eigenschaften des leidenden Teiles selber, welche ein Eheglück nicht 
aufkommen lassen resp. bewirken, daß ein scheinbares Eheglück sich 
später als Lebenslüge entpuppt. 

Ich will aber doch die Fälle zuerst besprechen, in denen der eine 
Ehegatte mit solchen, auch nach außen sichtbaren Fehlem behaftet 
war, daß nach landläufigem Urteil die Ehe von Anfang an hätte un¬ 
glücklich werden sollen. Daß sie dennoch glücklich schien, war eben 
die Folge einer Selbsttäuschung des leidenden Eheteües. In einzelnen 


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Bertschinger, 


Fällen dienten sogar die Fehler des gesunden Gatten dem leidenden 
geradezu als Stütze der Lebenslüge. 

In 5 Fällen war hauptsächlich schwerer Alkoholismus des Mannes 
der auch äußerlich erkennbare Grund dafür, daß nur ein Pseudo¬ 
eheglück bestand, das dem leidenden Teile aber erst bei bestimmten 
Anlässen als Lebenslüge zum Bewußtsein kam, Anlässen, die dann auch 
den Krankheitausbruch herbeiführten. 

1 . Eine 44jährige Frau erkrankte an präseniler Melancholie mit 
Verarmungswahn im Anschluß an einen Hauskauf, der ihr die Fortsetzung 
einer Kostgängerei verunmöglichte und sie dadurch von einem Kost¬ 
gänger trennte, auf den sie stark übertragen und im Stillen noch gehofft 
hatte. 

2 . Eine andere, früher durchaus anständige Frau leistete sich während 
der Abänderungsjahre eine schwärmerische, platonische Freundschaft. 
Als ihr Freund auswanderte, brach zugleich mit dem Eintritt der Meno¬ 
pause eine schwere hypochondrische Spätkatatonie aus. Die Kranke 
behauptete, ihr Herz sei verbrannt, und masturbierte exzessiv. Nach Ablauf 
der akuten Erscheinungen wieder aus der Anstalt entlassen, benahm sie 
sich bald wie eine Dirne und mußte deshalb wieder versorgt werden. 

3. Eine 50 jährige Frau erkrankte an Spätkatatonie im Anschluß 
an eine gelungene Prolapsoperation, gegen die sie sich viele Jahre lang 
gesträubt hatte. Der Prolaps hatte es ihr vorher ermöglicht, wenigstens 
die sexuellen Zärtlichkeiten ihres Mannes von sich fern zu halten und da¬ 
durch die Fiktion erlaubt, wenn nicht glücklich, so doch erträglich ver¬ 
heiratet zu sein. 

4. Eine 38 jährige Frau erkrankte an melancholisch gefärbter 
Dementia praecox nach der Abreise ihres Sohnes, der ihr bis dahin er¬ 
möglicht hatte, im Mutterglück einen teilweisen Ersatz für das zu finden, 
was sie im Eheleben vermißte. 

5. Eine junge Frau fand in einem außerehelichen Verhältnis mit 
einem Zimmerherrn Ersatz für das fehlende Eheglück. Als ihr Freund 
heiratete, wurde sie auffallend fromm. 2 Jahre später wurde die Wohnung 
gewechselt, und zugleich verbot ihr der Mann den Besuch religiöser Gemein¬ 
schaften, worauf sie akut an Dementia praecox erkrankte. 

In den folgenden drei Fällen lag die äußerlich erkennbare Schuld 
des unvollständigen Eheglückes auf Seite der Frau. Zweimal war 
es eheliche Untreue der Gattin, die der Mann ahnte oder kannte, aber 
zu verdrängen resp. mit einer Lebenslüge sich darüber hinwegzu- 
täuschen suchte. 

Den einen dieser Fälle will ich etwas ausführlicher mitteilen, 
da er der einzige mit manisch-depressivem Irresein ist, den ich unter 
meinem Material fand. 


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Ober Gelegenheitsursachen gewisser Neurosen und Psychosen. 593 


6 . Ein 51 jähriger Fabrikant, der schon seit etwa 10 Jahren an 
leichteren melancholischen Depressionen und hypomanischen Zuständen 
gelitten hatte, mußte interniert werden, weil er in seinem manischen 
Geschäftigkeitstrieb sich in eine solche Menge seinem eigentlichen Berufe 
fremder und zum Teil sehr gewagter Geschäfte eingelassen hatte, daß die 
Gefahr einer finanziellen Krise nahe schien. 

Er war immer sehr solid gewesen, ein gewiegter Geschäftsmann 
und hatte seine Frau, mit der er schon in ihrem 14. Jahre verlobt war, 
aus Liebe geheiratet. Sie wurde eine bewunderte Schönheit, und er schien 
mit ihr immer glücklich zu sein, nur in der letzten Zeit habe er Eifersuchts- 
wahnideen geäußert, in früheren psychischen Depressionszuständen habe 
er immer über drohende Verarmung gejammert. Seit 5 Jahren sei mit 
großer Regelmäßigkeit im Herbst die Depression, so um Ostern herum 
die manische Verstimmung eingetreten. 

Es schien sich um einen Fall von rein endogenem, manisch-depressivem 
Irresein zu handeln, und doch zeigte die nähere Untersuchung, daß die 
Depressionen psychologisch nicht unbegründet waren und die scheinbar 
rein manische Vielgeschäftigkeit einen ganz bestimmten Zweck im Sinne 
der Lebensltige verfolgte. 

Die erste Depression brach nämlich im 3. Ehejahr aus, nachdem 
die Frau ihrem Manne gebeichtet, daß sie ihn mit einem jungen Ange¬ 
stellten hintergangen habe. Er verzieh ihr diesen Fehltritt, was ihm um so 
leichter geworden sei, als die Frau im Anschluß an ihre Handlung selber 
nervenkrank geworden sei. Er glaubte damals selber, daß seine Depression 
die Folge geschäftlicher Überanstrengung gewesen sei, und meinte, die 
Untreue seiner Frau vollständig überwunden zu haben. 

Auch die dann auftretende Frigidität seiner Frau setzte er auf Konto 
ihrer überstandenen Nervenkrankheit. 

Nachdem er sich von seiner eigenen Depression wieder erholt hatte, 
warf er sich mit Feuereifer auf die Vergrößerung seines Geschäftes. De¬ 
pressionen traten zuerst nur auf in Zeiten geschäftlicher Krisen, d. h. 
also, wenn die Sublimierung versagte. 

3 Jahre später assoziierte er sich mit einem Freund, von dessen 
Solidität und Rechtschaffenheit er vollständig überzeugt war. Bald darauf 
fiel ihm auf, daß seine Frau noch kälter gegen ihn wurde, und daß sie sich 
gegen ihre frühere Gewohnheit sehr eifrig im Geschäft betätigte, aber 
immer mit dem Associö zusammen arbeitete, immer dessen Meinung 
teilte, auch Familienangelegenheiten mit ihm statt mit ihrem Menne 
besprach und sich überhaupt so benahm, als ob sie mit dem Assocte ver¬ 
heiratet und ihr Mann Angestellter wäre. 

Von diesem Zeitpunkt an traten seine Depressionen mit Verarmungs¬ 
ideen immer im Herbst auf, nämlich dann, wenn die Frau aus ihrem 
Sommeraufenthalt wieder ins Geschäft zurückkehrte und er wieder ge¬ 
zwungen war, täglich ihr Zusammensein mit dem Associö zu beobachten. 


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594 


Bertschinger, 


Die manischen Phasen begannen um Ostern herum, zur Zeit als seine 
Frau sich zur Abreise anschickte und sich also sein Geschäft gerade infolge 
Abwesenheit der Frau wieder besser zur Sublimierung eignete. 

Während sich seine hypomanische Vielgeschäftigkeit früher fast 
ausschließlich auf die Vergrößerung seines eigentlichen Geschäftes be¬ 
schränkt hatte, begann er aber jetzt hauptsächlich Privatgeschäfte aller 
Art zu unternehmen, denn sein eigenes Geschäft konnte ihn ja infolge 
des sonderbaren Benehmens seiner Frau und des Associös nicht mehr 
vollständig von dem ablenken, was er zu verdrängen suchte. 

7. Ein etwa 40jähriger Herr, der schon seit 5 Jahren nervös war, 
erkrankte nach dem Tode seiner Mutter an Angstneurose. 

Nicht unbegründete Eifersucht und verschiedene unangenehme 
Eigenschaften seiner Frau machten, daß er in den ersten Ehejahren unter 
schweren psychischen Konflikten litt. Nach etwa 4 Jahren glaubte er aber 
doch, ein in jeder Beziehung glücklicher Ehemann geworden zu sein. Zu 
gleicher Zeit stellten sich aber die ersten nervösen Magenbeschwerden 
ein, und er begann, sich von seinem Chef verfolgt zu fühlen. Bald nach 
dem Tode seiner Mutter, die er hinter dem Rücken seiner Frau mit 
Geschenken überhäuft hatte, wurden seine Magenbeschwerden so arg, 
daß er kaum mehr seine Geschäftsreisen machen konnte, und zugleich 
verschlechterte sich sein Verhältnis zum Chef dermaßen, daß ihm Ent¬ 
lassung drohte. In diesem Augenblick, d. h. also, nachdem der Reihe nach 
die Übertragung auf die Mutter unmöglich, die Konversion unerträglich, 
die Verschiebung der negativen Affekte auf seinen Chef gefährlich geworden 
war und die Sublimierung ins Geschäft zu versagen drohte, brach die 
Neurose aus, die dann eben sein Eheglück als Lebenslüge entpuppte. 

8 . Ein 31 jähriger Herr erkrankte an eigentümlichen Angstanfällen, 
die ganz plötzlich eintraten, mit Vorliebe, wenn er mit seiner Frau zu 
Tische saß, englischen Tabak rauchte oder an bestimmte Firmen schrieb. 
Er bekam dann Klopfen im Hals, Herzdruck, Schweißausbruch, Ohn¬ 
machtgefühl und sah rote, hinkende Personen. 

Er gab an, außerordentlich glücklich verheiratet zu sein, er habe 
seine ihm gleichalterige Frau schon in der Schule geliebt, die Verlobung 
gegen den Willen seiner Eltern durchgesetzt und seinen Aufenthalt in 
London und Paris möglichst abgekürzt, um recht bald heiraten zu können. 

Die Analyse der Umstände, unter denen er Angstzustände bekam, 
und der dabei auftretenden Symptome wiesen immer wieder auf ganz 
bestimmte, an sich banale Erlebnisse im Ausland hin, bei denen ihm 
nur ganz flüchtig bestimmte Frauenspersonen durch ihre vollbusigen, 
üppigen Erscheinungen aufgefallen waren. 

Später erzählte er, daß ihm seine Braut nach seiner Rückkehr aus 
der Fremde eigentlich auffallend unscheinbar, flachbusig vorkam. Auch 
alterte sie rasch in der Ehe und war ihm, da sie aus einem niedrigeren 
sozialen Niveau stammte als er, in gesellschaftlicher Beziehung etwas 
hinderlich. 


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Über Gelegenheitsursachen gewisser Neurosen und Psychosen. 595 

Es war ihm aber bis vor kurzem gelungen, alle diese Beobachtungen 
sofort wieder zu verdrängen, und er hatte sich tatsächlich eingebildet, 
der glücklichste der Ehemänner zu sein. Den Anlaß zum Zusammenbruch 
dieser Lebenslüge gab das häufige Zusammenkommen mit einer jungen 
weiblichen Angestellten von bemerkenswert schöner, üppiger Erscheinung, 
ähnlich den Frauen, die er in Paris und London gesehen hatte. Daß er in 
diese Person verliebt sei, merkte er freilich nicht gleich. 

Er fühlte sich berufen, das Mädchen heimlich zu überwachen, um 
es vor den Nachstellungen eines anderen zu bewahren, und benutzte dazu 
unter anderem ein Zeißfernrohr, mit dem er sonst astronomische Beob¬ 
achtungen ausführte. Durch dieses sah er denn auch einmal, wie sein Schütz¬ 
ling glückselig am Arme des anderen spazierte. Erst diese Beobachtung 
machte ihm plötzlich klar, daß er selber in das Mädchen verliebt sei und 
mit seiner Frau durchaus nicht das große Los gewonnen habe, wie er sich 
eingebildet hatte. Die Lebenslüge, unter der er immer gestanden, wurde 
ihm klar, und die nun sofort ausbrechende Angstneurose war nichts anderes 
als ein Kampf zwischen dem stürmischen Verlangen nach einem ihm 
zusagenden Sexualobjekt und der Tendenz, diese sein Eheglück störende 
Triebrichtung aufs neue zu verdrängen. 

Im letzten meiner Fälle von Eheglückslüge mit scheinbar äußerer 
Veranlassung war es Kinderlosigkeit, die den Grund dafür lieferte, 
daß eine sonst glücklich verheiratete Frau im klimakterischen Alter 
melancholisch wurde. 

9. Sie hatte sich eingebildet, über ihre Kinderlosigkeit froh zu sein. 
Im 10. Jahr ihrer Ehe erkrankte sie aber an nervösen Schmerzen und 
Lähmungserscheinungen im rechten Arm, und im Klimakterium, d. h. 
also, als die stille Hoffnung, doch noch Kinder zu bekommen, endgültig 
aufgegeben werden mußte, traten bei bestimmten äußeren Anlässen 
periodische Depressionen auf, z. B. wenn ihre Mägde, die sie wie eigene 
Kinder hielt, erkrankten oder kündigten, wenn Kinder ihrer Geschwister, 
die sie bemutterte, konfirmiert wurden, oder wenn sie zu Weihnachten 
fremde Kinder beschenkte, d. h. also immer dann, wenn ein Ersatz ver¬ 
sagte oder der Komplex stark angetönt wurde. 

In der folgenden Gruppe von Fällen liefern die Eigenschaften 
des anderen Gatten keinen objektiv verständlichen Grund dafür, 
daß die Kranken sich nur mit Hilfe einer Lebenslüge der Täuschung 
hingeben konnten, sie seien glücklich verheiratet, während eigentlich 
das Gegenteil der Fall war. 

Die Gründe dafür liegen vielmehr ausschließlich in der psychischen 
Einstellung des leidenden Teiles selbst. 

Es gibt sehr viele Menschen, die sich innerlich nie ganz von ihrer 


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596 


Bertscfaioger, 


elterlichen Familie loslösen können, weQ ihre ganze Libido bei Vater, 
Mutter oder Geschwistern unlöslich verankert ist. 

Männer heiraten in solchen Fällen gewöhnlich nicht oder sehr 
spät und erweisen sich dann meistens als impotent oder latent homo¬ 
sexuell. 

Frauen sind in diesem Falle häufig sexuell frigid, können aber 
dennoch scheinbar glücklich verheiratet sein. Ihr Glück beruht dann 
aber nicht auf ihrer Liebe zu ihrem Manne und zu ihren Kindern, 
sondern in dem in möglichst großem Umfang aufrechterhaltenen 
Zusammenhänge mit ihrer elterlichen Familie. 

Bei schizophrenen Frauen kann es Vorkommen, daß sie sich in 
der Familie ihres Mannes sozusagen nur auf Besuch oder in den Ferien 
befinden, ihre eigentliche Heimat ist und bleibt die elterliche Familie. 

Ihr Eheglück beruht auf einer typischen Lebenslüge. Anlässe 
zu ihrem Zusammenbruch und zum Ausbruch der Psychose sind in 
solchen Fällen häufig Geburten oder der Tod oder die Wiederverhei¬ 
ratung eines der Eltern resp. Geschwister. 

10 . Eine junge Frau erkrankte im zweiten Wochenbett an akuter 
Katatonie. Unter anderem glaubte sie, ihr Mann, sein Haus und alles, 
was zu ihm gehörte, sei fremd, unwirklich. 

Sie war als einziges Kind von ihren Eltern verhätschelt und von 
jedem Verkehr ferngehalten worden. Nach ihrer Verheiratung weilte die 
Mutter fast immer bei ihr und besorgte alles für sie. Ihr Mann kam sich 
nach seinem eigenen Ausspruch immer noch wie ein Fremder in der 
Familie seiner Frau vor. Ein erster leichterer Schub war schon im ersten 
Kindbett ausgebrochen, heilte aber im Hause der Mutter der Kranken 
rasch ab. 

11 . Eine 30jährige Frau erkrankte nach dem Tode ihres Vaters 
an Angsthysterie. Sie hatte dem Vater zu Liebe einen jüngeren Mann, 
den sie sonst recht lieb hatte, abgewiesen. Bald darauf führte ihr der 
Vater einen anderen Bewerber zu, den sie ebenfalls ausschlug. Der erste 
näherte sich ihr wieder, und in ihrer Angst, ihm nachgeben und dadurch 
wirklich ihrem Vater untreu zu werden, verlobte sie sich Hals über Kopf 
mit einem Nachbarsohn, den sie nie hatte leiden mögen, der in keiner 
Hinsicht ihrem so hoch verehrten Vater glich, und von dem sie sicher war, 
daß sie sich nie in ihn verlieben werde. Sie war dann auch von Anfang an 
in der Ehe frigid und fühlte sich nur zu Hause bei ihren Eltern wohl. 

12 . Eine etwa 35jährige Frau erkrankte nach der Geburt ihres 
dritten Kindes an schweren Angstanfällen und Wutausbrüchen. Sie 
träumte beständig von Leichen und Feuer, fürchtete sich vor Menschen¬ 
ansammlungen und hatte das Gefühl, sie kenne ihren Mann nicht mehr. 


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Uber Gelegenheitsursachen gewisser Neurosen und Psychosen. 597 


er sei ein Fremder, ihre rechte Hand gehöre jemand anderem. Nach jedem 
Koitusversuch bekam sie nervöse Aufregungen, Herzklopfen und glaubte 
sterben zu müssen. Sie war von jeher frigid gewesen, klagte aber dennoch 
über mangelhafte Potenz ihres Mannes. Schon während der zwei ersten 
Kindbetten litt sie an nervösen Erregungen und Schwächezuständen. 
Ihr Mann litt an neurasthenisch-hypochondrischen Erscheinungen. 

Trotz alledem behauptete sie, ihren Mann über alles zu lieben und 
glücklich verheiratet zu sein. 

Die Analyse zeigte freilich, daß diese Behauptung auf arger Selbst¬ 
täuschung beruhte, also eine Lebenslüge war, die zusammenbrach, als die 
im Stillen stets genährte Hoffnung, doch wieder zu dem über alles ge¬ 
liebten Vater zurückkehren zu können, sich nicht mehr aufrecht¬ 
erhalten ließ. 

Soweit sich die Kranke zurückerinnern konnte, hing sie mit in¬ 
brünstiger Liebe an ihrem Vater. Schon früh suchte sie ihm das zu er¬ 
setzen, was er an seiner stets kränklichen Frau vermißte. Sie bemutterte 
ihre Geschwister, besorgte den Haushalt, beaufsichtigte das Wirtschaft- 
personal. 

Schon als Schulkind und später mit etwa 18 Jahren machte sie 
schwere hysterische Dämmerzustände durch, das erste Mal nach einem 
Selbstmordversuche des Vaters, das zweite Mal, nachdem sie ihn in flagranti 
mit einer liederlichen Angestellten erwischte. Sie ruhte nicht, bis diese 
Person aus dem Hause war, und als dieselbe bald nach dem Tode der 
Mutter der Patientin wieder erschien, benahm sich die Tochter ihrem 
Vater gegenüber genau wie eine eifersüchtige Frau. Sie beobachtete 
Vater und Nebenbuhlerin auf Schritt und Tritt, demonstrierte ihm deren 
Untreue ad oculos und versprach ihm schließlich, ihr Lebtag ledig und 
bei ihm bleiben zu wollen, wenn er diese Person fortschicke. Diese aber 
zwang den Vater der Kranken mit der Behauptung, von ihm schwanger 
zu sein, zur Heirat. 

Sofort verließ nun die Kranke das Haus ihres Vaters und verehe¬ 
lichte sich ohne Besinnen mit dem ersten auftauchenden Bewerber, einem 
etwas waschlappigen, wenig potenten Manne, der das ausgesuchte Gegen¬ 
teil ihres geliebten Vaters war. Zu diesem Entschluß bewog sie aber die 
heimliche Hoffnung, ihr Vater werde seine Geliebte doch noch fahren 
lassen und sie zurückrufen. Auch nach ihrer und des Vaters Verheiratung 
gab sie die Hoffnung nicht auf, die Scheidung der einen oder anderen 
oder beider Ehen werde ihr die Rückkehr ins Vaterhaus wieder ermög¬ 
lichen. Jede Schwangerschaft der Kranken selber und ihrer Stiefmutter, 
die zufällig zeitlich immer zusammenüelen, machte aber die erhoffte 
Lösung unwahrscheinlicher und verschlimmerte deshalb auch die nervösen * 
Erscheinungen. 

Die Heilung wurde durch zwei Zwischenfälle etwas verzögert. Die 
Kranke war zweimal Augenzeuge schwerer neurotischer Aufregungen 


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Bertschinger. 


bei Freundinnen, als deren tiefere Ursache sie ganz richtig sofort unglück¬ 
liche Liebesverhältnisse vermutete. 

Nicht uninteressant ist, daß die Kranke schon mit 30 Jahren er¬ 
graute und so alt aussah, daß sie von Unbekannten als Frau ihres Vaters 
und Mutter ihres Mannes angesehen werden konnte. 

Nicht imm er liegt einer unterbewußten Ehetragödie so deutlich, 
wie in den eben erwähnten Fällen, eine ungenügende Libidoablösung 
von der infantilen Übertragung auf den entsprechenden Elternteil 
zugrunde. 

Es gibt auch sogenannte Vemunftehen, deren Glück deshalb 
nicht echt zu sein scheint, weil die psyehosexuellen Konstitutionen 
der beiden Ehehälften nicht zusammenpassen. 

In meinen zwei weiblichen Fällen spielte dar sogenannte Vater- 
komplex allerdings auch noch eine recht wichtige Rolle. 

Es gibt Frauen, die es fertig bringen, sich selber ihr ganzes Leben 
lang für hoch moralisch und anständig zu halten, während sie von 
Hause aus eigentlich sehr stark erotisch, um nicht zu sagen dirnen- 
haft, veranlagt sind. Sie verwenden eine Unmenge Mühe darauf, ihre 
starken sexuellen Instinkte zu unterdrücken, und fallen nach außen 
durch eine gewisse Hyperprüderie und peinlich strenge Sittengrund¬ 
sätze auf. Die Uberkompensation kann soweit gehen, daß sie sogar 
den legitimen Geschlechtsverkehr als etwas Tierisches perhorreszieren 
und frigid erscheinen. Aber auch diese Art Lebenslüge kann, selbst 
wenn sie noch so gut gestützt ist, bei bestimmten Gelegenheiten zu¬ 
sammenbrechen und einer Neurose oder Psychose Platz machen. 

Hierfür möchte ich nur ein einziges Beispiel anführen, dies aber 
ausführlich, da es in verschiedener Beziehung recht interessant ist. 

13. Eine Ende der 40er Jahre stehende Frau mußte psychiatrische 
Hilfe in Anspruch nehmen, weil schwere Depressionszustände mit taedium 
vitae und unbegründete eifersüchtige Wutanfälle gegen ihren Gatten ein 
Weiterleben in der Familie als bedenklich erscheinen ließen. 

Wie in fast allen Fällen von beinahe monosymptomatischer Eifer¬ 
sucht stieß die Psychoanalyse auf große Widerstände und zog sich über 
recht lange Zeit hin. 

Die uns hier besonders interessierenden Resultate will ich in gedrängter 
Kürze anführen: 

Als sie 2 Jahre alt war, starb ihre Mutter, deren einziges Kind sie 
war. Sie wurde von den Großeltern m. s. aufgenommen und erzogen. 
Da verschiedene Geschwister ihrer Mutter ethisch defekt waren und ihr 
Vater in leichtsinniger Weise mit ihm anvertrauten Geldern umgegangen 


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Ober Gelegenheitsursachen gewisser Neurosen und Psychosen. 599 


und in Konkurs geraten war, schien es ihren Großeltern angezeigt, das 
solchermaßen in sittlicher Beziehung von vornherein gefährdet er¬ 
scheinende Kind ganz besonders sorgfältig zu erziehen. Immer und immer 
wieder wurde es auf die schrecklichen Folgen eines leichtsinnigen Lebens¬ 
wandels aufmerksam gemacht und ihm die Vorteile eines streng recht¬ 
lichen und sittenreinen Verhaltens vorgeführt. Ihr Vater, der später wieder 
unter seinem Stand geheiratet hatte, wurde ihr als warnendes Beispiel 
vorgehalten und bei seinen gelegentlichen Besuchen mit Herablassung 
und eisiger Kälte behandelt. Schon sehr früh wurde dem Mädchen auch 
beigebracht, daß sie nur durch baldige Verheiratung mit einem in jeder 
Beziehung tadellosen und reichen Manne den auf ihrer Familie haftenden 
Makel tilgen und sich selber gegen die in ihr schlummernde üble Anlage 
schützen könne. 

Sie selber verglich einmal die Lebensanschauungen und Charakter¬ 
eigenschaften ihres Großvaters mit dem „Empire-“, die ihres Vaters 
mit dem „Rokokostil“. Daß sie von Hause aus ein reichliches Teil Rokoko¬ 
eigenschaften mitbekommen hatte, zeigte sich schon sehr bald. Schon 
mit 4 Jahren verliebte sie sich schwärmerisch in ein 6 Jahre altes Bübchen 
und trieb mit einem Schokoladenbildchen, das sie für sein Konterfei hielt, 
einen heimlichen Kultus. 

Mit 15 Jahren verliebte sie sich in einen etwas senilen Lehrer, der 
an ihr allerlei sexuelle Manipulationen ausübte. Eine alte Magd roch aber 
Lunte und warnte sie so eindringlich, daß ihr angst und bange wurde 
und ihre frühreife Erotik einer starken Sexualablehnung Platz machte. 

Mit 18 Jahren verliebte sie sich wieder in einen jungen, etwas leichten 
Herrn, tanzte trotz Verbotes während der Menstruation mit ihm eine ganze 
Nacht durch, bekam dann Cystitis usw. und kam körperlich stark her¬ 
unter. 

Bald darauf bekam sie einen Heiratantrag von einem 20 Jahre 
älteren, reichen Herrn von sehr gutem Rufe. 

Es kostete sie schwere Seelenkämpfe, bis sie schließlich Ja sagte. 
Ausschlaggebend war, daß ihr Jugendfreund noch jahrelang nicht ans 
heiraten hätte denken können, und daß sie selber das Gefühl hatte, es sei 
für sie das beste, so früh als möglich zu heiraten, um eine starke Hand über 
sich zu haben. Mitbestimmend war auch, daß der Bewerber in die Familie 
des Jugendfreundes gehörte, alle die Eigenschaften besaß, die sie an ihrem 
Großvater so hoch schätzte und ihr alle Gewähr dafür bot, daß sie auch 
fernerhin auf demselben Fuße leben könne, wie sie es vom Hause des Gro߬ 
vaters her gewohnt war. 

Seit dem Erlebnis mit dem Lehrer hatte sie sich als Ideal vorgestellt, 
mit einem älteren Witwer mit sechs halberwachsenen Kindern ohne alle 
erotischen Bedürfnisse verheiratet zu sein, und bildete sich in einer Art 
moralischer Eitelkeit auf dieses Ideal viel ein. Sie hoffte nun, daß ihr 
um so viele Jahre älterer Bräutigam diesem merkwürdigen Mädchenideal 
ziemlich nahe kommen werde. 


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Bertschinger, 


Um sich auf die bevorstehende Hochzeit körperlich zu rekonsti- 
tuieren, wurde sie in eine Kaltwasserheilanstalt verbracht, wo sie unter 
anderem Vaginalirrigationen bekam, aber auch mehrmals gynäkologisch 
untersucht wurde. Als sie einmal zufällig Augenzeuge eines etwas hand¬ 
greiflichen Flirtes zwischen ihrem Arzte und einer jungen Dame wurde, 
gewahrte sie zu ihrem Entsetzen, daß sie auf dem besten Wege gewesen 
war, sich in diesen Arzt zu verlieben. Über diesen Durchbruch der ge¬ 
fürchteten Rokokoeigenschaften aufs tiefste erschrocken, beschloß sie, 
heimzukehren und „mit Hochdruck ihre körperliche und moralische Reini¬ 
gung zu betreiben“. Als geeignetstes Mittel dazu erschienen ihr Vaginal - 
Spülungen mittels eines an die Hochdruckwasserleitung angeschraubten 
Schlauches. 

Diese Manipulationen vermochten allerdings ihr erotisches Feuer 
etwas zu löschen, steigerten aber die chlorotischen Erscheinungen, und 
sie trat in nicht gerade guter körperlicher Verfassung in die Ehe. 

Als sie nun noch bemerken mußte, daß ihr Mann durchaus nicht 
frei von erotischen Bedürfnissen sei, und daß auch sie sinnlicher Gefühle 
noch nicht entbehre, kam sie sich vor wie eine Prostituierte, und es brach 
eine schwere Depression aus, die während der ganzen ersten Schwanger¬ 
schaft andauerte. 

Es gelang ihr aber doch wieder, sich in die Rolle der glücklich ver¬ 
heirateten Frau hineinzulügen indem sie aktiv alle etwa auftauchenden 
wärmeren Gefühle für ihren Mann unterdrückte und es sogar fertig brachte, 
beim Koitus frigid zu bleiben. Sie mußte dies tun, da sie diesen alten Mann 
ja überhaupt nur geheiratet hatte, um rein zu bleiben, und da ja ihr ganzes 
erotisches Fühlen entweder unrein war, oder ihrem unvergessenen Jugend¬ 
freunde angehörte, für den sie sich eigentlich hatte jungfräulich halten 
wollen. Sie zwang deshalb auch ihren Mann, nachdem der Chok der ersten 
Schwangerschaft überwunden war, zuerst zu Coitus inter., dann zu Condom- 
verkehr, und als trotzdem eine zweite Schwangerschaft erfolgte, brachte sie 
es sogar so weit, ihn während vieler Jahre überhaupt von sich fernzu- 
halten. 

Aber trotz alledem, und trotzdem sie noch reichlich in körperliche 
Krankheiten aller Art konvertierte, brach ihr Rokokotemperament 
von Zeit zu Zeit doch durch. Sie leistete sich mehrere, allerdings ganz 
platonische, aber recht schwärmerische, außereheliche Freundschaften. 

Die Verheiratung ihres Jugendfreundes brachte ihr die Lebenslüge, 
unter der sie stand, deutlich zum Bewußtsein und vejrursachte bei ihr, 
wie sie sagte, einen vollständigen körperlichen Zusammenbruch. 

Eine der wichtigsten Stützen für ihre Lebenslüge war die Annahme, 
daß, wenn nicht sie ihren Mann, so habe doch wenigstens er sie aus reiner 
Liebe geheiratet, weder aus Leidenschaft, noch aus materiellen Gründen, 
auch nicht par d6pit oder faute de mieux. Allerdings war auch diese 
Hypothese schon einmal ins Schwanken gekommen, als ihr ihre beste 


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Über Gelegenheitsurs&chen gewisser Neurosen und Psychosen. 601 

Freundin anvertraute, daß der Mann der Pat. sie zuerst um ihre Hand 
gefragt habe. Aber sie hatte diese peinliche Geschichte mit allerlei Gründen 
einigermaßen zu verdrängen verstanden. 

In ihrem 44. Lebensjahr bemerkte sie nun, daß sich ein älteres, 
kokettes Fräulein eifrig an ihren Mann heranmachte und ihm nicht 
ganz gleichgültig geblieben sei. Damit war der Anstoß zum abermaligen 
Zusammenbrechen ihrer Lebenslüge gegeben, denn dieses Vorkommnis 
schien ihr zu beweisen, daß ihr Mann sie doch nur faute de mieux geheiratet 
hatte, daß auch er trotz aller Empireeigenschaften wie alle Männer roh- 
sinnlich sei, daß sie also doch wie eine Prostituierte gelebt habe, und daß 
alle ihre Mühe, ihre eigene Rokokonatur zu unterdrücken, wertlos ge¬ 
wesen sei. 

Freilich spielte bei dem nun erfolgenden Ausbruch ihrer schweren 
Neurose auch die bevorstehende Klimax eine Rolle. Sie selber sagte dies¬ 
bezüglich sehr nett: „Wissen Sie, Hr. Dr., ich bin eigentlich nicht krank, 
aber ich merke, daß ich im Herbst bin, und kann nicht in den Winter 
hinein, denn ich habe ja keinen Sommer und keinen Frühling erlebt“. 

In diesem Falle kam es überaus klar zum Ausdruck, daß es Frauen 
gibt, die sich symbolisch für ihren ursprünglichen Geliebten jung¬ 
fräulich erhalten, eben indem sie frigid bleiben gegen ihren Mann. 
Daß sie sich dennoch einbilden können, in glücklicher Ehe zu leben, 
ist aber eben nur mit Hilfe der unbewußten Hoffnung möglich, das 
große Glück werde doch noch kommen, und auch mit Hilfe von Kon¬ 
versionen und gelegentlichen Übertragungen. 

Anlässe zu teilweisem und schließlich völligem Versagen der 
Lebenslüge waren in diesem Falle: unerwartete Sinnlichkeit des 
Mannes, Schwangerschaften, Verheiratung des Jugendgeliebten, bevor¬ 
stehende Menopause. 

14. Eine 24jährige Frau erkrankte bald nach der Verheiratung 
schon in der ersten Schwangerschaft an nervösen Angstzuständen, denen 
sich etwa ein Jahr nach der Geburt peinigende Zwangsgedanken zugesellten, 
sie müsse ihrem Kinde oder ihrem Manne etwas antun, mit einem Messer 
den Kopf spalten, ins Wasser werfen u. dgl. Als sie 29 Jahre alt war, starb 
ihre Mutter, gegen die sie kurz vorher auch schon Zwangsgedanken emp¬ 
funden hatte, und nun verschlimmerte sich ihr Zustand rapid. 2 Jahre 
später kam sie in meine Behandlung. Sie hatte nun auch Zwangsimpulse, 
sich selber etwas anzutun. Es zeigte sich, daß sie daneben auch noch an 
übertriebener Einbrecherangst litt, überall sexuelle Attentate witterte, 
und daß alle ihre Träume immer nur den gleichen Wunsch enthielten, 
einen anderen Mann zu bekommen, kein Kind zu haben, ein Dirnenleben 
führen zu können. 


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602 


Bertschinger, 


Als Kind war sie sehr erotisch veranlagt, hatte eine stark ambivalente 
Vaterübertragung, war sehr früh entwickelt, wurde eifrig umworben und 
hatte später viel unter sexuellen Nachstellungen zu leiden. Ihr Vater 
äußerte schon früh die Befürchtung, daß sie erotischen Verführungen 
unterliegen werde, und stellte ihr die schrecklichsten Strafen in Aussicht 
für den Fall, daß sie einmal unehelich schwanger werden sollte. Sie sah 
deshalb in jedem harmlosen Flirt eine sittliche Gefahr, wollte partout 
keine ausgeschnittenen Kleider und schon sehr früh keine kurzen Röcke 
mehr tragen, um nur ja kein Aufsehen zu machen. Sie bemühte sich 
überhaupt, so zurückgezogen wie nur möglich zu leben. 

Schon mit 18 Jahren tauchten verschiedene ernsthafte Bewerber 
auf, aber fast bei allen fürchtete sie unreelle Absichten. Mit 19 Jahren 
verlobte sie sich, nachdem sie lange zwischen einem Holländer und einem 
Deutschen geschwankt hatte, mit dem Deutschen, der ihr als besonders 
ernsthaft und solid geschildert worden war. Es trat dann aber zwischen 
den Brautleuten eine gewisse Erkaltung ein, sie bekam Angst, daß die 
Sache ausgehen könnte, und um ihren Bräutigam zum Vorwärtsmachen 
zu zwingen, griff sie zu einem etwas sonderbaren Mittel, das aber ihrer 
ursprünglich dirnenhaften Veranlagung sehr gut entsprach. Sie nahm 
eine Stelle als Büfettdame, ließ sich ein wenig poussieren und reizte so die 
Eifersucht ihres Bräutigams, der ihr schließlich gegen das Versprechen, 
ihre Stelle aufzugeben, einen bestimmten Heirattermin in Aussicht 
stellte. Da ihr Mann gutmütig, solid und recht vermöglich war, hätte 
die Ehe von ihm aus glücklich werden können, schien es nach außen auch 
zu sein, und die Kranke selber behauptete, abgesehen von ihrer Nervosität, 
durchaus glücklich zu sein. Leider war aber ihr Mann sexuell nicht sehr 
leistungfähig, und ihre Meinung, daß die Erotik für sie keine große Rolle 
spiele, beruhte auf arger Selbsttäuschung. Um diese aufrecht zu erhalten, 
unterdrückte sie alle sinnlichen Regungen auch gegenüber ihrem Mann 
und brachte es fertig, schon recht bald sexuell frigid zu sein. Als Grund 
für die aktive Unterdrückung der erotischen Gefühle gab sie aller¬ 
dings zuerst an, sie habe sich vor erneuter Schwangerschaft gefürchtet 
und geglaubt, es komme ohne Orgasmus nicht zur Konzeption. Warum 
sie keine Kinder mehr haben wollte, wußte sie aber selber nicht. 

Je tiefer die Analyse ging, desto klarer zeigte es sich, daß sie ihre 
ursprünglich schwer erotische Veranlagung dem Vater zu Liebe verdrängt 
hatte, daß diese Veranlagung aber doch schuld war, daß sie in ihrer Ehe 
unbefriedigt blieb. Ihre ganze Zwangsneurose war ein steter verzweifelter 
Kampf zwischen der selbstbetrügerischen Absicht, eine anständige Frau 
zu sein, und der ursprünglichen polygamen Veranlagung. 

Es war denn auch kein Zufall, daß sich ihr Zustand nach dem Tode 
ihrer Mutter rapid verschlimmerte. Unmittelbar nachher verheiratete 
sich nämlich ihr Vater wieder mit einem jungen Mädchen. Er, dem zu 
Liebe sie ihre erotischen Instinkte mit so großer Mühe verdrängt hatte. 


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Ober Gelegenheitsursachen gewisser Neurosen und Psychosen. 603 


war also auch nicht imstande, sich zu beherrschen. Ihr Mühen mußte ihr 
somit völlig zwecklos erscheinen. 

15. Ein etwa 50jähriger Herr konsultierte mich wegen allerlei 
hypochondrischen Befürchtungen und neurasthenischen Beschwerden, 
zu denen sich vor kurzem nächtliche Angstanfälle mit Selbstmordideen 
gesellt hatten. Er war sexuell sehr anspruchvoll und fand in seiner Ehe 
nicht volle Befriedigung. Die nervösen Symptome zeigten auf den ersten 
Blick, daß ihnen unbefriedigte Sexualität zugrunde liege, und er litt eigent¬ 
lich schon seit vielen Jahren an den gleichen Beschwerden, neu waren 
einzig die schweren Angstanfälle. 

Er ließ sich von einem, ihm als geschickt empfohlenen Hypnotiseur 
behandeln und erzählte mir dann später, daß er sich wochenlang ohne 
Erfolg habe hypnotisieren lassen. Er sei dann aber plötzlich gesund ge¬ 
worden, nachdem er durch einen glücklichen Zufall einen schweren, 
finanziellen Verlust wieder habe einbringen können, der ihn mit geschäft¬ 
lichem Ruin bedroht hatte, und der allein die Ursache seiner akuten Zu¬ 
standverschlimmerung gewesen sei. 

Dem sehr unternehmunglustigen und routinierten Geschäftsmann 
war es also viele Jahre lang gelungen, durch Sublimierung in seinen Beruf 
trotz unbefriedigter Sexualität scheinbar glücklich und, abgesehen von 
leichteren hypochondrisch-neurasthenischen Erscheinungen, gesund zu 
sein. Sobald aber die Sublimierungsmöglichkeit ins Wanken geriet, drohte 
auch die mühsam aufrechterhaltene Lebenslüge bewußt zu werden und 
eine schwerere Neurose auszubrechen. 

Als Paradigma einer sogenannten 1 * „glücklichen Vernunftehe“, 
deren Glück auf Lebenslüge beruhte, mag noch folgender Fall er¬ 
wähnt sein: 

16. Eine 40jährige Frau erkrankte an Schlaflosigkeit und Angst - 
zuständen und wurde nach einem Suizidversuch in die Anstalt verbracht. 

Eine Krankheitursache konnte niemand angeben. Sie selber hielt 
sich für glücklich verheiratet, und jedermann glaubte ihr das und zwar 
um so mehr, als sie sich gegen die sonst allgemein bekannte Trunksucht 
ihres Mannes sehr tolerant zeigte, ihn gegen alle diesbezüglichen Angriffe 
in Schutz nahm und auch die Bemühungen seiner Freunde, ihn zur Ab¬ 
stinenz zu bewegen, nur sehr flau unterstützte. 

Die Kranke selber gab als Grund ihrer Depression drei Ärgernisse 
an: 1. daß ihr Mann einen Hund nicht abschaffen wollte, der viel Un¬ 
ordnung im Hause machte; 2. daß ihre Tochter ohne Vorwissen der Mutter 
eine Einladung angenommen habe; 3. daß ihr Mann soviel ins Wirtshaus 
gehe. Ihrem Manne war noch aufgefallen, daß die Krankheit ausbrach, 
nachdem ein Lehrer, der in der Familie Kost und Logis hatte, wegzog. 
Die von der Kranken angeführten Gelegenheitsursachen schienen sehr 
wenig stichhaltig, denn der beanstandete Hund war seinerzeit auf ihren 
Wunsch angeschafft worden, und die Einladung, welche ihre Tochter 

ZwtMhrift für Psyehimtri«. LX1X. 5. 42 


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Bertschinger, 


angenommen hatte, hätte leicht zu einer guten, frühen Verheiratung des 
Mädchens führen können, welche die Pat. vorher selber befürwortet hatte, 
und für den Alkoholismus ihres Mannes war sie sonst blind gewesen. 

Die Analyse zeigte trotzdem, daß die von der Kranken angegebenen 
Banalitäten am Ausbruch ihrer Neurose wesentlich beteiligt waren: 

Ihre Mutter hatte ihr schon früh beigebracht, daß man bei der Wahl 
des Gatten nicht das Herz, sondern den Kopf sprechen lassen müsse, und 
pflegte zu sagen, jede Hochzeit stimme sie traurig. Auf ihren Rat ließ die 
Kranke einen jungen, einfachen Menschen, in den sie sehr verliebt war, 
fahren und heiratete den ihr von der Mutter ausgesuchten, viel vor¬ 
nehmeren Mann. Sie betonte immer wieder, daß dies ihr Glück gewesen 
sei, und erklärte ihre sexuelle Frigidität mit der Behauptung, daß sie von 
jeher eine kalte Natur gewesen sei, der alles Sinnliche fremd und alles 
Erotische zuwider war. Schon die Zärtlichkeiten ihres Bräutigams er¬ 
schienen ihr als unerlaubte Zudringlichkeiten, auf der Hochzeitreise litt 
sie an nervösem Herzklopfen und Zornanfällen, und es war ihr stets uner¬ 
träglich gewesen, Augenzeuge von Zärtlichkeiten zwischen Brautleuten 
zu sein. 

Trotzdem sie nach ihren eigenen Angaben zu ihrem Glücke die 
vornehmere Partie vorgezogen hatte, schwärmte sie seit dem Einzuge 
des schon erwähnten Lehrers in ihr Haus auffallend für einfache, schlichte 
Menschen, nahm es sehr übel, daß ihre ältere Tochter in ein feines Pensionat 
geschickt worden war, und warf ihr vor, den einfachen Lehrer nicht mit 
genügend Respekt zu behandeln. Dies alles geschah aber nur, weil sie 
wußte, daß dieser einfache, rechtschaffene Mensch ebensolche Mädchen 
vornehmen Damen vorzog. Im stillen wollte sie ihn zu ihrem Schwieger¬ 
söhne machen. Da er Hunde liebte, hatte sie die Anschaffung eines solchen 
gegen den anfänglichen Widerstand ihres Mannes durchgesetzt. 

Zum Schwiegersöhne wünschte sie ihn aber eigentlich nur, um ihn 
dadurch an ihr Haus zu fesseln, denn sie selber war in ihn bis über die Ohren 
verliebt, weil gerade sein einfach frommes Wesen sie an ihren ursprünglichen 
Geliebten erinnerte. Bewußt wurde ihr diese Verliebtheit aber erst, als 
er plötzlich ihr Haus verließ, um eine Wirtstochter zu heiraten, was auch 
ihre plötzliche Aversion gegen den Wirtshausbesuch ihres Mannes erklärt. 
Jetzt erst wurde ihr aber auch klar, daß ihr Eheglück und ihr ganzes Leben 
eine einzige große Lüge gewesen war, und in diesem Augenblick brach 
die Neurose aus. 

Kennzeichnenderweise schwärmte sie nach ihrer Entlassung aus der 
Anstalt nicht mehr für einen einfachen Schwiegersohn, sondern setzte 
alle Hebel in Bewegung, um ihre Tochter zu veranlassen, eine Herzens - 
neigung der viel vornehmeren Partie zuliebe aufzugeben, die sie für sie 
ausgesucht hatte. Ihre eigene Ehe führte sie dabei als Beweis dafür an, 
daß nur Vernunftehen glücklich werden. Sie scheint also einfach die alte 
Lebenslüge wieder aufgenommen zu haben. 


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Über Gelegenheitsarsachen gewisser Neurosen and Psychosen. 605 

Die letzten Reste ihrer Neurose aber schwanden erst nach dem Tode 
des Gatten, was allgemein aufflel, da ihr nahestehende Personen von diesem 
Ereignis eher eine Wiederverschlimmerung ihres Zustandes erwartet 
hatten. 

In zwei Fällen erinnert der Charakter des Mannes in mancher 
Hinsicht an das, was Freud Analcharakter nennt. Da die beiden Männer 
aber im übrigen rechtschaffene, gute Ehemänner sind, blieb es ihren 
Frauen lange verborgen, daß sie eigentlich schwer unter den Eigen¬ 
heiten ihrer Gatten litten und ihr Eheglück auf Selbsttäuschung 
beruhte. 

17. 18. Beide Frauen rächten sich für die Unbill, die ihnen ihre etwas 
geizigen Männer zufügten, durch heimliches Schuldenmachen resp. kleine 
Unterschlagungen und hielten sich durch Verkehr mit nicht ganz einwand¬ 
freien Personen resp. kleine Flirts für manches schadlos, das ihnen in der 
Ehe versagt blieb. Abgesehen davon waren sie duxhaus Mustergattinnen 
und scheinbar glücklich. Bei der einen brach die Neurose aus nach dem 
Tode ihres ältesten Sohnes, in dem sie schon früh das gefunden hatte, 
was sie an ihrem Manne vermißte. 

Die andere erkrankte das erste Mal nach längerer körperlicher 
Krankheit, das zweite Mal nach der Rückkehr ihrer Tochter aus dem 
Welschland, Anlässen, die es ihr verunmöglichten, die zur Aufrechterhaltung 
ihrer Glückslüge unerläßlichen kleinen Betrügereien und Liaisons fort¬ 
zusetzen. 

Bei Landleuten wird eine Glückslüge oft durch Sublimierung 
auf das Gewerbe ermöglicht. Bei jedem der oft plötzlichen Verluste 
oder Mißerfolge, von denen die Landwirtschaft ja stets bedroht ist, 
versagt aber der Mechanismus zum Teil. Krankheit bei Menschen 
in der arbeitreichen Zeit oder gar beim Vieh führen besonders oft 
zu plötzlich ausbrechenden psychischen Depressionen, aber auch das 
Klimakterium kann diese Art Lebenslüge Umstürzen. 

19. Eiue 48jährige Bäuerin erkrankte bald nach dem Tode ihres 
jüngsten Sohnes an präseniler Melancholie, die mit Suizid endete. Sie 
jammerte in charakteristischer Weise über drohende Verarmung, klagte 
sich aber auch an, den Tod ihres Kindes verursacht zu haben, weil sie es 
vermeintlicher Faulheit halber einmal gezüchtigt hatte, als es schon 
krank war. 

Sie hatte in ihrer Jugend einen Schatz gehabt, den sie aber nicht 
heiraten konnte. Mit 29 Jahren heiratete sie dann einen bedeutend 
jüngeren, sehr geizigen Mann, der sie hauptsächlich als Arbeitkraft schätzte. 
Sie war kolossal fleißig und scheinbar glücklich. In der ersten Schwanger¬ 
schaft äußerte sie den Wunsch, wieder ledig zu sein, und bei jeder weiteren 
Gravidität jammerte sie über die dadurch verursachte Einbuße an Arbeit - 

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Bertschinger, 


fähigkeit. Aus diesem Grunde wurde der sexuelle Verkehr möglichst 
eingeschränkt. 

Krankheiten der Kinder beklagte sie hauptsächlich deswegen, weil 
sie durch die dabei nötige Pflege den Feldarbeiten entzogen wurde. Wenn 
ein Kalb abgetan werden mußte oder die Kartoffeln mißrieten, brach eine 
Depression aus. 

Der jüngste Bub war ihr besonders unwillkommen gewesen. Als 
er sich dann aber anscheinend besonders kräftig entwickelte und eine 
wertvolle Arbeitkraft zu werden versprach, söhnte sie sich mit demFamilien- 
zuwachs wieder aus. Um so schwerer empfand sie dann seine scheinbare 
Faulheit und später seine langdauernde Krankheit, die sie in der arbeit- 
reichsten Zeit des Jahres am Bestellen der Felder hinderte. 

Ätiologisch fällt aber auch noch ins Gewicht, daß bald nach dem 
Tode des Knaben eine Kuh und ein Kalb abgetan werden mußten und die 
Frau ins Klimakterium eintrat. 

20. Eine scheinbar ganz glücklich verheiratete Frau, die als junge 
Tochter schon einmal eine nervöse Störung durchgemacht hatte, wurde 
in den Abänderungsjahren auffallend religiös, war mehrere Jahre nach¬ 
einander im Winter immer deprimiert und brachte dann jeweils einige 
Wochen in einer Gebetsheilanstalt zu. 

In ihrem 68. Jahre litt sie an Lebensüberdruß und einer Menge 
Versündigungswahnideen, Sie behauptete, die Großmutter, womit sie 
aber ihre Schwiegermutter meinte, nicht recht gepflegt zu haben, und klagte, 
daß sie den Teufel im Herzen, keinen Glauben, die Sünde gegen den heiligen 
Geist begangen habe. Sie habe die himmlische Liebe gehabt, wieder ver¬ 
loren, und als sie ihr wieder angeboten wurde, habe sie sie nicht ange¬ 
nommen. 

Merkwürdig war, daß sie sich in der Anstalt rasch besserte, aber 
regelmäßig ein Rezidiv bekam, wenn sie entlassen werden sollte.. Wie 
aus ihren späteren Angaben hervorging, waren ihre soeben kurz skizzierten 
Wahnideen nichts Anderes, als eine Art symbolische Übersetzung ihrer 
psychosexueilen Schicksale. 

Sie war sexuell schon sehr frühreif und stark erregt, fing früh an zu 
onanieren, wurde mit 15 Jahren von ihrem Dienstherrn verführt und ver¬ 
kehrte dann aus freiem Willen noch längere Zeit geschlechtlich mit ihm. 
Später verliebte sie sich in einen jungen Mann namens Johannes, der um 
sie anhielt. Es sei ihr aber mit ihm genau wie mit dem Heiland gegangen, 
sie habe einfach nicht Ja sagen können und damit die Liebe verloren, 
zuerst die irdische und dann die himmlische. 

Mit 27 Jahren heiratete sie, um ihrer Mutter helfen zu können, aber 
nicht aus Liebe. Sie habe ihren Mann nur ,,gehabt“, nie geliebt, d. h. sie 
war sexuell frigid. Sie hätte am liebsten gar keine Kinder von ihm gehabt, 
bildete sich ein, sie nicht erziehen zu können. Die Gleichgültigkeit für ihren 
Mann übertrug sie auch auf dessen Mutter, die sie tatsächlich nur not¬ 
dürftig pflegte. 


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Uber Gelegenheitsurs&chen gewisser Neorosen and Psychosen. 607 


Trotzdem bildete sie sich aber ein, ganz glücklich zu sein, und hatte 
nur ganz vage das Gefühl, daß ihr etwas fehle, daß noch etwas kommen 
müsse. Dieses Etwas war natürlich das noch fehlende Liebesobjekt. Als 
dann die Menopause eintrat, war es mit der Hoffnung auf irdische Liebe 
aus, und sie versuchte es mit der himmlischen, die sie auch lange Zeit 
besessen habe. Dann aber habe sie gegen den Heiland, den sie sich unter 
den Zügen ihres früher geliebten Johannes vorstellte, fleischliche Gedanken 
bekommen, habe sogar in Gedanken an ihn onaniert, d. h. die Sünde 
gegen den heiligen Geist begangen und die himmlische Gnade ebenso von 
sich gewiesen, wie seinerzeit die Hand Johannes*. 

Mit anderen Worten ausgedrückt: mit Hilfe religiöser Sublimierung 
gelang es ihr noch einige Zeit über das Klimakterium hinaus die Fiktion, 
glücklich gelebt zu haben, aufrechtzuerhalten. Sobald aber die Subli¬ 
mierung versagte, 'brach eine recht schwere Psychose aus. 

Mit diesem Falle will ich die Reihe der Beispiele schließen, die 
zeigen sollten, daß ein scheinbares Eheglück oft nur auf einer Lebens¬ 
lüge basiert, die bei den verschiedensten Anlässen ins Wanken kommen 
oder zusammenbrechen muß, wobei es dann zum Ausbruch schwerer 
psychischer Störungen kommen kann. 

Die Lebenslüge kann auch darin bestehen, daß man sich einredet, 
sich mit vollem Erfolg mit dem Verzicht auf Liebes- 
betätigung abgefunden zu haben, oder sogar glaubt, daß das 
Glück eben auf dem Verzicht auf Liebesgenuß beruhe. 

Elin solches Glück entpuppt sich manchmal ganz plötzlich als 
Lebenslüge, wenn die sie stützende Übertragung auf eine bestimmte 
Person versagt und damit eine sit venia verbo Surrogatehe aufgelöst 
werden muß, aber auch, wenn eine Sublimierung versagt, oder die 
unbewußt vorhandene Hoffnung, doch noch ein Liebesobjekt zu finden, 
schwindet. 

Gläubigen Katholiken hilft die Anwartschaft auf die Brautschaft 
Christi, diese Art Lebenslüge über die Zeit irdischer Liebesmöglichkeit 
hinau s festzuhalten, Mohammedanern vielleicht hie und da die Gewißheit 
erotischer Genüsse im Jenseits. 

In zwei Fällen gab eine kräftige Geschwisterübertragung die 
Möglichkeit und vielleicht auch den Grund zum Verzicht auf Liebes¬ 
genuß. 

Bjjf j ? 21. 22. Zwei Geschwister, Bruder und Schwester, Landleute, blieben 
aus nicht naher aufgeklärten Ursachen ledig, lebten beieinander und schienen 
durchaus glücklich. Der 2 Jahre ältere Bruder brauchte freilich'zur Unter- 


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Bertschinger, 


Stützung seiner Lebenslüge eine Dauernarkose durch Alkohol, die ihn in 
seinem 48. Lebensjahr ins Irrenhaus brachte, wo er bald darauf starb. 

, Seine Schwester lebte nun allein. 2 Jahre später, in ihrem 49. Lebens¬ 
jahre, wurde auch sie in die Irrenanstalt gebracht, weil sie nachts hilfe¬ 
suchend im Dorf herumirrte. Sie meinte, gar nicht geisteskrank zu sein, 
sondern nur an Heimweh nach dem verstorbenen Bruder zu leiden. Sie 
verlangte aber sofort ganz besonders kräftige Kost, da sie unbedingt schnell 
gesund werden müsse, weil der ledige Pfarrer X. sie in den nächsten Tagen 
heiraten wolle. 

Nach Ablauf eines ziemlich akuten Stadiums lebte sie in steter 
ruhiger Gelassenheit stillvergnügt vor sich hin, war fest davon überzeugt, 
mit dem Anstaltdirektor verheiratet zu sein, und inszenierte bei jeder 
der nur noch selten eintretenden Menstruationen eine kleine Nieder¬ 
kunft. 

23. Von 16 Geschwistern blieben eine Schwester und ein Bruder 
bei der Mutter zu Hause, die anderen verheirateten sich, oder gingen sonst 
frühzeitig weg. Der Bruder hatte sich mehrfach verlobt, ließ aber alle 
Brautschaften wieder ausgehen. 

Die Schwester kam in ihrem 33. Lebensjahr, also ungefähr zu dem 
letzten Termin, der für sie für eine Heirat noch hätte in Betracht kommen 
können, in irrenärztliche Behandlung, weil ihr herrschsüchtiges Wesen 
zu Hause nachgerade unerträglich geworden war, und auch, weil sie in 
allzu deutlicher Weise ihre Verliebtheit in einen im Hause als Knecht 
wohnenden, viel jüngeren Verwandten kundgab. Sie hatte ihn unter dem 
Vorwände, ihn stärken zu müssen, immer mit Eiern gefüttert und hatte 
sich am Weihnachtfest in den Kleidern zu ihm aufs Bett gelegt, angeblich 
um ihn darüber zu trösten, daß er nicht zum Familienfest geladen wurde. 
Trotz aller Deutlichkeit dieser symbolischen Handlungen wollte sie nicht 
zugeben, daß ein erotisches Moment dabei mitgespielt habe. Sie hatte sich 
selber immer eingeredet, nicht zum Heiraten geschaffen zu sein, da sie 
körperlich zu schwach sei. Einen Mann, der sich um sie bewarb, über¬ 
redete sie, ihre Freundin zu nehmen, da es nicht Gottes Wille sei, daß sie 
mit einem so schwachen Körper heirate. 

Der tiefere Grund, warum sie und ihr Bruder ledig geblieben, war 
aber eine aus der Kindheit stammende unüberwindliche, gegenseitige 
Übertragung. Der Vorwand, zum Heiraten körperlich zu schwach zu sein, 
erklärt sich ganz gut daraus, daß sie an ihrem Bruder hauptsächlich seine 
körperliche Größe und Kraft bewunderte. Aus dem gleichen Grunde 
fütterte sie auch den Ersatzgeliebten mit stärkenden Eiern. 

24. Ein Fräulein blieb von ihren Geschwistern allein ledig bei ihren 
Eltern, die sie erst anfangs der 40er Jahre verlor. Auch nach der Eltern 
Tod behielt sie das väterliche Gut bei, führte ein offenes Haus und fühlte 
sich glücklich als viel besuchte Tante, Schwester und Schwägerin. In 
ihrem 68. Jahre wurde beschlossen, das elterliche Haus zu verkaufen, und 


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Ober Gelegenheitsursachen gewisser Neurosen und Psychosen. 609 


nun brach plötzlich eine präsenile Melancholie aus mit dem charakte¬ 
ristischen Verarmungswahn, hypochondrischen Klagen, symbolischer 
Schwangerschaft usw. 

In diesem Falle war der Verzicht auf Liebesgenuß und ein scheinbar 
glückliches Leben durch Übertragung der Libido auf das elterliche Heim 
ermöglicht worden, nach dessen Verlust die Psychose ausbrach. 

Drei meiner Fälle betreffen Witwen, die mit Hilfe intensiver 
Übertragung auf bestimmte Personen in ihrer Witwenschaft glück¬ 
lich lebten, bis durch Aufgebenmüssen der Surrogatehe die Fiktion 
des gelungenen Liebesverzichtes verunmöglicht wurde. In den zwei 
ersten Beispielen wirkte am Ausbruch der Psychose auch noch das 
beginnende Greisenalter mit, im dritten der Eintritt ins Klimakterium, 
Umstände, welche die Schaffung einer neuen Übertragungsmöglichkeit 
erschweren oder unmöglich erscheinen lassen mußten. 

Die Symptome wären in allen Fällen sehr kennzeichnend: Ver¬ 
armungswahn, Klagen über Verschlossensein aller Leibesöffnungen, 
Gefühl der körperlichen Insuffizienz, starke erotische Aufregung, 
übermäßige Betonung der eigenen Vornehmheit. 

25. In einem Falle brach die Psychose aus, als die Ersatzperson, 
der liederliche Sohn, nach Amerika expediert werden mußte, 

26. im zweiten Fall, nachdem der angeblich uneigennüt?ige Freund 
und Vermögens Verwalter das Vermögen der Kranken durchgebracht hatte, 

27. und im dritten Falle, als sich der letzte und treueste Kostgänger 
verflüchtigte. 

In folgendem Falle wurde die Fiktion des gelungenen Verzichtes 
auf Liebesgenuß nicht nur durch Übertragung auf bestimmte Personen, 
sondern auch noch durch Sublimierung in den Beruf aufrechterhalten. 

28. Eine Wirtstochter übernahm nach des Vaters Tode eine Stelle 
in einem Hotel und verliebte sich in den Sohn des Besitzers. Er mußte 
aber dem Geschäfte zu Liebe eine andere, reichere Frau nehmen. Sie 
ging weg und .übernahm die Leitung einer neu gegründeten Haushaltung¬ 
schule. Jahrelang ging alles ganz gut, sie glaubte, in ihrem Berufe einen 
vollen Ersatz gefunden zu haben. Da brach über das von einem Frauen - 
verein gegründete Unternehmen eine finanzielle Krise herein, die unsere 
Pat. von der ihr so lieb gewordenen Schule zu trennen drohte. In diese 
Zeit fiel der erste, noch recht leichte Schub von Dementia praecox. Die 
finanziellen Schwierigkeiten wurden überwunden und die Kranke, die sich 
inzwischen wieder völlig erholt hatte, ging mit erneutem Eifer auf ihren 
Posten. Es fiel aber auf, daß sie unbedingt die völlige Alleinherrschaft 
über das Unternehmen beanspruchte, trotzdem die immer mehr wachsende 
Arbeitlast, zusammen mit der Pflege der kranken Mutter, die sie inzwischen 


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Bertschinger, 


noch zu sich genommen hatte, von ihr allein manchmal kaum zu be¬ 
wältigen war. 

Nach ihrer eigenen Angabe fühlte sie sich mit der Schule wie ver¬ 
heiratet. Sie lebte aber noch in einer Art zweiter Surrogatehe. Sie be¬ 
suchte nämlich sehr häufig die Familie einer intimen Freundin, die jahre¬ 
lang an schwerer Tuberkulose litt, und an deren zwei Töchtern sie sozusagen 
Mutterstelle vertrat. Als die Freundin starb, brach ein zweiter kleiner 
Krankheitschub aus, der aber rasch vorüberging, da sie auch weiterhin 
noch bei dem Witwer ihrer Freundin ein- und ausgehen und seine Kinder 
bemuttern durfte. 

2 Jahre später vernahm sie durch eine Drittperson, daß sich der 
Mann ihrer Freundin wieder verlobt habe, und nun brach bei der inzwischen 
47 Jahre alt gewordenen Kranken ein dritter, sehr schwerer Krankheit¬ 
schub aus, der Anstaltbehandlung notwendig machte. Alle ihre Wahn¬ 
ideen und Halluzinationen drehten sich um erotische Motive. Sie erholte 
sich, trat ihre Stelle wieder an, war aber unerträglich eigensinnig und 
herrschsüchtig geworden und konnte vor allem atich nicht ertragen, daß 
man, um sie einigermaßen zu entlasten, eine zweite Vorsteherin angestellt 
hatte, die ihr koordiniert war. Bald stellte sich ein Rezidiv ein, das die 
definitive Entlassung aus ihrer Stelle notwendig machte. Der Frauen- 
verein, in Anerkennung der ihm von ihr geleisteten Dienste, bemühte 
sich, ihr anderweitig passende Stellen zu verschaffen, aber jeder Versuch 
schlug fehl. An jeder Stelle, die sie nun antrat, bekam sie schon nach kurzer 
Zeit.ein neues Rezidiv, und in jedem Rezidiv machte sie wieder einen 
Versuch, in die Schule zurückzukehren, mit der sie so lange sozusagen 
verheiratet gewesen war. 

In fünf Fällen brach die Krankheit bei den ledigen resp. früh 
verwitweten Kranken aus, als die stille Hoffnung, doch noch ein 
passendes Liebesobjekt zu finden, aufgegeben werden mußte. Zweimal 
war es der letzte für eine gute Heirat in Betracht kommende Termin, 
einmal der Verlust eines Hauptattraktionsmittels in Verbindung mit 
der Menopause, einmal die Menopause allein und einmal die im be¬ 
ginnenden Greisenalter versagende Potenz, welche die Lebenslüge 
zum Zusammenfall brachten. 

29. 30. Bei zwei jungen Damen brach die Psychose in der Zeit des 
letzten Heirattermines aus, nachdem sie 8 resp. 10 Jahre lang vergebens 
darauf gewartet hatten, daß ihre beiden Verlobten ernstlich ans Heiraten 
dachten. 

31. Eine 44 jährige Witwe, die kaum ein Jahr mit einem viel älteren 
schwerkranken Manne verheiratet gewesen war, glaubte von allen Wieder- 
verheiratungswünschen frei zu sein. Als sie aber ihr Vermögen verlor 
und dadurch in ihren früheren, niedrigeren Stand zurücksank und für die 


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Ober Gelegenheitsursachen gewisser Neurosen and Psychosen. 611 

schon alternde Frau mitsamt dem Geld« auch alle Heiratchancen verloren 
waren, erkrankte sie an Angsthysterie, Einbrecherangst usw. 

32. Ein armes Dienstmädchen wurde von ihrem Schatz, der ihr 
eine Reichere vorzog, im Stich gelassen. Bald darauf ertrug sie das Dienen 
nicht mehr, machte sich selbständig und wurde Schneiderin. 

Über den Verlust des Bräutigams tröstete sie sich mit der Erwägung, 
es sei besser, ledig zu bleiben, als den ersten besten zu nehmen. Sie wartete 
nun getreulich und scheinbar glücklich auf den Rechten, der noch kommen 
sollte, und blieb bis zur Menopause ganz gesund. 

Aber schon während der Abänderung wurde sie plötzlich religiös, 
ging zu Zeller nach Männedorf, ohne den rechten Trost zu finden, und dann 
brach eine Dementia paranoides aus. Sie hörte den Bundespräsidenten 
zu ihren Hausleuten sagen: sie sei eine Perle und müsse es noch gut haben; 
kam in die Irrenanstalt und ist nun die Frau des Direktors, der sie dem 
Bundespräsidenten für 30 000 Franken abgekauft hat. 

33. Ein 61 jähriger Herr fühlte seine Potenz schwinden und er¬ 
krankte an präseniler, hypochondrischer Melancholie. Unter anderem 
jammerte er über ein ganz verfehltes Leben, da er kein Examen bestanden 
habe. Er fürchtete immer, gesellschaftlich anzustoßen, und konnte keine 
passende Haushälterin mehr finden. Er hatte eine in jeder Beziehung 
glänzende Karriere hinter sich, war aber trotz bester Heiratgelegenheiten 
ledig geblieben, weil er als Hausfreund einer Dame hängen geblieben war. 
Dies Verhältnis hatte ihm seinerzeit in der Gesellschaft oft empfindliche 
Verlegenheiten bereitet und bewirkt, daß er später an jeder für ihn in 
Betracht kommenden Heiratpartie etwas auszusetzen fand. Dennoch 
hielt er sich in seinem Junggesellenstand für glücklich, bis sich das Heran- 
nahen des Greisenalters deutlich bemerkbar machte und sich die stille 
Hoffnung, doch noch unter den Pantoffel zu kommen, nicht mehr länger 
aufrechterhalten ließ. 

Bei latent Homosexuellen, die viel häufiger zu sein 
scheinen, als man im allgemeinen annimmt, kann eine ganz besondere 
und interessante Form von Lebenslüge dadurch zustande kommen, 
daß sich die Kranken selber irrtümlicherweise für heterosexuell halten. 

In meinen Fällen ließ sich immer nachweisen, daß der latenten 
Homosexualität eine infantile inzestuöse Libidoübertragung auf die 
Mutter resp. den Vater zugrunde lag. 

Latent ist in diesen Fällen die Homosexualität insoweit, als sie 
den Kranken unbewußt bleibt und nach außen keine Erscheinungen 
macht. Die Leute fallen höchstens dadurch auf, daß sie ohne plausiblen 
Grund ledig bleiben. 

Männer erklären ihre Heiratscheu anderen und sich selber damit, 
daß zu diesem Schritt imm er noch Zeit genug sei, daß es ihnen an 


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Bertschinger, 


Bekanntschaft fehle, daß sie zum Heiraten keine Zeit haben, oder 
daß ihre Position ihnen noch nicht erlaubte, eine Familie standes¬ 
gemäß zu erhalten. 

In ihrem Junggesellenleben bleiben sie meistens keusch und 
begründen ihre Sittenreinheit mit hygienischen, ethischen oder ästheti¬ 
schen Erwägungen. 

Nicht so selten verloben sie sich dann in späterem Alter allen 
unerwartet doch noch und gehen in der Wahl ihrer Frauen viel weniger 
sorgfältig zu Werke, als man gerade ihnen zugetraut hätte. 

Viele von ihnen bemerken dann mit Schrecken, daß sich beim 
Zusammensein mit ihrer Geliebten keine sexuellen Erregungen ein¬ 
stellen. Sie bekommen Angst, infolge von Masturbation impotent 
geworden zu sein, laufen gewöhnlich zuerst zum Urologen, werden 
hypochondrisch, angstneurotisch und kommen zum Nervenarzt. 

Bei anderen zeigen sich Impotenz resp. Frigidität und angst- 
neurotische Symptome erst in der Ehe. 

Für diese sehr häufige Art Lebenslüge will ich mich auf die Wieder¬ 
gabe je eines männlichen und eines weiblichen Beispieles beschränken. 

34. Ein 26 jähriger Mann kam in Behandlung, weil er seit einem 
Vierteljahr beim Arbeiten, in Gesellschaft und beim Schachspielen Kopf¬ 
druck habe und unruhig schlafe. Er wollte von diesen Übeln befreit sein, 
weil er verlobt sei und nächsten heiratens wolle. Er hielt sich sonst für 
ganz normal, habe als Knabe onaniert, später mit Dirnen verkehrt und 
sich Maitressen gehalten und sei dabei immer potent gewesen. Er wollte 
sich nicht näher untersuchen lassen, verlangte nur diätetische Vor¬ 
schriften. 

Nach einiger Zeit kam er wieder in etwas verschlimmertem Zustande 
und gab an, er sei sexuell doch nicht ganz normal, er habe beim Koitus 
kein Wollustgefühl, ein solches trete nur auf, wenn er sich von einer Dirne, 
womöglich durch die Kleider hindurch, masturbieren lasse, weil dann 
die Friktion energischer sei. An seinem Übelbefinden sei wohl die Angst 
schuld, sich vor seiner zukünftigen Frau zu blamieren, der er doch nicht 
wohl solche Traktiken zumuten dürfe, wie er sie von seinen Maitressen 
habe ausüben lassen. Bis jetzt hatte er allerdings gemeint, er ziehe diese 
Manipulation dem Koitus nur vor, um seine Maitresse nicht zu schwängern, 
und bei Dirnen aus Appetitlichkeitsgründen. 

Die Analyse ergab einen ausgeprägten Analcharakter und schlecht 
verdrängte homosexuelle Regungen. Die Heilung erfolgte nach dem 
Wiederbewußtwerden folgender Erinnerung: 

Als 3 jähriger Bub liebte er es, morgens zum Vater ins Bett tu gehen. 


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Über Gelegcnheitgursachen gewisser Neurosen und Psychosen. 613 

Eines Tages bemerkte der Vater aber, daß das Bübchen mit allen Zeichen 
deutlich wollüstiger Erregung seinen wohl erigierten Penis an den väter¬ 
lichen Schenkeln rieb. 

Mein weibliches Beispiel ist um so interessanter, als sich die 
Täuschung, heterosexuell zu empfinden, auf den lebhaften Wunsch 
stützte, eigene Kinder zu bekommen, der auch seinerseits wieder auf 
Selbsttäuschung beruhte, denn es lagen ihm keine mütterlichen, 
sondern pervers sexuelle Regungen zugrunde. 

35. Eine 28jährige Frau bekam somnambule Zustände, in denen 
sie allerlei merkwürdige Handlungen ausführte. Sie stand z. B. nachts 
auf, ging in den Garten und rief den Namen eines Kindes, das hier und da 
bei ihr in den Ferien ist; oder sie räumte den Bücherschrank aus und trug 
ihrem Mann ein Buch ins Bett, „die Seele meines Kindes“. 

Sie selber glaubt den Grund dieser auffallenden Erscheinungen 
darin suchen zu müssen, daß ihre sonst glückliche Ehe infolge mangel¬ 
hafter Potenz ihres Mannes kinderlos blieb und zu bleiben droht. Auch die 
oberflächliche Analyse schien ihrer Vermutung recht zu geben. 

Bei tieferem Eingehen zeigte es sich aber, daß ihre Meinung, psycho- 
sexuell ganz normal veranlagt zu sein und unter der Kinderlosigkeit zu 
leiden, eine arge Lebenslüge war. 

Denn es trat allmählich klar zutage, daß die Frau von Anfang an 
sexuell frigid gewesen war, daß ihr ablehnendes Verhalten einen Teil der 
Schuld an der mangelnden Potenz ihres Mannes trug. 

Ihre Libido war noch stark homosexuell bei einer Lehrerin ver¬ 
ankert, und schon in ihrem 16. Lebensjahr hatte sie vorübergehend genacht- 
wandelt, um immer wieder ins Schlafzimmer dieser Lehrerin eindringen 
zu können. Aber auch kleine Mädchen kamen für sie als Sexualobjekt 
in Betracht, was ihren Wunsch nach Kindern in einem ganz besonderen 
Lichte erscheinen ließ. 

Vollständig geheilt wurde sie erst, als die allen diesen Erscheinungen 
zugrunde liegende inzestuöse Übertragung auf den Vater und später den 
älteren Bruder wieder bewußt und rückgängig gemacht werden konnte. 

Auch diese Frau hatte einen ihrem Vater möglichst unähnlichen, 
etwas waschlappigen Mann „aus Mitleid“, wie sie meinte, „geheiratet“, 
weil man durch eine Ehe mit einem solchen Pseudomanne dem Vater 
eben nicht eigentlich untreu wird. 

Unmittelbar vor dem Aufbruch zur Hochzeitreise mußte Pat. noch 
einmal durch das Schlafzimmer ihrer Eltern gehen. Dabei stieg ihr der 
Gedanke auf, wie viel schöner es doch wäre, zum Vater ins Bett zu gehen, 
als mit ihrem Manne verreisen zu müssen. 

Auch ein ehrbares, rechtschaffenes Leben ist 
manchmal nur eine Lebenslüge und beruht darauf, daß man die Welt 


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Bertschinger, 


und sich selber über seinen eigenen Charakter täuscht, bis dann bei 
irgendeinem Anlaß die wahre Natur zum Vorschein kommt oder 
als letzter verzweifelter Verdrängungsversuch eine Neurose oder 
Psychose ausbricht. 

36. Eine 53jährige Dienstmagd, die ein höchst ehrbares, arbeit¬ 
sames und frommes Leben hinter sich hatte, u. a. 21 Jahre lang die gleiche 
Stelle bekleidete, erkrankte nach dem Tode ihrer Mutter an nervösen 
Herzbeschwerden und im Anschluß an eine unglückliche Liebesaffäre 
ihrer Nichte, die sie sehr aufregte, an einer äußerst schweren präsenilen 
Melancholie, in der sie besonders dadurch auffiel, daß sie die tollsten und 
perversesten sexuellen Zwangsgedanken, Wahnideen und Wünsche äußerte. 
Sie mußte sich z. B. immer vorstellen, wie es wohl wäre, wenn der liebe 
Gott und Jesus mit Tieren sexuell verkehren würden, oder wenn Männer 
und Knaben in den Abendmahlskelch urinierten. Sie roch Menschen- 
fleisch, spürte es im Munde, wurde von Insekten gefressen, wollte dem 
lieben Gott die Finger oder ein Messer in die Augen stecken, dem Heiland 
einen Box oder Fußtritt geben, wurde vom Teufel geschwächt usw. 

In der Rekonvaleszenz erzählte sie, sie sei im Alter von 4—5 Jahren 
von einem Kindermädchen sexuell gereizt und mißbraucht worden, habe 
dann selber mit einem Knaben Schweinereien gemacht, habe Käfer und 
Fliegen gefangen und sie an die Geschlechtsteile gesetzt und auch auf 
andere Tiere sexuelle Gelüste gehabt. Mit 9 Jahren sei sie von einem 
Manne im Wald sexuell mißbraucht worden und habe sich dem Verführer 
dann noch mehrmals hingegeben. 

Noch mit 15 Jahren Heß sie sich von Knaben betasten und kniff 
die ihr anvertrauten kleinen Kinder aus Wollust in den Leib. Dann wurde 
sie brav. Aber mit 36 Jahren, also zur Zeit des letzten Heirattermins, 
verkehrte sie sexuell mit ihrem Schwager, und 2 Jahre später verlobte 
sie sich brieflich mit einem 76jährigen Manne, der ihr feurige Briefe 
schrieb. Zu einer Heirat kam es aber nicht; sie bekam Angst, wurde wieder 
brav und blieb es bis zum Ausbruch der Psychose im beginnenden 
Greisenalter. 

Das im Präsenium so regelmäßige Aufflackern der sexuellen Triebe 
hatte bei ihr die ursprüngliche hypersexuelle Anlage wieder zum Erscheinen 
gebracht. Die gewohnte Art der Verdrängung durch Sublimierung in den 
Beruf genügte nicht mehr; an Stelle der Lebenslüge trat die psychotische 
Wunscherfüllung. 

Zwei andere Fälle betreffen ebenfalls hypersexuell veranlagte 
Frauenspersonen, die sich in der Lebenslüge gefielen, asexuell zu sein. 
Ihre Selbsttäuschung hielt aber nicht so lange vor wie im voran¬ 
gehenden Fall. Die erste stärkere erotische Regung brachte sie als 
Lüge zum Bewußtsein und verursachte psychotische Erscheinungen, 


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Über Gelegenheitsursachen gewisser Neurosen und Psychosen. ßJ5 


die deutlich die verdrängten sexuellen Wünsche zum Ausdruck 
brachten. 

37. 38. Es handelte sich um zwei junge Dienstmädchen, die in 
frohester Jugend sittlich verwahrlost, sich später durch peinliche Ord¬ 
nungsliebe, Gewissenhaftigkeit und Empfindlichkeit gegen sexuelle Reden 
auszeichneten. Die eine erkrankte akut an Dementia praecox, als sie 
bemerkte, daß ihre Verliebtheit in den Sohn ihrer Dienstherrschaft durchaus 
nicht erwidert wurde, aussichtlos und somit ganz unerlaubt sei. 

Bei der anderen traten angstneurotische Zustände auf, als sie merkte, 
daß sie sich in einen jungen Mann nur deshalb vom bloßen Ansehen ver¬ 
liebt hatte, weil er ihrem ersten Verführer glich, den sie nur noch zu ver¬ 
abscheuen geglaubt hatte. 

Auch auf anderem als sexuellem Gebiete gibt es eine Lebens- 
lüge des Bravseins. 

Diese Art Lebenslüge wird wohl meistens durch die Hoffnung 
auf reichliche Belohnung im Diesseits, oder bei frommen Menschen 
auch im Jenseits gestützt. Sie scheint mir unter den Gesunden häufig 
und imm er verbunden zu sein mit großer Empfindlichkeit gegen die 
Fehler anderer. Bewußte Heuchelei möchte ich solchen Menschen 
aber nicht vorwerfen. Sie sind von ihrer Tugendhaftigkeit um so mehr 
überzeugt, als ihr Bravsein sie ja große Mühe kostet. 

Leider habe ich hierfür nur ein einziges Beispiel finden können. 

39. Es betrifft einen jungen Hebephrenen, der draußen und in der 
Anstalt bald alle möglichen Tugenden nicht nur zur Schau stellt, sondern 
auch zu besitzen scheint, bald ein in jeder Hinsicht unangenehmer und 
nichtsnutziger Geselle ist. Der Umschlag vom tugendhaften Zustand 
ins Gegenteil leitet sich immer mit Klagen über mangelnde Anerkennung 
und Liebe seitens der Person aus, der zu Liebe er sich kurze Zeit für brav 
gehalten und entsprechend aufgeführt hatte. 

Die Fälle, die ich hier mitgeteilt habe, waren symptomatologisch 
sehr verschieden; Hysterie, Angstneurose, Zwangsneurose, Schizo¬ 
phrenie, Spätkatatonie, manisch-depressives Irresein, präsenile Melan¬ 
cholie waren vertreten. 

Ich hoffe aber doch, daß es mir gelungen sei zu zeigen, daß die 
letzten Ursachen, welche den manifesten Krankheitausbruch herbei¬ 
führten, etwas Gemeinsames hatten. Immer war es das Bewußtwerden 
des Widerspruches zwischen den, sagen wir ganz allgemein, Glücks¬ 
ansprüchen der Kranken und dem ihnen in Wirklichkeit zuteil ge¬ 
wordenen Glück. Gemeinsam war allen meinen Fällen auch, daß dieser 


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Bertschinger, 


Widerspruch von jeher bestand, die Kranken es aber verstanden, ihn 
mit Hilfe verschiedener Mechanismen bald kürzer bald länger vor sich 
selber mehr oder weniger geheimzuhalten. Dieses oft ziemlich be¬ 
wußte Geheimhalten nannte ich Lebenslüge. Die psychischen Mecha¬ 
nismen waren dieselben, die uns auch aus der Psychologie der Neu¬ 
rosen und Psychosen bekannt sind, Ersatzbildungen, Sublimierungen, 
Affektverschiebungen, Konversion psychischer Konflikte in körper¬ 
liche Leiden usw. 

Sicher kommen alle diese Mechanismen des Selbstbetruges auch 
bei ganz gesunden Menschen vor, und auch meine Kranken galten 
noch als psychisch gesund, solange es ihnen gelang, den Widerspruch 
zwischen Wunsch und Realität mit relativ schwachen Mitteln aus 
ihrem Bewußtsein zu verdrängen resp. zu verschleiern. Manifeste 
Krankheitsymptome traten erst auf, wenn dieser Widerspruch ununter- 
drückbar wurde oder die kleinen Mittel versagten. 

Bei der Kürze, in die ich meine Krankengeschichten zusammen¬ 
drängen mußte, war es leider nicht möglich, so deutlich, wie ich es 
gerne getan hätte, zu zeigen, daß auch die manifesten neurotischen 
und psychotischen Symptome nichts Anderes waren, als der Ausdruck 
der in der Wirklichkeit unerfüllt gebliebenen Glücksansprüche und 
der Versuch, diesen Widerspruch gewaltsam aus der Welt zu schaffen, 
sei es durch neurotische Konversions- und Verdrängungsversuche, 
sei es durch schizophrene Umgehung und Verneinung des Konfliktes, 
sei es durch paranoide Entstellung der Wirklichkeit im Sinne des 
Wunsches oder auch durch den noch so wenig analysierten Mechanis¬ 
mus der manischen oder melancholischen Reaktion. Daß die manische 
Ideenflucht und Vielgeschäftigkeit dazu dienen kann, die eigene 
Aufmerksamkeit von einer bestimmten peinlichen Realität abzulenken, 
glaube ich an meinem einzigen manisch-depressiven Falle gezeigt zu 
haben. Die melancholische Depression aber war in mehreren meiner 
Fälle eigentlich nichts Anderes als der adäquate Ausdruck für das 
Bewußtwerden des Widerspruches zwischen der unerfreulichen Wirk¬ 
lichkeit und dem bisher vorgetäuschten Glück. Sie hat aber, und das 
erklärt vielleicht in gewissen Fällen die Dauer des depressiven Affektes, 
gewisse für den Kranken vorteilhafte Nebenerfolge. Sie erlaubt z. B. 
auf soi-disant anständige Weise der unleidlich gewordenen Wirklichkeit 
durch Selbstmord aus dem Wege zu gehen. Sie erleichtert aber auch 


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Über Gelegenheitsurs&chen gewisser Neurosen und Psychosen. 617 

wie jede andere „Krankheit“ eine weniger gewaltsame Flucht aus der 
Wirklichkeit. 

Warum nun bei der großen Ähnlichkeit der allen Neurosen und 
Psychosen zugrunde liegenden psychologischen Konflikte und der 
äußeren und inneren Umstände, die ihren schließlichen Ausbruch 
herbeiführen, das eine Mal diese, das andere Mal jene klinische Krank¬ 
heit ausbricht, darüber gibt mein Material noch keinen Aufschluß. 

Nur vermutungweise möchte ich folgendes andeuten. Jeder 
Neurose und Psychose liegt die Unfähigkeit zugrunde, gewisse Glücks - 
ansprüche, hauptsächlich psychosexueller Natur, den geringen Glücks - 
erfüllungsmöglichkeiten der Wirklichkeit anzupassen. Diese An¬ 
passungsunfähigkeit beruht vielleicht zum Teil auf ererbter Disposition, 
zum großen Teil aber ist sie eine durch frühzeitige Milieueinflüsse 
erworbene. Wohl fast immer braucht es aber noch weiterer äußerer 
Umstände, Lebenslagefaktoren im weitesten Sinne des Wortes, damit 
ans der ursprünglichen Anpassungsunfähigkeit eine manifeste Krank¬ 
heit hervorgght. Welche es sein wird, das scheint mir nicht von exo¬ 
genen Einflüssen bestimmt zu werden. Ich neige vielmehr der Ansicht 
zu, daß die Art und Weise, in der ein Mensch auf die Unvereinbarkeit 
seiner Glücksansprüche mit der Wirklichkeit reagiert, auf einer an¬ 
geborenen, vererbbaren Disposition zu einer ganz bestimmten Reak¬ 
tionsweise beruht. 


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Die Bedeutung Schopenhauers für die Psychiatrie 1 ). 

Von 

Oberarzt Dr. Otto Jnlinsbnrger, Steglitz. 

Wenn ich über die Bedeutung Schopenhauers für die Psychiatrie 
sprechen will, so gibt die unmittelbare Gegenwart, der augenblickliche 
Stand der Entwicklung unserer Wissenschaft einen besonderen Anreiz 
und eine innere Berechtigung. 

In seinem klassischen „Grundriß der Psychiatrie“ äußerte Wemicke 
noch im Jahre 1900 über die Psychiatrie: „Sie ist eigentlich ein Teil¬ 
gebiet der inneren Medizin. Leider ist es zugleich dasjenige Gebiet, 
welches in seiner Entwicklung zurückgeblieben ist und noch jetzt 
auf einem Standpunkt steht, wie etwa vor einem Jahrhundert die 
gesamte übrige Medizin“. Der Forschung und genialen Arbeitskraft 
Wemicke s verdankt die Psychiatrie eine große Förderung und eine 
unvergängliche Vertiefung und Bereicherung. Die wissenschaftliche 
Psychiatrie hat einen raschen und glänzenden Aufstieg genommen. 

Man hatte bisher in der Psychiatrie das Hauptaugenmerk auf 
den freilich wichtigen Faktor der Ätiologie gerichtet und die ver¬ 
schiedenen Gifte berücksichtigt; die anorganischen und organischen 
Körper wurden in weitem Ausmaße in Betracht gezogen; die wissen¬ 
schaftliche Vertiefung und auch die praktische Inangriffnahme fanden 
Förderung und stetige Entwicklung. Abgesehen von den ätiologischen 
Faktoren, welche für geistige Erkrankungen in Frage kommen, wandte 
sich die Aufmerksamkeit der Forscher dem Verlauf der verschiedenen 
psychischen Erkrankungen zu. Es gelang der unermüdlichen Arbeit, 
bestimmte Krankheitbilder herauszufinden und abzusondern, und 
unstreitig hat diese klinische Seite der psychiatrischen Wissenschaft 
ganz hervorragende Verdienste sich erworben. Wemicke ging von dem 

l ) Nach einem Vortrage auf der Generalversammlung der Schopen¬ 
hauer-Gesellschaft zu Kiel 1912. 


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Die Bedeutung Schopenhauers für die Psychiatrie. 


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Studium der Gehirnlokalisation aus und hatte den Gedanken bis in 
die äußerste Konsequenz hinein verfolgt, daß der XJngleichwertigkeit 
der Großhirnrinde, daß der physiologisch abgrenzbaren verschiedenen 
Leistung der letzteren auch eine lokalisatorisch zu begreifende Gliede¬ 
rung innerhalb des seelischen Geschehens entsprechen müsse. 

Wer nicke teilte unser Bewußtsein in drei Abschnitte ein; für 
ihn stellte der Inhalt des Bewußtseins die Summe aller Vorstellungen 
dar, er unterschied davon drei Kategorien, je nachdem sie eine Vor¬ 
stellung von der Außenwelt, vom eigenen Körper und der sogenannten 
Persönlichkeit oder Individualität, d. h. die Summe der individuellen 
Erinnerungen eines Menschen zum Inhalt haben. Da ist es interessant, 
zu sehen, wie auch Schopenhauer das Bewußtsein einteilt in die Er¬ 
kenntnis der Außenwelt, welche auch das Bewußtsein anderer Dinge 
im Gegensatz des Selbstbewußtseins bezeichnet. Das Bewußtsein 
anderer Dinge, wie Schopenhauer es nennt, deckt sich aber vollständig 
mit dem, was Wemicke als ällopsychisch kennzeichnet. Und das 
Bewußtsein des eigenen Selbst, das Selbstbewußtsein, deckt sich mit 
der Wemickeschen Bezeichnung des Autopsychischen. Zum Be¬ 
wußtsein anderer Dinge gehört aber im Sinne Schopenhauers schon 
unser Bewußtsein vom eigenen Körper; aus praktischen Gründen 
kann man letzteres aber von dem Bewußtsein der Außenwelt trennen 
und so in der Tat das Bewußtsein anderer Dinge sondern in die Vor¬ 
stellung vom eigenen Körper, gleich somatopsychisch, und die Vor¬ 
stellung von der Außenwelt, gleich allopsychisch. Diese Einteilung 
ist in der Tat außerordentlich fruchtbar bei der Darstellung und 
Zergliederung der krankhaften psychischen Erscheinungen. 

Wir werden noch weiterhin auf bemerkenswerte verwandtschaft¬ 
liche Züge in der scheinbar und vielfach auch tatsächlich so divergenten 
Auffassungsweise des Psychiaters Wemicke 1 ) und des Philosophen 
Schopenhauer stoßen. 

Wenn Wemicke das Gehirn einem Weichtier vergleicht, welches 
mit Fühlfäden, den Sinnesnerven, ausgestattet ist, so finden wir, 

*) Schopenhauer sagt: Die Erinnerungen eines Alten sind um so 
deutlicher, je weiter sie zurückliegen, u. werden es um so weniger, je 
näher sie der Gegenwart kommen, so daß, wie seine Augen, auch sein Ge¬ 
dächtnis fernsichtig (rptsßSs) geworden ist. — Hier muß man an das 
von Wemicke als Presbyophrenie bezeichnete Krankheitbild denken. 

Zeitschrift für Psychiatrie 43 


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Juliusburger, 


wie bereits Schopenhauer sich genau derselben Ausdrucksweise bedient, 
wenn er sagt: „Das Gehirn streckt seine Fühlfäden, 
die Sinnesnerven, in die Außenwelt“. 

Der Versuch Wemickes, das Grundgesetz der Gehirnlokalisation 
auch auf das psychische Gebiet zu übertragen, dürfte zunächst Er¬ 
staunen erwecken und den Verdacht erregen, als sei das ganze System 
Wemickes aufgebaut auf einem massiven und plumpen Materialismus. 
Aber auch Schopenhauer ist diesem Vorwurf nicht entgangen. Man 
denke nur an seine Bemerkung, daß der Intellekt eine bloße Funktion 
des Gehirns ist, welches ihm ebenso vorhergängig ist, wie der Magen 
der Verdauung oder die Körper ihrem Stoß, und mit welchem er im 
Alter verwelkt und versiegt. Den Intellekt nennt Schopenhauer an 
einer anderen Stelle physiologisch als eine Funktion des Organs des 
Leibes: „Der Intellekt ist physisch wie die Verdauung; wie gute 
Verdauung einen gesunden, starken Magen, wie Athletenkraft mus¬ 
kulöse, sehnige Arme erfordert, so erfordert außerordentliche Intelligenz 
ein ungewöhnlich entwickeltes, schön gebautes, durch seine Textur 
ausgezeichnetes und durch energischen Pulsschlag belebtes Gehirn“. 
Aber wir wissen sehr wohl, daß Schopenhauer hier nur von einem 
bestimmten Standpunkte aus sprach, dessen Umgrenzung und Ein¬ 
seitigkeit ihm sehr wohl bewußt waren. Und diese materialistische 
Auffassung des Intellekts wurde von ihm in einer höheren und um¬ 
fassenderen Erkenntnis der Vorgänge wieder aufgelöst. Im 20. Kapitel 
des II. Bandes der „Welt als Wille und Vorstellung“ heißt es: 

„Was im Selbstbewußtsein, also subjektiv, der Intellekt ist, das 
stellt im Bewußtsein anderer Dinge, also objektiv, sich als das Gehirn 
dar. Und was im Selbstbewußtsein, also subjektiv, der Wille ist, das stellt 
im Bewußtsein anderer Dinge, also objektiv, sich als der gesamte Organis¬ 
mus dar.“ An einer andern Stelle sagt der Philosoph: 

„Die scheinbare Verschiedenheit zwischen Willensakt und Leibes¬ 
aktion entsteht allein daraus, daß hier das eine und selbe in zwei verschie¬ 
denen Erkenntnisweisen, der inneren und der äußeren, wahrgenommen 
wird.“ 

Klar und deutlich wird die Anschauungsweise Schopenhauers 
mit den Worten wiedergegeben: „Was von innen gesehen das Er¬ 
kenntnisvermögen ist, das ist von außen gesehen das Gehirn.“ x ) Und 

1 ) Mit Recht sagt Möbius: Von vornherein war mir klar, daß der 
Kern der theoretischen Philosophie bei Schopenhauer u. bei Fechner 
derselbe sei. 


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Die Bedeutung Schopenhauers für die Psychiatrie. 


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noch eine Äußerung Schopenhauers sei hinzugefügt: „Also was objektiv 
Materie ist, ist subjektiv Wille“. 

Aus dieser kurzen Zusammenstellung von Aussprüchen Schopen¬ 
hauers, welche sich im zweiten Bande seines Hauptwerkes finden, 
geht klar und deutlich hervor, daß er hier eine Identitätslehre vertritt, 
welche in der Gegenwart von psychiatrischer Seite in einer Reihe von 
Abhandlungen, gestützt auf die neuzeitlichen Ergebnisse der Gehirn¬ 
anatomie, der Gehirnphysiologie und der Psychopathologie, von 
August Ford mit allem Nachdruck vertreten wird. 

Eine einfache Substanz ah Seele kann die wissenschaftliche 
Psychiatrie nicht mehr anerkennen. Und wenn Schopenhauer sagt: „Der 
Begriff einer Seele ist nicht nur als transzendente Hypostase unstatthaft, 
sondern er wird zur Quelle unheilbarer Irrtümer, da er in seiner einfachen 
Substanz eine unteilbare Einheit der Erkenntnis und des Willens vorweg 
feststellt, deren Trennung gerade der Weg zur Wahrheit ist“, so können 
wir ihm von den Erfahrungen der Psychiatrie her nur zustimmen. Frei¬ 
lich gibt es innerhalb der wissenschaftlichen Psychiatrie eine Schule, 
an deren Spitze Ziehen steht, welche den Willen als einen bestimmten 
psychischen Vorgang nicht gelten läßt, sondern in ihm nur eine in einer 
Wort Vorstellung zusammengefaßte Vereinheitlichung gewisser Vorstellungen 
nebst den zugehörigen Gefühlstönen erblickt. Es kann nicht in diesem 
Zusammenhänge meine Aufgabe sein, diese Auffassung zu widerlegen, 
sondern ich muß mich mit der Bemerkung begnügen, daß auch in der 
Psychiatrie nur eine voluntaristische Auffassung den Tatsachen genügen 
kann. Freilich darf man nicht übersehen, was Schopenhauer doch schon 
so klar und deutlich ausgesprochen hat, „nicht nur das Wollen und Be¬ 
schließen im engsten Sinne, sondern auch alles Streben, Wünschen, Fliehen 
Hoffen, Fürchten, Lieben, Hassen, kurz alles, was das eigene Wohl und 
Wehe, Lust und Unlust unmittelbar ausmacht, ist offenbar nur Affektion 
des Willens, ist Regung, Modifikation des Wollens und Nichtwollens, 
ist eben das, was, wenn es nach außen wirkt, sich als eigentlicher Willensakt 
darstellt“. Und an einer anderen Stelle sagt Schopenhauer: .,1m weitesten 
Sinne ist Sache des Willens: Wunsch, Leidenschaft, Freude, Schmerz, 
Güte, Bosheit“. Im Sinne Schopenhauers gehört natürlich auch in den 
Bereich des Willens unser Fürchten Hoffen und Wünschen. „Die Hoffnung 
läßt uns, was wir wünschen“, führt Schopenhauer aus, „die Furcht, was 
wir besorgen, als wahrscheinlich und nahe erblicken, und beide vergrößern 
ihren Gegenstand. Piaton hat sehr schön die Hoffnung den Traum des 
Wachenden genannt. Ihr Wesen liegt darin, daß der Wille seinen Diener, 
den Intellekt, wenn dieser nicht vermag, das Gewünschte herbeizuschafTen, 
nötigt, es ihm wenigstens vorzumalen, überhaupt die Rolle des Trösters 
zu übernehmen, seinen Herrn, wie die Amme das Kind, mit Märchen zu 

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Juliusburger, 


beschwichtigen und diese aufzustutzen, daß sie Schein gewinnen, wobei 
nun der Intellekt seiner eigenen Natur, die auf Wahrheit gerichtet ist, 
Gewalt antun muß, indem er sich zwingt, Dinge, die weder wahr noch 
wahrscheinlich, oft kaum möglich sind, seinen eigenen Gesetzen zuwider 
für wahr zu halten, um nur den unruhigen und unbändigen Willen auf 
eine Weile zu beschwichtigen und zu beruhigen und einzuschläfern. Hier 
sieht man deutlich, wer Herr und wer Diener ist.“ Mühelos und frucht* 
bringend wahrlich genug läßt sich von dieser psychologischen Erkenntnis 
Schopenhauers die Linie ziehen zu einer in der Gegenwart immer mehr 
und mehr sich durchringenden Auffassung gewisser psychischer Phä¬ 
nomene. 

In einer wichtigen Arbeit über die Freudschen Mechanismen 
in der Symptomatologie von Psychosen sagt Bleuler: 

Freud behauptet, daß unsere Psyche die Tendenz hat, das Weltbild 
so auszuarbeiten, wie es unsern Wünschen und Bestrebungen entspricht. 
Diese Neigung kommt ungehemmt zum Vorschein in allen Situationen, 
wo das durch die äußeren Verhältnisse gebotene Denken mit seiner logi¬ 
schen Anknüpfung an die Wirklichkeit gestört ist. Das ist namentlich 
der Fall im Traum, dann aber auch bei allen den psychischen Tätigkeiten 
des Wachens, die nicht von der Aufmerksamkeit geleitet werden, bei 
unseren unbewußten Bewegungen, dem unaufmerksamen Sprechen und 
Schreiben. Unter pathologischen Umständen hat Freud diese Tendenz 
bereits in der Symptomatologie der Neurosen nachgewiesen und die 
gewonnenen Kenntnisse auch therapeutisch zu verwerten gesucht. Noch 
nicht bekannt ist aber, daß die gleichen Mechanismen auch in der Pathologie 
der anderen Geisteskrankheiten eine große Rolle spielen. 

Wie Freud und Bleuler ausführen, beherrschen im wachen Leben 
unsere Wünsche und Befürchtungen, unsere Abneigung und Zu¬ 
neigung das Gedächtnis, unsere halbbewußten Handlungen, ja unsere 
Auffassungen. Unser Gedächtnis gestaltet oft die Erinnerungen 
nach unseren Wünschen um. Werden wir nicht da sofort erinnert 
an die Ausführungen Schopenhauers in seiner Darstellung des Primat 
des Willens im Selbstbewußtsein? Unter anderem heißt es hier: 

Also bloß die Beziehung der Sache auf meinen Willen hat sich, 

nachdem sie selbst mir entschwunden ist, im Gedächtnis erhalten. 

also bloß den Anklang des Willens hat das Gedächtnis aufbewahrt, nicht 
aber das, was ihn hervorrief. Man könnte das, was diesem Hergange 
zugrunde liegt, das Gedächtnis des Herzens nennen, dasselbe ist viel intimer 
als das des Kopfes. Der Verstand des stumpfesten Menschen wird scharf, 
wenn es sehr angelegene Objekte seines Wollens gilt. Er merkt, beachtet 
und unterscheidet jetzt mit großer Feinheit auch die kleinsten Umstände, 
welche auf sein Wünschen oder Fürchten Bezug haben. 


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Die Bedeutung Schopenhauers für die Psychiatrie. 


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In der erwähnten Arbeit führt dann Bleuler weiter aus: „Es bildet 
unsere Affektivität“, worunter nichts anderes als der ganze Umfang 
des Willens im Sinne Schopenhauers zu verstehen ist, „eine unbewußte 
Symbolik aus, die unsere Wünsche und Befürchtungen ausdrückt.“ 
Und Bleuler fügt hinzu, daß es eines Entdeckeigenies bedurfte, nämlich 
des Wiener Forschers Freud, diese Sprache zum ersten Male zu ver¬ 
stehen. 

Der Inhalt vieler Wahnideen ist nach der Auffassung Freud - 
Bleulers nichts anderes als ein schlecht verhüllter Wunschtraum, 
der durch die von der speziellen Krankheit gegebenen Mittel (Hallu¬ 
zination der verschiedenen Sinne, Wahnideen) einen Wunsch als erfüllt 
darzustellen sucht — darzustellen sucht, denn auch im Traum kann 
der Mensch nicht immer ganz vergessen, daß seinen Wünschen Hinder¬ 
nisse im Wege stehen. Diese wieder werden als Verfolgungen sym¬ 
bolisiert, gerade wie die gleichen Erfahrungen der Gesunden Ormuzd 
und Ahriman, Gott und den Teufel geschaffen haben. 

In einer Arbeit über das Buch des Staatsanwalts Erich Wulffen 
„Karl Hauptmann vor dem Forum der Kriminalpsychologie und 
Psychiatrie“ sagte ich: 

Die wahnhaften Schöpfungen sind unbewußte Vergegenständ¬ 
lichungen der aus dem Unterbewußten hervorbrechenden Wünsche. 
Solange die letzteren an der Herrschaft bleiben und das Kommando 
führen, kann keine Korrektur der Wahngebilde eintreten; nicht weil 
eine Schwäche der Intelligenz vorliegt, sondern weil die Korrektur an der 
Macht der Wünsche, also an der Energie des Willens scheitern muß. Das 
Unterbewußte wünscht und will eben keine Korrektur, bis andere Wünsch® 
die Oberhand gewinnen und ein Ausgleich stattfinden kann. Man darf 
nicht vergessen, daß der Wille, also der Wunsch, das Primäre, die Wurzel, 
der Intellekt das Sekundäre, die Krone darstellt. Der Wille hat nach 
Schopenhauer, nicht der Intellekt, das Primat. Mit der Anerkennung 
der grundlegenden und determinierenden Bedeutung des Wunschlebens, 
also der Affektion des Willens im weiteren Sinne des Wortes bahnt sich 
in der Psychiatrie eine neue und meiner Auffassung nach äußerst frucht¬ 
bare Auffassung der krankhaften Seelenvorgänge an. Jetzt wird erst 
Ernst gemacht mit der Überzeugung von der streng notwendigen und 
durchgängigen Bestimmung jedes psychischen Geschehens, der ehernen 
Gesetzmäßigkeit seines Ablaufs. „Das Gesetz der Kausalität“, sagt 
Schopenhauer, „kennt keine Ausnahme, sondern alles, von der Bewegung 
eines Sonnenstäubchens an, bis zum wohlüberlegten Tun des Menschen 
ist ihm mit gleicher Strenge unterworfen“. Der Determinismus steht fest. 


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Juliusburger, 


Seit den Forschungen Freuds haben wir gelernt, auch in der scheinbaren 
Sinnlosigkeit einer Geistesstörung einen tieferen, und nur dem oberfläch¬ 
lichen Blick verborgenen, sinnvollen Zusammenhang zu sehen. Das 
Gebahren und Treiben des Geisteskranken, seine Sinnestäuschungen und 
Wahnvorstellungen sind nicht das Erzeugnis eines flüchtigen Augenblicks, 
einer tollen Laune, einer zügellos gewordenen Phantasie; sie sind auch 
nicht zu begreifen als der zufällige Ausdruck einer Gehirnvergiftung oder 
als das Erzeugnis irgend einer Schädlichkeit, welche gerade an einer 
bestimmten, vielleicht jetzt oder später einmal lokalisatorisch abgrenz* 
baren Gehirnpartie seine Angriffsfläche hat. Die Ätiologie gibt uns keinen 
Einblick in das Getriebe des seelischen Lebens. Was uns bisher so einfach 
erschien, Genuß alkoholischer Getränke, alkoholische Vergiftung des 
Gehirns, durch Alkohol bedingte Entartung des Gehirns und als Folge¬ 
zustände krankhafte Seelenveränderungen, ist wieder zum Problem 
geworden, und es gilt erst einmal festzustellen, aus welchen seelischen 
Veranlagungen, Neigungen und Trieben heraus ein Mensch alkoholsüchtig 
wird, beziehungweise werden muß 1 ). Die Anatomie kann uns gar nichts 
aussagen über den lebendigen Gang seelischer Ereignisse; die Anatomie 
hat es immer nur mit Dauerzuständen, mit abgelaufenen Geschehnissen, 
mit fixierten Zuständen zu tun. Die Anatomie kann uns erst sagen, was 
am Ende der Geschehnisse sich körperlich darstellt, sie wird aber ewig 
stumm bleiben auf die Frage: wie vollzieht sich der Vorgang als solcher, 
denn dieser wird nur seelisch erlebt und kann nur durch den Analogie¬ 
schluß bei einem zweiten Individuum vorausgesetzt werden. Darum kann 
uns zur Auffassung und Beurteilung auch der seelischen Störungen nur 
die Psychologie verhelfen, wobei zu bemerken ist, daß auch die experi¬ 
mentelle Psychologie, trotz aller Anerkennung ihrer geistreichen Versuchs- 
anordnung und wertvollen Ergebnisse, nur an der Oberfläche streift und 
streifen kann. Darum verdanken wir eben den Forschungen Freuds und 
Bleulers so viel, weil sie wieder bei der Innenbetrachtung der Seelen - 
Vorgänge angeknüpft haben und hier wieder die ursprüngliche Quelle alles 
seelischen Geschehens, den Willen und seine verschiedenen Regungen 
und Strebungen aufdeckten. Und damit wieder zurück zu Schopenhauer, 
indem wir uns seinen Ausführungen über den Wahnsinn zuwenden. Wir 
dürfen natürlich nicht erwarten, daß der Philosoph uns etwa einen voll¬ 
ständigen Grundriß der Psychiatrie hinterlassen hat; aber wir müssen 
doch erstaunen, mit welch geradezu genialer Anschauung Schopenhauer 
den Geisteskranken gegenübergestanden hat. Er hat ohne Zweifel wirk¬ 
lich Geisteskranke gesehen und nicht nur über ihre Seelenzustände in 
seinem Studierzimmer spekulativen Gedanken nachgehangen. 

Schopenhauer unterscheidet den psychischen Ursprung des Wahn¬ 
sinns, wie er kurzweg summarisch die Geistesstörungen zusammenfaßt, 

M O. Juliusburger, Zur Psychologie der Dipsomanie, Ztrlbl. f. Psycho¬ 
analyse, 1912. 


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Die Bedeutung Schopenhauers für die Psychiatrie. 


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von den rein somatischen Ursachen der Seelenstörungen und führt die 
somatischen Ursachen auf Mißbildungen oder partielle Desorganisation 
des Gehirns oder seiner Hüllen, auch auf den Einfluß zurück, welchen 
andere krankhaft affizierte Teile auf das Gehirn ausüben. Jedoch werden 
nach ihm beiderlei Ursachen des Wahnsinns meistens voneinander parti¬ 
zipieren, zumal die psychische von der somatischen. Die Ausführungen 
Schopenhauers beziehen sich nur auf den psychischen Ursprung des Wahn¬ 
sinns. Er meint, daß heftiges, geistiges Leiden, unerwartete, entsetzliche 
Begebenheiten Wahnsinn veranlassen, „wenn ein solcher Kummer, ein 
solches schmerzliches Wissen oder Andenken so qualvoll ist, daß es 
schlechterdings unerträglich fällt und das Individuum ihm unterliegen 
würde, dann greift die dermaßen geängstigte Natur zum Wahnsinn, als 
zum letzten Rettungsmittel des Lebens. Der so gepeinigte Geist zerreißt 
nun gleichsam den Faden seines Gedächtnisses, füllt die Lücken mit 
Fiktionen aus und flüchtet so sich von dem seine Kräfte übersteigenden 
Schmerz zum Wahnsinn, — wie man ein vom Brande ergriffenes Glied 
abnimmt und es durch ein hölzernes ersetzt“. 

Schopenhauer spricht also hier mit klaren Worten von einer 
Flucht des Individuums in die Krankheit. Freud, Bleuler und die¬ 
jenigen, welche der Richtung dieser Forscher folgen, kamen unab¬ 
hängig von Schopenhauer von ganz anderen Betrachtungen und Er¬ 
kenntnissen ausgehend zu ganz der gleichen Formulierung wenigstens 
eines sehr wichtigen Teiles des krankhaften Seelenvorganges. Auch 
sie sprechen von einer Flucht der Persönlichkeit in die Krankheit als 
einem Ausgang aus sonst unüberwindbaren Konflikten, sehen also 
in der Krankheit eine Art Ventil, welches sich die Natur schafft, im 
gewissen Sinne eine Hilfsaktion, einen Rettungsversuch. Das gilt 
in gewissem Umfange von den Neurosen wie von den Psychosen. 

Etwas ausführlicher legt Schopenhauer seinen Gedanken über den 
Wahnsinn im zweiten Bande der „Welt als Wille und Vorstellung“, dar. 
Hier heißt es: „In jenem Widerstreben des Willens, das ihm Widrige in 
die Beleuchtung des Intellekts kommen zu lassen, liegt die Stelle, an 
welcher der Wahnsinn auf den Geist einbrechen kann. Jeder widrige 
neue Vorfall nämlich muß vom Intellekt assimiliert wer¬ 
den, das heißt im System der sich auf unseren Willen und sein Inter¬ 
esse beziehenden Wahrheiten eine Stelle erhalten, was immer Befriedigen¬ 
deres er auch zu verdrängen haben mag. Sobald dies geschehen ist, schmerzt 
er schon viel weniger; aber diese Operation selbst ist oft sehr schmerzlich, 
geht auch meistens nur langsam und mit Widerstreben von statten. In¬ 
zwischen kann nur, sofern sie jedesmal richtig vollzogen wurde, die Gesund¬ 
heit des Geistes bestehen. Erreicht hingegen, in einem einzelnen Falle, 
das Widerstreben und Sträuben des Willens wider die Aufnahme einer 


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Juliusbarger, 


Erkenntnis den Grad, daß jene Operation nicht rein durchgeführt wird; 
werden demnach dem Intellekt gewisse Vorfälle oder Umstände völlig 
unterschlagen, weil der Wille ihren Anblick nicht ertragen kann; wird 
alsdann, des notwendigen Zusammenhangs wegen, die dadurch entstandene 
Lücke beliebig ausgefüllt, — so ist der Wahnsinn da. Denn der Intellekt 
hat seine Natur aufgegeben, dem Willen zu Gefallen; der Mensch bildet 
sich jetzt ein, was nicht ist. Jedoch wird der so entstandene Wahnsinn 
jetzt zur Lethe unerträglicher Leiden. Er war das letzte Hilfsmittel 
der geängstigten Natur, das ist des Willens“. 

Und weiterhin fügt Schopenhauer hinzu: 

„Man kann also den Ursprung des Wahnsinns ansehen als ein gewalt¬ 
sames Sich-aus-dem-Sinne-schlagen irgend einer Sache, welches jedoch 
nur möglich ist mittels des Sich-in-den-Kopf-setzen irgend einer anderen“. 

In der Anschauung Schopenhauers finden wir bei näherem Zusehen 
unschwer zwei Auffassungen vereinigt, von denen die eine in der 
Psychiatrie bereits siegreich durchgedrungen ist, während die andere 
noch hart umfochten um ihre Daseinsberechtigung ringt, aber gleich¬ 
falls in absehbarer Zeit die Palme des Sieges empfangen wird. 

Schopenhauer spricht von Vorfällen, welche vom Intellekt assi¬ 
miliert werden müssen, damit die Gesundheit des Seelenlebens gewahrt 
bleibt. Gelingt es dem Bewußtsein nicht, bestimmte Ereignisse in sich 
aufzunehmen, so ist die Gelegenheit für den Ausbruch des Wahnsinns 
günstig. Zu dieser Meinung Schopenhauers findet sich nun eine auf¬ 
fallende Parallele in Wemickes Aufstellung seiner Lehre von den 
überwertigen Ideen. „Im allgemeinen“, sagt Wemicke , „können 
wir die überwertigen Vorstellungen als Erinnerungen an irgend ein 
besonderes affektvolles Erlebnis oder auch an eine ganze Reihe der¬ 
artiger zusammengehöriger Erlebnisse definieren.“ Wenn nun nach 
Wemicke eine solche Erinnerung oder ein solcher Erinnerungskomplex 
im Bewußtsein ein unassimilierbares Novum bleibt — man vergleiche 
bei Schopenhauer und Wemicke den identischen Vergleich mit dem 
Vorgang der Assimilation —, so ergibt sich eben eine Schwierigkeit 
der Angliederung an den alten Bewußtseinsinhalt; es kommt zu einer 
folgenschweren Störung im Assoziationsmechanismus. Bei krank¬ 
hafter Überwertigkeit der Vorstellungen erweisen sich die Gegen¬ 
vorstellungen als unzulänglich. Bei der Bildung der überwertigen 
Vorstellungen spielen Affekte mannigfaltiger Art die bestimmende 
und wertgebende Rolle. Schopenhauer hat meiner Auffassung nach 
also in der Tat in genialer und für ihn als Nichtfachmann erstaunlicher 


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Die Bedeutung Schopenhauers für die Psychiatrie. 


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Weise die fundamental wichtige Wemickesche Lehre von den über¬ 
wertigen Ideen vorweggenommen. Bei Schopenhauer wie bei Wemicke 
hängt das Zustandekommen der überwertigen Ideen mit einer Asso¬ 
ziationsstörung zusammen. So sehr Wemicke l ) auch sonst in einseitiger 
Weise intellektualistisch gesinnt war, so erkannte er doch auf dem Gebiet 
der Lehre von den überwertigen Vorstellungen die determinierende Be¬ 
deutung der affektiven Sphäre unseres Seelenlebens an. Schopenhauer 
hatte bereits die große Bedeutung der Gedankenassoziation zutreffend 
in einem besonderen Kapitel seines Hauptwerks gewürdigt. Aber 
er hatte auch sehr richtig erkannt, wie er sich ausdrückt, „was die 
Gedankenassoziation selbst in Tätigkeit versetzt, ist in letzter Instanz 
oder im Geheimen unseres Innern der Wille, welcher seinen Diener, 
den Intellekt, antreibt, nach Maßgabe seiner Kräfte Gedanken an 
Gedanken zu reihen, das Ähnliche, das Gleichzeitige zurückzurufen, 
Gründe und Folgen zu erkennen.“ Darüber aber ist Schopenhauer in 
bedeutsamer Weise noch hinausgegangen, indem er darlegt, daß wir 
oft vom Entstehen unserer tiefsten Gedanken keine Rechenschaft 
geben können, sie sind die Ausgeburt unseres geheimnisvollen Innern. 
Urteile, Einfälle, Beschlüsse steigen unerwartet und zu unserer eigenen 

Verwunderung aus jener Tiefe.; selten liegt der ganze Prozeß 

unseres Denkens und Beschließens auf der Oberfläche. Gewöhnlich 
geschieht in der dunklen Tiefe die Rumination des von außen erhaltenen 
Stoffes, durch welche er in die Gedanken umgearbeitet wird. Und dies 
geht beinahe so unbewußt vor sich, wie die Umwandlung der Nahrung 
in die Säfte und Substanzen des Leibes. Damit kommt Schopenhauer 
auf das wichtige Gebiet der unbewußten Seelentätigkeiten. Hier ist 
die Stelle gegeben, von wo aus die Linie zu Freud und denjenigen 
führt, die in seiner Richtung arbeiten. 

Um zu einem Verständnis der Neurosen und Psychosen zu 
kommen, genügt es nicht, allem die Phänomene des Oberbewußtseins 
in Betracht zu ziehen. Die symptomgestaltende und das Krankheit¬ 
bild mitschaffende Kraft des Unbewußten darf nicht vernachlässigt 
werden, wenn anders wir die bisher so völlig rätselhaften Vorgänge 

x ) Vgl. als Parallele zu Wernickes Auffassung des Rätsels des 
Selbstbewußtseins (Grundriß der Psychiatrie 1900, S. 58) die Aus¬ 
führungen Schopenhauers über den gleichen Gegenstand im 2. Bd. der 
Parerga $ 32. 


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Juliusburger, 


in der Entstehung der Neurosen und Psychosen entschleiern und 
begreifen wollen. 

In der oben angeführten Auffassung Schopenhauers über den 
Wahnsinn finden wir im Keime und doch bereits klar ausgesprochen 
die wichtige Lehre Freuds von der Verdrängung und der hierdurch 
hervorgerufenen Ersatzbildung. Sobald wir die Außenseite der Dinge 
verlassen, wo die Geschehnisse uns in körperlicher, somatischer Ob- 
jektivation entgegentreten, und auf die Innenseite, also in das Bereich 
der seelischen Ereignisse und Erlebnisse treten, begreifen wir mit 
Freud die Bildung der Neurosen und Psychosen als hervorgegangen 
aus schweren intrapsychischen Konflikten, welche bis in die Tiefe 
des Unbewußten hinabreichen. In den Psychosen objektiviert sich 
und spiegelt sich wider, freilich für das Individuum unbewußt, was 
in seinem Innersten miteinander kämpft und streitet, siegt und unter¬ 
liegt, zur Verdrängung gebracht, von neuem bestrebt ist, aufzutauchen. 

Eine wichtige und bedeutsame Quelle für diese intrapsychischen 
Konflikte ist in der Sexualität gegeben, wobei gleich scharf zu betonen 
ist, daß man hierbei nicht nur die einfache und grobe Sinnlichkeit, 
sondern auch wahrscheinlich in noch stärkerem Grade den psychischen 
Anteil in der Sexualität zu verstehen hat. Die Kenntnis dieser 
grundlegenden Tatsache verdanken wir den Forschungen Freuds , 
und es bleibt sein historisches Verdienst, uns hierüber die Augen 
geöffnet zu haben. Schopenhauer aber hat bereits die Bedeutung der 
Sexualität in ihrem ganzen Umfange und in ihrer vollen Tragweite 
durchschaut und in seiner glänzenden Art zur Darstellung gebracht. 
Er hält als notwendig für die energische Tätigkeit des Gehirns den 
Antagonismus des Genitalsystems: 

„Die Energie des Genitalsystems ist für die Gehirnentwicklung 
von fundamentaler Bedeutung“. „Der Geschlechtstrieb ist der Brenn¬ 
punkt des Willens, und die Auswahl in bezug auf denselben die Haupt¬ 
angelegenheit des natürlichen, menschlichen Willens.“ „Die Genitalien 
sind die Wurzeln, der Kopf ist die Krone.“ „Der Geschlechtstrieb ist 
anzusehen als der innere Schoß des Baumes, auf welchem das Leben des 
Individuums sproßt, wie ein Blatt, das vom Baume genährt wird und ihn 
zu nähren beiträgt.“ „Übertriebener Gebrauch jener Kraft verkürzt in 
jedem Alter das Leben, Enthaltsamkeit dagegen erhöht alle Kräfte, be¬ 
sonders aber die Muskelkräfte, weshalb sie zur Vorbereitung der griechischen 
Athleten gehörte. Alle Lebenskraft ist gleichsam durch Abdämmung 
gehemmte Gattungskraft.“ „Die Begierde des Geschlechts ist der Wunsch, 


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Die Bedeutung Schopenhauers für die Psychiatrie. 


629 


welcher selbst das Wesen des Menschen ausmacht. Im Konflikt mit ihr 
ist kein Motiv so stark, daß es des Sieges gewiß wäre. Sie ist so sehr die 
Hauptsache, daß für die Entbehrung ihrer Befriedigung keine anderen 
Genüsse entschädigen.“ „Das Geschlechtsverhältnis ist eigentlich der 
unsichtbare Mittelpunkt alles Tuns und Treibens und guckt trotz allen 
ihm übergeworfenen Schleiern überall hervor. Es ist die Ursache des 
Krieges und der Zweck des Friedens, die Grundlage des Ernstes und das 
Ziel des Scherzes, die unerschöpfliche Quelle des Witzes, der Schlüssel 
zu allen Anspielungen und der Sinn aller geheimen Winke, aller unaus¬ 
gesprochenen Anträge und aller verstohlenen Blicke, das tägliche Dichten 
und Trachten der Jungen und oft auch der Alten, der stündliche Gedanke 
des Unkeuscben und die gegen seinen Willen stets wiederkehrende Träumerei 
des Keuschen, der allzeit bereite Stoff zum Scherz, eben nur, weil ihm der 
tiefste Ernst zugrunde liegt. Der Geschlechtstrieb ist der Kern des Willens 
zum Leben, mithin die Konzentration alles Wollens, der Mensch ist kon¬ 
kreter Geschlechtstrieb.“ „Die Sehnsucht und der Schmerz der Liebe 
sind der Seufzer des Geistes der Gattung. Die Gattung hat unendliches 
Leben und ist daher unendlicher Wünsche, unendlicher Befriedigung 
und unendlicher Schmerzen fähig. Diese sind aber in der engen Brust 
eines Sterblichen eingekerkert, kein Wunder daher, wenn eine solche 
bersten zu wollen scheint und keinen Ausdruck finden kann für die sie 
erfüllende Ahnung unendlicher Wonne oder unendlichen Wehes.“ Und 
an einer anderen Stelle heißt es betr. den Sexualtrieb: „Wenn dieser 
in seiner ganzen Fülle und Macht von einem Individuum Besitz ergriffen 
hat, der Wille eines solchen Menschen ist in den Strudel des Willens der 
Gattung geraten, oder dieser hat so sehr das Übergewicht über den indi¬ 
viduellen Willen erhalten, daß, wenn solcher in ersterer Eigenschaft nicht 
wirksam sein kann, er verschmäht, es in letzterer zu sein. Das Individuum 
ist hier ein zu schwaches Gefäß, als daß es die auf ein bestimmtes Objekt 
konzentrierte, unendliche Sehnsucht des Willens der Gattung ertragen 
könnte. In diesem Fall ist daher der Ausgang Selbstmord, bisweilen 
doppelter Selbstmord beider Liebenden; es sei denn, daß die Natur zur 
Rettung des Lebens Wahnsinn eintreten ließe, welcher dann mit seinem 
Schleier das Bewußtsein jenes hoffnunglosen Zustandes umhüllt“. In dies m 
Sinn sagt auch Schopenhauer: „Noch größer aber ist die Zahl derer, welche 
dieselbe Leidenschaft (nämlich die Geschlechtsliebe) ins Irrenhaus bringt“. 

Ich muß Schopenhauer durchaus zustimmen, wenn er in so an¬ 
schaulicher Weise und mit so eindringlicher Sprache die immer noch 
nicht genügend gewürdigte Wichtigkeit der Sexualität und ihre funda¬ 
mentale Bedeutung für die Entstehung seelischer Störungen dartut. 
Freilich muß ich wieder hervorheben, daß man, um zu einem tieferen 
Verständnis der Vorgänge und ihrer intimen Zusammenhänge^ zu 
gelangen, ja nicht außer acht lassen darf, daß nicht allein die Be- 


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Juliusburger, 


friedigung beziehungweise die Unerfüllung des sinnlichen Triebes 
in Frage kommt, sondern es gilt, die Sexualität in ihrer Gesamtheit, 
also auch, und vielleicht in erster Linie, die psychosexueilen Energien 
zu berücksichtigen. Schopenhauer war sich über die bisexuelle Ver¬ 
anlagung des Menschen durchaus klar. Er hebt ausdrücklich hervor, 
daß Mannheit und Weiblichkeit unzählige Grade, zulassen. Wenn 
nun in einem Individuum diese beiden psychosexuellen Energien 
nicht in ein Gleichgewicht kommen können, wenn die Kräfte gegen¬ 
seitig störend aufeinander zielen, dann muß es zu einem Kampfe 
kommen. 

So sehen wir in zahlreichen Fällen, daß die homosexuelle Kom¬ 
ponente im Unterbewußtsein des Individuums diesem zu schaffen macht, 
ihren Träger erschüttert und die Psyche in ihrer heterosexuellen Aus¬ 
prägung bedrängt, verfolgt. Durch einen eigenartigen Mechanismus, 
dessen Klarlegung hier zu weit führen würde, wird der intrapsychische 
Verfolger auf die Außenwelt projiziert, der Kampf wird aus dem Unter¬ 
bewußtsein des Individuums in die Umgebung verlegt, und somit wird eine 
Quelle des Verfolgungswahnes erschlossen. Wir kennen aber noch ein 
ferneres Paar von psychosexuellen Energien, welche das Seelenleben 
des Individuums erschüttern und in einen Konflikt treiben können, wenn 
es ihm nicht gelingt, der Widerspenstigen Zähmung zu vollziehen. Die 
Freude am Unterwerfen, die Lust zu herrschen und zu befehlen, der Heiz, 
die Wonne, die Macht des Sieges zu kosten, das Hochgefühl, in schranken¬ 
losem Selbstbewußtsein die Flügel zu breiten; alle diese expansiven Ge¬ 
fühle finden ihre Steigerung und ihre verhängnisvolle Höchstleistung 
im Sadismus, dessen bekanntes Gegenstück der Masochismus ist, mit seinen 
fließenden Übergängen zu der Lust am Dienen, zu der Freude, im Gehor¬ 
sam und in Unterwerfung Genüge zu finden, zu dem Willen, sich zu opfern. 
Das expansive Gefühl bildet eine Wurzel des Größenwahnes, wenn seine 
ganze Kraft auf das Ich beschränkt bleibt und lediglich seine Bestimmung 
erfährt, innerhalb der Schranken des Egoismus sich auswirken zu können. 
Hierzu kommt, daß die exzessiven Wünsche der Vorzeit heute atavistisch 
und entartet in den Größenideen gewisser Geisteskranken wiederkehren. 
Das Seelenleben der Vorzeit war mächtig vom Wunschleben erfüllt, ohne 
vom Intellekt, von Erfahrung und Erkenntnis, gezügelt und geleitet zu 
werden. Es mußte demnach zu exzessiven Wünschen kommen, weil die 
geistigen Kräfte noch nicht ausreichten, die Wirklichkeit zu erkennen 
und zu meistern, das Dunkel des eigenen Innenlebens zu erhellen und zu 
beherrschen. Die exzessiven Wünsche des Menschen sind die Quelle 
seines Wunderglaubens gewesen. Religion und Geisteskrankheit sind 
keine identischen Begriffe, aber sie hängen an der Wurzel ihres Werdens 
zusammen. Einstmals waren kraftvolle Wünsche tätig, und sie bauten 


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Die Bedeutung Schopenhauers für die Psychiatrie. 631 

schöpferisch an den grofien Religionen. Jetzt sind die Wünsche, die damals 
kraftvolle Gebilde erzeugen konnten, in ihrer Energie herabgesetzt und 
geschwächt; soweit sie phantastisch sind und die Grenzen 
der Wirklichkeit überspringen, geben sie den Grundstock ab, aus dem 
Größenideen entspringen können, indem aus der Quelle der Psycho- 
Sexualität in das Ich fortgesetzt Energien strömen, welche zu den Größen- 
ideen sich transformieren. Der masochistisch depressive Komplex ist 
befähigt, den Boden abzugeben, auf welchem Verkleinerungsvorstellungen 
und Verfolgungsideen gedeihen können. Schopenhauer erkannte auch, 
daß die Vaterliebe darauf beruht, daß der Erzeuger im Erzeugten sich selbst 
wiedererkennt. Hier kann es zu einer übertriebenen Fixation der Kinder 
mit den Eltern kommen. Die Verlötung kann eine so innige sein, daß sie, 
wie Freud erwiesen hat, zu einem wichtigen Bestandteil einer seelischen 
Erkrankung, zur symptombildenden Kraft bei Neurosen und Psychosen 
werden kann. Polyandrische und polygamische Triebe, auch krimi¬ 
nelle Tendenzen, welche in der Vorzeit am Werke waren, kehren kraft 
des biogenetischen und psychogenetischen Grundgesetzes als atavistische 1 ) 
Erscheinungen wieder, können zu Erschütterungen des Seelenlebens führen 
und erscheinen in psychischen Geschehnissen. 

Ich muß mich hier natürlich begnügen mit einer kurzen Auf¬ 
zählung psychosexueller Komponenten. Aber es kann dem aufmerk¬ 
samen Blick die Polarität der Kräfte nicht entgehen. Schopenhauer 
hat in Anlehnung an Sohelling auf die Polarität hingewiesen, auf das 
Auseinandertreten einer Kraft in zwei qualitativ verschiedene, ent¬ 
gegengesetzte und zur Wiedervereinigung strebende Tätigkeiten, 
ein Grundtypus fast aller Erscheinungen der Natur, vom Magnet 
und Kristall bis zum Menschen. Da ist es interessant zu hören, wie 
Stekd in seinem Werke „Die Sprache des Traumes“ ausführt: „Alle 
Symptome, alle Erscheinungen des menschlichen Denkens und Fühlens 
sind bipolar. Und Bleuler spricht in demselben Sinne von Ambivalenz 
und Ambitendenz. 

Mit dem Gesetze der Polarität hängt das Gesetz der sexuellen 
Äquivalente zusammen. Der scharfe Blick Schopenhauers ist zu be¬ 
wundern, mit dem er diese wichtige Erscheinuug erkannte. Er sagt: 
„So z. B. wird die Gier zum sinnlichen Genuß im Knabenalter als 


1 ) Interessant ist auch die Bemerkung Schopenhauers: Das No¬ 
madenleben, welches die unterste Stufe der Zivilisation bezeichnet, 
findet sich auch auf der höchsten im allgemein gewordenen Touristen¬ 
leben wieder ein (Atavismus und Sublimierung). 


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Juliasburger, 


Naschhaftigkeit auftreten, im Jünglings- und Mannesalter als Hang 
zur Wollust und im Greisenalter wieder als Naschhaftigkeit / 1 Und 
an einer anderen Stelle heißt es: „So wird die Wollust der Völlerei 
Platz machen“ 1 ). 

Je mehr wir im Verfolg der von Freud inaugurierten Richtung 
in das krankhafte Seelenleben eindringen, um so mehr finden wir die 
geistvolle Vorwegnahme der Lehre von den sexuellen Äquivalenten 
durch Schopenhauer bestätigt. Auch der Genuß alkoholischer Getränke 
ist, wie ich an anderer Stelle gezeigt habe*), vielfach keine primäre 
Erscheinung, sondern wird erst begreiflich, wenn wir ihn auffassen 
als das Äquivalent und den Ersatz für verdrängte und unterdrückte 
psychosexuelle Genüsse. Für krankhafte Störungen und Empfindungen, 
welche sich bei gewissen Kranken in der Umgegend der Mundzone, 
im Bereiche des Halses, im Gebiete der Sprache abspielen, gewinnen 
wir erst richtiges Verständnis und können erst ihren tieferen Sinn 
erschließen, wenn wir uns das Gesetz der psychosexuellen Transformation 
und die Tragweite der hierdurch bedingten psychosexuellen Äqui¬ 
valente vergegenwärtigen. 

Bestimmte Sexualvorgänge werden von dem ihnen eigentüm¬ 
lichen Orte in symbolischer Umdeutung nach der Mundregion verlegt, 
bietet doch schon von frühester Kindheit an die Mundzone eine Quelle 
von Lustzuwachs, welchem ein gewisser psychosexueller Charakter 
nicht abgesprochen werden kann. Die Bedeutung der psychosexuellen 
Äquivalente ist aber viel weitgreifender und umfassender, als es für 
den ersten Augenblick den Anschein hat. Wie Schopenhauer eingehend 
in seiner Metaphysik der Geschlechtsliebe darlegt, reicht die Geschlechts¬ 
liebe über das Individuum in die Gattung hinein. Er sagt: „Was im 
individuellen Bewußtsein sich kundgibt als Geschlechtstrieb über¬ 
haupt und ohne die Richtung auf ein bestimmtes Individuum des 
anderen Geschlechts, das ist an sich selbst und außer der Erscheinung 
der Wille zum Leben schlechthin. In der Geschlechtsliebe tritt der 


l ) Schopenhauer sagt: Aus der flüchtigen sinnlichen Begierde ist 
eine überlegte und berechnende Begier nach Golde geworden, welche, 
wie ihr Gegenstand, symbolischer Natur und, wie er, unzerstörbar ist. 
Im Geiz überlebt die geistige Gier die fleischliche, der Geiz ist die subli¬ 
mierte und vergeistigte Fleischeslust'. 

*) Zentralblatt für Psychoanalyse 1912. 


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Die Bedeutung Schopenhauers für die Psychiatrie. 


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Wille des einzelnen in erhöhter Potenz als Wille der Gattung aut, 
Im letzten Grunde betrifft die Geschlechtsliebe das Wohl und Wehe 
der Gattung“. 

In der Psychosexualität liegen also, wie man bei dem Verfolg 
des Sch op enhau ersehen Gedankens sagen kann, überindividuelle 
Richtungen und Strebungen, mit denen im. letzten Grunde das meta¬ 
physische Bedürfnis des Menschen in Zusammenhang gebracht werden 
muß, wie es sich in der Schöpfung religiöser Gefühle und Vorstellungen, 
in der Bildung und Ausprägung zusammenfassender Weltanschauungen 
ausspricht. Doch dem Gegensatz der Polarität entsprechend, finden 
wir in der Psychosexualität auch eine Kraft, welche in die Tiefe und 
in die Niederungen den Menschen herabzieht. Aus der Psychosexualität 
entquellen auch die verbrecherischen Triebe. Treffend erklärt Schopen¬ 
hauer: „Endlich verträgt sich die Geschlechtsliebe sogar mit dem 
äußersten Haß gegen ihren Gegenstand, daher schon Platon sie der 
Liebe der Wölfe zu den Schafen verglichen hat. Der Haß gegen die 
Geliebte, welcher sich dann entzündet, geht bisweilen so weit, daß 
er sie ermordet“. Der Zusammenhang zwischen Psychosexualität 
und Verbrechen ist in der Tat ein inniger und tiefer, und immer mehr 
gelingt es unserer Wissenschaft, auch die verborgensten Zusammen¬ 
hänge zwischen diesen beiden Gebieten menschlicher Irrungen und 
Wirrungen an den Tag zu bringen. Es ist das Verdienst des psychiatrisch 
durchgebildeten Staatsanwalts Erich Wulffen, mit Meisterhand das 
Bild des Sexualverbrechers gezeichnet zu haben. Mit der Schöpfung 
des Typus des Sexualverbrechers knüpft Wulffen unmittelbar an das 
große Werk Lombrosos an, dessen Gedanken durch Wulffen eine Fort¬ 
setzung und Vertiefung erfahren. 

Mit Recht hat der ausgezeichnete Schüler und Freund Lom- 
broso s, Kurelia, gelegentlich in einer Schrift über Lombroso auf 
die Verwandtschaft des Denkens dieses Forschers mit der Wesens¬ 
richtung Schopenhauers hingewiesen. Die deterministische Welt¬ 
anschauung ist dem Philosophen, wie dem Kriminalanthropologen 
zu eigen. „Das Wasser bleibt Wasser mit seinen in ihm ruhenden 
Eigenschaften“, heißt es bei Schopenhauer. „Warum der Eine boshaft, 
der Andere gut ist, hängt nicht von Motiven und äußerer Einwirkung, 
etwa von Lehren und Predigten ab. Jeder menschliche Charakter 
wird sich unter allen Umständen offenbaren. Ist einer dumm, so 


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Juliasburger, 


entschuldigt man ihn damit, daß er nicht dafür kann, aber wollte 
man den, der schlecht ist, eben damit entschuldigen, so würde man 
ausgelacht werden ; und doch ist das Eine wie das Andere angeboren.“ 
Allein in der Erkenntnis liegt die Sphäre und der Bereich aller Besse¬ 
rung und Veredlung. Der Charakter ist unveränderlich, die Motive 
wirken mit Notwendigkeit. Der individuelle Charakter ist angeboren, 
er ist kein Werk der Kunst oder der dem Zufall unterworfenen Um¬ 
stände, sondern das Werk der Natur selbst. Er offenbart sich schon 
im Kinde, zeigt dort im Kiemen, was er künftig im Großen sein wird. 
Er ist derselbe, den einst Greise tragen werden, Die tatsächliche, 
ursprüngliche Grundverschiedenheit der Charaktere ist unvereinbar 
mit der Annahme einer Willensfreiheit, die darin besteht, daß jedem 
Menschen in jeder Lage entgegengesetzte Handlungen gleich möglich 
sein sollen. Die Frage nach der Willensfreiheit ist wirklich, wie Schopen¬ 
hauer mit Hecht sagt, ein Probierstein, an welchem man die tief¬ 
denkenden Geister von den oberflächlichen unterscheiden kann. Der 
Determinismus ist aber ein Grund- und Eckstein der psychiatrischen 
Wissenschaft, und von der festgegründeten Tatsache des Determinismus 
aus muß das herrschende Strafrecht seine tiefgründige Wandlung 
und Umformung erfahren. Zur Lehre vom geborenen Verbrecher 
führen unverkennbare Linien von der Gedankenrichtung und Lebens¬ 
auffassung Schopenhauers. Seine treffende Darstellung von der 
Macht und Tragweite der Vererbung, seine eben berührte Lehre von 
der Konstanz und Unveränderlichkeit des Charakters, weisen offen¬ 
sichtlich zur Psychologie des Verbrechers hin. 

Wie sehr Schopenhauers von der angeborenen Seelenverfassung 
und ihrer physiologischen Grundlage, ihrer somatischen Spiegelung, 
überzeugt ist, geht aus seinen tiefsinnigen Betrachtungen hervor, 
die wir im vierten Buch des ersten Bandes der „Welt als Wille und 
Vorstellung“ im Kapitel zur Ethik finden. Sie lauten: 

„Man vergegenwärtige sich, wie unglaublich groß der angeborene 
Unterschied zwischen Mensch und Mensch ausfällt, im Moralischen und 
im Intellektuellen. Hier Edelmut und Weisheit, dort Bosheit und Dumm¬ 
heit; dem Einen leuchtet die Güte des Herzens aus den Augen, oder auch 
der Stempel des Genius thront auf seinem Antlitz; der niederträchtigen 
Physiognomie eines Andern ist das Gepräge moralischer^Nichtswürdigkeii 
und intellektueller Stumpfheit von den Händen der Natur selbst unver¬ 
kennbar und unauslöschlich aufgedrückt, er sieht drein, als müßte er sich 


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Die Bedeutung Schopenhauers für die Psychiatrie. 635 

seines Daseins schämen. Diesem Äußeren aber entspricht wirklich das 
Innere.“ 

Die Lehre Schopenhauers von dem Primat des Willens, von seiner 
bestimmten individuellen, angeborenen Schlechtigkeit und Bös¬ 
artigkeit, die Lehre des Philosophen, daß der Intellekt erst die Efflo- 
reszenz des Willens ist, gibt uns auch den Schlüssel zum Verständnis 
der wenigstens von einer Reihe von namhaften Psychiatern anerkannten 
Krankheit, der sogenannten Moral insanity, deren Verwandtschaft, 
ja Identität mit dem geborenen Verbrecher die meiner Ansicht nach 
berechtigte Meinung Lombrosos ist. 

Entsprechend seiner Grundanschauung mußte auch Schopen¬ 
hauer zur Verwerfung der Strafe als Rache kommen. „Alle Vergeltung 
des Unrechts durch Zufügung eines Schmerzes, ohne Zweck für die 
Zukunft, ist Rache“, sagt er, „und kann keinen anderen Zweck haben, 
als durch den Anblick des fremden Leidens, welches man selbst ver¬ 
ursacht hat, sich über das selbst erlittene zu trösten. Solches ist 
Bosheit und Grausamkeit und ethisch nicht zu rechtfertigen“. 

Schopenhauer will die Strafe nur als Mittel zur Abschreckung 
von der Tat gelten lassen. In diesem Sinne tritt er auch ein für die 
Beibehaltung der Todesstrafe. Der Kriminalkodex soll nichts anderes 
sein, als ein Verzeichnis von Gegenmotiven zu möglichen verbrecheri¬ 
schen Handlungen. Andererseits spricht er den bedeutungvollen 
und wertvollen Gedanken aus: „Will man die Pönitentiargefängnisse 
als Erziehungsanstalten betrachten, so ist zu bedauern, daß der Ein¬ 
tritt dazu nur durch Verbrechen erlangt wird, statt daß sie diesen 
hätten zuvorkommen sollen“. Ich glaube, daß die Zukunft hieran 
anknüpfen wird. 

Höchst bemerkenswert sind die Ausführungen Schopenhauers 
über die Bedingungen, unter denen eine an sich strafbare Handlung 
straflos bleiben soll. Die intellektuelle Freiheit, wonach die Handlung 
des Menschen das Resultat der Reaktion seines Willens auf Motive ist, 
die in der Außenwelt ihm ebenso wie allen anderen vorliegen, wird 
aufgehoben entweder dadurch, daß das Medium der Motive, das 
Erkenntnisvermögen, dauernd oder nur vorübergehend zerrüttet ist, 
oder dadurch, daß äußere Umstände im einzelnen Falle die Auffassung 
der Motive verfälschen. Diese Umgrenzung der Strafausschließung 
findet ihre Parallele in der Begriffsbestimmung, wie sie dem ent- 

Zeitschrift für Payoliistrie« LXIX 5. 44 

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636 


Juliusburger, 


sprechenden Paragraphen des zukünftigen Strafgesetzbuches unter¬ 
gelegt werden soll Wenn im Gegenentwurf zum Vorentwurf eines 
Deutschen Strafgesetzbuches von Liszt und Kahl sagen: „Eine Hand¬ 
lung ist straflos, wenn der Täter zur Zeit der Handlung wegen Bewußt¬ 
seinsstörung oder krankhafter Störung der Geistestätigkeit nicht die 
Fähigkeit besaß, die Strafbarkeit seiner Tat einzusehen oder dieser 
Einsicht gemäß zu handeln“, so atmen diese Sätze entschieden Schop?n- 
hauerschen Geist. 

Interessant sind auch die Ausführungen Schopenhauers über 
die bloße Verminderung oder partielle Aufhebung der* intellektuellen 
Freiheit. Der Begriff der verminderten Zurechnungfähigkeit spielt 
ja bekanntlich eine bedeutende Bolle in der psychiatrisch-forensischen 
Literatur. Im Vorentwurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuche 
verlangt ein die Trunkenheit betreffender Paragraph: „War .der 
Grund der Bewußtlosigkeit selbstverschuldete Trunkenheit, und hat 
der Täter in diesem Zustand eine Handlung begangen, die auch bei 
fahrlässiger Begehung strafbar ist, so tritt die für die fahrlässige Be¬ 
gehung angedrohte Strafe ein.“ Und nun höre man hierzu Schopen¬ 
hauer: „Der Bausch ist ein Zustand, der zu Affekten disponiert, indem 
er die Lebhaftigkeit der anschaulichen Vorstellung erhöht, das Denken 
in Abstrakten dagegen schwächt und dabei noch die Energie des 
Willens steigert. An die Stelle der Verantwortlichkeit für die Taten 
tritt hier die für den Bausch selbst, daher er juristisch nicht ent¬ 
schuldigt, obgleich hier die intellektuelle Freiheit zum Teil auf¬ 
gehoben ist“. 

Wiewohl ich hierin mit Schopenhauer nicht übereinstimmen 
kann, wie meine einschlägigen Arbeiten beweisen 1 ), habe ich doch 
gerade diese Stelle des Philosophen angeführt, da auch aus ihr eine 
merkwürdige Verwandtschaft seiner Denkungsart mitder psychiatrisch- 
forensischen Auffassung der Gegenwart hervorgeht. Endlich muß 
ich noch auf eine höchst bedeutsame Bemerkung Schopenhauers 
hinweisen, welche sich in seinen Darlegungen über die Erblichkeit 
der Eigenschaften im zweiten Bande seines Werkes: Die Welt als 
Wille und Vorstellung, findet. Es ließe sich in Erwägung nehmen, 

*) Vgl. Juliusburger, Bemerkungen zu dem Vorentwurf zu einem 
deutschen Strafgesetzbuch. Allg. Zeitschrift f. Psychiatrie Bd. 67, S. 458. 


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Die Bedeutung Schopenhauers für die Psychiatrie. 


637 


sagt Schopenhauer, daß, wenn, wie es, irre ich nicht, bei einigen alten 
Völkern wirklich gewesen ist, nach der Todesstrafe die Kastration 
als die schwerste Strafe bestände, ganze Stammbäume von Schurken 
der Welt erlassen sein würden: um so gewisser, als bekanntlich die 
meisten Verbrechen schon in dem Alter zwischen 20 und 30 Jahren 
begangen werden. Auch erwähnt Schopenhauer eine Stelle aus den 
vermischten Schriften von Lichtenberg aus dem Jahre 1801: In England 
ward vorgeschlagen, die Diebe zu kastrieren. Der Vorschlag ist nicht 
übel, die Strafe macht die Leute noch zu Geschäften fähig; und wenn 
Stehlen erblich ist, so erbt es nicht fort. Auch legt der Mut sich, und 
da der Geschlechtstrieb so häufig zu Diebereien verleitet, so fällt auch 
diese Veranlassung weg. — Hier berührt sich Schopenhauer mit Forde¬ 
rungen moderner Kriminalhygiene. Die Frage der Kastration und 
Sterilisation von Verbrechern und Geisteskranken wird heute bereits 
in Amerika und in der Schweiz mit der Tat beantwortet. In meiner 
Besprechung x ) des Buches von Dr. Oberholzer über die vorliegende 
Frage finden sich nähere Angaben über das wichtige Problem der 
Ausschaltung antisozialer Elemente von der Fortpflanzung, und es 
ist eine Freude, in dieser wichtigen Angelegenheit Schopenhauer zur 
Seite zu haben. 

Ja, die Geschichte ist die große Zucht- und Lehrmeisterin des 
Menschen. Der Philosoph, den man zu seinen Lebzeiten nicht hören 
wollte, der in Abgeschiedenheit und Einsamkeit, aber in immer 
lebendigem Verkehre mit der Wirklichkeit und Natur lebte, dachte und 
schrieb, der große Philosoph lebt und wirkt in unmittelbarer Gegen¬ 
wart fort und darüber hinaus. Der Zusammenhang Schopenhauers 
mit der modernen Psychiatrie und forensischen Wissenschaft ist unver¬ 
kennbar, oft erstaunlich innig. Eine bewußte Verbindung besteht 
gewiß nicht, und sicherlich haben die modernen Forscher nicht aus den 
Werken unseres Philosophen geschöpft. Der Zusammenhang zwischen 
ihnen und dem Philosophen ist ein unbewußter, ein überindividueller. 
Hier breche ich ab, weil hier die empirische Wissenschaft mir in den 
Strom der Metaphysik einzulenken scheint und zu einer Betrachtung 
hinführen könnte, welche über mein gegenwärtiges Thema hinaus¬ 
reicht. Keine Kraft geht verloren, kein Gedanke kann zu nichts 

l ) Deutsche medizinische Wochenschrift 1912, Nr. 9. 

44 * 

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638 Juliusburger, Die Bedeutung Schopenhauers för die Psychiatrie. 

werden, alles trägt und bewahrt die Mneme wie im fruchtbaren Schoße, 
nur der Zeit harrend, um ihn zu öffnen. 

Nur noch einen Gedanken will ich zum Schluß aussprechen. 
Ich sehe in der Psychose als Gegenstand, gewissermaßen als das Haupt* 
thema, zu dem sie die Variationen spielt, das eigene Wesen des von ihr 
befallenen Individuums. Die Psychose wird herausgeboren aus dem 
Kampf, welcher in der liefe des Individuums seinen Ursprung nimmt. 
Streit, Kampf und Wechsel des Sieges sehen wir auch hier wieder, 
und im letzten Grunde finden wir die dem Willen wesentliche Ent¬ 
zweiung mit sich selbst, welche Schopenhauer als das Grundthema 
unserer Welt nachgewiesen hat. 


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Über das neue Irrenförsorgegesetz and die Neu¬ 
ordnung des Irrenwesens im Königreich Sachsen 

Tom Jahr 1912. 

Von 

Obermedizinalrat Dr. Hösel, 

Direktor der Königlichen Heil- und Pflegeanstalt Zschadraß b. Colditz. 

Das Jahr 1912 ist ein Wendepunkt in der Geschichte des Irren¬ 
wesens im Königreiche Sachsen. Es fand in diesem Jahre eine grund¬ 
sätzliche Neuordnung desselben statt. Es wurde von den gesetz¬ 
gebenden Körperschaften zum erstenmal ein Irrenfürsorge¬ 
gesetz geschaffen und auf Grund dieses Gesetzes von der König¬ 
lichen Staatsregierung die ganze Irrenpflege des Landes neu ge¬ 
regelt und vollständig von ihr übernommen. 

Im folgenden sei darüber berichtet. 

I. 

Bevor jedoch auf die Neuordnung der Verhältnisse vom medi¬ 
zinischen Standpunkte aus selbst eingegangen und ihre 
Kenntnis den Berufsgenossen auf Grund der Verhandlungen zwischen 
der Königlichen Staatsregierung und den Ständischen Körperschaften 
des Landes zugängig gemacht wird, dürfte es von Interesse sein, 
zunächst erst über den Stand des Irrenwesens, besonders auch in dessen 
▼erwaltungsrechtücher Beziehung, vor diesem Zeitpunkte einen 
Überblick zu geben 1 ). 

Es tritt dabei die Frage in den Vordergrund: 

*) Es geschieht dies unter Benutzung einer Arbeit des Verfassers, 
die von ihm in Nr. 2 der wissenschaftlichen Beilage der Leipziger Zeitung 
im Jahr 1909 veröffentlich worden ist: Betrachtungen über 
den weiteren Ausbau der Irrenfürsorge in Sachsen. 


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Hösel, 


Wem lag vor dem Jahr 1912 im Königreich 
Sachsen die Pflicht ob, für eine geeignete 
Unterbringung von Geisteskranken zu sorgen? 
Gesetzlich darüber bestimmt war folgendes: 

1. Nach § 28 des Reichsgesetzes Ober den Unterstützungswohnsitz 
vom 30. Mai 1908 muß jeder hilfbedürftige Deutsche vorläufig von dem¬ 
jenigen Ortsarmenverband unterstützt werden, in dessen Bezirk er sich 
bei dem Eintritt der Hilfbedürftigkeit befindet. 

2. Auf Grund allgemeinen Polizeirechtes haben die Polizeiorgane 
für Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit 
zu sorgen. 

3. Nach $1 der Königl. Sachs. Verordnung „die Zuständigkeit 
in Angelegenheiten der öffentlichen Irrenfürsorge betreffend“ vom 
23. August 1874 stand das Recht, gegen Irre, falls dieselben die öffentliche 
Ruhe störten oder die Sicherheit der Personen oder des Eigentums oder 
die öffentliche Sittlichkeit verletzten, solche Maßregeln zu ergreifen, wie 
die Dringlichkeit erheischte, und wie sie nach der deshalb erlassenen 
allgemeinen ärztlichen Instruktion zulässig waren, dem Bürger - 
m e i s t e r, beziehentlich dem Gemeindevorstand zu. 

4. Nach §1 der allgemeinen Armenordnung für das Königreich 
Sachsen vom 22. Oktober 1840 war die öffentliche Armenpflege Gegenstand 
der Gemeindeverwaltung. Der Staat trat nur, wenn es nötig, vermittelnd 
ein. Als Gegenstand der Armenpflege galt neben anderen nach § 33, 2 
die Krankenpflege, und zu letzterer gehörte, nach § 37 des gleichen Gesetzes, 
auch die Fürsorge für geisteskranke Arme. 

5. Nach § 1 des sächsischen Gesetzes vom 26. Mai 1834 „über die 
Verbindlichkeit der Gemeinden, zur Verpflegung ihrer in die Landes - 
Heil- und -Versorganstalten aufgenommenen Armen beizutragen“ waren 
die Gemeinden verbunden, Beiträge zur Unterbringung und Verpflegung 
der in die Landes-Heil- und -Versorganstalten, mit Einschluß der Blinden¬ 
anstalt, aufgenommenen Personen zu entrichten, dafern der dadurch 
erwachsende Aufwand aus dem Vermögen der aufgenommenen Personen 
selbst oder von denen, die dazu privatrechtlich verbunden waren, nicht 
bestritten werden konnte. 

Die Verbindlichkeit traf nach § 2 desselben Gesetzes diejenige Ge¬ 
meinde, welcher die Verbindlichkeit zur Versorgung rücksichtlich der in 
einer der § 1 erwähnten Anstalten unterzubringenden Person oblag. 

Die genannten Bestimmungen in Verbindung miteinander setzten 
also fest, daß die Pflicht, gegen gewalttätige Irre einzuschreiten, und 
einen Geisteskranken in geeigneter Weise unterzubringen, den Bürger¬ 
meistern und Gemeindevorständen oblag. Nicht also dem 
Staate! Nicht also anderen Verwaltungstellen! Fürsorge- 


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Ober das neue Irrenfürsorgegesetz im Königreich Sachsen. 641 


pflichtig waren einzig und allein die Vorstände 
der einzelnen größeren oder kleineren politischen Gemein¬ 
wesen in ihrer Eigenschaft als Polizeibehörde oder Vertreter 
eines Armenverbandes. Eine rechtliche Verpflichtung 
des Staates zur Aufnahme in die Landesanstalten bestand 
sonach überhaupt nicht, und die auf sie bezüglichen Regulative 
bestimmten nur die Voraussetzungen, unter denen die Aufnahme 
in die Landesanstalten, soweit der vorhandene Platz reichte, zu¬ 
lässig war, gaben aber den Gemeinden keinesfalls das Recht, 
die Aufnahme unter allen Umständen zu verlangen und zu erzwingen 
(Bericht der Finanzdeputation A der Zweiten Kammer über Kapitel 70 
des ordentlichen Staatshaushaltsetats für 1904/05). 

Nun waren zwar für die praktische Durchführung dieser gesetz¬ 
lichen Bestimmungen im Laufe der Zeit auch von anderer Seite als 
von den genannten unterbringungspflichtigen Verwaltungstellen 
Einrichtungen getroffen worden, die die mit der Unterbringung, Ver¬ 
pflegung und Behandlung von Geisteskranken verbundenen großen 
Schwierigkeiten erleichtern, beziehentlich beseitigen sollten. 

Neben Privatirrenanstalten für zahlungfähige Kranke trat haupt¬ 
sächlich, aber wie erwähnt freiwillig, nur subsidiarisch, ergänzend, 
aushilflich, der Staat ein. Und der sächsische Staat war’mit Auf- 

r* 

Wendung großer Mittel in mustergültiger Weise vorgegangen und 
hatte in dankenswerter Weise, wenn auch nur für bestimmte Gruppen 
von Geisteskranken — für heilbare und unheilbare gefährliche Kranke- 
Fürsorge getroffen. Er hat in den letzten 25 Jahren zu den bestehenden 
alten: Sonnenstein, Hubertusburg, Colditz und Hochweitzschen allein 
drei neue Heü- und Pfleganstalten gebaut: Untergöltzsch, Zschadraß, 
Großschweidnitz. Die vierte große Pfleganstalt Arnsdorf zu gleichen 
Zwecken ist erst vor kurzem dem Betrieb übergeben worden (1. April 
1912). Außerdem haben in den letzten Jahren die bestehenden älteren 
Anstalten Hubertusburg, Hochweitzschen und besonders Sonnenstein 
wesentliche Vergrößerungen durch Um- und Neubauten erfahren. 

Sodann haben in ausgedehntem Maße einzelne Großstädte 
umfangreiche Mittel zu diesem Zweck bewilligt. Genannt seien die 
Anstalten Dösen für die Stadt Leipzig, die Nervenanstalt Hilbersdorf 
für Chemnitz, das Irrensiechenhaus für Dresden. Endlich haben 
einige wenige größere Städte, wie Plauen, Zwickau, ferner einige 


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642 


Hösel, 


Bezirksverbände wie Borna, Rochlitz, Annaberg usw. neuere Ein¬ 
richtungen an Bezirksanstalten getroffen, die gleichen Zwecken dienen. 

Alle diese Einrichtungen hatten in rechtlicher Beziehung das 
Gemeinsame an sich, daß sie Geisteskranken Aufnahme gewähren 
können, nicht aber müssen, daß sie die Kranken genau 
so, wie es der Staat tat, ganz freiwillig, nach ihren Satzungen auf- 
nahmen, daß sie ihnen besonders nur so lange und so weit Unter¬ 
kommen gaben, solange Platz dazu vorhanden war. Eine Verpflichtung 
lag also auch einem Bezirksverband oder einem Krankenhausvorstand 
nicht ob, wenn diese und der Staat bisher auch in der Hauptsache 
die Unterbringung besorgt und erledigt hatten, solange der Platz 
reichte. 

Einzig und allein gesetzlich verpflichtet waren Bürger¬ 
meister und Gemeindevorstände, und es folgte daraus, 
daß alle Gemeinwesen, an deren Spitze ein Bürgermeister oder Ge¬ 
meindevorstand stand, für eine geeignete Unterbringung ihrer nach 
obigen Bestimmungen unterbringungbedürftigen Geisteskranken recht¬ 
lich selbst zu sorgen hatten. Die großen Gemeinwesen wie Leipzig, 
Dresden, Chemnitz hatten hieraus bereits die Folgen gezogen und waren 
zum Bau eigener Anstalten geschritten. 

Anders und ungünstiger lagen die Verhältnisse des übrigen Landes. 
Es war klar, daß der Bürgermeister einer kleinen Stadt oder gar ein 
Gemeindevorstand mit den ihm zur Verfügung stehenden Hilfsmitteln 
nicht in der Lage war, seiner Unterbringungspflicht ohne anderweite 
Hilfe nachzukommen. 

Bisher standen ihm in der Hauptsache zwei Wege offen, die er 
betreten konnte: 

1. Die Benutzung der staatlichen Anstalten. 

Diese waren aber schon seit Jahren an der Grenze ihrer Leistung¬ 
fähigkeit angelangt. Die bestehenden waren vollständig gefüllt. Plätze 
wurden nur frei durch Abgang infolge von Entlassung, Beurlaubung oder 
Tod, ein Wechsel in der Bewegungswelle des Zu- und Abgangs, der nicht 
groß genug war, um allen Aufnahmegesuchen entsprechen zu können. 
Ein großer Teil unterbringungbedürftiger Kranker konnte in den Staats- 
anstalten auf längere Zeit hinaus nicht oder nur ausnahmweise Aufnahme 
finden. An dieser Tatsache konnte wesentlich auch nicht die weitere 
etwas ändern, daß die vom Staate neu erbaute Anstalt Arnsdorf eröffnet 
wurde. Diese Anstalt hat die bestehende Notlage wohl etwas gemildert 


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Uber du neue Irrenfürsorgegesetz im Königreich Sachsen. 643 


und dem Platzmangel etwas abgeholfen. Auf die Dauer wird sie ihn aber 
nicht beseitigen. Zum anderen war die neue Anstalt aber zunächst auch 
nur für unheilbare und gefährliche Kranke vorgesehen. Zwischen diesen 
aber und denjenigen, die bisher in der Familie oder teilweise in derGemeinde- 
pflege bequem versorgt werden konnten, gab es noch eine große Anzahl 
Kranker, die schwer abzugrenzen war, für die aber auch anderweit gesorgt 
werden mußte. Sie gehörten weder zu den Heilbaren noch zu den Unheil¬ 
baren und Gefährlichen, gehörten aber auch nicht zu den ruhigen, sozialen 
oder siechen Kranken der Familien- oder der Gemeindepflege, sondern 
bildeten eine Art Zwischenklasse, die weder in die Familie, 
noch in eine Form der Gemeindepflege gehörten, sondern in Anstalten 
vom Charakter der Staatsanstalten. 

Von diesen Kranken lebte der größte Teil auch in Gemeindepflege, 
machte dort aber große Not und bereitete der Fürsorge und Pflege deshalb 
große Schwierigkeiten, weil die Mittel, die dieser Form der Gemeinde- 
pflege bisher, selbst in der Form der neueren Einrichtungen in einzelnen 
Bezirksanstalten, zur Verfügung standen, für diese Kranken nicht aus¬ 
reichten. 

2. Der zweite Weg, der den unterbringungspflichtigen Ver¬ 
waltungstellen offen stand, war der, die Kranken in Kranken-, 
Armen-, Siechen- oder Bezirksanstalten unterzu¬ 
bringen. Aber auch dieser Weg war nach den bisherigen Erfahrungen 
nur streckenweise gangbar. Die bestehenden Einrichtungen in diesen 
Anstalten genügten zum weitaus größten Teil bisher schon nicht. Diese 
waren bisher schon Aushiifsmittel, wurden benutzt, weil es Besseres nicht 
gab, mehr aus Not als zum eigentlichen Zweck, den sie meist nie ganz 
erfüllten, ihn auch nicht erfüllen konnten, weil sie nur zu vorübergehenden 
Zwecken errichtet waren. Neue Einrichtungen waren aber bisher im Verlaß 
auf die seither vom Staate geleistete Hilfe von den meisten zuständigen 
Stellen nicht getroffen worden, ganz abgesehen davon, daß kleine Gemein¬ 
wesen dazu gar nicht imstande waren, weil die Eigenait dieser Einrich¬ 
tungen und ihre Anwendung sie daran hinderten und weil die zu verwenden¬ 
den Geldmittel in keinem Verhältnis gestanden haben würden zu dem 
Zweck, der erreicht werden sollte. Also auch der zweite Weg war nur 
teilweise, für die meisten Orte gar nicht gangbar. Immer mehr machte sich 
also die Notwendigkeit fühlbar, auf andere Mittel und Wege zur Unter¬ 
bringung der sich mehr und mehr häufenden Kranken zu sinnen und 
entweder die bisherigen Anstalten zu erweitern, neue zu bauen oder sonst 
wie helfend einzugreifen. 

Jedenfalls mußte etwas geschehen, um den bestehenden Übel¬ 
ständen abzuhelfen. So wie bisher konnte es nicht weiter gehen. Die Not 
in den Gemeinden, der Mangel genügender Räume in den bestehenden 
staatlichen Anstalten und das völlige Fehlen jeglichen geeigneten Unter¬ 
kommens in den kleinen Anstalten der Gemeindeverwaltungen einerseits, 


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Hösel, 


die traurige Lage, in die die Kranken infolge dieser Verhältnisse und der 
daraus folgenden gänzlich unzureichenden Hilfe selbst kamen, andererseits 
zwang zu energischer Abhilfe. 

Wie konnte nun dem entsprochen werden, daß die Abhilfe eine 
gründliche war? 

Verschiedene Wege konnten betreten werden. Von den möglichen 
kamen folgende in Frage: Die Irrenfürsorge eines Landes 
ist nur dann eine erfolgreiche und zweckent¬ 
sprechende, wenn sie zentralisiert ist. ln jeder 
anderen Form versagt sie oder erfordert, soll 
sie jederzeit gut funktionieren, sehr große Geld¬ 
mittel. 

Ist diese Überlegung richtig, dann ergaben sich für unsere sächsischen 
Verhältnisse zwei Möglichkeiten: 

1. Man konnte daran denken, die oben angeführten gesetzlichen 
Bestimmungen dahin abzuändern, daß der Staat als die mächtigste, 
reichste und größte Zentralgewalt zuständig zur Unterbringung von 
allen Formen von Geisteskranken gemacht wurde, daß also der Staat 
die Pflicht der Unterbringung aller Geisteskranken und damit die 
Verwaltung des gesamten Irren Wesens Sachsens übernahm. So 
ideale Verhältnisse dieser Vorschlag schaffen mußte — und es war zweifellos 
grundsätzlich der richtigste und zweckentsprechendste —, so schwierig 
war die Durchführung desselben. Denn damit hätte voraussichtlich die 
ganze Armenfürsorge, soweit sie Geisteskranke betraf, aus dem Pflichten- 
kreis der Gemeinden in den des Staates übergehen müssen. Eine solche 
grundsätzliche Veränderung in der Organisation des Armenwesens schallte 
aber Schwierigkeiten nicht bloß rechtlicher, sondern besonders finanzieller 
Art. Denn zum Erlaß des Gesetzes vom 26. Mai 1834 hatte ja gerade 
die Notwendigkeit geführt, einheitliche Bestimmungen darüber zu treffen, 
inwieweit den Ortsgemeinden Beiträge zu der Verpflegung ihrer in die 
Landesanstalten aufgenommenen Armen anzusinnen seien, um nicht, 
wie die Begründung des Regierungsentwurfs (vgl. Landtagsakten vom 
Jahr 1833, Abt. Bd. 3, S. 217) besagte, „der Staatskasse eine den 
Kommunen obliegende Verbindlichkeit aufzubürden, vielmehr 
um dem dahin gerichteten Streben der Kommunen, sich ihrer Armen und 
deren Versorgung zu entledigen, zu begegnen“ (siehe Bericht der Finanz¬ 
deputation A der zweiten Kammer über Kap. 70 des ordentlichen Staats¬ 
haushaltetats für 1904/05). Würden dabei — was nur recht und billig 
war — aber auch die fünf exemten Städte einbezogen, von den Vorteilen 
dieser Organisation Gebrauch zu machen, dann mußte die Mehrbelastung, 
die ihre Mitversorgung dem Staate auferlegte, eine so überaus große 
werden, daß an die Verwirklichung dieses Planes erst dann gedacht werden 
durfte, wenn andere gangbare Wege nicht mehr aufzufinden waren. 

Konnte die Zentralstelle also noch anderswo gesucht 
werden ? 


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Ober das neue Irrenfürsorgegesetz im Königreich Sachsen. 645 

Es kamen in dieser Beziehung noch zweitens die kleineren Verbünde 
selbst in Betracht und zwar zunächst 

2A) die einzelnen Bezirksverbande. Diese Verbände 
hatten sich bisher so geholfen, daß sie an Krankenhäusern ihrer Bezirke 
oder an Armen- oder Bezirksanstalten Vorkehrungen trafen für die Siche¬ 
rung erregter Kranker durch Einbau einer oder mehrerer Isolierzimmer, 
für die Unterbringung ruhiger und siecher Kranker durch Einrichtung 
einiger Krankenräume. 

Diese Einrichtungen waren nach den Erfahrungen des Verfassers 
aber — mit ganz vereinzelten Ausnahmen — fast alle ungenügend. Sie 
waren teils alt, oft sehr alt. Man sah noch die alten Autenriethschen und 
sogar Polsterzellen. Und die neueren waren nur für vorübergehende Zwecke 
geeignet. Sie waren vor allem zu klein. Für eine Unterbringung auf 
längere Dauer — und wie lange währt diese oft bei solchen Kranken ? —, 
für eine Unterbringung behufs Heilbehandlung waren sie meist samt und 
sonders ungeeignet. Einzelne Bezirksverbände hatten ja in anerkennens¬ 
werter Weise einen weiteren Schritt vorwärts getan. Sie hatten Adnexe 
an bestehende Siechen- oder Bezirksanstalten gebaut in Form von kleinen 
Wachabteilungen, eine Art Stadtasyle im Griesingerschen Sinne. Sie 
hatten neuzeitlichere Einzelzimmer, sie hatten sogar Einrichtungen zu 
Dauerbädern. Aber selbst wenn diese Vorkehrungen neuzeitlichen An¬ 
sprüchen genügt hätten, erfüllten sie doch nur bestimmte Zwecke, waren 
für diese Sonderzwecke auch notwendig, waren aber nicht hinreichend 
für den Zweck, den die Irrenfürsorge des gesamten Bezirks Überhaupt 
erforderte. Denn es fehlte ihnen zuvörderst an geeignetem sachverständigen 
und geschulten ärztlichen und Pflegepersonal. Für die Anstellung eines 
selbständigen Psychiaters waren sie zu klein. Seine Leistungfähigkeit 
wurde nicht voll ausgenutzt. Seine Anstellung wurde damit zu kostspielig. 
Wurde die ärztliche Leitung aber im Nebenamte erledigt, litten die Kranken, 
litt die ganze Organisation, der ganze Betrieb. Denn dieser und die Kranken 
waren dann in den Händen des Personals. Es fehlte die Aufsicht, die 
Kontrolle. Der ganze Geist der Einrichtung wurde wieder ein anderer, 
er erfuhr eine Veränderung ad pejus. Das Pflegepersonal war meist nicht 
geschult. Denn zur Behandlung und Verpflegung von Geisteskranken 
gehört eben besondere Vorbildung, besondere Eignung, besondere Er¬ 
fahrung, andere, als die, die gewöhnlich dem Personal zur Ver¬ 
fügung stand, das dort angestellt war. Es iehlte ferner und besonders 
der ganze neuzeitliche therapeutische Apparat für die heilbaren Kranken. 
Eis fehlte an Einrichtungen für die Behandlung chronisch erregter, insozialer 
Elemente und solcher, die ihrer individuellen krankhaften Haltung nach 
besonderer Maßnahmen zu ihrer Behandlung und Verpflegung bedurften 
(Beschäftigungs- und Ernährungstherapie). Diese Adnexe eigneten sich 
also höchstens für eine möglichst rasche, vorübergehende und vor¬ 
läufige Unterbringung von frisch erkrankten Personen oder höchstens 


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Hösel, 


für eine dauernde Unterbringung von geistig gebrechlichen, aber 
sozialen und lenkbaren, ruhigen Kranken, nicht aber für den Teil der 
übrigen Geisteskranken, deren Unterbringung den Bürgermeistern und 
Gemeindevorständen sonst oblag, besonders auch nicht für die Verpflegung 
der oben definierten Zwischenklasse. Für diese waren die Vor¬ 
kehrungen in den genannten Anstalten oder Adnexen ungenügend. Sie 
blieben Halbheiten, waren nichts Ganzes, und sollten sie es werden, so 
kosteten ihre Anlagen so viel Geld, daß dieses von den einzelnen Bezirks - 
verbänden nicht aufgebracht werden konnte. 

Die geeignete Zentralstelle war also der Bezirks- 
verband auch nicht. 

2B.) Vermochte die Hilfe nicht der einzelne Bezirksverband zu 
bringen, vielleicht tat es eine Vereinigung von Bezirks¬ 
verbanden, ein Verband der Bezirksverbände eines 
Regierungsbezirks? Um beurteilen zu können, ob dies angängig 
war, und ob ein solcher Verband zweckentsprechende Abhilfe schaffen 
konnte, bedurfte es zunächst einer genauen Irrenstatistik. Leider 
fehlte diese vollständig und fehlt noch heute, und man ist nur auf Schätzung 
angewiesen. Unbedingt nötig wäre aber eine solche, und die zuständigen 
Stellen, die Amtshauptmannschaften, sollten, jede für ihren Bezirk, in 
ihrem eigensten Interesse sobald wie möglich eine solche schaffen. Die 
Schwierigkeiten können keine großen sein, und unter Zuhilfenahme der 
Bezirksärzte oder der Anstalt dir ektion der Landesanstalten, die in ihren 
Bezirken liegen, dürfte eine solche ohne nennenswerten Aufwand von Zeit, 
Geld und Mühe zu ei zielen sein. 

Erst wenn man weiß, für wen zu sorgen ist, kann man Einrichtungen 
für die Beteiligten treffen. Nur was man übersieht, beherrscht man. 

Nahm man nun an, in jeder Amts hauptmannschaft, z. B. der 
Kreis hauptmannschaft Leipzig, befänden sich durchschnittlich 50 
Geisteskranke männlichen und weiblichen Geschlechts, für die der Staat 
zunächst nicht sorgte, die sich auch nicht für Familienpflege eigneten, 
für die aber auch nicht die bisher übliche Gemeindepflege ausreichend war, 
so würden 300 Plätze zu beschaffen gewesen sein, um diese Kranken in 
eine geeignete zentrale Fürsorge zu bringen. 

Das Beste und Zweckentsprechendste wäre in diesem Fall etwa 
der Bau einer gesonderten selbständigen Irrenanstalt gewesen, etwa im 
Sinne einer größeren staatlichen Pfleganstalt. Wären die Mittel hierzu 
vom Verband der Bezirksverbände eines Regierungsbezirkes aufzubringen 
gewesen, dann wäre der Zweck noch in einer Form erreicht, der man hätte 
beipflichten können. Die Kranken wären alle in sachgemäßer Behandlung, 
der ganze therapeutische Apparat wäre an einer Stelle gewesen. Die Leitung 
wäre eine zentrale gewesen. Die Voraussetzungen für die geeignetste Form 
der Irrenfürsorge wären ausreichend erfüllt worden. Die Verwirklichung 
des Vorschlags scheiterte aber an den Kosten. Denn selbst wenn dem 


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Ober das neue Irrenfürsorgegesetz im Königreich Sachsen. 647 

Pflegecharakter der Anstalt entsprechend der Bau und die Einrichtung 
in den einfachsten Formen vollzogen worden wären — unter einigen 
Millionen Mark hätte eine solche den geforderten Interessen dienende 
und alle ihre Zwecke erreichende Einrichtung mit ihrer Beamtenzahl, 
mit ihrem umfangreichen, wirtschaftlichen Betrieb, mit dem zu erwerbenden 
Grundbesitz usw. usw. nicht hergestellt werden können. Dies wären aber 
Opfer gewesen, die selbst em Verband von reicheren Bezirksverbänden 
aufzubringen kaum in der Lage gewesen wäre. 

Es fragte sich also, gab es nicht noch eine weitere Möglichkeit 
für die Bürgermeister und Gemeindevorstände, aus dieser Schwierigkeit 
herauszukommen ? 

2C.) Die Schwierigkeiten hätten behoben werden können, wenn für 
den Verband der Bezirksverbände die Möglichkeit be¬ 
standen hätte, einen Anschluß im großen an die bestehenden staat¬ 
lichen Heil- und Pflegeanstalten zu erreichen. Die Erwägungen, die 
diesem Gedanken zugrunde lagen, waren folgende: 

Wenn eine Stadt ein neues Gymnasium braucht, stellt sie der aus- 
führenden Behörde gewöhnlich einen Platz kostenlos zur Verfügung. 
Wenn Interessenten eine neue Eisenbahn wünschen, überlassen Gemeinden 
dem bauführenden Staat oft kostenlos die Strecken Landes. Wenn Straßen 
und Wege, deren Instandhaltung den Gemeinden obliegt, neu erbaut oder 
Reparaturen unterzogen werden sollen, werden staatliche Amtsstraßen- 
meister, in diesem Fall gegen Entgelt, zur Ausübung dieser Handlungen 
herbeigezogen, Staatsbeamte zu Arbeiten für Gemeinden. Es lag nahe 
zu erwägen, ob das Verfahren nicht auf unseren Fall anzuwenden möglich 
war. Sehen wir zu! 

Jeder Bezirks verband stelle dem Staat ein größeres Kapital zur 
Verfügung, das er selbst (der Bezirksverband) amortisierend verzinst, 
das aber in den Besitz des Staates überginge. Hierfür baute der Staat 
im Anschluß an eine Heil- und Pfleganstalt je nach deren Erweiterung¬ 
fähigkeit ein oder je nach Bedürfnis 2—3—4 Häuser, in denen alle Kranken 
hätten untergebracht werden können, besonders auch die, die der oben 
erwähnten Zwischengruppe angehörten. Betont sei, untergebracht 
werden. Die Verpflegung darin hätte natürlich nach den jeweilig bestehen¬ 
den Grundsätzen und Bedingungen auf Kosten der Ortsarmenverbände 
weiter erfolgen müssen. Die Zahl der Kranken, die jeder Bezirksverband 
hätte unterbringen dürfen, hätte sich nach der Größe des Kapitals richten 
müssen, das der einzelne Bezirksverband zu diesem Zweck dem Staat 
zur Verfügung gestellt hätte. Was wäre die Folge einer derartigen Organi¬ 
sation gewesen? 

1. Das Irrenwesen Sachsens hätte in der Tat in einer Hand gelegen. 
Es wäre zentralisiert worden und hätte in dieser Form alle seine großen 
Vorzüge wirken lassen können. 

2. Der wirtschaftliche und sonstige andere Betrieb, der an der 


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Hösel, 


LandesanStalt bereits vorhanden war, hätte nicht neu beschafft zu werden 
brauchen, Grundbesitz wäre gleichfalls nicht neu zu erwerben gewesen, 
Voraussetzungen, die durch ihren Wegfall ansehnliche Kosten gespart 
hätten. 

3. Bas ganze ärztliche, Pflege-, Verwaltungs- und Betriebspersonal 
wäre sachkundig gewesen. Es hätte wohl entsprechend vermehrt werden 
müssen, bedurfte aber wie der ganze Betrieb der Anstalt nur der Er¬ 
weiterung, nicht der Neugründung, gleichfalls Voraussetzungen, die sich 
hätten billiger beschaffen lassen, als bei Errichtung einer selbständigen 
neuen Anstalt in jedem Regierungsbezirk. 

4. Der vorhandene therapeutische Apparat, in Form der Beschäfti¬ 
gungstherapie der Kranken in der Land- und Gartenwirtschaft, in be¬ 
stimmten Handwerken, in Form der Bett- und Wasserbehandlung, in 
Form der Ernährungs- und Beruhigungstherapie usw. wäre bereits vor¬ 
handen gewesen und konnte in sachverständiger Weise auch auf die noch 
hinzukommenden Kranken angewandt werden. 

5. Der neuzeitliche Geist der Heil- und Pfleganstalt konnte allen 
Kranken des Bezirks zugute kommen. Jedem Kranken konnte dem 
jeweiligen Stand seiner Krankheit entsprechend durch Versetzung von 
der Heil- in die Pflegabteilung der Anstalt und umgekehrt die ihm ge¬ 
bührende und für ihn notwendige günstigste Behandlungsart zuteil werden. 
Es wäre eine bestmögliche Unterbringung für jeden Kranken gesichert 
gewesen. 

6. Es hätte die Einführung der Familienpflege in Angriff genommen 
und einheitlich durchgeführt werden können. 

7. Den Landesanstalten wären annehmbar wieder mehr landwirt¬ 
schaftliche Arbeiter für ihre Kolonien beschafft worden. Der Charakter 
der kolonialen Anstalt hätte für die Heil- und Pfleganstalten wieder mehr 
zur Geltung gebracht werden können. 

8. Ein umwälzender Eingriff in die gegenwärtig bestehende Armen - 
fürsorge hätte nicht stattgefunden. 

9. Besonders drängte aber die finanzielle Seite des Vorschlages 
zu eingehender Prüfung, da der Vorteil, den die Gemeinden in dieser 
Beziehung gehabt hätten, nicht zu unterschätzen war. Denn wenn auch 
bei Bestellung eines größeren, zu amortisierenden Kapitals durch Ver¬ 
zinsung eine zunächst höhere Belastung der Ortsarmenverbände eingetreten 
wäre, so wären sie dafür doch auch der Deckung der ansehnlichen Summen 
enthoben gewesen, die durch den unvermeidlich gewordenen' Bau von 
Einrichtungen kleineren oder größeren Umfangs entstanden wären, und 
deren Unzulänglichkeiten, wie oben dargetan worden ist, auch in Zukunft 
hätte bestehen bleiben müssen. 

Und doch standen trotz dieser Vorteile der Durchführung auch 
dieser weiteren Form der Organisation erhebliche Bedenken entgegen. 


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Über das neue Irrenfürsorgegesetz im Königreich Sachsen. 649 


Den Bürgermeistern und Gemeinden war zwar die Sorge der Unter¬ 
bringung ihrer Kranken abgenommen. Ein befriedigender Ausgleich der 
Kosten wäre aber nicht, höchstens nur unter Wegräumung großer Hinder¬ 
nisse finanzrechtlicher Art erzielt worden. 

Die Stellung, Verrechnung, Amortisation der hohen Kapitalien 
hätte für die Gemeinden eine sehr hohe Belastung bedeutet, die verwaltungs- 
rechtliche Ordnung dieser Geldsummen durch Gesetz oder Verordnung 
hätte zu großen Weiterungen geführt. Außerdem hätten die Gemeinden 
den ganzen Unterhalt für ihre Kranken auch weiter bestreiten müssen, 
und zu diesem Unterhalt kamen noch die großen Ausgaben für die Kapital¬ 
beschaffung. Die Durchführbarkeit dieser Art der Organisation erschien 
wohl einfach, die Durchführung selbst aber war wegen der Folgen in 
armenrechtlicher, verwaltungstechnischer und gesetzgeberischer Beziehung 
überaus erschwert. Ideal und vollkommen, etwas Ganzes war also diese 
Form der Regelung auch nicht. Ideal war nur die Übernahme 
der gesamten Irrenpflege auf den Staat. 

Und dies geschah. 

Die Königliche Staatsregierung hat die Irrenpflege Sachsens 
unter den unten noch zu besprechenden Voraussetzungen ganz über¬ 
nommen. Sie tat es unter Zustimmung der Landstände 

1. durch Schaffung eines Irrenfürsorgegesetzes und 

2. durch Neuordnung der gesamten Irren¬ 
pflege in verwaltungsrechtlicher Beziehung. 

II. 

Das neue Irrenfürsorgegesetz. 

Es lautet folgendermaßen: 

Gesetz über die A n s t a 11 s f ü r s o r g e an Geistes¬ 
kranken. 

§ 1. Die Landesanstalten haben alle erwachsenen Geisteskranken, 
die der Behandlung und Pflege in einer Irrenanstalt bedürfen und deren 
Unterbringung ein sächsischer Ortsarmenverband in Erfüllung seiner 
armenrechtlichen Verpflichtung oder eine sächsische Gemeinde aus be¬ 
sonderen sachlichen Gründen beantragt, aufzunehmen und so lange zu 
verpflegen, als die eben angegebenen Voraussetzungen dauern. 

Geisteskrank im Sinne dieses Gesetzes sind auch die Epileptischen, 
soweit sie zu den gewalttätigen epileptisch Irren zu zählen sind. 

5 2. Die Ortsarmenverbände und Gemeinden haben, bevor sie den 
Antrag auf Unterbringung stellen, ein ärztliches Gutachten einzuholen, 
in zweifelhaften Fällen das Gutachten des Bezirksarztes. 


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Hösel, 


Über die Aufnahme entscheidet die Anstaltsdirektion. Eine Ab¬ 
lehnung hat sie zu begründen. Über die Beschwerde hiergegen befindet 
die für den Ortsarmenverband oder die Gemeinde zuständige Kreishaupt¬ 
mannschaft. Die Beschwerde ist auch zulässig, wenn die Anstaltsdirektion 
beschlossen hat, den Kranken zu entlassen. Eine solche Entlassung ist 
ebenfalls zu begründen. 

Die Beschwerde ist binnen einer Woche nach der Bescheidung des 
Ortsärmenverbandes oder der Gemeinde zu erheben und hat aufschiebende 
Wirkung, wenn sie sich gegen eine Entlassung richtet. 

Die Entscheidung der Kreishauptmannschaft ist endgültig. 

§ 3. Im Falle der Selbstzahlung sind die Anstaltskosten von den 
Aufgenommenen und, soweit deren Mittel nicht ausreichen, von den Per¬ 
sonen zu entrichten, die nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts 
unterhaltpflichtig sind. 

Bis zur Beibringung eines anderen Zahlers ist der Landesanstalt 
gegenüber zunächst der Armenverband oder die Gemeinde, welche die Auf¬ 
nahme herbeigeführt oder sonst die Zahlungsverbindlichkeit Übernommen 
haben, sodann derjenige Armenverband zahlungspflichtig, der nach den 
armenrechtlichen Vorschriften für den Kranken zu sorgen hat. 

§ 4. Für die sächsischen Ortsarmenverbände, soweit ihnen die Unter¬ 
stützung eines Kranken vorläufig oder endgültig obliegt, und für die 
sächsischen Gemeinden besteht der gleiche Verpflegsatz. Dieser bemißt 
sich nach der Hälfte des Aufwandes, der, nach dem Durchschnitt des 
Gesamtaufwandes aller Landesirrenanstalten berechnet, auf einen Kranken 
der billigsten Verpflegklasse täglich entfällt. 

Die Höhe des Satzes macht das Ministerium des Innern mit der 
Maßgabe bekannt, daß er frühestens ein halbes Jahr nach der Veröffent¬ 
lichung in Kraft tritt. 

§ 5. Dieses Gesetz tritt am 1. Oktober 1913 in Kraft, soweit nicht 
mit einzelnen Städten etwas anderes vereinbart worden ist. 

Auf geisteskranke Verbrecher, die wegen ihrer Gewalttätigkeit der 
Aufnahme in einer geschlossenen Anstalt bedürfen, leidet das Gesetz schon 
vom 1. Januar 1913 an unbeschränkt Anwendung. 

Mit der Ausführung des Gesetzes wird unser Ministerium des Innern 
betraut, das auch in der bisherigen Weise Anstaltsordnungen zu erlassen 
und darin insbesondere die bei Aufnahme eines Kranken erfordei liehen 
Unterlagen anzugeben hat. 

III. 

Worin bestehen nun die Vorteile der neuen 
Regelung des Irrenwesens Sachsens in dem im 
obigen Gesetz festgelegten Sinne? 

Es ist ohne weiteres klar: Es ist die grundsätzlich wichtigste 
Forderung der Irrenfürsorge erfüllt worden, die Forderung der Zen- 


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Über das neue Irrenfürsorgegesetz im Königreich Sachsen. 651 


tralisation des Irrenwesens. Die Staatsregierung hat 
den entscheidenden Schritt getan und hat die ganze Irrenfürsorge 
des Landes selbst übernommen, hat sie zentralisiert und sich selbst 
an die Spitze dieser Verwaltungszentrale gestellt. Dieses ist das 
wichtigste Ergebnis der ganzen Reform. Jetzt erst können alle die 
Vorteile ausgenutzt werden, die eine geordnete Irrenpflege eines Landes 
vom Umfang und der Bewohnerzahl des Königreichs Sachsen in neu¬ 
zeitlichem Sinne bietet. 

Es werden also in Zukunft alle der Armenfürsorge anheim 
gefallenen Geisteskranken vom Staate in Krankenfürsorge genommen 
werden. Damit wird dem ganzen Irrenwesen Sachsens ein vollständig 
neues und modernen Anforderungen genügendes Gefüge gegeben. 
Bisher waren nur heilbare und unheilbar gefährliche Kranke auf¬ 
genommen worden. Die Aufnahme chronischer Kranker wurde von 
deren Gefährlichkeit abhängig gemacht. Das neue Verfahren erstreckt 
sich von mm ab auf alle anstaltbedürftigen Kranken, soweit sie ein 
Ortsarmenverband unterzubringen hat, in Zukunft also auch auf 
Unheilbare und Ungefährliche. Bisher war nur Platz für die erste 
Gruppe, in Zukunft Platz für alle Kranken, besonders auch für die, 
die in die oben geschilderten Zwischengruppen fielen. Bisher stammten 
die meisten Aufnahmen nur aus den kleinen und mittelgroßen Gemein¬ 
wesen. In Zukunft haben auch die großen Städte Anteil an der Mög¬ 
lichkeit, ihre Kranken den Landesanstalten zuzuführen. Unterschiede 
in den Auffassungen, was ist „gefährlich“, was nicht, fallen weg. 
Meinungsverschiedenheiten, wer ist zur Fürsorge verpflichtet, wer 
nicht, sind in der Hauptsache aus dem Wege geräumt. Eine Ab¬ 
lehnung wegen Platzmangels ist nicht mehr zulässig. Alle der Anstalt¬ 
behandlung bedürftigen Kranken der Armenverbände müssen auf¬ 
genommen werden. 

Die günstigen Wirkungen dieser Änderungen sind ohne weiteres 
ersichtlich. 

1. Sie kommen den Kranken selbst zu statten. 

2. Sie liegen im Interesse der Landesanstalten. 

3. Sie gereichen auch den Gemeinden zum Vorteile. 

1. Den Kranken! Diese werden endlich alle einer sachgemäßen 
Behandlung unterworfen und zwar rasch und dem Zustand ihres Leidens 
entsprechend. Sie können nunmehr sofort und zu der Zeit den neu - 

Zeitschrift fttr Psychiatrie. LUX, 5. 45 

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Hösel, 


zeitlichen Heilfaktoren entgegengeführt werden, wo eine Heilung oder 
Besserung überhaupt nur möglich ist, nämlich bei Beginn der Erkrankung. 
Was ist bisher in dieser Beziehung gesündigt worden! Die meisten An¬ 
gehörigen der Kranken, ja sogar viele ihrer ärztlichen Berater, schickten 
sie erst, wenn sie „anstaltreif“ geworden waren, d. h. wenn ihr Zustand 
durch sogenannte therapeutische Versuche verzettelt und verschlimmert, 
zur Chronizität behandelt worden war. Aus Scheu vor der Anstalt 
wurden die Kranken erst gebracht, wenn der Zwang hierzu die Fürsorge - 
pflichtigen drängte. In Zukunft ist Gelegenheit zu sofortigen Aufnahmen. 
Sie muß freilich genutzt werden! Dabei fällt die mangelhafte Zwischen¬ 
behandlung in Siechen-, Bezirks- und kleinen Krankenanstalten mit 
unzureichenden Heilmitteln wenigstens für eine längere Dauer vollständig 
weg. Denn Aufnahmen wegen Platzmangels können von nun ab nicht mehr 
abgelehnt werden. Und gerade dieser Platzmangel und zwar dieser chro¬ 
nische Platzmangel war, abgesehen von der Scheu vor der Anstalt, an sich 
mit schuld an dem Zustand, daß die Kranken zu spät in geeignete Be¬ 
handlung kamen. Er tat zur Abneigung gegen die Anstalt sein Übriges, 
bestärkte und vermehrte sie und hielt die frisch Erkrankten von der 
Aufnahme erst recht ab. So kam es, daß die Anstalten von lauter chronisch 
Kranken, von lauter unheilbaren und gefährlichen Elementen angefüllt 
waren. Diese verstopften die Abteilungen. Für die frisch Erkrankten 
war kein Raum. Diese waren auf die kleinen Betriebe der Gemeinden 
angewiesen, in ihre Zellen gedrängt. Dort waren sie nicht behandlung¬ 
fähig. Es fehlte an dem nötigsten Heilapparat. Sie reagierten von ihren 
Erregungen usw. nicht ab, genasen nicht, wurden kränker und schließlich 
chronisch krank. Man züchtete also einfach chronisch Kranke. 

Auch die Schwierigkeiten, die einer Einigung über den Begriff der 
Gefährlichkeit entgegenstanden, und die die rechtzeitigen Auf¬ 
nahmen oft recht verschleppten, kommen nunmehr in Wegfall. Der 
Begriff „Gefährlichkeit“, von der die Aufnahme Unheilbarer bisher ab¬ 
hängig gemacht worden war, war auf der einen Seite so dehnbar, auf der 
anderen konnte er so eng gefaßt werden, daß man schließlich mit ihm 
gar nichts mehr anfangen konnte. Dem krassesten Subjektivismus war 
Tür und Tor geöffnet. Das machte sich oft höchst unangenehm fühlbar. 
Die einen Gutachter glaubten, ein Kranker, selbst wenn er akut erkrankt 
und heilbar war, müsse erst erweislich gefährlich geworden sein, ehe ihn 
die Anstalt aufnimmt. Dies entsprach zwar nicht dem Sinn der regulativ¬ 
mäßigen Bestimmung, war aber gebräuchliche Ansicht im praktischen 
Leben. Andere Gutachter wieder unterschätzten den Grad der bestehenden 
Gefährlichkeit, gaben damit Anlaß zu Unglücksfällen, schufen Unsicher¬ 
heiten im Publikum, das seinerseits wieder geneigt war, die Schuld hierfür 
den Anstalten zuzuschieben, die sich angeblich geweigert hatten, den 
Kranken aufzunehmen oder zu entlassen. Wieder andere beschränkten 
den Begriff nur auf solche Fälle, die nur gefährlioh waren in bezug auf 


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Über das neue Irrenfürsorgegesetz im Königreich Sachsen. 653 

Leben und Gesundheit Dritter oder der eignen. Andere wieder wollten 
und zwar nicht mit Unrecht eine Gefährlichkeit auch dann anerkannt 
wissen, wenn es sich um sexuelle Angriffe oder um Angriffe gegen Ehre 
und Sicherheit von Personen und Behörden handelte. Alle diese Schwan¬ 
kungen und Unsicherheiten in der Auffassung des Begriffs der „Gefähr¬ 
lichkeit“ fallen nun in Zukunft weg und damit natürlich auch die Schwierig¬ 
keiten, die einer raschen und frühzeitigen Aufnahme der Kranken in die 
Anstalten entgegenstanden. Sie sind in Zukunft durch die Neuregelung 
endgültig beseitigt. 

2. Aber auch für die Landesanstalten selbst wird die 
Reform von Vorteil sein. Besonders kommt hier in Betracht, daß endlich 
auch ungefährliche und harmlosere Kranke zur Aufnahme 
kommen können. Diese verdünnen die vorhandenen unruhigen, unsozialen 
Bestände der chronischen Kranken, sie regen den einen oder anderen 
unter ihnen zur Arbeit an, reißen ihn mit fort, mildern Sitten und Gebahren 
unter un- und halbruhigen Patienten. Sie stellen endlich die Arbeiter. 

Die Zahl dieser arbeitenden Kranken war in den letzten Jahrzehnten 
allmählich immer kleiner geworden. Es fanden sich keine geeigneten 
Kräfte mehr unter den vorhandenen Beständen. Infolge der bestehenden 
regulativmäßigen Bestimmungen konnten auch keine solchen aufgenommen 
werden. Man hatte also die Einrichtungen, aber nicht die Kranken. Man 
hatte das System der kolonialen Irrenanstalt, aber keine Kolonisten. 
Man hatte Bautypen von Anstalten für Kranke, die nicht da waren und 
nach den gesetzlichen Vorschriften auch gar nicht aufgenoramen werden 
durften. Darunter litten naturgemäß die bestehenden Meiereien. Deshalb 
gedieh die Anlage auch nicht in der gewünschten Weise. Die koloniale 
Hälfte der Heil- und Pfleganstalt machte nicht die vorausgesetzte und 
wünschenswerte Entwicklung mit. Es lag ein Fehler in der Organisation 
vor, ein Fehler, der sich immer und immer wieder fühlbar gemacht hat, 
und der aus der Zeit der ersten Reform Anfang der neunziger Jahre des 
vorigen Jahrhunderts stammt. 

Dies ergibt sich aus folgender geschichtlichen Betrachtung: 

Bekanntlich war die Anstalt C o 1 d i t z nächst Hildesheim die 
erste größere Anstalt Deutschlands, die 1867 im großen die Kolonisierung 
der Geisteskranken ins Werk setzte. Es war damals von der königlichen 
Staatsregierung zu diesem Zweck die Meierei Zschadraß bei Colditz ge¬ 
gründet worden, aus der sich dann 1894 die jetzige selbständige und von 
ihrer Mutteranstalt Colditz nunmehr unabhängige koloniale Heil- und 
Pfleganstalt Zschadraß entwickelt hat. 

Alle arbeitfähigen chronischen Kranken der damaligen Anstalt 
Colditz, die zu jener Zeit alle unheilbaren männlichen Kranken aus dem 
ganzen Lande aufnahm, wurden in dieser Meierei beschäftigt. Die 
Zahl der Kranken betrug schließlich etwa 300. Es kam zu einem großen 
Bestand guter Arbeiter. Die Meierei blühte und gedieh, gedieh auch in 
finanzieller Beziehung. 

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Hösel, 


Dies wurde anders, als das System der kolonialen Heil- und Pfleg¬ 
anstalten im Sinne der Altscherbitzer Anlage allgemein im Königreich 
Sachsen als Bauart übernommen wurde. Dies erfolgte Anfang der neun¬ 
ziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. 

Mit der Übernahme dieses vollständig neuen Systems, das in seinem 
Wesen etwas grundsätzlich und vollkommen Verschiedenes gegenüber den 
bisherigen Bau- und Verpflegweisen darstellte, hätte sich nun auch grund¬ 
sätzlich die Art der Irrenfürsorge und ihr Verhältnis zur Armenpflege 
ändern müssen. Das geschah aber nicht. Man übernahm einfach das neue 
System, das zwar für preußische Provinzialverhältnisse mit ihrer Armen¬ 
gesetzgebung paßte — nämlich für alle anstaltbedürftigen Geistes¬ 
kranken Fürsorge zu treffen —, nicht aber für Sachsen, für das jene all¬ 
gemeine Fürsorge noch nicht einheitlich geregelt war, sondern das die 
Fürsorge nur bedingt auf heilbare und unheilbar gefährliche Kranke 
erstreckte und diese beschränkte Form der Fürsorge auch weiterhin bei¬ 
behielt. Während also für die preußischen Provinzen der Bau kolonialer 
Irrenanstalten infolge der bereits damals bestehenden Armengesetzgebung, 
die sich auf alle fürsorgebedürftigen Kranken erstreckte, gerechtfertigt 
und das einzig richtige war, blieben in Sachsen, das das System, ohne seine 
Armengesetzgebung zu ändern, einfach übernommen hatte, für seine 
kolonialen Heil- und Pfleganstalten die erstrebten Erfolge aus. 

Hierzu gesellte sich noch ein zweiter Umstand, der die 
rechte Entwicklung der Meiereien beeinträchtigte. 

Im System der kolonialen Anstalten waren nämlich außer der Anstalt 
Zschadraß (1894) auch noch andere Anstalten neu gebaut worden, nämlich 
Untergöltzsch und (1893) Großschweidnitz (1902). Diesen fehlten aber 
naturgemäß ebenfalls die landwirtschaftlichen Arbeiter. Trotzdem er¬ 
hielten aber auch sie ihre landwirtschaftlichen Betriebe. 

Natürlich mußte diesen nun geholfen werden, und so mußten denn 
aus Zschadraß und den bestehenden anderen und älteren Anstalten, die 
unterdes ebenfalls Meiereien erhalten hatten, z. B. Hubertusburg, Sonnen- 
stein usw., für jene Anstalten alle die landwirtschaftlichen Arbeiter ent¬ 
nommen und in die neuen Anstalten versetzt werden, die in die Aufnahme¬ 
bezirke dieser Anstalten gehörten. Damit reduzierte man aber für die 
alten Meiereien deren Bestände in so empfindlicher Weise, daß beiden 
Teilen nicht nur nicht geholfen wurde, sondern daß man die alten Meiereien 
in ihren Beständen und Betrieben direkt schädigte. Diesen waren zu viel 
und zum Teil die besten Arbeitkräfte entzogen worden, und jenen genügten 
die Übernommenen auch nicht. 

Die jetzige Reform macht diese Unterlassung nun wieder gut, und man 
muß der königlichen Staatsregierung dankbar sein, daß sie im Interesse 
der eignen Anstalten nunmehr eingriff und die Änderung vornahm, zumal 
drse noch nach einer anderen Richtung hin eine günstige 
Wirkung ausüben dürfte. 


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Ober das neue Irrenfürsorgegesetz im Königreich Sachsen. @55 

Bisher sammelten sich, wie oben dargetan, in der nach dem kolonialen 
Typ erbauten Anstalt die unheilbar gefährlichen Kranken an. Über arbeit- 
fähige, für ihre Meiereien geeignete Kranke verfügte die Anstalt nicht, 
oder wenigstens nicht in ausreichender Weise. Wo waren aber diese 
Kranken ? Dieselben befanden sich in Gemeindepflege, waren in Armen-, 
Siechen-, kleinen Krankenhäusern, Bezirksanstalten. Dort hatten sie aber 
in den kleinen Verhältnissen keine ausreichende Arbeitgelegenheit, ver¬ 
kümmerten, bildeten eine fühlbare Last. Hier wurden sie vermißt, dort 
belästigten sie in hohem Grade. Auch diese * Mißstand wird von nun 
ab behoben. Von jetzt ab können ihre bisher mehr oder weniger b.ach 
gelegenen Kräfte allmählich ausgenutzt, sie können zu nützlichen Menschen 
herangebildet, ihre noch vorhandenen Spannkräfte dem Meiereibetrieb der 
Anstalt nutzbar gemacht werden. 

Damit verbindet sich wiederum ein weiterer Vorteil. Man 
verbilligt den Betrieb. Denn es ist klar, daß es sich mit einer größeren 
Zahl solcher Kranker trotz verminderter Arbeitkraft billiger arbeiten 
läßt, als wenn man freie und gesunde Arbeiter zu hohem Lohne anwerben 
muß, ganz abgesehen davon, daß es fraglich ist, ob man solche infolge 
der bestehenden Landflucht der Arbeiter überhaupt bekommt. 

Mit der Neuregelung gewinnen also voraussichtlich sämtliche An¬ 
stalten des Landes. Sie erhalten in den ungefährlicheren Kranken, die nun¬ 
mehr aufgenommen werden dürfen, nicht nur das notwendige Verdünnungs- 
material, sie erhalten besonders wieder Arbeiter für ihre landwirtschaft¬ 
lichen Betriebe. Die letzteren werden damit wieder koloniale Heil- 
und Pfleganstalten, also das, was sie von Haus aus sein sollten, nämlich 
Heil- und Verpflegstätten für solche Geisteskranke, deren Eigenart es 
zuläßt, daß sie landwirtschaftlich beschäftigt und ausgenützt werden 
können, für Kranke also, für die der Betrieb ursprünglich gerade gedacht 
und errichtet worden war. 

Aber auch eine zweite überaus wichtige Verpflegungsart läßt 
sich neben der kolonialen Verpflegung nunmehr energisch in Angriff 
nehmen, das ist die Familienpflege der Geisteskranken. 

Bisher fehlte den Anstalten Sachsens für diese Verpflegungsform 
gleichfalls das geeignete Krankenmaterial. Dies lag wieder an der bis¬ 
herigen Gesetzgebung, nach welcher die Fürsorge an Geisteskranken, 
wie erwähnt, eine geteilte war. Die staatlichen Landesanstalten nahmen 
nur die heilbaren und unheilbaren gefährlichen Geisteskranken — wie 
erwähnt, nicht im Sinne einer Verpflichtung —, die Gemeindeverwaltungen 
hatten dagegen für den Rest, die große Masse der Ungefährlichen, zu sorgen. 
Unter den letzteren befanden sich aber gerade diejenigen Kranken, die sich 
überhaupt nur für die Familienpflege eigneten. Es war daher den bis¬ 
herigen Vorschriften gemäß den staatlichen Irrenanstalten Sachsens nicht 
möglich, sich die Familienpflege als Verpflegart für die Fürsorge von 
Geisteskranken, wenigstens in größerem Umfange, dienstbar zu machen 


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Hösel, 


De lege lata war dies Sache der Gemeindeverwaltungen, beziehentlich 
der Ortsarmenverb&nde gewesen. Diese konnten sie aber aus begreiflichen 
Gründen nicht organisieren. Denn ihnen und ihren Beratern fehlten nicht 
nur alle Mittel der Organisation, sondern besonders auch jedes sach¬ 
kundige Verständnis für die Durchführung dieser noch jungen und im 
Aufblühen begriffenen Verpflegform, die am besten nur von dem Zentrum 
einer bestehenden Heil- und Pfleganstalt aus organisiert und unterhalten 
wird. 

Nach Einführung des neuen Irrengesetzes wird diese Verpflegart 
nunmehr großzügiger betrieben werden können. 

Anfänge haben im Königreich Sachsen seit vorigem Jahre ja einige 
Landesanstalten schon gemacht. Zschadraß hat seit 1911 16 Kranke, 
Sonnenstein 9 Kranke in Familienpflege, zwar ein kleiner Anfang, der 
aber doch nun zum Weiterschaffen anregt und begründete Hoffnung 
aufkommen läßt, daß in Zukunft diese Verpflegart ausgebreitetere 
Anwendung bei den Anstalten finden wird. 

Hierbei wird sich auch zeigen, daß außer der kolonialen Verpflegung 
auch die Familienpflege weiter verbilligend auf den Betrieb 
wirken wird. Denn in dem kurzen Zeitabschnitt, seit welchem Versuche 
mit der Einführung der Familienpflege hier in Zschadraß gemacht worden 
sind, hat sich gezeigt, daß allein hier rund 1500 Mark Unterhaltungs¬ 
kosten in einem viermonatlichen Zeitraum bei 16 Kranken erspart worden 
sind, abgesehen davon, daß für jeden Familienpflegling in der Anstalt 
ein Platz frei und anderweit verfügbar geworden ist. Würde z. B. die 
Familienpflege von Anfang bis Ende des ganzen Jahres 1911 in Zschadraß 
durchgeführt worden sein, so hätte sich folgendes ergeben: 

Nehmen wir an, es seien 1911 12 Kranke dauernd in Familienpflege 
gewesen, so wären diese 4380 Tage verpflegt worden. Diese Verpflegung 
hätte in der Anstalt — den Tag zu 2,42 Mark berechnet — 10 599,60 Mark 
jährliche Kosten verursacht. Die gleiche Zahl Verpflegungstage in der 
Familienpflege, nach dem Durchschnitt vom Jahr 1911 auf 1,25 Mark 
berechnet, würden aber nur 5387,40 Mark gekostet haben. Dies ergibt 
eine Ersparnis von rund 5200 Mark im Jahr bei 12 Kranken. 

Wird nun in Zukunft der Betrieb der Anstalt vergrößert, werden 
in Zukunft auch genügend Pfleglinge aufgenommen, die sich für diese 
Verpflegungsform eignen, was zu erwarten steht, so kann natürlich auch 
die Familienpflege erweitert werden, und damit steigern sich dann auch 
die Ersparnisse an den Unterhaltungskosten. 

Also auch in finanzieller Beziehung bringt das neue Irrenfürsorge - 
gesetz und die sich daran schließende Reform des Irrenwesens den 
Landesanstalten selbst anerkennenswerte Vorteile. 

3. Aber auch für die Gemeinden wird die Reform segens¬ 
reich wirken. In dieser Beziehung ist es ein überaus gesunder Gedanke 


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Ober das neue Irrenfürsorgegesetz im Königreich Sachsen. 657 

gewesen, die Lasten der ganzen Reform auf zwei grundsätzlich verschiedene 
Verwaltungstellen zu verteilen. 

Die Reform unterscheidet zwischen der Verpflichtung zur Kranken¬ 
fürsorge und der Verpflichtung zur armenrechtlichen 
Fürsorge. Unter ersterer versteht sie die tatsächliche Kranken¬ 
versorgung, unter letzterer die Verteilung der Kosten 
zwischen Staat und Gemeinde, falls der Kranke 
oder seine U n t e r h a 11 p f 1 i c h t i g e n sie nicht be¬ 
zahlen können. 

Diese Pflichten verteilt sie. Die Last der Krankenfürsorge, 
also die Last der tatsächlichen Krankenversorgung, 
übernimmt der Staat allein, die Lasten der armenrecht¬ 
lichen Fürsorge übernimmt Staat und Gemeinde 
zusammen. 

Die Reform halbiert also gleichsam. Sie teilt unter Berücksichtigung 
der bisher in Geltung gewesenen armenrechtlichen Gesetzgebung, indem 
sie die letztere an sich unverändert beibehält und nur im Hinblick auf den 
veränderten Zeit- und Geldwert einer Umänderung unterzieht, ein überaus 
wichtiger Umstand, da nur auf diesem Wege ermöglicht wurde, daß die 
Reform der Kostenfrage wegen nicht scheiterte. 

Und hierin liegt die Lösung der zweiten grundsätzlich wichtigen 
Forderung, die an die Neuregelung zu stellen war, und die eine überaus 
glückliche zu nennen ist, nämlich die Forderung einer rich¬ 
tigen Verteilung und Begrenzung des Pflichten¬ 
kreises zwischen Staat und Gemeinde. 

Die Armenlasten für die Fürsorge zu tragen, bleibt wie bisher den 
Gemeinden, den Bürgermeistern und Gemeindevorständen überlassen, 
die auf Grund ihrer gesetzlichen Fürsorgepflicht für die Unter¬ 
bringung zu sorgen hatten. Diese selbst aber übernimmt für 
sämtliche Kranke der Staat. 

Daß dabei die Beitragsanteile der Gemeinden erhöht werden mußten, 
war freilich nicht zu umgehen, entsprach aber vollkommen den veränderten 
Zeitverhältnissen und Geldwerten. Ein Verpflegbeitrag der Gemeinden 
in Höhe von 50 Pfennig pro Kopf und Tag, wie er bisher in Gültigkeit 
war, entsprach Verhältnissen der Vorzeit, nicht aber den Zeitwerten der 
Gegenwart. Eine Erhöhung auf 1,25 Mark pro Kopf und Tag entsprach 
also nur den einfachsten Forderungen der Gerechtigkeit und Billigkeit, 
übrigens auch den gesetzlichen Bestimmungen, die festsetzten, daß der 
Beitrag der Gemeinden der Hälfte des üblichen Unterhaltungsaufwandes 
eines Kranken zu entsprechen habe. Dieser Gesamtaufwand betrug aber 
schon seit langem rund 2,50 Mark und nicht mehr 1 Mark pro Kopf und Tag. 

Die mit der Einführung des Gesetzes notwendig gewordene E r - 
h ö h u n g der Verpflegbeiträge war nun freilich für die Ge¬ 
meinden zunächst eine Härte, die sich aus der Reform ergab. Sie wurde 


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Hösel, 


aber ausgeglichen durch zwei weitere Maßnahmen von grundsätzlicher 
Wichtigkeit, deren Kenntnis nicht ohne Interesse sein dürfte. Die Reform 
erhöhte wohl den Verpflegsatz für die Gemeinden, hob aber dafür 
alle Unterschiede auf, die in bezug auf Aufnahme und Unter¬ 
bringung die einzelnen Gemeinden trafen. Der Staat, der 
bisher nur einem Teil der Kranken Fürsorge gewährte und zwar in der 
Hauptsache nur denen, die die kleineren und mittelgroßen 
Gemeinwesen unterzubringen hatten, nimmt nunmehr auch die Kranken 
der großen Städte auf. Diese waren bisher von der Aufnahme 
so gut wie ausgeschlossen. Dies wirkte aber ungerecht, besonders auch 
im Hinblick auf die Steuerkraft der letzteren, die naturgemäß wesentlich 
größer war als die der kleinen Gemeinden. Jene stellten dem Lande den 
größten Betrag an Einkommensteuern, von denen die Landesanstalten 
in • der Hauptsache ja unterhalten wurden, und hatten trotzdem keinen 
entsprechenden Anteil an den Vorteilen der Anstalten, die zunächst die 
Not der kleinen Gemeinden lindern sollten. Diese Härte wird nunmehr 
beseitigt. 

Die Reform mildert aber weiterhin den erwähnten Nach¬ 
teil, der durch die Erhöhung der Beiträge entsteht, noch dadurch, 
daß sie, nachdem das Gesetz in Kraft getreten sein wird, eine sehr 
geschickte Änderung des Beitragsverfahrens der Ge¬ 
meinden plant. 

Die Beschaffung dieser Beitragslasten lag bisher jeder einzelnen 
Gemeinde, beziehentlich jedem einzelnen Ortsarmenverband für alle 
seine Kranken ganz allein ob. Dies schuf große Ungleichheiten. In 
Zukunft werden sie nun auf breitere Schultern gelegt und zwar auf die 
der größeren Bezirksverbänd e. Dieses Verfahren mildert 
die Beitragshärten überaus. Ein einziger oft armer Ortsarmenverband 
hatte bisher manchmal für 2—3 Kranke die Fürsorgelasten aufzu¬ 
bringen, ein anderer, reicherer oft aber gar keine. Denn er hatte keinen 
Geisteskranken in seiner Gemeinde, für den er unterhaltpflichtig war. 
Nach Inkrafttreten des Gesetzes ändert sich dies. Die Lasten werden 
auf den größeren Bezirksverband übernommen und werden damit 
gerechter und weniger fühlbar verteilt. Diese neue Regelung mildert 
also den Zwang, erhöhte Beträge zu fordern, ganz wesentlich, be¬ 
ziehentlich hebt die bisher bestehenden Härten ganz auf. 

Die allgemeinen Betrachtungen über das neue Irrenfürsorge¬ 
gesetz ergeben also ganz helle Lichtseiten und schwächen die Schatten, 
die dasselbe zugleich wirft, in überaus angenehmer Weise ab. 


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Ober das neue Irrenfürsorgegesetz im Königreich Sachsen. 


659 


Das Irrenfürsorgegesetz hat bewirkt, daß 

L die gesamte Irrenpflege Sachsens zen¬ 
tralisiert worden ist, 

IL daß die Lasten, die es verursacht, ver¬ 
teilt werden und zwar so, daß 

1. die tatsächliche Krankenversorgung an 
den ortsarmen Geisteskranken der Staat allein 
übernimmt, daß 

2. die armenrechtliche Fürsorge auf Staat 
und Gemeinde, den bisherigen gesetzlichen 
Bestimmungen gemäß, verteilt bleibt, aber 
so verteilt wird, daß 

1IL der Lastenanteil, dessen Bestreitung den 
Gemeinden obliegt, auf den leistungfähigeren 
und größeren Bezirksverband übernommen 
wird, wodurch seine Erhebung minder empfind¬ 
bar wird. 


IV. 

Zu den einzelnen Paragraphen des Gesetzes ist 
folgendes zu bemerken: 

Nach dem § 1 des Gesetzes sollen nur Erwachsene in den 
Landesanstalten Aufnahme finden. Dies erscheint zweckmäßig, da 
Kinder nicht eigentlich in den Rahmen der Heil- und Pflegeanstalten 
passen, soweit sie im schulpflichtigen Alter stehen. Das ganze Milieu 
in den verschiedensten Abteilungen einer modernen Irrenanstalt 
würde eher schädigend wie heilend auf kindliche Gemüter einwirken. 
Es erschien daher zweckmäßig, sie auszuschließen und für den Fall, 
daß sich Aufnahmen häufen sollten, sie in einer bestimmten, dazu 
eingerichteten Anstalt zu sammeln und zu verpflegen. In Aussicht 
genommen ist vorläufig, jedoch noch nicht endgültig, die Anstalt 
Großhennersdorf, die eigentlich für Idioten bestimmt ist. Ob sich freilich 
diese Anstalt, die zur Aufnahme für bildungunfähige tief verblödete 
Kinder (Idioten) bestimmt ist, nebenbei auch für geisteskranke Kinder, 
<L h. für Kinder, die an funktionellen Psychosen leiden — bildung¬ 
fähige Schwachsinnige sind in Chemnitz-Altendorf mit den Blinden 
zusammen untergebracht —, eignet, muß bezweifelt werden, selbst 


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UMIVERS1TY OF folCHlGAN 



660 


Hösel, 


wenn man sie räumlich von jenen trennt. Auch die exzentrische Lage 
der Anstalt im äußersten Winkel Sachsens spricht aus praktischen 
Gründen dagegen. Viel eher würde sich hierzu die Krankenabteilung 
einer Erziehungsanstalt, etwa Altendorf, eignen, wo die geisteskranken 
Kinder in einem besonderen Krankenpavillon abgetrennt und dem 
idiotischen Milieu Großhennersdorfs entzogen sind, zugleich aber dem 
Schulunterricht übergeben werden können, soweit dies ihr Zustand 
zuläßt. 

Eine weitere Beschränkung enthält der § 1 den Epileptikern 
gegenüber. Zur Aufnahme zugelassen sind nur die gewalttätigen 
epileptischen Irren, die einfachen Epilepsiekranken, diejenigen also, 
die an der einfachen Neurose leiden, nicht. Dies ist grundsätzlich 
richtig. Denn diese Kranken kann man nicht zu den Geisteskranken 
im Sinne dieses Gesetzes rechnen. Dann gehören sie aber auch nicht 
in die Heil- und Pfleganstalten, die nur Geisteskranken Fürsorge 
gewähren sollen. Inwieweit freilich der einzelne Fall auszuschließen 
ist, ist noch zu erörtern (siehe unten unter Ausführungen über § 2). 

Eine weitere Beschränkung zur Aufnahme in die Landes¬ 
anstalten erstreckt das Gesetz auf die Selbstzahler. Das 
Gesetz verpflichtet den Staat nur zur Aufnahme von Kranken, die von 
Gemeinden oder Ortsarmenverbänden unterzubringen sind. Für 
selbstzahlende Kranke über nimm t der Staat also keine Ver¬ 
pflichtung. Trotzdem werden aber solche wie bisher auf¬ 
genommen werden, und die Regierung wird, wie dem Deputations¬ 
berichte zu entnehmen ist, solchen Gesuchen eine wohlwollende Be¬ 
handlung zuteil werden lassen, freilich nur insoweit der Platz reicht. 

Eine wichtige Angelegenheit behandelt der §2 des Ge¬ 
setzes. 

Hier werden gewisse weitere Voraussetzungen geregelt, unter 
welchen ein Kranker im Sinne von § 1 aufgenommen wird. Die erste 
Vorbedingung ist ein ärztliches Gutachten. 

Im Vorentwurf war die Aufnahme von dem Urteil des Bezirks - 
a r z t e s abhängig gemacht. Die Aufnahme sollte erfolgen, wenn der 
Kranke nach dem Gutachten des Bezirksarztes anstalt¬ 
bedürftig war. 

Dies hatte Bedenken in mehrfacher Beziehung. Zunächst erschien 
es bedenklich, daß nur der Bezirksarzt befugt sei, das Zeugnis 
zur Aufnahme auszustellen. Durch diese Maßregel würden die Aufnahmen 


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Über das neue Irrenfürsorgegesetz im Königreich Sachsen. 661 


und Zuführungen nur erschwert und verzögert worden sein. Es wider¬ 
sprach auch den bisherigen Gepflogenheiten und Bestimmungen, nach 
welchen zur Ausstellung der ärztlichen Formulargutachten auch die 
praktischen Ärzte zugelassen waren, von denen ja schon lange der Besuch 
der psychiatrischen Kliniken während der Studienzeit und die Ablegung 
einer Prüfung in Psychiatrie verlangt wurde, und die daher jetzt meist 
genau so gut mit den Hauptkrankheitbildern geistiger Störungen vertraut 
sind wie die Bezirksärzte. Macht man daher zur Ausstellung der Zeugnisse 
auch die praktischen Ärzte zuständig, so wird das ganze Aufnahme- 
verfahren wesentlich erleichtert, und die Zuführungen besonders frisch 
Erkrankter werden rascher vor sich gehen. Der praktische Arzt ist sofort 
zur Stelle, muß nicht erst aus oft weiter Entfernung herbeigeholt werden 
wie der Bezirksarzt. Er kennt meist den Kranken und dessen Familie 
seit langer Zeit, hat ersteren gewöhnlich schon selbst länger beobachtet 
und hat deshalb ein meist besseres Urteil als der dem Fall fremder gegen¬ 
überstehende Bezirksarzt, der entweder prima vista urteilen oder erst 
mehrere Besuche machen muß. 

Dieser letztere Umstand erschien auch nach der finanziellen Seite 
hin beachtlich. Denn durch die wiederholten, meist aus größerer Ent¬ 
fernung unternommenen Reisen des Bezirksarztes wird das Aufnahme- 
verfahren natürlich ganz wesentlich verteuert. Außerdem ist auch der 
praktische Arzt gewöhnlich der Armenarzt. 

Genügt in dem einen oder anderem Fall das Zeugnis des praktischen 
Arztes nicht, läßt es Zweifel an seiner Zuverlässigkeit zu, ist der Fall 
unzulänglich geschildert, so kann außer diesem noch ein solches vom 
beamteten Arzt herbeigezogen werden. In der Regel wird das Formular¬ 
gutachten des praktischen Arztes aber genügen. 

Sodann erforderte der Vorentwurf: „Die Anstalten sollten den 
Kranken dann aufnehmen, wenn er nach dem Urteile des Bezirks - 
a r z t e s der Behandlung oder Pflege in einer Irrenanstalt b e d ü r f e“. 
Auch dies war nicht angängig. 

Über die Zulässigkeit einer Aufnahme zu entscheiden, mußte unbe¬ 
dingt der Anstaltsdirektion Vorbehalten bleiben, nicht nur 
aus verwaltungstechnischen Gründen (Frage nach der Eignung des Kranken 
für die betreffende Heil- und Pfleg- oder Sonderanstalt für Epileptiker, 
Schwachsinnige, Idioten, bescholtene und vorbestrafte Kranke beziehent¬ 
lich kranke Verbrecher usw. siehe Abschnitt V), sondern besonders aus 
rechtlichen. Denn nur die Anstaltsdirektionen allein 
können verantwortlich gemacht werden für die Gesetzlichkeit 
der Aufnahmen und der Beibehaltung der Kranken in zivil- und straf¬ 
rechtlicher Beziehung. Sie können in dieser Verantwortlichkeit nicht 
und durch niemand, also auch nicht durch den beamteten Bezirksarzt 
beschränkt werden. Das ist ohne weiteres verständlich. Wenn der Bezirks- 
arzt die Befugnis hat, auf Grund seines Urteils über den Begriff „Anstalts- 


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Hösel, 


bedürftigkeit“ die Aufnahme eines Kranken in die Anstalt zu beschließen, 
so hätte sich ja die Anstaltsdirektion diesem Beschlüsse ohne weiteres 
fügen müssen. Dies war unmöglich. Denn man kann eine Anstaltsdirektion 
nicht verantwortlich machen für Verfügungen, die sie nicht getroffen 
hat. Was könnte dieses Verfahren für Folgen haben? Man denke nur 
an die große Zahl zweifelhafter Qrenzzustände, an die Unzuträglichkeiten, 
Ärgernisse und gegebenenfalls persönliche Haftung des Anstaltsdirektors, 
wenn er einen Menschen aufnimmt oder beibehält, der nicht geisteskrank 
ist. Das Interesse des Kranken erfordert hier unbedingt eine einwand¬ 
freie Feststellung der Geisteskrankheit, und nur nach dieser kann ein 
Anstaltsdirektor die Aufnahme oder Beibehaltung gutbeißen. In seinem 
Urteil muß er dann aber frei sein. Er kann seine Entschließung nicht an 
das Urteil eines Dritten gebunden erachten lassen, sondern muß nach 
eignem pflichtmäßigen Ermessen urteilen und lediglich nach seinem Urteil 
die Aufnahme genehmigen oder ablehnen können. Die Aufnahme ist ein 
Amtsakt. des verantwortlichen Anstaltleiters, keines anderen. 

Die Formel mußte also lauten: 

„Über die Aufnahme entscheidet die An- 
staltsdirektion“ auf Grund eines ärztlichen 
oder bezirksärztlichen Gutachtens. 

Nach den bisherigen Betrachtungen kann also nur die Anstalts¬ 
direktion nach freier Würdigung des Falles die Aufnahme eines Kranken 
genehmigen oder ablehnen. Dasselbe gilt von der Beibehaltung oder 
Entlassung eines solchen auf Antrag von dritter Seite. 

Lehnt die Anstaltsdirektion ab, was geschieht 
dann? 

Dann kann nach dem Gesetz gegen den ablehnenden Beschluß 
Beschwerde eingelegt werden und zwar bei der zuständigen 
Kreishauptmannschaft, die endgültig entscheidet. 

Es entsteht die Frage: Ist dieser Weg richtig? Und 
wenn, ist das Beschreiten dieses Weges aus¬ 
reichend? Führt er zum Ziele? 

Die Frage kann nicht unbedingt bejaht werden. Ihre Beant¬ 
wortung ist von bestimmten Voraussetzungen abhängig. 

Zunächst ist klar, daß das vom Gesetz angeordnete gerichtliche 
Verfahren ein Verwaltungsstreitverfahren darstellt. 

Liegen die Gründe, die zur Beschwerde Anlaß gegeben haben, 
auf polizeilichem, armenrechtlichem oder verwaltungstechnischem 
Gebiete, so ist der einzuschlagende Weg zulässig und zweifellos der 
richtige. 


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Ober das neue Irrenfürsorgegesetz im Königreich Sachsen. 663 


Wie gestalten sich aber die Verhältnisse, wenn die Ablehnungen 
gründe auf psychiatrischem, also medizinischem Gebiete 
liegen, wenn die Notwendigkeit an die Anstaltsdirektion herantritt, 
die Aufnahme abzulehnen wegen Vorliegens zweifelhafter 
Geisteszustände etwa inGrenzfällen oder aus anderen 
ärztlichen Gründen? Soll auch in diesen Fällen über die Beschwerde 
die höhere Verwaltungstelle befinden? 

Wie aus dem Deputationsberichte hervorgeht, rief diese Frage eine 
längere Aussprache hervor. Die Deputation kam dabei zu dem Resultat, 
daß die Zulassung der Beschwerde an die Kreishauptmannschaft genüge, 
und daß für den Schutz der persönlichen Freiheit die Zivilprozeßordnung 
in Verbindung mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch schon jetzt ausreichende 
Handhaben biete. Selbst wenn man aber der Meinung sein sollte, daß 
diese nicht ausreichten, so müsse man doch zu dem Schluß kommen, 
daß das vorliegende Gesetz nicht die geeignete Stelle sei, um eine so tief> 
einschneidende Frage zu regeln. 

Damit wird anerkannt, daß eine gesetzliche Regelung der Angelegen¬ 
heit erwünscht erschien. Man trug nur Bedenken, dies im Gesetz 
zu tun. Die Erfüllung der Forderung etwa auf dem Verordnungswege 
dürfte aber notwendig werden. Hierfür sprechen folgende Über¬ 
legungen: 

In welchen Fällen, fragt man, wird denn der Be¬ 
schwerdeweg hauptsächlich betreten werden? 
Unter welchen Umständen werden bei dem Auf¬ 
nahmeverfahren, beziehentlich in Fällen der Bei¬ 
behaltung oder Entlassung eines Kranken Ver¬ 
schiedenheiten in der Beurteilung eintreten? 

Dies kann erfolgen: 

1. in allen polizeilichen, armenrechtlichen, verwaltungstechnischen 
Fragen, 

2. bei abweichender Auffassung des Begriffs „Geisteskrankheit“, 
des Begriffe „gewalttätiger epileptischer Irrer“, des Begriffs „der 
Behandlung und Pflege in einer Landesanstalt bedürftig“. 

Bei Beantwortung dieser Fragen ist zugleich zu erörtern: „Sind 
dies Streitfragen, die vor das Forum einer Ver¬ 
waltungsbehörde gehören? 

1. Was die Beschwerden über reine Verwaltungs¬ 
angelegenheiten in formaler und materieller Hinsicht an- 

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Hösel, 


belangt (Zuständigkeit der Armenverbände, Angelegenheiten über den 
Unter8tützungswohnsitz, die Staatsangehörigkeit, über Zahlungs¬ 
verbindlichkeiten und das ganze Kostenwesen, Zuständigkeit in Polizei¬ 
angelegenheiten usw. usw.), so bedarf die administrative Behandlung 
derselben im Instanzen- bzw. Beschwerdewege an dieser Stelle keiner 
Erörterung. Es ist selbstverständlich, daß diese Stoffe auf dem Ver¬ 
waltungswege zum Austrag kommen müssen, und es ist ebenfalls 
selbstverständlich, daß die Kreishauptmannschaft als obere Ver¬ 
waltungstelle die endgültige Entscheidung zu treffen hat. 

2. Anders steht es mit denjenigen Beschwerdepunkten, die das 
medizinische Gebiet streifen oder betreffen. 

A. Was zunächst den Begriff „Geisteskrankheit“ 
anbelangt, so ist dieser einer absolut sicheren Umgrenzung nicht 
zugängig. Er kann enger gefaßt werden und weiter. Es kann also 
die Streitfrage entstehen: Erstreckt sich — unter Voraussetzung 
gleichzeitig bestehender Anstaltbedürftigkeit — die Fürsorge nur auf 
Geisteskranke im engeren Sinne oder rechnet man auch Kranke dazu, 
die psychotische Symptome in mehr oder weniger großer Zahl auf¬ 
weisen, die man aber trotzdem oder wenigstens nicht immer zu den 
Geisteskranken im engeren Sinne zählt? 

Inwieweit erstreckt sich die Pflicht des Staates zur Kranken¬ 
fürsorge z. B. auf die sogenannten geistig „Siechen“? Ein großer 
Teil dieser Kranken zeigt zweifellos geistige Krankheitsymptome, 
und man könnte sie aus dem Grunde zu den „Geisteskranken“ rechnen. 
Man denke an das Gros der Apoplektiker, der Tabo-Paralytiker, der 
Kranken mit Gehirntumoren, auch an die, die den Übergang zum 
„Nervösen“ bilden und sich nicht ohne weiteres unter die Formel 
„geisteskrank“ im engeren Sinne rubrizieren lassen. Eine Entscheidung 
darüber, ob dieser oder jener von diesen Kranken bedürftig sei, durch¬ 
aus in einer Irrenanstalt verpflegt zu werden, dürfte in praxi doch 
gelegentlich auf Schwierigkeiten stoßen. 

B. Das gleiche gilt bei der Begrenzung des Begriffs „gewalt¬ 
tätiger epileptischer Irrer“. Umgrenzt wird der 
Begriff im Gesetz durch die Eigenschaftswörter „gewalttätig“ und 
„irr“. Ob die Begrenzung in dieser Form eine befriedigende sein wird, 
muß die Erfahrung lehren. Geisteskranke Epileptiker gehören auf alle 
Fälle mit zu den Fürsorgebedürftigen im Sinne des Gesetzes. Daß 


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Über das neue IrreüfürÄwgegeseis im Königreich Sachsen. fißfj 

dasselbe die Fürsorge aber. ÄM äiytfsolche geisteskfaüke Epü^ptikei 
ausdehnfc, die g e w a i 1 1ä t-i g sind, ecsefce^vt sit eug; E? gibt 
geisteskranke. EpUcptifeer, die gewalttätig sind und doch der 
kranken- oder bedürfen, jJiese auszit- 

schließen, schafft tingMf#h#<o>. iWhäibm deme&ch aße. .Epileptiker, 
die - „irr“ also gfisteskraftk sind, hÄbesebränkt de? Fürsorge tm Sinne 
des Gesetzes unterstehen sollen, gleichgültig, ob ■$& gewalttätig sind 
oder'nicht. e/ 

Der Begriff > »gewalttätig“ fet- aii&rdeiti imijestimißbar, dehhbar f 
begrifflich verschieden deutbar. Br wird infolgedessen z» ähniidien 
Schwierigkeiten üthren^ wie früher der Begriff „der Gefährlichkeit“, 
Atteii au? diesem Grunde hätte er besser wegbteiben sollen, 

; ■ £U; Eine weitere Schwierigkeit für ebffö klare Abgrenzung des 

Begriffs „AüHtaltbcdiirUigkeit" 1 bietet ferner die Gruppe der A I k o - 
'h o 1 i 8 | e n. Die Benrteiiang, ob et» *is Geisteskraokc itn engeren 
Sinne zu bezeichnen sind und der Pflege beziehentlich der Bchamllung 
durchaus in einer Icrenanstalt bedürfen, ist. überaus strittig.. Bei der- 
Entscheidung hkrübat wird gleichfalls won dem .Einzrfbd! ü>umgangen 
werde» müssen. Es werden sich affgemet« gülbge Kegeln kaum auf- 
stellen lassen. Kranke «\ii & k *a.t:man:-- 
ja auch unter die Geistoskrankoü dm • mediziidseben Sinne rechnen. 
Aber wie schon das Bürgerliche sie unter eine Ausnahme 

stellt, so wird dies aueh in \erwaltUiig¥.rcohtlichein Sinne erfolgen 
müssen. 

Viele von diesen Kranken werden auch gar nicht erst anstajt - 
bedürftig werden, sondern werden bei Hofortiger AbstuöjjnÄatc (M 
und Stelle der Erkrankung sehr rasch zur Genesung koh«ö^ni|tSi<'- 
erst deshalb in die Landesanstalt zu bringen, weil mm 
Delirium feinem - Kranke usw. zugleich ,iifc 
.kann, wird auch nicht ira feteresse dieser K ruüken liegen, ffft wird 
der Transport auch gar nicht dureht ährten Min. 

Aber auch bei chroniechc » Tnokem dürfte ctif&e Jiut- 
wendigkeit, sie als Kurobjekte für Beil- : n-te l'ii' : .r.-.i.itcn HüD.ufa«>t*u. 
nicht genügend begründet seit», Vo».dte:vn 'g*»Jiürt ; jein.ifete Teil in 
die spezifischen Tnnkeraj?yle und Jn. die Irren¬ 
anstalten gehören sie nur, 'wenn, der : • J<--: prcisfetonukbtüi 

so in den Vordergrund, tritt* daß dasp.»;G/.fe^;ACöii^nt r \ätö? ’i\ikoht>E 



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666 


Hösel, 


dabei fast verschwindet. Ist aber letzterer und seine akute Wirkung 
bei der Beurteilung das vorherrschende und bestimmende Moment 
so gehört der Kranke in die Trinker- Heil- und Pfleganstalt. 

Freilich besteht eine solche unter staatlicher Leitung in Sachsen 
leider noch nicht. Dies war bei den bisher geltenden Verwaltungs¬ 
grundsätzen auch nicht nötig. Denn die akuten Alkoholkranken 
wanderten in die lokalen Krankenanstalten, wo sie bei Abstinenz 
bald wieder zur Entlassung kamen. 

Wenn nun in Zukunft aber alle Geisteskranken vom Staate 
übernommen werden, so werden sich unter diesen natürlich auch mehr 
geisteskranke Alkoholiker befinden. Diese aber in den allgemeinen 
Heil- und Pfleganstalten zu behandeln hat große Bedenken, und es 
dürfte sich deshalb viel mehr empfehlen, sie wie die geisteskranken 
Epileptiker von den anderen Geisteskranken zu trennen und zu sammeln 
und in einer besonderen staatlichen Trinkeranstalt zu verpflegen. 
Dies ist an sich praktischer. Eine derartige Trennung erleichtert 
besonders auch den ganzen Anstaltsbetrieb. 

Nun ist freilich gegenwärtig noch nicht die Zeit gekommen, eine 
staatliche Trinkeranstalt zu erhalten, obgleich die Zahl der Kranken 
hierzu ausreichte und die Notwendigkeit zum Bau einer solchen längst 
vorhanden ist. Es ist aber andererseits auch sicher, daß diese Kranken 
in den allgemeinen Heil- und Pfleganstalten besser nicht untergebracht 
werden. Hier stören sie ganz ungeheuer, drängen anhaltend fort, 
wenn die Abstinenzwirkung eingetreten ist. Sie querulieren, wider¬ 
setzen sich der gebräuchlichen Arbeitstherapie, hetzen usw. Ferner 
möchte ihretwegen eine ganze Heil- und Pfleganstalt abstinent gehalten 
werden, was nach der Überzeugung des Verfassers nicht nötig ist, 
wenn Alkoholiker nicht oder nur zum kleinen Teil zur Klientel der 
Anstalt gehören. 

D. Wie steht.es ferner mit den sogenannten Grenzfällen, 
wo es sich nicht um Geisteskrankheit im engeren oder weiteren Sinne 
handelt, sondern bei denen die Diagnose „Geisteskrankheit“ über¬ 
haupt angezweifelt wird? 

E. Wie steht es endlich bei Differenzen in der Handhabung des 
Aufnahmeverfahrens selbst, soweit hierbei medizinische 
Fragen zur Entscheidung stehen? 


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Ober das neue Irrenfürsorgegesetz im Königreich Sachsen. 667 


Gerade über diesen Punkt war in der Deputation — und es ge¬ 
schieht dies auch nicht ganz mit Unrecht anderwärts — es als ein 
Mangel bezeichnet worden, daß das Aufnahmeverfahren 
zu umständlich und langwierig sei, daß oft Tage vergehen, 
ehe die Aufnahme sich erreichen lasse. Das sei sowohl für den Kranken 
wie für die beantragende Gemeinde von Nachteil. Besonders dann, 
wenn es sich um die Unterbringung von unruhigen Kranken handele, 
könnten den Gemeinden große Schwierigkeiten entstehen. Es müsse 
deshalb genügen, wenn die Beibringung des ärztlichen Gutachtens 
gleichzeitig mit der Einlieferung des Kranken 
in die Anstalt erfolge; auch sei die Anstalt zu verpflichten, den Kranken 
ohne vorherige umständliche Antragstellung aufzunehmen. Dem 
Interesse des Aufzunehmenden an einem genügenden Schutze gegen 
unrechtmäßige Internierung und auch dem der Anstalt könne dadurch 
Rechnung getragen werden, daß man die sofortige Vornahme einer 
Untersuchung nach der Einlieferung durch den Anstaltsarzt vor¬ 
schreibe und davon die endgültige Entscheidung der Anstaltsdirektion 
abhängig mache, ob der Kranke in der Anstalt zu verbleiben habe 
oder nicht. 

Dieser Wunsch erscheint zwar an sich ganz beachtlich, seine 
gesetzliche Regelung in der vorgeschlagenen Form hätte aber doch 
schwere Bedenken gehabt. Ja wenn sich eine endgültige Entscheidung, 
ob krank oder nicht, nur in so kurzer Zeit immer treffen ließe! Welche 
Schwierigkeiten machen und welche Beobachtungsdauer erfordern 
aber oft zweifelhafte Geisteszustände! 

Aber selbst wenn es möglich wäre, jede Psychose so rasch fest¬ 
zustellen, wie z. B. einen Beinbruch, so hat doch die Ablehnung eines 
in die Anstalt zwangweise verbrachten Menschen, selbst wenn er sofort 
als gesund befunden und alsbald wieder entlassen worden wäre, unterdes 
ein so ungeheueres Aufsehen erregt und solche Weiterungen gemacht, 
auch Beschwerden und sonstige rechtliche Folgen gezeitigt, daß ein 
derartiges Aufnahmeverfahren aus den angeführten Gründen nicht 
zulässig erscheint. 

Die Staatsregierung hatte deshalb einen darauf bezüglichen 
Antrag auch abgelehnt und daran erinnert, daß nur bei einwand¬ 
freier Feststellung der Geisteskrankheit die 
Internierung erfolgen könne. 

Zaitaehrift (Br Psychiatrie. LX1X. 5. 46 


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668 


Hösel, 


Also erst, wenn die Geisteskrankheit fest¬ 
gestellt ist, darf die Aufnahme erfolgen. 

Wie soll aber diese Feststellung gewonnen werden? 

An gesetzlichen Mitteln stehen zur Verfügung 1. der 
§ 656 der Zivilprozeßordnung: Mit Zustimmung des Antragstellers kann 
das Gericht anordnen, daß der zu Entmündigende auf die Dauer von 
höchstens 6 Wochen in eine Heilanstalt gebracht werde, wenn dies nach 
ärztlichem Gutachten zur Feststellung des Geisteszustandes geboten 
erscheint und ohne Nachteil für den Gesundheitzustand des zu Ent¬ 
mündigenden ausführbar ist. Vor der Entscheidung sind die im §646 
bezeichneten Personen soweit tunlich zu hören. 

2. Der § 6 des Bürgerlichen Gesetzbuches: Entmündigt kann werden, 
wer infolge von Geisteskrankheit oder von Geistesschwäche seine An¬ 
gelegenheiten nicht zu besorgen vermag. 

3. Die auf das Entmündigungsverfahren bezüglichen weiteren 
Bestimmungen der Zivilpiozeßordnung. 

4. Der § 1 der Verordnung „die Zuständigkeit in Angelegenheiten 
der öffentlichen Irrenfürsorge betreffend“ vom 23. August 1874 (siehe 
sub I. unter 3.). 

5. Der § 37 der allgemeinen Armenordnung vom 22. Oktober 1840 
(siehe sub I. unter 4.). 

6. Die allgemeine Polizeiordnung (siehe sub I. unter 2.). 

7. bestimmt das Irrenfürsorgegesetz selbst: „Über die Beschwerde 
befindet die Kreishauptmannschaft“. Inwieweit aber und in bezug auf 
welche weiteren Zweifelspunkte, ist nicht normiert. 

Es entsteht nun die Frage: Genügen diese Bestim¬ 
mungen beziehentlich sind sie geeignet für ein 
Verwaltungsstreitverfahren, wie es das Gesetz 
vorschreibt? 

Hierzu ist folgendes vom ärztlichen Standpunkte aus zu erwähnen: 

Diese Vorschriften beziehen sich, soweit das Bürgerliche 
Gesetzbuch und die Zivilprozeßordnung in Frage 
kommen, auf das Entmündigungsverfahren. Bei einem solchen wird nun 
zwar die Frage, ob geisteskrank oder nicht, auch ver¬ 
handelt, und es wird schließlich einwandfrei festgestellt, ob eine Geistes¬ 
krankheit vorliegt oder nicht. Dies geschieht aber lediglich zu dem Zweck, 
um festzustellen, ob jemand geschäftsfähig ist, ob jemand ver¬ 
möge seiner derzeitigen Geistesbeschaffenheit imstande ist, seine An¬ 
gelegenheiten zu besorgen, kurz, ob der Betreffende zu entmündigen ist 
oder nicht. Das ganze Verfahren mit seinen Bestimmungen ist also ledig¬ 
lich auf den gerichtlichen Akt einer Entmündigung 
zugeschnitten. 

Ist dieses gleiche Verfahren aber auch im Sinne des 
Irrenfürsorgegesetzes brauchbar, um Streitfragen zu be- 


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Ober das neue Irrenfürsorgegesetz im Königreich Sachsen. 669 • 

seitigen, die das Aufnahmeverfahren in die Landesanstalten 
beziehentlich eine zwangweise Zurückbehaltung der Kranken in den¬ 
selben mit sich bringt? Ist dieses gleiche Verfahren geeignet, um Diffe¬ 
renzen in der Auffassung von „Geisteskrankheit", „gewalttätiger epilepti¬ 
scher Irrer", ja in der Auffassung vom Begriff der „Anstaltbedürftigkeit" 
zu schlichten? Nach Auffassung des Verfassers ist dies unzulässig. Die 
Frage 7. B. nach der Anstaltbedürftigkeit hat mit dem 
Entmündigungsverfahren nichts zu tun. 

Auch aus prozessualen Gründen ist es bedenklich, beide 
Verfahren miteinander zu verquicken. 

Geradezu gefährlich dürfte es aber wirken, wenn das 
Verfahren Anwendung finden sollte bei Zweifeln über Geistes¬ 
krankheit im engeren oder weiteren Sinne bei 
Kranken, die noch nicht aufgenommen sind, aber aufgenommen 
werden sollen. Sollen sich diese gleichsam erst gerichtlich bescheinigen 
lassen, daß sie geisteskrank im engeren Sinne sind, daß sie gewalttätig 
im Sinne des Fürsorgegesetzes sind ? Soll ein Kranker zum Zweck seiner 
Aufnahme, also zu rein verwaltungstechnischen Zwecken erst ein Urteil 
von einem Zivilgericht herbeiziehen und sich diesem auch noch unter¬ 
werfen, wenn dasselbe das Bestehen einer Geisteskrankheit im engeren 
Sinne ausspricht? 

Das erscheint doch überaus bedenklich. Die Scheu vor der Anstalt, 
ja auch die Scheu vor den Gerichten, die diese Entscheidungen herbei - 
führen müssen, würde ganz unabsehbar werden. 

Und wie sollen sich die Instanzen einigen? 

Das Entmündigungsverfahren als zivilrecht¬ 
licher Akt spielt sich vor den Zivilgerichten ab. Über die 
Beschwerde, über die das Verfahren Aufklärung schaffen soll, 
hat aber die Kreishauptmannsohaft zu befinden. Soll diese, 
tun eine Entscheidung treffen zu können, erst den Spruch des Zivil - 
gerichts herbeiziehen? Soll lediglich aus diesem Grunde und zu diesem 
Zweck erst das ganze Entmündigungsverfahren be¬ 
trieben und auch durchgeführt werden ? Soll dann der Kranke 
auch sogleich jedesmal entmündigt werden ? Nicht 
etwa, damit seine Geschäftsfähigkeit geprüft, sondern damit 
dabei festgestellt werde, ob er überhaupt krank ist oder 
nicht. Dies erscheint doch bedenklich. 

Zu welchen Weiterungen führte ein solches Verfahren? Wie um¬ 
ständlich. ist es ? Wie lange soll eine Entscheidung über eine beantragte 
Aufnahme auf sich warten lassen? 

Es erscheint also nach alledem nicht angängig, die 
Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuches 
und der Zivilprozeßordnung auf das Aufnahme- 

• 46 * 


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Hösel, 


verfahren anzuwenden. Das Verfahren, das in Ent¬ 
mündigungssachen richtig und durch die Erfahrung erprobt ist, das 
aber einen ganz anderen spezifischen Zweck hat, kann dem Aufnahme¬ 
verfahren im Sinne des Irrenfürsorgegesetzes nicht dienstbar gemacht 
werden. Es ist besser, beide werden nicht mit einander verquickt. Es 
ist dies aber auch nicht nötig. Aus der etwas verwickelten Lage kommt 
man heraus, wenn man unterscheidet: 

1. Beschwerden in reinen Verwaltungssachen, 

2. Beschwerden in medizinischen Streitfragen 

und von letzteren die über Grenzfälle ausnimmt und gesondert 
behandelt. 

Für diese letzteren (Grenzfälle) bilden lediglich 
die Zivilprozeßordnung und das Bürgerliche Ge¬ 
setzbuch die maßgebende Unterlage, für Beschwerden 
aber unter 1 und 2 kann das Verwaltungsstreitver¬ 
fahren herangezogen werden, freüich nur unter Berück¬ 
sichtigung noch einiger grundsätzlicher Vor¬ 
aussetzungen. 

Für die Grenzfälle also sind die Vorschriften des § 656 
der Zivilprozeßordnung bestimmend. Sinngemäß kann man in ent¬ 
sprechenden Fällen den § 81 der Strafprozeßordnung sowie den § 217 
der Militärstrafgerichtsordnung anwenden, die ja in gleichem Sinne 
zweifelhafte Geisteszustände behandeln. 

In diesen Fällen ist die Anwendung des § 656 der Zivilproze߬ 
ordnung also am Platze. Denn in diesen Fällen muß und kann nur 
eine und zwar zivilrichterliche Entscheidung im Sinne 
von §656 zum Ziele führen. Die Beschwerde ist dann an das zu¬ 
ständige bürgerliche Gericht zu leiten und dieses 
hat endgültig bzw. unter Anwendung weiterer Instanzen¬ 
wege zu entscheiden. Hieraus ergibt sich, daß das im neuen Irren- 
fürsorgegesetz geordnete Verwaltungsstreitverfahren und das Ver¬ 
fahren über Entmündigung und der daraus folgenden Freiheits¬ 
entziehung gegenüber Irren nach der Zivilprozeßordnung ganz 
selbständig nebeneinander herlaufen können. Auf 
diese Materie hat das neue sächsische Gesetz also auch keinen Einfluß. 
Dieselbe könnte übrigens auch nur r e i c h s gesetzlich geregelt 
werden. 


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Ober das neue Irrenfürsorgegesetz im Königreich Sachsen. 671 


Die Entscheidung des bürgerlichen Gerichts ist selbstverständlich 
für die Verwaltungsbehörden hinsichtlich der Entmündigung bin¬ 
dend. Ein Widerspruch mit dem Verwaltungsstreitverfahren ist 
damit ausgeschlossen. Denn dieses tritt eben nicht bei den Grenz¬ 
fällen, sondern nur bei Streitigkeiten zwischen Gemeinden und Orts¬ 
armenverbänden einerseits und der Anstaltsdirektion andererseits in 
Kraft, wenn diese die Aufnahme verweigert oder die Ent¬ 
lassung verfügt. Da Privatpersonen (Selbstzahlem) kein Recht 
auf Aufnahme zusteht, kann mit ihnen eine Streitigkeit im Sinne 
des Irrenfürsorgegesetzes überhaupt nicht Vorkommen. 

Für alle andere Arten der Beschwerden (siehe oben unter 
1 und 2) tritt aber das Verwaltungsstreitverfahren 
vor der Kreishauptmannschaft in Tätigkeit. 

Dies gilt von reinen verwaltungstechnischen 
Fragen ohne weiteres. An dieser Stelle braucht nicht weiter darauf 
eingegangen zu werden. 

Dies gilt aber auch von den Beschwerden über die übrigen medi¬ 
zinischen Streitfragen. Nur müssen daran noch gewisse 
Voraussetzungen geknüpft werden. 

Die obere Verwaltungsbehörde in diesen letzteren Fragen als 
endgültig entscheidende Instanz anzurufen, dürfte nur dann durch¬ 
führbar sein, wenn ein sachverständiger Obergutachter vor¬ 
handen ist, der über das Urteil des doch auch sachverständigen An¬ 
staltsdirektors zu entscheiden vermag. Die Verwaltungsbehörde 
als solche kann es nicht. Denn die Frage, die zur Entscheidung steht, 
ist eine rein medizinische, und diese kann keine Ver¬ 
waltungstelle in einem Verwaltungsstreitver¬ 
fahren entscheiden. Das ist für einen Arzt undenkbar. 
Es müßte demnach noch eine Instanz geschafft werden, 
an die in medizinischen Streitfragen appelliert werden könnte. 

Das Landesgesundheitsamt damit zu befassen, 
dürfte zu umständlich erscheinen, erstens an sich, zweitens weil die 
Anstaltsdirektionen auf Grund der Bestimmungen in § 1 und 13 der 
Verordnung vom 20. Mai 1912 über die Errichtung eines Landes¬ 
gesundheitsamtes zu keinem unmittelbaren Geschäftsverkehr mit 
demselben zugelassen sind. 

Die medizinischen Beiräte an den Kreishauptmann- 


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672 


Hösel, 


schäften sind Hygieniker, aber keine Psychiater. 
Das gleiche gilt von dem medizinischen Beirat des 
Königlichen Ministeriums selbst. 

Praktischer und zweckdienlicher wäre es, wenn diese beratende 
Stelle im Hauptamte, bei der IV. Abteilung des 
Königlichen Ministeriums selbst, der das ge- 
samte Irrenwesen Sachsens untersteht, ein 
Psychiater innehätte. Sie müßte einem älteren, erfahrenen 
Psychiater übertragen sein, der mit den Verhältnissen und Personen 
aller Anstalten in ständiger Fühlung steht, und dessen Sachkenntnis 
für das Irrenwesen auch in anderer Beziehung dienstbar gemacht 
werden kann (ärztliche Personalfragen usw.), was bei dem Umfang, 
den in Zukunft das Irrenwesen Sachsens annimmt, wohl so wie so 
kaum zu umgehen sein wird. Geschieht dies und wird ein „Landes- 
psychiater“,wie dies in anderen Bundesstaaten bereits 
der Fall ist, dem Königlichen Ministerium als Sachverständiger 
im Hauptamte beigegeben, der zugleich den fünf Kreishauptmann¬ 
schaften als sachverständiger Berater zur Seite stände, so würde die 
erwähnte Schwierigkeit eine recht befriedigende Lösung finden. 

Das Streitverfahren in Beschwerdesachen würde 
sich dann etwa folgendermaßen gestalten lassen: 

I. Ein von den zuständigen Stellen gestellter Antrag auf Aufnahme, 
Beibehaltung oder Entlassung eines Kranken in eine Landesanstalt oder 
Anträge Kranker anderer Art werden von dem ärztlichen Direktor der 
Anstalt unter Begründung abgelehnt. 

II. Hiergegen erfolgt von Verwandten, vom nicht entmündigten, 
also geschäftsfähigen Kranken selbst, vom Vormund, Gegenvormund usw. 
Beschwerde bei der zuständigen Kreishauptmannschaft. 

III. Betrifft die Beschwerde 

a) polizeiliche, verwaltungsrechtliche, armenrechtliche usw. An¬ 
gelegenheiten, so entscheidet die Kreishauptmannschaft ohne weiteres. 

Betrifft die Beschwerde 

b) medizinische Streitfragen, so ist sie dem Landespsychiater 
zur gutachtlichen Beurteilung vorzulegen. 

IV. Diese letztere kann erfolgen 

1. schriftlich, 

2. mündlich. 

V. In beiden Fällen unter IV hat der Landespsychiater sein Urteil 
in den von den Kreishauptmannschaften festzusetzenden Sitzungen zu 
vertreten, sofern Streitfragen nicht auf schriftlichem Wege ohne An¬ 
beraumung einer Sitzung erledigt werden können. 


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Ober das neue Irrenfürsorgegesetz im Königreich Sachsen. 673 

VI. In den Sitzungen wird eine endgültige Entscheidung (Urteil) 
durch die Kreishauptmannschaft herbeigeführt. 

VII. Diese wird der zuständigen Anstaltsdirektion zur Nachachtung 
und Ausführung mitgeteilt. 

VIII. Gegen diese Entscheidung ist Berufung an das Königliche 
Ministerium des Innern zulässig. 

Dieses Verfahren hat seine großen Vorzüge. 

Erstlich bleibt das Aufnahmeverfahren unbeeinflußt und 
wird nicht erschwert. 

Zweitens ist das Verfahren vollständig unparteiisch. Denn 
es urteilt über die Aufnahme, Beibehaltung und Entlassung nicht 
derjenige Psychiater (ärztliche Anstaltsdirektor), der sie zuerst ver¬ 
fügt hat, sondern ein zweiter, unabhängiger. 

Diese Vorzüge hätte das Verfahren z. B. gegenüber dem „ Groß ■ 
herzoglich Badischen“, dessen Gang folgender ist 1 ): Dort 
verfügt die Aufnahme nicht die Anstaltsdirektion, sondern das Bezirks¬ 
amt auf Grund eines amtsärztlichen Zeugnisses. Dieses erklärt die Auf¬ 
nahme für „statthaft“. Beschwert sich ein Kranker gegen seine Zurück¬ 
haltung in der Anstalt, so geht die Beschwerde durch die Anstaltsdirektion 
an das Bezirksamt (untere Verwaltungsbehörde und Polizeibehörde). 
Dieses entscheidet über die Beschwerde (§ 9 Abs. 2 des Badischen Irren¬ 
fürsorgegesetzes). Die Entschließung des Amts kann durch eine Klage 
beim Verwaltungsgerichtshof angefochten werden, der endgültig ent¬ 
scheidet. Die erforderlichen Gutachten werden von den Anstaltsdirektionen 
erstattet oder vom Medizinalreferenten des Großherzogi. Ministeriums. 

Von diesem Verfahren unterscheidet sich das oben für Sachsen 
vorgeschlagene dadurch, daß erstlich das Aufnahmeverfahren direkt 
durch die Anstaltsdirektionen erledigt wird, was einfacher ist und rascher 
zum Ziele führt. 

Es unterscheidet sich aber weiter dadurch, daß nicht derjenige 
Anstaltsdirektor als Gutachter von der Kreishauptmannschaft herbei¬ 
gezogen wird, der die Aufnahme selbst verfügt hat, sondern ein zweiter, 
von der Anstaltsdirektion unabhängiger. 

In Baden könnte der Umstand, daß der ärztliche Direktor 
der den Kranken zurückhält, auch als Gutachter beim Ver¬ 
waltungsgerichtshof zugezogen werden kann, Anlaß zu Klagen über Be¬ 
fangenheit geben. Dies würde nach dem oben vorgeschlagenen Verfahren 
ausgeschlossen sein, was einen nicht zu unterschätzenden Vorteil dar¬ 
stellt. 

Was die Herbeiziehung des Landespsychiaters zu den Sitzungen 
der fünf Kreishauptmannschaften anbelangt, so erscheint diese Maß- 

l ) Briefliche Mitteilung des Herrn Med. Rat Dr. Fischer -Wiesloch. 


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674 


Hösel, 


nähme auf den ersten Blick vielleicht schwer durchführbar. Da solche 
Sitzungen aber, abgesehen von den für den Sonderfall besonders ein¬ 
zuberufenden, kaum öfter wie alle 2—3 Monate stattfinden werden, 
würde der Landespsychiater für etwa 20—30 solche Sitzungen im 
Jahr den Beschwerdestoff zu bearbeiten haben, ein Arbeitpensum, 
das ihn neben den Arbeiten, die ihm aus seiner sonstigen Stellung 
zu dem Königlichen Ministerium selbst erwachsen, im Hauptamte 
zwar voll beschäftigen dürfte, das aber keinen derartigen Umfang hat, 
daß das Verfahren dadurch undurchführbar würde. Auch dürfte es 
sich in den Fällen der verweigerten Aufnahme oder verfügten Ent¬ 
lassung nicht um besonders dringliche Fälle handeln. Und in klaren, 
dringlichen Fällen werden die Gutachten der Sachverständigen über¬ 
einstimmen. Es kommt dann zu keinem Streitverfahren. 

Ein weiterer Vorteil ist ferner auch darin zu erblicken, 
daß das Verfahren nach einheitlichen Grundsätzen geregelt 
werden kann, da der Sachverständige für alle fünf Kreishauptmann- 
schaften derselbe ist. 

Ganz besonders beachtlich erscheint aber das Verfahren im Hin¬ 
blick auf seine Wirkung auf die öffentliche Meinung. 
Denn durch das Verfahren werden die Anstaltsdirektionen 
in ihrer Verantwortlichkeit gegen diese geschützt. 
Es wird dadurch eine von der Direktion, der an sich das ganze Auf¬ 
nahmeverfahren untersteht, unabhängige Stelle geschaffen, 
die über sie weg in den erwähnten Streitpunkten die endgültige Ent¬ 
scheidung trifft. Das ist sehr wesentlich; denn die Anstaltsdirektionen 
werden in Zukunft besser wie bisher gegen den Vorwurf geschützt 
sein, sie nähmen gesunde Menschen auf oder hielten solche in der 
Anstalt zurück. 

Andererseits wird durch das Verfahren und die Möglichkeit, den 
Beschwerdeweg im Verwaltungsstreitverfähren zu beschreiten, auch 
voll das Interesse der Kranken wahrgenommen. 

Nach den bisherigen Erörterungen bleiben nun Gruppen von 
Kranken übrig, deren Anstaltbedürftigkeit angezweifelt werden kann 
und die von der allgemeinen staatlichen Fürsorge am besten aus¬ 
geschlossen bleiben möchten. 

Es entsteht damit die weitere Frage: „Was wird mit 
diesen Ausnahmefällen?“ 


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Über das neue Irrenfürsorgegesetz im Königreich Sachsen. 675 


Was wird mit Kranken mit akuten Rauschzuständen, mit Kranken 
mit genuiner, unkomplizierter Epilepsie? Was wird mit der Anzahl 
„Nervöser“ oder „Siecher“, die zwar psychotische Krankheitzeichen 
darbieten, Uber deren Zurechnung zu den Geisteskranken im engeren 
Sinne man aber zweifelhaft sein kann? Was wird weiter mit Kranken 
mit anderen rasch vorübergehenden Erregungszuständen, die einen 
Transport in die zuständige, meist entfernt liegende Landesanstalt 
nicht erst verlohnen? 

Diese Frage muß noch erörtert werden. Sie muß auch aus dem 
weiteren Grunde einer Lösung entgegengeführt werden, weil das 
Aufnahmeverfahren gewöhnlich eine, wenn auch kurze 
Verzögerung mit sich bringt, während deren der Kranke untergebracht, 
beziehentlich gesichert werden muß. Denn es werden, selbst wenn 
das letztere noch so einfach gestaltet wird, immer ein paar Tage ver¬ 
gehen, ehe der Kranke vom Aufenthaltorte der Erkrankung weg in die 
zuständige Landesanstalt gebracht werden kann. Dies wird trotz 
aller Beschleunigung, mit der das Aufnahmeverfahren zu betreiben 
den Behörden aufgegeben werden möchte, nicht zu vermeiden sein. 
Es bleibt doch immer ein Zeitraum von Tagen, wo der Kranke außer¬ 
halb des Schutzes der Anstalt verbleiben muß. 

Was soll während dieser Zeit mit dem frisch Erkrankten, was 
soll für längere Zeit für die oben erwähnten Ausnahmefälle werden? 

Für diese Kranken muß lokale Fürsorge getroffen werden, 
d. h. Fürsorge an Ort und Stelle der Erkrankung. 

Welche Einrichtungen sind hierzu nötig? 
Welche Einrichtungen empfehlen sich zur vor¬ 
übergehenden Unterbringung von Geistes¬ 
kranken in den einzelnen Gemeinden für die 
Zeit, wo sie vom Staate nicht oder noch nicht 
in Fürsorge übernommen sind? 

Es wird zunächst gefordert werden müssen, daß die Ein¬ 
richtungen in den Bezirksanstalten, beziehentlich 
Krankenhäusern, wie sie bisher hier und da schon 
bestanden haben, erhalten bleiben. Wenn auch diese 
Einrichtungen meist nur in einer oder mehreren festen Zellen be¬ 
standen, die Schutzvorrichtungen darstellten mehr für den gemein¬ 
gefährlichen als für den kranken Menschen, so bleiben sie doch not- 


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676 


Hösel, 


wendige Vorkehrungen. Nur sollte man sie in moderne Formen kleiden 
und ihnen in Bau und Anlage den Charakter des Gefängnisartigen 
nehmen. Sie sollen nicht nur schützen, sondern den Kranken auch 
unter hygienische Bedingungen setzen, daß ihm durch die Zwangs¬ 
maßregel, die angewendet werden muß, nicht geschadet wird. Denn 
wenn auch viele Geisteskranke gefährlich sind, so sind sie doch in erster 
Linie kranke Menschen. Dies muß den mit der ersten Hilfe¬ 
leistung betrauten Stellen immer und immer wieder nahegelegt werden. 

Dabei wird darauf zu achten sein, daß an den betreffenden lokalen 
Unterbringungstätten immer eine Pflegeperson sich be¬ 
findet, die mit solchen Kranken umzugehen versteht. 
Es dürfte sich daher dringend empfehlen, bei allen Gelegen¬ 
heiten, bei welchen Mitgliedern von Sanitätskolonnen, z. B. des Roten 
Kreuzes oder solchen von Diakonissenhäusern und anderen Pfleger¬ 
berufsgenossenschaften Unterricht über die erste Hilfeleistung bei 
Verunglückungen gegeben wird, auch auf Grund der Vorschriften über 
die Zuführung von Geisteskranken in die Anstalten oder anderen 
Unterlagen darüber Belehrung zu geben, welche Maßregeln 
zu ergreifen sind bei der ersten Hilfeleistung für erregte bzw. gefähr¬ 
liche Geisteskranke. Jede Gemeindeschwester, deren 
es doch jetzt fast überall eine oder mehrere gibt, sollte davon wenigstens 
die elementarsten Kenntnisse besitzen. 

Es dürfte sich also empfehlen, an jedem bestehenden Kranken¬ 
hause oder jeder Krankenabteilung einer Bezirksanstalt eine Anlage 
am besten in Form von festen Einzelzimmern modernster Konstruktion 
herzustellen. 

Je nach der Größe des Bezirks, dem die betreffende lokale Anstalt 
dient, genügen ein oder mehrere dieser Räume, die je nach Einrichtung 
sich auch zur Behandlung von akuten Rausch- oder anderen rascher 
vorübergehenden Erregungszuständen eignen werden. 

Für größere Gemeinwesen, für die mittleren und größeren Städte 
dürfte die Lösung der Frage keine weiteren Schwierigkeiten machen. 
Hier war ja bereits jetzt für vorübergehenden Aufenthalt solcher 
Kranker meist schon ausreichend gesorgt, und die zu dem Zweck 
vorhandenen Einrichtungen im Sinne etwa der Griesingerschen Asyle 
dürften auch in Zukunft ausreichen. In großen Städten sind ja noch 
besondere Einrichtungen größeren Stils vorhanden, Irrenkliniken, 


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Über das neue Irrenfürsorgegesetz im Königreich Sachsen. 677 


Irrenversorganstalten usw., die wenigstens teilweise und für kürzere 
Zeiträume ihre bestehenden Bäume für solche Fälle weiter verfügbar 
halten müssen. 

Der Umfang, den solche Vorkehrungen in Zukunft annehmen 
müssen, wird ferner und hauptsächlich davon abhängen, wie das 
ganze Aufnahmeverfahren selbst geregelt werden wird. 
Je einfacher dieses sein wird, je rascher der Apparat arbeitet, um so 
rascher wird die Übernahme in die Landesanstalt erfolgen können, 
um so rascher erfolgt die Evakuierung der Einzelräume in den kleinen 
Fürsorgeanstalten des platten Landes oder der Krankenhäuser, um 
so einfacher in Bauart und Größe können dann die betreffenden 
Anlagen ausfallen. 

Eine grundsätzliche Forderung ist aber, daß solche Ein¬ 
richtungen systematisch überall eingeführt und getroffen werden 
müssen, wo sie notwendig sind, und daß sie so getroffen werden, daß 
sie im Falle der Notwendigkeit auch sofort funktionieren. 
Eine grundsätzliche Forderung ist weiter, daß sie nicht 
unnötig lange benutzt und die Kranken darin zurück- 
gehalten werden. Denn sie sollen in erster Linie nicht als thera¬ 
peutische Hilfsmittel dienen, was sie nicht sein können, sondern nur 
Schutzmaßnahmen darstellen für die erste Hilfe. Sie sollen als 
solche aber dann auch allen hygienischen Anforderungen der modernen 
Irrenbehandlung genügen. 

V. 

Welche weiteren Einrichtungen waren nun 
nötig, um den Bestimmungen des Gesetzes 
praktische Geltung zu verschaffen, sofern 
der Staat zur Unterbringung der Kranken ver¬ 
pflichtet war? 

Den Anforderungen, die bisher und unter den bis jetzt gelten¬ 
den gesetzlichen Bestimmungen die Irrenpflege an den Staat gestellt 
hatte, war in folgender Weise Kechnung getragen worden. Es war 
in den Heil- und Pfleganstalten Sachsens bisher folgender Platz vor¬ 
handen: 

In Großschweidnitz. 524 Plätze 

,, Hubertusburg .1440 „ 


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678 


Hösel, 


In Sonnenstein. 536 Plätze 

Untergöltzsch . 503 „ 

„ Zschadraß. 635 


„ der Pfleganstalt Colditz .. 589 
In den Anstalten 

Hochweitzschen für Epileptiker 775 
Waldheim 1 für verbrecherische 226 


Bautzen j Geisteskranke 70 

Chemnitz für bildungfähige 
Schwachsinnige.513 


Großhennersdorf für Idioten.. 200 ,, 

6011 Plätze 

Nach Inkrafttreten des Irrengesetzes werden außer diesen 6011 
Plätzen noch etwa 3800 Plätze beschafft werden müssen, so daß, nach 
dem gegenwärtigen Stand der Berechnung, vom 1. Oktober 1913 ab 
rund 9800 Geisteskranke in den Staatsanstalten untergebracht werden 
können. 

Diese enorme Vergrößerung erforderte natürlich 
außerordentliche pekuniäre Opfer. 

Da diese der Staat allein nicht zu stellen in der Lage war, 
mußte eine Form der Liquidierung der Geldmittel gesucht werden, 
die den Leistungen des Staates einerseits, den großen Vorteilen und 
Erleichterungen der Gemeinden, denen ja die Unterbringungsorge 
mit ihren Kosten für ihre Kranken abgenommen war, andererseits 
wenigstens einigermaßen entsprach. Da .zu größeren einmaligen 
Beiträgen die kleinen Gemeinden und Gemeindeverbände nicht 
herangezogen werden konnten, blieb die Last zu tragen nur dem 
Staat im Verein mit den großen Städten übrig. 

Die Summe, die als einmaliger Beitrag seitens der großen 
Städte zu leisten war, betrug 9 500 000 Mark. 

Diese Summe verteilte sich mit 


3 600 000 Mark auf die 

Stadt Leipzig, 

3 000 000 

*9 

99 

* 9 

9 • 

Dresden. 

1 500 000 

*9 

9 9 

9 9 

99 

Chemnitz, 

650 000 

9 • 

9 9 

9« 

99 

Plauen, 

350 000 

99 

9 9 

9 9 

99 

Zwickau, 

100 000 

1* 

9 9 

' 9 

99 

Meißen, 

100 000 

< * 

99 

♦ 9 

9 9 

Bautzen, 

100 000 

n 

9 9 

9 9 

99 

Freiberg. 

100 000 

9* 

99 


99 

Zittau 


9 500 000 Mark 


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Uber das neue Irrenfürsorgegesetz im Königreich Sachsen. 679 


Die übrigen erstmaligen Kosten zur Beschaffung der Plätze über¬ 
nahm der Staat. 

Statt der Summe von 3 600 000 Mark, die die Stadt Leipzig zu stellen 
hatte, konnte diese nach den Bestimmungen des Vertrags die bereits 
bestehende städtische Heilanstalt Dösen bei Leipzig dem Staate über¬ 
lassen. Dies wird auch geschehen, und die Anstalt Dösen mit rund 1200 
Plätzen wird am 1. Januar 1913 in die Verwaltung des Staates übergehen. 

Man kann nun im Zweifel darüber sein, ob die Beschaffung der 
übrigen erforderlichen Plätze durch Bau von neuen An¬ 
stalten oder durch Erweiterungsbauten an be¬ 
stehende Anstalten zu erfolgen hatte. Die Ansichten hierüber 
sind bekanntlich unter den Fachgenossen geteilt. Die einen halten 
eine Beschränkung auf 600 Plätze für richtig, andere und zwar ein 
großer Teil lassen nur einen Umfang von 800 zu, wieder andere 1000 
bis 1200, ja noch andere bauen Anstalten noch größeren Umfanges, 
wovon der Steinhof bei Wien das bekannteste Beispiel darstellt. 
Welche Ansicht ist denn nun die richtige? Die Frage läßt sich von 
verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachtet verschieden beant¬ 
worten. Stellt man sich auf den rein ärztlichen Standpunkt und 
fordert man einseitig aus der Interessengemeinschaft von Arzt und 
Kranken heraus den Bau von Heil- und Pfleganstalten, so kommt 
man auf solche von niedriger Größe. Stellt man sich wiederum ein¬ 
seitig auf den rein verwaltungstechnischen, finanziellen und fiskali¬ 
schen Standpunkt, dann gelangt man wenigstens nach Ansicht mancher 
zur Forderung größerer Anstalten. Ich halte beide für verfehlt und 
glaube Gründe zu haben, die bei bestimmten Voraussetzungen für den 
Bau von Anstalten in einer Größe von etwa 1000 Betten sprechen. 

Als ein Hauptbedenken gegen den Bau von einer Anstalt über 
600 Köpfe wird angeführt, daß der Anstaltsdirektor die Über¬ 
sicht über diese Kranken verliert. Dies ist nur bedingt richtig 
und zwar dann, wenn bei einer Bettenzahl von 600 Stück und mehr 
die Aufnahmeziffer und der Krankenwechsel ein sehr hoher ist, wie 
dies z. B. in Anstalten einiger Großstädte, in Kliniken usw. der Fall ist. 
Erfolgen täglich 2—3 Aufnahmen und gleichviel Abgänge bei einem 
Krankenbestand von 600 Köpfen, dann kann diese Krankenfluktuation 
auch ein Direktor nicht übersehen, selbst wenn seine Anstalt eben 
nur 600 Betten zählt. Dann wäre aber schon diese Bettenzahl unzu- 


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680 


Hösel, 


lässig. Bei den Landesanstalten Sachsens erreicht aber die Aufnahme- 
ziffer gar nicht die erwähnte Höhe. 

So hat z. B. Zschadraß folgende Aufnahmen gehabt beieiner Beleg- 
barkeit von 500 bzw. 600 Betten. 



Männer 

Frauen 


1894 

265 

78 

= Bestand bei der Eröffnung 

1895 

54 

114 

- 168 

1896 

56 

67 

= 123 

1897 

56 

47 

= 103 

1898 

55 

62 

= 117 

1899 

62 

58 

= 120 

1900 

77 

61 

- 138 

1901 

56 

66 

= 122 

1902 

53 

41 

= 94 

1903 

43 

61 

- 104 

1904 

54 

56 

= 110 

1905 

47 

59 

- 106 

1906 

77 

62 

- 139 

1907 

46 

71 

= 117 

1908 

60 

50 

= 110 

1909 

53 

43 

= 96 

1910 

43 

37 

= 80 

1911 

48 

85 

- 133 

1980 


Es sind also innerhalb 17 Jahren (der Anfangsbestand außer acht 
gelassen) 1980 Aufnahmen erfolgt, das heißt durchschnittlich jährlich 
etwa 116 Aufnahmen. *Es kam also durchschnittlich jeden dritten Tag 
ein Kranker zur Anstalt. Ähnlich ist es in den übrigen Anstalten. 

Berücksichtigt man weiter, daß unter diesen 116 Aufnahmen 
doch wenigstens */» der Fälle sogenannte klare Fälle sind (Paralytiker, 
Katatoniker usw.), die weder der Diagnostik noch der Therapie so viel 
Schwierigkeiten machen, daß sie die Zeit des Anstaltsdirektors störend 
in Anspruch nehmen, so erfolgen solche Aufnahmen, die den Anstaltleiter 
mehr und längere Zeit in Anspruch nehmen in noch größeren Zwischen¬ 
räumen. Diese genügen aber zu seiner Orientierung vollständig. 

Nun handelt es sich beim Anstaltsdirektor allerdings nicht bloß 
um die Zugänge, sondern auch um die Bestände. Und es dürfte Zweifel 
erregen, ob ein Direktor einen Bestand von über 600 Kranken so über¬ 
sehen kann, daß er jeden Kranken so kennt, um ein Urteil über ihn zu 
haben. Hierzu sei folgende Bemerkung gestattet. 

An der hiesigen Anstalt sind von den aufgenommenen Kranken 
aus dem 


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Über das neue Irrenfürsorgegesetz im Königreich Sachsen. 


681 


Jahr 1894 noch 71 vorhanden. Aus dem 


99 

1895 

99 

32 

99 

1896 

99 

18 

99 

1897 

•9 

14 

99 

1898 

99 

16 

99 

1899 

99 

18 

99 

1900 

99 

22 

99 

1901 

99 

16 

99 

1902 

99 

22 

99 

1903 

99 

27 

99 

1904 


25 

9 ' 

1905 

99 

25 

99 

1906 

99 

43 

99 

1907 

99 

30 

99 

1908 

99 

37 

99 

1909 

99 

45 

99 

1910 

99 

44 

99 

1911 

99 

118 

99 

1902 

99 

20 


643 

Von diesen 643 Kranken sind 38 beurlaubt und 12 in Familienpflege 
Letztere mit zum Bestand gerechnet, müßte der Direktor 621 Kranke 
übei sehen. Scheidet man außer dem bisherigen Zugang des Jahres 1912 
auch noch die aus dem Jahre 1911 stammenden Kranken aus als noch 
relativ frisches, daher — der gemachten Voraussetzung nach — nicht so 
sicher bekanntes Krankenmaterial, so bleibt noch ein Bestand von 505 
Köpfen, die dem Direktor seit 2 bis 15 Jahren und mehr bekannt sind, 
und die sich in ihrer pathologischen Beschaffenheit nicht mehr oder — 
von Ausnahmen abgesehen — wenigstens nicht wesentlich mehr ändern. 
In dieser langen Reihe von Jahren muß der Anstaltleiter mit der Zeit 
jeden von diesen Kranken annähernd kennen gelernt haben, ohne daß ein 
Übermaß von Zeit auf das Bekanntwerden verwendet worden wäre. 

Nun ist freilich ohne weiteres klar, daß sich dieses Ergebnis nur 
herausentwickelt, wenn eben der Direktor seit Jahren mit seiner Anstalt 
und seinen Beständen verwachsen, gleichsam mit ihnen alt geworden ist. 

Tritt freilich eine Vakanz ein, und muß ein mit den Verhältnissen 
und den Beständen weniger vertrauter Direktor die Stelle des Vorgängers 
übernehmen, so entstehen natürlich Schwierigkeiten. Dies ist richtig. 
Trotzdem ist dies aber kein Grund, die Bestände niedrig zu halten. Mit 
derZeit wird eben die Schwierigkeit auch überwunden, und mit den Jahren 
übersieht der neue Direktor, wenn er nur über einen einigermaßen prak¬ 
tischen Blick verfügt, nicht nur die äußersten Winkel der Anstalt im Ver¬ 
waltungsinteresse, sondern auch die verstecktesten und unauffälligsten 
Kranken im Interesse der Krankenfürsorge. Ein vielbeschäftigter Arzt 


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Hösel, 


in der Sprechstunde hat auch nicht jeden Augenblick seinen Patienten 
gegenwärtig. Er hilft sich dann mit Notizen und Merkblättern. Dasselbe 
gilt von den ärztlichen Vorständen großer öffentlicher Krankenhäuser 
mit ihrer raschen Bevölkerungsfluktuation. Ähnlich ist es auch hier in 
größeren Irrenanstalten. Und sollten bei den Visiten der Bestände durch 
den Direktor auch einmal ein paar Namen dem Gedächtnis entschwunden 
sein, so ist dies nicht schlimm. Denn erstens kann dies auch bei niedrigen 
Beständen passieren, zweitens ist es bei den vielen Kranken mit abge¬ 
laufenen akuten Psychosen und gleichbleibendem Status kein Unglück — 
die Katatoniker und Paralytiker der Pflegabteilungen gleichen sich ja 
so wie so oft bis aufs kleinste —, ein Blick in die Akten oder eine Orien¬ 
tierung durch den Abteilungsarzt hilft sehr rasch über die Lage. 

Die Hauptsache ist und bleibt, daß der Direktor die akuten Fälle, 
die forensisch wichtigen und die, die einer besonderen psychischen 
Behandlung zu unterwerfen sind, annähernd kennt und Zeit hat, sich 
mit ihnen zu beschäftigen und individualisierend seinen Einfluß neben 
der Arbeit seiner Ärzte auf sie auszuüben. Die Hauptsache ist, daß 
der Geist, der über dem Ganzen waltet, den Anforderungen 
moderner Psychiatrie entspricht. Das ist aber bei einem Bestand 
von 1000 Köpfen, wenn die Aufnahmeziffer jährlich nicht mehr wie 
200 Köpfe beträgt, noch sehr gut möglich. Nur darf die Direktorial¬ 
stelle nicht allzu gehäuft den Inhaber wechseln. Das ist aber, soweit 
die Erfahrungen reichen, auch gar nicht der Fall. Wenn man die Namen 
der Anstaltsdirektoren in der Zusammenstellung von Laehr aus dem 
Jahr 1912 und früheren Jahren vergleicht, so wird dies sofort ersicht¬ 
lich. Also die Ärzte sollen wechseln, der Direktor aber nur ausnahm- 
weise und aus zwingenden Gründen. Er muß mit seiner Anstalt und 
seinen Kranken verwachsen. 

Hierzu kommt, daß der Direktor von den älteren 
Abteilungs- beziehentlich Oberärzten auch ganz wesent¬ 
lich unterstützt, beziehentlich entlastet werden kann. Es ist 
eben notwendig, daß den ärztlichen Vorständen der Männer- und 
Frauenabteilungen eine größere Selbständigkeit unter eigener Ver¬ 
antwortung innerhalb ihres Arbeitgebietes gewährt werde. Der Direktor 
freilich, der bis in die kleinsten Einzelheiten hinein alles selbst machen 
will, der — um nur einiges anzuführen — über alle therapeutischen 
Maßnahmen, Versetzungen von Kranken und Personal innerhalb der 
Abteilungen usw. selbst verfügt und die Ärzte nur Ausführungsorgane 
sein läßt, wird natürlich mit Einzelarbeiten so überlastet sein, daß 


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Ober das neue Irrenfürsorgegesetz im Königreich Sachsen. 683 


er schließlich den tiberblick verliert oder doppelte Arbeitzeiten und 
doppelte Arbeitkraft verwenden muß. Eine solche Entlastung kann 
auch sehr gut bei Beurlaubungen, Entlassungen von Kranken, auch 
auf forensischem Gebiete eintreten durch eine Arbeitteilung mit seinem 
Stellvertreter, dessen genaue Kenntnis von allen Eingängen und 
Entschließungen des Direktors schon um deswillen eine selbstverständ¬ 
liche sein sollte, weil dieser in Urlaubs- oder Krankheitfällen doch in 
seinem Sinne Weiterarbeiten soll. Und genügt der Stellvertreter 
nicht, «in, so wird eben noch ein älterer Oberarzt herangezogen. Dies 
stärkt und kräftigt auch die Berufsfreudigkeit der älteren Ärzte, 
die hierin wenigstens einigermaßen Ersatz für langsames berufliches 
Aufrücken und Einrücken in eine Direktorstelle haben. Also mehr 
hervorgehobene Stellen! Und der Direktor wird auch entlastet! 

Ein weiterer Grund, der gegen Neubau einer Anstalt und 
für eine Erweiterung der Bestände der Anstalten Sachsens über 600 
bzw. 800 Betten hinaus spricht, liegt aber noch im folgenden: Bisher 
waren nach den geltenden Bestimmungen in den Anstalten nur heil¬ 
bare und unheilbare gefährliche Kranke untergebracht. Diese stellten 
natürlich an die Leistungen des Direktors und der Ärzte in diagnosti¬ 
scher und therapeutischer Beziehung ganz andere Anforderungen 
als ein Bestand, der mit harmloseren, ruhigeren Kranken untermischt 
wird. War deshalb die Einhaltung eines Bettenbestandes von 600 
Stück — der größte Teil der Landesanstalten 
Sachsens hatte aber nicht einmal diese Höhe 
erreicht — bisher gerechtfertigt, so erschien er in Zukunft in 
finanzieller und verwaltungstechnischer Beziehung als Luxus. Die 
Kategorien von Kranken, die bisher der Armenfürsorge der Gemeinden 
überlassen und von diesen in Armen-, Siechen- und Krankenanstalten 
oder Bezirksanstalten untergebracht waren und nunmehr in die 
Staatsanstalten gelangen sollen, erschweren die Behandlung und 
Verwaltung bei weitem nicht in dem Maße, als wenn es sich um noch 
mehr oder lauter schwer erkrankte heilbare und gefährliche Kranke 
gehandelt hätte, die aufzunehmen gewesen wären. Das ist aber nicht 
der Fall. Denn diese waren ja fast alle überhaupt schon in den Anstalten. 
Die Kranken, die also in Zukunft die Bestände erhöhen, erschweren 
nicht, sondern erleichtern den Betrieb, vermindern die Unruhe, den 
Lärm, den eine Ansammlung größerer Mengen nur störender und 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXH. 5. 47 


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erregter Kranker verursacht, und erleichtern dem Direktor, den Ärzten 
und dem Personal eben dadurch, daß sie die Bestände verdünnen, 
ihre Arbeit. Und wenn diese anfangs die Übersicht auch etwas er¬ 
schweren, so bringen sie dem Betrieb und ihrer Leitung auf der anderen 
Seite Erleichterungen. 

Man muß bei der Beurteilung der Frage doch auch berücksichtigen, 
wie verschieden das Irrenwesen Sachsens gegenüber anderen Bundes¬ 
staaten z. B. Preußen bisher organisiert war. 

Dort waren die harmloseren, ruhigeren, arbeitsamen Elemente 
längst der Krankenfürsorge der Anstalten zugänglich, hier beschränkte 
sich diese auf die wesentlich schwierigere Behandlung der nur Hei baren 
und nur Gefährlichen. Eine quantitative Erhöhung der Bestände 
durch Kranke, die ganz anders in ihrem Verhalten geartet sind als die 
bisherigen, bei denen die Störung sich in viel milderen Formen äußert, 
und die hauptsächlich den Charakter von Pfleglingen darbieten, wird 
durch die Erleichterungen des Betriebes und der Behandlung, die sie infolge 
ihrer wesentlich anderen qualitativen Bewertung verursachen, 
zum großen Teile in ihren Folgen ausgeglichen, und dieser Umstand ver¬ 
einfacht, kompliziert aber nicht wesentlich die Übersichtlichkeit des 
Betriebs. 

Also die angeblich mangelhaft durchführbare 
Übersicht über die Kranken seitens des Direktors und 
seine angebliche Überlastung mit Verwaltungs¬ 
geschäften kann einen zwingenden Grund, die Be¬ 
stände der Anstalten Sachsens so niedrig zu halten wie 
bisher oder sie nicht wesentlich weiter auszubauen, nicht 
darstellen. 

Nun wird weiter die Behauptung aufgestellt und vertreten, 
daß eine Anstalt von 1000—1200 Köpfen wesentlich teurer be¬ 
trieben wird als eine solche zu 800 Köpfen. 

Dieser Behauptung kann in so allgemein gehaltener Form auch 
nicht zugestimmt werden. 

Wenn als Hauptargument für diese Ansicht der Umstand an¬ 
geführt wird, daß bei einer Zahl von 1000—1200 Köpfen der Aufwand 
an Personalausgaben wesentlich höher ist, so ist dies 
wenigstens für unsere sächsischen Verhältnisse nicht richtig. 

Wenn man eine Anstalt, nachdem sie 800 Kranke Bestand erreicht 
hat, nicht weiter ausbaut, sondern eine neue fordert, so benötigt doch 
diese erst recht den doppelten Personalaufwand. Denn diese muß 


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Über das neue Irrenfürsorgegesetz im Königreich Sachsen. 685 


doch erst recht jeden Beamten überhaupt neu einstellen, w&hrend 
man bei einer Erweiterung nur so viel Personal neu einstellt, als die 
Erweiterung erfordert. Setzt man natürlich diese Erweiterung ins 
Ungemessene fort, so wird ein Zeitpunkt eintreten, wo in der Tat 
von jeder Sorte Beamte die doppelte Anzahl vorhanden ist. Aber bei 
welcher Größe der Erweiterung tritt denn dieser Zeitpunkt ein? Bei 
800? Bei 1000? Bei 1200? Diese Frage ist nicht allgemein zu be¬ 
antworten. Sie hängt wiederum von den Verhältnissen ab, besonders 
und hauptsächlich wieder von der Größe der Krankenfluktuation. 
Diese ist aber eine schwankende Größe, die an sich und fast überall 
verschieden ist. Man kann sie also nicht zur Grundlage für eine all¬ 
gemein gültige Regel machen. Jedenfalls ist nicht notwendig, daß 
dieser Zeitpunkt bei 800 Köpfen erreicht sein muß. Hierzu kommt 
aber noch ein anderes. 

Sachsen zählt in Zukunft, die Anstalten für Schwachsinnige, 
Idioten, Epileptiker, verbrecherische Geisteskranke, die in Sonder¬ 
anstalten untergebracht sind, eingerechnet: 12 Landesanstalten. 
Sind einmal alle Geisteskranken, soweit sie anstaltbedürftig sind, 
untergebracht, und sind ferner die Aufnahmebezirke jeder 
Anstalt in halbwegs geschickter Art verteilt, so werden auch die 
Aufnahmen in ihrer ziffernmäßigen Höhe für Jahre hinaus einen 
gleichmäßigen Charakter annehmen und sich auf einer an¬ 
nähernd gleichen mittleren Höhe halten. Eine Zunahme 
von Kranken aller erwähnten Arten wird nur noch im Verhältnis 
zur Zunahme der Bevölkerung des ganzen Landes eintreten. Denn 
alles, was anstaltbedürftig war und noch ist, ist ja bereits unter¬ 
gebracht und auf die große Zahl Anstalten verteilt. Es tritt also mit 
der Erweiterung der Anstalten und Aufnahme aller Kranken 
auch eine Regulierung der Aufnahmen ein und zwar 
im Sinne einer Beschränkung gegenüber jetzt. Die Anstalten 
werden nach Abschluß der Neuordnung eine wesentliche weitergehende 
Vergrößerung als die, die sie zum besagten Zweck nunmehr erhalten, 
gar nicht zu erfahren brauchen. Zu diesem Zweck genügt aber eine 
Erhöhung auf 1000 und wird auch für absehbare Zeiten weiter genügen. 

Ferner handelt es sich ja auch nicht um den Ausbau von Anstalten 
alten Stils, die aus alten Schlössern oder massiven Zentralbauten 
im Korridorsystem bestehen. Die sächsischen Landesanstalten sind 

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Hösel, 


gegenwärtig fast sämtlich im Pavillonstil gebaut oder so modern 
umgestaltet worden (Sonnenstein), daß sie diesen in Bauart und 
Anlage gleichzuachten sind. 

Soll man nun bei dieser Sachlage die bestehenden Anstalten auf 
niedrigem Krankenbestande halten und neue bauen? Soll man unter 
sotanen Umständen an einer Größe von 800 Köpfen grundsätzlich 
weiter festhalten und eine Anstalt für 1000 Kranke für unzulässig 
oder unzweckmäßig erklären? 

Das dürfte doch seine Bedenken haben, zumal noch eine weitere 
Erfahrung dagegen spricht. 

Man braucht sich nämlich über diese Frage gar nicht in weit¬ 
läufige und besondere theoretische Betrachtungen einzulassen. 
Die Geschichte des Anstaltbaues der Neuzeit liefert einwandfrei den 
Beweis, daß ein Betrieb für 1000 Kranke weder unübersichtlich noch 
teurer ist. 

Der Bau der neueren Anstalten in der genannten Größe in Baden» 
Bayern, Österreich — den Steinhof nehme ich aus —, der Bau von Anstalten 
in ähnlicher Größe in Großstädten wie Berlin, Leipzig, Hamburg usw. usw. 
zeigen deutlich, daß diese Anstalten nicht teuerer bewirtschaftet werden 
als 800 köpßge, und daß sie auch noch übersichtlich sind. Die prak¬ 
tische Erfahrung des letzten Jahrzehnts hat hierfür genügend Beweise 
erbracht. 

Nun verkenne ich nicht, daß der Bau einer Anstalt nicht größer 
als für 600 oder 800 Kranke eine ideale oder auch eine recht zweckent¬ 
sprechende Lösung der Frage wäre. Aber das praktische Leben und be¬ 
sonders die Geldmittel lassen solche ideale Schöpfungen nicht allenthalben 
zu, und man muß sich dann mit dem Zustand abflnden, der dem idealen 
am nächsten kommt. Nur muß dieser noch zulässig und erträglich sein. 
Das moderne Irrenanstaltwesen anderer Länder hat für die Zulässigkeit 
dieser Größe aber den Beweis geliefert. Eine Höchstziffer von 1000 Kranken 
erscheint somit noch zulässig. 

Nach diesen Erwägungen ist es also auch vollständig gerecht¬ 
fertigt, wenn die sächsische Staatsregierung die durch die Neuregelung 
des Irrenwesens erforderliche Zahl von Betten durch Erweite¬ 
rungsbauten der bereits bestehenden Anstalten beschafft und 
an den Bau einer neuen Heil- und Pfleganstalt erst herantritt, wenn 
das Maximum von 1000 Kranken an jeder Anstalt erreicht ist. 

Bei Unternehmungen gedachter Art ist eben nicht nur das Interesse 
von Arzt und Kranken im Auge zu behalten, sondern auch das des Steuer- 


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Ober das neue Irrenfürsorgegesetz im Königreich Sachsen. 687 


Zahlers, der die Kosten hierfür aufzubringen hat. Und wenn auch zugegeben 
werden muß. daß derartige Kulturaufgaben unter allen Umständen die 
erste und beste Berücksichtigung finden müßten, und daß die Geldmittel 
keinen Hinderungsgrund füi ihre Durchführung darstellen sollten, so 
muß doch andererseits auch anerkannt werden, daß diese Unternehmungen 
so kostspielig sind, daß die Finanzierung der Pläne und die Liquidierung 
der Mittel eine ebenso wichtige Frage darstellt, wie die nach der Interessen¬ 
gemeinschaft zwischen Arzt und Kranken. Arzt und Verwaltungsbehörde 
sowohl wie Arzt und Baumeister müssen eben auch hier Zusammenarbeiten, 
um eine mittlere Linie zu finden. 

Behufs Durchführung der oben genannten Reform werden im 
laufenden Jahr in Sachsen nun folgende Erweiterungsbauten 
vorgenommen: 

Die Anstalt Sonnenstein erweitert um 256 Betten, 

,, ,, Untergöltzsch „ „ 160 „ 

,, ,, Zschadraß „ „ 400 „ 

, „ Großschweidnitz,, „ 180 „ 

,, ,, Hubertusburg „ „ 100 „ 

,, „ Hochweitzschen ,, „ 48 „ 

in Summa 1144 Betten 


Zu dieser Bettenzahl von.1144 

tritt hinzu die Anstalt Dösen mit rund . 1200 Plätzen 

und die Anstalt Arnsdorf mit zunächst. 900 „ 


in Summa .... 3244 Betten. 


Es werden also 3244 neue Betten bei Inkrafttreten des Gesetzes 
zur Verfügung stehen, eine Bettenzahl, die die Durchführung der 
Neuregelung ermöglichen wird. Von diesen sind die 1200 Betten 
in Dösen jedoch bereits mit Kranken belegt. 

Möchte diese Kranken und Gemeinden zum Segen gereichen! 

Die Belegbarkeit der Anstalten des Königreichs Sachsen würde 
sich demnach folgendermaßen gestalten. Die Ziffern sind noch unver¬ 
bindlich: 

1. Heil- und Pfleganstalten für Geisteskranke 

Arnsdorf .1200 Betten 

Großschweidnitz 740—780 „ 

Hubertusburg. 1576 „ 

Sonnenstein. 1004 „ 

Untergöltzsch.. .760—800 „ 

Zschadraß. 985 „ 

Dösen. 1400 „ 


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688 Hösel, Uber du nene Irrenfürsorgegesetz im Königreich Sachsen. 


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2. Landesanstalten für verbrecherische Geisteskranke 

Colditz. 600 Betten 

Waldheim . 200 „ 

Bautzen. 70 „ 

3. Landesanstalten für Schwachsinnige und Idioten 

Chemnitz. 490 Betten 

Großhennersdorf ... 200 „ 

4. Landesanstalt für epileptische Geisteskranke 

Hochweitzschen.... 780 Betten 


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Verhandlungen psychiatrischer Vereine 


47. Versammlung des Vereins der Irrenärzte Nie- 
dersachsens und Westfalens am 4. Mai 1912 in Han¬ 
nover. 

Anwesend waren: After-Lindenhaus, Becker - H ildesh ei m, Benno- 
Goslar, Blümcke- Bethel, PorcAere-Hildesheim, Brünette-Gandersheim, Bruns - 
Hannover, Budde-Göttingen, Gramer-Göttingen, Dammann-Marsberg, 
.Deet/en-Wilhelmshöhe, Dieckmann -Volmerdingen, Eichelberg- Göttingen, 
Pnge/Aen-Uchtspringe, FacAZam-Suderode, Fröhl ich-La nge nh age n, Gellhorn- 
Goslar, GerstenAerg-Hildesheim, Gerstenberg - Lü neburg, GraAZ-Hedemünden, 
Grütter - Lü nebu rg, Günther -Warstein, Hellw ig - L a nge nh age n, Hobohm- 
Bethel, Kanis- Eickelborn, Kracke - Lü nebu rg, Lehne- Rinteln, Maßmann- 
Liebenburg, Mönkemöller-H ildesheim, Müller -Warstein, Muermann-Apler¬ 
beck, P/örringer-Friedrichsberg, Pohlmann -Aplerbeck, Bapmund-Göttingen, 
Redepenning- Göttingen, BeAm-Ellen, Reimann- Ilten, Peines-Lüneburg, 
Reinhold- Hannover, Pinne-Langenhagen, Pifter-Uchtspringe, BuAZe-Ucht- 
springe, ^cAmidt-Wunstorf, 5cAneider-Eickelborn, Schröder - Lü neburg, 
Schrumpf- St. Moritz, £cAütte-Osnabrück, BZeAert-Lengerich L W., Snell• 
Lüneburg, Stamm-Ilten, StüAer-Hildesheim, FöZAer-Langenhagen, Volland- 
Bethel, Wahrendorff -Ilten. 

Zum Vorsitzenden wird gewählt Geretenfeerg-Hildesheim, zum Schrift¬ 
führer Stüber-H ildesheim. 

Bruns spricht zuerst unter Hinweis auf einen vor kurzem zur Operation 
gekommenen Fall von rechtseitigem Kleinhirnabszeß 
über die neurologische Diagnose desselben. Auch neuerdings 
wird diese immer noch als sehr schwierig erklärt, namentlich gegenüber 
der eiterigen Labyrinthentzündung. Sicher können ja Schwindel, Gleich- 
gewichtstörungen und Nystagmus in beiden Fällen bestehen. Was den 
Nystagmus anbetrifft, so kommen für die Differenzialdiagnose zwischen 
vestibulärem und Kleinhirnnystagmus sehr wesentlich jetzt Baranys 
Untersuchungsmethoden in Betracht, darauf geht P. nicht näher ein, 
übrigens ist in vielen Fällen von Kleinhirnabszeß das Labyrinth auch schon 
zerstört. Aber auch aus sonstigen nervösen Er- 


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Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 


scheinungen konnte B. in bisher vier Fällen die 
Diagnose eines Kleinhirnabszesses mit Bestimmt¬ 
heit stellen. In allen vier Fällen bestanden spastische Erscheinungen 
an den Beinen, mehrmals an beiden, öfters, so auch im letzten Falle, 
besonders deutlich gekreuzt mit dem Abszeß. Es bestand also eine Druck¬ 
wirkung auf den Hirnstamm, die der Labyrintherkrankung nicht zu- 
kommt. In den zwei letzten Fällen bestand eine Bewegungsataxie 
des gleichseitigen Armes, ein direktes Kleinhirn¬ 
symptom, das zugleich auch ohne weiteres die Seite der Erkrankung 
erkennen läßt. In dem dritten Fall bestand auch Abduzens - und 
Fazialislähmung, von denen die zweite allerdings auch durch 
Knocheneiterung entstanden sein könnte. In allen vier Fällen bestand 
außerdem Neuritis optica, die jedenfalls bei reiner Labyrinth - 
entzündung selten ist. Der Nystagmus war in den beiden letzten 
Fällen grobschlägig und langsam nach der Seite der Er¬ 
krankung, feinschlägig und schnell nach der anderen Seite. 
Das hat B .mehrfach bei einseitigen Geschwülsten des Kleinhirns beobachtet , 
und es beruht nach einer mündlichen Mitteilung Barany s vielleicht auf 
einer Parese des gleichseitigen Blickzentrums nach der Seite. Dann würde 
es ebenfalls durch Druck auf den Hirnstamm entstehen und für Klein¬ 
hirnabszeß gegen Labyrintherkrankung sprechen. 

Daß neben den erwähnten Symptomen auch die vorhergegangenen 
eiterigen Erkrankungen am Ohrknochen und im Schädel für die Diagnose 
des Sitzes des Abszesses im Kleinhirn sehr in Betracht kommen, ist ja 
bekannt, in drei Fällen bestand auch eiterige Thrombose des 
Sinus transversus. Bei einseitigen Ohrerkrankungen 
sitzt der Abszeß wohl immer auf derselben Seite. Niedrige, im 
letzten Falle subnormale Temperaturen sprechen 
für Abszeß gegen Labyrintherkrankung. In zwei Fällen bestand starke 
Abmagerung, ein Symptom, auf das schon Macevoen hingewiesen hat. 

Dann zeigt B. ein etwa haselnußgroßes Fibrosarkom 
des Rückenmarkes von intraduralem Sitze, das aus der Höhe 
der linken 6., 7. und 8. Halswurzel durch Operation gewonnen wurde. 
Es handelte sich um eine jüngere Frau, die im April 1910 an Schmerzen 
an der linken Schulter und über dem linken Schulter¬ 
blatte erkrankt war. Im Mai 1911 Schwäche des linken 
Beines, oft plötzlich eintretend. Im Juni 1911 Parese beider 
Beine. Ende 1911 von B. untersucht. Spastische Lähmung 
beider Beine mit allem Zubehör in stärkster 
Beugekontraktur. Bauchmuskeln ebenfalls gelähmt, 
Bauchreflexe fehlen. Sensibilität an der Brust 
und am Rumpfe total aufgehoben, links bis zum vierten, 
rechts bis zum fünften Dorsalsegment; links bis zum zweiten, rechts bis 
zum dritten Dorsalsegment Hypästhesie für Tastr.eize, 


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Verein der Irrenärzte Niedersachsens und Westfalens. 


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Fehlen der Schmerzempfindung. Am Rücken Gefühls¬ 
grenzen in derselben Höhe wie vorn! An den Beinen manchmal vorüber¬ 
gehend fleckweise wieder Gefühl Schmerzen wie von Anfang an in der 
1 Schultergegend. Urinlassen sehr erschwert, Stuhl¬ 
gang angehalten.Neigung zu Dekubitus. Atrophie 
und Schwäche der kleinen Handmuskeln links, 
ohne elektrische Störungen. Linke Pupille enger als rechte. 
Aus den Anästhesiegrenzen und den segmentären Symptomen an der 
linken Hand und der linken Pupille wurde, da ja die letzteren vor allen 
auf eine Läsion des ersten Dorsalsegment L hinwiesen, angenommen, 
daß der linkseitige Tumor bis ins siebente Zervikalsegment nach oben 
reichte. Die Schmerzen, die immer im fünften und sechsten Zervikal¬ 
segment 1, also höher gesessen hatten, faßte B. als ausstrahlende auf. 

Am 28. Dezember 1911 wurden von Professor Thöle der 6. und 
7.Hals- und der 1. Brustdorn entfernt. Es blutete aber so stark aus den 
extraduralen Venen, daß trotz langen Wartens die Dura nicht geöffnet 
werden konnte und die Operation abgebrochen werden mußte. 8 Tage 
später waren die Hautnähte vereitert, so daß auch jetzt eine Fortsetzung 
der Operation nicht möglich war. Erst am 15. März 1912, als alles wieder 
geheilt war, fand sich bei Eröffnung der Dura der Tumor an der dia¬ 
gnostizierten Stelle L etwas vor dem Wulste. Sein oberes Ende ragte 
allerdings noch unter den fünften Halswirbelbogen, so daß er hier die 
6. Halswurzel traf, und sich die Schmerzen in der L Schulter als direkte 
Wurzelsymptome erklären ließen. Auch hier hat es sich also 
wieder gezeigt, daß man das obere Ende der intra¬ 
vertebralen Geschwülste in das Gebiet der höchst¬ 
segmentären Symptome verlegen soll 

Am Tage nach der Operation konnte die Kranke den r. Fuß wieder 
bewegen. Leider hatte sich zwischen erster und zweiter Operation ein 
Dekubitus entwickelt, und von diesem aus kam es zu einer eitrigen 
Meningitis der unteren Rückenmarksabschnitte, an der die Kranke 
zugrunde ging. Das Rückenmark war an der Tumorstelle stark verdünnt. 
Histologische Untersuchung steht noch aus. 

Zuletzt zeigt B. das Gehirn eines dreijährigen 
Knaben, der im ersten Lebensjahr eine schwer entzündliche 
Erkrankung beider Gehirnhälften mit langdauernden 
schweren Krämpfen erlitt. Später vollkommen idiotisch; links 
spastische Lähmung mit extremer Abduktion des Oberarmes, 
rechts fortwährend krampfhafte Bewegungen des Armes. Bei der Sektion 
zeigt sich die r. Hirnhälfte namentlich in ihren hinteren Teilen 
stark geschrumpft; dier. obere Fläche des Kleinhirnes nicht vom 
Großhirn bedeckt. Die L. Kleinhirnhälfte atrophisch. 
Histologische Untersuchung steht auch hier noch aus. 

Cramer-Göttingen spricht über Rückversicherung im 


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Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 


Zentralnervensystem, die darin besteht, daß immer höhere 
Zentren des Zentralnervensystems eintreten, wenn gewohnte Handlungen 
durch Hinzutreten neuer Momente kompliziert werden. 

O. Snell- Lüneburg: Die' Ausbildung des weiblichen 
Oberwartpersonales. 

Der Ersatz des weiblichen Oberwartpersonales kann auf zwei Wegen 
geschehen. Entweder läßt man die besten, bewährtesten Pflegerinnen 
zu Oberpflegerinnen aufrücken, oder man stellt junge Mädchen mit höherer 
Schulbildung an, nachdem sie durch eine informatorische Beschäftigung 
an derselben oder einer anderen Anstalt zu dem Berufe einer Oberpflegerin 
vorgebildet sind. Der erstere Weg hat den Vorzug, daß man nur solche 
Persönlichkeiten anstellt, die man ganz genau kennt, und bei denen deshalb 
kaum der Fall eintreten kann, daß sie sich als vollkommen untauglich 
erweisen. Die zweite Methode hat das Gute, daß die Oberwärterin über 
das Wartpersonal durch ihm überlegene Allgemeinbildung viel leichter 
ihre Autorität aufrecht erhält, und daß sie gegenüber den Kranken aus 
gebildeten Ständen eine bessere und angenehmere Stellung einnimmt. 
Es ist für eine Oberpflegerin sehr peinlich, wenn sich ihre Kranken in ihrer 
Gegenwart in französischer Sprache über sie unterhalten, ohne daß sie es 
versteht. Bei dem männlichen Personale ist diese Schwierigkeit viel geringer, 
weil die männlichen Kranken überhaupt viel leichter zu behandeln sind als 
die weiblichen, und weil Männer mehr Sinn für Unterordnung und Disziplin 
haben. Ich habe Erfahrungen mit beiden Methoden gesammelt und halte 
es für das entschieden Richtige, nur Oberpflegerinnen mit guter Allgemein¬ 
bildung anzustellen. Erhalten die Kandidatinnen, die sich zu den frei 
gewordenen Stellen melden, rasch die erforderliche Ausbildung und werden 
dann in derselben Anstalt angestellt, so ergibt sich die Schwierigkeit, 
daß sie die Vorgesetzten desselben Wart'Personals sein sollen, das noch 
vor kurzem ihre ersten, unsicheren Schritte auf dem Gebiete der Irren¬ 
pflege beobachten konnte. Auch ist es unvermeidlich, daß manche Ober¬ 
pflegerinnen angestellt werden, die während der Ausbildungszeit viel 
zu versprechen schienen, die sich dann aber doch nicht bewähren. Werden 
die Oberwärterinnen in einer anderen Anstalt ausgebildet, so kann ihre 
Ausbildung wegen der Verschiedenheit der einzelnen Anstalten mangel¬ 
haft sein; auch kann eine Kandidatin von dem einen Anstaltsdirektor 
günstig beurteilt werden, von dem anderen nicht. 

An der Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt zu Lüneburg sind bei 
einem Bestände von etwa 450 weiblichen Kranken 3 Oberinnen angestellt 
mit einem Gehalte von 900—1300 Mark bei freier Station erster Klasse. 
Daneben können bis zu 6 Hilfsoberwärterinnen angestellt werden, die 
500 Mark bei freier Station zweiter Klasse erhalten. Der Anstellung als 
Hilfsoberwärterin geht eine Ausbildungszeit voraus, die bi her in den 
meisten Fällen etwa 6 Monate betragen hat. Diese Schülerinnen erhalten 
vom ersten Tage an freie Station zweiter Klasse, aber kein Gehalt. Als 


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Verein der Irrenärzte Niedersachsens and Westfalens. 


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Schülerinnen werden nur junge Mädchen angenommen, die «ine höhere 
Mädchenschule oder, wie sie neuerdings genannt werden, ein Lyzeum 
durchgemacht haben oder eine auf anderem Wege erworbene, gleich¬ 
wertige Allgemeinbildung nachweisen können. Die Schülerinnen erhalten 
praktischen Unterricht in der Irrenpflege, indem sie systematisch alle 
Abteilungen durchmachen und jede Art von Pflegerinnendienst eine 
Zeitlang selbst ausüben, nach dem Grundsätze, dafl nur der eine Arbeit 
richtig beurteilen und überwachen kann, der sie selbst einmal ausgeführt 
hat. Sie machen also in der Regel zunächst den Dienst einer Wärterin 
in den leichtesten, dann in den schwierigeren Abteilungen, später den 
Dienst einer Stationswärterin, ebenfalls in verschiedenen Abteilungen, 
und schließlich, wenn sie sich dazu eignen, den Dienst einer Hilfsober¬ 
wärterin. 

Daneben erhalten die Schülerinnen theoretischen Unterricht in 
allen Zweigen der Krankenpflege und Irrenpflege. 

Durch die in Lüneburg gebräuchliche Methode wird erreicht, daß 
man in einem ausreichenden Zeitraum beobachten kann, ob sich die 
jungen Damen, die Oberwärterinnen werden möchten, tatsächlich für 
diesen Beruf eignen. Ein erheblicher Teil erweist sich als nicht geeignet. 
Für diesen ist es dann keine Härte, wenn man ihnen eröffnet, sie hätten 
keine Aussicht, als Hilfsoberwärterin angestellt zu werden, und man könne 
sie nicht anderen Anstalten empfehlen. Da ihnen ihre Ausbildung keinerlei 
Unkosten verursacht hat, ist die Erfahrung, die sie über ihre eigene 
Leistungfähigkeit machen, nicht zu teuer erkauft. 

In Lüneburg werden jetzt nicht nur die Stellen der Hilfsoberwärte¬ 
rinnen mit Schülerinnen besetzt, die in der beschriebenen Weise ausgebildet 
sind, sondern auch die Oberwäscherin hat diese Ausbildung genossen. 
Wir sind mit dieser Einrichtung sehr zufrieden. Die Leitung eines modernen 
Wäschebetriebes ist an sich nicht schwierig. Sollte eine Maschine nicht 
richtig funktionieren, so ist in der Lüneburger Anstalt ein Maschinist 
jederzeit sofort erreichbar, und andere technische Schwierigkeiten kommen 
kaum vor. Dagegen ist es sehr wichtig und nicht immer leicht, mit den 
Kranken, die im Wäschebetrieb beschäftigt sind, geschickt umzugehen. 
Das geschieht in Lüneburg sehr viel besser als früher, seitdem wir eine 
Oberwäscherin haben, die zur Oberwärterin ausgebildet ist und eine 
Zeitlang den Dienst einer Hilfsoberwärterin versehen hat. 

.RüWe-Uchtspringe: Gefäßveränderungen und Ab¬ 
bauvorgänge im Zentralnervensystem nach ex¬ 
perimenteller Methylalkoholvergiftu ng. 

Der Vortragende hat auf Anregung seines Chefs, des Herrn Professor 
Ah, amfangreiche Untersuchungen über die pathologisch-anatomischen 
Veränderungen im Gehirn und Rückenmark von mit Methylalkohol 
tödlich vergifteten Tieren unternommen. Die Arbeit ist in einer vor¬ 
läufigen Mitteilung in der Münchener medizinischen Wochenschrift 


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erschienen und wird in einer ausführlichen mit zahlreichen Abbildungen 
versehenen Publikation in der Zeitschrift für die gesamte Neurologie und 
Psychiatrie veröffentlicht werden. Der Vortragende referierte in Kürze 
über unsere bisherigen Kenntnisse von dem Wesen der Abbauvorgänge 
im Zentralnervensystem, wie sie uns durch die grundlegenden Arbeiten 
Alzheimers und seiner Schüler vermittelt worden sind. Er erwähnt dabei 
namentlich einer neuerdings aus dem Alzheimerschen Laboratorium 
hervorgegangenen Arbeit von Jakob, in der die Abbauvorgänge im Zentral¬ 
nervensystem, insbesondere deren Beziehungen zu den Gefäßen, eine 
besondere Berücksichtigung erfahren haben. Jacob konstatiert auf Grund 
seiner Präparate eine unverkennbare Zugrichtung der Fettmassen nach 
den Gefäßen hin, beschreibt eine markante Ansammlung lipoider Stoffe 
um die Gefäße, gewucherte Gefäßwandzellen und Aufnahme von Fett¬ 
stoffen in ihr Plasma, sowie eine Aufsplitterung der Gefäßwand selbst. 
Die Jaco&schen Untersuchungen sind an degenerativen Vorgängen in der 
weißen Substanz des Rückenmarks bei Kaninchen und Affen nach Rücken¬ 
marksläsionen gemacht, also an Material, bei dem es bereits zur Ausbildung 
der typischen Träger der Abbauprodukte, der Körnchen- oder Gitter¬ 
zellen, gekommen war. Daß es aber auch bei ganz akuten Insulten des 
Zentralnervensystems, wie einen solchen die Einverleibung von differenten 
Stoffen in den Blutkreislauf darstellt, zu einem äußerst lebhaften Ab¬ 
transport lipoider Stoffe kommen kann, zu einem Abtransport, der noch 
nicht an Körnchen- und Gitterzellen, also degenerative Formen gliogener 
oder mesodermaler Herkunft, gebunden ist, sondern sich offenbar auf 
dem Wege der noch nicht veränderten Gliazelle vollzieht, konnte der 
Vortragende an der Hand zahlreicher mikrophotographischer Aufnahmen 
(Dr. Engelken, Uchtspringe) seiner Präparate demonstrieren. Einerlei, 
ob es sich dabei um eine aktive Tätigkeit des Zellprotoplasmas oder einen 
mehr passiven Mechanismus handelt, daran ließen jedenfalls die großen¬ 
teils nach dem Lumiäreverfahren hergestellten Diapositive der Präparate 
keinen Zweifel, daß auch bei akutesten das nervöse Gewebe treffenden 
Schädigungen, wie sie eine schon nach wenigen Stunden zum Tode führende 
Methylalkoholvergiftung darstellt, ein lebhafter Abtransport lipoider 
Stoffe nach den Gefäßen zu und in diese hinein stattfindet. 

Grütter-Lüneburg: Über die bisherigen Ergebnisse 
der Wassermannschen Reaktion an der Provinzial- 
Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg. 

Bisher sind 387 Untersuchungen an 300 Patienten angestellt. Zur 
Anwendung kam die Originalmethode nach Wassermann, nur wurde statt 
des Luesextraktes wässeriger Extrakt nach Lesser mit gutem Erfolge 
gebraucht. Von den untersuchten Patienten reagierten 82 positiv, 218 
negativ. Sämtliche 42 Paralysen reagierten im Blute positiv = 100%. 
Davon waren 36 klinisch sichere Paralysen, bei den übrigen 6 wurde der 
'Verdacht auf Paralyse erst durch den positiven Ausfall der Reaktion 


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geweckt oder bestätigt, unter diesen 3 juvenile Paralysen. Der Liquor 
wurde in 17 Paralysefällen untersucht, davon reagierten 16 positiv nach 
Wassermann, 1 frischer, aber einwandfreier Fall negativ, dieser auch im 
Blut schwächer als die übrigen. Die 16 im Liquor positiven Fälle zeigten 
auch positive Phase I nach Nonne-Apelt, positiven Güillaint-Parant und 
Pleozytose. Die Ausfälle der Wassermannschen Reaktion waren im Liquor 
meistens schwächer als im Serum. 

1 Fall sicherer Hirnlues zeigte positiven Wassermann im Liquor. 

Von 7 Tabesfällen reagierten 5 im Serum positiv, 2 negativ, diese 
beiden auch im Liquor negativ. 

Von 19 Epileptikern waren 2 positiv im Serum, bei denen Epilepsie 
und Lues aber in keinem kausalen Zusammenhang stehen. 

Von 15 Idioten reagierte keiner positiv. 

Die übrigen positiven Ausfälle waren aus der Anamnese oder nach 
dem Befunde ohne weiteres erklärlich. 

Die Untersuchungen werden fortgeführt. 

In der Diskussion weist Eichelberg- Göttingen darauf hin, 
daß die Wassermannsche Reaktion nicht als spezifisch für Lues zu be¬ 
zeichnen ist, da sie auch bei anderen Erkrankungen vorkommt. In unserer 
Gegend bedeutet ein positiver Ausfall allerdings praktisch ziemlich sicher, 
daß das betreffende Individuum Lues hat oder gehabt hat. Es ist wichtig, 
diesen Unterschied zu machen für die Frage des Zusammenhanges zwischen 
Syphilis, Tabes und Paralyse. Der vollkommen sichere Beweis für diesen 
Zusammenhang ist auch durch die Wasserma/msche Reaktion noch nicht 
geführt. Man kann nur sagen, daß ein- und dieselbe Reaktion bei Lues 
und auch bei Paralyse und Tabes sehr häufig vorkommt. Es ist das sicher 
auch ein Wahrscheinlichkeitsbeweis mehr für den Zusammenhang der 
Lues mit diesen Erkrankungen. — Da die Antigene sehr verschieden 
sein können, ist es leider möglich, daß die Untersuchung eines Serums, 
in verschiedenen Instituten ausgeführt, verschiedene Resultate geben 
kann. Da die Antigene sich im Laufe der Zeit verändern können, ist eine 
Zentralisation der Herstellung derselben nur in beschränkter Weise mög¬ 
lich. — Als positiv können nur die Fälle bezeichnet werden, bei denen 
völlige Hemmung eintritt. — Wie zuerst von amerikanischer Seite behauptet 
worden ist, scheint reichlicher Alkoholgenuß die Reaktion im Blutserum 
zu beeinflussen. Es ist daher nötig, bei der Gewinnung auf den Umstand 
zu achten, ob die betreffenden Patienten in den letzten Tagen große Alkohol¬ 
mengen zu sich genommen haben. — Es ist nicht richtig, zu behaupten, 
daß die Lues beim Zustandekommen der Idiotie eine sehr große Rolle 
spielt. E. hat bei 150 Idioten die Wassermannsche Reaktion nur 12 mal 
positiv erhalten. Bei 38 Kindern, die von sicher luischen Eltern stammten, 
die aber geistig und körperlich völlig gesund waren, war die Reaktion 
6 mal positiv. — Im Gegensatz zu den Angaben Nonne s hat E. bei Tabes 
die ursprüngliche Wassermannsche Reaktion in der Spinalflüssigkeit bei 


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Untersuchung von 63 Fällen 23 mal positiv erhalten. Bei Verwendung 
von 1 cbcm Spinalflüssigkeit hat E. bei 2 Fällen von multipler Sklerose 
positive Reaktionen bekommen. Die Angaben Nonnes müssen nach 
dieser Richtung auch weiterhin noch geprüft werden. — Es muß betont 
werden, daß die in Betracht kommenden Fälle von Lues cerebri, Para¬ 
lyse, Tabes usw., bei denen nicht schon klinisch die richtige Diagnose 
gestellt werden kann, verhältnismäßig selten sind, daß man praktisch 
also nicht allzu häufig die Untersuchung der Spinalflüssigkeit nach 
Wassermann usw. notwendig hat. 

Bruns- Hannover: Negativer Wassermann ist nicht beweisend, da 
trotzdem Lues vorliegen kann. Für den Praktiker ist es außerdem nicht 
angenehm, 7 cbcm Spinalflüssigkeit zu entnehmen, er wird zur Diagnose¬ 
stellung Wassermann auch nur in wenigen Fällen benötigen, da bei Tabes 
das Vorhandensein von Lues ihm sichersteht, ähnlich bei Paralyse. Wenn 
Vortragender von juveniler Paralyse und hereditärer Lues gesprochen 
habe, so sei zu bedenken, daß viele Fälle erst post partum angesteckt 
seien, z. B. durch Ammen. Viele intra partum Infizierte hätten keine 
hereditäre Lues, sondern nur dann, wenn sie im Mutterleibe erkrankt 
seien oder die Infektion mitbekommen hätten, zunächst keine Erschei¬ 
nungen böten und erst nach Jahren an Paralyse oder Tabes erkrankten. 
Man solle also lieber den Ausdruck ,,früh erworben“ gebrauchen. 

.EtcÄeZ&erg-Göttingen: Organische Geistes- und Nerven¬ 
krankheiten nach Unfall 

Die Begutachtung derartiger Fälle kommt gegenüber den funktionellen 
Nervenerkrankungen verhältnismäßig selten vor. Bei den letzten 1000 
Gutachten, welche in der Nervenklinik zu Göttingen angefertigt wurden, 
handelte es sich nur in 34 Fällen um organische Erkrankungen. (Paralyse 5: 
Tumor 5; Spätaploplexie 1; Tabes 4; multiple Sklerose 6; Syringomyelie 2; 
Myelitis 2; Paralysis agitans 3; Epilepsie 6). Es ist nicht richtig, auf Grund 
einer leichten Drucksteigerung der Spinalflüssigkeit allein eine organische 
Veränderung des Zentralnervensystems anzunehmen. Bei vielen Er¬ 
krankungen, so bei Bleichsucht, chronischem Alkoholismus und auch bei 
Blutdrucksteigerung können wir Drucksteigerungen der Spinalflüssigkeit 
bis auf 180 und sogar 200 mm finden, ohne daß eine organische Ver¬ 
änderung am Zentralnervensystem nachweisbar ist. — Wir wissen über 
den Zusammenhang organischer Erkrankungen des Zentralnervensystems 
mit Unfall noch sehr wenig. Auch die experimentellen Untersuchungen 
auf diesem Gebiete haben uns noch nicht viel weiter gebracht. Da wir 
genaues über diese Frage noch nicht wissen, müssen wir unter gewissen 
Umständen einen derartigen Zusammenhang zugeben, und man darf bei 
praktischer Beurteilung dieser Frage nicht zu skeptisch sein. Um einen 
Zusammenhang anzunehmen, muß aber festgestellt werden, daß die 
vorliegende Erkrankung nicht schon vor dem Unfall bestanden hat, daß 
der Unfall schwer gewesen ist und insbesondere mit einer gewissen Schädi- 


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gung (Erschütterung oder dergleichen) des Zentralnervensystems einher¬ 
gegangen ist, und daß ein zeitlicher Zusammenhang zwischen Unfall und 
Beginn der Erkrankung besteht. Was den letzten Punkt angeht, so ist 
zu bemerken, daß in den meisten Fällen sofort nach dem Unfall noch keine 
Erscheinungen vorhanden sind, die auf eine organische Erkrankung hin¬ 
deuten. Diese Symptome entwickeln sich erst langsam. Es muß aber 
verlangt werden, daß die ersten Symptome der Erkrankung spätestens 
Y «—1 Jahr nach dem Unfall auftreten. — Was im speziellen den Zusammen¬ 
hang zwischen Tabes und Paralyse mit Unfall angeht, so muß berück¬ 
sichtigt werden, daß eine Lues hierbei ziemlich sicher immer in Betracht 
kommt. Unter den oben angeführten Bedingungen kann aber ein Trauma 
trotzdem als auslösendes Moment angesehen werden, da wir ja wohl ziem¬ 
lich sicher wissen, daß es keine Paralyse und Tabes ohne Lues gibt, da 
wir aber auch ebensogut wissen, daß den meisten Fällen von Lues keine 
Paralyse oder Tabes folgt. — Beim Zustandekommen der Myelitis kann 
es sich öfter um zwei verschiedene Schädigungen handeln. Durch einen 
vorausgegangenen Abszeß oder dergleichen können sich Infektionserreger 
in der Blutbahn finden. Durch ein Trauma wird ein Locus minoris resisten- 
tiae am Rückenmark geschaffen, und es kommt dann hier zu einer neuen 
entzündlichen Veränderung. Derartige Fälle sind natürlich auch als 
durch den Unfall bedingt anzusehen. — Wenn man glaubt, einen Zu¬ 
sammenhang zwischen Unfall und organischer Nervenerkrankung an¬ 
nehmen zu können, so ist es praktisch wichtig, in dem Gutachten darauf 
hinzuweisen, daß eine an „Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit“ 
für diesen Zusammenhang vorliegt, da dieses der entsprechende Wortlaut 
der Reichsversicherungsordnung ist. 

Diskussion. — Cramer-Göttingen: Es sei nicht richtig, wenn 
in manchen Lehrbüchern stehe, daß ein Zusammenhang zwischen Unfall 
und Krankheit nur anzunehmen sei, wenn ein ununterbrochener Symp- 
tomenkomplex bestehe; erwähnt einige Beispiele aus der Praxis, so Fälle 
von Paralysis agitans und Landryscher Paralyse, für die Unfälle ver¬ 
antwortlich gemacht wurden, obwohl die Krankheiten schon vorher 
vorhanden waren. Besonders bei Paralyse solle oft ein Unfall schuld sein. 

In der Diskussion bemerkt weiterhin Bruns -Hannover, man müsse 
in der Gutachterpraxis bisweilen Zusammenhänge annehmen, die man 
wissenschaftlich nicht beweisen könne, so z. B. in einem Falle, der nach 
Unfall Symptome von Hirntumor darbot, während sich bei der Sektion 
ein Zystizerkus fand, der sicher vor dem Unfall schon vorhanden war. 
Ähnliche Erfahrungen mache man bei Paralyse und Tabes; am ehesten 
noch könne man bei multipler Sklerose einen Zusammenhang mit einem 
Unfall als vorliegend erachten, die Symptome könnten da bisweilen sehr 
schnell auftreten. 

Bei Hirntumor fehle häufig ein kontinuierlicher Symptomenkomplex; 
wo ein solcher nach dem Unfall sich entwickle und außer dem Tumor an 


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der betreffenden Stelle Reste der Verletzung zu finden sind, könne man 
einen Zusammenhang annehmen. 

Redepenning- Göttingen berichtete über die neue Provinzial- 
Heil- und Erziehungsanstalt in Göttingen, die für 
54 männliche, schulentlassene, psychopathische Fürsorgezöglinge ein¬ 
gerichtet, Anfang April in Betrieb genommen ist und unter ärztlicher 
Leitung steht. 

Ein ausführlicher Bericht erfolgt an anderer Stelle. 

In der Diskussion bemerkt Cramer -Göttingen, daß unter 
den Fürsorgezöglingen ein Teil gut gerät, ein Teil seien Imbezille, andere 
wieder zeigten degenerative Charaktereigenschaften; nur letztere stören 
die Fürsorgeerziehung. Für diese nicht geisteskranken, aber psycho¬ 
pathischen Individuen sei die neue Anstalt eingerichtet. Es gebe auch 
Fälle, die in der Pubertätszeit etwa 2—3 Jahre lang psychopathische 
Symptome darböten, welch letztere dann völlig schwänden. 

Stüöer-Hildesheim. 


Jahresversammlung des Deutschen Vereins für 
Psychiatrie zu Kiel am 30. und 31. Mai 1912. 

Anwesend: Adams-Köln-Lindenthal, Aher-Leubus, Aher-Linden- 
haus, A/zAeimer-München, Anton-Halle, Arndt-Meiningen, Backenköhler 
Aplerbeck, FarAo-Pforzheim, Baumann -Teupitz, Fee Aer-Weil mü nster, 
Bergl- Prag, FiseAo#-Langenhorn, Ble uler - Bu rghölzli, FoecA-Troppau, 
FoedeAer-Schlachtensee, Bodet- Brauweiler, Bonhoeffer -Berlin, Bouman- 
Amsterdam, Frandf-Eglflng, Braune -Conradstein, Buddeberg vierzig, 
Fünger-Großwusterwitz, Camerer-Stuttgart, Cimbal- Altona, Clemens- 
Eickelborn, Cohen- Königslutter, Cramer-Göttingen, Dabeistein -Neustadt, 
Dannemann-Gießen, Dannenberger -Goddelau, Dees-Gabersee, Dinter- Brieg, 
Fccard-Frankenthal, M. Fdef-Charlottenburg, v. Ehrenwall- Ahrweiler, Eich- 
bäum- Schleswig, Eichelberg- Göttingen, FncAe-Ueckermünde, van Erp 
Talman Kip -Amsterdam, Fabricius -Düren, Fa/A-Kortau, Feldkirchner- 
Regensburg, M. FiscAer-Wiesloch, O. Fischer-Prag, Friedländer- Hohe Mark, 
Gallus- Potsdam, Gaupp-Tübingen, Geist-Untergöltzsch, Geriing-Merxhausen, 
G/üA-Haniburg, Goldstein- Königsberg, Gottschick-Dösen, Gro/3-Rufach, 
v. GraAe-Hamburg-Friedrichsberg, J/aardt-Emmendingen, Hannen-Kiel. 
FdusAa/tor-Friedrichsort, Hegemann - Warstein, Heller- Haina, Herfeldt- 
Ansbach, Hermkes- Eickelborn, J/erttng-Galkhausen, Herwig -Marsberg, 
Hieronymus -Lauenburg i. P., Hinrichs -Schleswig, Hirschfeld- Berlin, 
Hoche- Freiburg i. B., Hock- Bayreuth, Hoffmann -Eberswalde, Holzer- 
Warstein, Hügel- Klingenmünster, Jaspersen -Preetz, Aa/Aa-Hamburg- 
Friedrichsberg, AaA/Aaum-Görlitz, Aa/rer-Klingenmünster, Aaston-Rostock. 


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Deutscher Verein für Psychiatrie. 


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Aehrer-Kiel, JTetz-Schwetz, Kirchhoff-Schleswig, Klapper-Kiel, Kleffner- 
Münster, ÄJuge-Potsdam, JTnörr-Teupitz, Robert- Kiel, JToch-Schussenried, 
fönig-Kiel, Körtke -Langenhorn, Kräpel in -München, Krebs -Allenberg, 
Areucer-Winnental, Aürhüz-Sonnenstein, Aumfc-Deggendorf, Kurz- 
Pfullingen, .Lachmund-Münster i. W., Hans Laekr - Schweizerhof, Max Laehr- 
Haus Schönow, lange- Jericho, Lantzius-Beninga- Weilmünster, Lehmann- 
Coswig, Lemberg- Eglfing, A. Leppmann-Berlin-Moabit, Lienau -Hamburg, 
Xongard-Sigmaringen, Lüdemann -Hamburg, Lütgerath - Sch leswig, Mercklin- 
Treptow a. R„ E. Meyer- Königsberg, Moeli- Berlin, AföMcr-Lichterfelde, 
CL Neißer- Bunzlau, Neuhaus- Düsseldorf, Oerter-Kutzenberg, Ollendorff- 
Schöneberg, Orthmann- Johannistal, Oßtvald- Gießen, Oster- Illenau, Paetz- 
Alt-Scherbitz, Passow- Kropp, Peretti-Grafenberg, Pförringer- Hamburg, 
Piaut-München, Profcsf-Eglfing, Rabbas -Neustadt i. Westpr., v. Rad- 
Nürnberg, Raecke -Frankfurt, Ranke -München, Rautenberg- Hamburg, Rehm- 
Bremen, Repkewitz- Schleswig, Rittershaus- Hamburg, Robert-Kiel, Roßbach 
Hubertusburg, Pühfe-Uchtspringe, Äusr-Nietleben, A. Schaefer- Roda, 
G. Schaefer- Hamburg, .Schcrenfcerg-Warst ein, iScA/ürer-Kiel, A. Schmidt-Soren, 
Heinr. Schmidt- Kiel, P. .Schröder-Breslau, Schulte-Marsherg, E. Schultze- 
Greifswald, H.Schultze- Schleswig, Schuppius-Rostock, Schwabe- Plauen, Selle- 
Neuruppin, Siemens -Lauenburg i. P., Siemerling- Kiel, Sierau -Langenhorn, 
.Stmon-Warstein, .Sinn-Neubabelsberg, .SneM-Lüneburg, Spielmeyei--Frei- 
burg i. B., Sprengel-GreiQehberg, Stallmann- Merzig, Sm/nm-Ilten, Star- 
gordr-Kiel, Ärarhe-Neustadt i. H., F. «Stern-Kiel, Stertz- Bonn, Stier- Berlin, 
StoUenhoff -Kortau, Stransky-Wien, Subotisch- Belgrad, v. ^t/do«'-Uecker¬ 
münde, Thomsen- Bonn, Többen- Münster i. W., Treiber- Landsberg a. W., 
Trömner- Hamburg, Tuczeh-Marburg, Urstein -Warschau, Utz-Ansbach, 
Koche-Eglfing, Wahrendor ff-Ilten, Wakher-Neustadt i.H., Wanke - F riedrich - 
roda, Warda- Blankenburg, Wassermeyer-Ronn, L. Weher-Chemnitz, 
Weiche Ir-Andernach, Wei/enhach-Goddelau, Weiler- Westend, Weißenbom- 
Schleswig, Werner-Owinsk, A. Westphal- Bonn, Wewrum-Marsberg, Wey- 
gandt-H amburg, Zinn -Eberswalde (189 Teilnehmer). 

Vorsitzender: Moeli. Schriftführer: Kehrer, König, Stern. 

1. Sitzung: Donnerstag, 30. Mai, vorm. 9 Uhr. 

Der Vorsitzende eröffnet die Versammlung und gedenkt der Ver¬ 
storbenen: Unruh-Tapiau, Arömer-Conradstein, Behrendt- Sayn, Jastrowitz- 
Berlin, Länderer-And e rn ach, Peye-Hamburg, Skierlo- Potsdam, Tauben- 
Lauenburg. Es folgen Begrüßungsansprachen durch den Rektor der 
Universität, Prof. Dr. Sudhoff, Oberbürgermeister Fuß, Dekan Prof. 
Dr. Heine und Landesrat Bachmann. 

Hierauf wird zur wissenschaftlichen Tagesordnung übergegangen. 

I. Referat. Die Bedeutung der Symptomenkom- 
plexe in der Psychiatrie, besonders im Hinblick 
auf das manisch-depressive Irresein. 

Als 1. Referent bespricht Hochs- Freiburg i. B. dieSymptomen- 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXIX. 5. 48 


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Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 


komplexe in ihrem Verhältnis zu Krankheitformen einerseits, zu Elementar¬ 
symptomen andererseits, oder mit anderen Worten: den heutigen Stand 
unserer klassifikatorischen Bemühungen. In kurzem Abriß wird die 
Entwicklung des heutigen Standes der Klinik durchlaufen und das sicher 
Fundierte von dem schwankenden Besitzstand getrennt. Wenn abgezogen 
wird, was anatomisch einheitlich sich darstellt, was toxisch-ätiologisch 
zusammengehört, so bleibt als das schwierigste Kapitel das Gebiet der 
„funktionellen“ Psychosen, ein Begriff, dessen Doppelsinn erörtert wird. 
Darunter verstanden soll werden: die nicht schicksalmäßig mit Defekt 
endigenden Seelenstörungen. Dieses große Kapitel ist dauernd in stärkster 
Bewegung begriffen. Der Vortragende skizziert die quantitativen Schwan¬ 
kungen in der Einzelumgrenzung, die eine Zeitlang die Paranoia, dann die 
Dementia praecox, dann das manisch-depressive Irresein als häufigste 
Diagnose in den Vordergrund drängte. Daß diese Sammelkästen, die 
stellenweise mehr als die Hälfte aller Diagnosen umfassen, für wissen¬ 
schaftliche und praktische Zwecke viel zu groß sind, wird im Ernste von 
niemand bestritten. Trotzdem unterhält der unverwüstliche Glaube 
an die Findbarkeit „reiner Krankheitformen“ das unausgesetzte Bemühen, 
durch Neugruppierungen und Umgruppierungen der Erscheinungen zum 
Ziele zu gelangen. Trotz zahlreicher objektiver und subjektiver Be¬ 
schwichtigungsmomente ist doch die Zahl derer im Wachsen, die für das 
vorhin umgrenzte Gebiet nicht mehr an reine Krankheitformen glauben, 
und die sich darüber klar sind, daß wir fortgesetzt durch das Ignorieren 
störender Symptome und das Hineinsehen der fehlenden in die Krankheit¬ 
zustände die theoretisch geforderten Symptomgruppierungen zusammen¬ 
bekommen. Referent belegt diese Ausführungen mit Beispielen aus der 
Geschichte der Psychiatrie. Der Hauptvertreter des klassifizierenden 
Optimismus ist heute Kräpelin, der unerschütterlich an seiner Forderung 
der Zerlegung in kleine und kleinste Gruppen und monographischer 
Bearbeitung derselben festhält. 

Wenn bei unbefangener Prüfung zugegeben werden muß, daß die 
tatsächliche Erfahrung uns heute den Glauben an die Existenz reiner 
Krankheitformen nicht zu nähren vermag, so wird andererseits auch 
eingesehen werden müssen, daß auch die theoretischen Voraussetzungen 
wenig geeignet sind, den Glauben an die Existenz solcher Formen zu 
stützen. Zweifellos stehen wir noch zu sehr im Bann oder unter der Nach¬ 
wirkung der anatomischen Lokalisationslehren. Gewiß können wir eine 
Reihe psychischer Ausfallerscheinungen, die durch Leitungsunterbrechung 
erzeugt werden, insoweit lokalisieren, als wir Vorhersagen können, wo eine 
Läsion zu finden sein wird; aber es ist bei dem heutigen Stand unseres 
Wissens im höchsten Maße unwahrscheinlich, daß Erscheinungen wie Ge¬ 
fühl, Stimmung, Trieb, Wille usw. an irgendwelche umschriebene Ört¬ 
lichkeiten im Gehirn gebunden sein sollten. Wenn wir zu der Annahme 
kommen, daß bei diesen höheren psychischen Verrichtungen ein Zusammen- 


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Deutscher Verein für Psychiatrie. 


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wirken vielleicht sehr zahlreicher Hirngegenden notwendig ist, von denen 
jede einzelne eine Störung des Vorganges hervorrufen kann, so würde 
überhaupt die Möglichkeit einer Rückbeziehung komplizierter psychischer 
Vorgänge auf einzelne anatomische Veränderungen unsinnig sein. Wir 
wissen ja auch gar nicht, ob nicht auf denselben Bahnen oder in denselben 
Gehirnabschnitten, je nach der Form des Erregungsvorganges sehr 
verschieden, von uns von innen als psychisch empfundene Vorgänge ab- 
laufen können. Ist dieses alles so, dann ist die Anatomie überhaupt un¬ 
brauchbar, um als Abgrenzungsmoment psychischer Krankheitformen 
zu dienen, und wir hätten hier den Punkt, an dem die häufig gesuchte 
Analogie zwischen innerer Medizin z. B. und Psychiatrie in der Zurück¬ 
beziehung klinischer Symptome auf die materielle Grundlage versagt. 
Also: weder die klinische Erfahrung noch die theoretische Betrachtung 
führt zu der Annahme der Wahrscheinlichkeit reiner Krankheitformen 
bei den funktionellen Psychosen. Die Gegenprobe wird von der Natur 
sehr häufig gemacht, indem gerade die Psychosen mit bekannten anatomi- 
chen Vorgängen, mit bestimmtem Verlauf und Ausgang symptomatisch 
die regellosesten sind. 

Der Vorgang, der scheinbar wohl fundierte Krankheitbilder ihres 
einheitlichen Charakters entkleidet, ist bei den Grenzgebieten zwischen 
Neurologie und Psychiatrie schon längst im Gange, wie die Geschichte 
der Hypochondrie, der Neurasthenie und Hysterie zeigt. Übrig bleiben 
dabei gewisse Reaktionsformen des Individuums, über deren 
Kennzeichen im gegebenen Fall wir alle uns einig sind. Wir kennen schon 
unter den psychopathischen Persönlichkeiten eine ganze Reihe weiterer 
derartiger abnormer Reaktionsformen: die konstitutionelle Verstimmung, 
den mißtrauisch-paranoischen, den chronisch-manischen, den quäru- 
lierenden Charakter usw., Erscheinungen, die den dringenden Hinweis 
geben, daß bestimmte präformierte Symptomverkuppelungen in der 
normalen und in der krankhaft disponierten Psyche vorhanden sind. 
Auch in den ausgesprochenen Psychosen ist gerade die Wiederkehr be¬ 
stimmter Symptomenkomplexe dasjenige, was uns die Sicherheit des 
Erkennens und des Handelns gibt, ohne daß es sich dabei um die Diagnose 
einer bestimmten reinen Krankheitform handelte. Man hat den Eindruck, 
daß, wie die Komponenten des epileptischen Anfalls parat liegen und durch 
bestimmte toxische oder andere Momente nicht erzeugt, sondern nur aus¬ 
gelöst werden, in ähnlicher Weise Symptomverkuppelungen vorhanden 
sind, die durch gewisse Anstöße innerer oder äußerer Art mobil werden. 
Den reinsten Typus, den wir heute erkennen, würde z. B. darstellen: 
die Verbindung von Depression, Minderwertigkeitsgefühl, Darnieder¬ 
liegen des Willens, oder: von gehobener Stimmung, erleichterter motori¬ 
scher Auslösung, oder: der katatonische Symptomenkomplex, oder 
das gesetzmäßige Verhältnis zwischen Sinnestäuschungen und Wahn¬ 
ideen und vieles andere, was wir finden werden, wenn wir danach suchen. 

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Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 


Möglicherweise werden die Psychosen sich eines Tages gruppieren in 
solche, die auf dem Wege toxischer oder grob anatomischer Beeinflussung 
neue Symptomgruppierungen in die Erscheinung rufen, und solche, 
die paratliegende nur auslösen. Zu den letzteren würden 
sicherlich die Fälle von Manie, Melancholie und von periodischem Irre¬ 
sein gehören. Diese Symptomverkuppelungen habe ich früher schon 
als Einheiten zweiter Ordnung den Elementarsymptomen 
einerseits, den reinen Krankheitformen andererseits gegenübergestellt. 
Ich halte eine Erörterung unserer Arbeitsmethoden in dieser Richtung 
für aussichtvoller, als das immer wieder fruchtlose Suchen nach reinen 
Krankheitformen (Ausführliche Veröffentlichung in der Ztschr. f. d. ges. 
NeuroL u. Psychiatrie). 

Afzfteimer-München (Korreferat): 

Die Psychiatrie muß, wenn sie zu einer Beherrschung ihres Stoffes, 
zu der Möglichkeit einer Prognosestellung, einer Therapie und einer Pro¬ 
phylaxe kommen will, ebenso wie es die anderen medizinischen Disziplinen 
erreicht haben, zu einer Einordnung der Symptomenbilder in Krankheiten 
zu kommen suchen. Auch auf dem Gebiete der organischen Psychosen 
glaubte man früher sich mannigfach überschneidende Kreise zu sehen, 
hat aber schließlich scharfe Begrenzungslinien zwischen den einzelnen 
Krankheiten (Paralyse, Lues, Arteriosklerose, senile Demenz) ziehen 
lernen. Ebenso ist auf dem Gebiete der sogenannten funktionellen Psy¬ 
chosen, wo man heute noch Übergänge zu sehen glaubt, zu hoffen, daß 
wir mit dem Fortschritt unserer Erkenntnis zur besseren Abtrennung 
einzelner Krankheiten und zur Gliederung der hier vorhandenen besonders 
großen Krankheiteinheiten in einzelne durch Besonderheiten der Sym¬ 
ptome und des Verlaufs charakterisierte Typen gelangen werden. 

Die Wege, die uns hier noch weiter führen können, sind erstens die 
pathologische Anatomie. 

Ohne Grund wird heute vielfach behauptet, daß sie für die Psychiatrie 
nichts mehr leisten könne. Zunächst aber kann sie gerade für die Beziehung 
der Symptomenkomplexe zu den Krankheiten mancherlei lehren. Experi¬ 
mentelle Untersuchungen sowie das Studium der Infektionspsychosen 
deuten darauf hin, daß bestimmte Reaktionsformen nicht von der Art 
des Giftes, sondern von dessen Dosierung abhängen. Bei den amentiellen 
Zuständen und leichten Delirien finden sich andere Veränderungen als 
bei den schweren und wieder andere bei den schwersten, den Delirium 
acutum-artigen Verlaufsformen. 

Weiter zeigt sich, daß bei bestimmter Dosierung nicht jedes Gift 
gleich verbreitete Schädigungen im Zentralnervensystem setzt, sondern 
elektiv die einen Teile schwerer, die anderen geringer schädigt. Diese 
elektive Giftwirkung läßt erwarten, daß durch die verschiedene Lokalisation 
der Hirn- und Rindenschädigung auch klinisch verschiedene Krankheit - 
bilder erzeugt werden. 


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Deutscher Verein für Psychiatrie. 


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Aber auch bei der Aufgabe, für einzelne Krankheiten charakteristische 
Gewebsveränderungen zu finden, sind keineswegs unsere Mittel und Wege 
erschöpft. Die Hoffnung ist berechtigt, daß wir bald die anatomische 
Grundlage der Dementia praecox festgestellt haben werden. Bei den 
Infektions- und Intoxikationspsychosen finden sich immer mehr charakte¬ 
ristische Befunde. Hin und wieder begegnen uns heute noch nicht bekannte 
histologische Krankheitprozesse, so daß wir hoffen können mit Hilfe der 
Histologie klinisch Dicht oder noch nicht genügend bekannte Krank¬ 
heiten abgrenzen zu lernen. Die Epilepsie werden wir immer mehr auflösen 
können, die Idiotie ist heute schon in zahlreiche verschiedene Krankheiten 
abzutrennen. Auch auf dem Gebiete der organischen Erkrankungen 
lassen sich neue Krankheitprozesse erkennen und bekannte noch weiter 
aufklären; namentlich verspricht das Studium der verschiedenenLokali- 
sationsformen der letzteren im Vergleich zu den klinischen Bildern weitere 
interessante Ergebnisse. Wenn alle diese lösbaren Aufgaben gelöst sein 
werden, wird auch der klinischen Psychiatrie mancher Vorteil für die 
Abgrenzung ihrer Krankheiten zugeflossen sein. Überall kann die Anatomie 
nicht helfen. 

Zweitens kann uns auch die klinische Forschung, die Verfeinerung un¬ 
serer Symptomenlehre sicher noch vorwärts bringen. Bonhoeffer hat neuer¬ 
dings auf die weitgehende Übereinstimmung der verschiedenen organischen 
Demenzformen hingewiesen. Daß sie aber auch Besonderheiten haben 
müssen, wird durch die Erfahrung bewiesen, daß man aus ihnen allein 
in der Mehrzahl der Fälle die richtige Diagnose stellen kann. Die schizo- 
phrenische Demenz ist ein ganz eigenartiger Defektzustand, wie das 
Bleuler besonders klar dargelegt hat. Auch die einengende epileptische 
Demenz ist gegenüber der die Persönlichkeit zerspaltenden schizophreni- 
schen von besonderer Art. So gibt es also sicher verschiedene, unter¬ 
scheidbare Demenzen. Es fehlt uns aber noch sehr an genauen Unter¬ 
suchungen und an präziseren Formeln für die Unterschiede. 

Gewiß ist richtig, was Bonhoeffer und Schröder neuerdings betont 
haben, daß die Reaktionsformen der akuten Intoxikationen eine gewisse 
Eintönigkeit zeigen. Man braucht sich aber nur einmal akut mit Alkohol 
und akut mit Meskalin zu vergiften (die akute Meskalinvergiftung ist von 
Knauer eingehend studiert worden), um bei seiner Betrachtung von innen 
sich überzeugen zu können, daß neben mancher Ähnlichkeit die weit¬ 
gehendsten Unterschiede bestehen. Diese übersehen wir heute noch zu 
leicht. Daß das nicht immer so bleiben muß, beweist der Umstand, daß 
wir auch hier schon Fortschritte gemacht haben. Die verschiedenen 
Stuporformen zeigen uns heute schon weit mehr Unterschiede als früher. 
Heute verwechseln wir nicht leicht mehr eine psychogene Haftpsychose 
mit einer Dementia praecox, was früher manchem Psychiater passiert ist. 

Drittens dürfen wir auch von der Ursachenforschung weitere Hilfe bei 
der Abgrenzung der einzelnen Krankheiten erhoffen. 


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Verandlnngen psychiatrischer Vereine. 


Hier haben die Erfahrungen mit der Paralyse sehr aufklarend ge¬ 
wirkt. Dutzend Ursachen finden wir in der alten Literatur als gleich¬ 
wertig angegeben. Heute ist es eine geworden, die Lues; die anderen 
sind als bedeutunglos erkannt, oder sie spielen nur die Rolle auslösender 
Momente, da sie den Verlauf der Krankheit gar nicht beeinflussen. So 
müssen wir uns heute fragen, ob es denn mit den vielen Ursachen der 
anderen Krankheiten nicht ebenso steht. Ein weiterer wichtiger Fortschritt 
in der ätiologischen Forschung bedeutet die Erkenntnis von den ätiologi¬ 
schen Zwischengliedern ( Bonhoefler ). So zeigt sich, wie namentlich von 
Kraepelin dargelegt worden ist, daß der Alkohol nicht so ganz verschiedene 
Krankheiten veranlaßt, wie man früher annahm. Der Fortschritt der 
ätiologischen Forschung hat entschieden zu einer Vereinheitlichung der 
Ursachen geführt, und damit kann uns auch die ätiologische Forschung 
für die Krankheitabtrennung nützlich werden. Die Erblichkeitsforschung 
wird noch manche dunkle Frage heller beleuchten können. 

Daß die Wege gangbar sind, beweist auch, daß sie bisher immer 
noch weiter geführt haben. Am besten sehen wir das am manisch- 
depressiven Irresein. Manche Fehler, die wir früher in der Prognosestellung, 
in der forensischen Beurteilung gemacht haben, können wir, wie an Bei¬ 
spielen dargelegt wird, heute durch unsere bessere Kenntnis der Be¬ 
ziehungen der Symptomenkomplexe zum manisch-depressiven Irresein 
vermeiden. 

Die Erkenntnis, daß eine Anzahl der Symptomenbilder der akuten 
Paranoia und Verwirrtheit, die sogenannten Mischzustände, die leichteren 
Formen, die Zyklothymien, Fälle von chronischen pathologischen Affekt¬ 
lagen nach der depressiven oder der exaltativen Richtung, einzelne Fälle 
von chronischer Paranoia und Querulantenwahn, ein Teil der Fälle von 
Kraepelins Melancholie zum manisch-depressiven Irresein gehören, be¬ 
deutet unbestreitbar ebensoviele Fortschritte in der Erkenntnis desselben. 
Auch die Heraushebung der reaktiven Depressionen stellt einen solchen 
Fortschritt dar. 

Man sagt nun, das manisch-depressive Irresein sei damit uferlos 
und als Krankheitbegriff ganz unbrauchbar geworden. Wir diagnostizieren 
aber gar nicht manisch-depressives Irresein, sondern einen der vielen 
Typen desselben, und die Erkenntnis der Zugehörigkeit zum manisch- 
depressiven Irresein legt uns nur eine gewisse Vorsicht nahe bei der 
Stellung der Prognose. 

Daß es auch auf anderem Gebiete vorwärts gegangen ist, beweist, 
neben manchem anderen, Bonhoeffers letztjähriges Referat über die psy¬ 
chogenen Geistesstörungen. 

Wenn auch Irrwege eingeschlagen worden sind, so ist dies bei der 
Schwierigkeit, vorwärts zu kommen, nicht zu verwundern. Weitere 
Arbeit läßt sie als solche schon erkennen. 

Die klinische Psychiatrie wird, wie die übrige Medizin dazu ge 


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kommen ist, auch eine immer bessere Einordnung der Symptome nbilder 
in Krankheiten erreichea Es ist nur nötig, daß wir nicht resignieren, 
sondern mit allen Mitteln weiter arbeitea — 

Die Diskussion der Vorträge wurde verschoben bis nach 
Anhörung der inhaltverwandten Vorträge von Kleist und Urstein. 

Kleist -Erlangen: Über chronische, wahnbildende 

Psychosen des Rü c k b i 1 d u n g s alt e r s, besonders 
im Hinblick auf deren Beziehungen zum manisch- 
depressiven Irreseia 

Die chronischen, wahnbildenden Psychosen des Rückbildungsalters 
bilden trotz ihrer Häufigkeit ein noch sehr der Klärung bedürftiges Gebiet 
der Psychiatrie. Die Kraepelinschen Krankheitbegriffe der Spätkätatonie 
und des präsenilen Beeinträchtigungswahns bilden hier vorläufig die ein¬ 
zigen Richtpunkte, wenn man von den paranoischen Zustandbildern, 
die gelegentlich im Beginn und Verlauf der arteriosklerotischen und der 
senilen Gehirnerkrankung auftreten, sowie von psychogenen paranoischen 
Erkrankungen absieht, die im Präsenium ebensogut wie auf anderen 
Alterstufen entstehen könnea Es erwies sich indessen als unmöglich, 
die klinisch noch nicht näher bekannten präsenilen chronischen wahn¬ 
bildenden Psychosen, die im Laufe der letzten 3 Jahre an der Erlanger 
Klinik beobachtet wurden, zwischen Spätkatatonie und präsenilem Be¬ 
einträchtigungswahn aufzuteilea Allerdings ergaben sich auch dem 
Vortr. zwei Typen chronisch-wahnbildender Erkrankungen des Präseniums, 
die offenbar wesensverschiedenen Krankheitarten angehören, und deren 
kennzeichnende Merkmale zum Teil mit den von Kraepelin für die Spät¬ 
katatonie und den präsenilen Beeinträchtigungswahn angegebenen Be¬ 
stimmungen zusammenfallea 

Vortr. unterscheidet zunächst eine Gruppe wahnbildender 
Erkrankungen, die er vorläufig als Spätformen paranoid f e A r 
Demenz von der Spätkatatonie abtrennen möchte. Die hierher¬ 
gehörenden Fälle lassen von Anfang an oder nach kurzer Dauer einen 
Zerfall des Bewußtseinsinhalts {Wernicke s „inhaltliche Verwirrtheit“), 
oft gepaart mit Störungen des sprachlichen Ausdrucks (agrammatische 
Störungen, Wortneubildungen) erkennen, ohne daß katatonisch-psycho¬ 
motorische Symptome aufträten. Ausgang in eigentliche Demenz ist 
selten. Die Wahnbildung scheint nur eine Äußerung des Zerfalls des 
Bewußtseinsinhaltes zu sein; viele Wahnvorstellungen sind einfach un¬ 
gereimte Vorstellungsverknüpfungen („Fehlgedanken“), die im Gegen¬ 
sätze zu den Verfolgungs-, Größen- und Kleinheitsvorstellungen keinen 
affektiven Kern besitzen. Die Verfolgungs- und Größenvorstellungen, die 
stets daneben Vorkommen, sind maßlos, barock, widerspruchvoll, wechselnd. 
Die begleitenden Affekte entsprechen nach Art und Intensität nicht den 
Wahnvorstellungen, obwohl das Gefühlsleben sonst in normaler Weise 
ansprechbar bleiben kann, eine „gemütliche Verblödung“ vermißt wird. 


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Sinnestäuschungen, insbesondere Phoneme, spielen eine große Rolle. 
Während es sich bei diesen Fällen um „paranoide“ Zustände 
handelt, d. h. um Krankheitbilder, bei denen sich hinter der Maske der 
Wahnbildung ein Zerfall des Bewußtseinsinhaltes vollzieht, verdient 
die zweite Gruppe von Fällen die Bezeichnung paranoische 
Erkrankungen wirklich. Vortr. möchte die hier vorliegende Krankheit 
„Involutionsparanoia“ nennen. Es handelt sich um Leute, 
ganz überwiegend um Frauen, die zwischen dem 40. und 51. Lebensjahr — 
Frauen um die Zeit des Klimakteriums — erkranken. Die Krankheithöhe 
wird meistens erst einige Jahre nach dem Klimakterium, bald in allmählich 
ansteigendem Verlaufe, bald auf dem Wege wiederholter akuter Schübe, 
erreicht. Die psychische Veränderung wird nach einiger Zeit stationär. 
Inhaltliche Verwirrtheit, Demenz, gemütliche Verblödung fehlen ebenso 
wie grammatische Störungen, Wortneubildungen und katatonisch-psycho¬ 
motorische Erscheinungen. Das wesentliche an der psychischen Veränderung 
ist eine affektive Umstimmung im Sinne einer in mannig¬ 
fachen Nuancen erscheinenden gemischten, teils ängstlichen, teils ge¬ 
hobenen AfTektlage, deren bezeichnendste Ausprägung der , Affekt 
des Mißtrauens ist. Diese krankhafte Verstimmung führt zu 
Mißdeutungen und Wahnvorstellungen in der Richtung der Verfolgung 
und, wenn die heitere Stimmungskomponente mehr hervortritt, auch 
in der Richtung der Selbstüberschätzung. Nie fehlen Sinnestäuschungen, 
und sehr oft besteht eine gesteigerte, gelegentlich in Ideenflucht über¬ 
gehende Vorstellungstätigkeit, der dann gewöhnlich ein lebhaftes Mit- 
teilungs- und Betätigungsbedürfnis parallel geht. An den Sinnes¬ 
täuschungen und der krankhaft gesteigerten Phantasie liegt es, daß die 
Wahnvorstellungen zum Teil einen befremdlichen, ja abenteuerlichen 
Charakter gewinnen, wodurch sie rein äußerlich den Wahnvorstellungen 
der Spätformen paranoider Demenz ähnlich werden können. 

Mit Kraepelins präsenilem Beeinträchtigungswahn stimmen diese 
Fälle insofern überein, als auch bei jener Erkrankung eine mißtrauische 
Verstimmung zu herrschen scheint. Doch können die Krankheitbilder 
nicht identisch sein, da beim präsenilen Beeinträchtigungswahn Hallu¬ 
zinationen und Größenideen fehlen und die Beeinträchtigungsideen flüchtig 
und wechselnd sein sollen. Die Erkrankungen, die der Vortr. als „In¬ 
volutionsparanoia“ bezeichnet, sind auch viel häufiger als nach K.s Angabe 
der präsenile Beeinträchtigungswahn ist. Vortr. hat noch keinen Fall 
gesehen, auf den die Beschreibung des präsenilen Beeinträchtigungswahns 
genau zutreffen würde. Am nächsten kommen dem von K. geschilderten 
Bilde nach den Erfahrungen des Vortr. Fälle, die neben paranoischen 
Symptomen Merkstörungen und andere auf arteriosklerotische oder senile 
Gehirnveränderungen hinweisende Erscheinungen zeigen. Solche Fälle 
dürften dann den arteriosklerotischen bzw. senilen Psychosen zuzuzählen 
sein. Die Involutionsparanoia im Sinne des Vortr. ist jedoch nicht die 


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Äußerung arteriosklerotischer oder seniler Gehirnerkrankung; sie geht 
nicht in die für jene Erkrankungen charakteristischen Schwächezu¬ 
stände aus. 

Es handelt sich vielmehr um eine konstitutionelle Er¬ 
krankung, um eine zur Zeit der sexuellen Involution aus inneren 
Gründen (autochthon) zum Durchbruch kommende krankhafte Anlage. 
Die meisten der Kranken sind schon vor dem Präsenium psychopathische 
Naturen gewesen, zum Teil waren sie schon damals mißtrauisch-reizbare 
Menschen, zum Teil handelte es sich um sehr tätige, selbstbewußte und 
reizbare Charaktere. Die Frauen — überwiegend Unverheiratete! — 
hatten häufig männliche Wesenszüge. */• der Kranken sind erblich belastet, 
einige Male im gleichen Sinne, öfter durch Melancholie. 

Die Stellung dieser Erkrankung zur Paranoia im Sinne Kraepelin s 
zu untersuchen erübrigt sich, da die Paranoia Kraepelins — wie Vortr. 
in Übereinstimmung mit Specht, Wilmanns u. a. überzeugt ist — nicht 
existiert. Die als Kraepelinsche Paranoia diagnostizierten Fälle dürften, 
soweit sie nicht etwa an Involutionsparanoia im Sinne des Vortr. gelitten 
haben, den psychogenen und den manisch-depressiven Erkrankungen 
< Specht) angehören. 

Mit den manisch-depressiven Erkrankungen hat nun auch die 
Involutionsparanoia eine Reihe von Berührungspunkten (Veränderung 
der Stimmungslage; soweit vorhanden, die an Ideenflucht erinnernde 
Denkstörung, Mitteilungs- und Betätigungsdrang). Zweifellos gehört 
die Involutionsparanoia zusammen mit den manischen, melancholischen, 
zirkulären Erkrankungen und mit noch einer Reihe weiterer auf krank¬ 
hafter Anlage erwachsender Psychosen, z. B. den heilbaren Motilitäts¬ 
psychosen, zu der großen Gruppe der konstitutionellen, 
autochthonen Psychosen von nichtprogressivem 
Charakter. 

Bei voller Anerkennung der inneren Verwandtschaft aller dieser 
Psychosen erscheint es dem Vortr. aber doch nicht zweckmäßig, diese 
große Gruppe von Psychosen etwa als „erweitertes manisch-depressives 
Irresein“ zu bezeichnen. Vielmehr scheinen diese verschiedenen Psychosen: 
die Involutionsparanoia, das zirkuläre Irresein, die heilbaren Motilitäts¬ 
psychosen u. a., selbständige und gleichgeordnete Glieder einer großen 
Familie unter den konstitutionellen Erkrankungen zu sein. 

t/rstem-Warschau: Manisch-depressives und peri¬ 
odisches Irresein als Erscheinungsform der Kata¬ 
tonie. 

Vortr. weist auf seine Monographie: Manisch-depressives und peri¬ 
odisches Irresein als Erscheinungsform der Katatonie, hin, die sich auf 
mehrere Tausende genau beobachteter, meist abgeschlossener Fälle stützt 
und das Ergebnis jahrelanger mühevoller Untersuchungen zusammen¬ 
faßt. V. hat in den drei letzten Jahren die Frage der funktionellen Psy- 


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chosen wiederum sehr eingehend geprttft und unter anderem das gesamte 
Material der Heilanstalt Schweizerhof in Zehlendorf verarbeitet. Dieses 
Material erscheint zur endgültigen Lösung der mannigfachsten Fragen 
am geeignesten, einmal, weil es das älteste ist und auf sechs Dezennien 
zurückblickt, dann aber geistig hoch stehende Personen betrifft, die, wenn 
sie erkranken, sich in vielerlei Hinsicht zweifellos anders verhalten als 
Kommunalpatienten, uns aber gerade durch ihre Bildung sowie Intelligenz 
diese Unterschiede deutlich vor Augen führen. Mit dem Terminus Kata¬ 
tonie identifiziert U. jene Krankheitform, die er früher als „Dementia 
praecox“ beschrieben hat, und liefert den Beweis, daß typische Manien, 
Depressionen und Mischzustände in streng Kraepelinschem Sinne zu 
katatoner Verblödung führen, vereinzelt aber erst nach 10—12 Attacken, 
wobei die freien Intervalle, in denen die Patienten völlig gesund bleiben, 
selbst über 30 Jahre betragen können. 

Im symptomatologischen Teil der Arbeit werden diejenigen Zeichen 
beschrieben, welche sowohl beim manisch-depressiven Irresein als auch 
bei Katatonie Vorkommen, ferner Symptome, die man nur bei zirkulären 
Kranken gelten lassen will, obwohl diese nach U .s Erfahrungen viel häufiger, 
wenn nicht ausschließlich bei Verblödungsprozessen auftreten, endlich 
Erscheinungen, die sich lediglich bei Katatonikern feststellen lassen. 

Auch die körperlichen Symptome wurden eingehend erörtert. 
U. beschreibt eine epileptische Form der Katatonie, bei der die typischen 
Krampfanfälle bei Tage und in der Nacht einzeln oder serienweise auf¬ 
treten, und wo sowohl epileptische Antezedentien als auch periodisch 
wiederkehrende Äquivalente beobachtet werden. 

Den Ursachen und dem Wesen der Katatonie widmet U. ein umfang¬ 
reiches Kapitel, in dem er neue Hypothesen zur Diskussion stellt. Kata¬ 
tonie wie auch genuine Epilepsie führt U. auf anaphylaktische, durch 
Sekretionsanomalien bedingte Autointoxikationen zurück. Ebenso leitet 
er bezüglich der Heredität bestimmte Gesetzmäßigkeiten ab. 

Im diagnostischen Teil wird der Nachweis geführt, daß sämtliche 
Formen der Katatonie schon im allerersten Beginn des Leidens sich er¬ 
kennen lassen. 

Viel unsicherer als bei der Diagnose gestalten sich unsere Erfahrungen 
in prognostischer Hinsicht, doch werden auch hier mehr oder weniger 
verläßliche Anhaltpunkte mitgeteilt. 

Schließlich geht U. auf die klinische Bewertung katatoner und 
manisch-depressiver Zustände ein. Wenn katatone Symptome bei organi¬ 
schen Infektions- und Intoxikationspsychosen beobachtet werden, so 
handelt es sich offenbar um eine spezifische Reaktionsform besonders 
veranlagter Individuen. Die von Haus aus bestehende Prädisposition 
kann, sofern eine schädliche Noxe aufs Gehirn stattfindet, z. B. ebensogut 
durch paralytisches wie infektiöses oder durch Stoffwechselstörung ent¬ 
standenes Virus geweckt werden. Bei der funktionellen Psychose gebührt 


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der Vorrang den katatonen Symptomen. U. sucht darzulegen, daß die 
Verblödung, wie sie auch Kraepelin bei angeblichen Manisch-depressiven 
schildert, zweifellos Katatonische betrifft, die aber fälschlicherweise als 
zirkuläre Kranke diagnostiziert wurden. Wir müssen unbedingt daran 
festhalten, daß manisch-depressive Kranke nicht verblöden dürfen, denn 
sonst hätte die Aufstellung dieser beiden verschiedenen Psychosen weder 
Sinn noch praktischen Erfolg. 

Die irrigen Vorstellungen von dem, was bei den Krankheitformen 
Vorkommen resp. fehlen darf oder nicht, sind größtenteils darauf zurück¬ 
zuführen, daß zur Behandlung dieser Themata vorwiegend klinisches und 
Anstaltmaterial benutzt wurde. Diese Befunde passen daher nicht für 
Privatpatienten und intellektuell hochstehende Individuen, die bei Auf¬ 
stellung von Krankheitgruppen nicht übergangen werden durften. 

Zu anderen, auch heute im Hauptreferat zur Diskussion ge¬ 
brachten Fragen hat U. bereits in seiner Monographie Stellung genommen 
und die einzelnen Punkte dort eingehend erörtert, so daß er auf die be¬ 
treffenden Abschnitte seines Werkes verweisen muß. 

Diskussion. — Stransky- Wien: Die trübe Flüssigkeit, von der 
Hocke gesprochen hat, wird leider dadurch noch trüber, daß beim Um¬ 
gießen derselben von Kübel zu Kübel so viele Unberufene hineinspucken. 
Würde heute von Unberufenen mehr gelesen als geschrieben, vielleicht 
wäre die Verwirrung etwas geringer; so aber sehen wir, wie oft die ältesten 
Lehren, die man schon längst tot geglaubt hatte, in neuem Gewände 
wieder vorgeführt werden und unserem Bestreben, uns zu klareren Auf¬ 
fassungen durchzuringen, durch ihre Gegenwart ein Bein stellen. Su 
möchte glauben, daß die hier von Alzheimer vertretenen Lehren der 
Kraepelinschen Schule mit dem Standpunkte Hocke s gar nicht unvereinbar 
sind: wir kennen doch z. B. in der internen Pathologie Krankheitzustände, 
die einmal eine Art, sei es angeborenen, sei es erworbenen Reaktionstypus 
repräsentieren resp. ihm zugrunde liegen können, der anderen inter¬ 
kurrenten Krankheitvorgängen seine Note verleiht, und dabei auf der 
anderen Seite doch auch für sich und als solche eigene, wohlgerundete 
Krankheitbilder zu setzen imstande sind. Wenn wir also etwa einen 
manisch-depressiven oder schizophrenen Reaktionstypus annehmen, 
wenn wir annehmen, daß bei dem Vorhandensein eines solchen Typus 
durch krankmachende Prozesse jeweils ein entsprechender Symptomen- 
komplex ausgelöst werde, so widerspricht dies in keiner Weise der Tat¬ 
sache, daß aus den Anlagetypen auch wohlgerundete Krankheiten (Schizo¬ 
phrenie; manisch-depressives Irresein) herauswachsen können. Misch¬ 
formen sind in den rudimentären, abortiven Fällen zwischen den einzelnen 
degenerativen Psychosen gewiß möglich: man erinnere sich des von Alz¬ 
heimer gebrauchten Vergleiches der Degenerationsanlage mit einem 
Myzelium, aus der än verschiedenen Stellen die einzelnen Krankheiten 
wurzeln, je näher eine Form dem Mutterboden, desto leichter Übergänge 


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denkbar; je weiter von dem freilich ausgedehnten degenerativen Mutter¬ 
boden, je differenzierter also das Krankheitbild, um so geringer die Chance 
für die Kompromißformen; Sl hat an anderer Stelle kürzlich diese An¬ 
schauungen in ausführlicher Weise vertreten, begnügt sich daher nur mit 
diesen kurzen Andeutungen. 

Daß einzelne Symptome als solche für eine Psychose nicht charakte¬ 
ristisch sind, wird ja von allen Seiten übereinstimmend hervorgehoben. 
In der Pathologie ist es ja nirgends anders. Die intrapsychische Ataxie, 
wie sie Sl als eine der Grundstörungen der Dementia praecox darzustellen 
gesucht hat, ist aber doch eigentlich nicht einfach ein Symptom, sondern 
als eine Grundlage von äußeren Symptomen zu verstehen. Wenn sie 
Alzheimer nur bedingt gelten lassen möchte, so ist es für Sl ein Trost, 
daß Alzheimer dafür die Bleulersche Schizophrenie anerkennt; denn diese 
letztere deckt sich in sehr vielen Stücken mit dem, was Sl früher unter 
der Bezeichnung der intrapsychischen Ataxie dargelegt hat (natürlich 
mit Ausschluß des psychoanalytischen Teiles der Bleulerschen Lehre). 

Sl bemerkt schließlich noch zu den Ausführungen Kleists in aller 
Kürze, daß ihm die erste Form vielerlei Beziehungen zu den von ihm 
seinerzeit unter dem Namen Dementia tardiva beschriebenen Fällen zu 
zeigen scheint; die Fälle waren in ähnlichem Alter, welches übrigens doch 
etwas vor das eigentliche Präsenium zu setzen ist; die zweite hier von 
Kleist erwähnte Art von Fällen scheint St., wenn schon nicht identisch, 
so doch nahe verwandt mit dem dölire chronique. 

Kraepelin -München: Wenn man mit einem Zuge fahren will, ist 
gewiß eine Bremse nötig, noch nötiger aber eine Lokomotive; sonst kommt 
man überhaupt nicht vorwärts. Die Phantome, von denen Hoche spricht, 
nennen w i r Ideale, die wir ja wahrscheinlich nie erreichen werden, 
denen wir uns aber annähern können. Daß die nicht klassifizierbaren 
Fälle zunehmen, muß ich nach meiner Erfahrung entschieden in Abrede 
stellen; im Gegenteil zeigen unsere Aufzeichnungen, daß unsere Diagnosen 
allmählich zuverlässiger werden, so viele Irrtümer auch noch unterlaufen 
mögen. Die Annahme, daß hinter den Zustandbildern wirkliche Krankheit- 
Vorgänge stecken, hat sich also jedenfalls als eine brauchbare heuristische 
Hypothese erwiesen. Welchen praktischen Wert die Beschränkung auf 
die Feststellung von Zustandbildern haben soll, ist unklar; man wird eben 
doch unter allen Umständen genötigt sein, den Kranken und ihren Ange¬ 
hörigen auf die Frage Antwort zu geben: Was wird der weitere Verlauf 
sein? Das ist aber nur möglich, wenn man die den Zustandbildern zu¬ 
grunde liegenden Krankheit Vorgänge kennt. 

Cramer-Göttingen erblickt in Hoche nicht den Geist, der stets ver¬ 
neint, und betont seinerseits die Notwendigkeit, die Symptomenkomplexe 
zu studieren. 

iVeißer-Bunzlau meint, daß, abgesehen von den sonstigen Schwierig¬ 
keiten der Diagnostik, noch die Einseitigkeit bestimmter Lehrmeinungen 


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die Unvollkommenheit des Erreichten scharfer betonen lasse. Die Berück* 
sichtigung der individuellen Anlage der geistigen Systeme, des Lebens¬ 
alters, des Einflusses anderer Krankheiten sei in der Lehrbuchdarstellung 
zu wenig berücksichtigt; er halte es für notwendig, die Symptomen- 
komplexe auch außerhalb der großen Krankheiteinheiten zu studieren; 
es bedürfe eines Ausbaues der allgemeinen Psychopathologie. 

»Stemer/mg-Kiel erklärt, Anhänger des Hocheschen Skeptizismus 
zu sein. Eine pathologische Anatomie der sogenannten funktionellen 
Psychosen in dem Sinne, daß wir den klinischen Symptomenkomplex 
durch den pathologischen Befund erklären können, kennen wir nicht. 
Außerdem haben die einzelnen Symptome, welche bei den Psychosen 
angeführt werden, nicht den Wert, welchen man ihnen für die Prognose 
beimißt. Aus didaktischen und praktischen Gründen empfiehlt es sich, 
an bestimmten Symptomenkomplexen festzuhalten. 

Weyga/ufc-Hamburg: Daß es langsam, aber sicher mit den wissen¬ 
schaftlichen Erfolgen in der Psychiatrie vorwärts geht, zeigt u. a. ein 
Sondergebiet unseres Faches, in dem wir noch vor 25 Jahren in systemati¬ 
scher Hinsicht fast vis-ä-vis de rien standen, die Gruppe der Idiotie oder 
Defektzustände aus dem Jugendalter. Während wir damals einem chaoti¬ 
schem Gewirr interessanter, aber rätselhafter Fälle gegenüberstanden, 
ist es heute möglich, eine große Reihe klinisch und ätiologisch scharf 
umschriebener Gruppen herauszuheben, so daß W. in dem betreffenden 
Abschnitt des Aschaffenburgschen Handbuchs nicht weniger als 26 ver¬ 
schiedene Formen jenes Spezialgebietes mit zahlreichen Untergruppen 
nebeneinanderstellen konnte. Übrigens sind auch in den anderen medizini¬ 
schen Disziplinen noch dunkle Probleme genug anzutreffen, die nur eine 
symptomatische Zusammenfassung, aber keine befriedigende klinische 
Klärung erlauben, wie z. B. die perniziöse Anämie, Diabetes insipidus usw. 
Kritizismus ist gewiß am Platz, aber nicht ein die Forschungsfreudigkeit 
lähmender Skeptizismus. 

Meyer-Königsberg sieht in dem anscheinend so negativen Referat 
Hoche s den wichtigen Hinweis auf das Studium der Persönlichkeit, in 
der die Keime der psychischen Symptome gelagert sind, deren Ver¬ 
kuppelungen die Psychosen bilden oder etwa Vortäuschen. M. weist auf 
den Versuch Bonhoeffers hin, exogene Reaktionstypen und Verlaufsformen 
herauszuheben. Es erscheint verlockend, nach endogenen Reaktionstypen 
und Verlaufsformen vielleicht auch zu suchen. 

Cimftaf-Altonabedauert, daß die Herren Referenten in der Bedeutung 
der Symptome für die theoretische Krankheitlehre nur einen kleinen und 
dazu undankbaren Teil ihres Themas behandelt und zur Diskussion gestellt 
haben. 

Die Einzelsymptome und Symptomenkomplexe bilden in der 
Psychiatrie außerdem und ganz unabhängig von allem das erste Ziel und 
Ergebnis jeder planmäßigen Untersuchung, das wichtigste, meist einzige 


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Mittel zur Verständigung in Unterricht, Gutachtertätigkeit und Kon¬ 
sultation und für die meisten von uns auch den eigentlichen, tatsächlichen 
Ausgangpunkt aller prognostischen und therapeutischen ärztlichen Arbeit. 
Mag man dem Kraepelins chen und den übrigen wissenschaftlichen Systemen 
wie einem verehrten, wenn auch noch unerreichten Ideal gegenüberstehen 
oder sie als irreführend ablehnen: unser bestes Wissen und Können 
geht einstweilen neben und außerhalb der Systematik einher. Es ruht in 
der Kenntnis des einzelnen von der gesetzmäßigen Verknüpfung gerade 
der Einzelsymptome und in dem Instinkt für ihre ärztliche Verwertung. 
Ihr wissenschaftlicher Ausbau aber und jeder erfolgreiche Erfahrungs¬ 
austausch wird erst möglich sein, wenn ihre Deutung und Umgrenzung 
durch Übereinkunft völlig festgelegt ist. Hier liegt vielleicht die folgen¬ 
schwerste Schwäche der modernen deutschen Psychiatrie. Sie hat sich 
dadurch gebildet, daß die völlig verschiedenen Nomenklaturen der sich 
zeitlich folgenden, maßgebenden, klinischen Schulen in Praxis und Literatur 
ohne jede Rücksicht auf die Verständigung nebeneinander gebraucht 
werden. C. habe, als er erst Wernicke, dann Kraepelin, dann Ziehen gehört 
habe, nicht nur die Systeme, sondern jedesmal fast jeden einzelnen Aus¬ 
druck völlig nach seiner Bedeutung umlernen müssen. In der Praxis 
treten dazu die älteren Nomenklaturen von Krafft-Ebing und Jolly und 
die ganz divergierende der jüngsten psychoanalytischen Schule; ganz 
abgesehen davon, daß in der Literatur jeder Autor eigene Ausdrücke für 
alte und neue Begriffe beliebig bildet und braucht. Die weitest gehende 
sachliche Übereinkunft sei erfahrunggemäß gar nicht so schwierig, wenn 
nur der verwirrende Einfluß der verschiedenartigen Ausdrucksweise 
ausgeschaltet werden könne. Die Symptomenkomplexe, nicht die Krank¬ 
heitgruppen, seien die Grundbegriffe der Psychiatrie. Ehe sie nicht fest- 
gelegt seien, sei es unmöglich eine Krankheitlehre aus ihnen aufzubauen 
oder die Verständigung der jetzt hoffnunglos divergierenden Schulen 
herbeizuführen. C. regt deshalb an, der Verein möge eine ständige Kom¬ 
mission bilden, die die geltende Nomenklatur auf ihre Brauchbarkeit 
prüfen und das als sicheren Besitz Erkannte festlegen solle, wie es in der 
Anatomie längst in fruchtbarer Weise geschehen sei. 

A. Leppmann -Berlin berichtet, welche Schwierigkeiten die Kraepelin - 
sehe Lehre sowohl in der Praxis als in der Sachverständigentätigkeit 
gemacht hätte. Einzelne Fanatiker der Überzeugung hätten bei Ent¬ 
stehung der Dementia praecox jede Möglichkeit einer exogenen Ursache 
abgelehnt und hätten Unfallereignisse als Ausbruchsursache zurück - 
gewiesen, auch wenn der zeitliche Zusammenhang mit Nachdruck dafür 
sprach. Sie hätten so schlechte Prognosen gestellt, daß das Publikum 
teils kopfscheu, teils unsicher geworden sei Jetzt wäre eine gewisse Ab¬ 
klärung erfolgt und damit eine größere Vorsicht bei der praktischen Ver¬ 
wertung der Lehre, deren berechtigten Kern jeder Praktiker wohl an¬ 
erkennen müsse. 


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Alzheimer (Schlußwort): Es ist Ja gewiß zweckmäßig bei der Unter* 
suchung eines Falles, zunächst den Symptomenkomplex festzustellen, 
z. B. einen akut paranoischen Zustand. Es ist auch wünschenswert, diese- 
Syinptomenkomplexe eingehend zu studiere^. Kein Irrenarzt wird sich 
aber damit begnügen, sondern auch eine Prognose zu stellen und sich über 
die Ursache des Krankheitzustandes klar zu werden suchen. Damit aber 
beschreitet er einen Weg, der in konsequenter Durchführung von der Fest¬ 
stellung eines bestimmten Symptomenkomplexes zur Abgrenzung einzelner 
Krankheiten führen muß. 

Hocke (Schlußwort): Ich weiß sehr wohl, daß Pessimismus unbeliebt 
macht, und ich bin nicht der Meinung gewesen, heute in diesen Fragen, 
die Glaubenssache sind, Widerstrebende zu überzeugen, am allerwenigsten 
natürlich Kraepelin. Ich gebe auch ohne weiteres zu, daß das Kraepelinsche 
Programm mit bestimmtem Ziel und einem scheinbar sicheren Wege sehr 
Viel mehr suggestive Kraft besitzt, als die im wesentlichen verneinende 
Betrachtungsweise, die mir heute als die gegebene erscheint. Immerhin 
hat sich die Sachlage in den seit meinem Münchener Vortrage verflossenen 
€ Jahren wesentlich verschoben, und es ist heute schon eine Reihe zu¬ 
stimmender Äußerungen laut geworden, die sich sicherlich vermehren 
würde, wenn jeder sich äußern wollte, der sich eine Meinung gebildet hat. 
Wenn Kraepelin sagt, daß man von dem Symptomenkomplex aus zu keiner 
Vorhersage des gesamten Krankheitverlaufes gelangen könne, so ist darauf 
zu erwidern, daß die Indikation unseres Handels im wesentlichen doch von 
dem Zustandbild des Momentes, nicht von Zukunftserwägungen geleitet 
wird, und daß gerade unsere allseitig zugegebene Hilflosigkeit in derPrognose 
immer wieder mit zwingender Gewalt zeigt, daß wir eben mit unseren 
heutigen Namen und Abgrenzungen nichts wirklich Einheitliches zwischen 
den Fingern haben. 

Die anatomische Arbeit in ihrem Werte herabzusetzen, bin ich natür¬ 
lich keineswegs gesonnen. Nur soll die Klinik sich keine Illusionen darüber 
machen, was für sie auf dieser Weise für ihre Zwecke zu erhoffen 
ist. Wenn im übrigen Kraepelin vor der Annahme dieser skeptischen 
Lehre warnt und meine Auffassungen als eine Bremse an dem Lauf unserer 
Wissenschaft bezeichnet, so sollte man doch nicht vergessen, daß für die 
Sicherheit eines Eisenbahnzuges die Bremse unter Umständen wichtiger 
ist als die Geschwindigkeit. Im übrigen kann wohl niemand mehr an¬ 
erkennen als ich selber, was wir gerade der energischen Spannkraft der 
Kraepelinschen Arbeit auf klinischem Gebiete verdanken, ohne welche 
auch die ganze heutige Erörterung nicht möglich gewesen wäre. 

L. W. We&er-Chemnitz: Die Praxis bei der Durch¬ 
führung der Pflegschaft nach dem BGB. 

Die Bestimmungen des BGB. über die Pflegschaft sind relativ ein¬ 
fach; ihre Durchführung setzt kein umständliches Verfahren und kaum 
die Mitwirkung eines Sachverständigen voraus. Trotzdem wird die Ein- 


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Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 


richtung in der Literatur verschieden beurteilt, so daß z. B. E. Schultse 
ihre möglichst ausgedehnte Anwendung an Stelle der Entmündigung 
empfiehlt, Jahrmärker und Wedemeyer aber geradezu vor einem Mi߬ 
brauch der Pflegschaft warnen. Und die Praxis ihrer Handhabung zeigt 
ähnliche Verschiedenheiten und Inkonsequenzen. Eine Rundfrage ergab, 
daß im Jahre 1911 in 36 Anstalten bei 40 000 Kranken ungefähr 750 
Pflegschaften und 450 Entmündigungen durchgeführt wurden. Dabei 
bestehen aber in der bei den einzelnen Anstalten üblichen Praxis im Ver¬ 
hältnis zwischen Entmündigungen und Pflegschaften große Verschieden¬ 
heiten, die nicht nur durch das Krankenmaterial, sondern auch durch die 
richterliche und sachverständige Auffassung bedingt sein müssen. Einige 
der einschlägigen Punkte sollen hier besprochen werden. 

1. Die gesetzlichen Bestimmungen aus den §§ 1910, 
1911 und 1920 BGB. gestatten die Einrichtung einer Pflegschaft für einzelne 
Angelegenheiten oder einen bestimmten Kreis der Angelegenheiten bei 
geistiger Gebrechlichkeit. Es gibt zwei Formen der Pflegschaft, die eine 
mit Einwilligung des Gebrechlichen, die andere ohne seine Einwilligung, 
wenn eine Verständigung mit ihm nicht möglich ist. Ein Unterschied 
in ihren rechtlichen Folgen besteht nicht. Daneben ist noch eine Pfleg¬ 
schaft möglich für einen Abwesenden, der durch seinen Aufenthalt, z. B. 
in einer Anstalt, an der Besorgung seiner Vermögensangelegenheiten 
verhindert ist. Die Pflegschaft kann auf Antrag des Pflegebefohlenen 
wieder aufgehoben werden. 

2. Daß alle Formen geistiger Störung unter 
geistiger Gebrechlichkeit zu verstehen sind, nicht nur 
beginnende oder leichte Fälle oder herdförmige Hirnerkrankungen mit 
Sprachstörungen, gilt auf Grund mehrerer Entscheidungen jetzt als fest¬ 
stehend. Mit wenigen Ausnahmen (z. B. das Marburger Vormundschafts¬ 
gericht — Jahrmärker) wird von den Gerichten eine Pflegschaft auch dann 
für zulässig erachtet, wenn infolge von Geisteskrankheit oder Geistes¬ 
schwäche Unfähigkeit zur Besorgung aller Angelegenheiten vorliegt. 
(Entmündigungsreife). Mit allem Nachdruck muß aber die Auffassung 
von Jahrmärker und Wedemeyer unterstützt werden, daß in solchen Fällen 
die Pflegschaft nur als Provisorium zur Erledigung unaufschiebbarer 
Maßregeln gelten und auf die Dauer die Entmündigung nicht ersetzen 
kann, und daß sie auch hier sich nur auf einzelne Angelegenheiten er¬ 
strecken darf. Fiskalische Gründe, die höheren Kosten des Entmündigungs¬ 
verfahrens, dürfen auf keinen Fall maßgebend sein. Sonst würde man 
schließlich zu der Auffassung kommen, daß die persönliche Freiheit des 
Reichen durch größere Kautelen geschützt ist, als die des Armen (Jahr¬ 
märker). Hier gibt vielleicht die rechtzeitige Stellung des Antrags auf 
Entmündigung ein Mittel an die Hand, um die mißbräuchliche Anwendung 
der Pflegschaft einzuschränken. Denn nur solange der Entmündigungs¬ 
antrag noch nicht gestellt ist, kann eine Pflegschaft eingesetzt werden. 


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3. Der Begriff der Vetständigungsmöglich- 
keit wird weiter und enger gefaßt. In einzelnen Anstalten wird fast 
bei allen gefragten Kranken die Möglichkeit einer Verständigung an¬ 
genommen; auch die richterlichen Beamten selbst stellen gewöhnlich 
in dieser Hinsicht keine großen Ansprüche. In anderen Anstalten wird 
bei den meisten Kranken eine Verständigung als unmöglich erachtet. 
Auf diesem strengen Standpunkt steht z. B. Jahrmärker, der eine Ver¬ 
ständigung nur dann für möglich hält, wenn der Kranke seine Willens¬ 
erklärung so abgibt, wie er sie bei Berücksichtigung der Sachlage auch 
frei von seiner Krankheit abgeben würde. Sehr eng fassen die Ver¬ 
ständigungsmöglichkeit auch E. Schultze, Liepmann und Leppmann. 
Die Tatsache, daß der Kranke sich bei Besprechung der Frage aufregt, 
reicht aber nicht aus, um die Verständigungsmöglichkeit auszuschließen. 
Wichtig ist auch, wie Schultze betont, daß auf einem Gebiet mit dem 
Kranken eine Verständigung möglich sein kann, für andere Angelegenheiten 
aber auszuschliefien ist. 

Da die Verständigung im ganzen mehr ein juristischer, kein medi¬ 
zinischer Begriff ist, sieht man besser von einer für alle Fälle bindenden 
Definition ab und beschränkt sich im praktischen Fall darauf, dem an* 
fragenden Gericht die Auffassung des Sachverständigen vorzutragen, 
welcher der Begriff der Geschäftsunfähigkeit im Sinne des § 104 BGB. 
zugrunde gelegt werden kann. Dabei dürfte aber die Fassung: „Mit X. 
als einem Geisteskranken ist eine Verständigung nicht möglich“, die 
irrtümliche Anschauung erwecken, als ob mit keinem Geisteskranken 
eine Verständigung möglich sei Besser ist es, nach dem Vorschlag von 
Zinn eine kurze Zustandschilderung als Begründung der persönlichen 
Auffassung des Sachverständigen zu geben. 

4. Einzelne Krankheitformen. Zweifellos muß man 
bei allen „Entmündigungsreifen“ und bei vielen anderen Geisteskranken 
die Möglichkeit einer Verständigung ausschließen. Aber auch bei strenger 
Auffassung des Begriffs bleiben noch zahlreiche wirkliche Psychosen und 
viele Grenzzustände, bei denen eine Verständigung als möglich angenommen 
werden muß, z. B. Melancholie mit Krankheitsbewußtsein und aus¬ 
gesprochenem Insuffizienzgefühl, manche beginnende Paralysen, vor 
allem aber leichte Schwachsinnszustände in und außerhalb der Anstalt, 
chronische Alkoholiker und Psychopathen aller Art, besonders kriminelle« 
die exkulpiert oder in Strafhaft erkrankt sind. Bei diesen Fällen ist meist 
Entmündigung nicht durchzuführen, eine Interessenvertretung aber oft 
wünschenswert. 

5. Die Verständigungsfrage soll nicht deshalb als unter¬ 
geordnet betrachtet werden, weil die Pflegschaft mit oder ohne Einwilligung 
des Kranken die gleichen rechtlichen Folgen hat. Denn es entspricht 
der Absicht des Gesetzes, daß die Pflegschaft ohne Einwilligung die Aus¬ 
nahme bleiben soll, und dem Wesen der freien Behandlung, wenn in einer 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXIX. 5. 49 


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so wichtigen Frage die Entscheidung möglichst nicht ohne Wissen und 
Zustimmung des Kranken erfolgt. Verweigerung der Einwilligung kommt 
verhältnismäßig selten vor, wie auch die Rundfrage ergab. Gelegentlich 
gibt die Art, wie der Kranke seine Weigerung begründet, nachträglich 
noch Anlaß, die Verständigungsmöglichkeit auszuschließen. 

6. Technik und Form des Pflegschaftsver- 
f a h r e n s werden in der verschiedensten Weise gehandhabt. In einzelnen 
Provinzen sind die Anstalten von der Verwaltungsbehörde angewiesen, 
bei jeder Neuaufnahme die Zustimmung eines gerichtlich zu bestellenden 
Pflegers zu verlangen; ob dadurch nicht das Aufnahmeverfahren erschwert 
wird, weiß ich nicht. 

Im übrigen kommen, wie Jahrmärker auch im einzelnen schildert, 
folgende Möglichkeiten vor: a) Das Gericht nimmt ohne weiteres an, 
jeder in der Anstalt befindliche Geisteskranke sei zu einer Verständigung 
unfähig, und verhängt ohne Anfrage die Pflegschaft über ihn. Daß dieses 
Verfahren der Sachlage nicht entspricht, geht aus dem oben Gesagten 
hervor. 

b) Die Vernehmung eines nicht in der Anstalt befindlichen Kranken 
erfolgt an Gerichtsstelle, bei Anstaltkranken durch eine beauftragte 
Gerichtsperson in der Anstalt, in beiden Fällen meist ohne Sachverständige. 
Es muß dringend der Wunsch nach Zuziehung eines Sachverständigen 
ausgesprochen werden, da ja nur dieser das Verhalten und den Geistes¬ 
zustand in der letzten Zeit kennt. Die geringen Termingebühren dürfen 
hier keine Rolle spielen. 

c) Das Gericht fragt schriftlich bei der Anstaltleitung an und ersucht 
für den Fall der Verständigungsmöglichkeit um Befragung des Kranken. 
Der Antwort kann eine schriftliche Erklärung des Kranken oder ein kurzes 
an der Hand eines Formulars (Eglfing) aufgenommenes Protokoll bei¬ 
gefügt werden, oder es wird die Antwort einfach mitgeteilt und eine Angabe 
über die Verständigungsmöglichkeit mit oder ohne Begründung (siehe 
oben) beigefügt. Bestimmte Vorschriften nach einer dieser Richtungen 
bestehen nicht, und, wie auch Jahrmärker bestätigt, hält sich das Gericht 
oft auch nicht an die ihm gewordenen Mitteilungen bei seiner Entscheidung. 
Nicht in allen Fällen wird der Anstalt, meistens nicht dem Kranken, die 
geschehene Einsetzung eines Pflegers mitgeteilt. Beides ist dringend 
erwünscht unter Hinzufügung, für welche Angelegenheiten der Pfleger 
eingesetzt wurde. 

7. Bei der Wiederaufhebung der Pflegschaft ist ebenfalls 
kein Verfahren vorgeschrieben. Dem entsprechenden Verlangen des 
Kranken wird manchmal ohne weitere Information stattgegeben; manch¬ 
mal, namentlich bei Fortdauer der Anstaltinternierung, wird über seine 
Geschäftsfähigkeit nach § 104 BGB. angefragt. Über die Beurteilung 
der rechtlichen Gültigkeit der Forderung nach Aufhebung der Pflegschaft 
liegen widersprechende Entscheidungen des Reichs- und Kammergerichts 


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Deutscher Verein für Psychiatrie. 


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vor. Die eine fordert Geschäftsfähigkeit im allgemeinen, die andere nur 
Verständnis für den Inhalt des Aufhebeantrags (Psych. Wochenschr. 
Bd. X, S. 58). Daß ein Kranker, bei dem die Pflegschaft mit seiner Ein¬ 
willigung eingesetzt wurde, mit dem Aufhebungsantrag als nicht mehr 
geschäftsfähig abgewiesen wurde, habe ich wiederholt gesehen. Der als 
nicht geschäftsfähig angesehene Kranke kann aber den Ablehnungsbeschluß 
mit Beschwerde anfechten, ebenso wie bei der Entmündigung (Bayr. OLG. 
Psych. Wochenschr., Bd. X, S. 59). Jahrmärker schlägt vor, die Ent¬ 
mündigung herbeizuführen, wenn sich der Kranke bei der Ablehnung 
seines Wiederaufhebungsantrags nicht beruhigt, besonders wenn es sich 
um Anstaltinsassen handelt. Sowohl für den Kranken als für die Anstalt 
ist es wünschenswert, daß die Beschränkung seiner rechtlichen und persön¬ 
lichen Freiheit mit allen gesetzlichen Kautelen umgeben wird. 

8. Wirkungskreis der Pflegschaft. Die Beschränkung 
der Pflegschaft auf eine einzelne Angelegenheit oder einen bestimmten 
Kreis und die genaue Festlegung des Zweckes der Pflegschaft wird häufig 
unterlassen. Auch daß ein Pfleger für persönliche und Vermögensange¬ 
legenheiten ernannt wird, halten Wedemeyer und Jahrmärker mit Recht 
für einen Eingriff in das Gebiet der Entmündigung, denn damit ist meist 
der Gesamtkreis der Angelegenheiten umschrieben. Auch der von Jahr¬ 
märker angeführte Fall, daß eine Kranke allmählich drei Pfleger erhielt, 
für das Vermögen, für ihre Person, für die Besorgung der Kinder, ist eine 
unzulässige Auseinanderreißung der Angelegenheiten, die durch Ent¬ 
mündigung besser vermieden würde. Das Hauptgebiet der Pflegschaft 
bleiben die Vermögensangelegenheiten, und gerade für die Anstaltkranken 
erwachsen hier eine Reihe wichtiger Aufgaben, wie Vollziehung von Gehalts¬ 
und Rentenquittungen, Besorgung von Bankkontos, Vertretung in ge¬ 
schäftlichen Unternehmungen usw., soweit dazu die nächsten Verwandten, 
wie Ehefrau, nicht ohne weiteres berechtigt sind. Der große unbestrittene 
Vorzug der Pflegschaft liegt gerade darin, daß sie schnell, ohne große 
Formalitäten eingreift, dem Kranken die Aufregung, den Angehörigen 
die oft peinlichen Zeugenvernehmungen eines Entmündigungsverfahrens 
erspart und eine Schädigung des Kredits, des Rufes und bei Beamten 
die gewöhnlich an die Entmündigung angeschlossene Einleitung des 
Pensionierungsverfahrens erspart. Die Pflegschaft in persönlichen An¬ 
gelegenheiten erweist sich nützlich zur Vertretung in Prozessen, z. B. bei 
Klagen auf Unfallentschädigung, bei Rentenverfahren usw. Im Ehe¬ 
scheidungsprozeß dürfte es zweckmäßiger sein, für den wegen Geistes¬ 
krankheit verklagten Teil das Entmündigungsverfahren einzuleiten, 
um seinen Geisteszustand auch für den Ehescheidungsprozeß klarstellen 
zu lassen. Eine Ehefrau hatte die Scheidungsklage gegen ihren Mann 
wegen Mißhandlung eingereicht, war aber inzwischen geisteskrank ge¬ 
worden; hier wurde zu ihrer Vertretung eine Pflegschaft eingesetzt. 

Mit allem Nachdruck muß aber mit Jahrmärker und Falkenberg 

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Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 


betont werden, daß die persönliche Pflegschaft nicht das geeignete Ver¬ 
fahren ist, um gegen den Willen des Kranken seine Verweisung in die 
Anstalt oder seine Zurückhaltung in derselben zu bewirken. Auch die 
Entmündigung ist nicht, wie vielfach in Laienkreisen geglaubt wird, das 
absolute Mittel, um einen Geisteskranken gegen seinen Willen in die Anstalt 
zu verweisen, wenn nicht Anstaltpflegebedürftigkeit vorliegt, noch viel 
weniger aber die Pflegschaft. Und jedenfalls kann die Entmündigung 
in diesen Fällen dem Kranken die gewünschte Gelegenheit zur Aussprache, 
der Anstalt aber eine Erleichterung ihrer Verantwortung geben. 

Einige für unsere Anstaltkranken wichtige persönliche Angelegen¬ 
heiten können durch eine Pflegschaft vertreten werden, besonders dann, 
wenn keine näheren Angehörigen vorhanden sind, das ist z. B. Entscheidung 
über Briefverkehr und Besuche der Kranken, Versetzung in andere Anstalten 
oder in Familienpflege, Auskunfterteilung. Auch um hier Klarheit zu 
schaffen, ist genaue Umschreibung der Aufgaben des Pflegers nötig. Denn 
der Vermögenspfleger kann z. B. keine Auskunft über den Gesundheits¬ 
zustand erhalten. 

9. Die Einwände gegen den Nutzen der Pfleg¬ 
schaft stützen sich hauptsächlich darauf, daß der Gebrechliche oder 
Kranke jederzeit die Wiederaufhebung fordern kann und auch bei be¬ 
stehender Pflegschaft seinen Willen gegen den des Pflegers geltend machen 
kann. Für die Anstaltkranken trifft dieser Einwand im ganzen nicht zu. 
Denn wenn einmal ein gesetzlicher Vertreter vorhanden ist, so hat der 
Kranke gar nicht mehr Gelegenheit, die betreffenden Geschäfte zu erledigen. 
Auch fehlt vielen Kranken doch die Initiative, um spontan die Wieder¬ 
aufhebung zu fordern, wenn sie überhaupt ihr Recht dazu kennen. Gerade 
diese letzten Tatsachen werden wiederum gegen eine zu weite Ausdehnung 
der Pflegschaft ins Feld geführt. Das ohne persönliche Vernehmung des 
Kranken einhergehende Verfahren nimmt ihm jede Gelegenheit, seine 
Einwendungen geltend zu machen. Auch eine Vermögenspflegschaft 
beengt weitgehend die Bewegungsfreiheit des Kranken. Von seinem 
Beschwerderecht weiß er oft nichts oder wird damit, wie oben angeführt, 
ohne eingehende Prüfung abgewiesen. Zweifellos sind diese Momente 
erhebliche Bedenken gegen einen weitgehenden Ersatz der Entmündigung 
durch die Pflegschaft als Dauereinrichtung. Die Pflegschaft kann ihren 
Nutzen dann entfalten, wenn sie ein Provisorium bleibt, das leichteren 
heilbaren Kranken für die Dauer ihrer Erkrankung die Geschäftslast 
abnimmt oder bei plötzlich einsetzender schwerer Erkrankung rasch zur 
Erledigung unaufschiebbarer Maßregeln eintritt, das aber durch die Ent¬ 
mündigung ersetzt werden muß, sobald der Zustand ein länger dauernder 
ist oder unheilbar scheint, besonders wenn der Kranke gegen den Verbleib 
in der Anstalt protestiert. 

Diskussion. — A. Leppmann -Berlin macht darauf aufmerksam, 
daß er die Lehre von der Pflegschaft neulich in seinem Vortrage in der 


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Deutscher Verein für Psyohiatrie. 


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med. Gesellschaft in Berlin gestreift habe. Er ist davon überzeugt, daß 
die gegenwärtigen gesetzlichen Bestimmungen ungenügend und unprak¬ 
tisch sind. 

Was wir brauchen, ist eine Einschränkung der Handlungsfähigkeit 
bei frisch Erkrankten für einen bestimmten Kreis von Geschäften, ganz 
unabhängig von deren Zustimmung und von der Verständigungsmöglich - 
keit. Er hält eine Ausgestaltung der Gesetzgebung nach dieser Richtung 
und in der Beziehung für notwendig, daß auch beim Entmündigungs¬ 
verfahren, falls dies im Interesse des Kranken liegt, keine Totalentmündi¬ 
gung, sondern nur eine partielle Interdiktion eingeführt werde. 

Frankel -Lankwitz fand nur wenige Fälle, in denen die Einwilligung 
gegeben wurde; in der Verständigung sei einbegriffen, daß der Kranke 
Einsicht in seine Lage habe und den Sinn der Pflegschaft erkenne. 

Oamer-Göttingen erklärt die Widersprüche in der Praxis der Pfleg¬ 
schaft damit, daß sie bei Entstehung des BGB. berufen gewesen sei, eine 
Lücke zu füllen. Es ergebe sich die Notwendigkeit persönlicher Ver¬ 
ständigung mit den Richtern und individuellen Vorgehens. 

Moeli bemerkt gegenüber der Bemängelung der Pflegschaft, daß 
unzweckmäßige Verwendung nicht dazu führen darf, die Vorzüge bei 
richtiger Benutzung zu übersehen. 

Die Pflegschaft mit ihren einfachen Vorbedingungen, ohne die so 
oft tatsächlich den Kranken störende oder benachteiligende Neben¬ 
wirkung der Entmündigung (zu verweisen auch auf die Foc/reschen Er¬ 
fahrungen!) ist für Verkehrsvermittlung, Beschaffung von Unterkunft, 
Prüfung der Anstaltbedürftigkeit u. ähnl. durchaus brauchbar. 

Bei Ordnung gerade solcher Angelegenheiten hat der Umstand, 
daß die Geschäftsfähigkeit sich nicht ändert (soweit nicht § 104, 2 heran¬ 
gezogen wird), keine erheblichen Nachteile. Daß der Kranke, wenn er mit 
den Schritten des Pflegers nicht einverstanden ist, selbst sich betätigen 
kann, schadet in praktischer Hinsicht für die angegebenen Zwecke kaum 
etwas. 

Dagegen ist der Nutzen nicht gering, daß eine richterliche 
Stelle auf dem Wege der Aufsicht über den Pfleger beteiligt 
ist und so Wünsche z. B. auf Entlassung (deren Ablehnung gegenüber 
dem gesetzlichen Vertreter in Preußen nur bei Einspruch der Sicherheits¬ 
behörde erfolgen kann) gehört werden und in gewissem Grade eine Prüfung 
durch die richterliche Behörde erfahren. 

In manchen Fällen, wo Fortdauer der Anstaltbedürftigkeit an- 
gezweifelt wird, hätte ein eigenes gerichtliches Feststellungs¬ 
verfahren Vorzüge. Es ist dies in einer zweckmäßigen Form anzu- 
streben, — möglicherweise in Anlehnung an das nach dem kommenden 
StGB, für die Verwahrung nach Abschluß eines Gerichtsverfahrens zu 
erwartende. 


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Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 


Aber solange wir das nicht haben, kann — auch vom rein ärztlichen 
Gesichtspunkte aus —, gegenüber der mit Entziehung der Geschäfts¬ 
fähigkeit verbundenen Schutzmaßregel der E., soweit Brief- und persön¬ 
licher Verkehr, Auskünfte, besondere Behandlung, kurz die Vertretung 
in bestimmten Angelegenheiten mehr vorübergehender Art geregelt 
werden soll, die doch eine richterliche Betätigung zulassende Pflegschaft 
sehr nützlich sein. Deshalb ist ihre Verwendung vom Beginne der Wirk¬ 
samkeit des BGB. an gefördert worden. 

Leppmann betont Herrn Cramer gegenüber die Schwierigkeiten 
einer Verständigung des Sachverständigen mit dem Richter in der Gro߬ 
stadt (speziell Amtsgericht Berlin-Mitte mit seinen 250 Richtern). 

Die Einverständniserklärung des Patienten habe die Bedeutung 
der Pflegschaft verwässert. Infolgedessen sei man abhängig von der 
Wellenbewegung in der Einschätzung des psychiatrischen Sachverständigen 
durch den Richter. 

Weber (Schlußwort) hebt hervor, daß er nur von der lex lata ge¬ 
sprochen habe; für Jugendliche und Alkoholisten tauge die Pflegschaft 
nicht. 

2. Sitzung Donnerstag, 30. Mai, nachm. 2 Uhr. 

Es werden zuerst geschäftliche Dinge erörtert. 

ifreuser-Winnenthal legt den Kassenbericht vor. Die 
Einnahmen betrugen i. J. 1911 3048,56 Mark, die Ausgaben 5728,22 Mark, 
darunter nachträglich für den internationalen Kongreß zur Fürsorge für 
Geisteskranke 4818,01 Mark. Das Gesamtvermögen am Ende des Jahres 
belief sich auf 9694,38 Mark. Dem Schatzmeister wird auf Grund des 
gedruckt vorliegenden Rechenschaftberichtes, nach Prüfung durch Simon- 
Warstein und FwcAer-Wiesloch, Entlastung erteilt und der Jahresbeitrag 
wiederum auf 5 Mark festgesetzt. 

Hans Laehr erstattet Bericht über die Heinrich Laehr- 
Stiftung, aus deren Mitteln im vergangenen Jahre 1000 Mark an 
Jsser/in-München zur Unterstützung von Untersuchungen der Melodie- 
und Intensitätsverhältnisse der menschlichen Sprache unter psychologischen 
und psychopathologischen Gesichtspunkten gegeben wurden. Dem Vor¬ 
stand der Stiftung wird, nach Prüfung der Abrechnung durch Kreuser- 
Winnental und »SeMe-Neuruppin, Entlastung erteilt. 

Den Antrag Alt, die Jahresversammlung künftig auf 3 Tage aus¬ 
zudehnen und am dritten Tage ausschließlich Themata aus der praktischen 
Fürsorge der Geisteskranken zu behandeln, begründet Weygandt- Hamburg. 
Es sei Zweck der Gründung des Vereins gewesen, Standesfragen und Gegen¬ 
stände aus der praktischen Irrenpflege zu erörtern. Eine Reiseunterstützung 
werde wenigstens in Preußen nur in der Voraussetzung gewährt, daß 
praktische Fragen der Irrenpflege zur Behandlung kommen, und deren 
Zusammenlegung auf einen Tag empfehle sich schon deshalb, weil die 


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Deutscher Verein für Psychiatrie. 


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Teilnahme dann für diejenigen leichter sei, die, ohne Psychiater zu sein, 
sich gerade für die praktischen Fragen interessierten, wie z. B. die Landes - 
rate. W. schlägt vor, statt „am dritten Tage“ zu sagen: „möglichst an 
einem der 3 Tage. 

Der Vorstand empfiehlt der Versammlung folgende Fassung: „Die 
Jahresversammlung versuchweise im nächsten Jahre auf 3 Tage auszu- 
dehnen und möglichst an einem derselben Themata aus der praktischen 
Fürsorge der Geisteskranken zu behandeln“. 

Zinn-Eberswalde: Eine Ausdehnung unserer Jahresversammlung 
auf 3 Tage, zu denen dann in der Regel noch ein vierter Tag für Besich¬ 
tigungen von Anstalten usw. hinzutreten würde, erscheint mir weder 
wünschenswert noch notwendig, und ich kann die angeführten Gründe 
als stichhaltig nicht anerkennen. Ich habe, so lange ich mich an dieser 
Versammlung beteilige, nicht den Eindruck gewinnen können, daß die 
praktische Irrenfürsorge, sooft und soweit sie sich hier 
zum Wort gemeldet hat, jemals zu kurz gekommen ist. Ebenso 
glaube ich dessen sicher zu sein, daß, falls in Zukunft häufiger als bisher 
Fragen der praktischen Irrenfürsorge hier zum Vortrag gebracht werden 
sollten — was ich sehr begrüßen würde —, auch innerhalb zweier Sitzungs¬ 
tage ausreichend Zeit zur Aussprache zur Verfügung gestellt werden 
kann und wird. Die Teilnahme von Verwaltungsbeamten speziell an diesen 
Verhandlungen kann uns nur willkommen sein, aber um ihnen Zeit zu 
ersparen, genügt es, wenn im endgültigen Programm eine Sitzung be¬ 
zeichnet wird, in der diese Fragen behandelt werden, so daß sich die Herren 
danach einrichten können. Was ferner die Reisebeihilfen anlangt, so 
werden sie schon jetzt von den meisten Provinzialverwaltungen und den 
zuständigen Behörden in größerem oder geringerem Umfange gewährt, 
und, soweit dies noch nicht der Fall ist, steht zu hoffen, daß die, die es 
noch nicht tun, dem guten Beispiel der Mehrzahl bald, folgen werden, 
denn die Teilnahme an der Jahresversammlung ist in gleichem Grade 
wichtig und wertvoll, mögen die Verhandlungen bald mehr wissenschaft¬ 
liche, bald mehr praktische Fragen behandeln. 

Ich kann mich aus den angeführten Gründen mit dem Antrag AU 
nicht befreunden, um so weniger, als mir der Vorschlag, „den dritten Tag 
ausschließlich der praktischen Irrenfürsorge vorzubehalten“, auch noch 
die Gefahr einer gewissen Zersplitterung und Sondergruppierung in sich 
zu tragen scheint. 

Ich bitte Sie danach, den Antrag Alt abzulehnen und es bei dem 
bisherigen Gebrauch zu belassen. 

Friedländer -Hohe Mark bittet ebenfalls, die Versammlung auf 
2 Tage zu beschränken. 

Der Antrag Alt wird abgelehnt, dagegen der Anregung zugestimmt, 
Themata aus der praktischen Fürsorge für Geisteskranke möglichst auf 
einen Tag zu legen. 


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Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 


Der Verein Bayrischer Psychiater hat an den 
Deutschen Verein für Psychiatrie den Antrag gestellt, es möge eine 
statistische Kommission eingesetzt werden mit der Aufgabe, dem Verein 
Vorschläge für eine zeitgemäße Änderung der Statistik der Irrenanstalten 
zu machen. 

Vocke -Eglflng begründet diesen Antrag kurz mit dem Hinweis, 
daß die gegenwärtige Statistik dem Stand der Wissenschaft nicht mehr 
entspreche und daher wertlos sei. In Bayern hat das Ministerium auf 
die Bitte des Vereins Bayrischer Psychiater die Ausfüllung und Vorlage 
der meisten Tabellen bis auf weiteres erlassen. Es werden nurmehr die 
beiden Tabellen über die allgemeine Krankenbewegung und über die 
Sterbefälle ausgefüllt und vorgelegt. Die Lücke muß selbstverständlich 
im Lauf der Zeit durch eine zeitgemäße Änderung der Statistik geschlossen 
werden. Die Statistik der Irrenanstalten ist ein Teil der Reichsstatistik, 
und der Deutsche Verein für Psychiatrie ist das berufene Organ, in dieser 
Richtung eine Änderung der Reichsstatistik herbeizuführen. Es unter¬ 
liegt keinem Zweifel, daß die Sache auf Schwierigkeiten stoßen und Zeit 
erfordern wird, vor allem wegen der voraussichtlich schwierigen Einigung 
über die Klassifikation der Geisteskrankheiten. Um so mehr ist es nötig, 
daß unverzüglich an die Vorarbeiten herangegangen und zu diesem Zweck 
eine Kommission gewählt wird, welcher sowohl Vertreter des Lehrfaches 
als der praktischen Psychiatrie angehören. Die Tatsache, daß der Deutsche 
Verein für Psychiatrie sich bereits mit den Vorarbeiten für eine Statistik¬ 
änderung beschäftigt, wird auch die Vorgesetzten Verwaltungsbehörden 
in den anderen Bundesstaaten voraussichtlich dazu geneigt machen, 
einstweilen auf die Ausfüllung der bisherigen Tabellen zu verzichten. 

Max LaeAr-Haus Schönow bittet auch um Berücksichtigung der 
neurologischen Diagnostik. 

Der Vorstand schlägt eine Kommission von 5 Mitgliedern vor. Der 
Antrag wird angenommen und in die statistische Kommission die Herren 
Cramer -Göttingen, Fischer- Wiesloch, Kraepel in -München, Mercklin- 
Treptow und Vocke -Eglfing gewählt. 

Der Antrag Aschaffenburg-Köln: „Der Vorstand des Vereins möge 
sich künftig mit dem Vorstand der Internationalen krimi¬ 
nalistischen Vereinigung in Verbindung setzen, um eine 
Verabredung über Ort und Zeit der Jahressitzungen zu treffen“, wird an¬ 
genommen mit dem Vorschlag des Vorstandes, für diesmal den Vorstand 
der Intern. Kriminal. Vereinigung nachträglich von den Beschlüssen un¬ 
serer Versammlung über Ort und Zeit der nächsten Jahresversammlung 
zu unterrichten. 

Die Standeskommission beantragt a) die im Aufträge 
der Standeskommission ausgearbeitete Zusammenstellung der Gehalts¬ 
und Anstellungsverhältnisse der Ärzte an den deutschen Heil- und Pflege¬ 
anstalten für Psychisch-Kranke den Verwaltungen und Regierungen mit- 


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Deutscher Verein für Psychiatrie. 


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zuteilen und dabei b) zu erklären, es sei wünschenswert, allen Abteilungs¬ 
oder Anstaltsärzten allmählich höhere Bezüge und Einkünfte ähnlich 
wie den Oberärzten zukommen zu lassen. 

Siemens berichtet über die Arbeiten der Standeskommission: Ent¬ 
sprechend dem Beschluß der Jahresversammlung 1910 ist im Aufträge 
der Kommission vom Kollegen .Schröder-Altscherbitz eine Zusammen¬ 
stellung der Anstellungs- und der Gehaltsverhältnisse der'Anstaltsärzte 
ausgearbeitet und in der Psychiatrisch-neurologischen Wochenschrift 
sowie in Laehrs Buch über die deutschen Anstalten für Psychisch-Kranke 
veröffentlicht worden. Der Kollege Fischer -Wiesloch regte an, die Zu¬ 
sammenstellung je in einem Abdrucke den Regierungen, Provinzial- und 
Kreisverwaltungen mitzuteilen. Um dies nachzuholen, stellt die Standes¬ 
kommission den Ihnen vorgelegten Antrag. Als eine Erweiterung dieses 
Antrags hat Kollege Cramer angeregt: zu beantragen, daß die materielle 
Stellung der „Anstalts“- oder ,,Abteilungs“ärzte gebessert werde. Dahin 
zielt unser Antrag 2. Hierzu will Herr Cramer selbst eine Begründung geben. 

Oamer-Göttingen hält es für erforderlich, die Zwischenstellen 
materiell unabhängig zu gestalten. 

Zinn -Eberswalde: Der erste Teil des vorliegenden Antrages der 
Standeskommission dürfte wohl allgemeiner Zustimmung sicher sein, 
nicht so der zweite Teil. Sein Wortlaut erklärt es für „erforderlich“, 
die Bezüge der Anstaltsärzte denen der Oberärzte allmählich gleichzu- 
machen. Wenn damit lediglich gemeint sein soll, die Anstaltsärzte in den 
Endbezügen ihres Gehalts den Oberärzten allmählich gleichzustellen, 
so dürften dagegen wesentliche Bedenken nicht bestehen. Dieser Forderung 
ist ja vielfach schon Rechnung getragen. So besteht für die Provinz 
Brandenburg die Bestimmung, daß jeder Anstaltsarzt, falls er nach 6 Jahren 
nicht Oberarzt geworden ist, für seine Person zum Oberarzt mit den 
entsprechenden Gehaltsbezügen befördert werden kann, auch wenn etats¬ 
mäßige Oberarztstellen nicht frei sind. Bisher ist es zu einer solchen 
Beförderung allerdings noch nicht gekommen, da bei der stetigen Ver¬ 
mehrung der Oberarztstellen die Beförderung immer schon vor Ablauf 
des genannten Zeitraumes erfolgt ist. 

Der Antrag erhält aber eine ganz andere und viel weitergehende 
Beurteilung, sobald die geforderte Gleichstellung der Anstaltsärzte mit 
den Oberärzten auch auf das Anfangsgehalt der Anstaltsärzte übertragen 
wird. Es würde das z. B. für die Provinz Brandenburg eine Erhöhung 
um 1000 Mark bedeuten. Wie die Verhältnisse für die anderen Provinzen 
liegen, kann ich im Augenblick nicht übersehen, zumal der Antrag etwas 
überraschend kommt und eine Vorbereitung durch gegenseitige Aus¬ 
sprache nicht mehr möglich ist. Es greift der Antrag in seiner jetzigen 
Fassung aber auch direkt in die bestehenden ärztlichen Organisationen 
der Anstalten ein, die in den einzelnen Provinzen verschieden sind. Das 
scheint mir bedenklich und für den beabsichtigten Zweck nicht förderlich. 


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Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 


Und gerade weil ich in dem Streben nach Besserstellung der Ärzte an unseren 
Anstalten eine der wichtigsten Aufgaben eines Anstaltsdirektors erblicke, 
so möchte ich alles vermieden wissen, was den Erfolg stören könnte. Der 
Grundsatz nil nocere gilt auch hier. Ich fürchte, ein Antrag in vorliegender 
Fassung kann uns bei unseren Behörden mehr schaden als nützen; er wird 
auf die zuständigen Instanzen nicht den von uns erwünschten Eindruck 
machen und so unsere Bemühungen vielleicht noch erschweren. Ich 
möchte daher die Herren Antragsteller bitten, den zweiten Teil ihres 
Antrages zurückzuziehen oder ihm eine Fassung zu geben, die den ge¬ 
äußerten Bedenken Rechnung trägt. 

Foc/re-Eglfing bittet, den Antrag der Standeskommission anzu¬ 
nehmen. Bei der ausgesprochenen, durchaus begründeten Neigung, große 
Anstalten zu bauen, wird die Zahl der Oberärzte in leitenden Stellungen 
immer geringer, und es ist dringend wünschenswert, daß die älterenAnstalts- 
ärzte die Möglichkeit haben, höhere Endgehälter zu erreichen. In Ober¬ 
bayern ist dem bereits Rechnung getragen. Die Allst alt Eglflng hat zwei 
leitende Oberärzte mit 5400—7800 Mark Gehalt, drei Anstaltsärzte, welche 
den Titel „Oberarzt“ haben, mit 4800—7200 Mark Gehalt und vier Anstalts¬ 
ärzte mit einem Gehalt von 3000—6000 Mark. 

Simon -Warstein: Einer völligen Gleichstellung aller fest an- 
gestellten Anstaltsärzte kann ich nicht das Wort reden, weil, zum mindesten 
an den großen Anstalten, die an die einzelnen Ärzte zu stellenden Auf¬ 
gaben sehr verschieden sind. Wenn ich Herrn Kollegen Vocke richtig ver¬ 
standen habe, gibt es gerade an der von ihm geleiteten Anstalt nicht nur 
zwei, sondern sogar drei verschiedene Dienststellungen mit verschiedener 
Besoldung zwischen den Assistenzärzten und dem Direktor. Ich glaube, 
daß man mit zwei auskommen kann. Jedenfalls müssen aber dem Direktor 
zur unmittelbaren Mitarbeit bei der Leitung der Anstalt, besonders aber 
auch in verwaltungstechnischer Hinsicht, zwei bis drei auch in Ver¬ 
waltungsangelegenheiten erfahrene Kollegen zur Seite stehen, und diese 
müssen auch durch ihre Dienststellung und dienstliche Bezeichnung 
in der Anstalt herausgehoben werden (Oberärzte). 

Hierbei sollte es sich aber in der Hauptsache um eine Unterscheidung 
in der dienstlichen Stellung und nicht im Endgehalt handeln. Ich bin auch 
bei unserer Vorgesetzten Behörde, leider mit geringem Erfolg, dafür 
eingetreten, daß die Endgehälter der Abteilungsärzte nur um einen geringen 
Betrag niedriger bemessen werden sollten als die der Oberärzte. Im An¬ 
fangsgehalt der Oberärzte und der Abteilungsärzte kann schon deshalb 
kein größerer Unterschied bestehen, weil diejenigen Herren, welche in die 
Oberarztstellung einrücken, wohl regelmäßig schon ein höheres Dienst- 
alter als Abteilungsarzt erreicht haben. 

Der Vorsitzende stellt fest, daß die Standeskommission 
im zweiten Punkt ihres Antrags die End bezöge der Abteilungs- und 
Anstaltsärzte im Auge gehabt hat. 


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Deutscher Verein für Psychiatrie. 


725 


Der Antrag wird nunmehr angenommen. 

Siemens -Lauenburg fährt fort: Wer die Ausführungen im Psy¬ 
chiatrischen Verein zu Berlin gelesen hat, sollte meinen, daß die Standes - 
Kommission nun noch mit Anträgen kommen müßte bezüglich der Angriffe 
in der Presse, welche in letzter Zeit wieder einmal gegen uns Psychiater 
gerichtet sind. Aber die Standeskommission hat geglaubt, zurzeit davon 
absehen zu müssen. Persönliche Angriffe wird nach wie vor jeder selbst 
zurückweisen müssen, oder seine Vorgesetzte Behörde wird für ihn Schritte 
tun. Was den behaupteten Mangel der gesetzlichen Bestimmungen betrifft, 
so ist die Sache im Fluß; in Baden ist ein Irrengesetz erlassen, in Bayern 
wird eine Erweiterung der gesetzlichen Bestimmungen erwogen, und in 
Preußen hat die Budgetkommission des Abgeordnetenhauses der Justiz¬ 
kommission einen Antrag überwiesen, der den Erlaß eines Irrengesetzes 
fordert. Wir können abwarten, was herauskommen wird, und wir haben 
in unserer Justizkommission die Kräfte, welche sich rechtzeitig darum 
bekümmern werden. Was die Beziehungen der Presse anlangt, so hat 
Herr Friedländer bereits die Güte gehabt, mit dem deutschen Presse- 
verein zu verhandeln; weitere gemeinsame Erörterungen sind in Aussicht 
genommen. 

Sie sehen also m. H., daß die Sachen in guten Händen, sind und daß 
heute weitere Beschlüsse nicht nötig erscheinen. 

Bei der nun folgenden Wahl des Vorstandes werden 
die Herren Cramer -Göttingen und Kraepelin-Mü nchen durch Zuruf 
wiedergewählt und nehmen die Wahl an. 

£iemens-Lauenburg LP.: Die Errichtung eines bio¬ 
logischen Forschungsinstituts über die körper¬ 
lichen Grundlagen der Geisteskrankheiten. 

M. H.i Angesichts der allmählich bis ins Unerträgliche steigenden 
Kosten, welche die Allgemeinheit für das Irrenwesen aufbringen muß, 
erscheint es als unsere dringendste Pflicht, auf Abhilfe zu sinnen. Nicht 
die Konstruktion von kostspieligen Anstaltsneubauten oder das Aus¬ 
denken von neuen Verpflegungsformen für die Geisteskranken kann auf 
die Dauer uns und unser Volk befriedigen; wir müssen dem Übel an die 
Wurzel zu kommen suchen. 

Der Prozentsatz der Geisteskranken innerhalb der Bevölkerung 
ist gegen früher nicht erheblich gewachsen. Die Bevölkerungsziffer selbst 
steigt, und es tritt bei den sozialen Verhältnissen der Neuzeit jetzt eher 
wie früher die Notwendigkeit ein, die Geisteskranken der Anstaltpflege 
zu übergeben. Auch werden die Kranken jetzt besser erkannt wie früher. 

Da die Heilungsergebnisse der Anstalten leider keine großen sind, 
so häufen sich in den Anstalten die Unheilbaren an, und der Bestand 
wächst andauernd. Der Zustand wird immer unbefriedigender. 


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Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 


An Vorschlägen zur Abhilfe fehlt es nicht. Letzthin hat mein Kollege 
Herr Mereklin -Treptow a. R. unserer Verwaltungsbehörde vorgeschlagen, 
es möchte durch ein Merkblatt die Bevölkerung aufgeklärt werden über 
die drei Hauptursachen der Geisteskrankheit. Es ist vielfach, besonders 
auf dem Lande, noch unbekannt, wie schädigend der übermäßige Alkohol¬ 
genuß auf die Nachkommenschaft wirkt, daß die Syphilis, wenn sie nicht 
ständig überwacht und behandelt wird, Träger und Nachkommen am 
Nervensystem schädigt, und daß Geisteskranke, Schwachsinnige und 
Epileptische nicht heiraten dürfen. Es soll versucht werden, durch das 
Merkblatt breite Volksschichten aufzuklären. Die Konferenz der preußi¬ 
schen Landesdirektoren wird sich in diesem Sommer mit der Frage be¬ 
fassen. 

Aber alle solche Maßnahmen versprechen wenig Nutzen. Der letzte 
Grund der üblen Lage ist doch immer der, daß wir noch nicht wissen, 
durch welche krankhaften inneren Vorgänge im Körper jene Schädlichkeit 
entsteht, welche auf das Gehirn den unheilvollen Einfluß ausübt. 

Was ist der krankhafte Grundvorgang bei der Seelenstörung, ins¬ 
besondere bei jener Form der Störung, welche uns die meisten Kranken 
in die Anstalten liefert und dauernd darin festhält, der zurzeit noch so¬ 
genannten Dementia praecox? Und weiter der manisch-depressiven 
Seelenstörung, und all der anderen Misch- und Übergangsformen? Und 
wodurch entsteht die sogenannte genuine Epilepsie? Was ist die Grund- 

krankheit der präsenilen Angstpsychose —und so fort?-Denn: 

Beängstigung, Aufregung, Sinnestäuschungen, Wahnvorstellungen, Ver- 
bigerieren, katatone Züge, Inkohärenz, Delirien, schwere Bewußtseins¬ 
störung mit Amnesie usw. sind doch nur die äußeren Symptome und 
Symptomenkomplexe, wie etwa Husten und Bruststiche bei der Lungen¬ 
krankheit (wie Cramer schon richtig gesagt hat)! Wir standen und stehen 
bisher bei den sogenannten endogenen Geistesstörungen dunklen Vor¬ 
gängen gegenüber, wir kennen den Grund Vorgang nicht. Was nutzt uns 
all der Bienenfleiß, mit dem in den letzten Jahrzehnten die Symptomen- 
komplexe der Seelenstörungen voneinander abgegrenzt wurden, was der 
Eifer, mit dem immer neue Symptome und Symptömchen differenzial- 
diagnostisch gewertet und in den Vordergrund geschoben wurden? Un¬ 
glaublich viele Fälle sind genau beschrieben, abgegrenzt und eingeteilt 
worden, immer neue Schränke mit vielen Fächern sind damit gefüllt 
worden — lauter Material für den ,,Juliusturm der Wissenschaft“! 

„Typisch“ sollen die Fälle sein für diese oder jene Form, wird be¬ 
hauptet. Dabei denkt sich jeder als „typisch“ etwas anderes, das, was 
er gerade beobachtet hat, und was sich ihm nach einigen Jahren vielleicht 
anders vorstellt. 

Man wird bei den Psychosen auseinanderhalten müssen: a) die mehr 
elementaren Störungen, w r elche die — uns noch unbekannte — Grund- 
krankheit im Körper verursacht, also z. B. Angst, Halluzinationen, Auf- 


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Deutscher Verein für Psychiatrie. 


727 


regung, Hemmung, katatone Erscheinungen, Delirien — einerseits, und 
andererseits: b) jene Symptome geistiger Art, welche aus der 
Verarbeitung dieser krankhaft-elementaren Störungen durch 
die Psyche entstehen. Die Bilder, welche daraus hervorgehen, werden 
sehr verschieden sein. Es gibt ja auch nicht zwei Menschen, welche dieselbe 
Psyche haben, und wären es Zwillinge. Alle sind verschieden geartet und 
veranlagt. Der Bewußtseinsinhalt, das mehr oder weniger hoch entwickelte 
geistige Leben ist bei den Menschen zu sehr verschieden, und verschieden 
wird die Art sein, wie sie sich mit der inneren krankhaften Störung abfinden, 
sie verarbeiten und das nach außen hin erkennbar machen. Daher sind 
die Formen und Fälle individuell verschieden; jeder Mensch hat 
seine eigene Psychose (wie er ja auch seinen eigenen Rausch 
hat, was man bei jeder Kneiperei oder bei jeder Qo-oformnarkose sehen 
kann). Daher kommen dann die verschiedenen Auffassungen der Be¬ 
obachtung. 

Wie kommen nun die krankhaften Elementarstörungen zustande? 
Daß man sie durch gewisse Nervengifte unmittelbar hervorrufen kann 
(Alkohol, Ergotismus, Pellagra), daß sie durch Kopfverletzung ent¬ 
stehen können, das wußte man schon. Aber durch was entstehen sie 
genuin (wie man jetzt noch sagt)? 

Kraepelins hellem Blick verdanken wir viel. Als er uns lehrte, Ver¬ 
lauf und Ausgang dieser Störungen als Ganzes zu überschauen und das 
den bunten Zustandbildern Gemeinsame zu erkennen — ähnlich wie wir 
das bei der fortschreitenden Paralyse schon kennen gelernt hatten —, 
sprach er (und andere mit ihm) die Vermutung aus, daß es abnorme inner¬ 
sekretorische Vorgänge seien, welche der Störung zugrundeliegen. 

Das Studium der inneren Sekretion der verschiedenen Drüsen hat 
uns inzwischen schon einigen Lichtschein gebracht. Die Bedeutung der 
Schilddrüse, der Hypophysis cerebri, der Zirbeldrüse, der Epithelkörperchen, 
der Nebennieren, der Thymusdrüse, des Pankreas, der Leber, der Ovarien 
und Hoden fängt man jetzt an, in ihrer Wirkung und besonders ihrer 
Wechselwirkung zu untersuchen und zu begreifen. Die Erfahrungen 
beim Kretinismus, beim Myxödem, bei der Kachexia strumipriva, bei der 
Basedowschen Krankheit, bei der Akromegalie, der Tetanie u. a. geben 
uns wichtige Fingerzeige. Hier liegt das Gebiet, dessen Erforschung mit 
Hilfe der biologischen Chemie, der Serologie und der experimentellen 
Therapie uns weitere Erkenntnis bringen wird. Und mit der Er¬ 
kenntnis, so dürfen wir hoffen, auch Mittel zur Vorbeugung 
und zur Heilung! 

Das mag manchem heute noch als ein Phantasma Vorkommen. 
Aber wir verfügen doch schon jetzt über recht beachtenswerte klinische 
und experimentelle Tatsachen. Es würde zu weit führen und Ihnen nichts 
Neues bringen, wollte ich hier ein Referat über die Funktions- und Ausfall¬ 
erscheinungen sowie die Wechselbeziehungen der einzelnen Drüsen mit 


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728 Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 

innerer Sekretion zu geben versuchen. Es finden sich in unserer neuesten 
medizinischen Literatur interessante Arbeiten, die hierher gehören ( Fleisch¬ 
mann, Chvostek, Münzer, Ascoli u. Legnoni, Biach u. Huttes u. a.). 

Auch von den Psychiatern sind schon interessante Vorversuche 
gemacht worden, so von Prof. Berger in Jena an sich selbst, von Muck 
u. Holzmann mit ihrer Kobragiftreaktion u. a. 

Einfach ist das Problem nicht. Es waltet wohl nicht bei allen Psy¬ 
chosen derselbe Vorgang ob. Es werden viele Kombinationen in den Wechsel¬ 
wirkungen und in ihrer Störung Vorkommen, wie es ja auch z. B. beim 
Diabetes, der Störung im Zuckerhaushalt, verschiedene Arten und Ver¬ 
laufsformen gibt. 

Unsere ganze Entwicklung von klein auf, körperlich und geistig. 
6teht ja unter der Wechselwirkung der innersekretorischen Drüsen. Exstir¬ 
pation der Thymus bei ganz jungen Tieren bewirkt Zurückbleiben in der 
Entwicklung. Der Wuchs, der Knochenbau wird von dem Hirnanhang 
beeinflußt (Akromegalie). Fehlen oder Entartung der Schilddrüse hat die 
bekannten Erscheinungen zur Folge. Entfernung oder Verkümmerung 
der Geschlechtsdrüsen übt gewisse Hemmungen bei der Entwicklung aus. 
Schwere Störung der Leberfunktion im Kindesalter kann Zurückbleiben 
im Körperwachstum und Fehlen der Pubertätsentwicklung bewirken 1 ). 

Bei der „Dementia praecox“ genannten Störung, die im jugend¬ 
lichen Alter auftritt, findet man oft bleibenden infantilen Habitus. Bei 
der Sektion solcher Fälle habe ich oft Vermehrung des interlobulären 
Bindegewebes mit einer eigentümlich dunklen Färbung der Lebermasse 
angetroflen. — Der Zusammenhang von Leberstörungen mit Geistes¬ 
krankheiten war schon den Alten bekannt. 

Die oft sehr auffallenden Störungen der Körperernährung — die 
zeitweilige unerklärliche Abmagerung, dann wieder die starke Fett- 
ansammlung, die wir nicht selten bei demselben Individuum im Verlauf 
seiner Psychose beobachten — sind kaum anders als durch eine Veränderung 
der inneren Sekretion zu erklären. Man denkt dabei u. a. an die bekannt 
gewordenen Wechselbeziehungen zwischen Leber, oberer Dünndarm- 
Schleimhaut und Pankreas u. ähnL 

Auch der Speichelfluß mancher Katatoniker läßt an solche Störungen 
denken. — Die Muskelspannungen der Katatoniker, die Steigerung der 
idiomuskulären Erregbarkeit, die fibrillären Muskelzuckungen mancher 
älterer, besonders weiblicher Verblödungskranker, die an Paralysis agitans 
erinnernden Zuckungen, die choreatischen Störungen mancher Verblödungs- 


l ) Einen solchen Fall habe ich miterlebt: nach schwerer Misch- 
infektion bei Masern trat zuerst langjährige Schwellung, dann Schrumpfung 
des interlobulären Lebergewebes ein. Der junge Mensch blieb im Wachstum 
und in der Pubertätsentwicklung auffallend zurück und starb im 18. Lebens¬ 
jahre. Jede geistige Abnormität fehlte in diesem Fall. 


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Deutscher Verein für Psychiatrie. 


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kranker beruhen vielleicht au! Störungen im Bereich der Epithelkörperchen 
und ihren Wechselbeziehungen. Krämpfe finden wir ja sehr häufig bei den 
Verblödungskranken, von leichtester Art bis zu schwersten epileptischen 
Anfällen. 

Seitdem wir darauf achten, finden wir im späteren Verlauf bei jedem 
Fall unserer Verblödungskranken krankhafte Veränderungen im Rücken¬ 
mark, ähnlich den Veränderungen, wie wir sie bei der Dementia paralytica, 
beim Ergotismus, bei der Pellagra finden. Ich habe an Herrn Prof. Alz¬ 
heimer bereits einige Präparate geschickt; er wird später die Güte haben 
und die Befunde mitteilen. 

Auf innere sekretorisch-regulatorische Störungen deutet auch die 
Tatsache hin, welche wir bei manchen Verblödungskranken beobachten, 
nämlich der — zuweilen fast tägliche — Wechsel in Stimmung und Ver¬ 
halten: heute aufgeregt und halluzinierend, morgen geordnet oder gehemmt 
und deprimiert. Auch bei der Paralyse kann man den Wechsel beobachten. 
Im Vordergrund des Krankheitbildes steht bekanntlich dieser Wechsel 
beim manisch-depressiven Irresein. Aber wie oft haben diese Manisch- 
depressiven auch nebenbei katatonische Symptome, vasomotorische 
und trophische Abweichungen u. a. — Vielleicht sind das alles nur Modi¬ 
fikationen und Kombinationen der Störungen in den Wechselbeziehungen 
innersekretorischer Organe, deren Erforschung erst Licht in diese, in ihrem 
Wesen bisher noch unbekannten Krankheiten bringen wird. 

Die sogenannten degenerativen Anlagen, die Psychopathien u. a., sind 
vielleicht nur rudimentäre innersekretorische Störungen regulatorischer 
Organe, auf ererbter oder erworbener Anlage beruhend. 

Die Dementia paralytica ist vielleicht nur eine durch das syphilitische 
Virus in ihrem Verlauf beschleunigte und modifizierte Dementia praecox, 
und die paralytischen Anfälle haben denselben Wert wie die epileptischen 
Anfälle bei der Dementia praecox. Daß die sogenannte genuine Epilepsie 
auf der Bildung von Giftstoffen — auf innersekretorischen Störungen — 
beruht, darüber hat wohl niemand mehr einen Zweifel, desgleichen die 
Eklampsie u. a. 

Es ist eine bekannte klinische Tatsache, daß beim Aufhören der 
Ovarialfunktion und im Klimakterium auch bei geistig sonst ganz gesunden 
Frauen nervöse Beschwerden auftreten: Herzklopfen, Wallungen zum 
Kopf, Schwindelgefühl, Ohrensausen, Ohnmächten, vermehrte Reizbar¬ 
keit, Angst bis zur leichten Psychose. Hieran ist wahrscheinlich doch das 
Schwinden — der Ausfall — der Ovarialhormone schuld. Vielleicht sind 
das ähnliche Störungen, wie sie bei der sogenannten präsenilen Angst¬ 
psychose und bei der klimakterischen Psychose vorliegen. Von einerWechsel- 
wirkung der Ovarien und Hoden auf die Hypophysis und die Zirbeldrüse 
ist schon allerlei bekannt. — Auffallend oft findet man bei länger an 
Dementia praecox Leidenden Psammome in der Zirbeldrüse. Mein Gro߬ 
vater, der alte Ruer (der erste Direktor der westfälischen Anstalt Marsberg) 
hatte ein ganzes Kästchen von solchem „Gehirnsand“. 


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Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 


Kurz, wohin wir sehen, stoBen wir bei unseren Kranken auf abnorme 
Vorgänge in innersekretorischen Organen, deren Erforschung uns Licht 
in das bisher noch herrschende nosologische Dunkel der Psychosen zu 
bringen verspricht. Die chemisch-pharmazeutische Industrie hat sich 
der Organe bereits bemächtigt' und vertreibt die Präparate zur Organ- 
therapie, trotzdem daß die exakte biologische Erforschung hoch aussteht. 

Ihre Erforschung scheint mir das nötigste zu sein, 
was für die Psychiatrie geschehen muß, und nicht nur für die Psychiatrie, 
sondern für den Staat, der sich der vielen Kranken kaum noch 
erwehren kann, und der unter den großen Kosten für die Irren¬ 
pflegeschwerleidet. 

M. H.! Ich bin so ausführlich geworden, nicht weil ich Ihnen 
viel Neues sagen mußte — Sie kennen das alles ebenso gut und besser 
als ich —, sondern weil wir den Behörden gegenüber, an die wir uns wenden 
müssen, und der Allgemeinheit eine Begründung unserer Forderung 
geben müssen. Unser Verein muß den Anstoß dazu geben, daß ein bio¬ 
logisches Forschungsinstitut für die Grundlage der Seelenstörungen 
errichtet wird. Die vielen Tausende von Kranken, die dem Staat zur 
Last fallen, die großen Kosten, welche die Allgemeinheit für die Geistes¬ 
kranken und die Anstalten aufbringen muß, schreien nach 
solcher Forschung. 

Unsere provinzialen und kommunalen Irrenanstalten können diese 
Forschung nicht leisten. Sie sind mit so vielen Geschäften der Verwaltung, 
der symptomatischen Behandlung, der Verpflegung, Beschäftigung und 
Begutachtung der Kranken überlastet. Die psychiatrischen Kliniken 
sind meist nur Durchgangstationen und haben zu dem anderen auch noch 
die Lehraufgabe und die Lehrmeinung. 

Es bedarf eines besonderen, großzügigen, bio¬ 
logischen und experimentell-therapeutischen Forschungs¬ 
instituts, am besten in der Großstadt, mit der Möglichkeit, sich aus 
den Anstalten des Landes die geeigneten Fälle auszuwählen. 

Wer soll es errichten? — Ich habe mich, zunächst privatim, an die 
Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften gewandt 
mit der Frage, ob Aussicht wäre, daß sie ein solches Institut errichten 
würde. Exzellenz Harnack antwortete, daß seines Erachtens der Staat 
verpflichtet wäre, es aus seinen Mitteln zu gründen. Die Kaiser-Wilhelm- 
Gesellschaft sei in Erwägungen über die Errichtung eines Instituts für 
Hirnforschung begriffen und erörtere auch die Frage, ob und in welchem 
Umfang sie der psychologischen Forschung entgegenkommen solle. 

Das aber kann uns nicht viel helfen, wir brauchen ein biologi¬ 
sches Forschungsinstitut. Auch die Erfüllung des Hommerschen Vor¬ 
schlags (einer besonderen Abteilung beim Reichsgesundheitsamt) wird 
uns kaum weiter bringen. Dobrick („Die Not der Psychiatrie“) denkt 
sich sicherlich etwas ähnliches wie ich. 


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Deutscher Verein für Psychiatrie. 


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Im Reichstag ist der Antrag gestellt, für die Erforschung der Maul¬ 
und Klauenseuche ein Forschungsinstitut zu errichten — natürlich auf 
Reichskosten. Ist aber das biologische Forschungsinstitut für die Geistes¬ 
krankheiten nicht unendlich viel wichtiger? — Wo sind die reichen Stifter, 
die die Mittel dazu hergeben!? Ich denke hier in erster Linie auch an die 
chemisch-pharmazeutische Industrie. 

Zum Schluß, m. H., noch eins. 

Die Frommen im Lande werden wieder zetern über die materialisti¬ 
schen Ärzte. Aber wir sind nicht materialistisch. Wir halten es mit Goethe: 
Das Erforschliche zu erforschen und das Unerforschliche zu verehren! 
Der menschliche Geist bedient sich der Körperorgane, des Gehirns und 
der Nerven, um sich zu äußern und zu betätigen. Ist das Gehirn und die 
Nerven krank oder ve"kümmert, so sind die seelischen Äußerungen krank¬ 
hafte und mangelhafte. Das sind Tatsachen. Zu erforschen das, was 
Gehirn und Nerven krank macht, ist unsere Aufgabe. Den unerforschlichen 
Geist wollen wir verehren! 

Beschließen Sie und beauftragen Sie Ihren Vorstand, an die Be¬ 
hörden und Gesellschaften heranzutreten wegen Errichtung eines bio¬ 
logischen Forschungsinstituts für die körperlichen Grundlagen der Geistes¬ 
krankheiten! 

Diskussion. — Kraepelin -München: Daß ein psychiatrisches 
Forschungsinstitut ein reiches Feld der Betätigung finden und sehr segens¬ 
reich wirken könnte, unterliegt keinem Zweifel. Wie es aber einzurichten 
und nach welchen Richtungen es auszubauen wäre, bedarf sehr gründlicher 
Erwägung. Es dürfte am zweckmäßigsten sein, wenn der Vorstand des 
Vereins mit der Aufgabe betraut wird, ein bestimmtes Programm über 
diese Fragen auszuarbeiten. 

Der Verein beschließt, seinen Vorstand zu beauftragen, geeignete 
Schritte zu erwägen zur Errichtung eines biologischen Forschungsinstituts 
über die körperlichen Grundlagen der Geistesstörungen. 

Gegenüber dem Vorschläge des Vorstandes, die nächste 
Jahresversammlung in Göttingen vom 24. bis 26. April abzu¬ 
halten, empfiehlt Neißer -Bunzlau Breslau als Ort der nächsten Ver¬ 
sammlung. Die Versammlung entschließt sich für Breslau und die Zeit 
um Pfingsten; die nähere Bestimmung bleibt dem Vorstand überlassen. 
Als Referate werden, entsprechend dem Beschluß des Vorstandes, fest¬ 
gesetzt: 1. Geminderte Zurechnungfähigkeit (Ref. Aschaffenburg -Köln 
und Wilmanns- Heidelberg); 2. Psychiatrie und Fürsorgeerziehung (Ref. 
Cramer -Gö tt ingen). 

Rittershaus -Hamburg : Zur Psychologie der weib¬ 

lichen Ausnahmezustände. 

Vortr. berichtet über psychologische Versuche an Menstruierten. 
Bei Ermüdungsversuchen mit dem WeVersehen Arbeitschreiber zeigte sich 
oft ein bedeutend früherer und steilerer Abfall der Kurve, oder gegen Ende 

Zeitsehrif für Psychiatrie. LXIX. 5. 50 


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Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 


der Kurve erschienen große Schwankungen, wohl infolge plötzlicher 
Willensantriebe, fast immer jedoch war — oft als einziger Unterschied 
gegenüber dem Normalen — ein früheres Aufhören der Kurve zu bemerken. 
Letzteres würde nach der bekannten Theorie, nach der die Größe der 
einzelnen Arbeitleistungen von muskulären, ihre Anzahl aber von zentralen 
Einflüssen abhängig sei, auf eine Steigerung der zentralen Ermüdbarkeit 
zurzeit der Menstruation binweisen. In einem Falle ähnelte jedoch die 
Menstruationskurve augenscheinlich der bekannten Kurve bei Unfall¬ 
hysterikern, die unter der Autosuggestion der eigenen Insuffizienz nicht 
mit voller Kraft arbeiten, infolgedessen keine Ermüdungs-, aber auch 
keine Erholungserscheinungen zeigen, dabei aber auffallend lange zu 
arbeiten vermögen („wurmförmiges Dahinkriechen der Kurve“ nach 
Buddee). — Die Versuche mit fortlaufender Addition nach Kraepelin 
ergaben zum Teil ähnliche Resultate, jedoch waren hier die Befunde oft 
nicht ganz einwandfrei, anscheinend erschweren noch nicht genügend 
bekannte psychische Momente die Anwendung dieser Methode bei weib¬ 
lichen Versuchspersonen bis zu einem gewissen Grade. — Die außerordent¬ 
liche Erhöhung der Affekterregbarkeit läßt sich gut nachweisen und in 
Kurven darstellen durch die Methode der „Komplexforschung“, die vom 
Vortr. etwas modifizierte Anwendung der sogenannten „Tatbestand¬ 
diagnostik“ vermittels des Assoziationsexperiments nach Art der Züricher 
Schule. Es zeigte sich bei der mannigfachsten Versuchsanordnung, 
bei Anwendung gleicher und verschiedener Reizschemata, bei wenigen 
und vielen Komplexreizen, leichten und starken, bei Vornahme der Ver¬ 
gleichsversuche vor oder nach der Menstruation usw., trotz des Faktors 
der Gewöhnung eine deutliche Steigerung der Komplexempfindlichkeit, 
sowohl während der Menstruation — besonders am ersten Tage — als 
auch oft in der prämenstruellen Zeit. — Das gleiche in noch viel höherem 
Grade fand sich bei einer Reihe von unehelich Schwangeren der Erlanger 
gynäkologischen Klinik, wobei es ganz gleichgültig war, ob die Versuch 
in der Mitte oder gegen Ende der Schwangerschaft, einen oder mehrere 
Tage nach der Geburt vorgenommen wurden. Die Entbindung selbst 
hatte keinerlei Einfluß, etwa im Sinne einer Lösung der AfTektspannung. — 
Ähnliche Befunde sind vielleicht auch in den übrigen Ausnahmezuständen 
des weiblichen Geschlechts zu erwarten, in der Pubertät (Backfischalter) 
und im Klimakterium. Die hochgradige Affektlabilität ist nun aber nach 
den Untersuchungen von Jung-Riklin — die Vortr. durchaus bestätigen 
konnte — charakteristisch für Hysterie, so daß man vielleicht, cum grano 
solis natürlich, sagen kann, daß die meisten Frauen zu jenen Zeiten etwas 
hysterisch sind. — Gewissermaßen die Probe hierauf gab die Kurve einer 
schwangeren Hysterika, deren Komplexempfindlichkeit kaum noch zu 
überbieten war. — Die Freudschen Theorien sind zu all diesen Befunden 
natürlich weder Vorbedingung noch absolut notwendige Folgerungen. 
Irgendwelche praktische Konsequenzen—etwa in forensischer—aus diesen 


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Deutscher Verein für Psychiatrie. 


733 


Versuchen zu ziehen, wäre natürlich verfrüht; sie sind nichts als eine Fort¬ 
setzung der von WoUenberg begonnenen Bestrebungen, diese Zustände 
mit den exakten Methoden des psychologischen Experiments zu erforschen, 
und bedürfen selbstverständlich einer Nachprüfung und einer Ergänzung 
durch andere Methoden. 

Diskussion. — OUendorff- Schöneberg stehen keine Experimente 
zur Verfügung, aber es ist ihm in der Praxis aufgefallen, daß z. B. Damen 
von der' Telephonie, die an traumatischer Neurose litten, gerade zurzeit 
der Menstruation sehr häufig eine Exazerbation ihres Leidens aufwiesen, 
und daß Hysterische auch meist gerade in dieser Zeit heftige Anfälle 
bekamen. Er fand ferner bei Untersuchungen an Selbstmörderleichen — 
sein Material entstammt der Unterrichtsanstalt für Staatsarzneikunde 
zu Berlin (Geh.-R. Straßmann) und umfaßt eine Zahl von 281 Selbst¬ 
mördern, darunter 77 weibliche, in 5 Jahren —, daß sich 49,35% der 
Selbstmörderinnen zurZeit der Tat in der Steigerung eines physiologisch- 
psychischen Reizzustandes, der Menstruation, Gravidität oder Laktation 
befanden. Er erinnert daran, daß bereits im Jahre 1900 Heller -Kiel auf 
dieses wichtige Faktum, namentlich zur Berücksichtigung in der Frauen¬ 
frage, hingewiesen hat. 

O. selbst hat diese Tatsache eingehend gewürdigt in einer Arbeit, 
die in der Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin erscheinen wird und die 
Ursachen des Selbstmordes kritisch beleuchtet. Er würde es freudig 
begrüßen, wenn Gaupp -Tübingen in seinen Forschungen in der Selbstmord¬ 
frage auch Gewicht auf diese Frage legte und sein Material daraufhin prüfte. 

Urstein -Warschau hat Steigerung der Affekte und Zunahme der 
Krankheiterscheinungen während der Menses bei mindestens 1000 darauf 
geprüften Fällen recht oft beobachtet. In einem Dutzend der Fälle aber 
ließ sich das Gegenteil beobachten. Patientinnen, die sonst ganz verwirrt' 
waren, hatten gerade zur Zeit der Regel ihre besten und klarsten Tage. 
Manche fühlten sich vor der Periode am wohlsten. Oft blieben die Menses 
vor Ausbruch einer rezidivierenden Erregung aus und stellten sich nach 
Abklingen der Exaltation ein. Auch kommt es vor, daß Menses, die monate- 
und jahrelang ausgeblieben sind, im katatonen Stadium wiederkehren, 
ohne daß das psychische Befinden sich ändert, geschweige denn bessert. 
Von Interesse dürfte es sein, daß bei einzelnen Männern regelmäßig alle 

4 Wochen für eine Dauer von 1 bis 2 Tagen eine Zunahme der Unruhe 
beobachtet werden konnte. Erwähnenswert ist, daß die Gravidität in 
prognostischer Hinsicht eher günstig als nachteilig gewirkt hat: oft ging die 
zu Hause lang bestehende depressive oder katatone Erkrankung mit dem 
Eintritt der Schwangerschaft plötzlich in temporäre Genesung über; 
andere Frauen fühlten sich gerade während der Gravidität am wohlsten. 
Wiederholt wurde notiert, daß die Katatonie nach einem Wochenbett 
auftrat, um erst nach dem Eintritt der nächsten, manchmal nach 2 bis 

5 Jahren erfolgten Konzeption in temporäre Heilung überzugehen. 

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Rittershaus (Schlußwort) bemerkt, auf Beziehungen zu Psychosen 
einzugehen, sei nicht in seiner Absicht gelegen. 

Pförringer- Hamburg: Tierversuche über den erb¬ 
lichen Einfluß des Alkohols. 

Seit iy 2 Jahren bekommt eine Reihe von Hunden fast täglich 
100—200 ccm (25 bis 40 %) Äthylalkohol, je nach Größe des Tieres und 
Dauer der Verfütterung. Bei den alkoholisierten Tieren selbst waren die 
Haupterscheinungen auf körperlichem Gebiet: Zurückbleiben in der Ent¬ 
wicklung, die Zeichen organischer Schädigung des Zentralnervensystems 
und Frühgeburten; auf psychischem Gebiet: Stumpfheit, die geradezu 
an Verblödung erinnerte. Bei den Nachkommen alkoholisierter Tiere 
wurden epileptiforme Krämpfe, Früh- oder Totgeburten konstatiert. 
Die biologische Untersuchung des Blutserums und des Liquor cerebro¬ 
spinalis ergab Herabsetzung der Resistenz der roten Blutkörperchen in 
mäßigem Grade; das hämolytische Komplement und der Normalambozeptor 
zeigte keine quantitative Veränderung gegenüber normalen Hunden. 
Die Wirkung bakterizider Rezeptoren auf Typhusbazillen war herab¬ 
gesetzt, ebenso zeigte der opsonische Index sehr niedere Werte, die Herab¬ 
minderung der antitryptischen Fermente des Serum läßt auf eine All¬ 
gemeinschädigung des Organismus schließen. Die Untersuchung auf 
diastatisches Ferment im Liquor bot nichts Wesentliches. Das biologische 
Verhalten des Serums und Liquors der Nachkommen alkoholisierter 
Tiere deutet nur in wenigen Fällen auf konstitutionelle Schädigungen hin. 
Die anatomische Untersuchung der Hunde ergab, neben akuten und 
chronischen Veränderungen im Großhirn, vor allem weitgehende Schädi¬ 
gungen des Kleinhirns, besonders bezüglich der Purkin /eschen Zellen. 
Blutungen waren in allen Teilen des Zentralnervensystems nachweisbar. 
Veränderungen zeigten auch die Großhirnzellen alkoholfreier Nachkommen 
alkoholisierter Tiere. Die Versuche werden fortgesetzt. 

Diskussion. — Schröder -Breslau füttert Kaninchen seit 
3 y 2 Jahren mit Alkohol. Er habe vorläufig Nachkommenschaft bis zur 
fünften Generation erzielt. Die Sterblichkeit der Tiere ist groß, die Nach¬ 
kommenschaft wenig zahlreich. Auffressen des Wurfes ist viel häufiger 
wie sonst, die Jungen werden vernachlässigt, die Tiere gehen an Durch¬ 
fällen zugrunde, ziehen sich durch Sturz usw. Frakturen und Verletzungen 
zu, erkranken an Rhinitis, Konjunktivitis (direkte Reizung durch Alkohol 
beim Fressen), an Otitiden, Hautkrankheiten mit Haarausfall. Bei mehreren 
Würfen kamen einige Tiere mit Katarakt zur Welt. Die späteren Genera¬ 
tionen waren wiederholt sehr ungleich (einige gut entwickelt, andere sehr 
kümmerlich, die dann auch weiterhin erheblich zurückblieben). An die 
akuten Erkrankungen des chronischen Alkoholismus erinnernde Störungen 
sind, bisher wenigstens, nicht beobachtet worden; keine epileptischen 
Anfälle, keine als toxisch bedingt zu deutenden Lähmungen usw. 


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Kafka- Hamburg: Über Entstehung, Zirkulation 
und Funktion des Liquor cerebrospinalis. (Mit 
Demonstrationen.) 

Vortr. berichtet über Versuche, die er zur Klärung verschiedener 
noch schwebender Fragen über den Liquor cerebrospinalis anstellte. 
Diese bestanden 1. in der subkutanen Eingabe von Lösung des höchst 
diffusiblen Farbstoffes Uranin an Frösche und Kaninchen mit oder ohne 
gleichzeitige Pilokarpininjektion und nach verschiedenen Zeiten erfolgender 
Sektion mit makroskopischer und mikroskopischer Betrachtung des 
Zentralnervensystems, besonders der Liquor enthaltenden Räume und der 
ihn sezernierenden Gewebe; 2. der Einverleibung per os von 6 bis 8 g 
Uranin (Ammoniakverbindung des Fluoreszin) an Psychisch-Kranke mit 
normalen und affizierten Meningen und Lumbalpunktion nach verschiedenen 
Zeiten, wobei auch in einigen Fällen Pilokarpininjektionen und Halsstauung 
in Anwendung kamen; 3. in aktiven und passiven Immunisierungen von 
Hunden, Affen und Menschen und Untersuchung des Lumbalpunktats, 
in einem Fall auch des Ventrikelpunktats auf Antikörper (besonders 
Agglutinine, Antitoxine und Hämolysine); 4. der Untersuchung ver¬ 
schiedener Liquorportionen bei Entnahme größerer Mengen in morpho¬ 
logischer, chemischer und biologischer Hinsicht, besonders auch des nach 
Halsstauung gewonnenen Liquors; 5. der parallelen biologischen Unter¬ 
suchung des post mortem entnommenen Spinal- und Ventrikelliquors; 
6. der Feststellung, daß geringe, von etwaigen Normalambozeptoren 
befreite Mengen fast jeden Liquors in einem hämolytischen System mit 
unterlösender Ambozeptordosis Lösung hervorrufen, welches Faktum 
von Jakobsthal nur für die Paralyse behauptet und auf Normalambo¬ 
zeptoren bezogen wurde. Die durch diese Versuche, die weiter fortgesetzt 
werden sollen, bisher gewonnenen Resultate ergeben, zusammengehalten 
mit den Ansichten der Literatur und früher publizierten Untersuchungen, 
im wesentlichen, daß die Zerebrospinalflüssigkeit im normalen und patho¬ 
logischen Zustand chemisch und biologisch einheitlich zu sein scheint, 
daß nur der Zellgehalt Schwankungen in verschiedenen Höhen zeigt 
(Fischer) und nur in seltenen Fällen und sehr gering der Eiweißgehalt; daß 
sie größtenteils vom plexus choroideus und Ependym sezerniert wird, 
daß sie weder ein einfaches Transsudat, noch eine Lymphflüssigkeit dar¬ 
stellt, sondern einem Sekret am nächsten steht, und daß ihre Funktion nicht 
nur eine physikalische ist, sondern bei Stoffwechsel-, Immunisierungs- und 
anderen Vorgängen am Zentralnervensystem bedeutungvoll zu sein scheint. 

Stargardt- Kiel: Über die Ursachen des Sehnerven¬ 
schwundes bei Tabes und progressiver Paralyse. 
(Mit Demonstrationen.) 

Vortr. berichtet über die Resultate seiner pathologisch-anatomischen 
Untersuchungen über die Ätiologie des Sehnerven¬ 
schwundes bei Tabes, Taboparalyse und Paralyse. 


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Er hat in 25 Fällen die Sehbahn vom Corpus geniculatum externum 
bis zur Retina untersucht. Da die Netzhaut schon eine Stunde nach dem 
Tode zerfällt, wurde möglichst sofort post exitum Birck-Hirschfeldsches 
Gemisch in den Glaskörper injiziert. Auf diese Weise gelingt es, einwand¬ 
freie Netzhautpräparate zu erhalten. Fanden sich keine degenerativen 
Veränderungen im Sehnerven, so waren die Netzhäute vollkommen normal, 
auch wenn der Exitus im paralytischen Anfall eingetreten war, oder wenn 
lange Zeit vor dem Tode hohe Temperaturen bestanden hatten. Die 
Erkrankungen der Retina bestanden in den Fällen von Atrophie in sekundär 
degenerativen Veränderungen in der Nervenfaserschicht und der Ganglien¬ 
zellenschicht und unterschieden sich in nichts von den Veränderungen, 
wie wir sie nach Sehnervendurchschneidungen und bei Abquetschungen 
des Sehnerven durch die arteriosklerotische Carotis interna sehen. Die 
Ursache des Sehnervenschwundes ist in exsudativen Prozessen zu suchen, 
die im wesentlichen sich auf das Chiasma und die intracraniellen Optici 
beschränken. Die Traktus und die äußeren Kniehöcker zeigen im all¬ 
gemeinen nur sekundäre Veränderungen. In Fällen von partieller Optikus¬ 
atrophie ließ sich nachweisen, daß die Atrophie auf eine partielle Infil¬ 
tration des intrakraniellen Optikus zurückzuführen war. Demnach handelt 
es sich bei der Optikusatrophie nicht um eine aszendierende Atrophie 
und nicht um die Wirkung eines Toxins, das zuerst auf die Ganglienzellen 
der Netzhaut einwirkt, wie man bisher angenommen hatte. Die Optikus¬ 
atrophie stellt aber auch keine Systemerkrankung dar. Das bewies die 
Untersuchung der Umgebung des Chiasma und der Optici. In allen Fällen 
von Atrophie fanden sich schwere Veränderungen im zentralen Grau, 
in den dem Chiasma benachbarten Teilen der Schläfenlappen und des 
Stirnhirns, häufig auch infiltrative Prozesse in den Olfactorii und den 
Oculomotorii, in zwei Fällen auch in der Hypophyse. Die exsudativen 
Prozesse, die die Ursache des Sehnervenschwundes bilden, rechnet St 
mit den exsudativen Prozessen der Paralyse und der Tabes zusammen 
in die große Gruppe der „tertiären, nicht gummösen, luischen Er¬ 
krankungen“, zu denen er auch die Aortitis luica, die Hepatitis inter- 
stitialis, die Orchitis fibrosa, die glatte Zungenatrophie, die tertiären, 
nicht gummösen Entzündungen der Uvea des Auges und die Arthropathien 
zählt. Was speziell die letzteren betrifft, so hat er in einem Falle von Para¬ 
lyse nachweisen können, daß sie exsudativen Prozessen ihre Entstehung 
verdanken, die mit den exsudativen Prozessen bei den anderen erwähnten 
Erkrankungen^ identisch sind. 

O. ÄcAm-Bremen: Zytologie der Zerebrospinal¬ 
flüssigkeit und ihre diagnostische Verwertbar¬ 
keit (Projektionsvortrag). 

Die Untersuchung der Zerebrospinalflüssigkeit erstreckt sich im 
wesentlichen auf die physikalischen, chemischen, serologischen, zoo¬ 
logischen und bakteriologischen Verhältnisse. Die Zellen interessieren 


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sowohl hinsichtlich der Menge, in der sie sich vorfinden, als auch hin¬ 
sichtlich ihrer Gestalt und Herkunft. Die Abstammung ist trotz mancher 
Versuche noch nicht klargestellt. Vortr. bespricht im einzelnen an der 
Hand zahlreicher Abbildungen die einzelnen Zellformen, von welchen 
man mindestens 15 unterscheiden kann. Diese verteilen sich auf die 
Gruppen der Lymphozyten, Gitterzellen, Plasmazellen, Erythrozyten, 
Leukozyten und Fibroplasten. Der normele Befund unterscheidet sich 
scharf von dem krankhaften. Herpes Zoster, Lues II und III und Tabes 
geben unter sich ähnliche Zellbefunde; die anderen besprochenen lassen 
bestimmte Unterschiede erkennen, welche diagnostisch zu verwerten sind. 
Vortr. führt zum Schlüsse aus, daß die Zytologie der Zerebrospinalflüssig¬ 
keit schon jetzt imstande ist, uns eben so wichtige diagnostische Merk¬ 
male zu liefern, wie wir es von der des Blutes gewohnt sind. (Ausführliche 
Veröffentlichung in dem bei EwcAer-Jena erscheinenden, in Gemeinschaft 
mit Dr. Plaut und Schottmüller bearbeiteten „Leitfaden zur Untersuchung 
der Zerebrospinalflüssigkeit“.) 

ÄüWe-Uchtspringe: Zur pathologischen Anatomie 
der tuberösen Sklerose (mit Demonstrationen). 

Auf die tuberöse Sklerose, eine zunächst mehr in anatomi¬ 
scher, als in klinischer Beziehung gekannte und beschriebene Form der 
Idiotie, machte als erster Bourneville im Jahre 1880 aufmerksam. Er 
beschrieb die makroskopisch erkennbaren Veränderungen, die dieser 
eigenartige Prozeß am Gehirn setzt, wies auf das tumorartige Hervor¬ 
treten einzelner, blasser als ihre Umgebung aussehender und sich hart 
und wenig elastisch anfühlender Windungsabschnitte oder herdförmiger 
Partien über die Hirnoberfläche hin und bezeichnete als besonders charakte¬ 
ristische Veränderung das Vorkommen tumorartiger Prominenzen in den 
Seitenventrikeln. An den tuberösen Stellen ist die Rinde breit, die Rinden¬ 
markgrenze verschwommen, auch im Mark finden sich zuweilen graue 
Streifen und Herde; eine tuberöse Entartung der Kleinhirnrinde findet 
sich selten. Seitdem sind eine Reihe von Arbeiten über die tuberöse Sklerose 
erschienen, die sich, unter Bestätigung der anatomischen Sonderstellung 
des Prozesses unter den Formen der Idiotie, mehr mit den mikroskopischen 
Veränderungen befassen, und von denen namentlich die Untersuchungen 
von Pellizzi, Bon figli, Perusini und Vogt zu nennen sind. Nach dem zuletzt 
genannten Autor ist der Prozeß folgendermaßen charakterisiert: Die 
Hirnrinde der erkrankten Partien zeigt die Zeichen gestörter Entwicklung, 
die Ganglienzellen sind histologisch mangelhaft differenziert, die Orien¬ 
tierung und Gruppierung derselben ist mangelhaft, die Schichtenbildung 
unklar, es finden sich Verlagerungen von Zellen, Verringerung ihrer Zahl. 
Ferner hat eine enorme Proliferation der Glia stattgefunden, sowohl eine 
Vermehrung der Fasern als der Zellen, man beobachtet das Auftreten 
der Randglia in büschelförmigen Figuren, die Zeichen chronischer Er¬ 
krankung der nervösen Rindenelemente, ein Fehlen entzündlicher Er- 


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scheinungen insbesondere in der Umgebung der Gefäße und schließlich 
das Auftreten atypischer Zellen, der sogenannten „großen Zellen“. Während 
nun in den bisher veröffentlichten Fällen von tuberöser Sklerose, einer 
relativ seltenen Erkrankung, im wesentlichen bezüglich der eben erwähnten 
histologischen Merkmale übereinstimmende Befunde erhoben wurden, 
sind zwar von allen Untersuchern die sogenannten „großen Zellen“ zum 
Gegenstand besonders eingehender Untersuchungen gemacht, aber eine 
Einigung über die Art und Herkunft dieser Gebilde ist bisher nicht erzielt 
worden. Und gerade diese Zellen, die regelmäßig bei der tuberösen Sklerose 
gefunden werden, und die zweifellos zu den interessantesten Gebilden des 
ganzen Krankheitprozesses gehören, ihrem histologischen Charakter 
nach näher zu bestimmen, erscheint zunächst von großer Wichtigkeit. 
Während manche Untersucher, wie Sailer, Hornowsky, Rudski, Rabonneix 
erklären, ihre Herkunft nicht feststellen zu können, betrachten Brückner, 
Scarpatetti, Jacobäus, Geitlin u. a. dieselben als Ganglienzellen. Pellizzi 
und Perusini heben den embryonalen Charakter dieser Zellen hervor, 
sehen in ihnen in ihrer Entwicklung gehemmte Neuroblasten. Vogt, der 
in einigen der in Frage stehenden Elemente mit der Bielschowsky -Methode 
Neurofibrillen darstellen konnte, meint, daß sie höchstwahrscheinlich 
nicht einheitlicher Natur sind, daß vielmehr die einen mehr ganglionären. 
die anderen mehr gliomatösen Charakter tragen. Auch Volland schließt 
sich dieser Ansicht an. Bonfigli kommt auf Grund seiner Befunde zu dem 
Schluß, daß die großen atypischen Zellen nichts anderes sind als Neuro- 
gliazellen, die auf einen lokalisierten Wucherungsprozeß der Glia hinweisen. 
Ganz merkwürdige Dinge hat Campbell in den Herden der sklerotischen 
Partien gefunden, die er als endothelartige Wucherungen beschreibt, und 
die er in Verbindung mit den mit der tuberösen Sklerose häufig kombi¬ 
nierten Nierentumoren und den eigentümlichen Epithelwucherungen 
der Haut zu bringen sucht. In letzter Zeit ist schließlich eine Arbeit von 
Nieuwenhuize aus der holländischen Irrenanstalt Meerenberg erschienen, 
die wohl die eingehendsten (siehe oben) Literaturangaben enthält, und der 
eine Reihe von Zeichnungen nach Fibrillenpräparaten dieser großen 
atypischen Zellen beigegeben ist. Der Verfasser glaubt, auf Grund seiner 
Befunde die „großen Zellen“ mit Bestimmtheit als mißbildete Ganglien¬ 
zellen auffassen zu dürfen. 

Aus dieser außerordentlichen Verschiedenheit der Auffassung der 
einzelnen Untersucher über die Art der genannten Zellform scheint jeden¬ 
falls das eine hervorzugehen, daß die tuberöse Sklerose nach dieser Richtung 
hin noch weiterer Durchforschung bedarf. Insbesondere scheint von 
Wichtigkeit, eine Analyse der „großen Zellen“ nicht nur mit Hilfe der 
bisher üblichen Methoden zu versuchen, sondern auch mit den neuen von 
Alzheimer in die Technik eingeführten Hilfsmitteln an die Untersuchung 
dieser Elemente heranzugehen. Die Untersuchungen, die der Vortragende 
angestellt hat, erstrecken sich auf die im Vergleich zur Seltenheit des 


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Prozesses große Zahl von 10 Fällen. Von diesen konnten 2 eingehend 
in der genannten Weise histologisch untersucht werden, während es sich 
bei den übrigen 8 Fällen um älteres Formolmaterial handelte, das infolge¬ 
dessen eine Verarbeitung nur nach bestimmten Richtungen hin noch 
gestattete. Die Ergebnisse seiner Untersuchungen wurden von dem Vor¬ 
tragenden an der Hand einer großen Anzahl von zum Teil nach dem 
Lumiöreverfahren hergestellten Diapositiven (mikrophotographisches 
Laboratorium der Anstalt Uchtspringe; Dr. Engelken) seiner Präparate 
demonstriert, wobei auf die außerordentliche Schwierigkeit einer Deutung 
der großen atypischen Zellen besonders aufmerksam gemacht wurde. 
Auf Grund der bisherigen Ergebnisse seiner Untersuchungen glaubt der 
Vortragende, daß es sich in der Tat nicht um einheitliche Elemente handelt, 
daß aber der wesentlichste Anteil der zuweilen aus ganzen Zellkonglomeraten 
bestehenden Gebilde einer Gliawucherung zuzuschreiben ist. (Der Vortrag 
wird als besondere mit zahlreichen Abbildungen versehene Arbeit er¬ 
scheinen. ) 

3. Sitzung Freitag, 31. Mai, vorm. 9 Uhr. 

2. Referat: Über die Behandlung der Paralyse. 

. 1. Spielmeyer-FreibuTg: Das Thema des Referates gliedert sich 
in zwei Teile: erstens in die Erörterung der allgemeinen Heilungsaussichten, 
welche die Paralyse hat, und zweitens in die Besprechung alles dessen, 
was heute schon therapeutisch gegen die Paralyse getan werden kann. 
In diesem ersten Abschnitt werden die prinzipiell wichtigen Erfahrungs¬ 
tatsachen aus der Klinik, der pathologischen Anatomie, der Ätiologie 
und unserer Kenntnis von dem Wesen der Paralyse aufgeführt und Er¬ 
wägungen daran geknüpft werden, welche für die Bekämpfung der Paralyse 
maßgebend sein müssen. 

Vom klinischen Standpunkte aus erscheint die Heilbarkeit 
der Paralyse nicht so ausgeschlossen, wie es nach dem Gros der Fälle 
vermutet werden könnte. Daß eine Remission einmal dauernd bestehen 
bleibt oder es auch bei der Paralyse nur zur Ausbildung einer nachher 
stationärwerdenden forme fruste (ähnlich wie bei der Tabes dorsalis) 
kommen kann, ist gewiß nicht auszuschließen. Aber die Diskussion 
über die stationäre Paralyse ( Alzheimer, Gaupp) lehrt, daß das zum min¬ 
desten außerordentlich selten der Fall sein dürfte. Bei den in der Literatur 
mitgeteilten Fällen geheilter oder stationär gebliebener Paralysen handelt 
es sich zum Teil doch nur um besonders vollständige und langdauernde 
Remissionen oder auch um ganz andersartige Erkrankungen, d. h. also 
um Fehldiagnosen. Immerhin bleiben einige, wenn auch sehr wenige Fälle 
übrig, bei denen sich der Beweis nicht führen läßt, es sei keine geheilte 
Paralyse gewesen ( Wernicke, Schüle, Leredde, Nonne u. a.). Dabei ist es 
bemerkenswert, daß sowohl die Paralysen mit Hinterstrang- wie die 
mit Seitenstrangerscheinungen zu einer solchen Art von Heilung gelangen 


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können. Der sichere Beweis ffir die Richtigkeit der Auffassung solcher 
Fälle als geheilter Paralysen läßt sich erst auf Grund der anatomischen 
Untersuchung erbringen. 

An den klinischen Beobachtungen müssen wir erstens die Bedingungen 
kennen lernen, unter denen es zu einer besonders vollkommenen und 
langdauernden Rückbildung der paralytischen Erscheinungen kommt. 
Vielleicht spielen außer der Hyperthermie und der Hyperleukozytose 
(bei fieberhaften Krankheiten) noch andere Dinge mit, die für das Zu¬ 
standekommen der Remissionen wesentlich sind. Zweitens ist auch aus den 
neuen Erfahrungen über die Verlaufseigentümlichkeiten der Paralyse 
und über die Abgrenzung dieser Krankheit die Warnung vor einer Täu¬ 
schung durch Scheinheilungen abzuleiten. Bonhoeffer und Oppenheim 
haben neuerdings wieder gezeigt, daß die Schwierigkeiten der Different ial- 
diagnose doch gerade bei den Fällen liegen, welche die „wetterleuchtende 
Bedingung“ von Alt erfüllen. Es ist Nonne s Forderung zu unterstützen, 
daß die Autoren, welche über Heilung oder Stationärwerden von Para¬ 
lysen berichten, uns von Zeit zu Zeit über ihre Beobachtungen an ^enen 
Fällen orientieren. Bei der Beurteilung des Effektes der Therapie hat 
man sich vor einer Überschätzung der Bedeutung der vier Reaktionen zu 
hüten; das Verhalten des Reaktionsbildes geht keineswegs dem allge¬ 
meinen Krankheitzustande parallel (Nonne). Alles das ist ganz besonders 
bei der Prüfung neuer Heilmittel in Rücksicht zu ziehen. 

Auch vom pathologisch-anatomischen Standpunkt 
aus ist die Heilungsmöglichkeit der Paralyse nicht auszuschließen. Selbst¬ 
verständlich kann es sich nur um eine Heilung mit Defekt handeln, jedoch 
lehren gerade die noch in späten Stadien beobachteten guten Remissionen, 
daß das Zentralorgan auch bei diesem diffusen Prozeß über eine weit¬ 
gehende Kompensationsmöglichkeit verfügt. Manche Veränderungen 
akuter Art dürften wohl auch reparabel sein wie z. B. gewisse Zell- 
erkrankungen. Vor allem aber wird das Testierende Gewebe in viel voll- 
kommererem Maße seine Funktion wieder auf nehmen können, wenn die 
akuten Veränderungen abgelaufen sind; wir sehen das ja besonders auch 
bei der multiplen Sklerose, die manche anatomische Ähnlichkeiten zur 
Paralyse aufweist. Auch bei der Tabes dorsalis kann der Prozeß aus¬ 
heilen. Vor allem aber ist bei der Paralyse selbst in gar nicht so seltenen 
Fällen ein Abklingen des Prozesses in diesen und jenen Partien des Ge¬ 
hirnes und damit ein Ausheilen unter „Narbenbildung“ festzustellen, 
sowohl was die degenerativen, wie was die infiltrativen Vorgänge anlangt. 
Aber es handelt sich da immer nur um ein lokales Ausheilen; in anderen 
Partien des Zentralorganes zeigen solche Fälle ein Weiterschreiten der 
Erkrankung. Als stationäre Paralysen können wir aber nur solche Fälle 
auffassen, in denen lediglich die irreparablen Veränderungen aufzufinden 
sind. Deshalb gehören nach Alzheimers Ausführung seine beiden Fälle 
mit ungewöhnlich langdauernder klinischer Remission resp. mit äußerst 


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protrahiertem Verlaufe nicht zur stationären Paralyse in diesem Sinne. 
Vielleicht haben nach Alzheimer gerade die Fälle von Paralyse die besondere 
Tendenz zu sehr langsamer Progression, bei denen die degenerativen 
Vorgänge vorherrschen. Die Erfahrungen bei der Tabes dorsalis, bei 
welcher es ja auch viel häufiger zu einem Stationärwerden des Prozesses 
kommt, und bei welcher doch auch die entzündlichen Erscheinungen 
gegenüber den degenerativen sehr zurücktreten, scheinen diese Vermutung 
zu stützen. Es wird darauf ankommen, klinisch gut geklärte Fälle ge¬ 
heilter oder stationär gewordener Paralysen ausführlich anatomisch zu 
analysieren, ehe man die Heilbarkeit der Paralyse sicher beweisen kann. 
Dabei wird man sich gegenwärtig halten müssen, daß die anatomische 
Diagnose einer lang abgelaufenen Paralyse nicht immer leicht sein dürfte. 

Der Tuczeksche Fall einer angeblich geheilten Paralyse hat bei der 
anatomischen Untersuchung bisher leider keine Klärung gefunden. Knob¬ 
lauch sah keine der Paralyse entsprechende Veränderungen, während nach 
Wissls Untersuchungen sichere paralytische Veränderungen festzustellen 
waren. 

Bezüglich der Ätiologie kann es hier nicht darauf ankommen, 
alle die endogenen und exogenen Momente aufzuführen, welche neben 
Syphilis in der Pathogenese der Paralyse von Bedeutung sein könnten 
(vgl. das Referat von Plaut und Fischer über die Lues-Paralyse-Frage). 
Wir haben auch heute keinen weiteren Aufschluß über die Frage gewinnen 
können, was zur Lues hinzukommen muß, damit sich eine Paralyse ent¬ 
wickelt. Vielleicht läßt sich diese Frage experimentell in Angriff 
nehmen, und da man nach Spirochäteninfektionen paralyseähnliche Ver¬ 
änderungen bisher nicht beobachtet hat, so wäre es vielleicht zweckmäßig, 
den Weg vergleichender Krankheitforschung zu 
beschreiten und bei den Trypanosomenkrankheiten dieser 
Frage nachzugehen. Auch wenn die Schaudinsche Hypothese von der 
Verwandtschaft zwischen Trypanosoma und Spirochäte unrichtig sein 
sollte, so zeigen doch die experimentell-therapeutischen Bestrebungen 
von Uhlenhuth, Ehrlich u. a., daß die Erfahrungen, die man bei Trypano¬ 
somenkrankheiten mit den Arsenmitteln gemacht hatte, sich mit großem 
Nutzen auf die Bekämpfung der Spirillosen übertragen ließen; und wir 
selber glauben den Beweis erbracht zu haben, daß auch für die pathologisch- 
anatomische Klärung der syphilogenen Nervenkrankheiten eine solche 
vergleichende Krankheitforschung von einigem Nutzen war. 

Vielleicht gelänge es, Klarheit über die Frage zu bekommen, ob es 
eine Syphilis ä virus nerveux gibt, welche bekanntlich den einen als 
bewiesen gilt, während sie die anderen ebenso entschieden ablehnen. Vom 
allgemeinen biologischen Standpunkte aus erscheint es keineswegs aus¬ 
geschlossen, daß es Spirochäten mit einer besonderen Affinität zum Nerven¬ 
system gibt. Bei Trypanosomen jedenfalls sehen wir, daß morphologisch 
nicht trennbare Erreger die allerverschiedensten Veränderungen bei ver- 


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schiedenen Tieren erzeugen. Wahrscheinlich stammen die pathogenen 
Trypanosomen von einer Ausgangform ab und haben in ihrer historischen 
Entwicklung je nach Umständen ihrer Weiterzucht diese und jene Eigen¬ 
schaften erworben. So erzeugen manche Trypanosomen vorwiegend 
Veränderungen des Blutes, der Drüsen, der Knochenhaut, während andere 
wie das Trypanosoma gambiense, beim Menschen häufig zentrale Er¬ 
krankungen auslösen. Ich selber beobachtete, daß ein Trypanosoma nach 
besonderen Tierpassagen eine spezielle Affinität zum Nervensystem 
erlangte, während es gewöhnlich zentrale Veränderungen nicht erzeugte. 
Es ist das jenes Trypanosoma Brucei, nach dessen Einimpfung bei Hunden 
die von mir sogenannte „Trypanosomentabes“ auftrat. Dieses Trypano¬ 
soma hat inzwischen seit etwa 4 Jahren die speziellen Eigenschaften ver¬ 
loren, so daß eine Trypanosomentabes bei den Hunden nicht wieder 
beobachtet wurde. Meines Erachtens sprechen diese Beobachtungen 
im Sinne einer „Trypanosomiasis k virus nerveux“. 

Auch die Spirochäten sind wie die Trypanosomen offenbar von sehr 
labiler Art und bilden leicht unter dem Einfluß äußerer Bedingungen 
verschiedenartige Rassen. Dafür sprechen die verschiedenen Formen 
des Rückfallfiebers, bei denen es sich auch um morphologisch gleichartige 
Erreger handelt, die jedoch different sind in ihrer Virulenz für Tiere und 
in ihren Immunitätsreaktionen. 

Aber auch bei der Trypanosomiasis wird eine scheinbare Regel¬ 
losigkeit beobachtet, mit welcher bald dieses, bald jenes Individuum 
von einer zentralen Erkrankung befallen wird. Nur etwa 1 bis 2 % meiner 
Versuchstiere zeigten Veränderungen vom Typus der Schlafkrankheit. 
Vielleicht gelingt es so experimentell auch die zweite Frage einer Klärung 
zuzuführen, ob und inwiefern hier individuelle Dispositionen 
mitwirken. Man wird vor allem im Sinne von Plaut zu untersuchen haben, 
ob solche Tiere über mangelhafte Schutzvorrichtungen verfügen, so daß 
es leichter zu jener Umstimmung der Gewebe kommt, welche sich in dem 
anatomischen Substrat der paralyseähnlichen Schlafkrankheit ausdrückt. 
Auch für die Kraepelin sehe Hypothese, daß die Paralyse eine Stoffwechsel¬ 
krankheit sei, und daß eine Organerkrankung das Zwischenglied 
zwischen Syphilis und Paralyse darstelle, wäre vielleicht so experimentell 
eine Prüfung möglich. 

Von Bedeutung für die Therapie ist schließlich, w T as wir von dem 
Wesen der Paralyse wissen. Viele halten sich wohl zu eng an 
den Strümpellschen Vergleich, daß die Paralyse eine „Nachkrankheit“ 
der Syphilis ist wie etwa die postdiphterische Lähmung nach einer Diph- 
terie. Eine so enge Fassung des Begriffes der Nachkrankheit ist nicht 
bewiesen, und gerade der Verlauf der Paralyse in Schüben und mit Re¬ 
missionen spricht neben manchem anderen gegen eine solche Auffassung. 
Vor allem weist auch das Vorhandensein der Wassermannschen Reaktion 
in fast allen Paralysen auf eine aktivere Tätigkeit des syphilitischen 


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Virus hin. Daß die Spirochäten bei der Paralyse bisher nicht nachgewiesen 
werden konnten, beweist nicht, daß nun der Paralytiker kein Spirochäten¬ 
träger mehr wäre. Auch bei experimenteller Schlafkrankheit fand ich 
am eklatantesten an einem früher von mir veröffentlichten Falle keine 
Erreger vor dem Ausbruche der zentralen Erkrankung und während 
derselben. — Die pathologische Anatomie kann zur Entscheidung der 
Frage, ob die Paralyse noch ein syphilitischer Prozeß oder nur eine Nach- 
krankheit der Lues sei, nicht herangezogen werden. Das haben Nissl 
und Erb für die Paralyse und Tabes mit großer Energie betont. Wir sind 
ja häufig nicht einmal in der Lage zu entscheiden, was syphilitisch ist 
(wir müssen uns vielmehr von der Klinik leiten lassen), noch weniger 
aber können wir anatomisch erklären, diese oder jene Veränderung sei 
nicht mehr syphilitischer Art. Auf dem Boden der Syphilis können die 
allerverschiedensten zentralen Erkrankungen entstehen, und wir haben 
nicht die Möglichkeit oder das Recht zu sagen, bis dahin handle es sich um 
echt syphilitische Prozesse, und von da ab gälte uns die Erkrankung nur 
noch als Nachkrankheit der Syphilis. Selbstverständlich stellt die Paralyse 
einen eigenartigen anatomischen Prozeß dar, der auch von den gewöhn¬ 
lichen Formen der Hirnsyphilis abgegrenzt werden kann, aber wir sehen 
darin nicht eine Nachkrankheit, sondern einen syphilitischen 
Prozeß besonderer Art. Es handelt sich hier wohl im wesent¬ 
lichen um eine Nomenklaturfrage, die einer Lösung keine besonderen 
Schwierigkeiten machen wird, wenn man sich der Eigenart jener verschie¬ 
denen Prozesse bewußt bleibt. 

Für eine systematische chemotherapeutische Beeinflussung der 
Paralyse ist es natürlich von besonderer Bedeutung, ob wir in der Paralyse 
nur eine Nachkrankheit oder noch einen syphilitischen Prozeß sehen. 
Im ersteren Falle wäre die Anwendung eines spirillotropen Mittels sinnlos. 
Aber vielleicht beruht das gegen unsere bisherigen Arzneimittel refraktäre 
Verhalten der Erreger im paralytischen Organismus auf besonderen Ver¬ 
änderungen derselben (Hocke). Ehrlich betont, daß das eigenartige Ver¬ 
halten mancher Trypanosomen gegen Arsenpräparate die Durchführung 
einer systematischen Therapie außerordentlich erschwere. Es gibt von 
Natur aus arsen- und quecksilberfeste Stämme, wie die Erfahrungen 
über die Trypanosomiasis im Kongogebiet (Broden u. a.) lehren. Und 
vielleicht spielen gerade solche natürlichen oder im infizierten Organismus 
erworbenen Eigentümlichkeiten der Spirochäten bei dem Paralyseerreger 
eine Rolle. 

Vor allem wird es noch darauf ankommen, das Arzneimittel so im 
Organismus zu verteilen, daß der Erreger auch tatsächlich g e • 
troffen wird. Bekanntlich stellen die Meningen eine schwer über¬ 
windbare Scheidewand unseren Arzneimitteln entgegen, und vielleicht 
erklären sich zum Teil die Mißerfolge unserer Therapie bei der Paralyse 
aus dieser mangelhaften Permeabilität der Meningen gegenüber den ver- 


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schiedenen Medikamenten. Auch bei der Schlafkrankheit scheint nach dem 
Urteile verschiedener Sachverständiger eine Hauptschwierigkeit in der 
therapeutischen Bekämpfung darin zu liegen, daß die Arzneipräparate 
nicht in den Liquor und die Zentralorgane überzugehen pflegen. Nur das 
Trypanosomenfieber des Menschen ist wie die Syphilis mit Erfolg heilbar; 
dagegen erscheint es ebenso wie bei der Paralyse bisher bei voll entwickelter 
Schlafkrankheit unmöglich, die Erkrankung zu heilen, — worin ich wieder 
eine wichtige verwandtschaftliche Beziehung zwischen Schlafkrank¬ 
heit und Paralyse sehe. 

Alle diese Erfahrungen und Erwägungen konnten nicht dazu führen, 
einen neuen Weg für die Behandlung der Paralyse ausfindig zu machen; 
sie sollen lediglich die Richtlinien geben für den Versuch einer systematischen 
Behandlung dieser Krankheit. (Der Vortrag wird im Archiv für Psychiatrie 
veröffentlicht werden.) 

2. E. Meyer-Königsberg: Vortr. behandelt die rein praktische 
Seite der Frage. Er erinnert zuerst daran, daß früher hydrotherapeutische 
Eingriffe, Blutentziehung und andere ableitende Mittel in der Annahme 
entzündlich hyperämischer Gehirnzustände bei der Paralyse viel ver¬ 
wendet wurden, und weist dann hin auf das Verfahren voni. Meyer, künst¬ 
liche Eiterung durch Einreiben von Brechweinsteinsalbe auf den Schädel 
zu erzielen. Um eine weitere Unterlage für die Bewertung der jetzt noch 
im Gebrauch befindlichen Behandlungsarten der Paralyse zu gewinnen, 
hat Meyer bei den psychiatrischen Anstalten und Kliniken in Deutsch¬ 
land, Österreich-Ungarn und der Schweiz eine Umfrage veranstaltet. 
Von den 141 Antworten enthielten 66 die Mitteilung, daß keine Behand¬ 
lungsversuche unternommen waren; 75 berichten über die Verwendung 
verschiedener Methoden. 

Die jetzt am meisten angewendeten Behandlungsversuche sind 
entweder allgemein gegen toxische und Autointoxikationsvorgänge 
gerichtet, die bei der Paralyse ja sicherlich eine große Rolle spielen, oder 
gegen die Syphilis, die spezifische Grundlage der Paralyse. Bei 
ersterer Gruppe sind einmal zu nennen: die Salzinfusionen Donaths, ferner 
besonders die Tuberkulinbehandlung nach v. Wagner-Pilcz. Diese Ver¬ 
fahren beruhen darauf, daß nach akuten Infektionskrankheiten usw. 
auffallende Besserung und Remissionen bei der Paralyse verhältnismäßig 
häufig eintreten. Sie schließen sich in gewisser Weise an die von L. Meyer 
versuchte Behandlung an. Sie wollen „allgemein-*, nicht spezifische Gegen¬ 
wirkungen“ hervorrufen, wie das durch Temperaturerhöhung, Vermehrung 
der Leukozyten usw. geschieht. Meyer berichtet, daß Pilcz nach seinen 
verschiedenen Mitteilungen sehr günstige Erfolge aufzuweisen hat. Bei 
der Umfrage ergab sich, daß die niederösterreichischen Landesanstalten 
am Steinhof auf Grund großen Materials ebenfalls im ganzen befriedigende 
Resultate bei dieser Behandlung gewonnen haben. Von einigen Seiten 
sind auch neuerdings Bakterienvaccine, von demselben Prinzip ausgehend. 


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bei der Paralyse versucht. Meyer hat nach allem den Eindruck, daß 
sich nach der Tuberkulinkur, die zu wesentlichen Schädigungen nicht 
führt, verhältnismäßig häufig Besserungen und Remissionen einstellen. 

Da die Erfahrung lehrt, daß ebenso wie Eiterungen und Infektions¬ 
krankheiten auch gewisse Stoffe, z. B. Nukleinsäure, die antitoxische 
Resistenz des Organismus stärken, so haben Fischer und Donath Versuche 
mit nukleinsaurem Natron bei Paralyse gemacht. Die Resultate, die teils 
veröffentlicht sind, teils aus der Umfrage sich ergeben, sind recht abweichend, 
so daß ein abschließendes Urteil wohl noch nicht möglich ist. Meyer 
erinnert dann kurz an die Theorien und Versuche von F. Robertson und seiner 
Schüler, die außerhalb Englands im ganzen zu sehr wenig Nachunter¬ 
suchungen geführt haben. 

Er geht dann über zu den Verfahren, die sich gegen die syphilitische 
Infektion wenden, von der Annahme ausgehend, daß ohne Syphilis eine 
Paralyse nicht möglich ist. In beginnenden Fällen kann eine vorsichtige 
Quecksilberkur ohne Bedenken erfolgen; in jedem zweifelhaften Falle 
erscheint sie geboten. Auch Jodpräparate werden noch heute öfter bei der 
Paralyse angewandt, schon mit Rücksicht auf die Möglichkeit, daß eine 
Lues cerebrospinalis vorliegt. 

Meyer wendet sich dann dem Salvarsan zu, betont aber vorher, 
daß die besondere Stellung der Paralyse gegenüber den eigentlichen 
syphilitischen Erkrankungen des Zentralnervensystems von vornherein 
bei der Beurteilung der Resultate der Salvarsantherapie wie auch der 
Quecksilber- und Jodbehandlung in Rechnung gezogen werden müsse. 

Zuerst weist Meyer darauf hin, daß das Salvarsan im Atoxyl, Arsacetin 
usw. Vorläufer gehabt hat, die ebenfalls in der Ehrlichschen Chemotherapie 
ihre Grundlage fanden. Bei der Salvarsanbehandlung ist auch zu beachten 
die Leukozytose, ferner die Beeinflussung des Lezithinstoffwechsels und 
die allgemein roborierende Wirkung. Eine Übersicht über die Resultate 
bei der Paralyse ist schwer zu geben, da die Mitteilungen vielfach sehr 
zerstreut sind. 

Von Ehrlich und Alt ist darauf hingewiesen, daß nur der allererste 
Beginn der Paralyse einen Behandlungserfolg erwarten lasse. Der Ein- 
wand ist nicht unberechtigt, daß eine Abgrenzung „beginnender Paralyse“ 
sehr schwer ist, und daß an sich nicht einzusehen ist, warum es nicht bei 
einem Mittel, das überhaupt erfolgreich ist, zu einem Stillstand im Verlauf 
der Entwicklung kommen könnte. 

Meyer gibt dann einen Überblick über die Literatur der Salvarsan¬ 
behandlung bei der Paralyse, wobei sich herausstellt, daß eine Reihe 
günstiger Mitteilungen zahlreichen mit entgegengesetztem Ergebnis 
besonders aus der letzten Zeit gegenüberstehen. Meyer gibt auch einen 
kurzen Überblick über die Kontraindikationen bei der Salvarsantherapie 
und die ungünstigen Folgeerscheinungen, die danach beobachtet sind. Die 
Umfrage zeigte, daß 286 mal Salvarsan bei Paralyse in den betreffenden 


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Anstalten und Kliniken angewandt war. Nur 4 mal wurde von einer ge¬ 
wissen Besserung, 13 mal von einer Remission berichtet, doch ist zu 
bedenken, daß in einem großen Teil der Fälle nur kleine Dosen angewendet 
waren und auch recht fortgeschrittene Fälle zum Teil behandelt wurden. 

Nach Erwähnung einiger anderer Behandlungsversuche und dem 
Hinweis, daß die vergleichende biologische Forschung auch therapeutisch 
vielleicht zukunftvoll sei, versucht Meyer eine Gesamtzusammen¬ 
fassung zu geben. Eine solche ist freilich durch die Remissionen 
und die Unberechenbarkeit im Verlaufe der Paralyse sehr erschwert. 
Die Frage, ob eine der im Gebrauch befindlichen Behandlungsmethoden 
der Paralyse auf die Dauer das Fortschreiten des paralytischen Krank¬ 
heitprozesses zu mindern imstande sei, glaubt Meyer, nach dem vorliegen¬ 
den Material nicht bejahen zu können. Die weitere Frage, ob wenigstens 
ein günstiger Einfluß der jetzt gebräuchlichen Behandlung* 
versuche, und bejahendenfalls, welcher, festzustellen sei, möchte Meyer nicht 
ohne weiteres verneinen. Die Möglichkeit günstiger Beeinflussung 
sei zuzugeben. Zurzeit liegen die besten Resultate von der Wagner-Piltz 
sehen Tuberkulinbehandlung vor. Am zweckmäßigsten seien Versuche 
mit einer Kombination der Verfahren, welche die syphilitische 
Infektion bekämpfen, mit denen, die die Erzielung allgemeiner, nicht 
spezifischer Gegenwirkungen im Auge haben. Schäden wesentlicher Art 
stiften die Behandlungsversuche unter Einhaltung aller Kautelen nicht. 
Nach alledem hält Meyer therapeutische Versuche in dem besprochenen 
Sinne jedenfalls für berechtigt, ja, er sieht es bei der Paralyse als Aufgabe 
der Psychiater an, therapeutische Versuche, die keine wesentliche Schädi¬ 
gung befürchten lassen, anzustellen, wenn auch nur die Möglichkeit einer 
günstigen Einwirkung durch sie vorhanden ist. 

Zum Schlüsse hebt Meyer die große Wichtigkeit der Vorbeugung 
der Paralyse hervor, die durch die neueren Forschungen in mancher 
Richtung hoffnungvoller sei, und mit der eine zweckmäßige Rassenhygiene 
zur Hebung der Widerstandkraft des Organismus Hand in Hand gehen 
müsse. (Ausführliche Veröffentlichung im Archiv für Psychiatrie.) 

Die Diskussion wird ausgesetzt bis nach Anhörung der Vor¬ 
träge von Schröder, Eichelberg, Friedländer. 

P. Schröder- Breslau: Remissionen bei progressiver 
Paralyse. 

Die Paralyse verläuft nur selten gleichmäßig progredient vom 
ersten Beginn bis zum Tode; Schwankungen, plötzliche Verschlimme¬ 
rungen, weitgehende Besserungen, anscheinende Stillstände sind häufig: 
ebenso häufig ist ein Wechsel in der Art des Zustandbildes. Remissionen 
schließen sich fast stets an voraufgehende Exazerbationen an; sie kommen 
zustande durch das Abklingen akuter Verschlimmerungen und die Rück¬ 
kehr zum Status quo ante. Das Studium der Remissionen bei Paralyse 
hat auszugehen von den Exazerbationen. 


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Als die gröbsten, perakuten Exazerbationen können die paralytischen 
Anfälle gelten. Ihnen stehen nahe die gleichfalls häufigen, oft nur kurz¬ 
dauernden, andere Male sich lang hinziehenden, deliranten und deliriösen 
Zustände, welche in späteren Stadien nicht selten als bloße Schwankungen 
in Luzidität und Besonnenheit der Kranken zutage treten. 

Bei einer weiteren Gruppe von Exazerbationen stehen motorische 
Symptome im Vordergrund, sowohl akinetische wie hyperkinetische, 
ähnlich den verwandten Zuständen bei Epilepsie, bei schweren toxischen 
und infektiösen Prozessen. Von den manischen Erregungen bei Paralyse 
hat ein großer Teil wahrscheinlich enge Beziehungen zu den deliriösen 
und katatonischen Zuständen; bei anderen kann als endogener ursäch¬ 
licher Faktor eine manisch-depressive Veranlagung mitspielen. Das gleiche 
gilt möglicherweise für einen Teil der abgesetzten initialen Depressions¬ 
zustände und der anfangs „zirkulär“ verlaufenden Fälle von Paralyse. 

Das Material der Breslauer Klinik, das Vortr. durchgesehen hat 
(etwa 170 Paralysen mit 8 bis 10% guter Remissionen), spricht für die 
Richtigkeit der anfangs gegebenen Auffassung von den Remissionen; 
es enthält nur Fälle, bei denen nachweislich die Remission nichts ist als 
das Abklingen akuterer Symptomreihen (Exazerbationen), es enthält 
keinen Fall von Besserung im Verlauf einer langsam progredienten Demenz 
ohne akute Schübe. „Blödsinn“ wird oft vorgetäuscht durch die Kritik¬ 
losigkeit der Größenideen in der paralytisch-manischen Erregung oder 
durch die Stumpfheit in Hemmungszuständen. Akute Exazerbationen 
können bereits in sehr frühen Stadien eine Paralyse manifest machen, 
zu einer Zeit, in der sonst noch nichts sicher Paralytisches nachweisbar ist; 
die Remissionen nach dem Abklingen solcher sehr frühen ersten Attacken 
pflegen besonders gut zu sein. 

Die Beachtung des schubweisen Verlaufes und der Exazerbationen 
bei sehr vielen Paralysen schützt vor Fehlschlüssen bezüglich der thera¬ 
peutischen Beeinflußbarkeit des Leidens. Die Beeinflußbarkeit der Exa¬ 
zerbationen hat mit der Therapie des paralytischen Prozesses selber nichts 
zu tun. 

Eichelberg -Göttingen: Die Bedeutung der Unter¬ 

suchung der Spinalflüssigkeit. 

E. berichtet über Erfahrungen, die er bei Untersuchungen von 
1020 Spinalflüssigkeiten und von 3200 Blutseren gemacht hat. Er kommt 
zu folgenden Schlüssen: 

Eine leichte Drucksteigerung der Spinalflüssigkeit bis auf 200 mm 
allein deutet nicht auf eine organische Erkrankung des Zentralnerven¬ 
systems hin. 

Therapeutisch ist die Lumbalpunktion nur von Nutzen bei den 
verschiedenen Meningitiden, besonders bei der Meningitis serosa. Bei 
Gehirntumoren wird durch die Lumbalpunktion nur eine ganz kurz dauernde 
Druckentlastung geschafTen. 

Zeitechrift für Psychiatrie. LXIX. 5. 51 


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Eine Zellvermehrung in der Spinalflüssigkeit findet sich bei Paralyse 
regelmäßig, bei Tabes und Lues cerebrospinalis in etwa 90 % der Fälle. 
Außerdem kommt dieselbe aber auch häufig (in etwa 40 %) nach einer 
überstandenen Lues vor, ohne daß eine luische oder metaluische 
Erkrankung des Zentralnervensystems vorliegt. Auch bei multipler 
Sklerose, Hydrozephalus und Tumoren findet man öfter eine Zellver¬ 
mehrung. 

Von den Untersuchungen der Spinalflüssigkeit auf Eiweiß Vermehrung 
gibt die praktisch zuverlässigsten Resultate die Nonne-Appelts che Reaktion. 
Sie kommt vor in etwa 94% der Fälle von Paralyse, in 92% bei Tabes 
und in 80% bei Lues cerebrospinalis. Man findet sie auch vereinzelt bei 
anderen organischen Erkrankungen des Zentralnervensystems, doch 
kommt sie niemals vor bei funktionellen Nervenerkrankungen, auch wenn 
eine Lues vorausgegangen ist. Nur bei frischen Fällen von Lues kann 
dieselbe auch positiv sein. 

Die Wassermannsche Reaktion ist am zuverlässigsten in ihrer Original¬ 
methode, doch kann für wässerigen Leberextrakt ebensogut alkoholischer 
Organextrakt verwandt werden. Die Wassermannsche Reaktion im Blut¬ 
serum kommt auch bei Leuten vor, die Lues nicht selbst gehabt haben, 
die aber heredtär syphilitisch gewesen sind. E. hat 150 Idioten auf die 
Wassermannsche Reaktion untersucht. In 12 % der Fälle war die Reaktion 
positiv. Bei 43 Kindern, die geistig und körperlich gesund waren, die aber 
von sicher syphilitischen Eltern stammten, war die BPassermannsche 
Reaktion in 15% der Fälle positiv. Es ist aber nicht anzunehmen, daß 
beim Zustandekommen der Idiotie die Syphilis wirklich eine sehr große 
Rolle spielt. Die Wassermann sehe Reaktion im Blutserum war positiv 
in 97 % der Fälle von Paralyse und in etwa 90 % der Fälle von Tabes und 
Lues cerebrospinalis. 

Die Wassermannsche Reaktion der Spinalflüssigkeit wurde positiv 
gefunden in 98% der Fälle von Paralyse, in 48% der Fälle von Tabes 
und in etwa 8 % von Lues cerebrospinalis. Durch die „höhere Auswertung 
des Liquors“ nach Zeißler und Hauptmann scheint es möglich zu sein, 
differential-diagnotisch zwischen Paralyse und Lues cerebrospinalis 
weiter zu kommen. E. hat bei zwei Fällen von einwandfreier multipler 
Sklerose, jedoch bei Verwertung von 0,6 ccm Liquor die Reaktion positiv 
erhalten. 

Die Befunde von Weil und Kafka über den Hämolysingehalt der 
Zerebrospinalflüssigkeit kann E. im allgemeinen bestätigen. 

Um einen Prüfstein für das therapeutische Handeln zu bekommen, 
ist es wichtig festzustellen, was aus den Fällen von Lues wird, bei denen 
nach Behandlung noch Vermehrung der Zellen und auch des Eiweiß - 
gehaltes in der Spinalflüssigkeit festgestellt werden kann. Ebenso ist es 
wichtig, die Fälle, bei denen trotz energischer Behandlung die Wasser¬ 
mannsche Reaktion im Blutserum nicht negativ wird, weiter zu verfolgen. 


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E. hat zwei Fälle von Lues gesehen, bei denen lange Zeit die Wasser- 
mannsche Reaktion negativ war, die Spinalflüssigkeit normalen Befund 
ergab, und bei denen später dann doch eine Paralyse mit positivem Wasser¬ 
mann und dem spezifischen Befund in der Spinalflüssigkeit eintrat. 

Durch Quecksilberkuren, Salvarsaninfektionen und Tuberkulin¬ 
behandlung scheinen die verschiedenen Reaktionen bei Paralyse und Tabes 
nur vereinzelt beeinflußt zu werden. Bei der Lues cerebrospinalis kann 
durch die Quecksilberkur und in selteneren Fällen auch durch Salvarsan- 
behandlung die Reaktion zum Schwinden gebracht werden, doch gibt 
es auch hier Fälle, bei denen trotz energischer Behandlung die verschiedenen 
Reaktionen positiv bleiben. (Vortrag erscheint in der Med. Klinik.) 

Friedländer -Hohe Mark: Über die Einwirkung fieber¬ 
hafter Prozesse auf metaluische Erkrankungen 
des Zentralnervensystems. 

Die Tatsache, daß fieberhafte Krankheiten Geisteskrankheiten 
günstig beeinflussen können, läßt sich an zahllosen Fällen aus der älteren 
wie aus der neueren Literatur erweisen. Der Umstand, daß der Typhus 
in der erwähnten Beziehung an erster Stelle steht, veranlaßte den Vortrag, 
seinerzeit in der Jenenser Klinik an Stelle der von Binsivanger angewandten 
abgetöteten Kulturen von Bakterium coli solche des Typhusbazillus 
anzuwenden. Da ein fiebererzeugendes Typhusbazillenpräparat späterhin 
nicht mehr zu erlangen war, bzw. die abgetöteten Kulturen, welche von 
Ehrlich und Neißer zur Verfügung gestellt wurden, keine Reaktion er¬ 
zeugten, so wandte der Vortr. später, dem Beispiel Wagners folgend, 
das KoeÄsche Tuberkulin an und zwar in der Weise, daß er in den meisten 
Fällen mit einer Dosis von0,0005 bis 0,001 begann, um zunächst eine 
eventuelle tuberkulöse Reaktion abwarten bzw. ausschließen zu können. 
Trat kein oder nur geringes Fieber auf, so wurde nach 2 Tagen eine Dosis 
von 0,005 bis 0,007 verabfolgt. Trat eine Reaktion auf, wenn auch nur 
bis 37*, so wurde nach den Temperaturabfä'llen die gleiche oder eine etwas 
höhere Dosis injiziert. Langsam wurden dann die Mengen gesteigert 
bis auf 0,1, 0,2, 0,3, auch darüber. Als gelungen betrachtetet, die Be¬ 
handlung, wenn es gelang, Temperaturen bis zu 39° mit steilem Aufstieg 
und ebensolchem Abfall zu erzielen. Zu achten ist auf die kumulierende 
Wirkung. Kranke mit sehr schlechtem Ernährungszustand, stärkeren 
Herz- oder Nierenkrankheiten schloß F. von der Behandlung aus. Selbst¬ 
verständlich wurde dabei das Allgemeinbefinden, der Puls usw. genauestens 
kontrolliert. Nebenbei wurden feuchte Einpackungen, Bäder und Massagen 
je nach den individuellen Verhältnissen verordnet und auf reichliche 
Ernährung sowie geregelten Stuhlgang gesehen. In verschiedenen Fällen 
wurde die Injektionskur allein verordnet, in anderen mit einer Queck¬ 
silberbehandlung kombiniert. Unangenehme Nebenerscheinungen ernsterer 
Art wurden nicht beobachtet. Einigemale zeigten sich an den Injektions¬ 
stellen (des Oberarms oder Oberschenkels) Infiltrate, die jedoch niemals 

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zu Eiterungen führten, vielmehr durch Alkoholumschläge wirksam be¬ 
kämpft werden konnten. In einem einzigen Falle traten bei einem Kranken, 
der die verordnete Bettruhe sehr mangelhaft einhielt, Erscheinungen 
schwacher Herztätigkeit auf, jedoch kann der Zusammenhang dieser mit 
den Injektionen durchaus nicht als sicher gestellt angesehen werden. 
Manche Kranke hatten von den Injektionen überhaupt keine Schmerzen, 
andere klagten über leichte ziehende Beschwerden. Der Vortr. beschränkt 
sich darauf, von allen seinen Fällen nur zwei herauszugreifen, bei denen 
er den Krankheitverlauf eingehender darstellt. 

Den einen Fall beobachtete er durch mehr als 3 Jahre ununter¬ 
brochen bis zu dem Tode des Kranken. Bei diesem handelte es sich um 
eine typische Taboparalyse, im Verlaufe welcher unter anderem die Pupillen 
lichtstarr wurden und die Kniereflexe verschwanden. In unmittelbarem 
Anschluß an die Injektionskur zeigten beide Pupillen mäßig schnelle, 
jedoch ausgiebige Reaktion auf Licht und wurden die Kniereflexe beider¬ 
seits auslösbar. Vortr. kann auf weitere sehr interessante Einzelheiten 
an dieser Stelle nicht eingehen und möchte nur bemerken, daß die In¬ 
jektionskur bei diesem Kranken mehrfach wiederholt und mit einer Schmier 
kur kombiniert wurde, und daß die Pupillen noch 3 Tage vor dem Tode 
Reaktion zeigten. 

In dem zweiten Falle handelte es sich um einen Kranken, der von 
einem der ersten Nervenärzte der betreffenden Stadt mit der Diagnose 
progressive Paralyse in die Klinik des Vortragenden eingewiesen wurde. 
Der Kranke zeigte bei der Untersuchung am 8. Mai 1911: 

Die linke Pupille ist absolut licht starr, die rechte reagiert träge, 
die Kniereflexe sind different und sehr schwach auslösbar. Der Wassermann 
ist positiv. In psychischer Beziehung zeigt der Kranke schwere Depression, 
leichte Erschöpfbarkeit, er hält sich für hoffnunglos krank, klagt über 
schlechtes Gedächtnis und ist sehr schwer zu sprachlichen Äußerungen 
zu bewegen. 

Am 15. Mai beginnt die Injektionskur mit 0,005, steigend bis 0,3 
bei der 11. und letzten Injektion am 19. Juni. Die höchste Temperatur 
betrug 39,4. Anfang Juni zeigt sich der Beginn der Besserung in psy¬ 
chischer Beziehung. Am 20. Juni ist die Reaktion der rechten Pupille 
besser, am 30. Juni beginnt die Quecksilberkur, die am 4. August beendet 
wird. Anfang Juli benimmt sich der Kranke durchaus unauffällig, er 
verkehrt in der Gesellschaft, macht zunehmende Spaziergänge, glaubt, 
daß er gesunden wird, beginnt wieder anseine frühere Tätigkeit zu denken. 
Der sehr gestörte Schlaf ist ohne Medikation gut. Patient verträgt sogar 
einen ziemlich schweren Eisenbahnunfall, bei welchem er mehrfache 
schmerzhafte Quetschungen des Brustkorbes und Verletzungen der 
Extremitäten erlitten hat, ohne daß sein psychisches Befinden darunter 
leidet. Die Reaktion der Pupillen wird allmählich besser. Vor seiner 
Entlassung ist folgender Befund erhoben worden: 


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Die rechte Pupille reagiert prompt und ausgibig, die linke reagiert 
ebenfalls, jedoch wenig ausgiebig. Die Kniereflexe sind beiderseits gleich 
und deutlich auslösbar ohne Hilfsmittel. Der Wassermann ist negativ. 
Der Kranke erscheint der ihn begleitenden Frau vollkommen gesund. 
Er hat nach kurzer Zeit in zunehmendem Maße seine Tätigkeit wieder 
aufgenommen. 

Der Vortr. ist sich dessen bewußt, daß man in der Deutung der oben 
angegebenen Befunde außerordentlich vorsichtig sein muß. Er legt auch 
viel weniger Gewicht auf die Besserungen in psychischer Beziehung, weil 
gerade die Taboparalyse und in geringem Grade die progressive Paralyse 
oftmals Remissionen aufweisen, die Heilungen vortäuschen können. Es 
ist auch bekannt, daß die Tabes häufig Schwankungen bezüglich der 
Pupillenbefunde und der an den Sehnenreflexen zeigt, welche sich zuweilen 
über viele Jahre erstrecken. Nicht bekannt ist dem Vortr. ein gleiches 
bezüglich so schwerer Fälle von Taboparalyse und progressiver Paralyse, 
wie er solche der Injektionsbehandlung unterworfen hat. Wenn nun in 
den verschiedenen Fällen, von denen der Vortr. aus Raummangel nur 
zwei angeführt hat, in mehr oder minder direktem Anschluß an das Fieber 
die bis dahin fehlenden oder stark herabgesetzten Pupillen- und Sehnen¬ 
reflexe wiederkehrten, so dürfte doch der Schluß gerechtfertigt sein, daß 
diese Besserungen mit der Therapie in einen direkten Zusammenhang 
zu bringen sind. (In dieser Hinsicht hege er überhaupt keinen Zweifel 
bezüglich des zweiten Falles.) Nur müsse die Frage offen gelassen werden, 
ob die Diagnose der progressiven Paralyse zutreffend war, oder ob es sich 
um eine Form der Lues cerebri gehandelt hat, und zwar gerade mit Rück¬ 
sicht darauf, daß die vorher positive Wassermannreaktion innerhalb 
weniger Monate negativ wurde. Der Vortr. kann sich auch nicht ent¬ 
schließen, das Verschwinden der Wassermannreaktion mit der Fieber¬ 
therapie in Verbindung zu bringen, sondern er glaubt hierfür die Queck¬ 
silberbehandlung verantwortlich machen zu müssen. Der Vortr. glaubt, 
daß aus seinen zurückhaltenden Schlußfolgerungen zu ersehen ist, daß 
er weit davon entfernt ist, vorläufig der Fiebertherapie (wie er sie kurz 
nennen möchte) bereits jene Bedeutung zuzuschreiten, wie dies Pila 
in seinen letzten Veröffentlichungen getan hat. Die bisherigen Erfolge 
erlauben keinesfalls auch nur im entferntesten die Möglichkeit zu be¬ 
haupten, daß mit dieser Therapie Heilung einer progressiven Paralyse 
bereits einwandfrei nachgewiesen sei. Wenn es aber nur gelingen sollte, 
besonders bei noch nicht zu weit fortgeschrittenen Fällen, den Eintritt 
einer Remission zu beschleunigen und diese selbst zu vertiefen bzw. zu 
verlängern, so scheint diese Methode einer ausgiebigen Anwendung wert 
zu sein. 

Klemens Bergl- Prag: Über das Verhalten des Liquor 
cerebrospinalis bei Luikern. 

B. untersuchte in 30 Fällen von florider Lues Blutserum und Liquor 
mittels der „vier Reaktionen“ und kam zu folgenden Resultaten: 


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Das Blutserum zeigte in allen Fällen Komplementbindung. 
Pleozytose im Liquor fand sich in 18 Fällen (= 60%). 


Von diesen hatten: 

10 Fälle Pleozytose allein .( = 33,4 %) 

3 Fälle Pleozytose und Ph. I. + ( = 10,0 %) 

4 Fälle Pleozytose und Wasser¬ 

mann im Liquor +.( = 13,3 % ) 

1 Fall alle 4 Reakt. + .(= 3,3 %) 

( = 60 , 0 %) 


Außerdem wurde das prozentuelle Verhältnis der Lymphozyten 
zu den polynukleären Leukozyten festgestellt und gefunden, daß die Zahl 
der letzteren durchschnittlich 53 % der Gesamtzahl betrug. Nur in 8 Fällen 
fanden sich weniger als 25 % polynukleäre Leukozyten und auffälligerweise 
fanden sich in diesen Fällen entweder klinisch nachweisbare nervöse 
Störungen oder Globulinvermehrung + Wassermann im Liquor oder 
beides. 

Die Resultate geben auf die zugrunde gelegte Frage nach dem mittels 
der vier Reaktionen nachweisbaren Beginn der metaluischen Zerebral¬ 
erkrankungen keine verwertbare Antwort, sind aber geeignet, die Ansicht 
zu stützen, daß die Pleozytose die Folge eines — je nach Uberwiegen 
oder Zurücktreten der polynukleären Leukozyten — akuten oder mehr 
chronischen spezifischen entzündlichen Prozesses in den Meningen ist. 

Die Fälle mit manifesten nervösen Erscheinungen — also vor allem 
jene mit polynukleären Leukozyten unter 25% — legen den Gedanken 
an eine Beteiligung des Parenchyms des Cerebrums an dem Krankheit¬ 
prozeß nahe. 

B. teilt außerdem eine neue Methode zur Herstellung quantitativ 
exakt auszählbarer, gefärbter Trocken-, also Dauerpräparate mit. 

Diskussion. — Tuczek -Marburg: Die Referate über die Behand¬ 
lung der Paralyse nahmen naturgemäß ihren Ausgangpunkt von der 
Frage der grundsätzlichen Heilbarkeit der Paralyse. Das ist der Grund, 
weshalb ich gleich zu Anfang der Diskussion mit wenigen Worten auf den 
von Herrn Spielmeyer erwähnten Fall eingehen möchte, den ich im Jahre 
1884 als Anhang zu meinen Studien über die Paralyse unter der Bezeich¬ 
nung: „Ein geheilter Paralytiker“ veröffentlicht habe. Ich schicke voraus, 
daß ich das Material zu diesem Fall nicht nochmals eingesehen habe, 
daher aus dem Gedächtnis heraus berichte. Die damals von mir gegebene 
Schilderung der Krankheit auf ihrer Höhe habe ich der Darstellung des 
Herrn Siemens aus seiner Marburger Zeit entnommen. Die Besserung, 
die dann bis zu dem als Genesung bezeichneten Grade fortschritt, bahnte 
sich an nach einem schweren phlegmonösen Prozeß. Ich habe dann den 
Kranken fortdauernd bis zu seinem Tode im Auge behalten und wiederholt, 
zum Teil mit Herrn Knoblauch -Frankfurt a. M., untersucht. Er wurde 
tabisch und mußte sich bald pensionieren lassen. In seiner letzten Lebens- 


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periode bot er das Bild fortschreitender seniler Demenz. Seit jener Pu¬ 
blikation und dem Zeitpunkt der Sektion hat sowohl die klinische wie 
die anatomische Diagnostik der Paralyse eine derartige Verfeinerung 
und Ausreifung erfahren, daß dem Maßstab, der heute angelegt werden 
müßte, der Fall kaum gewachsen sein möchte. Die Differentialdiagnose 
zwischen Paralyse und paralyseähnlichem Herd einer Hirnlues würde 
heute eine strenge Prüfung herausfordern. Eine noch eingehendere, etwa 
auch durch experimentell-psychologische Untersuchung ergänzte Prüfung 
der Intelligenz des Genesenden würde vielleicht doch eine Heilung mit 
Defekt ergeben haben. Und, wenn es sich etwa um einen Mann mit einem 
verantwortlicheren Beruf und höheren Anforderungen an Anpassungs¬ 
fähigkeit gehandelt hätte, würde vielleicht die Lebensprobe doch Defekte 
ergeben haben. 

Zum anatomischen Befund trage ich nach, daß sich im Stirnhirn 
eine Lichtung des Fasergehaltes eigab. Dieser Befund ist, wie wir heute 
wissen, nicht eindeutig; größere Bedeutung kommt der Nißlschen Fest¬ 
stellung an den Ganglienzellen zu. Doch fehlt gerade die jetzt so bedeutsam 
gewordene Untersuchung der feineren Strukturverhältnisse des Zwischen¬ 
gewebes. Vielleicht läßt sich das noch nachholen. Ich möchte meine 
heutige Stellungnahme zu dem Fall so formulieren, daß, wenn ich ihn 
heute zu veröffentlichen hätte, ich vielleicht das Wort „geheilter“ in 
Gänsefüßchen fassen würde. 

Fischer-Prag teilt mit, daß sich nach seinen Erfahrungen aus der 
letzten Zeit die Resultate der Nuklein- und Tuberkulintherapie gleich 
günstig zeigen; er empfiehlt auch abwechselnd Nuklein und Tuberkulin 
zu injizieren, da man dann mit geringeren Dosen auskommt. Die günstigen 
Erfahrungen von Wagners mit der kombinierten Hg-Behandlung haben 
ihn veranlaßt, nach einer Kombination von Quecksilber und Nuklein zu 
suchen; ein derartiges Präparat, das Nukleinquecksilber der Gesellschaft 
für chemische Industrie in Basel, hat F. gerade in Verwendung; dasselbe 
zeichnet sich dadurch aus, daß es eine besonders hohe Leukozytose macht, 
und die bisherigen Erfolge scheinen viel zu versprechen. 

F. betont, daß es einstweilen noch notwendig sein wird, ganz syste¬ 
matisch die Bedingungen zu studieren, unter denen es zu Remissionen 
oder gar zu „Heilungen“ der Paralyse kommt, und meint, daß nach den 
bisherigen Erfahrungen zu den wichtigsten Bedingungen eine Blutleuko¬ 
zytose gehört. Deswegen hat er versucht, dieselbe auch noch mit anderem 
Mittel hervorzurufen wie z. B. mit dem Chaulmoograöl, das, per os oder 
subkutan gegeben, auch eine beträchtliche Leukozytose macht, ebenso 
mit dem Antileprol, einem gereinigten Chaulmoograöl von Bayer u. Co. 
Da bekannt ist, daß auch die radioaktiven Substanzen zu einer Blut- 
leukozytose führen, wäre es nicht ausgeschlossen, auch diese zur Therapie 
der Paralyse zuzuziehen. 

Stransky -Wien würde angesichts seiner relativ nicht zu großen 


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persönlichen Erfahrung nicht das Wort ergreifen, wäre er nicht der einzige 
hier anwesende Vertreter der Wiener Schule. Als solcher möchte er hier 
nur sagen, daß v. Wagner ganz besonders die Notwendigkeit betont, tun¬ 
lichst initiale Fälle — wie man sie nicht in dem Maße in Anstalten sieht 
als in Privatsanatorien oder in der Sprechstunde — mit Tuberkulin zu 
behandeln. Über die von ihm zurzeit befolgte Methode hat sich v. W. 
erst kürzlich wieder geäußert (Wiener klinische Wochenschrift 1912, Nr. 1). 
daher Redner darauf nicht zurückzukommen braucht; nur soviel, daß die 
Methodik von v. W. gewissermaßen empirisch ausgewertet wurde und an 
sich nichts Prinzipielles ist. v. W. verbindet die Tuberkulinbehandlung 
mit Vorteil mit zwischendurchlaufenden Quecksilberinjektionen (Hg. 
succinimidatum). Die Zahl, Dauer und Tiefe der Nachlässe findet e. W. 
bei den von ihm mit Tuberkulin behandelten Fällen erheblich großer, 
als er es je vorher bei Paralysen fand; nicht ganz wenige der Fälle wurden 
wieder beruffähig in den Remissionen; auch sah v. W. bei demselben 
Kranken wiederholt Remissionen auftreten, zumal bei Reprisen der 
Behandlung. Ähnlich sind die Erfahrungen von Pilcz, wie dieser dem 
Redner mitgeteilt hat. Bezüglich anderer Details sei auf die Mitteilungen 
v. W.s und P.s verwiesen. (Nachtrag: Nach einer mündlichen Mitteilung 
v. W.s hat dieser einige Fälle gesehen, die von Fischer nach dessen Methode 
behandelt worden sein sollen und sehr weitgehende Remissionen darboten.) 
Versuche v.W.s mit Staphylokokkentherapie sind noch nicht abgeschlossen, 
i Stransky bemerkt dann noch zu den Ausführungen Schröders, daß man 
bei der Paralyse in manchen Fällen doch wohl von echten Remissionen 
sprechen müsse; namentlich scheint dies dann der Fall zu sein, wenn eine 
degenerative Anlage mit der paralytischen Disposition ringt; zumal bei 
den zirkulären Paralysen kann man daran denken; Redner erinnert 
an die Anschauungen v. W. s, wonach Disposition ein Komplement habe: 
Immunität; es sei doch auffällig, wie selten an schwere degenerative Geistes¬ 
störungen nachträglich eine Paralyse anschließt; bezüglich des manisch- 
depressiven Irreseins hat das schon Pilcz hervorgehoben, und Stransky 
konnte es neuerdings wieder bestätigen. Natürlich sind damit die von 
Schröder geschilderten Fälle nicht zu verwechseln, gerade diese Fälle 
scheinen sehr oft degenerativ belastet, und gerade sie zeigen (Kampf der 
Anlagen) nicht selten Remissionen. 

^nton-Halle führt aus, daß er den Berichten über Salvarsanbehand- 
lung der Paralyse, welche aus seiner Klinik durch Dr. Willige veröffent¬ 
licht wurden, leider summarisch hinzufügen müsse, daß trotz Ver¬ 
besserung der Technik sich eher ungünstige Resultate ergeben haben. 

Der Gedanke der Serotherapie und der Behandlung durch diverse 
abgetötete Bakterienkulturen dürfte keineswegs verlassen werden, sintemal 
die Zahl der Fälle doch beachtenswert ist, wo interkurrente Infektions¬ 
krankheiten die Paralyse gebessert haben. A. selbst wurde in den letzten 
Jahren überrascht durch zwei Fälle, wo ein interkurrenter Gesichtsrotlauf 


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die Paralyse auf längere Zeit zum Stillstand gebracht hat. Bezüglich dieser 
Frage muß er ausdrücklich auf die Arbeiten des Direktor Boeck (E. Boeck: 
Versuche über die Einwirkung künstlich erzeugten Fiebers bei Psychosen 
Jahrb. f. Psych. 1896 S. 199; daselbst auch Bericht über Tuberkulinin¬ 
jektion) in Troppau verweisen, welche bereits vor 15 Jahren erschienen sind. 

In einem Punkte wolle er die vortrefflichen Berichte der Herren 
Vorredner wenigstens durch eine Fragestellung ergänzen. Es sei 
wohl Zeit, sich die Frage vorzulegen, wie weit die Paralyse operativ 
angegangen werden kann, sintemal es derzeit möglich sei, ohne lange 
Narkose, auch ganz ohne Narkose mehr durch Lokalanästhesie, das Gehirn 
zu eröffnen. Er habe dabei folgende Gesichtspunkte vorzubringen: 

Wenn auch beim fertigen Menschen die Beziehungen zwischen 
Gehirn und Organismus sehr regsame sind, so darf doch nicht außer acht 
gelassen werden die auffällige biologische Selbständigkeit 
des Gehirn- und Rückenmarkorganes. Das Gehirn 
entwickelt sich relativ selbständig. Gehirngröße und Körpergröße gehen 
nicht parallel. Bei Anenzephalen findet sich übrigens oft ein beträcht¬ 
liches Körpergewicht. In der Kindheit wächst das Gehirn nach ganz 
anderen Gesetzen. Mit 2 Jahren erreicht es schon zwei Drittel seines 
Gewichts zum Unterschiede vom Körperorganismus. Bei Krankheit¬ 
prozessen und bei Inanition nimmt das Gehirn wenig Anteil an der hoch¬ 
gradigen Abmagerung und am Gewichtsverluste des Organismus. 

Dieses andersartige Verhalten tritt bekanntermaßen 
auch gegenüber der syphilitischen Infektion zutage. Es steht sicher, daß 
gerade bei den syphilitischen Nachkrankheiten die Körperorgane relativ 
frei von luischen Erkrankungen geblieben sind. Das kann wohl jeder 
bestätigen, der einmal 100 Paralytiker obduziert hat. Ja, in dem Referat 
von Plaut wurde ausdrücklich erklärt, daß jene speziellen Infektionen, 
welche lange latent bleiben und die Körperorgane relativ verschonen, 
größere Chancen geben für eine spätere paralytische Erkrankung. 

Die Sonderstellung des Nervenapparates läßt sich auch illustrieren 
durch das Verhalten gegen die Medikationen. So wird z. B. Jod 
bei entsprechender Therapie nicht im Liquor cerebrospinalis nachgewiesen. 
Wir alle wissen, daß die Quecksilberbehandlung anders wirkt auf die 
syphilitische Erkrankung der Körperorgane wie auf die des Gehirns. 
Trotzdem wird fast ausschließlich bisher die Medikation dem Körper 
einverleibt in der Erwartung, daß von da in gleichem Maße auf das Gehirn 
gewirkt wird, eine Erwartung, welche bekanntlich meistens nicht zutrifft. 

Was nun die direkte Einwirkung auf das Gehirn betreffe, so hätten 
v. Bramann und er durch ein einfaches Verfahren das Balkendach eröffnet 
(Balkenstich) und bei den zahlreichen Operationen dabei Gelegenheit 
genommen, die Ventrikel zu sondieren. Dadurch brauche es nur eine 
Abänderung des Verfahrens, um mittelst doppelläufiger Kanüle die Medi¬ 
kation an eine Stelle des Gehirns zu bringen, von wo aus auf das gesamte 


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Nervensystem rasch eingewirkt werden kann. Es könne dabei sowohl 
eine Applikation von Medikamenten als auch eine Durchspülung des 
Gehirnes vorgenommen werden. Sie verwandten für letztere isotone 
Lösungen (Ringer). Die Erfolge des Verfahrens könne er noch nicht 
registrieren. Tatsache sei, daß das Verfahren möglich ist. 

Dabei war auch der Gesichtspunkt beachtenswert, daß jene Teile 
direkt angegangen werden, welche für die Beschaffenheit des Liquor 
cerebrospinalis maßgebend sind, nämlich das Ependym und die Plexus. 
Letztere, wohl sicher drüsige Organe, seien für den Heilplan in Betracht 
zu ziehen; wenn auch ihre Rolle bei der fortschreitenden Paralyse noch 
nicht klargelegt sei. 

Falls sich diese Applikation und operative Beeinflussung des Gehirns 
bewähre, könnten auch einfachere Prozeduren, unter anderem die Neißersche 
Ventrikelpunktion in Betracht kommen, eventuell die Quinckesche Lumbal¬ 
punktion, wie dies mit letzterem Verfahren bei Meningitis cerebrospinalis 
epidemica bereits durchgeführt werde. 

Zum Schlüsse verweise er auf das Verfahren von Horsley, welcher 
die Gehirnoberfläche mit 1 :1000 Sublimat abspült, allerdings nachdem 
ein Stück der Dura ausgeschnitten wurde. 

Cramer-Göttingen berichtet über einen vor 20 Jahren mit einer 
Fontanelle behandelten Paralytiker, der jetzt trotz Tabes mit periodischer 
Depression seinen Beruf ausfüllt. 10 mit Salvarsan behandelte Falle 
zeigten Verschlechterung. Persönlich habe er den Eindruck, daß unter 
10 Fällen 4 mal das Tuberkulin nachhaltige Remission herbeigeführt 
habe, indem Kardinalsymptome wie Sprachstörung verschwänden, die 
Kniereflexe sich besserten, aber die Pupillarreaktion keine Änderung 
zeigte. 

Plaut -München: An der psychiatrischen Klinik in München wurden 
nach Absendung der Berichte an den Ref. Prof. Meyer die therapeutischen 
Versuche vorwiegend mit kombinierten Salvarsan-Nukleinkuren fort¬ 
gesetzt. Wenn wir auch bei ausschließlicher Anwendung des Salvarsans 
einige gute Remissionen beobachteten, so schien uns doch noch eine 
günstigere Wirkung bei Kombination mit Nuklein einzutreten. 

Immerhin waren die bisherigen Erfolge auch hierbei nicht so über¬ 
wältigende, daß wir eine therapeutische Einwirkung mit völliger Sicherheit 
anzunehmen uns für berechtigt halten; aber wir halten sie doch für nicht 
unwahrscheinlich. Wir befolgen zurzeit folgenden Kurplan bei Paralyse: 

Salvarsan: 1. Injektion 0,2 

2. „ 0,4 

3. „ 0,6 

4. 5. u. 6. ,, je 0,6 

Gesamtdosis somit 3,0; Intervall je 8 Tage. Hierauf Nuklein, bis 2.0 
pro injectione, für 2 Monate. Dann wiederum Salvarsan 3,0 wie oben. 
Anschließend hieran für mehrere Monate Nuklein. 


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Wir verwenden also Salvarsan in großen Dosen und haben uns von 
der Harmlosigkeit des Salvarsans bei Paralyse völlig überzeugt. 

Was in den Frühstadien der Syphilis an störenden Nebenwirkungen 
beobachtet wurde (z. B. Labyrintherkrankungen), ist bei Paralyse nicht 
mehr zu befürchten. Bemerkenswert ist die deutliche Einwirkung des 
Salvarsans in gehäuften Dosen auf die Pleozytose des Liquor bei Paralyse; 
es ist möglich, die Zellzahl auf Normalwerte herabzudrücken, was mit Hg. 
nicht gelingt. Daraus ist zu folgern, daß das Salvarsan die entzündliche 
Komponente des paralytischen Prozesses beeinflußt. 

Mit der Auswertung des Liquor nach Hauptmann haben wir recht 
günstige Erfahrungen gemacht und können bestätigen, daß eine Unter¬ 
scheidung der Lues ohne Beteiligung des C.-N.-S. von Lues cerebrospinalis 
auf diesem Wege in vielen Fällen durchführbar ist. Es kommen Aus¬ 
nahmen von der Regel vor, die jedoch selten sind. 

Eccard -Frankenthal: Auch ich habe im Verlaufe der letzten 2 Jahre 
im ganzen 11 Fälle von progressiver Paralyse resp. Taboparalyse mit den 
neuen Mitteln behandelt. Es waren durchweg sogenannte frische Fälle, 
das heißt solche, bei welchen die jedenfalls schwereren Symptome wahr¬ 
scheinlich nicht oder nicht viel über ein Jahr zurücklagen. 

Die meisten waren auch nicht als Geisteskranke in die Anstalt ein¬ 
gewiesen, sondern teils zur Feststellung der Diagnose, teils zur Beobachtung, 
ob überhaupt noch ein Heilversuch sich empfehle, von Berufsgenossen¬ 
schaften und der Landesversicherungsanstalt. 

In keinem der Fälle wurden störende Komplikationen oder Nach- 
erkrankungen, die dem Mittel zur Last gelegt werden konnten, beobachtet. 

Beim Tuberkulin traten einigemale mit kurzem, sehr hohem Fieber 
verbundene Lokalreaktionen ein, erst aber, nachdem man bei höheren 
Dosen angelangt war. 

7 Fälle wurden mit intravenösen Salvarsaninjektionen, zum Teil 
0,7 auf einmal, zum Teil in wiederholten kleineren Dosen (2—3 mal 
0,35/200) behandelt ohne einen Erfolg, jedenfalls ohne einen, der über 
das hinausgeht, was man auch bei der bisher üblichen Behandlung von 
progressiver Paralyse sieht. 

In 3 Fällen von Behandlung mit steigenden Tuberkulininjektionen 
(0,01 bis 1,0 g Alttuberkulin) war ein Erfolg ebenfalls nicht zu erkennen, 
dagegen trat im vierten Falle, der noch in Behandlung steht, dieselbe 
auffallende, rasch einsetzende Besserung auf, wie sie Herr Dr. Friedländer 
in seinem Falle ebenfalls beobachtet hatte. 

Nach etwa 300 mg trat auffallend rasch Besserung ein, die ge¬ 
legentlich der Augenspiegeluntersuchung geprüften, lichtstarren Pupillen 
reagierten wieder deutlich, wenn auch noch träge und leicht entrundet, 
rechts > links, die nur andeutungweise auslösbaren Kniesehnenreflexe 
traten wieder ein, das aufgeregte Wesen mit seinen floriden und läppischen 
Größenideen wurde komponiert und geordnet. Während er nicht mehr 


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Verhandlung psychiatrischer Vereine. 


9x7, 76—18 usw. rechnen konnte, ging dies auch wieder, die häsitierende. 
silbenstolpernde Sprache wurde fast ganz gut. 

Sein reduzierter körperlicher Zustand hob sich rasch ohne aber 
in das Gegenteil, allzu große Adipositas, umzuschlagen, und das alles nicht 
im Verlauf von Monaten, sondern in ganz kurzer Zeit, so daß im Verlauf 
von 2 Wochen nach der rasch eintretenden Besserung dieser unverkennbar 
gute Zustand eingetreten war. 

Frankel -Lankwitz hat 60 Fälle mit Salvarsan und Nat. nucleinic. 
gespritzt und nur einmal eine kurz dauernde Remission gesehen. Ein 
Generalstabsoffizier, der mit 25 Injektionen Nat. nuclein. behandelt wurde, 
ist jetzt wieder im Dienst. 

Raecke -Frankfurt a. M.: Man muß scharf unterscheiden zwischen 
den Ergebnissen der Salvarsanbehandlung in der früheren Anwendungs¬ 
weise, die unzuverlässig war, und nach der neueren Methode, die bestehe 
in intravenöser Gabe fortgesetzter kleiner Dosen, bis 3 g mindestens 
erreicht sind, und zwar abwechselnd mit Kalomelinjektionen. Die letzter« 
zielbewußtere Methode ist noch ganz ungenügend erprobt, obgleich sie 
bessere Aussichten bietet. In Frankfurt habe er bei dieser Methode nie 
unangenehme Folgen gehabt. Wieweit die dabei beobachteten Remissionen 
in kausalem Zusammenhang mit der Behandlung standen, läßt sich bei der 
Kürze der Behandlungszeit noch nicht entscheiden. 

Kraepelin -München bestätigt die Plaufschen Erfahrungen. In 
einzelnen Fällen fand sich eine Idiosynkrasie gegen Nuklein, die durch 
purinfreie Kost gehoben werden konnte. 

Gro/ß-Rufach: In Rufach werden alle neuaufgenommenen Paralytiker 
systematisch mit Einspritzungen von Nat. nuclein. behandelt. Die Spritz - 
kuren von 12—15 g Nat. nuclein. werden mehrfach, in der Regel dreimal, 
wiederholt, in die Intervalle je eine antiluisehe Kur (Unguent. einer, 
oder Enesol kombiniert mit Jodkali) eingeschoben und die Behand¬ 
lung mit einer solchen auch abgeschlossen. Während der Nukleinein¬ 
spritzungen Darreichung von Arsen und Eisen. Außerdem, je nach dem 
somatischen und psychischen Zustand, Freiliegekuren oder Dauerbäder. 

Die Erfolge sind bisher, insbesondere bei frischen Fällen, recht 
befriedigende. Besonders zu bemerken war fast durchweg eine auffällige 
Besserung des Kräftezustands unter Zunahme des Körpergewichts. Auf 
psychischem Gebiet wurde in der Regel Beruhigung erzielt unter Wieder¬ 
kehr der Orientierung und Zurücktreten der Wahnideen. 

' ’ Meines Erachtens dürfte der wesentlichste Effekt der Nuklein¬ 
behandlung in der Hebung des Kräftezustands zu suchen sein, womit erst 
die Möglichkeit energischer antiluischer Behandlung gegeben und diese 
dann gut vertragen wird. 

Brückner -Friedrichsberg hat von Salvarsan keine Erfolge gehabt. 

Aa/Jca-Hamburg: 1. Wenn wir der Therapie der Paralyse durch 
direkte Kontaktwirkung von der Zerebrospinalflüssigkeit aus das Wort 


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reden, dann werden wir, wenn wir nicht an die direkte chirurgische Beein¬ 
flussung oder die Spinalinjektion denken können, immer wieder an die 
komplizierten Verhältnisse des Liquor cerebrospinalis erinnert. Sehen 
wir doch, daß die meisten Stoffe auch bei der Paralyse nicht in den Liquor 
übergehen, eine Reihe anderer aber—und neuere Untersuchungen scheinen 
uns immer neue kennen zu lehren —, die eine chemische Affinität zu der 
Gehirnsubstanz haben, in Mengen übertreten, die sich zu der im Blut¬ 
serum enthaltenen wie 1 : 2 oder 1 : 4 verhalten, ja diese sogar über- 
treffen können (SchottmüUer und Schümm: Alkohol); auch unsere 
Kenntnisse über das Verhalten der den Liquor sezernierenden Gewebe 
gegenüber Immunkörpern erweitern sich nur allmählich. Es ist anzu- 
nehmen, daß erst reiche Erfahrungen solcher Art uns den Weg weisen 
werden, um einen wie immer wirksamen Körper in solcher Dosierung 
und solcher Art einzuverleiben, daß er vom Liquor aus seine Heilwirkung 
entfaltet. 

2. Die interessanten Befunde von Bergl, eigene Untersuchungen, 
die positive Wa.-R. im Liquor und Haemolysinübertritt vor Auftreten 
sicher paralytischer Symptome zeigten, die Bisgaadschen Arbeiten, die 
erweisen, daß der Liquor cerebrospinalis der Paralytiker andere Eiweiß - 
arten enthält als die Zerebrospinalflüssigkeit von an Lues cerebri Leidenden, 
und andere Tatsachen drängen dazu, den in dieser Versammlung schon 
angeregten Liquoruntersuchungen der Luiker in allen Stadien und mit 
allen Methoden (besonders auch Eiweiß- und Hämolysinbestimmungen), 
so weit es eben möglich ist, entschieden das Wort zu reden, weil dies für 
die Pathogenese der Paralyse, für die Frage, wann und warum wird ein 
Syphilitiker paralytisch?, von großem Werte sein könnte. 

Friedländer- Hohe Mark macht auf zwei wichtige Punkte aufmerk¬ 
sam. Was die Methodik der Einspritzungen betrifft, so wird dieselbe aus 
seiner Arbeit zu ersehen sein. Er möchte nur davor warnen, die Ein¬ 
spritzungen in zu schnellem Tempo und zu hoher Dosis vorzunehmen. 
Unter allen Umständen empfiehlt es sich, mit einer Probeinjektion von 
0,0005 zu beginnen und eine eventuelle tuberkulöse Reaktion abzuwarten. 
Bleibt dieselbe aus, so kann mit der Injektionskur begonnen werden. 
Des weiteren empfiehlt er nicht, die Fiebertherapie mit der spezifischen 
(Sublimatinjektion oder Einreibungen mit einem Quecksilberpräparat) 
gleichzeitig zu verwenden 

1. aus Schonung für den Kranken und 

2. um ein eindeutiges Resultat der Fieberwirkung zu erhalten. 

Spielmeyer -Freiburg hält eine anatomische Nachuntersuchung der 

Stücke des Falles Tuczek für wünschenswert. 

4. Sitzung Freitag, 31. Mai, nachm. 2 Uhr. 

•Sfertz-Bonn: Über subkortikale sensorische Apha¬ 
sie nebst allgemeinen Bemerkungen zur Auffassung 
a phasischer Symptome. 


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Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 


Vortr. berichtet über 2 Fälle von Paralyse, bei denen sieb eine partielle 
,,reine Worttaubheit“, das eine Mal als erstes erkennbares Krankheit- 
Symptom der Paralyse, das andere Mal nach einjährigem Bestehen der¬ 
selben, entwickelt hatte und konstantes Herdsymptom verblieben war. 

In dem zur Sektion gekommenen ersten Falle fanden sich auf beide 
Schläfenlappen beschränkte Degenerationen der kortikalen Markfasern 
und Veränderungen besonders in der dritten Zellschicht, neben allgemeinen 
chronisch entzündlichen Veränderungen paralytischer Natur. 

Es werden die Lokalisationsmöglichkeiten der reinen W 7 orttaubheit 
im allgemeinen besprochen und im vorliegenden Falle mangels sub¬ 
kortikaler Veränderungen der Prozeß in der Schläfenlappenriade als 
anatomische Grundlage angenommen. 

Bei der Deutung des aphasischen Komplexes wird die Möglichkeit 
des Hinzukommens bisher nicht näher lokalisierbarer intra- bzw. inter¬ 
kortikaler Systemerkrankungen erwogen. Die Anwendung physiologischer 
Gesetze auf diese Systeme im Sinne funktionell zusammengehöriger 
Neuronenverbände wird für die Erklärung des Symptoms der akustischen 
Unerreichbarkeit, der fehlenden Selbstwahrnehmung des Defekts, des 
auffälligen Schwankens der klinischen Erscheinungen usw. mit herao- 
gezogen. (Ausführliche Veröffentlichung erfolgt am anderen Ort.) 

Weygandt- Hamburg: Erweiterungen und Reorgani¬ 
sationen in der Hamburger Irrenpflege, ein Beitrag 
zu der Frage: Umbau oder Neubau (mit Demonstrationen). 

Hamburg hat erst 1864 Friedrichsberg als damals hochmoderne 
Anstalt errichtet. Gegenwärtig zählen Friedrichsberg und Langenhorn 
etwa 2900 Kranke, dazu das Hafenkrankenhaus 10 Geisteskranke und ' 
das Delirantenhaus in Eppendorf 20 Kranke. Wegen der enorm rasch 
wachsenden Bevölkerungsziffer, der fluktuierenden Bevölkerung vor 
allem im Hafen und anderer Umstände ist ein rasches Fortschreiten der 
Irrenfürsorge notwendig. Langenhorn bekommt etwa 500 neue Plätze, 
an eine dritte Anstalt muß gedacht werden, aber auch Friedrichsberg 
bedarf dringend der Reorganisation. Seine veraltete Heizung, Gas¬ 
beleuchtung, mangelhaften Bäder usw. müssen alle modernisiert werden. 

Bei der Frage: Umbau oder Neubau ? überwogen die Gründe für ersteren. 
Letzterer wurde allerdings befürwortet durch die lebhafte vorstädtische 
Umgebung der Anstalt sowie den mittlerweile hochgestiegenen Geländewert. 

Für einen Umbau sprach jedoch folgendes: Für rasche und zweck¬ 
mäßige Unterbringung Neuerkrankter, besonders Selbstmordverdächtiger 
ist die Stadtnähe sehr wichtig; die Angehörigen frischer Fälle wollen leicht 
zu Besuch kommen können; die Pensionäre 1. und 2. Klasse sollen nicht 
weit von der Stadt untergebracht sein. Die Anstalt betreibt lebhaft Fort¬ 
bildungskurse, Physikatskurse, wissenschaftliche Ärzteabende u. dgL 
Der Patientenaustausch mit den allgemeinen Krankenhäusern ist oft 
segensreich. Zu berücksichtigen ist ferner, daß die stehenden Gebäude 


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zum größten Teil noch wertvoll sind, und daß im Hamburger Staatsgebiet 
nur sehr schwierig noch Platz für solche Zwecke zu haben ist. 

Die Aufgabe ist: Erneuerung der Zentraleinrichtungen, Abschaffung 
der Überfüllung, Einrichtung besonders geeigneter Gebäude für die ver¬ 
schiedenen Krankenkategorien. 

Das neue Kesselhaus soll elektrische Leitung, Zentralheizung, 
Warmwasserleitung besorgen. Ferner eine neue Küche, außerdem Ver¬ 
waltungsgebäude unter Verlegung des Haupteingangs, zwei Werkstätten- 
gebäude, Gewächshausvergrößerung (mit Aufenthaltraum). 

Abgerissen werden nur die zwei alten Baracken und der Zellenbau. 

An neuen Pavillons sind geplant 1. zwei Häuser für je 65 Unruhige 
mit Liegehallen, 18 kleinen Wachsälen und Dauerbädern auf jeder Seite; 
2. zwei Lazarette für 70 pflegebedürftige Kranke mit Dauerbädern, Liege¬ 
halle, schiefen Ebenen statt Treppe usw.; 3. zwei Pavillons für unruhige 
Kranke 3. Klasse; 4. zwei offene Häuser für je 30 Rekonvaleszenten, 
die vor der Entlassung erst noch bei offener Tür gehalten und beschäftigt 
werden sollen; 5. Anbau an jedes der beiden Pensionate mit Badesaal, 
Tageraum, offener Abteilung; 6. Haus für 30 Jugendliche männlichen 
Geschlechts. 

Die Laboratorien werden bedeutend vergrößert, ferner auch die 
Wohnungen für Ärzte und besonders für das Personal. 

An sich kann bei der Eigenart Hamburgs nicht unter 1500 Kranke 
gegangen werden, eine hohe Zahl, die aber doch auch gewisse Vorzüge hat, 
vor allem hinsichtlich der Pflege der Wissenschaft. 

Diskussion. — Ko/J-Kutzenberg empfiehlt große Anstalten 
nur dann zu bauen, wenn ein anderer Weg nicht möglich erscheint, 
möglichst immer müsse man im Interesse der Ärzte, die sich der An¬ 
stalttätigkeit widmen, kleinere und zahlreiche Anstalten bauen. 

Max Fischer -Wiesloch: Zur Frage der großen Anstalten habe ich 
mich andernorts eingehend geäußert; es wird immer in der Irrenver¬ 
sorgung Lagen geben, wo diese Lösung trotz aller Bedenken als die richtige 
anerkannt werden muß. 

Im übrigen möchte ich kräftig das Wort unterstreichen: Neubau, 
nicht Umbau! 

Freilich gibt es Ausnahmen. Wir in Baden haben beides erlebt. 
Wir haben das alte Illenau in glücklicher Weise baulich reformiert, wir 
sind aber jetzt daran, das noch ältere Pforzheim ganz aufzuheben, d. h. 
in einer neuen Ersatzanstalt aufgehen zu lassen. 

Herrn Kollegen Weygandt will ich gerne zugeben, daß auch für sein 
Friedrichsberg die Notwendigkeit der Erhaltung und Umgestaltung 
vorliegt; aus dem Lageplan ist ja auch zu ersehen, daß so ziemlich eine 
neue Anstalt um die alte herum entstehen soll. 

Unrettbar kommt aber für jede ältere Anstalt einmal die Zeit, wo 
man aufhören muß, weitere Mittel in sie zu stecken, wenn man nicht 
direkt unrationell wirtschaften will. 


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Da erhebt sich denn die Frage: „Was wird später aus 
unseren alten Irrenanstalten?“ 

Diese Frage wird immer aktueller werden und künftighin naturgemäß 
immer häufiger zu beantworten sein. 

Verkaufen oder niederreißen und neu aufbauen. 

Die praktischen Amerikaner, die ihre Pavillons leicht, billig und 
nicht auf Dauer bauen, brennen, wie ich mir habe sagen lassen, die unzeit¬ 
gemäß und wertlos gewordenen Krankenhäuser einfach ab und erstellen 
dafür neue — das alte Bauernrezept! 

Eine regressive Metamorphose unserer Anstalten in Klöster werden 
wir wohl kaum zu befürchten haben! 

Dagegen werden wir um so sicherer mit einer Umwandlung der alten 
Anstalten in andersartige Fürsorgeunternehmungen der Krankenpflege 
und der Wohltätigkeit rechnen können. 

Es gibt ja noch so viele wichtige kulturelle und soziale Aufgaben, 
die noch der Erfüllung harren und nach einem Unterkommen, einer Ört¬ 
lichkeit des Wirkens förmlich schreien — Siechenasyle, Krüppelfürsorge, 
Arbeitsanstalten, Unterbringung epileptischer, idiotischer und schwach¬ 
sinniger Kinder, psychopathischer Jugendlichen und der Grenzzustände 
überhaupt usw. 

Für solche sehr bedeutsame Zwecke werden späterhin unsere alten 
Anstalten herhalten sollen. Und wir werden uns an den Gedanken ge¬ 
wöhnen müssen, auf diese Weise mit der Zeit manche der uns lieb ge¬ 
wordenen Stätten aufzugeben. 

So erleben wir auch auf diesem Gebiete das Gesetz vom Wechsel 
aller Dinge, vom ewigen Werden und Vergehen! 

Weygandt (Schlußwort): Die Ausführungen der Herren Kollegen 
Fischer und Kolb kann ich gewiß unterschreiben, daß kleinere Anstalten 
in vielen, vielleicht den meisten deutschen Landesteilen vorzuziehen 
sind und vor allem hinsichtlich der irrenärztlichen Laufbahn manches 
Gute haben. Indes wäre bei einer Forderung von Millionen zur Reorgani¬ 
sation unter gleichzeitiger Verminderung des Krankenbestandes auf */» 
aus schwerwiegenden finanziellen Gründen überhaupt nichts zu erreichen 
gewesen Hinsichtlich der Frage, was später einmal aus einer endlich 
doch abzubrechenden Irrenanstalt werden soll, bin ich der Anschauung, 
daß gerade bei Friedrichsberg, falls es einmal nach 50 Jahren doch verlegt 
werden müßte, das Gelände ausgezeichnet zu verwerten ist, und zwar nicht 
nur als wertvoller Baugrund, sondern man wird auch glücklich sein, dann 
in der volkreichen und dicht bebauten Großstadt noch ein hygienisch 
geradezu unschätzbares Parkgelände zu besitzen. 

Fischer- Prag: Ein Beitrag zur P r e sb y o p h r e nie f r ag e. 

Auf Grund weiterer Studien über die Klinik und Anatomie der 
senilen Psychosen, die sich jetzt bereits auf ein Material von 430 Fällen 


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beziehen, bestätigt F. wieder seine früheren Angaben über die Klinik 
und Anatomie der presbyophrenen Demenz. Eine ausführliche Publikation 
wird demnächst erfolgen. 

Stier- Berlin: Die funktionellen Differenzen der 
Hirnhälften und ihre Beziehungen zur geistigen 
Weiterentwicklung der Menschheit. 

Drei Tatsachen sind es, die uns gelehrt haben, daß die beiden Hirn« 
hälften trotz ihrer anatomisch offenbar völlig übereinstimmenden Struktur 
doch funktionelle Differenzen aufweisen. Die alten Erfahrungen der 
Pathologie haben uns gelehrt, daß die Zentren für die Sprache, für Lesen, 
Schreiben und die höchsten motorischen Funktionen rein oder fast rein 
einhirnig angelegt sind, neue Erfahrungen über die Dyspraxie der linken 
Hand bei Rechtsgelähmten haben erwiesen, daß die eine Hirnhälfte sogar 
bis zu gewissem Grade die Funktionen der anderen dirigiert, und die Er¬ 
fahrungen der Physiologie über die Rechtshändigkeit zeigen, daß manche 
an sich in beiden Hirnhälften vorhandene Zentren doch funktionell 
verschieden sind. Durch Schaffung geeigneter Untersuchungsmethoden 
hat Vortragender erwiesen, daß gleichgerichtete, wenn auch weniger 
hochgradige funktionelle Unterschiede auch für die Zentren der Bewegung 
der Beine, des Mundfazialis, ja auch des Augenfazialis bestehen. 

Ordnen wir nun die Hirnzentren nach der Intensität der bei ihnen 
sich findenden hemilateralen funktionellen Differenzen, so ergibt sich, 
daß diese Differenzen am intensivsten sind bei den spezifisch mensch¬ 
lichsten Hirnleistungen — Sprechen, Lesen, Schreiben, Sprachverständnis, 
Praxie, Bewegungen der Hand, des Beines, Gesichtes — und daß sie 
fehlen bei den Leistungen, die nicht spezifisch menschlicher Art sind — 
Kau-, Augenbewegungen, Seh-, Hörempfindungen. Auch in der Onto¬ 
genese des Menschen sehen wir die Funktionen mit den größten hemi¬ 
lateralen Differenzen am spätesten auftreten, z. B. die Sprache und Rechts¬ 
händigkeit beim Kinde. 

Wir müssen demnach annehmen, daß die Entstehung einer funk¬ 
tionellen Differenzierung der Hirnhälften einen Fortschritt in der Mensch¬ 
heitsentwicklung bedeutet, da diese Differenz gerade bei den höchst 
entwickelten Hirnzentren sich zeigt, eine Annahme, die auch darin ihre 
Bestätigung findet, daß wir heute noch bei geistig hochstehenden Menschen 
in der Regel eine starke, bei schwachsinnigen eine geringere Differenzierung 
der Hirnhälften nachweisen können. 

Am klarsten aber bestätigt wird die Annahme, daß eine ausgeprägte 
Lateralisierung der Hirnfunktionen die Voraussetzung darstellt 
für die höheren geistigen Leistungen, dadurch, daß fast die Hälfte der 
hörstummen Kinder, bei denen sich Krankheiten des Gehirns als Ursache 
der Hörstummheit nicht nachweisen lassen, leicht linkshändig, d. h. rechts- 
hirnig veranlagt und durch die energischen Bemühungen der Eltern zu 
ambidextrischen oder, wie man in diesem Falle richtiger sagen müßte, 

Zeitschrift für Psychiatrie LX1X. 5. 52 


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ambisinistrischen, also mit beiden Händen gleich ungeschickten Kindern 
erzogen sind. Die Entwicklung der Sprache und der anderen geistigen 
Funktionen tritt dann erst ein, wenn die eine Hirnhälfte, sei es die rechte 
oder sei es die linke, das funktionelle Übergewicht erhalten hat. 

Die Differenzierung der Hirnhälften in ihrer Gesamtheit gegenein¬ 
ander ist also anzusehen als der weitere Fortschritt der Differenzierung der 
einzelnen Hirnteile jeder Hemisphäre gegeneinander, wie wir sie in der 
ansteigenden Tierreihe feststellen können, und dürfte im Interesse der 
weiteren geistigen Entwicklung der Menschheit, speziell der Vereinheit¬ 
lichung unseres geistigen Lebens von Nutzen sein. 

Diskussion. — Gaupp -Tübingen erwähnt, daß bei seinem 
kleinen Sohn, der Linkshänder ist und es trotz aller mütterlichen Er¬ 
ziehungsversuche bleibt, die Sprachentwicklung keineswegs verzögert 
war, sondern sogar sehr früh und sehr gut sich vollzogen hat. Er frägt 
ferner den Vortr., ob ihm bekannt ist, daß Linkshänder ( G . selbst ist ein 
solcher) von selbst ebenso gut und rasch mit der linken Hand Spiegel¬ 
schrift schreiben können als mit der rechten normale Schrift, und daß 
sich diese Fähigkeit allmählich mit den Jahren steigert. 

Raecke -Frankfurt macht auf jene Fälle leichter zerebraler Kinder¬ 
lähmung aufmerksam, bei denen die Schwäche der rechten Seite das 
Bestehen von Linkshändigkeit vortäuscht. Hier kann infolge Schädigung 
der linken Hemisphäre die Sprachentwicklung des Kindes Zurückbleiben. 

v. GroÄe-Friedrichsberg bemerkt, daß manche Tiere bei ihren Be¬ 
wegungen sicher die eine Körperseite bevorzugen; so springen manche 
Pferde unabhängig davon, wie sie zugeritten sind, beim Galopp lieber 
links an; ebenso bevorzugen Hunde beim Lauf oft die eine Seite. 

Stier (Schlußwort): Psychologische Untersuchungen bei Links¬ 
händern hat Biervliext in Gent gemacht, doch ist seine Teilung in Rechts¬ 
und Linkshänder nicht einwandfrei, seine Ergebnisse sind daher nicht 
beweiskräftig. Erschwerung des Sprechenlernens beobachtet man nicht 
bei ausgeprägt linkshändig veranlagten Kindern, da bei ihnen ja die rechte 
Hirnhälfte deutlich der anderen funktionell überlegen ist; es sind vielmehr 
die wenig differenzierten, leicht linkshändig veranlagten Kinder, die, 
wenn man ernste Umgewöhnungsversuche macht, schwer sprechen lernen. 
Der Einwand von Herrn Raecke ist sehr ernst zu nehmen; ich glaube aber 
Irrtümer nach dieser Richtung vermieden zu haben, da ich stets besonders 
darauf geachtet habe. Die Frage der Spiegelschrift ist sehr schwierig. 
Ich habe in meinem Buch ausführlich dazu Stellung genommen. 

F. Stern-Kiel: Über die akuten Situationspsy¬ 
chosen der Kriminellen. 

Als Situationspsychosen bezeichnet Vortr. in Anlehnung an einen 
Vorschlag Sietnerlings diejenigen psychogenen Erkrankungen, welche in 
einer bestimmten, die Interessen des Individuums schädigenden oder 
bedrohenden Situation auftreten und in ihrem weiteren Verlauf durch weit- 


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gehende Abhängigkeit von dieser Situation ausgezeichnet sind. Besonders 
charakteristische Typen derartiger Erkrankungen bilden die akuten, 
meist in Untersuchungshaft auftretenden Verwirrtheits- und Hemmungs¬ 
zustände, welche bisher meist als hysterische Dämmerzustände oder 
hysterische Stuporen bezeichnet wurden. Eine Hervorhebung vor anderen 
hysterischen Erkrankungen empfiehlt sich aber 1. wegen der überwiegenden 
Häufigkeit derartiger Zustände bei Kriminellen; 2. wegen der nur in einem 
Bruchteil zugrunde liegenden hysterischen Konstitution; oft finden sich 
▼bn konstitutionell psychopathischen Zeichen allein Instabilität, Reiz¬ 
barkeit oder Debilität; 3. wegen der zahlreichen Beziehungen zu anderen 
mehr chronischen haftpsychotischen Komplexen, die man nicht hysterische 
nennen kann. Da aber in den mit Bewußtseinstrübungen verlaufenden 
Fällen, den Stuporen und Verwirrtheitszuständen, der hysterische 
Verlaufstyp sich erstens in der schnellen Umsetzung seelischer 
Erregungen in Bewußtseinsstörungen und zweitens darin zeigt, daß sich 
jedenfalls häufig die Psychose unter dem Einfluß einer bestimmten Willens¬ 
richtung, hier meist dem Willen zur Krankheit, entwickelt ( Bonhoeffer ), 
so kann man diese Erkrankungen als hysterische Situations¬ 
psychosen von den anderen Formen abtrennen. Die Abhängigkeit 
dieser Erkrankungen von einer bestimmten Situation zeigt sich an dem 
vom Vortr. bearbeiteten Material am besten dadurch, daß in 40 % der Fälle 
Milieuwechsel promptes Schwinden ausgesprochen psychotischer 
Erscheinungen in wenigen Stunden oder Tagen bedingte, Situationsver¬ 
schlechterung in 55 % wiederholt, in 1,5 % mehr als zweimal, eine Psychose 
hervorrief, die bei Änderung des Milieus fast immer sich zurückbildete. 
Die Bezeichnung „Degenerationspsychose“ ist wegen der schweren Um- 
grenzbarkeit dieses Begriffs weniger zu empfehlen; auch kommt es bis¬ 
weilen vor, daß die Erkrankung auf nicht degenerativem Boden erwächst. 
Die Abgrenzung gegen epileptische und katatonische Erkrankungen, 
auch gegen Simulation, ist bisweilen schwierig. 

Diskussion. — Brücftner-Friedrichsberg erkundigt sich nach 
der Häufigkeit und Dauer der Amnesie bei den degenerativen Krank¬ 
heitzuständen. Wieweit kommt retrograde Amnesie vor? 

Moeli- Berlin; Simulationsgeständnis ist oft mehr ein Zeichen gegen 
als für Simulation. 

Stern: Meist beginnt die Erinnerungslücke scharf mit Eintritt der 
Bewußtseinstrübung. In den selteneren Fällen, in denen retrograde 
Amnesie besteht oder gar auseinanderliegende Straftaten vergessen waren, 
weiß man nie, wieweit Vortäuschung in Betracht kommt. . 

Bischo ff-Hamburg: Untersuchungen über das mittel¬ 
bare und unmittelbare Zahlengedächtnis. 

Um eine einfache, allgemein orientierende klinisch-psychologische 
Methode zur Prüfung der Gedächtnisleistungen bei Gesunden und Kranken 
zu gewinnen, bediente sich Vortr. einfacher yorgesprocbener Zahlen als Reiz. 

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766 Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 

Die untersuchte Person hat die Aufgabe, diese Zahlen zunächst sofort, dann 
nach einer Minute ohne Ablenkung, dann nach einer Minute mit Ablenkung 
nachzusprechen. Es wird nun die Anzahl der Ziffern der richtig nach- 
gesprochenen Zahl registriert, so daß man eine dreistellige Zahl als Dar¬ 
stellung der Leistungen erhält. Als richtig nachgesprochen gilt eine Zahl, 
die bei fünf Reizgebungen dreimal richtig reproduziert ist. Die Methode 
prüft eine umschriebene Gedächtnisleistung; nur insofern Störungen 
dieser Leistung charakteristisch für eine bestimmte Geisteskrankheit 
sind, kommt ihr difTerentialdiagnostischer Wert zu; auch ihr Ergebnis 
darf nur mit den Ergebnissen der anderen Untersuchungsmethoden zu¬ 
sammen verwertet werden; dann stellt sie wohl bei relativ sehr großer 
Exaktheit und einer großen Handlichkeit der Anwendung und der Registrier¬ 
möglichkeit die einfachste unserer klinisch-psychologischen Methoden 
dar. Bei der Anwendung von Fehleruntersuchungen gestattet sie auch 
eine sehr weitgehende Analyse dieser Erscheinungen. Das war ein wichtiger 
Grund für die Wahl der Zahl an Stelle der Ziffern als Reiz, da die Zahl 
eine weit bessere Charakterisierung und Lokalisierung der Fehler gestattet. 
Die Fehler ließen sich vorteilhaft einteilen in: 1. Auslassungsfehler; 
2. Hinzufügungsfehler; 3. Stellungsfehler a) vollkommene, b) unvoll¬ 
kommene; 4. freie Fehler; 5. Iterationsfehler a) Interiteration, b) In¬ 
traiteration. — Einfache Iteration, stereotype Iteration. Vieregge (Allgem. 
Zeitschrift f. Psych. 1908) hat gemeinsam mit dem Vortr. und nach dieser 
von ihm gegebenen Anordnung die hauptsächlichsten Psychosengruppen 
untersucht und die Resultate veröffentlicht. Die Ergebnisse dieser Unter¬ 
suchungen werden an der Vieregge sehen Tabelle demonstriert. 

Goldstein : Uber die zentrale Aphasie. 

Gegenüber der „dezentralisierten“ Organisation des Sprachapparates, 
den die klassische Aphasielehre ihren Erklärungsversuchen der aphasischen 
Störungen zugrunde legt, vertritt G. die Annahme eines zentralen Asso¬ 
ziationsfeldes, das der eigentliche Träger der Sprache ist. Um dieses 
zentrale Sprachfeld gruppieren sich eine Reihe von Nebenapparaten, die 
dem Sprachfelde die sensorischen Anregungen zuführen oder die Aus¬ 
führung der vom Sprachfelde gegebenen Direktiven übernehmen. Außer¬ 
dem steht das Sprachfeld in Beziehung zum übrigen Gehirn, in dem die 
„räumlich-sachlichen“ psychischen Erlebnisse Zustandekommen. Die 
Beeinträchtigung der Nebenapparate resp. ihrer Beziehungen zu anderen 
Hirnteilen schafft die sogenannten reinen Krankheitbilder der Aphasie¬ 
lehre (reine Worttaubheit, reine Alexie, Agraphie, reine Wortstummheit). 
Die Affekt ion des zentralen Sprachfeldes führt zur zentralen Aphasie. 
G. erörtert zunächst die Zusammensetzung des zentralen Sprachfeldes, 
wie es sich auf Grund psychologischer Überlegungen ergibt, und legt dann 
dar, wie durch diese Annahme zunächst eine Reihe aphasischer Symptome, 
die der klassischen Lehre immer große Schwierigkeiten bei der Erklärung 
geboten haben, undvdje auch bisher zum Teil kaum einwandfrei erklärt 


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worden sind, eine recht einfache Erklärung finden: die Paraphasie, die 
verschiedenen Störungen des Nachsprechens, die sensorischen Sprach¬ 
störungen bei der motorischen Aphasie, die verschiedenartigen Schreib¬ 
und Lesestörungen, schließlich die amnestischeAphasie. Alle diese Störungen 
erklären sich durch eine Beeinträchtigung der Funktion des zentralen 
Sprachfeldes. Sie kommen in ihrer Gesamtheit als einheitliches Krank¬ 
heitbild vor, das G. als zentrale Aphasie bezeichnet, und das folgende 
Symptomatologie aufweist: 

Fast völlige Aufhebung des Sprechens oder Paraphasie bei leid¬ 
lichem Erhaltensein des Reihensprechens, schwere Störung des Nach- 
sprechens, eventuell völliges Fehlen desselben, geringe Beeinträchtigung 
des Sprachverständnisses, Paralexie, Störungen des Leseverständnisses, 
Paragraphie, Beeinträchtigung des Buchst abierens und Buchstaben- 
zusammensetzens, eventuell amnestische Aphasie. 

Das Symptomenbild entspricht etwa dem der sogenannten Leitungs- 
aphasie. Die einzelnen Symptome stellen sich als Ergebnis der Funktions¬ 
störungen eines einheitlichen Sprachapparates dar, sie entsprechen bis 
zu einem gewissen Grade verschieden hohen Graden der Beeinträchtigung 
eines Assoziationsapparates. Dies wird an einzelnen Fällen demonstriert. 
Die einzelnen Symptome treten bei einer progredienten Affektion in 
ziemlich regelmäßiger Reihenfolge auf und klingen bei der Restitution 
in umgekehrter Reihenfolge ab. Anatomisch ist für das zentrale Sprach- 
feld die Inselrinde in Anspruch zu nehmen. Es gibt jedenfalls keine Be¬ 
weise gegen diese Annahme. Die vorhandenen Sektionsbefunde sprechen 
mit großer Wahrscheinlichkeit dafür. Den Hauptwert seiner Anschauungen, 
die nur eine Anwendung seiner allgemeinen Anschauungen über den 
Aufbau des Gehirnes sind, sieht G. darin, daß sie veranlassen, von dem 
üblichen schematischen Untersuchungsmodus abzugehen, und zwingen, 
jeden Fall als psychologisches Problem zu betrachten und zu analysieren. 

(Ausführliche Mitteilung im NeuroL Zentralbl. 15. Juni 1912.) 

IFanÄe-Friedrichsroda: Psychiatrie und Pädagogik 
in Beziehung zur geschlechtlichen Enthaltsam¬ 
keit. 

Vortr. weist zunächst hin auf die vorjährigen Verhandlungen der 
„Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten“ 
in Dresden, wo man unter Hinzuziehung von Nervenärzten die Frage 
erörterte, inwieweit mangelnde oder ungenügende Befriedigung der Ge¬ 
schlechtsfunktion imstande sei, krankhafte Zustände auszulösen oder 
zu steigern. 

Die Referate und Vorträge, fast noch mehr aber die Diskussion, 
mußten jeden Arzt von der Wichtigkeit der Frage überzeugen. 

Die Fragestellung wie auch die Erfahrungen und Voraussetzungen 
der Ärzte, welche zur Diskussion redeten, waren bei nahezu allen Rednern 


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Verschieden x ). Wenn nun auch in dem ebenso ausführlichen wie über¬ 
zeugenden Häuptreferät (Eulenburg- Berlin) die psychologische Seite 
der Frage genügend gewürdigt wurde, so fand doch das psychologische 
Moment nicht bei allen Rednern die ihm gebührende Berücksichtigung. 
Und das war die eigentliche Ursache dafür, daß die Ausführungen und Vor¬ 
schläge der einzelnen Redner teilweise voneinander abwichen. — Vortr. 
tritt nun dafür ein, daß auch die psychologische Seite voll gewürdigt 
werde, und daß man sich dazu verstehen müsse, auch den mit Hilfe der 
psychologischen Methode gewonnenen Untersuchungsergebnissen volle 
Gültigkeit zuzuerkennen, weil es sich bei den in Rede stehenden Er¬ 
krankungen oft um solche Fälle handle, bei denen der Arzt aus den sub¬ 
jektiven Beschwerden der Kranken seine Schlußfolgerungen ziehen und 
die Diagnose stellen müsse. Es ist also eine möglichst subtile psychologische 
Durchforschung des Menschen notwendig. Dazu hat aber einzig und allein 
der psychologisch geschulte Psychiater die nötige Vorbildung, Übung 
und Geschicklichkeit. — Die Untersuchung und Behandlung der einzelnen 
Fälle muß uns aber auch hinleiten zu einer auf umfassendem Wissen 
gegründeten Sexualpädagogik, deren Leitsätze nur von solchen Ärzten 
aufgestellt werden können, welche, außer über allgemeines ärztliches 
Wissen, auch noch über spezielle klinisch-psychologische und psychiatrische 
Erfahrung verfügen, welche aber auch mit der Pädagogik und Anthro¬ 
pologie hinreichend vertraut sind, soweit die letztere als pragmatische 
Wissenschaft unsere Menschenkenntnis zu erweitern imstande ist. 

Aus alledem ergibt sich ohne weiteres, daß die Frage, wieweit 
mangelnde oder ungenügende Befriedigung der Geschlechtsfunktion 
imstande sei, krankhafte Zustände auszulösen oder zu steigern, vor das 
Forum der Psychiatrie gehört. Die Streitfrage der sogenannten Abstinenz- 
erkrankungen muß also für uns lauten: Wie haben wir den einzelnen Fall 
zu bewerten hinsichtlich der Prophylaxe und der Therapie, und welche 
allgemeinen Leitsätze haben wir aus den induktiv gewonnenen Ergeb¬ 
nissen mit Hilfe eines möglichst komplexen Wissens zu ziehen in Hinsicht 
auf eine rationelle Sexualpädagogik (welche auch die hypermoderne 
„sexuelle Aufklärung“ mit zu umfassen hätte)? 

GJüA-Hamburg demonstriert 14 Abgüsse von mikrozephalen 
Schädeln, die auf der Hygieneausstellung in Dresden 1911 im Original 
ausgestellt gewesen sind, ferner Gipsbüsten und Modelle von Mikrozephalen, 
dazu das Modell der Zwergin Fatma; er gibt eine kurze Übersicht über 
den derzeitigen Stand der Frage der Mikrozephalie. 

Von den 14 Trägern der Mikrozephalie, deren Schädelabgüsse gezeigt 
werden, sind 6 Fälle im Alter von 5 bis zu 23 Jahren, unter diesen ein 
männliches und drei weibliche Individuen; bei 2 Fällen wurden die Angaben 


l ) Die Verhandlungen sind in einem 260 Seiten umfassenden Sonder¬ 
druck bei J. A. Barth in Leipzig erschienen. 


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des Geschlechts vermißt. Fälle über 25 Jahre sind von den 14 Fällen 
3 Fälle im Alter von 31 bis zu 46 Jahren, bei 5 Fällen fehlte die Angabe 
des Alters. Unter den letztgenannten 8 Fällen sind 2 männlichen, 4 weib¬ 
lichen Geschlechtes, bei 2 Fällen fehlt jede Angabe über Alter, Name und 
Geschlecht. 

Als geringster Schädelumfang wurde ein solcher von 30 cm bei 
der 23 jährigen Nana festgestellt; der Schädelinhalt dieser war gleich¬ 
falls der geringste unter sämtlichen Mikrozephalen; er betrug 240 ccm. 

Der Vortr. konstatiert, daß in keinem der 14 Schädel eine voll¬ 
ständige Verknöcherung aller Nähte vorhanden war, wohl eine teilweise. 
Er geht dann auf Schädelmessungen und Schädeluntersuchungen ein, 
sodann auf die Körperlänge und das Körpergewicht, er betont die Wichtig¬ 
keit dieser neben der Nachprüfung des Alters und Geschlechtes der Träger 
der Mikrozephalie. 

Im Anschluß an die Demonstration der Zwergin Fatma bespricht 
Vortr. die Nanozephalie und Nanosomie und reiht die Nana der Mikro¬ 
zephalie ein, die Fatma rechnet er dieser nicht zu auf Grund der Maße 
des Körpers und des Schädels bzw. Kopfes bei Berücksichtigung ihres 
Alters und Geschlechtes. 

F. Kehrer. F. Stern. 


97. Sitzung des Ostdeutschen Vereins für Psychiatrie 
in der Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt zu Bunzlau 

am 24. Juli 1911. 

Anwesend die Herren Adeü-Lublinitz, Bonhoeffer- Breslau, Cantor - 
Bunzlau, Casten-, Chotzen- Breslau, Dresen -, Grau-Lüben, Heilemann- 
Bunzlau, Hirt- Breslau, HoiA-Lublinitz, Klieneberger- Breslau, von Kunowski - 
Leubus, Laegel- Kreuzburg, Löwenstein -Obernigk, Mann- Breslau, Neisser- 
Bunzlau, Petersen- Brieg, Plathner-Liegnitz, Schöngarth- Sorau, Schröder- 
Breslau, »ScAufte«-Kreuzburg, Seelen-, Seeling- Breslau, Sprengel- Greiflen- 
berg, Stein -Plagwitz, Stöcker- Breslau, Ullmann - Bunzlau, Weddy -Poenicke- 
Breslau, IFifcfce'-Plagwitz, Ziert mann- Bunzlau. 

Direktor Neisser begrüßt den Verein in Bunzlau, wo seit dem Jahre 
1888 keine Vereinssitzung mehr stattgefunden hat, und erläutert die 
leitenden Gesichtspunkte, die bei dem inzwischen vollzogenen völligen Um¬ 
bau der alten Anstalt und bei der Anlage der Erweiterungsbauten ma߬ 
gebend waren. Nach einem einfachen Gabelfrühstück, zu welchem die 
Provinzialverwaltung die Mittel bewilligt hatte, wurde um 1 y 2 Uhr eine 
kurze geschäftliche Sitzung abgehalten, in welcher auf Antrag des Vor¬ 
sitzenden die Annahme der neugeformten Statuten beschlossen wird. 

Herr Neisser stellt einige Fälle von Psychosen bei orga¬ 
nischen Prozessen des Zentralnervensystems kurso- 


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Verhandlungen psychiatrisch«: Vereine. 


risch vor, und zwar zunächst zwei differentialdiagnostisch interessante, früher 
als Paralyse diagnostizierte Fälle von organisch bedingten Psychosen 
welche seit 9 bzw. 11 Jahren in der Anstaltbeobachtung stehen, sodann 
zwei Fälle von multipler Sklerose mit psychischen Störungen (von 
denen der eine Fall 15 Jahre lang das Bild der spastischen Spinalparalyse 
geboten hatte). Ferner zwei Fälle \on Huntingtonscher Chorea und einen 
Fall von Athetose, sämtlich mit psychischen Störungen. (über die 
Fälle wird zum Teil an anderem Orte berichtet werden) 

An die wissenschaftliche Sitzung schloß sich ein Rundgang durch 
die Anstalt und gemeinsames Mittagessen. 

98. Sitzung des Ostdeutschen Vereins für Psychiatrie 
im Hörsaal der Kgl. Psychiatrischen und Nervenklinik 
zn Breslau am 9. Dezember 1911. 

Anwesend die Herren 2tertA«/-Rybnik, Bielschowski -, Bonhoeffer-, 
C asten- Breslau, Dinter-Bneg, Elias- Rybnik, Förster-, Freund- Breslau. 
Freyfterg-Jannowitz, Gotta- Breslau, Hahn-, HamiUon-, Haupt-Breslau. 
Hat/n-Beuthen, Hirt-Breslau, JirziTc-Ziegenhals, Kahlbaum- Görlitz, Käthe - 
Breslau a. G., JCteser/mg-Lublinitz, Klieneberger- Breslau, JCö6iscÄ-Obernigk, 
Kramer- Breslau, v. Kunowski-, JTunze-Leubus, Kutner- Breslau, Löwen- 
stein -Obernigk, Läge!-Kreuzburg, Langer- Brieg, AfenscA-Freiburg, Mertz- 
Neisse, iVeisser-Bunzlau, iVico/auer-Breslau, Plathner- Liegnitz, Popp- 
Bunzlau, Preissner-Lüben, Reich- Breslau, von Rottkay -Leubus, Sachs - 
Breslau, »SandAerg-Landeck, Schlesinger-, Schröder- Breslau, von Schuck¬ 
mann-Plagwitz, Seelen- Breslau, Seemann -Lublinitz, Selling-Breslau, Spren- 
gc/-Greiffenberg, Wende-Kreuzburg, WicAt-Lüben, Zu&er-Leubus. 

I. Geschäftliches: Aufnahme neuer Mitglieder. Für die Sommer¬ 
sitzung liegen Einladungen von Lublinitz und Freiburg vor. Die Wahl 
des Ortes wird dem Vorstand anheimgestellt. 

II. Vorträge. 

Herr Plathner- Liegnitz: „Typhus und Ruhr in der 
Liegnitzer Idiotenanstalt.“ 

Das Wilhelm- und Augusta-Stift in Liegnitz besteht in seiner jetzigen 
Eigenschaft als Idioten-Bildungs- und Pflegeanstalt seit 1889. In den 
ersten 20 Jahren ist kein klinischer Fall von Typhus oder Ruhr vor¬ 
gekommen. Am 3. Januar 1910 kehrte ein Pflegling des ersten Frauen¬ 
hauses mit hohem Fieber vom Weihnachtsurlaub zurück. Die Erkrankung 
stellte sich sehr bald klinisch und bakteriologisch als Typhus heraus nnd 
wurde später auch durch die Sektion bestätigt. Es wurde eine Ansteckung 
auf Urlaub angenommen, obwohl die Inkubationszeit eine auffallend kurze 
gewesen sein mußte, und obwohl die angestellten kreisärztlichen Recherchen 
keinen Anhaltspunkt für eine nachweisbare Ansteckungmöglichkeit er¬ 
gaben. Am. 15 April kam dann eine weitere Erkrankung im zweiten 


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Männerhaüs vor, ebenfalls klinisch, bakteriologisch und pathologisch-ana¬ 
tomisch als Typhus sichergestellt. Eine Ansteckungsquelle war nicht zu 
ermitteln. Sicher unabhängig von diesem Falle erkrankte dann im ersten 
Frauenhause am 2. Mai ein zweiter und am 3. November noch ein dritter 
Pflegling. Beide Fälle gingen in Genesung über, irgendwelche Einschlep¬ 
pungsmöglichkeit war nicht nachzuweisen. Eine bei sämtlichen seit dem 
1. Januar 1907 in das erste Frauenhaus aufgenommenen Personen, 1 Pflege¬ 
rin und 14 Pfleglingen, vorgenommene bakteriologische Untersuchung auf 
Blut, Stuhl und Urin verlief gleichfalls resultatlos. Anfang Juli 1911 
erkrankte in dem gleichen zweiten Männerhause, in dem schon April 1910 
ein Fall vorgekommen war und zum Tode geführt hatte, abermals ein 
Pflegling und starb. Zeitlich und räumlich davon unabhängig traten dann 
in den letzten Tagen des Juli im ersten und zweiten Frauenhause ziemlich 
gleichzeitig mehrere sich rasch häufende Fälle auf. Daß Wasser, Milch 
oder ein sonstiges Nahrungsmittel nicht Ansteckungsquelle war, konnte 
bald festgestellt werden. Die Epidemie blieb auf die Anstalt beschränkt. 
Im Laufe des August nahmen die Neuerkrankungen allmählich ab, da 
erkrankte in den letzten Tagen dieses Monats — ohne nachweisbaren 
Zusammenhang mit der Epidemie auf der Frauenseite — plötzlich ein 
Pflegling im ersten Männerhause, ihm folgten am 1. September drei und 
im Laufe dieses Monats noch sechs weitere Erkrankungen in diesem Hause. 
Ende September kamen mit fast 5 Wochen Abstand noch zwei Nach¬ 
läufer auf der Frauenseite, und am 1. Oktober erkrankte noch eine Pflegerin 
in der Typhusbaracke. Im ganzen sind 2 Pflegerinnen und 31 Pfleglinge 
erkrankt, 7 Pfleglinge gestorben. 

Um den oder wohl wahrscheinlicher die in Betracht kommenden 
Bazillenträger herauszubekommen, schickte ich auf den Rat des Vor¬ 
stehers des Breslauer Medizinal-Untersuchungsamtes Kreisarzt Dr. Käthe 
zunächst nur Blutproben ein, bei denen gleichzeitig die Widalsche Reaktion 
mit auf Ruhr vorgenommen wurde. Diese bisher bei 132 nicht Erkrankten 
ausgeführte Untersuchung eigab: negativ für Typhus und Ruhr 46, 

positiv für Typhus 17, 
positiv für Typhus und Ruhr 17, 
positiv für Ruhr 52, 
also 34 = 337s % positiv für Typhus, 

69 = 52,3 % positiv für Ruhr. 

Von den Typhuspositiven war in der Anamnese sowie auf Grund der 
Krankenakten 3 mal (1896 1, 1910 2) Typhus sicher, 7 ma wahrscheinlich 
zurückreichend bis 1899. 

Unter den 69 Ruhrpositiven war kein Fall sicher, aber 33 wahr¬ 
scheinlich. 

Diese auffallend hohen Zahlen im besonderen für Ruhr gaben natür¬ 
lich Anlaß, auch dieser Erkrankung erhöhte Aufmerksamkeit zu schenken. 
Es dauerte auch gar nicht lange, da kamen mindestens zwei sichere Ruhr- 


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Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 


fälle. Irgendeine neuerdings erfolgte Einschleppungsmöglichkeit ließ ach 
mit Sicherheit ausschließen. Am 5. November erkrankte ein kräftiges 
jüngeres Mädchen unter hohem Fieber mit zahlreichen schleimig-blutigen, 
später rein blutigen Stühlen. Tod erfolgte nach 7 Tagen, die Sektion 
wurde leider verweigert, aber der noch im September als negativ be¬ 
fundene Widal war jetzt positiv für Y-Ruhr. Am 19. November erkrankte 
der zweite Fall, so leicht, daß' wir früher nie an Ruhr gedacht hätten. 
Geringes Fieber, Durchfälle mit Schleim und Spuren von Blut bei einer 
von Haus aus herzschwachen Epileptika. Auch hier war der im September 
noch negativ befundene Widal positiv für Y-Ruhr. Die Sektion ergab 
teils gereinigte, teils schmierig belegte diphtherische Geschwüre im Dick¬ 
darm, vor allem im Mastdarm. 

Wenn ich nun den Versuch wage, unter Zugrundelegung der Ehrlich- 
sehen Seitenkettentheorie aus diesen Zahlen einige Schlüsse zu ziehen, 
so scheint mir zunächst die Tatsache hervorzugehn, daß die PFüia/sehe 
Reaktion sich nach überstandenem Typhus sehr lange erhalten kann. 
Aber selbst wenn sie sich nie verlieren sollte, so dürfte das m. E. mit dem 
Wesen der Gruber-Widals chen Hypothese bzw. mit der Seitenketten¬ 
theorie durchaus im Einklang zu bringen sein. Erhält sich aber die Widal- 
sche Reaktion länger, als man bisher wohl allgemein annahm, dann ver¬ 
liert sie sofort sehr viel an praktischer Bedeutung für die klinische Diagnose 
Typhus. Dann genügt es bei zweifelhaftem Fieber nicht mehr, einen 
positiven Widal nachzuweisen, es sei denn, er wäre vor der Erkrankung 
als negativ befunden worden. 

Was nun die Entstehung unserer Epidemie betrifft, so nehme ich 
selbstverständlich nicht an, daß alle diese 34 Typhuspositiven daran be¬ 
teiligt sind. Und da wir bisher etwa erst ein Drittel der Insassen unter¬ 
sucht haben, werden wir voraussichtlich noch eine ganze Anzahl weiterer 
finden. Daß aber mindestens mehrere Ausscheider in der Anstalt stecken 
müssen, das beweisen m. E. die Vorläufer, die einzelnen Phasen der Epi¬ 
demie selbst und die Nachzügler. Nun ist aber das Finden dieser Bazillen¬ 
ausscheider unendlich schwerer als man noch 1905 bei Abfassung des 
preußischen Gesetzes betr. die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten 
vermutete. Man fand neben den Dauerausscheidern noch die Perioden¬ 
ausscheider. Man ist schließlich bei keinem, der einmal Typhus oder 
gar Ruhr gehabt hat, also auch bei keinem für diese Krankheiten Widal- 
positiven, absolut sicher, daß er nicht doch mal wieder Bazillen aus¬ 
scheidet, auch wenn noch so viele Untersuchungen negativ ausfielen. Auf 
der anderen Seite ist aber auch schon beobachtet worden, daß selbst 
Dauerausscheider jahrelang keine Ansteckung verursachen. Diese zweifel¬ 
los vorhandenen unaufgeklärten epidemiologischen Fragen deutet m. E. 
in sehr überzeugender Weise die Seitenkettentheorie. Selbstverständlich 
gibt es keine Typhuserkrankung ohne Bazillen. Es kommt zunächst auf 
die Zahl an, ob mehr Bazillen angreifen als Schutzstoffe (Rezeptoren) im 


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Blute vorhanden sind. Die Zahl der Bazillen wird verstärkt durch ihre 



' Zahl der Bazillen 


Zahl der Receptoren 

A 





Virulenz 


agglutinophore 



Kraft. 


toxophore Kraft, die Virulenz, die Zahl der Rezeptoren durch ihre 
agglutinophore Kraft, die ihrerseits der toxophoren Kraft der Bazillen 
gegenübersteht. Wenn nun in diesem Parallelogramm der Kräfte eine 
Gleichgewichtsstörung eintritt, indem A zunimmt, D abnimmt oder gar 
beides zugleich, erst dann erfolgt die Infektion. Diese Gleichgewichts¬ 
störung kann nun begünstigt werden durch äußere Einwirkungen, z. B. 
ungewöhnlich hohe Temperaturen. Das ist längst bekannt, und es ist 
sicher kein Zufall, daß in diesem tropischen Sommer so viele und so schwere 
Typhusepidemien vorgekommen sind. Daß dadurch die allgemeine Wider¬ 
standkraft des Körpers, die Disposition (D) geschwächt werden kann, 
das begreift jeder Laie. Die Bakteriologen haben aber auch experimentell 
nachgewiesen, daß bei höheren Temperaturen die agglutinophore Kraft 
der Rezeptoren ab nimmt. Wenn wir uns aber daran erinnern, daß der 
Mensch die wichtigste, wenn nicht gar in letzter Linie ausschließliche, 
Ansteckungsquelle für Typhus bildet, daß außerhalb des menschlichen, 
Körpers die Bazillen für gewöhnlich nur kurze Zeit lebensfähig bleiben, 
in der Gallenblase dagegen jahrelang, so können wir im zoologischen Sinne 
von einer Symbiose sprechen, der Typhusbazillus ist der Parasit, der 
Mensch der Wirt. Vielleicht wird dann durch die erhöhte Temperatur 
das Wachstum dieser Kolonien und die Ausscheidung neugebildeter viru¬ 
lenter Bazillen begünstigt. Jedenfalls müssen wir heute nach Auffindung 
der periodischen Ausscheider mit sehr viel mehr eventuellen Bazillen¬ 
trägern rechnen, als man früher annahm. Auf einem Vortrage in der 
Dresdener Hygieneausstellung hat Lenz im verflossenen September darauf 
hingewiesen, es käme alles darauf an, die Bazillenträger von ihrer Gefähr¬ 
lichkeit zu überzeugen und sie zur größten Sauberkeit zu erziehen. Da 
nun Irren- und Idiotenanstalten die natürlichen Sammelstellen für Un¬ 
saubere und Unbelehrbare sind, so werden wir in Zukunft damit rechnen 
müssen, den Typhus- und Ruhrbazillen jederzeit und häufiger als anders¬ 
wo in unseren Anstalten auch ohne nachweisbare Einschleppung zu be¬ 
gegnen. Der Kampf gegen die Bazillen des Typhus und der Ruhr, die 
wir nach dem gegenwärtigen Stand der Frage wohl ebensowenig werden 
ausrotten können, wie die der Lungentuberkulose, die aber in Schranken 
zu halten schon von allergrößter Bedeutung für die Allgemeinheit ist, 
wird m. E. in Zukunft mit zu den wichtigsten Aufgaben der Anstalts¬ 
psychiater gehören. 



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774 


Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 


Diskussion. — Herr Käthe : Die Mitteilungen des Herrn Pkuhner 
über die anamnestischen Verhältnisse der Fälle, die wir im KgL Medizinal- 
Untersuchungsamte bakteriologisch untersucht haben, sind sehr inter¬ 
essant. Sie bestätigen speziell bezüglich der Dysenterie Anschauungen über 
die Epidemiologie in Irrenanstalten, die ich schon seit längerer Zeit 
hege und an anderer Stelle zum Ausdruck gebracht habe. 

So skeptisch wie Herr Plathner hinsichtlich der Erfolge einer plan¬ 
mäßigen Bekämpfung des Typhus in Irrenanstalten bin ich nicht. Im 
Gegenteil, wir haben in einer hessischen Anstalt, die früher schwer von 
Typhus heimgesucht war, durch systematische Arbeit eine vollständige 
Assanierung eintreten sehen. Die Maßnahmen bestanden vor allem in 
strengster Isolierung auf Grund bakteriologisch-serologischer Unter¬ 
suchungen aller neu aufgenommenen Kranken und aller Patienten der 
Abteilungen, auf denen sich Typhusfälle ereigneten. Wichtig ist, daß 
nicht nur zweifellose Bazillenträger, sondern auch auf Grund des sero¬ 
logischen Befundes als verdächtig zu bezeichnende Personen abgesondert 
werden. Für sehr wünschenswert halte ich die aktive Immunisierung 
des auf der Isolierabteilung arbeitenden Pflegepersonals und eine mög¬ 
lichst häufige Untersuchung ihrer Ausscheidungen. 

Der Ruhr in Irrenanstalten läßt sich allerdings mit Hilfe dieser 
Maßnahmen allein nicht beikommen. Auf Grund eigener, bisher allerdings 
noch nicht umfangreicher Beobachtungen möchte ich die rektoskopische 
Untersuchung zur Feststellung chronischer Ruhrkranker empfehlen. 

Herr von Kunowski- Leubus: „Willensfreiheit und 
Verantwortlichkei t.“ 

(Erscheint demnächst ausführlich.) 

Diskussion. — Herr Neisser. 

Herr P. Schröder: „Über Pseudoparalyse.“ 

„Pseudoparalyse“ bedeutet keine klinische Diagnose, sondern wird 
als Sammelname für Zustandbilder sehr verschiedener Genese und Ätio¬ 
logie gebraucht, die vorübergehend oder für längere Zeit gewisse ominöse 
Symptome der allgemeinen Paralyse der Irren aufweisen. Die Bedeutung 
der Bezeichnung Pseudoparalyse ergibt sich aus der Bedeutung der echten 
Paralyse für die Psychiatrie; der Name stammt aus einer Zeit, in welcher 
der Krankheitbegriff Paralyse rein symptomatisch gefaßt wurde, in 
welcher die Paralyse nur als eine der Ausgangsmöglichkeiten sehr ver¬ 
schiedener psychischer Erkrankungen galt. Für uns ist jetzt die Paralyse 
der Irren eine genau umschriebene Krankheit sui generis; ihre Erkennung 
wird erleichtert durch eine Reihe von neuen diagnostischen Hilfsmitteln, 
und für ihre allgemeine Umschreibung ist die Histopathologie maßgebend 
geworden; die Paralyse ist in letzter Linie ein anatomischer Krankheit - 
begriff, und in klinisch strittigen Fällen kann schließlich immer nur die 


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anatomische Untersuchung den Ausschlag geben. Solche strittigen Fälle, 
in denen es sich um die Unterscheidung Paralyse oder Pseudoparalyse 
handelt, sind seltener geworden, seit wir die Wassermannsche Reaktion 
besitzen, und seit wir eine Reihe von Abweichungen kennen, die der Liquor 
cerebrospinalis in allen Fällen von Paralyse aufweist. 

Ernsthafte Schwierigkeiten, auch bei Verwendung des ganzen uns 
zur Verfügung stehenden diagnostischen Rüstzeuges, machen vor allem 
noch Kombinationen von nichtparalytischen Psychosen bzw. 
Defekten mit organischen Hirn-Rückenmarksleiden, welche ganz oder zum 
Teil dieselben Befunde wie die Paralyse geben (neben den neurologischen 
auch positive Wassermannsche Reaktion, Vermehrung der Lymphozyten, 
des Eiweißgehaltes usw. in der Spinalflüssigkeit), d. h. also Kombinationen 
ganz vorwiegend mit Tabes, mit Lues spinalis und mit Lues cerebro¬ 
spinalis in ihren verschiedenen Formen. In allen diesen Fällen können 
unsere neurologischen, zytologischen, biologischen usw. Hilfsmittel für 
die Paralysediagnose ganz oder fast ganz wertlos sein. Von den nicht¬ 
paralytischen Psychosen und Defekten kommen als „Pseudoparalysen“ 
erfahrunggemäß am häufigsten in Betracht: das manisch-depressive 
Irresein, die Tabespsychosen, arteriosklerotische Defekte, und sodann 
toxische Psychosen, vor allem solche mit dem Korsakowschen Symptomen- 
komplex. 

Gelegentlich kann es auch Vorkommen, daß sich zu einer anfäng¬ 
lichen „Pseudoparalyse“ im weiteren Verlauf eine echte Paralyse hinzu- 
gesellt. 

Vortragender demonstriert im Anschluß daran einen Kranken, der 
erhebliche diagnostische Schwierigkeiten macht, bei dem sich jedenfalls 
zurzeit ein sicheres Urteil über das Vorliegen oder Nichtvorliegen 
einer Paralyse nicht fällen läßt: 

H. E., Restaurateur, 52 J. Schwerer Potus mindestens seit 1888, 
Lues vor 20—25 Jahren. Seit 1905 wegen alkoholdeliranter Zustände 
7 mal in Krankenhausbehandlung. Gleich das erste Delir verlief protra¬ 
hiert; erhebliche polyneuritische Störungen, bei Entlassung noch schlechte 
Merkfähigkeit; 1908 ein „schweres“ Delir; vorher und nachher nur kurze 
delirante Zustände. Seit Juni 1910 dauernd in der Klinik. 

Die Pupillen reagierten 1905 noch prompt auf L. und K., waren 
aber etwas different; seit 1907 ist die linke Pupille reflektorisch starr, 
seit 1910 dazu auch die rechte fast starr auf Licht; beide reagieren noch 
jetzt auf Konvergenz. Die Achillessehnenreflexe fehlen seit 1905 dauernd; 
die Patellarsehnenreflexe waren anfangs schwach, fehlten später (1907 bis 
1909), seit 1910 wird notiert: Patellarsehnenreflexe schwach vorhanden, 
1 ;> r. 1909 wurde anderwärts die Diagnose Tabes gestellt; im Blut 
Wassermannsche Reaktion positiv, Lymphozytose des Liquor spinalis. 
Seit 1909 FazialisdilTerenz (r <C 1), seit 1910 dauernd 1. Babinski und zu¬ 
nehmend verwaschene Sprache; Ohnmächten und Schwindelanfälle sollen 
etwa seit 1902 gelegentlich aufgetreten sein, mehrmals mit Zungenbiß. 


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776 Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 

Seit der letzten Aufnahme in die Klinik (Juni 1910) rasche Pro¬ 
gredienz des Krankheitbildes: sehr bald ständiges remittierendes Deli¬ 
rieren (bei Tage frei, abends und nachts unruhig), dann in den freieren 
Zeiten ausgesprochenes Korsakowsches Bild; Anfang 1911 phantastische 
Konfabulationen (Bleirohr verschluckt, Penis abgeschnitten, silberne 
Hoden eingesetzt). Zunehmend dement-euphorisch, elementare Kennt¬ 
nisse kaum noch reproduzierbar, gelegentlich blöde Größenideen (König); 
progredient unbeholfen; in den letzten Monaten langsame Gewichts¬ 
abnahme. August 1910 kurzer „Anfall' mit Zuckungen; August 1911 
Anfall mit nachfolgender sensorischer Aphasie, die sich langsam zurück¬ 
bildete. September 1911 drei epileptiforme Anfälle mit nachfolgender 
sensorischer Aphasie. November 1911: Status epilepticus von einigen 
Stunden Dauer. Sprache seit den Anfällen 4 stark verschlechtert, ver¬ 
waschen bis zur Unverständlichkeit, paraphasische Elemente. 

September 1910: serologisch Blut +, Liquor —, Lymphozyten nicht 
sicher vermehrt, Eiweiß ganz leicht vermehrt. 

Januar 1911: serologisch Blut und Liquor -f-, erhebliche Lympho¬ 
zytose, Eiweiß leicht vermehrt. 

Einerseits handelt es sich demnach, wie die Krankheitentwicklung 
lehrt, um chronischen Alkoholismus mit anfänglich abgesetzten (aber von 
vorherein etwas protrahiert verlaufenden und mit groben polyneuritisehen 
Symptomen komplizierten) Alkoholdelirien, die späterhin in ein chroni¬ 
sches Delir (JTorsaAowsche Psychose) übergingen. 

Andererseits allmähliche Entwicklung von reflektorischer Pupillen- 
starre und Lymphozytose des Liquor spinalis bei positiver Wassermann¬ 
scher Reaktion im Blut. 

Drittens seit 1910 psychisch ein über die Symptome der Korsakow- 
sehen Psychose hinausgehendes Bild, nebst Entwicklung von Sprach¬ 
störung, Fazialisdifferenz, Babinskischem Zeichen und Anfällen kortikalen 
Charakters, zuletzt auch positive Wassermannsche Reaktion im Liquor 
spinalis. 

An die Möglichkeit muß jedenfalls gedacht werden, daß hier bei 
einem Potator sich zu einer alkoholischen JTorsaftowschen Psychose eine 
progressive Paralyse gesellt hat. Größere Wahrscheinlichkeit hat die 
Annahme der Kombination von alkoholischer Korsakowscher Psychose 
mit rudimentärer Tabes (oder auch spinaler Lues), Arteriosklerose oder 
Lues cerebri (Endarteriitis?). Jedoch selbst wenn diese Annahme richtig 
ist, wird sich nicht ausschließen lassen, daß dazu jetzt noch seit kurzem 
eine Paralyse in der Entwicklung begriffen ist. 

Eine endgültige Klärung wird erst der Obduktionsbefund geben 
können. 

Herr (). Formten Demonstration zur Differential¬ 
diagnose der Paralyse und Pseudoparalyse. 


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Fall 1. 61 Jahre alte Frau, von jeher nervös, seit einiger Zeit 
vergeßlich und auffallend lebhaft. Wird am 6. Juli 1911 ins Krankenhaus 
gebracht, nachdem sie zwei Tage vorher von Hause fortgelaufen war und 
mit total durchnäßten Kleidern aufgefunden wurde. Sie behauptet, von 
einem fremden Manne überfallen und dann von ihm ins Wasser gestoßen 
worden zu sein. Während ihres Aufenthaltes im Krankenhaus bietet 
Patientin das ausgesprochene Bild der Presbyophrenie, Patientin ist ört¬ 
lich und zeitlich völlig desorientiert, verkennt die Personen ihrer Um¬ 
gebung. Hochgradige Vergeßlichkeit, starke Konfabulationstendenz, die 
so weit geht, daß Patientin von einer ihr vorgelegten Postkarte lange 
Geschichten herunter vorliest, auch im übrigen erzählt sie fortwährend 
von ihren Unternehmungen und Leistungen, berichtet von Personen, die 
sie besuchen kommen. Stimmung meist heiter und lebhaft, betätigt sich 
bei Tage viel, indem sie beim Austeilen des Essens hilft, sich viel um die 
anderen Kranken zu schaffen macht. Macht häufig witzige Bemerkungen 
über ihre Umgebung. Manchmal Stimmung ängstlich deprimiert, kon- 
fabuliert dann von Leuten, die sie bedrohen, draußen auf sie warten und 
sie abholen wollen, gelegentlich auch von Mördern, die sie im Bett ver¬ 
prügeln, von Personen, die sie aus ihrem Bett herausjagen wollen. Ihre 
Kenntnisse sind stark reduziert, immerhin ist sie über die hauptsächlich¬ 
sten Ereignisse ihres Lebens, mit Ausnahme der letzten Zeitspanne, gut 
orientiert. Nicht das geringste Silbenstolpern, keinerlei sonstige Sprach¬ 
störungen. Nachts sehr häufig delirant, läuft im Hemd umher; am Tage 
dann total amnestisch dafür. Zeichen von Arteriosklerose sind bei der 
Kranken nicht festzustellen. In körperlicher Beziehung besteht reflekto¬ 
rische Pupillenstarre; Patellarreflexe beiderseits erhalten, Achillesreflexe 
fehlen beiderseits. Babinski beiderseits negativ. Anamnestisch ist nach¬ 
zutragen, daß die Kranke elfmal abortiert hat. Wassermann im Blut und 
Liquor cerebrospinalis positiv; ferner hochgradige Lymphozythose, Nonne- 
Apelt positiv, starke Eiweißvermehrung. 

Das Interessante des Falles liegt darin, daß die Kranke, die klinisch 
durchaus das Bild der senilen, beziehungweise der arteriosklerotischen 
Hirnatrophie bietet, doch auf Grund der körperlichen Symptome und 
besonders auf Grund des Verhaltens des Blutes und Lumbalpunktates, 
in serologischer, zytologischer und chemischer Beziehung, als Paralyse 
anzusprechen ist. Dabei bleibt allerdings noch zunächst die Frage offen, 
wie weit eventuell doch eine senile beziehungweise arteriosklerotische 
Hirnatrophie vorliegt, bei der gleichzeitig auf Grund einer früheren Lues 
luische Symptome vorhanden sind. Um diese Frage zu entscheiden 
und gleichzeitig damit für die Therapie eventuelle Gesichtspunkte zu ge¬ 
winnen, habe ich zu einem Verfahren gegriffen, das ich in letzter Zeit 
wiederholt zur Differentialdiagnose verwandte, indem ich mittels der 
JVeiwerschen Hirnpunktion Stückchen direkt aus der Hirnrinde aspiriere 
und dieselben dann einer mikroskopischen Untersuchung unterziehe. Ich 


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Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 


nehme dies stets am rechten Frontallappen vor. Es gelingt bei Paralytikern 
sehr gut, aber auch bei anderen hirnatrophischen Prozessen, einigermaßen 
Aufschluß über die Natur des zugrundeliegenden Prozesses zu gewinnen. 
Vortragender verweist auf das ausliegende Präparat von vorliegendem 
Fall Es zeigt reichliche perivaskuläre Infiltrationen der Hirngefäße mit 
Lymphozyten und einzelnen Plasmazellen; ferner recht deutlich die 
Verschiebung des Schichtungszustandes der Rinde. 

Fall 2. G. P., 30 Jahre alt, Friseur. Wurde am 28. Juni ins 
Hospital geschickt, unter der Diagnose der progressiven Paralyse. Die 
Angehörigen des Kranken gaben an, daß er seit mehr als Jahresfrist sehr 
erregbar und vergeßlich geworden sei, und daß er deshalb vor einigen 
Monaten sein Geschäft habe aufgeben müssen. Vor 10 Tagen plötzlich 
Bewußtlosigkeit, vor 5 Tagen Zustand auffallender Ruhe, er sprach nicht, 
aß nicht, rührte sich nicht vom Platze weg und vertiefte sich intensiv 
in die Berechnung seiner Ausgaben. Am Tage vor der Einlieferung Krampf¬ 
anfall. Bei der Einlieferung zunächst ausgesprochenes katatonisches 
Zustandbild. Patient völlig akinetisch, Augen halb geschlossen, öffnet 
auf Geheiß dieselben nur ganz langsam und wenig, wiederholt häufiges 
Knirschen mit den Zähnen. Patient völlig mutazistisch, verweigert die 
Nahrung ganz oder ist nur mit Mühe zur Aufnahme geringer Flüssigkeits¬ 
mengen zu bewegen, die ihm in den Mund eingeflößt werden müssen, und 
die er dann nach geraumer Zeit herunterschluckt. Ausgesprochene negati- 
vistische Starre der Glieder. Linkerseits Babinski positiv. Pupillen gleich 
weit, reagieren. Augenhintergrund normal; Patellar- und Achillesreflexe 
vorhanden, gesteigert. In den nächsten Tagen bessert sich der Zustand 
etwas. Patient antwortet auf Fragen mit langsamer, sehr leiser und 
vibrierender Stimme. Ist etwas besser zur Aufnahme der Nahrung und 
zum Schlucken zu bewegen; muß aber noch künstlich gefüttert werden. 
Läßt Stuhl und Urin unter sich. Im weiteren Verlauf verliert sich der 
akinetische Symptomenkomplex mehr und mehr, und es besteht nunmehr 
das deutliche Bild einer ausgesprochenen paralytischen Demenz bei dem 
Kranken. Patient ist vollkommen desorientiert, die Angaben über die 
Ereignisse seines Lebens sind ungenau; Merkfähigkeit schlecht, rechnen 
kann Patient überhaupt nicht. Seine Kenntnisse erscheinen vollständig 
verarmt; die Sprache ist deutlich vibrierend, leise, deutliches Silben¬ 
stolpern. Beim Zeigen der Zähne oder beim Vorstrecken der Zunge grimas- 
sierende Mitbewegungen des Gesichtes und am Platysma, Ungleichheiten 
des Lippenfazialis, der zumeist linkerseits paretisch ist. Ausgesprochen 
paralytische Schreibstörung; Schrift zittrig, Auslassen von Buchstaben. 
Verstellen von Buchstaben, Verdoppelung von Silben usw.. Im weiteren 
Verlauf ändert sich das psychische Bild insofern etwas, als Patient seine 
örtliche Orientierung gewinnt und seine Kenntnisse etwas reichlicher 
erscheinen; Sprachstörungen und Schriftstörungen bestehen fort, ebenso 
die sehr schlechte Merkfähigkeit. Patient ist seinem Wesen nach stumpf. 


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nimmt an den Vorgängen auf der Station nur selten Anteil. Konfabuliert 
stark, produziert dabei äußerst phantastische schwachsinnige Erzählungen, 
zeitweilig Größenideen. Dieser Zustand dauert etwa bis Ende August, 
zum Schluß dieser Zeit war der Kranke immer stumpfer und unaus¬ 
giebiger geworden. Er läßt Stuhl und Urin fortgesetzt unter sich, er ist 
dauernd bettlägerig, zeigt wieder deutliches kataleptisches Verhalten. 
Patient hat also bisher in klinischer Beziehung das ausgesprochene Bild 
einer paralytischen Demenz geboten. Demgegenüber war die Wassermann- 
sehe Reaktion im Blut und Liquor stets negativ. Der Liquor cerebro¬ 
spinalis hatte eine deutlich bernsteingelbe Farbe und enthielt massenhaft 
Leukozyten, positiven Nonne-Apelt und starke Eiweißvermehrung. 
Bei den späteren Punktionen waren die Leukozyten allmählich ver¬ 
schwunden und hatten einer starken Lymphozytose Platz gemacht. Auf 
Grund dieses Befundes konnte die Diagnose Paralyse natürlich nicht ge¬ 
stellt werden. Es handelte sich nur um ein pseudoparalytisches 
Zustandbild. Wegen der Leukozytose hatte ich angenommen, 
daß eine Meningitis oder ein Hirnabszeß vorläge, auch an Zystizerken- 
oder Echinokokkenmeningitis wurde gedacht. Die Echinokokkenserum¬ 
reaktion fiel negativ aus. Hirnpunktion ist über dem rechten und linken 
Stirnhirn gemacht worden, förderte keinen Eiter zutage. Anfang Sep¬ 
tember setzte nun bei dem Kranken heftiges Erbrechen ein, doppelseitige 
Stauungspapille, Zustände tiefer Benommenheit, die Fazialisparese links 
wird stärker, es treten im rechten Fuß klonische Zuckungen auf. Eine 
erneute Hirnpunktion über dem rechten Slirnhirn fördert deutliche Tumor¬ 
massen zutage. Trepanation am 5. September (Professor Tietze). Aus¬ 
gedehntes Sarkom im rechten Frontallappen. Zwei Tage später Exitus. 
Die Autopsie zeigt, daß es sich um ein sehr blutreiches Sarkom handelt, 
das auch nach der linken Hemisphäre, dem Balken und dem Septum 
pellucidum bis in die Stammganglien der linken Hemisphäre hinüber¬ 
gewachsen ist. Der Fall lehrt erstens, daß ein pseudoparalyti¬ 
sches psychisches Zustandbild lange Zeit allein vorhanden 
sein kann bei einem Tumor cerebri von der eben angegebenen Lokali¬ 
sation. Beachtenswert ist ferner das Verhalten des Lumbalpunktates, 
speziell die goldgelbe Farbe sowohl wie die ausgesprochene Leukozytose. 
Vortragender hat genau dasselbe Verhalten in einem anderen Falle von 
Tumor des Frontallappens (Fibrosarkom) beobachtet, bei dem die gelbe 
Färbung genau die gleiche war, während die Leukozytose nicht so aus¬ 
gesprochen war, sondern etwa mit der Lymphozytose sich das Gleich¬ 
gewicht hielt. In klinischer Beziehung hatte dieser Fall anfänglich das 
Bild einer Meningitis geboten, zuletzt war ausgesprochene zerebellare 
Ataxie und Schwund der Sehnenreflexe hinzugetreten. 

Diskussion. — Herr Spengler fragt, wie man sich in solchen 
Fällen therapeutisch verhalten solle. 

Herr Förster tritt i. Allg. für energische spezifische Behandlung ein. 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXIX. 5. 53 


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Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 


Herr Kramer berichtet an der Hand von Oehirnschnitten über 
den anatomischen Befund des im Jahre 1 903 de¬ 
monstrierten Falles von kortikaler Tastlähmung 
(Monatsschrift für Psych. und Neur., Bd. 19, S. 132). Es handelte sich 
um ein damals 13 Jahre altes Mädchen, das im Alter von 6 Jahren akut 
unter Fieber und Krämpfen in der linken Körperhälfte erkrankte. Es 
blieben zurück geringe Motilitätsstörungen an der linken Hand (Er¬ 
schwerung der Opposition des Daumens und Parese der Interossei) und 
Reflexsteigerung auf der linken Seite. Ferner bestand an der linken Hand 
eine erhebliche Störung der Stereognose bei einer nur andeutungweise 
vorhandenen Herabsetzung der Lageempfindung, des Drucksinns und des 
Raumsinns. 

Die anatomische Untersuchung ergab einen Herd im oberen Teile 
des mittleren Abschnittes der vorderen Zentralwindung; er nimmt die 
ganze Windungskuppe ein, greift nach vorn etwas in die angrenzende 
Frontalwindung über; zerstört ist die Rinde ferner am Abhange der vor¬ 
deren Zentralwindung nach der Zentralfurche hin, sowie, besonders in 
dem mittleren Teile des Herdes, auch die der hinteren Zentralwindung an- 
gehörige Hinterwand des Sulcus centralis. Die Kuppe der hinteren 
Zentralwindung ist dagegen frei geblieben. Der Herd greift von der Rinde 
aus etwas in das Windungsmark, dagegen nicht in das Marklager über; 
sekundäre Degenerationen lassen sich nur aus der vorderen Zentralwindung 
in das Marklager hinein verfolgen. Der anatomische Befund bestätigt 
die klinisch gestellte Diagnose eines kortikalen Herdes. 

Bemerkenswert ist bei den geringen Motilitätsstörungen die erheb¬ 
liche Zerstörung im Bereiche der vorderen Zentralwindung. Bezüglich der 
Lokalisation der Tastlähmung läßt sich auf Grund des Befundes nicht ent¬ 
scheiden, ob dafür die vordere Zentralwindung oder der der Zentralfurche 
zugewandte Abhang der hinteren Zentralwindung in Anspruch zu nehmen 
ist. Vortragender neigt mehr der letzten Ansicht zu, zumal in den bisher 
mitgeteilten Fällen von Sensibilitätsstörungen bei Herden im Gyrus cen¬ 
tralis anterior sich eine Mitbeschädigung der hinteren Zentralwindung in 
der hier gefundenen Ausdehnung in der Regel nicht ausschließen läßt 

Herr Bonhoeffer demonstriert das Gehirn des in der 
1 e t z t e n W i n t e r s i t z u n g v o r g e s t e 111 e n Kranken mit 
Agnosie. Die Diagnose auf doppelseitige, den Schläfenlappen, das an¬ 
liegende Zervikal- und Occipitalhirn betreffende Erweichungsherde ist 
durch den Obduktionsbefund bestätigt worden. Die eingehende Besprechung 
wird erst nach erfolgter Zerlegung des Gehirns in Serienschnitte erfolgen. 
Was in klinischer Hinsicht schon jetzt gesagt werden kann, ist, daß die 
Annahme Wernickes, daß die Lokalisation der sensorischen Aphasie mit 
der Lokalisation der Sprachoktave im Schläfenlappen übereinstimme, 
nicht zutreffend ist, da trotz doppelseitiger Herde im Bereich der Wernieke 
sehen Stelle die kontinuierliche Tonreihe erhalten geblieben ist. Das 


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Psychiatrischer Verein zn Berlin. 


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Nicht wiederkehren des Sprachverständnisses bei doppelseitiger Schläfen - 
lappenerkrankung muß deshalb anders erklärt werden. 

99. Sitzung des Ostdeutschen Vereins für Psychiatrie 
zu Freiburg am 29. Juni 1912. 

Direktor Buttenberg widmet den Teilnehmern der Sitzung herzliche 
Begrüßungsworte, und nach einem Frühstück, welches die Provinz ial- 
Verwaltung den Teilnehmern und ihren Damen in dem Festsaal der Anstalt 
bot, eröffnet Herr Neisser die Sitzung mit einem N achruf auf das 
kürzlich verstorbene Vereinsmitglied, Herrn Sanitätsrat Dr. Kteudgen, 
den Besitzer und langjährigen ärztlichen Leiter der Privat-Irrenanstalt 
zuObernigk, der sich nicht nur durch seine praktische Tätigkeit einen 
Namen gemacht, sondern auch früher namentlich wissenschaftlich lite¬ 
rarisch betätigt und noch im letzten Jahresberichte seiner Anstalt sehr 
beachtenswerte Ausführungen über die rechtlichen Befugnisse der Anstalt- 
leiter, über ärztliche Diskretion, Haftung u. dgl. gemacht hat. Die An¬ 
wesenden erheben sich zum ehrenden Gedenken von ihren Plätzen. 

Sodann überbringt Herr Neisser die Grüße des bisherigen Vorsitzen¬ 
den des Vereins, des Herrn Bonhoeffer, der sich durch die Berufung auf 
den Berliner Lehrstuhl an der Weiterführung des Vorsitzes gehindert 
sieht, aber erfreulicherweise Mitglied des Vereins geblieben ist. Sowie 
früher Wernicke hat auch Herr Bonhoeffer die Ergebnisse aller wichtigeren 
Arbeiten seiner Klinik zuerst im Vereinskreise zur Mitteilung gebracht, und 
seiner Förderung ist es ganz wesentlich zu danken, daß die Sitzungen 
einen dauernd gesteigerten Besuch aufgewiesen haben. Herr Neisser wird 
beauftragt Herrn Bonhoeffer den Dank des Vereins für seine langjährige 
Mühewaltung auszusprechen. 

Herr Buttenberg hielt sodann einen Vortrag über die Entwicklung der 
Freiburger Provinzial-Heil- und Pflege-Anstalt und erläuterte deren Anlage 
an der Hand eines Planes. Hieran schloß sich eine eingehende Besichtigung 
der Anstalt, und danach erfolgte ein Ausflug zu Wagen nach dem Fürsten¬ 
steiner Schloß und weiter nach Bad Salzbrunn, wo das gemeinsame Mittag¬ 
essen eingenommen und ein äußerst gemütliches Beisammensein in den 
herrlichen Kuranlagen bis zum späten Abend gefeiert wurde. 

Dr. Neisser. 


138. Sitzung des Psychiatrischen Vereins zu Berlin am 

29. Juni 1912. 

Anwesend : AnAer-Lichtenrade, Bonhoeffer- Berlin, Brots-Dalldorf, 
BattenAerg-Lichtenberg, Gallus -Potsdam, Frau Dr. Geheeb-Lieberknecht- 
Gr.-Lichterfelde, //eine-Dalldorf, Hildebrandt -Dalldorf, Juliusburger- Steg¬ 
litz; Autzmsfti-Berlin a. G., Hans LaeAr-Schweizerhof, Liepmann- Dalldorf, 
t». Mach- Bromberg a. G., Afarcuse-Lichtenberg, Moe/i-Lichtenberg, Riebeth- 
Landsberg, Sander- Dalldorf, Schmidt - Lichtenberg, .ScAmüz-Neuruppin, 

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7g2 Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 

»Seeger-Lübben, Viedenz Eberswalde, Vierecke -Lichtenberg, Zinn-Ebers - 
walde. 

Der Kassenführer Zinn -Eberswalde legt Rechnung über die Vereins¬ 
kasse ab und erhält Entlastung. Der Jahresbeitrag wird wieder auf 3 M. 
festgesetzt. 

An Stelle von Ziehen , der nach Wiesbaden verzogen ist, wird Bon - 
hoeffer -Berlin in den Vorstand gewählt; die anderen Vorstandmitglieder 
werden durch Zuruf wiedergewählt. 

Heine -Dalldorf: Ein Fall von Idiotie mit starker 
Adipositas. 

Der 1878 geborene Patient ist der eheliche Sohn eines Schutzmanns. 
Der Vater soll geistig normal sein und nicht trinken. Der Vater der Mutter 
war ein körperlich schwächlicher Mann; die Mutter selber ist normaL 
Eine Anlage zu Fettsucht besteht in der Familie nicht. 

Die Mutter des Pat. machte zwei regelrechte Entbindungen und eine 
Frühgeburt durch. Pat. ist aus dem ersten Partus hervorgegangen. Das 
zweitgeborene Kind, ein Knabe, starb 5 Tage alt unter Erscheinungen des 
Kinnbackenkrampfes. Die Frucht der Frühgeburt, die vom 7. Monat 
war, war tot, soll aber nicht totfaul gewesen sein. 

Pat. war nach Angabe der Mutter von jeher ein großes starkes Kind, 
entwickelte sich aber körperlich wie geistig zunächst normal. Er lernte 
zur rechten Zeit laufen und fing mit ersten Sprechversuchen rechtzeitig 
an. Mit l 3 / 4 Jahren erkrankte er schwer an Diphtherie, und im Anschluß 
daran soll er drei Tage an Krämpfen gelitten haben. Seitdem hat er die 
Sprache und den Verstand verloren. 

Im Alter von 5 Jahren soll er dann noch schwer krank an Typhus 
gewesen sein. 

Die Länge des Pat. betrug bei seiner Aufnahme in Dalldorf im Alter 
von 6 Jahren 1,19 m, das Gewicht bereits damals 28 kg. Der Schädel¬ 
umfang war 52 cm. Die Schilddrüse war nicht fühlbar. 

Die körperliche Untersuchung ergab im übrigen keine Besonderheiten. 
Psychisch bot er das Bild des Vollidioten. Er konnte kein Wort sprechen; 
höchstens brachte er als einzig noch erhaltenen Sprachrest dann und 
wann mal seinen Namen Ali vor. 

In seinem Verhalten war er sehr unruhig, grimassierte viel. Außer¬ 
dem verunreinigte er sich mit Kot und Urin. 

Im Jahre 1894, also in einem Alter von 16 Jahren des Pat., betrug 
sein Körpergewicht bereits 75,5 kg. Er war zu keiner, selbst der ein¬ 
fachsten Arbeit nicht, zu brauchen, ließ Urin und Fäzes in die Kleider 
und spielte an seinen Genitalien offen vor allen herum. Er wurde damals 
einer Schilddrüsenkur unterzogen, bei der er bis zu 15 gr Hammelschild¬ 
drüse, aber ohne irgendwelchen Erfolg, erhielt. Eine später eingeschlagene 
Behandlung mit Thyreoidintabletten hatte gleichfalls ein negatives Er¬ 
gebnis. 


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Am 4. August 1897 machte Pat. 6 Uhr morgens eine Art von Jackson - 
schem Anfall durch. Er sank, als er auf dem Korridor spazieren ging, auf 
einmal langsam hin, nachdem er sich vorher mit dem Rücken gegen die 
Wand gelegt hatte, und verlor das Bewußtsein. Es traten dann zuerst 
Zuckungen in der rechten Gesichtshälfte bei ihm auf, dann in beiden 
Armen, schließlich nur noch im rechten Arm. Pat. hatte dabei blutigen 
Schaum vor dem Munde, ohne sich jedoch zu verunreinigen. Nach drei 
Stunden kehrte das Bewußtsein wieder. Ein derartiger Anfall ist später 
nicht mehr beobachtet worden. 

Das Körpergewicht erreichte seine größte Höhe bei ihm im August 
1906 mit 152 kg. 

Zurzeit hat er folgenden Befund: 

Der Halsumfang ist 54,9 cm, 

der Brustumfang ist 142 cm, 

der Schädelumfang beträgt 61,0 cm. Die Schädelform ist sym¬ 
metrisch, mesokephal; die Stirn ist leicht fliehend, niedrig. Die Ohr¬ 
läppchen sind adhärent. Die Ohren sind stark über die Fläche gekrümmt. 

Es besteht nur ein Anflug von Barthaar. Achselhöhlen- und Scham¬ 
haare sind gleichfalls schwach. Der Penis ist kurz. Die Testikel aber 
sind von normaler Größe. Die Wirbelsäule ist etwas kyphotisch ver¬ 
krümmt. 

Der Puls ist weich, 80 an Zahl. An den inneren Organen findet sich 
im übrigen nichts Besonderes. In seinen Bewegungen hat Pat. etwas 
ungemein Plumpes, Schwerfälliges. Während Pat. in seiner Jugend ein 
erethischer Idiot war, ist er jetzt gänzlich torpide. Sprachliche wie un¬ 
artikulierte Laute fehlen vollkommen. Ein Sprachverständnis ist auch 
fast gar nicht vorhanden. Die beste Verständigung ist noch durch Finger¬ 
zeichen mit ihm möglich. 

Sein ganzer Interessenkreis ist ausschließlich auf das Essen ge¬ 
richtet, von dem er unglaubliche Quantitäten in tierischer Weise zu ver¬ 
schlingen imstande ist. Geschlechtlich scheint er vollkommen indifferent 
zu sein. Zur Verrichtung seiner Bedürfnisse geht er hinaus und verun¬ 
reinigt sich nicht mehr wie früher. Das Anlegen der Kleider vermag er 
nur mit fremder Hilfe zu bewerkstelligen. Zu irgendeiner nutzbringenden 
Tätigkeit ist er gänzlich ungeeignet. 

Es lag nahe, im vorliegenden Falle an das Vorhandensein eines 
Hypophysentumors zu denken, der zu einer Degeneratio adiposo-genitalis 
geführt hat, einem Krankheitbilde von dem von Frankl-Hocbvart Fälle 
beschrieben worden sind. 

Die Idiotie würde sich durch eine Enzephalitis im Anschluß an die 
im Alter von l 3 / 4 Jahren durchgemachte Diphtherie erklären lassen. Auf 
eine dabei stattgehabte herdförmige Schädigung des Gehirns würde der 
Krampfanfall hinweisen, den Pat. im Jahre 1897 durchgemacht hat, der, 
wenn er auch kein typisch /acfoonscher ist, doch mit der Rindenepilepsie 
eine gewisse Ähnlichkeit hat. 


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Es muß fraglich erscheinen, ob der Fall überhaupt in die Gruppe der 
Degeneratio adiposo-genitalis zu zählen ist. Der negative radiologische 
Befund im vorliegenden Falle spricht übrigens nicht gegen das Bestehen 
einer Hypophysenerkrankung. Bei der Akromegalie sind Fälle beschrieben, 
in denen sich im vorderen drüsigen Teil der Hypophyse nur mikroskopische 
Veränderungen fanden. In einem Falle war der Tumor im Keilbein ver¬ 
borgen, so daß er sich einer radiologischen Untersuchung vermutlich ent¬ 
zogen haben würde. In gleicher Weise könnten ja auch bei der Degeneratio 
adiposo-genitalis, die auf eine Schädigung des hinteren, nervösen Teiles 
der Hypophyse zurückzuführen ist, oder bei ähnlichen Erkrankungen nur 
mikroskopische Veränderungen vorliegen. Es bestände also die Möglich¬ 
keit, daß auch im vorliegenden Falle neben einer Rindenschädigung, durch 
welche die Idiotie bedingt ist, noch eine Erkrankung der Hypophysis ein¬ 
hergeht, die zu Fettsucht geführt hat. Beide Erkrankungen könnten in 
der schweren Diphtherie, die Pat. im Alter von 1*/« Jahren durchgemacht 
hat, ihre gemeinsame Ursache haben. 

7uiius&urger-Steglitz: Zur Lehre von den Fremdheits¬ 
gefühlen. 

An der Hand der von Loewenfeld veröffentlichten Arbeit über träum- 
artige und verwandte Zustände bespricht Juliusburger unter gleichzeitiger 
Zugrundelegung seiner einschlägigen früher mitgeteilten Fälle das Auf¬ 
treten von Fremdheitsgefühlen, wobei das Gefühl der Fremdartigkeit, der 
Veränderung, das Bewußtsein der Außenwelt, des eigenen Körpers, der 
eigenen Persönlichkeit ergreifen kann. Juliusburger bringt zwei neue Fälle 
zur Kenntnis, welche das Auftreten von Fremdheitsgefühlen in ausge¬ 
sprochener Weise erkennen lassen. Das Gegenstück des Fremdheits¬ 
gefühles ist das Gefühl der Identifikation mit einem anderen Individuum 
oder dessen Leistungen, eine Identifikationstörung, die gleichfalls in der 
Psychologie der Psychosen und Neurosen eine große Rolle spielt. Das 
Gefühl der Identifikation kann nur zustande kommen durch eine starke 
Gefühlsübertragung auf das Objekt. Das Gefühl der Entfremdung tritt 
ein, wenn eine Gefühlstrennung mehr oder weniger extensiv und intensiv 
durch eine Störung des seelischen Mechanismus sich einstellt. Auch ist 
noch folgender Gesichtspunkt in Betracht zu ziehen. Wird der seelische 
Mechanismus in seinem harmonischen Zusammenhänge erschüttert, steigen 
aus dem Unterbewußtsein Komplexe auf, welche das Oberbewußtsein 
ablehnt und als Fremdlinge betrachtet, so wird auch hierdurch naturgemäß 
ein Gefühl der Befremdung, ein Fremdheitsgefühl sich einstellen, welches 
einerseits das Persönlichkeitsbewußtsein befallen und andererseits in dem 
Drange nach Objektivierung sich dem Bewußtsein der Außendinge zu- 
gesellen kann. In letzterem Falle wird es sich um einen ähnlichen Vorgang 
wie beim paranoischen Mechanismus im Stadium der Bildung des Ver¬ 
folgungswahnes handeln, dessen Genese darin zu erblicken sein dürfte. 


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daß im Unterbewußtsein des Individuums diesem gewisse Komplexe zu 
schaffen machen» es bedrängen, verfolgen und, auf die Außenwelt proji¬ 
ziert, in Vorstellungen der Bedrückung und Verfolgung dann wiederkehren. 

(Der Vortrag erscheint in der Monatsschrift für Psychiatrie und 
Neurologie.) 

Diskussion. — Bonhoeffer- Berlin: Ich möchte an den Herrn 
Vortragenden die Frage richten, ob er nicht auch der Ansicht ist, daß das 
Fremdheitsgefühl kein psychopathogenetisqh einheitlich zu beurteilendes 
Phänomen ist. Ich habe die von dem Vortragenden so anschaulich ge¬ 
schilderte Form am häufigsten bei leichten Depressionszuständen von 
periodischem und cyklothymem Charakter gesehen, und zwar stets ver¬ 
bunden mit einem starken Gefühl des veränderten Fühlens und des ab¬ 
gestumpften Interesses und der entsprechenden depressiven AfTektlage. 
Das spricht in hohem Maße für die von dem Vortragenden vertretene 
Anschauung von der affektiven Genese der Störung. Der Herr Vortragende 
hat sich wahrscheinlich absichtlich auf die Besprechung der allgemein 
pathologischen Seite des Symptoms beschränkt. Ich glaube aber, es ist 
doch für die Gesamtbeurteilung der Erscheinung nicht gleichgültig, welche 
nosologische Stellung seinen beiden Fällen zuzuweisen isC Ich möchte 
glauben, daß die Grundlage des ersten, vielleicht auch des zweiten Falles 
ein Depressionszustand von dem Charakter des endogenen periodischen 
ist. Das Dominieren der Zwangsvorstellungen im zweiten Fall spricht 
nicht dagegen. Im Gegenteil sieht man, wenn man darauf achtet, daß 
außerordentlich häufig ein depressiver Symptomkomplex von periodischem 
Charakter die Grundlage der Zwangsvorstellungen bildet. Daß dieser 
Symptomkomplex leicht übersehen wird, liegt daran, daß die Zwangs¬ 
vorstellung für den Patienten im Mittelpunkt seines Interesses steht in¬ 
folge der Befürchtung, daß das der Beginn einer Geistesstörung sei. Die 
Feststellung eines solchen primären endogenen Depressionszustandes igt 
nicht nur für die prognostische und therapeutische Beurteilung solcher 
Fälle, sondern auch für die allgemeine psychopathologische Betrachtung 
wichtig, weil es einem dann nicht begegnet, den primären Charakter der 
depressiven AfTektlage zu ignorieren und normal psychologische Begleit¬ 
erscheinungen des depressiven Affektes zu verkennen. Es erscheint mir 
nicht zulässig, endogene periodische Störungen, wie es Depressionen sind, 
aus unterbewußten Komplexwirkungen erklären zu wollen, es scheint mir 
das ein Rückschritt zu den psychologischen Erklärungsversuchen früherer 
Autoren. Ich halte es auch nicht für glücklich, von verdrängten unter¬ 
bewußten kriminellen Tendenzen und Sexualaffekten zu sprechen, wenn 
ein Depressiver, in seiner Sucht, seine Vergangenheit pessimistisch zu durch¬ 
suchen, alte Kinderdiebstähle oder masturbatorische und andere sexuelle 
Sünden ausgräbt. Hier handelt es sich doch um keine Affekt Verdrän¬ 
gungen und um keine unterbewußten Vorgänge, sondern um in letzter 


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Linie normalpsychologische Vorgänge in scharfer, sogar oft überwiegender 
Bewußtseinsbeleuchtung, wie sie jede starke depressive Stimmung mit 
sich bringt. Eine Notwendigkeit, für das Fremdheitsgefühl bei Depressi¬ 
onen auf unterbewußte affektive Komplexwirkungen zu rekurrieren, 
scheint mir nicht vorzuliegen. 

Endlich glaube ich, daß das Fremdheitsgefühl, wie es bei depressiven 
Zuständen sich findet, auch allgemein pathologisch von dem bei beginnen¬ 
den paranoischen und paranoiden Prozessen durch das Fehlen der Note 
der Eigenbeziehung, von dem bei hysterischen und epileptiformen Zu¬ 
ständen vorkommenden durch das Fehlen der leicht traumhaften Bewußt¬ 
seinsherabsetzung sich unterscheidet. Ein affektives .Moment mag auch 
bei diesen Formen die Grundlage sein. 

Liepmann- Dalldorf: Diese, wenn auch unter sich nicht ganz gleich¬ 
artigen Fälle stehen in der Tat den leichten Fällen organisch bedingter 
Agnosie gegenüber, insofern bei letzteren nicht das Gefühlsmoment, 
sondern die Identifikation selbst gestört ist. 

Juliusburger : Ich hatte es als meine Aufgabe betrachtet, in meinem 
Vortrage die Erscheinung des Fremdheitsgefühles für sich herauszuheben 
und einen Einhlick in den Mechanismus seines Zustandekommens zu 
geben. Ich habe in meinem Vortrage ausdrücklich hervorgehoben, daß 
das Fremdheitsgefühl bei verschiedenen Neurosen und Psychosen vor¬ 
kommt. Die von Loewenjeld erwähnten Fälle scheinen mir nicht in die 
Gruppe der periodischen Depressionen zu fallen. Von meinen in dem 
Vortrag mitgeteilten Fällen rechne ich den ersten zu den von mir be¬ 
schriebenen Fällen von Pseudomelancholie, den zweiten fasse ich als 
Angstneurose mit Zwangsvorstellungen auf. Im übrigen ist die sogenannte 
Periodizität selbst noch ein Problem, das erst seine Auflösung finden 
wird in der Auffindung der determinierenden, insbesondere aus dem 
Unterbewußtsein wirkenden Komplexe, deren wechselvolles Siegen und 
Erliegen — der Kampf der Teile im Seelenleben — zur Erklärung der 
rezidivierenden intrapsychischen Vorgänge herangezogen werden muß. 
(Vgl. hierzu meine Arbeit „Zur Psychologie der Zwangsvorstellungen und 
Verwandtenehe“, Zentralblatt für Nervenheilkunde u. Psychiatrie, 1909, 
S. 838.) 


19. Versammlung des Norddeutschen Vereins für 
Psychiatrie und Neurolgie zu Danzig am 8. Juli 1912. 

Anwesend: Berg-Allenberg, Birnbacher -Danzig, Boege-Sierakowitz, 
BoZdi-Graudenz, Braune-Conradstein, Brexendorff-L&uenburg i P., Grai- 
chen -Allenberg, Hantelt eustadt/Wp r., Havemann-T apiau, Hermes-Neu - 
stadt/Wpr., /ferse-Neustadt, Hieronymus-hauenburg, Baj/ser-Dziekanka, 
JTei7-Conradstein, Kefcz-Schwetk, Klieneberger- Königsberg i. Pr., Krebs- 
Allenberg, Krüger -Tapiau, LiuAer-Lauenburg, JLafeer-Tapiau, Mangold- 


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Danzig, Semi Meyer- Danzig, Meyer-Königsberg, Peters -Conradstein, Pflanz- 
Danzig, Rehnke- Owinsk, «ScAauen-Schwetz, Schöngarth -Sorau a. G., Schütze- 
Owinsk, Siemens-Lauenburg, Stoltenhoff- Kortau, Syring-Neustadt, Ad. 
Wallenberg-Danzig, Warschauer- Hohensalza, WicAef-Dziekanka, Witt- 
Kosten. 

Siemens als Vorsitzender begrüßt die Versammlung. Schriftführer: 
Hieronymus. Zu Ehren der verstorbenen Mitglieder Geh. Med.-Rat Dr. 
JTrömer-Conradstein und Oberarzt Dr. TawAert-Lauenburg erheben sich 
die Anwesenden. 

Die Kassenrechnung wird geprüft, und Entlastung wird erteilt. Als 
Ort der nächstjährigen Tagung wird wieder Danzig festgesetzt, als Ge¬ 
schäftsführer werden Braune-Conradstein und Dubbers- Allenberg gewählt. 

Ihr Nichterscheinen haben entschuldigt und die Versammlung be¬ 
grüßt: Werner-Owinsk (Geschäftsführer), Mercklin-, Ermisch-, Vollheim - 
Treptow a. R., ÄneeAf-Neuruppin, ScAufcze-Greifswald. 

Auf Vorschlag von Meyer- Königsberg wird ein Referat zur nächsten 
Sitzung bestimmt: „Fortschritte im Bau und Einrichtung der Anstalten 
für psychisch Kranke“, welches WicAef-Dziekanka übernimmt. Es folgen 
die Vorträge: 

i Semi Meyer - Danzig: Die Lehre von den Bewe¬ 
gungsvorstellungen. 

Die klassische Lehre von den Bewegungsvorstellungen, die von Munk 
ausgeht, besagt, daß in den Hirnfeldern, durch deren Reizung Bewegungen 
zu erzielen sind, lediglich Vorstellungen der Bewegungen lokalisiert seien, 
die aus den Daten gebildet werden, die die Muskeln bei ihrer Arbeit zen¬ 
tripetal ins Gehirn schicken: kinästhetische Vorstellungen. Die Theorie 
geht von der Anschauung aus, daß die Hirnrinde sensorisch ist, und daß 
ihrer Funktion stets Vorstellungen entsprechen oder entspringen. Der 
Inhalt der Bewegungsvorstellung wäre die Bewegungsausführung selbst 
in allen ihren Einzelheiten, und zum wirklichen Stattfinden der Willkür- 
bewegungen wäre nichts nötig als die genügende Lebhaftigkeit der Be¬ 
wegungsvorstellung. 

Während diese Lehre noch vielfach auf den verschiedenen Gebieten 
arbeitende Forscher zu Anhängern hat, ist in der Pathologie im letzten 
Dezennium eine Umgestaltung der Anschauungen über Form und Be¬ 
deutung der Bewegungsvorstellungen unverkennbar. Die klinischen Er¬ 
fahrungen über Störungen des Handelns werden heute kaum mehr im 
Sinne der sensorischen Theorie gedeutet, an die Stelle der Seelenlähmung 
ist die Apraxie getreten. Eine Zergliederung der tatsächlich nachweisbaren 
Vorstellungen ergibt immer deutlicher, daß die Vorstellungen, die von 
den eigenen Bewegungen zu erzeugen sind, von der dazu notwendigen 
Muskeltätigkeit schlechterdings nichts enthalten. 

Die fertige Bewegung läßt sich nur in Teilstticke zerlegen, die immer 
wieder Leistungen, niemals Muskelaktionen sind, und jede Bewegung 


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stellt sich dar als eine Reihenleistung des Gedächtnisses. Diesem Tat¬ 
bestand ist in der Apraxielehre in den von Liepmann und Goldstein ge¬ 
prägten Bezeichnungen „Bewegungsformel“ und ,.Wegvorstellung“ Rech¬ 
nung getragen. Für das physiologische Gedächtnisbild, das aber heute, 
wo die Lehre von der Muskelempfindung ebenfalls gänzlich umgestaltet 
ist, keineswegs als ein rein zentripetal kinästhetisches aufgefaßt werden 
darf, eignet sich vielleicht der gelegentlich von Monakow gebrauchte 
Ausdruck „kinetische Figur“. 

Belehrender für die Auffassung des Bewegungsablaufs ist die Be¬ 
trachtung des Erwerbs der Bewegungen. Dieser geschieht auf einem 
Umwege, den die geistige Leistung des Vergleiche ns und Urteilens erforder¬ 
lich macht, nämlich durch Probieren. Wir gehen dabei aus von ererbten 
Bewegungen, die im gesamten Tierreich die vorherrschenden bleiben, 
wodurch sich ganz ungezwungen die viel geringere Bedeutung der Hirn¬ 
rinde und der Pyramidenbahn für jedes Tier ergibt. Wir können nur 
lernen durch Probieren, und der Erfolg des Lernens ist selbstverständlich 
Gedächtniserwerb. Wir sammeln einen Schatz von Bewegungserfahrungen, 
sind aber unabhängig von bestimmten Innervationen. Wir erwerben stets 
eine Technik, nicht wie das dressierte Tier bestimmte Muskelleistungen. 

Die Bewegungsvorstellung wird unaufhörlich umgestaltet durch den 
Vorgang der Mechanisierung der Bewegungen. Die Vorstellung wird dabei 
zu einer einheitlichen Vertretung einer mehr oder weniger großen Reihe 
von Einzelleistungen, die einem gemeinsamen Ziele dienen. Daß dabei 
Teilstücke unwillkürlich werden, ist eine Irrlehre. Jede noch so ver¬ 
wickelte Leistung kann zu einem Teile einer immer größeren Reihe werden 
Die Bewegungsvorstellung aber verhält sich nicht anders als jede andere 
Vorstellung. Sie gestaltet sich in jedem Augenblicke so, wie es dem Zwecke 
der Tätigkeit entspricht, sie ist für gewöhnlich nur Zielvorstellung und 
umgreift in sich ein außerordentlich verwickeltes Hirngeschehen, dessen 
einzelne Bestandstücke nicht im Bewußtsein vertreten sind. Eine Vor¬ 
stellung, die Einzelheiten des Bewegungsablaufs enthielte, gibt es nicht. 
Wohl aber können wir uns unsere Bewegungen wie alles andere, was wir 
erleben, vorstellen, nur hat diese Vorstellung für die Ausführung der Be¬ 
wegungen nicht die geringste Bedeutung. Das Problem des Willens findet 
in den Bewegungsvorstellungen nicht die einst erhoffte Lösung. 

Klieneberger - Königsberg i. Pr.: Über Intelligenz¬ 
prüfungen. 

Ziel und Zweck der Intelligenzprüfung wird besprochen und hervor¬ 
gehoben, daß die geistige Inventaraufnahme, die Kenntnis- oder Wissens¬ 
prüfung hinter der eigentlichen Intelligenzprüfung zurücktreten müsse. 
K. berichtet sodann über die eingehenden Wissensprüfungen Rodenwaidts 
und über eigene in Greifswald angestellte Untersuchungen an Schülern 
der Volksschule, Bürgerschule und Studenten. Er bespricht weiterhin dir 


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gebräuchlichsten Prüfungen der Merkfähigkeit und gibt dann eine Über¬ 
sicht und kritische Würdigung der verschiedenen Methoden der eigent¬ 
lichen Intelligenzprüfungen (Unterschiedsfragen, Begriffsbestimmungen, 
Legspielmethode, Ordnen von Worten zu einem Satz, Gleichungsmethode, 
Ebbinghaussche Methode, Masselonsche Methode, Auffassen und Deuten 
von Erzählungen, Fabeln und Bildern — auch Münchener Bilderbogen, 
Heilbronnersche Bilder u. ähnL —, Witz-, Sprichwörter und Kritik¬ 
methode), die im wesentlichen Prüfungen des Vorstellungs- und Begriffen 
Vermögens, der Urteils- und Kombinationsfähigkeit darstellen. K. führt 
aus, daß die geschilderten Prüfungen nicht dazu dienen, festzustellen, ob 
jemand intelligent ist, sondern daß es uns nur darauf ankommt, festzu¬ 
stellen, ob jemand Intelligenzdefekte hat, daß hierzu die angegebenen 
Methoden durchaus brauchbar sind, daß es aber richtiger wäre, sie statt 
Intelligenzprüfungen Defektprüfungen zu nennen. Endlich weist K. auf 
die Schwierigkeiten hin, die sich einer Intelligenzprüfung Erwachsener in 
den Weg stellen, schildert das von den französischen Psychologen Binet 
und Simon geschaffene Intelligenzschema, erläutert die einzelnen Tests, 
die in einer Tabelle veranschaulicht werden, und bespricht eingehend 
Entstehung und Brauchbarkeit der Binetschen Methode. 

Diskussion. — Meyer- Königsberg weist darauf hin, daß die 
Methode von Binet sich auch nützlich erweist bei älteren Schwachsinnigen, 
um den Grad der geistigen Schwäche festzustellen, und in jeder Weise zu 
empfehlen sei 

E. Meyer - Königs bergi. Pr.: a) Unfall durch Blitz¬ 
wirkung. 

Gleichzeitiger Absturz dreier Arbeiter von einem Bau zur Zeit 
eines Gewitters. Der erste Arbeiter, der einen Halswirbelbruch erlitten 
hatte — keine psychischen Störungen —, meinte vom Blitz getroffen zu 
sein, sei geblendet worden, resp. habe den Blitz gesehen, Knall gehört; 
Gefühl, als sei er gelähmt und stürzte dadurch ab. Der zweite Arbeiter, 
der nur eine leichte Kopfverletzung und Rippenfrakturen davongetragen 
hatte, ebenfalls ohne psychotische Erscheinungen, hatte plötzlich sehr 
starken Luftzug und Druck verspürt und sei heruntergeschleudert, als ob 
ihn einer herunterstieße. Gesehen oder gehört habe er nichts. Bewußtlos 
nur für einen Augenblick. Bei dem dritten Arbeiter endlich liegt eine 
Basisfraktur vor mit den psychischen Störungen der Commotio. Es 
besteht nur Erinnerung für den Eintritt des Gewitters, sonst Amnesie. 

Ein Arbeiter, der in der Nähe der Verletzten war, hat einen Schlag 
wie von einem Leitungsdraht verspürt, war geblendet, sah gleichzeitig 
den einen abstürzen. Alle in dem Bau waren durch den Schlag beun¬ 
ruhigt, hatten das Gefühl, als sei etwas passiert. Am Dach waren ver¬ 
schiedene Zerstörungen, Spaltung von Pfosten und Sparren usw., ohne 


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790 Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 

Brandspuren. Am Körper und den Kleidern der Verletzten keine Zeichen 
von Blitzwirkung. 

Af. webt darauf hin, daß echte Blitzwirkung ( Jeüinek ) nicht nach¬ 
weislich vorliegt, aber auch nicht auszuschließen bt. Nach Laienmeinunr 
hat es sich um ‘einen „kalten Schlag“ gehandelt, doch ist dieser Begriff 
physikalisch unklar. Der Gedanke liegt nahe, daß der Unfall durch 
Schwankungen des Luftdruckes infolge der Blitzwirkungen verursacht 
ist (Ausführliche Veröffentlichung in der ärztlichen Sachverständigen 
Zeitung 1912). 

b) Spinale Erkrankungen und psychotische 
Erscheinungen bei schwerer Anämie nebst ana¬ 
tomischem Befund. 

48 jähriger Mann, starker Raucher. Sommer 1910 Schmerzen in den 
Beinen, leicht müde, nervös. Zunehmende allgemeine Schwäche, be¬ 
sonders der Beine, Ödeme, leichtes Fieber. Seit Ende 1910 psychische 
Alteration. Januar 1911 psychiatrische Klinik Königsberg. Dauernd 
leichte Benommenheit, Desorientiertheit, Auffassung und Merkfähigkei*. 
stark beeinträchtigt, Neigung zur Perseveration, einzelne Halluzinationen. 

Somatisch: Hochgradige Anämie (1—1 y 2 Millionen rote Blutkörper¬ 
chen, Hämoglobingehalt nach Sahli 25 %, nicht sicher perniziöse Anämie l 
RL + , Parese der Beine mit Steigerung der Sehnenreflexe, Andeutung 
von Babinski. Sprache undeutlich. 

Sektion: An den inneren Organen hochgradige Anämie. Mikro 
skopisch: Spinaler Befund wie bei schwersten Anämien: Herde im ganzer 
Rückenmark, am stärksten in Brust und Hals, und zwar in den Hinter¬ 
strängen, Seitensträngen und Vordersträngen, am wenigsten im Lenden¬ 
teil. Mit Pal-Weigert resp. Marchi alte und frische Degeneration den Herden 
entsprechend, viele Körnchenzellen. Mit Thionin in den Herden Gitter¬ 
zellen, daneben mächtige Gliazellen von gewohnter Form, an den Gefäßen 
kleinzellige Infiltration mit Plasmazellen, auch hyaline Degeneration der 
Gefäßwände. Ganglienzellen im Rückenmark ohne gröbere Veränderung. 
Im cp. restiforme anscheinend aufsteigende Degeneration, keine Herde 
Ebensowenig im Gehirn Herde, Pyramidenzellen zum Teil schwer ver¬ 
ändert. In den peripheren Nerven zum Teil Schwarztüpfelung mäßigen 
Grades. In den Muskeln unregelmäßig frische Degeneration. 

M. betont, daß die psychischen Störungen den Bildern entsprechen, 
wie wir sie bei äußeren Schädigungen verschiedener Art finden. Sie sin-i 
nicht auf Herde im Gehirn zurückzuführen, sondern auf toxische Einfluss* 
infolge der Grundursache des gesamten Leidens. Die spinale Erkrankunc 
entspricht dem gewohnten Bild. Der deutliche Befund von kleinzellige: 
Infiltration und Plasmazellen an den Gefäßen kann die Annahme, daß dir 
Herde von den Gefäßen ausgehen, unterstützen. 


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Luther - Lauenburg: Zur Verhüt ung und Behand¬ 
lung von Furunkulosen und Dermatitiden bei 
Geisteskranken. 

Vortr. gibt eine Übersicht über die prophylaktischen und thera¬ 
peutischen Maßnahmen bei den infolge Anwendung der Hydrotherapie 
auftretenden Hauterkrankungen. Bei der Furunkulose hat sich ihm am 
besten das frühzeitige Bepinseln der Furunkel nebst Umgebung mit 
5—10 % Salizylkollodium bewährt, bei der Trichophytiasis das 5—10 % 
Chrysarobinkollodium. 

Weiter empfiehlt er bei der Anwendung feuchter Packungen in allen 
Fällen, in denen die Pat. zu Hauterkrankungen neigen, das Wasser durch 
eine 3 % Borsäurelösung zu ersetzen, wodurch man das Auftreten von 
Hautaffektionen sicher verhütet. Ausgebreitete Furunkulosen heilen unter 
fortgesetzter Anwendung dieser Packungen in wenigen Tagen. 

(Der Vortrag wird ausführlich in der Psych.-Neur. Wochenschrift 
veröffentlicht werden.) 

Diskussion. — Bohfc-Graudenz empfiehlt aus seinen Erfahrungen 
bei der Strafanstalt Graudenz die Anwendung von Staphylokokkenserum 
..Opsonogen“, hergestellt von der chemischen Fabrik Güstrow. 

Bohfr-Graudenz: Schutzmaßregeln gegen geistes¬ 
kranke und minderwertige Verbrecher. 

Vortr. berichtet zunächst über die bisherigen Erfahrungen mit den 
Irrenabteilungen an preußischen Strafanstalten. Man sucht neuerdings 
nach Möglichkeit von der Haftentlassung der in der Strafhaft psychisch 
Erkrankten abzusehen und namentlich in den Fällen, wo es sich nur um 
kurzfristige Strafen handelt, die Betreffenden durchzuschleppen. Aus¬ 
geschlossen bleiben natürlich nach wie vor Krankheitformen wie etwa 
die Paralyse, Altersformen, gewisse Formen der Dementia praecox und 
endlich solche Fälle, bei denen auch der Aufenthalt in der Irrenabteilung 
mit ihren so viel günstigeren Existenzbedingungen ersichtlich ungünstig 
auf den Zustand einwirkt. Dagegen hat die Erfahrung gelehrt, daß doch 
ein noch erheblicher Prozentsatz z. B. der degenerativen Haftpsychosen 
sich sehr wohl halten läßt; besonders segensreich hat sich auch hier der 
Einfluß einer geregelten Beschäftigung, namentlich Gartenarbeit, erwiesen. 
Vermehrt werden sollten die sogen. Abteilungen für Minderwertige, die 
mit ihrer speziellen Eigenart gleichfalls wesentlich dazu beitragen dürften, 
daß einerseits schwerere Erkrankungen im Strafvollzug überhaupt nicht 
Vorkommen, andererseits viele psychisch Defekte unter Umgehung der 
Irrenanstalt ihre Strafe abbüßen können. 

Weiterhin besprach Vortr. die Maßnahmen, die künftighin den auf 
Grund des § 51 St.G.B. freigesprochenen Geisteskranken zuteil werden. 
Diese Individuen werden nach wie vor den Provinzialirrenanstalten zu über¬ 
weisen sein. Anders die kriminellen Trunksüchtigen, welche, sofern es sich 
um gesellschaftlich bessere Elemente handelt, in Privatanstalten, anderen- 


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Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 


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falls in besonderen Sicherungsanstalten ünterzubringen wären. Diese 
besonderen Sicherungsanstalten kämen gleichzeitig in Frage für das große 
Heer der Geisteskranken und Minderwertigen, welche bisher nach ver¬ 
büßter Strafe entweder in die Freiheit entlassen oder in die Provinzial¬ 
irrenanstalten eingewiesen wurden. Diese Sicherungsanstalten würden für 
Preußen ein Novum darstellen. Sie würden ein Mittelding zwischen Heil- j 
anstatt und Strafanstalt bilden. Die Leitung müßte unbedingt in den 1 
Händen eines Arztes liegen. Durch intensive Arbeit, Feld-, Garten-, 
Tischlerarbeiten usw., würde man auf der einen Seite die Leute ganz 
wesentlich zur Deckung der Unkosten heranziehen, auf der anderen Seite 
den segensreichen Einfluß der Arbeit wirken lassen. Eine Entlassung aus j 
diesen Anstalten würde immer nur vorläufig und unter eine gewisse [ 
Schutzaufsicht, wohlgemerkt nicht Polizeiaufsicht, erfolgen können. 

Disksussion. — Wickel: Die von dem Herrn Vortragenden mit- 
geteilten neuen Bestrebungen, welche uns die erwünschten Zwischen¬ 
anstalten bringen sollen, sind von den Irrenanstalten äußerst dankbar 
zu begrüßen. Besonders werden sie die sog. Bewahrungshäuser in ge¬ 
eigneter Weise entlasten. Vier Anstalten und 200 Plätze dürften auf 
die Dauer ausreichen. 

Stoltenhoff fragt an, auf Grund welcher Bestimmungen die weitere 
Verwahrung der Minderwertigen nach verbüßter Strafhaft erfolgen wird 

Der Vortragende erwidert, daß zur neuen Strafprozeßordnuug eine 
derartige gesetzliche Bestimmung in Vorbereitung ist. 

Kets - Schwetz: Über Anstaltabwässer. 

Die Abwässerfrage spielte bei der Typhusepidemie in Conradstein 
begreiflicherweise eine große Rolle. Alle Abwässer, ca 600 cbm täglich, 
gelangen auf ein Rieselfeld, nachdem durch einen Grobrechen und einen 
Sandfang die festen Stoffe zurückgehalten sind. Schließlich gehen dir 
Wässer in die Ferse, an der stromabwärts die Stadt Pr. Stargard liest. 
Nach Ausbruch des Typhus wurde angeordnet, daß die Abgänge der 
Klosetts und Waschräume der Infektionsabteilungen in eine besondere 
Tonne entleert und desinfiziert würden, daß ferner die Wäsche vor Ein¬ 
lieferung in die Waschanstalt desinfiziert würde. In die Einsteigschächt* 
wurde täglich Kresol geschüttet. Der Reg. Med.-Rat verlangte auch eine 
besondere Küche für die Typhusstation, die aber nicht bewilligt wurde. 
Dann wurde verlangt, daß das Baden der Typhuskranken eingestellt 
wurde, auch wurde der Verkehr mit Gemüse und Gartenfrüchten nach der 
Stadt untersagt, der Verkehr mit der Stadt überhaupt beschränkt, z. B 
der Besuch des Gymnasiums untersagt. Nachdem einige Stargarder Kinder, 
welche sich am Fluß getummelt, erkrankt waren, wurden noch strengere 
Absperrmaßregeln gefordert. — Die Untersuchung der in die Ferse ge¬ 
leiteten Abwässer des Conradsteiner Rieselfeldes erwies sich bei Unter 
suchung als frei von Typhuskeimen, doch liegt darin natürlich keine Ge¬ 
währ. — Die Durchsuchung nach Typhusbazillenträgern ergab 70 solcher. 


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Norddeutscher Verein für Psychiatrie und Neurologie. 


793 


— Daß die Rieselfelder verseucht waren, ist zweifellos, und daß die Ferse 
verseucht war, bewies das Auftreten von Typhusfällen unterhalb Conrad¬ 
stein. Wie lange sich die Typhuskeime außerhalb des Körpers lebens¬ 
fähig erhalten, ist ungewiß. Sie sind in organische Substanz (Schleim, Ei- 
weißstofTe, Pflanzenteile) eingebettet, Ratten, Krähen und andere Tiere, 
welche die Rieselfelder bevölkern, können sie verbreiten und beherbergen. 
Vorsicht ist daher geboten. Daher die Forderung eines vor Auslauf ins 
Rieselfeld eingeschalteten Klärverfahrens bzw. der vorherigen Desinfek¬ 
tion mit Chlorkalk oder Kalkmilch. Für Anlagen zu diesem Zweck gibt 
es verschiedene Verfahren und Apparate. 

Auch die Abwässer der Anstalt Schwetz haben ein Klärverfahren 
durch zu machen, welches beschrieben wird. Es folgen allgemeine Be¬ 
merkungen über die gegen Infektionskranke in den Anstalten zu treffenden 
Maßnahmen und Einrichtungen. 

Diskussion. — Braune -Conradstein macht auf Wunsch des 
Vorsitzenden nähere Mitteilungen über die Conradsteiner Typhusepidemie, 
die dort im vergangenen Jahre auftrat. Die Epidemie hat nahezu ein Jahr 
gedauert. Es wurden über 200 Fälle beobachtet, darunter eine größere 
Zahl Beamter und Angestellter und deren Angehöriger. Die größte Zahl 
gelangte im Juli 1911 mit 50 Fällen zur Beobachtung. Die Entstehung 
ist wahrscheinlich auf mehrere Ursachen zurückzuführen. Eine große 
Gefahr bildet für die Anstalt die Tatsache, daß in dem nahegelegenen 
Preußisch-Stargard Typhus endemisch ist und es schon vor Erbauung der 
Anstalt Conradstein, die in den Jahren 1893—95 erfolgte, war. Im Jahre 
1899 kamen in Preußisch-Stargard allein 48 Typhusfälle zur amtlichen 
Kenntnis. Das Aufhören der Epidemie ist darauf zurückzuführen, daß 
eine viermalige Untersuchung sämtlicher Anstaltbewohner auf Typhus¬ 
bazillen erfolgte. Es wurden dadurch im ganzen 65 Typhusbazillenträger 
und Dauerausscheider festgestellt. Diese sind in zwei Häusern abgesondert 
und werden noch regelmäßig untersucht. Einige von ihnen scheiden 
auch jetzt noch Typhusbazillen aus. Es wurden auch unter den An¬ 
gestellten bzw. deren Angehörigen drei Bazillenträger nachgewiesen, deren 
Behandlung und Beobachtung besondere Schwierigkeiten bot. 

Wallenberg -Danzig zeigt das Rückenmark einer 75 jährigen Frau, 
bei der während des Lebens Erscheinungen eines Tumors in der Höhe 
des 6. bis 8. Dorsalsegraents bestanden, und bei der post mortem ein 
Endotheliom der Dura mit Psammombildung (Untersuchung durch 
Herrn Prosektor Dr. Stahr) in der Höhe des 2. bis 3. Dorsalsegments ge¬ 
funden wurde. W. zeigt die betreffenden mikroskopischen Präparate, die 
außer den bekannten auf- und absteigenden Degenerationen ( Marchi - 
Präparate) noch Syringomyelie-ähnliche Veränderungen im Vorderhorn 
des 1. sowie des 3. bis 5. Dorsalsegments auf weisen. W. hat bei derselben 
Frau einen gut abgegrenzten, seines Wissens bisher nicht beschriebenen 
Eigenkern des Ponticulus im kaudalen Dach der Rautengrube gefunden, 
den er ebenfalls demonstriert. 


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Kleinere Mitteilungen. 


Die 18. Versammlung mitteldeutscher Psychiater 
und Neurologen wird Sonntag, 27. Oktober, von 9 Uhr Vorm, ab 
in der psychiatrischen und Nervenklinik zu Halle stattfinden. Vorträge: 
1. Herr Abderhalden- Halle: Ausblicke über die Verwertbarkeit biologischer 
Methoden auf dem Gebiete der Pathologie des Nervensystems. 2. Herr 
Ahrens- Jena: Die Zirkulation des Liquor cerebrospinalis. 3. Herr Anton- 
Halle: Pubertätsdysostose mit nervösen Symptomen. 4. Herr Binswanger- 
Jena: Über Pseudomyasthenie. 5. Herr Degenkolb -Altenburg: Das Raum¬ 
umgangsfeld und die Raumerscheinungen. 6. Herr Flechsig -Leipzig: Die 
Flächengliederung der menschlichen Großhirnrinde. 7. Herr Gregor - 
Leipzig: Thema Vorbehalten. 8. Herr Jaeger- Halle: Über Goldsolreaktior. 
im Liquor cerebrospinalis. 9. Herr Jolly- Halle: Über Heredität bei Geistes¬ 
gesunden und Geisteskranken. 10. Herr Kluge -Potsdam: Wie weit ist 
bisher die praktische Mitarbeit des Psychiaters bei der Fürsorgeerziehung 
gediehen? 11. Herr Kürbitz-Sonnenstein: Über Zeichnungen Geistes¬ 
kranker. 12. Herr Neuendorf- Bernburg: Zur Behandlung aufgeregter 
Geisteskranker. 13. Herr v. Nießl-Mayendorf -Leipzig: Über die patho¬ 
logischen Komponenten des choreatischen Phänomens (Projektionsvortrag). 

14. Herr iVitecAe-Dresden: Zur Lehre von den paranoischen Psychosen. 

15. Herr Pfeifer-N ietleben: Über experimentelle Untersuchungen am 
Thalamus opticus. 16. Herr Röper- Jena: Zur Ätiologie der multiplen 
Sklerose. 17. Herr JtüAfe-Uchtspringe: Experimentelle Studien über 
tumorartig wachsende Fremdkörper im Tiergehirn (mit Demonstrationen). 
18. Herr Weier-Chemnitz: Ein Fall von Hirnerschütterung mit anatomi¬ 
schem Befund. 19. Herr Wichura- Schierke: Über einen Fall von Eklampsie 
mit bleibenden schweren Störungen des Gedächtnisses, Erkennens und 
Handelns. 20. Herr Wt'Mige-Halle: Über akute Paranoia. — Am Vorabend 
8 Uhr gesellige Vereinigung im Hotel Berges nahe dem Bahnhof. Festmahl 
am 27. Oktober 5 Uhr Nachm, ebendort, Anmeldungen hierzu bis zum 
20. Oktober an den 1. Geschäftsführer Prof. Anton-Halle. 


Am 20. September wird in Lübeck anstelle des im Jahre 1786 
erbauten Unsinnigenhauses, der heutigen Staatsirrenanstalt, die neue 
Heilanstalt Strecknitz für Nervöse und Geisteskranke dem Betriebe über¬ 
geben. 

Preisausschreiben. — Cesare Lombroso hat testamentarisch, 
solange das von ihm gegründete Archivio d’Anthropologia criminale be¬ 
steht, eine Summe von Frcs. 500.— für die beste Arbeit oder die hervor- 


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Kleinere Mitteilungen. 


795 


ragendste Entdeckung auf dem Gebiete der Kriminal-Anthropologie be¬ 
stimmt. 

Dieser Preis soll in jedem zweiten Jahre verteilt werden. 

Die Familie Lombroso hat mit der Zuerkennung des Preises das 
Organisationskomitee des VIII. int. Kriminal-Anthropologischen Kon¬ 
gresses beauftragt und als Vertreter der Familie Frau Dr. Gina Lombroso- 
Ferrero benannt, unter gleichzeitiger Erhöhung des Preises auf Frcs. 1000. 

Das Organisationskömitee hat die Bedingungen des Preisausschrei¬ 
bens nunmehr so festgesetzt: 

Ein Preis von 1000 Lire (Lombroso -Preis) wird für die hervorragendste 
Arbeit oder die bedeutsamste Entdeckung auf dem Gebiete der Kriminal- 
Anthropologie bei Gelegenheit des internationalen Kriminal-Anthropolo- 
gischen-Kongresses in Budapest (Sommer 1914) vergeben werden. 

Die Arbeiten der Entdeckungen müssen im Laufe der Jahre 1911 
1912, 1913, 1914 veröffentlicht sein oder veröffentlicht werden. 

Der Wettbewerb ist international. 

Ungedruckte Manuskripte können in Schreibmaschinenschrift zum 
Wettbewerb zugelassen werden; die Auszahlung des Preises erfolgt in 
dem Falle nach der Drucklegung. 

Eine Zusendung der bereits gedruckten Arbeiten an das Preisrichter¬ 
kollegium ist erwünscht, aber nicht Bedingung. 

Die Preisverteilung findet in der Eröffnungssitzung des VIII. int. 
Kriminal-Anthropologischen Kongresses statt. 

Das Organisationskomitee des VIII. internationalen Kriminal-Anthropo¬ 
logischen Kongresses: Prof. Dr. G. Ascfiaffenburg- Cöln, Staatssekretär 
Prof, von Balogh- Budapest, Prof. Dr. Enr. Ferri- Rom, Dr. Hans Kurella - 
Bonn, Geh- Medizinalrat Prof. «Sommer-Gießen, Frau Dr. Gina Lombroso - 
Ferrero (Vertreterin der Familie Lombroso). 


Nekrolog P. W. Jessen. — Peter WiUers Jessen wurde am 
5. März 1823 in Schleswig geboren als Sohn des Direktors der 1820 ge¬ 
gründeten Irrenanstalt bei Schleswig. Schon früh erwachte daher sein 
Interesse für die Psychiatrie; um so mehr als die damals noch dänische 
Anstalt im Norden rasch Ruf und Ansehen gewann, so daß Patienten aus 
Schweden und Norwegen sowie besonders aus Kopenhagen und Hamburg 
Aufnahme fanden. Jessen studierte in Kiel, Göttingen und Berlin; 1847 
wurde er in Kiel zum Dr. med. promoviert und war dann 1847/48 unter 
Flemming Assistenzarzt auf dem Sachsenberg bei Schwerin. Sein Vater 
hatte 1845 die Privat-Irrenanstalt Hornheim bei Kiel gegründet; nach¬ 
dem Vater und Sohn diese jahrelang zusammen geleitet hatten, wurde 
der Sohn 1875 alleiniger Inhaber. 

Im Jahre 1853 wurde Jessen Privatdozent für Psychiatrie und 
psychisch-gerichtliche Medizin an der Universität Kiel. 1870 wurde er 
zum Mitarbeiter bei dem Provinzial-Medizinal-Kollegium, 1875 zum 

Zeitschrift für Psychiatrie. LX1X. 5. 54 


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796 


Kleinere Mitteilungen. 


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Medizinalrat in demselben und 1893 zum Geheimen Medizinal-Rat er¬ 
nannt. 1906 schied er aus dem Dozentenköiper der Universität aus. Er 
starb am 13. Februar 1912. 

Jessen ist in seinem langen Leben öffentlich nicht viel hervorgetreten, 
obwohl er vielseitige wissenschaftliche Interessen verfolgte, wie aus dem 
Verzeichnis seiner Publikationen im Register des Bandes 38 dieser Zeit¬ 
schrift hervorgeht. In der Debatte konnte er scharf auftreten, traf aber 
meistens den Nagel auf den Kopf. Unter seinen Arbeiten sind einige von 
größerer Bedeutung geblieben, z. B. die mit Esmarch gemeinschaftlich 
geschriebene Abhandlung über „Syphilis und Geistesstörung“, welche 
besonders auch dadurch beachtenswert ist, daß sie die heute so brennende 
Tagesfrage „Syphilis und Paralyse“, allerdings unbewußt, erörtert, denn 
unter den angeführten Fällen befinden sich einige zweifellose Paralytiker, 
doch, dem damaligen (1857) Stande der Psychiatrie entsprechend, noch 
nicht als einheitliche Krankheitbilder erkannt, ln einigen Abhandlungen 
„Über die Konvulsionen unter den Jansenisten in Paris“, Bd. VII dieser 
Zeitschrift, „Über die Inspirierten und Fanatiker von Languedoc 16*> 
bis 1780“ (e. 1. Bd. IX), „Bedenken über die angebliche Predigerkrankheit 
zu Niedereggen“ Bd. XIV, tritt die schon erwähnte kritische Seite auch 
auf historischem Gebiet stark hervor. Mehrere Abhandlungen betreffen 
psychisch-gerichtliche Medizin, unter ihnen „Über Zurechnungsfähigkeit" 
(e. 1. Bd. XXVII), diese ist auch jetzt noch bedeutungvoll. Mit seinem 
Vater zusammen machte er für die IV. Versammlung deutscher Psychiater 
in Frankfurt a. M„ September 1864, Vorlagen, welche „Thesen zur gericht¬ 
lichen Psychiatrie“ in eingehender Weise begründeten (e. 1. Bd. XX). 
Jessen hat auch den technischen Einrichtungen der Anstalten sowie der 
Frage der Irrenkolonie Interesse gewidmet. Er las und referierte über 
ausländische Zeitschriften und über neue Erscheinungen im Gebiete der 
Psychiatrie und Psychologie. Das Hauptinteresse aber widmete er ge¬ 
richtlichen Fragen; 1876 reichte er eine Petition an den deutschen Reichs¬ 
tag ein in betreff der Entmündigung von Geisteskranken. 

Sein wichtigstes Werk „Die Brandstiftungen in Affekten und Geistes¬ 
störungen, ein Beitrag zur gerichtlichen Medizin für Juristen und Ärzte" 
erschien 1860 in Kiel bei Ernst Homann; „Pyromanie“ zu widerlegen, 
setzte er sich darin als Ziel. Die Sorgfalt und Klarheit mit der er diese 
Aufgabe zu lösen unternahm, machen das Buch noch heute lesenswert. 

Kirchhoff. 

NekrologBöh me. — Am 4. März 1912 starb im eben vollende¬ 
ten 61. Jahr der Anstaltsdirektor von Colditz i. Sa., Obermedizinalrat 
Dr. Ernst Max Böhme, an Leberkrebs, der zum Glück kein zu langes 
Siechtum erforderte. Mit erstaunlichem Mute ging er dem Tode entgegen, 
ordnete alle seine Sachen und suchte bis zuletzt den Seinen die Gefahr 
zu verheimlichen. Geboren 1851 (Dez.) zu Radeberg bei Dresden, wo sein 
Vater praktischer Arzt war, machte er im 14. Lebensjahre einen schweren 


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Kleinere Mitteilungen. 


797 


Typhus durch, der ihm in seinen Folgen lange nachhing. Von 1866—73 
besuchte er das Gymnasium zum heiligen Kreuze in Dresden, bezog zu 
Ostern die Universität Leipzig und ward 1878 daselbst als praktischer 
Arzt approbiert. Im April dieses Jahres ward er als Hilfsarzt an die Landes¬ 
anstalt Hubertusburg angestellt, und neben seiner Tätigkeit als Psychiater 
betrieb er noch eine ziemlich große ärztliche Praxis im Dorfe und in der 
Umgegend. 1887 kam er als Anstaltsarzt an die Epileptiker-Anstalt Hoch- 
weitzschen, ward 1889 zum Oberarzt (erstem Arzt) und im März 1899 
zum Medizinalrate ernannt. Gleich darnach ward er als ärztlicher Vorstand 
der Männerabteilung nach der Anstalt Hubertusburg berufen, die er aber 
schon am 1. Oktober 1902 verließ, um als Direktor nach Hochweitzschen 
zurückzugehen. In gleicher Eigenschaft kam er dann Dezember 1907 
nach Colditz und ward 1909 zum Obermedizinalrat befördert. Soweit die 
trockenen Daten. Vom Typhus her behielt er offenbar durch sein ganzes 
Leben einen sehr schwachen Magen, der ihn zur größten Zurückgezogenheit 
und Solidität zwang. Daher beteiligte er sich wenig an Versammlungen 
usw. und ist so verhältnismäßig wenigen Kollegen bekannt geworden. 
Er besaß äußerst wertvolle Eigenschaften, die ihn namentlich zum Anstalt- 
direktor prädestinierten. Er war höflich, gefällig, verstand sehr gut mit 
den Leuten und seinen Kranken umzugehen, hatte, trotzdem er nur 
wenig gereist war und wenig mit der Welt verkehrte, ein sehr geschärftes 
und feines Urteil über seine Mitmenschen und bemühte sich stets gerecht 
zu sein. Als praktischer Arzt war er s. Z. sehr gesucht gewesen und zeigte 
auch als Direktor überall einen praktischen Blick, der ihn fast immer 
das Richtige trefTen ließ. Er war ferner die personifizierte Gewissen¬ 
haftigkeit und wirkte so entschieden erzieherisch auf seine Umgebung. 
Die schon früher angebahnten Verbesserungen der alten Anstalt durch 
Umbauten im Innern brachte er zu einem gewissen Abschlüsse. Im schrift¬ 
lichen Verkehr mit den Behörden zeigte er sich gewandt und allen An¬ 
forderungen gewachsen. Daß er sich mit seinen Ärzten gut stand, ver¬ 
steht sich von selbst. Ganz im Anfang seiner Karriere hat er auch einige 
wissenschaftliche Arbeiten geliefert. Ehre seinem Andenken! Näcke. 


Personalnachrichten. 

Dr. Paul Näcke, Med.-Rat u. Prof., bisher in Hubertusburg ist zum 
Direktor der Landesanstalt Colditz, 

Dr. Friedr. Ungemach, Oberarzt in Eglfing, zum Direktor der unter- 
fränkischen Kreisanstalt Lohr, 

Dr. Ad. Schmidt, Oberarzt in Altscherbitz, zum Direktor der neuen 
Landesanstalt Pfafferode bei Mühlhausen i. T., 

Dr. Leop. Oster, Med.-Rat, Oberarzt in Illenau, zum Direktor der noch 
im Bau befindlichen badischen Anstalt zu Reichenau bei 
Constanz ernannt worden. 

Dr. Hans Weyermann ist als Oberarzt von Werneck nach Lohr, 

Dr. Im. Hoff mann als Oberarzt von Altscherbitz nach Pfafferode, 


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Kleinere Mitteilungen. 


Dr. Rud. Großmann als Oberarzt von Nietleben nach Altscherbitz, 
Dr. Herrn. Bockhorn als Oberarzt von Uchtspringe nach Nietleben, 
Dr. Arth. Ketz als Oberarzt von Conradstein nach Sch wetz und 
Dr. Ernst Brückner als Oberarzt von Hamburg - Friedrichsberg nach 
Langenhorn versetzt worden. 

Dr. Carl Schmidt in Altscherbitz und 

Dr. Ad. Hug. Hasche-Klünder in Hamburg-Friedrichsberg sind zu Ober¬ 
ärzten befördert worden. 

Dr. Emil Jach in Altscherbitz wurde Oberarzt in Pfafferode, 

Dr. Kurt Schröder in Altscherbitz Oberarzt in Uchtspringe, 

Dr. Fritz Ast in Eglfing Oberarzt in Haar, 

Dr. Paul Reiß in Bayreuth Anstaltsarzt in Ansbach. 

Dr. Paul Langer, ordentl. Arzt in Jerichow, wurde nach Altscherbiti 
versetzt. 

Dr. Mart. Pappenheim, bisher in Heidelberg, hat sich als Nervenarzt in 
Bad Reichenhall niedergelassen. 

Dr. Paul Schröder, Prof., und 

Dr. Franz Kramer, Prof., bisher in Breslau, haben sich an der Universität 
Berlin habilitiert. 

Dr. Gusu Rabbas, San.-Rat, Dir. d. Prov.-Anstalt Neustadt, W.-Pr., ist 
zum Medizinalrat, 

Dr. Ad. Schmidt, Dir. der Landesanstalt Pfafferode, 

Dr. Rud. Großmann, Oberarzt in Altscherbitz, und 
Dr. Rud. Wahrendorff, dirig. Arzt der Privatanstalt Ilten, sind zu S a n i t ä t s- 
räten ernannt worden. 

Dr. Heinr. Schüle, Geh.-Rat, Dir. von Illenau, ist zum Ehrenmitglied des 
badischen staatsärztlichen Vereins gewählt worden. 
Dr. Gusu Flügge, Dir. der Prov.-Anstalt Bedburg, hat den Roten 
Adlerorden 4. Klasse, 

Dr. Albr. Pätz, Geh. Sanitätsrat, Dir. von Altscherbitz, den Kronen¬ 
orden 3. KL 

Dr. Alfons Schäfer, Med.-Rat, Dir. des Genesungshauses in Roda, das 
Ritterkreuz 2. KL des Ernestinischen Hausordens und 
Dr. Emil Krimmel, Med.-Rat, Dir. d. Landesanstalt Zwiefalten, das Ritter¬ 
kreuz 1. Kl. des Friedrichsordens erhalten. 

Dr. WiUers Jessen, Geh. Med.-Rat u. ehern. Dir. der früheren Privatanstalt 
Hornheim bei Kiel, ist am 13. Februar d. J. im 89. Lebensjahre, 
Dr. Max Böhme, Obermed.-Rat u. Dir. der Landesanstalt Colditz, am 
4. März im 62. Lebensjahre gestorben. 

Dr. Max Schönfeldt, Dir. d. Privatanstalt Atgasen bei Riga, ist am 19. Juli, 
51 Jahre alt, von einem Geisteskranken erschossen worden. 
Dr. Anton Gutsch, Strafanstaltsarzt a. D., ist im 88. Lebensjahre am 
26. Juli in Karlsruhe, 

Dr. August Cramer, Geh. Med.-Rat u. Prof, in Göttingen, am 5. September, 
fast 52 Jahr alt, gestorben. 


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Über den Einfluß des Abdominaltyphus auf be¬ 
stehende geistige Erkrankung. 

Von 

Dr. Wern. H. Becker, Oberarzt an der Landesirrenanstalt Weilmünster 

in Nassau. 

Daß Psychosen durch interkurrierenden Unterleibstyphus sich 
bessern, ist schon öfter beobachtet worden. Kraepelin 1 sagt darüber: 
„In einer kleinen Anzahl von Fällen hat man das Eintreten psychischer 
Genesung während oder nach einer fieberhaften Erkrankung (nament¬ 
lich Typhus, Erysipel, Intermittens).beobachtet. Am häufig¬ 

sten handelte es sich dabei natürlich um verhältnismäßig frische Er¬ 
krankungen, Melancholie, Manie, Amentia der Autoren, aber bisweilen 
tritt die günstige Wendung auch nach längerer Dauer und in an¬ 
scheinend aussichtlosen Fällen ein.“. Ziehen * erinnert daran, 

daß Typhus gleich anderen akuten fieberhaften Erkrankungen ge¬ 
legentlich eine „Spätheilung“ auszulösen vermag. Andere Lehr¬ 
bücher übergehen die Frage, die sonst in der Literatur schon häufiger 
angeschnitten worden ist. Ich jitiere nur einige Bekanntgebungen 
jüngeren Datums. 

Direktor Frölich -Königsfelden * schreibt im Mai dieses Jahres: 

„Wir haben dann dies Jahr auch wieder einmal eine günstige Be¬ 
einflussung der Psychose durch die Infektionskrankheit erlebt. Es handelt 
sich um eine Frau, die vor einem Jahre in ganz akuter Weise in Form 
der Verwirrtheit an Dementia praecox erkrankt war, und die dann im 
Laufe des Typhus immer klarer wurde und bald nach der Genesung von 
der körperlichen Krankheit auch psychisch als genesen entlassen werden 
konnte. Wenn man nun auch berücksichtigt, daß es sich hier um einen 
prognostisch nicht ungünstigen Fall von Dementia praecox handelte 
so darf man bei aller kritischen Zurückhaltung doch annehmen, daß 
die akute Infektionskrankheit den Heilungsvorgang bei der Psychose 
eingeleitet und beschleunigt hat. Bei den alten Fällen von Dementia 

^«iUchrift tttr Psychiatrie. LXIX. 6. 


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hallen immer noch ruhig, geordnet, 
freundlich und lenksam.“ 

April 1908: „Patientin war seit- 





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Lebensjahr (im |l2.Novemberl900|katatonischeForm| bemerkbar, setzte jetzt mit dem 




Ober den Einfluß des Abdomin&ltyphus usw. 


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24. Marz bis 2. aIui 

1911; Endzeit¬ 
punkt nicht genau 
festzustellen, da 
Übergang in Tu¬ 
berkulosefieber 

14. Mai bis 8. Juni 
1911; Endzeit¬ 
punkt nicht genau 
festzustellen, da 
Übergang in Tu¬ 
berkulosefieber 

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Becker 



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nicht zur Entlassung ge- 




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806 


Becker, 


praecox, die in den letzten Jahren Typhus durchmachten, konnten wir 
nie eine günstige Beeinflussung der Psychose beobachten.“ 

Und das Kgl. Medizinalkollegium Württembergs schreibt im Jahre 
1910 aus Winnenthal 4 : 

„Ein schon seit Jahren schwer melancholisch Deprimierter, dessen 
Ernährung während des Typhus auf besonderen psychischen Widerstand 
gestoßen war, ist so erheblich freier geworden, daß seine Beurlaubung 
für absehbare Zeit in Aussicht genommen werden kann. Bei zwei Defekt- 
zuständen vom Charakter der Dementia praecox hat sich die Sperrung 
der psychischen Vorgänge teilweise gelöst, so daß sie aus bettlägrigen 
Pfleglingen mit allerlei unangenehmen Stereotypien jetzt zu brauchbaren 
Arbeitern geworden sind, die mit der Zeit auch vielleicht dem bürgerlichen 
Leben zurückgegeben werden können.“ 

Auch OmoroTcow 6 sah die Besserung, besonders akuter, Psychosen: 
Melancholie, Manie, Amentia, seltener Dementia praecox. Den größten 
Einfluß schreibt auch er neben dem Erysipel dem Typhus zu. 

Im Gegensatz dazu konnte Krell 6 keinen wesentlichen Einfluß 
auf den Verlauf der geistigen Störungen durch interkurrenten Ab¬ 
dominaltyphus feststellen, und er knüpfte daran den m. E. etwas 
kühnen Schluß: 

„Anscheinend hat es sich übrigens bei verschiedenen in der Literatur 
angeführten Fällen von posttyphösen Besserungen um periodische 
Störungen gehandelt.“ 

Sollten wirklich Psychiater wie Kraepelin und Ziehen sich so 
haben düpieren lassen? — Das ist doch kaum anzunehmen. 

Mich eingehend mit der in Rede stehenden Frage beschäftigend, 
habe ich in diesem Frühjahr die ärztlichen Akten der Landesirren- 
anstalt Weilmünster daraufhin durchgesehen und mir über jeden 
einzelnen Fall Notizen gemacht. Bei der Aufstellung einer tabellarischen 
Übersicht konnte ich das gewonnene Material in 5 große Tabellen 
unterbringen. Dieser große Umfang schien mir indes die Aufnahme 
der Arbeit in diese Zeitschrift in Frage zu stellen, und ich habe mich 
deshalb begnügt, die 10 wichtigsten Fälle auszulesen und in einer 
neuen Tabelle (siehe S. 800—805) zusammenzufassen. 

Der Abdominaltyphus ist im Jahre 1897 gleich nach Eröffnung 
der Anstalt in den ersten Monaten hier eingeschleppt worden und 
dann — vermutlich meist durch Bazillenträgerinnen x ) fortgepflanzt — 

D Zurzeit weilt ein bakteriologisch vorgebildeter Arzt hier zwecks 
Eruierung der Bazillenträger, von denen bereits drei (weibliche) gefunden 
und in einer Isolierbaracke untergebracht worden sind. 


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Ober den Einfluß des Abdominaltyphus nsw. 


807 


nach bald längeren, bald kürzeren Zwischenräumen immer wieder 
aufgeflackert. Bei den Geisteskranken fand ich im ganzen 82 Fälle, 
von denen 22 letal endigten. Bei diesen Todesfällen sind allerdings 
alle Fälle mitgerechnet, die an Pneumonie, an „schlechtem“ Herzen 
usw. zugrunde gingen oder die einer Nachkrankheit zum Opfer fielen *). 
Die übrigen 60 Fälle *) verteilten sich auf die einzelnen Kranheit- 
gruppen und auf die je nach dem Grad der psychischen Besserung 
auf gestellten drei Rubriken folgendermaßen: 


Psychiatrische Diagnose 

Rubrik I. 
Fälle ohne 
wesentliche 
Besserung: 

Rubrik II. 

Fälle von 
länger als 
einige Wo¬ 
chen dauern¬ 
der deutlioh 
wahrnehm¬ 
barer Besse¬ 
rung 

Rubrik HL 
Fälle von 
Besserung 
bis zur Ent¬ 
lassung¬ 
fähigkeit 

Paranoia-Gruppe 

9 

— 

— 


nicht näher diagnostiziert 

3 

— 

— 

Dementia prae- 

Hebephrenie 

Katatonie 

6 

8 

i 

4 

2 

1 

cox-Gruppe 

Spätkatatonie 

1 




Paranoid 

3 

1 

2 


rnach unbekannter primärer 




Dementia 

Psychose 

1 

— 

— 

secundaria 

nach Puerperalpsychose 

1 

— 

— 


nach Melancholie 

1 

1 

— 

Manisch-depressives Irresein 

2 

1 

1 


arteriosclerotica 

1 

— 

i — 

Dementia 

praesenüis 

1 

— 

— 


senilis 

1 

— 

— 

Akute primäre Demenz 

1 

— 

— 

Idiotie 

3 

— 

— 

Epilepsie 

1 

— 

— 

Progressive Paralyse 

3 

— 

— 


*) Eine Patientin starb z. B. nach überstandenem Abdominal¬ 
typhus. Bei der Sektion fanden sich die Typhusgeschwüre fast verheüt, 
als Todesursache eigab sich eine frische Peritonitis, die von der vereiterten 
und perforierten Gallenblase ausgegangen war. Solche Fälle sind also 
in obige 22 mit eingerechnet und erklären neben anderen Umständen 
(zeitweise schwerer genius loci, Unreinlichkeit Geisteskranker, Nicht - 
erkennung des Prodromalstadiums bei stumpfen Patienten usw.) den 
hohen Prozentsatz. 

•) Sämtlich bakteriologisch einwandfrei als Typhusfälle festgestellt. 


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808 


Becker, 


Die Diagnosen sind nicht nach einem einheitlichen Gesichts¬ 
punkt gestellt. Es liegt das daran, daß die Fälle sich über 15 Jahre 
verteilen, und daß ferner die Patienten zum Teil aus fremden Anstalten 
zu uns kamen; die dort gestellte Diagnose wurde dann meist nicht 
mehr geändert. 

Dem Geschlecht nach war die Verteilung ungleich: ich fand 
50 Frauen, aber nur 10 Männer. Das erklärt sich offenbar aus der 
erhöhten Disposition der Frauen, Dauerausscheider zu werden, was 
ja auch Neißer 7 bestätigt fand. Nebenbei bemerkt sei nur, daß ich 
eine bedeutende Verschlimmerung bestehender oder latenter Lungen¬ 
phthise durch den Typhus mehrfach bemerkte. Sodann sah ich auf¬ 
fallend viele Dementia praecox-Kranke, die ja an sich schon mehr 
weiblichen Geschlechtes zu sein pflegen, an Typhus erkranken, was 
sich wohl daraus erklärt, daß beide Erkrankungen vorwiegend das 
jugendliche Lebensalter befallen. Es mag nun wundemehmen, daß 
die von anderen Autoren betonten akuten Krankheiten, wie Manie, 
Melancholie, Amentia usw. so wenig bei uns vom Typhus betroffen 
wurden. Das liegt aber an unserem Krankenmaterial, das nicht nur 
wenig fluktuiert, sondern auch etwa zur Hälfte aus Fällen besteht, 
die vorher in anderen Anstalten (Beobachtungstationen und Kliniken) 
untergebracht waren. So entfallen unsere wesentlich gebesserten 
Fälle fast ausschließlich in die Kategorie der Dementia praecox, die 
nach meinen Erfahrungen zweifellos die Neigung hat, sich durch 
Typhus zu bessern. Hatte ich doch in 17,4% meiner Dementia praecox- 
FäUe eine „Besserung bis zur Entlassungfähigkeit“ 1 ) und gar 34,4°;, 
Besserungsfälle, wenn Fälle mitgerechnet werden, die für einige 
Monate eine deutliche Besserung zeigten. 

Noch günstiger wird das Resultat, wenn ich nur die Fälle von 
Dementia praecox berücksichtige, die noch nicht länger als 6 Jahre 
bestanden; denn dann finde ich von 16 Fällen 5 entlassungfähige, 
4 wesentlich gebesserte und nur 7 ungebesserte, von denen man bei 
3 auch noch von einer „Besserung von einigen Wochen Dauer“ hätte 
reden können, falls man diese Rubrik eingeschoben hätte, im Gegen¬ 
satz dazu blieb die Psychose ganz unbeeinflußt, wenn Idiotische 

x ) Ich spreche absichtlich von „Besserung bis zur Entlassung - 
fähigkeit“, nicht von „Heilungen“, damit nicht der Anschein erweckt 
wird, als ob ich „Dauerheilungen“ im Auge hatte. 


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Über den Einfluß des Abdominaltyphns usw. 


809 


typhös erkrankten; ganz erklärlich. Auch die Paralyse, die chronische 
Paranoia und die Epilepsie besserten sich höchstens bis zu einigen 
Wochen. Auffallend ist, daß die 4 Fälle von manisch-depressivem 
Irresein sämtlich sich besserten, denn auch die 2 unter Rubrik I ver- 
zeichneten Fälle ließen für einige Wochen eine Remission erkennen, 
daß hingegen die senilen Geistesstörungen absolut unbeeinflußt blieben. 
Das Lebensalter spielt eben eine wichtige Rolle bei dieser Frage. Ich 
fand in Rubrik I (ungebesserte Fälle und Fälle von Besserung bis 
zu höchstens einigen Wochen) bei den 46 Fällen ein Durchschnitts¬ 
alter von 41 % Jahren, in Rubrik II bei den 8 Fällen merklicher und 
längerer Besserung ein solches von 33 y 2 und in Rubrik III bei den 
bis zur Entlassungfähigkeit gebesserten 6 Fällen ein solches von 
27*/ 3 Jahren. 

Ähnliche Resultate erhalten wir, wenn wir in den einzelnen Rubriken 
die Durchschnittsdauer der Psychose bis zum Ausbruch des Typhus 
vergleichen. Da haben wir in Rubrik I eine durchschnittliche Dauer 
der Geisteskrankheit von 12,4 Jahren, in Rubrik II eine solche von 
etwa 8% Jahren und in Rubrik III eine solche von weniger als 5 Jahren. 

Nun noch ein paar Worte zu den von mir wiedergegebenen 10 
Krankengeschichten in der Tabelle. Sie gehören sämtlich zu den in 
Rubrik II und III genannten Fällen mit Ausnahme des Falles 6, den 
ch als nur gering gebessert der Rubrik I zugerechnet habe; Fall 3, 4, 8 
und 9 fallen in Rubrik II, Fall 1, 2, 5, 7 und 10 in die Rubrik III. 
Die Fälle von manisch-depressivem Irresein und die Testierenden 
5 Fälle von Dementia praecox bieten kein solches Interesse mehr, 
laß ihre ausführliche Wiedergabe sich gelohnt hätte. Wert der Auf- 
lahme in die Tabelle schienen mir hauptsächlich die Fälle zu sein, 
lie während und nach der typhösen Erkrankung besonders eingehend 
bezüglich ihres Geisteszustandes beobachtet worden waren, und deren 
Krankengeschichten — letztere sind natürlich auch nur auszugweise 
wiedergegeben — bezüglich unseres Themas besonders instruktiv 
su sein schienen. 

Ich fasse meine Resultate folgendermaßen zusammen: 

1. Es ist berechtigt, in der psychiatrischen Wissenschaft die 
Möglichkeit und das nicht selten tatsächliche Vorkommen von Besserung 
ler geistigen Störungen durch interkurrierenden Abdominaltyphus 
ils feststehend anzunehmen. 


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810 


Becker, Ober den Einfluß des Abdominaltyphus usw. 


2. Dieses Ereignis ist von 3 Faktoren abhängig: a) von der Art 
der Psychose, b) von dem Lebensalter, c) von der Dauer der psychischen 
Erkrankung bis zum Ausbruch des Typhus. 

3. Idiotie, Epilepsie, Paralyse [hier muß ich z. B. Fischers 8 An¬ 
sicht völlig beipflichten] und die senilen Geistesstörungen bleiben 
fast ganz unbeeinflußt; Dementia praecox dagegen wird sehr oft 
gebessert, in manchen Fällen bis zur Entlassungfähigkeit; das man'scfc- 
depressive Irresein entzieht sich wegen seines an sich schon periodischer, 
und zirkulären Charakters einstweilen noch der Beurteilung; über 
andere funktionelle Psychosen fehlt mir das Material zum Urteil 

Literatur. 

1. Kraepelin, Psychiatrie, 8. Auflage, Leipzig 1909. 

2. Ziehen, Psychiatrie, 4. Auflage, Leipzig 1911. 

3. Jahresbericht der kantonalen Heil- und Pflegeanstalt Königsfelde: 

(Aargau) 1911, Brugg 1912. 

4. Bericht über die im Kgr. Württemberg bestehenden Staats- und Privat 

anstalten für Geisteskranke usw. für das Jahr 1908, Stuttgar 
1910. 

5. Omorohow, Über die günstige Wirkung interkurrenter Infektion; 

krankheiten auf den Verlauf von Psychosen, Obosrenje psi 
chiatrii Nr. 6, 1909. 

6. Krell, Typhus in Großschweidnitz, Psychiatrisch-neurologische Wochen 

Schrift Nr. 9 u. 10, 1909/10. 

7. Neißer, Die Bedeutung der Bazillenträger in Irrenanstalten, Referat, 

erstattet auf dem IV. internationalen Kongreß zur Fürsow 
für Geisteskranke zu Berlin am 6. Oktober 1910. 

8. Fischer in der Diskussion zu Meyers und Spielmeyers Vorträgen (,,!'» 

Behandlung der Paralyse“) auf dem diesjährigen Psychiater 
kongreß am 31. Mai in Kiel. 


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Über die Sterblichkeit, die Todesursachen und die 
Sektionsbefunde bei Epileptikern. 

Von 

Dr. R. Hahn in Hochweitzschen. 

Soweit die Epileptiker im Königreich Sachsen staatlicher 
Fürsorge unterstellt werden, gelangen sie seit dem Jahre 1891 fast 
ausschließlich in der Landesanstalt Hochweitzschen zur 
Unterbringung. Die Zahl der hier Verpflegten schwankte alljährlich 
zwischen 222 bis 377 weiblichen und 310 bis 528 männlichen Kranken; 
jetzt — im April 1912 — beläuft sich der Bestand auf 371 weib¬ 
liche und 451 männliche Kranke; im Durchschnitt dürften sich 
innerhalb der letzten 21 Jahre andauernd etwa 300 weibliche und 
gegen 420 männliche, also insgesamt gegen 720 Kranke zur Behand¬ 
lung und Pflege in der hiesigen Anstalt befunden haben. 

In klinisch-ätiologischer Beziehung handelt es sich bei diesem 
Krankenmaterial in mindestens 80—90% der Fälle um Formen echter 
genuiner oder idiopathischer Epilepsie, in einigen wenigen Fällen ohne 
die weiteren psychischen Komplikationen, in der überwiegenden Mehrzahl 
ler Fälle aber verbunden mit Zuständen angeborener oder im Verlaufe 
ier Krankheit erworbener geistiger Abschwächung mehr oder minder 
erheblichen Grades, zum Teil auch kompliziert durch chronische Psychosen 
ind andere psychopathische Zustände, wie sie auf dem Boden der somatisch- 
psychischen Degeneration so leicht zu erwachsen pflegen. Formen sym¬ 
ptomatischer Epilepsie mit sicher nachweisbarer Ätiologie oder schon 
m Leben sicher festzustellendem anatomischen Gehirnleiden bilden unter 
len hier zur Aufnahme gelangenden Krampfkranken stets nur eine ver¬ 
schwindende Minderheit. Immerhin wird man bei den Sektionen nicht 
illzu selten durch palpable Gehirnbefunde überrascht, die man nach dem 
riinischen Bilde, unter dem die Epilepsie verlief, nicht vermuten konnte, 
jftßt sich doch die symptomatische, ätiologisch oder anatomisch mehr 
»der minder wohl charakterisierte Epilepsie ihrem Verlaufe nach nicht 
rnmer scharf und deutlich von der genuinen Epilepsie abgrenzen, und 
verlaufen viele dieser Fälle, bei denen die Sektion Rindenläsionen, Arterio- 
kJerose, Dementia paralytica, Lues, Tumor, Cysticercus cerebri u. ä. m. 


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812 


Hahn, 


ergibt, doch durchaus unter dem Bilde einer genuinen Epilepsie, ganz 
zu schweigen von den zahlreichen, auf Mißbildungen oder entzündlichen 
Erkrankungen des Gehirns usw. beruhenden Formen, die bei genauerer 
Feststellung aller klinisch hervortretenden Krankheiterscheinungen die 
anatomische Gehirndiagnose oft schon im Leben ermöglichen. Dazu 
gesellen sich die Fälle symptomatischer Epilepsie, bei denen man toxische 
Einflüsse oder sonstige Schädigungen als ätiologischen Faktor mit mehr 
oder minder großer Bestimmtheit voraussetzen darf, z. B. Traumen, 
Lues, chronischer Alkoholismus, chronische Nephritis u. dgL m. Fällt 
dieser Art pflegen, auch wenn sie schon im Leben richtig erkannt wurden 
zu weiterer Behandlung in der hiesigen Anstalt beibehalten und in den 
statistischen Aufstellungen einfach als Epileptiker aufgeführt zu werden, 
während Kranke, bei denen echte epileptische Krampfanfälle fehlen 
oder irrigerweise angenommen worden waren, z. B. Hysterische ode: 
Katatoniker mit konvulsionären Zuständen, nach Ermittlung der zu 
treffenden Diagnose zur Entlassung oder zur Überweisung in die ihren 
Wohnsitze entsprechende Irrenanstalt gelangen. Ganz besonders ist d* 
der Fall bei den als Dementia paralytica erkannten Krankheit zu standen 
Das Material der hiesigen Anstalt setzt sich daher fast ausschließlich 
aus Kranken zusammen, die man dem Charakter der bei ihnen vom? 
weise hervortretenden Krankheiterscheinungen entsprechend als eehtt 
Epileptiker zu bezeichnen berechtigt ist, wennschon sie, nach ätiologisches 
und pathologisch-anatomischen Gesichtspunkten gruppiert, wohl zun 
größten Teil der idiopathischen, zu einem Teile aber auch der sympte 
matischen Epilepsie zuzuweisen sind. 

Daß ein so beschaffenes Krankenmaterial ganz besonders geeignet 
erscheint, über einige die Mortalität der Epileptiker betreffende Frag« 
Aufschluß zu geben, liegt auf der Hand, ln den meisten Abhand¬ 
lungen über Epilepsie pflegen darüber indessen nur spärliche Be¬ 
merkungen enthalten zu sein. Trotz vielseitiger und eingehender 
Erfahrungen sprechen sich die verschiedenen Autoren oft sehr unter¬ 
schiedlich über die Frage der Lebensdauer der Epileptiker und übe: 
die Ursachen ihres Todes aus; es mangelt no«h durchaus an umfäng¬ 
licheren statistischen Erhebungen, um die verschiedenen sich hi« 
aufdrängenden Fragen einer Lösung näher zu führen. Es erschie: 
daher nicht überflüssig, das gesamte Material der hiesigen Anstalt 
einer eingehenden Durchsicht zu unterwerfen und nachzuprüfea 
inwieweit die in der Literatur enthaltenen Angaben über die Mortalität 
der Epileptiker, über die Ursachen ihres Todes und andere bei dei 
Sektion zu erhebende bemerkenswerte Befunde nach den Ergebnisse 
dieser Untersuchungen Bestätigung finden oder einer Korrekte 
zu bedürfen scheinen. 


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Die Sterblichkeit, Todesursachen und Sektionsbefunde bei Epileptikern. 813 


Schon über die Frage der bei den Epileptikern tatsächlich auf’ i 
tretenden Sterblichkeit ist es schwer, aus den in der Literatur 
enthaltenen wenigen Angaben ein einigermaßen zuverlässiges Urteü 
zu gewinnen. 

Bvazard stellte, wie Gocvers anführt, unter 2828 in einem Zeiträume 
von 34 y 2 Jahren im allgemeinen Krankenhause für Gelähmte und Epi¬ 
leptiker zu London zur Behandlung gelangten Fällen von Epilepsie 
38 Todesfälle fest. Nach Heimann starben in den preußischen Irrenanstalten 
von 100 wegen „Seelenstörung mit Epilepsie“ behandelten im Jahres¬ 
durchschnitt 1876—1879 9,0 männliche und 7,9 weibliche Kranke, während 
die entsprechenden Ziffern für den Jahresdurchschnitt 1880—1891 8,3 
und 7,4 und für den Jahresdurchschnitt 1892—1897 6,6 und 6,7 lautem 
Aus den in den offiziellen Berichten der Stadt Berlin über die Anstalt 
Wuhlgarten enthaltenen Angaben läßt sich für die letzten 10 Jahre 
eine zwischen 4% bis 6% schwankende Sterblichkeit herausrechnen. 

Wie sich die Sterblichkeitsverhältnisse während des Zeitraumes 
von 1891—1911 in der hiesigen Anstalt gestalteten, ergibt sich aus 
Tabelle L 


Tabelle I: Sterblichkeit. 


Es starben im 
Jahre 

männliche 

Kranke 

weibliche 

Kranke 

insgesamt 

Prozente 

1891 

36 

5 

41 

5,7 

1892 

24 

12 

36 

5,2 

1893 

18 

23 

41 

5,8 

1894 

15 

10 

25 

3,7 

1895 

16 

5 

21 

3,6 

1896 

6 

8 

14 

1.9 

1897 

9 

6 

15 

1,8 

1898 

5 

4 

9 

1,2 

1899 

8 

20 

28 

3,2 

1900 

13 

13 

26 

3,3 

1901 

12 

7 

19 

2,4 

1902 

12 

9 

21 

2,6 

1903 

13 

6 

19 

3,7 

1904 

9 

9 

18 

2,6 

1905 

11 

13 

24 

3,6 

1906 

14 

5 

19 

2,6 

1907 

15 

5 

20 

2,6 

1908 

25 

7 

32 

4,2 

1909 

19 

17 

36 

4,7 

1910 

27 

12 

39 

5,2 

1911 

25 

9 

34 

4,3 

insgesamt 

882 

205 

537 

3,5 


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814 


Hahn, 


Die Gesamtzahl der vom Jahre 1891 bis zum Jahre 1911 einschliefi* 
lieh verstorbenen Kranken belief sich darnach auf 537, und zwar gingen 
332 m. und 205 w. Kranke innerhalb dieser 21 Jahre mit Tod ab. Da 
nun die Zahl der während dieses Zeitraums alljährlich hier verpflegten 
Epileptiker im Durchschnitt gegen 300 w. und 420 m., insgesamt also 
etwa 720 Kranke betrug, so berechnet sich der Prozentsatz der Mortalität 
überhaupt auf 3,5%, und zwar belief sich die Sterblichkeit bei den m. 
epileptischen Kranken auf 3,7%, bei den w. dagegen auf 3,2%. Die 
Schwankungen während der einzelnen Jahre, auf die Gesamtzahl der im 
Durchschnitt jeweilig hier Verpflegten bezogen, ergibt sich aus oben* 
stehender Tabelle. 

Zieht man in Erwägung, daß die Sterblichkeit in den verschiedenen 
Kulturstaaten nicht unerheblichen Schwankungen unterliegt, und 
daß die Mortalität der Gesamtbevölkerung eines Landes nur selten 
unter 2% herabgeht, meist aber den Wert von 2% überschreitet, 
so wird man die Sterblichkeit der Epileptiker, die doch die Mortalität 
in der Bevölkerung des Deutschen Reiches z. B. nur um 
ein mäßiges übersteigt, als hoch nicht bezeichnen können. Es bestätigt 
sich damit, was Gowers , Oppenheim u. a. betonen, ohne freilich be¬ 
weisende Zahlen beizubringen, daß die Lebensgefahr für die mit 
Epilepsie behafteten Kranken an sich nicht allzu groß ist. Soweit 
es sich um Verhältnisse im Königreich Sachsen handelt, blieb 
die Sterblichkeit in der Epileptikeranstalt auch stets wesentlich 
zurück hinter der Mortalität, wie sie in den ausschließlich zur Auf- 
t nähme für nicht epileptische Geisteskranke bestimmten Anstalten 
auf trat: unter 5% des durchschnittlichen Gesamtbestandes ging sie 
hier auch unter den günstigsten Verhältnissen nie herab; meist aber 
betrug sie über 7%, ja erreichte oft noch wesentlich höhere Werte. 
Dabei machte sich stets eine auffällige Differenz zwischen der Sterb¬ 
lichkeit bei den m. und derjenigen der w. Verpflegten geltend, und 
zwar stieg sie dort nicht selten auf über 10% des durchschnittlichen 
Krankenbestandes an, während sie hier immer um 2—5% niedriger 
blieb. Man wird indessen kaum fehlgehen, wenn man annimmt, daß 
die in den Irrenanstalten zu beobachtende höhere Sterblichkeit in der 
Hauptsache auf die hier so zahlreich ins Gewicht fallenden Todesfälle 
der an Dementia paralytica Erkrankten zurückzuführen ist; die größere 
Häufigkeit der progressiven Paralyse bei den Männern dürfte gewiß 
auch die höhere Sterblichkeit bei diesen den weiblichen Kranken 
gegenüber zur Folge haben. Ohne die Paralytiker würde die Sterb- 


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Die Sterblichkeit, Todesursachen und Sektionsbefunde bei Epileptikern. 815 


lichkeit wohl auch in den Irrenanstalten kaum nennenswert diejenige 
der Gesamtbevölkerung eines Landes übersteigen; das ergibt sich 
auch aus den statistischen Feststellungen Heimanna über die Sterb¬ 
lichkeit in den preußischen Irrenanstalten für die Jahre 1876 bis 1897. 

Wenn aber die Lebensgefahr für die Epileptiker an sich auch 
gewiß nicht groß ist, so erhebt sich immerhin noch die Frage, ob sie 
nicht doch in relativ jungen Jahren ihrem Leiden erliegen. 


Oppenheim z. B. vertritt die Anschauung, daß ein nicht geringer 
TeU der Epileptiker vorzeitig stirbt; Binstvanger hält es auf Grund statisti¬ 
scher Berechnungen für festgestellt, daß die Epileptiker im Durchschnitt 
kein hohes Alter erreichen, und auch sonst wird in fast allen Abhand¬ 
lungen übereinstimmend betont, daß die Epilepsie die Lebensdauer ab- 
kürzt. Genauere Angaben vermißt man zumeist jedoch, oder die vereinzelt 
mitgeteilten Ziffern stützen sich auf ein so kleines Beobachtungsmaterial, 
daß bindende Schlüsse nur mit Vorsicht daraus gezogen werden können. 
Köhler, der bei einer Gesamtzahl von 121 Epileptikern der Anstalt 
Hubertusburg 19 Todesfälle fand, berechnet das Durchschnittsalter 
der Lebenden auf 26,4 Jahre und gibt an, daß bis zum 30. Lebensjahre 
57,6%, vom 30. Jahre ab aber 42,9% der Epileptiker starben. Er kommt 
zu dem Schlüsse, daß die Lebensdauer der Epileptiker geringer ist als 
bei anderen Gehirnkranken, und zwar stürben die epileptischen Irren 
durchschnittlich um 9 Jahre früher als die nicht epileptischen und die 
übrigen Epileptiker 7 Jahre früher als die Nicht-Epileptiker; während 
bis zum 25. Jahre namentlich das m. Geschlecht gefährdet sei, sei in den 
späteren Jahren mehr das w. Geschlecht dieser Lebensverkürzung aus¬ 
gesetzt. Nach Habermaas' Ermittlungen waren unter den 937 Epileptikern 
der Anstalt Stetten aus den Jahren 1869—1898, über die er berichtet, 
66,6% der noch Lebenden über 20, 30,2% über 30, 11,3% über 40 und 
nur noch 4,5% über 50 Jahre alt. Die mit Tod abgegangenen 166 Epi¬ 
leptiker erreichten ein Durchschnittsalter von 25 Jahren, 72% starben 
vor Ablauf des 30. Lebensjahres und 2,8% wurden über 50 Jahre alt. 
Unter Zugrundelegung der Fierord/schen Tabellen spricht er sich dahin 
aus, daß die Sterblichkeit unter den Epileptikern bis zum 11. Lebensjahre 
so ziemlich den normalen Verhältnissen entspricht, während sie dieselben 
im 15. Lebensjahre um das vierfache übersteige, im 20. Lebensjahre das 
loppelte betrage, im 21. Lebensjahre trete wieder eine Steigerung auf 
las dreifache ein; dann halte sie sich bis zum 25. Lebensjahre auf doppelter 
iöhe, erreiche im 30. Jahre annähernd normale Verhältnisse, sinke von 
la ab immer tiefer unter den Durchschnitt und betrage im 50. Jahre nur 
toch ein Zehntel. 

CJm Vergleiche anstellen zu können, wurden im April 1912 die 
dtersverh&ltnisse der zum Bestände der hiesigen Anstalt gehörigen 


Zeitschrift fttr Pavohiatrie. LXIX. 6. 


56 


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816 


Hahn. 


und der seit 1891 hier verstorbenen Kranken — insgesamt 547 — 
genau ermittelt und in Tabelle II verzeichnet. 


Tabelle II: Altersverhaltnisse. 


Alter 

der lebenden Kranken 
männlich 1 weiblich 

insgesamt 

der gestorb. Kradken 
männlich weiblich 

insgesamt 

5—10J. 

| 7 = 1,5% 

3= 0,8% 

10= 1,2% 

| 2= 0,5% 

3= 1,4% 

5= 0,9 

10—15 ,, 

38= 8,4%, 27= 7,2% 

65= 7,9% 

18= 5,3% 10= 4,7% 

28= 5.1 

15-20 „ 

57=12,6% 

; 28 = 7,5% 

85=10,3% 

28= 8,2% 

15= 7,1% 

43 = 7,6 

20—30 „ 

115=25,4% 

88 =23,7% 

203=24,6% 

81 =23,9% 

44=21,0% 

125 =22.* 

30—40 „ 

120=26,6% 

94=25,3% 

214=26,0% 

86=25,4% 

58 =27,7 % 

144 =26.3 

40—50 „ 

65=14,4% 

85=22,9% 

150=18,2% 

55=16,2% 

47 =22,4% 

102 =18.6 

50—60 „ 

39= 8,6% 35= 9,4% 

74= 9,0% 

36=10,6% 

20= 9,5% 

56 =10.2 

60—70 „ 

10= 2,2%, 

5= 1,3% 

15= 1,8% 

25= 7,3% 

9= 4,3% 

34 = 6J 

über70 „ 

j 

6= 1,6% 

6= 0,7% 

7= 2,0% 

3= 1,4% 

10= IS 

insges. 

451 ! 

i 

371 

822 

338 

209 

547 


Das Durchschnittsalter der lebenden, teils hier aufhältlichen, teils 
„auf Urlaub“ befindlichen 451 m. Kranken berechnet sich darnach auf 
31,7, das der 371 w. Kranken auf 34,6, das Durchschnittsalter der noch 
lebenden 822 Kranken überhaupt auf 33 Jahre, während sich als Durch¬ 
schnittsalter für die verstorbenen 338 m. Kranken 37,5, für die verstorbenen 
209 w. Kranken 36,1, für die hier verstorbenen 547 Kranken überhaupt 
36,3 Jahre ergeben. Bis 20 Jahre alt waren vom noch lebenden Kranken- 
bestande 102 = 22,6% m. und 58 = 15,6% w., insgesamt 160 = 19,4% 
Kranke; bis zum 20. Jahre verstarben 48 = 14,6 % m. und 28 = 13,3 % w., 
insgesamt 76 = 13,8% Kranke. In welcher Weise sich die Verhältnisse 
für die nachfolgenden Jahre gestalten, ist aus Tabelle III zu ersehen. 

Tabelle III: Altersverhältnisse. 


Alter 

Jahre 

der lebenden Kranken 

männlich 1 weiblich 

insgesamt 

derverstorb. Kranken 
männlich : weiblich 

- 

msgesan 

üb. 20 J 
„ 30„ 
„ 40„ 
>, 50,, 

ff 60,, 

ff 70,, 

349 =77,3% 313=84,3% 
234 =51,8% 225=60,6% 
114 =25,2% 131 =35,3% 
49=10,8% 46=12,3% 

10= 2,2% 11= 2,9% 

- j 6= 1,6% 

662 =80,5% 
459=55,8% 
245=29,8% 
95=11,5% 
21= 2,5% 
6= 0,7% 

290=85,7% 181 =86,6% 
209=61,8% 137 =65,5% 
123=36,3% 79 =37,7% 

68=20,1 % 32=15,3% 

32= 9,4% 12= 5,7% 

7= 2,0% 3= 1,4% 

471 =86.1 
346 =63..’ 
202 =36' 
100=1*--' 
44= 8/1 

10= i.ij 


Verglichen mit den Ermittlungen von Köhler und Habermaas findet 
man für die Kranken der hiesigen Anstalt erheblich günstigere Alters¬ 
verhältnisse, insbesondere auch bei den verstorbenen Kranken. Starben 
doch bis zum 30. Lebensjahre hier nur 129 = 38,1 % m. und 72 — 34,8 % w.. 


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Di« Sterblichkeit, Todesursachen und Sektionsbeimsde bei Epüeptjkfiii, g!7 

insgesamt 3ü.t A*. 36,7% Kmoke, während vom äö, I^ijonsjahr« eh 

209 » 6 t.. 8$ *». nnd 137 » 65,5$ w.» m^esftfnt also 1i56 W 03 f 2 % 
Kranke mH Tod' ibgiogeri, £lq Alter vom über 50 Jgttafti enreiolilen 
immerhin - noch 68 - S0.,t-% 4er versturbenim ;o. u nd 32 .«* 15.3% der. 
cerMorbeoen *. Kranken, insgesapfit.. also 100 « 18,2% Personen, Die 
iwischen der ^trrldirhfeU. drr m, und w,Ktaujk*o. m .den 'yefc;bfedräfo. 
Lebensabschnitten hervmlretenrten Differenzen sind *u uiihetieöiend, 
als daß darauf iVeitcrKehende Shhiües* gesogen xyyrifen könnten. Die 
übeirwit-gende Mehrzahl der Todesfälle^ jereigpete' wylshheft dein t\K 
bis 50. sitarbob wt&iptd tilgte von den 

'>38 n». Kranken .loch '222. - £&.*>%> '•>n den 20o \>. Kranken 149 = 71,2%, 
miesem! also 371 * f>7.S%. Indolen i*b v.u bearhien.- daß hei an sich 
gleicher Lulskehlioher Lebondtedrob» jag • ' ; .^ös 

KmnkeHhe^tÄndes einddmäßigerendon KihdbÖ, md 
JkUkeit nftUti^wiifiÄr iJem liranfeeidjje^ftiifide dw hies^ejO Ajnkijalt 

•iüd aber, wie die -vorstehend . mitgeUdUew Tabellen erC- ;>i<e tü i.a.-.seü-, 
vnrxugweise diese- AOerstclassoo Veiireteik 3 IVgr beallsndSge Wechsel der 
ddnfßhrnngen uhd Abgänge gibt wohl vdrObefgehend AhM^.-Aid.-Vd*-' 
^cltiebuDgäa dar • AH eit^ru ppet» ;u : aber die elntreteßdeo SchwiätokvtHKei» 

;'. : l?afiA'kirnt Ausgleich, hM sb .hUeJ) der iüiteri? - 
.4«fbaw des K-raukerüjostttndeiä Ad»ttftt seit dem Jtüit* -180t 

im wesentlirtiei» stets ?ler gleiche \ : .’;■ '".'V ,. ’' •' '•'■ /‘'Vy,'' 

:' Wies sieh das Verhältnis der Oest-ntlieistyi a« d«t Zahl tlxtf iel^ejiden 
Kranken fc: jeder Altersklasse gestaltet, wenn man einen liiirehscbiiitt- 
Hoheit GdSÄmtbeätand von all jährlich etwa 720 Kranheij jnajp*ün<le 
logt und- aus der Gesamt stimim 1 - dor von 1891 bis Ende 1911 gestorbenen 
Am JaliFhsmittei t»ereeiinet> ergibt sich aus Tabelle TV, 


Tafeöife IV: Verhältnis der in jeder 

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5--40 Jahre 

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55 -.-. % 

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2,3% 

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Go gle 





818 


Hahn, 


Hieraus ist der maßgebende Einfluß, den das Alter auf die Sterb¬ 
lichkeit der Epileptiker ausübt, ohne weiteres zu erkennen; zugleich 
aber bestätigt sich, was die Mortalitätstatistiken überhaupt lehren, 
daß die Sterblichkeit bei gleicher tatsächlicher Lebensbedrohung 
mit zunehmendem Alter wächst. Sicherlich geben die vielen üblen 
und nicht selten mit Lebensgefahr verbundenen Zufälle, denen die 
Epileptiker — besonders die häufiger von Krampfanfällen heim- 
gesuchten — durch ihre Krankheit ausgesetzt sind, ganz allgemein 
betrachtet zu einer Verkürzung der Lebensdauer nicht allzu selten 
Anlaß; aber daß bestimmte Alterstufen lediglich durch das epi¬ 
leptische Leiden stärker gefährdet wären, geht aus den hier gewonnenen 
statistischen Erhebungen nicht einwandfrei hervor; die Mortalität 
innerhalb der einzelnen Altersgruppen erweist sich wohl etwas größer 
als in der Gesamtbevölkerung, ist aber keineswegs so erheblich ge¬ 
steigert, daß man zuverlässigere Schlüsse auf das Maß der durch¬ 
schnittlich eintretenden Lebensverkürzung zu ziehen vermöchte. 
Offenbar kommt es hierbei nicht nur auf die Schwere des einzelnen 
Krankheitfalles an, insbesondere auf die Häufigkeit, die besondere 
Form und die sonstigen Begleiterscheinungen der Krampfanfälle, 
sondern auch auf eine große Reihe einflußreicher Faktoren, die sich 
einer allgemeinen statistischen Verwertung schwer zugänglich erweisen, 
z. B. auf die körperliche Konstitution, auf etwa sonst noch vorhandene 
lebensgefährliche Krankheitzustände, auf das Milieu, in dem die 
Kranken während der Dauer ihres Leidens leben usw. 

Wenn man bedenkt, wie häufig die Epileptiker durch ihre Anfälle 
und die damit einhergehenden psychischen Alterationen in schwere 
Gefahr geraten können, wie häufig sie ernsten Verunglückungen und 
bedenklichen Verletzungen ausgesetzt sind, dann muß man sich eigent¬ 
lich wundern, daß der Prozentsatz der Todesfälle in der Anstalt kein 
höherer ist. Nach den hier geführten Listen kommen alljährlich im 
Durchschnitt etwa 3000—4000 körperliche Erkrankungen unter den 
Verpflegten vor, das sind bei dem angenommenen Durchschnitts¬ 
bestände von alljährlich 720 epileptischen Kranken gegen 4—6 Er¬ 
krankungen auf die Person. Dabei sind die m. und w. Kranken in 
annähernd gleich hohem Maße betroffen, doch so, daß ein Teil — 
schätzungweise etwa Vs bis l / 7 — stets ganz frei blieb von bemerkens¬ 
werten körperlichen Erkrankungen, während namentlich von den 


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Die Sterblichkeit, Todesursachen und Sektionsbefunde bei Epileptikern. 819 


wegen chirurgischer Affektionen in Behandlung getretenen Kranken 
sich viele wiederholt im Paroxysmus durch Fall nach derselben Seite 
und auf dieselben Körperteile die gleichen Verletzungen zugezogen 
hatten. Nur 25,5 Kranke gingen im Durchschnitt alljährlich mit Tod 
ab, also nur 0,7% der von akzessorischen Krankheiten befallenen 
Verpflegten. Gegen 50% der sämtlichen Erkrankungen entfielen 
dabei auf chirurgische Affektionen, etwa 7—10% auf akzessorische 
Gehirnerkrankungen wie Status epilepticus usw., der Rest auf an¬ 
steckende Krankheiten, auf Erkrankungen des Verdauungsapparates 
der Atmungsorgane, der Haut, des Herzens und der Gefäße, der Nerven, 
Muskeln, Ohren, Augen, Harn- und Geschlechtsorgane usw. Handelte 
es sich bei den chirurgischen Erkrankungen auch oft nur um relativ 
harmlose Ereignisse wie Erosionen, Exkoriationen, Kontusionen, 
Furunkel, Abszesse, leichte Verwundungen, Zahnaffektionen und 
dergleichen mehr, so kamen nicht allzu selten doch auch bedenk¬ 
lichere Verletzungen im Paroxysmus vor, z. B. Verbrennungen, Distor¬ 
sionen, Verrenkungen, Knochenbrüche, tiefe, klaffende Hautwunden, 
Gefäßläsionen usw. Dazu gesellen sich noch die Gefahren einer Er¬ 
stickung im Anfall, sowie die aus anderen schweren Zuständen sich 
ergebenden Lebensbedrohungen. Immerhin ist der Eintritt lebens¬ 
gefährlicher Zustände im Anschluß an Anfälle keineswegs so häufig, 
wie man in Anbetracht der Häufigkeit und Schwere der Paroxysmen 
bei der überwiegenden Mehrzahl unserer Kranken und in Berück¬ 
sichtigung des Umstandes, daß nur ein relativ beschränkter Prozent¬ 
satz unserer Kranken vor Eintritt des eigentlichen Krampfanfalles 
eine ausgesprochene Aura zeigt, von vornherein anzunehmen geneigt 
ist, eine Wahrnehmung, die auch in der dankenswerten Arbeit von 
H. Fischer über die chirurgischen Ereignisse in den Anfällen der 
genuinen Epilepsie aus der Anstalt Wuhlgarten ihre Bestätigung 
findet. 

Man wird kaum fehlgehen, wenn man diese überraschend günstigen 
Ergebnisse zu einem wesentlichen Teil der eingetretenen Anstalt¬ 
behandlung und -pflege zugute schreibt. Nach den üblen Erfahrungen 
zu schließen, die man nicht selten mit beurlaubten Kranken macht, 
ist es mehr als wahrscheinlich, daß die Epileptiker, solange sie unter 
vielfach recht zweifelhaften hygienisch-sozialen Verhältnissen in 
der Außenwelt oder in der Familie zubringen, weitaus häufiger Lebens- 


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820 


Hahn, 


gefährdungen ausgesetzt sind als unter den — nach den obigen Dar¬ 
legungen dar! man wohl sagen — schützenden und konservierenden 
Verhältnissen innerhalb einer Anstalt, wo sie an Exzessen aller Art 
gehindert werden und unter den Segnungen einer sachgemäßen und 
geordneten Pflege und Behandlung, sowie einer steten sorgsamen 
Überwachung durch ein geschultes Personal in erhöhtem Maße Schutz 
vor Insulten und Unglücksfällen finden. Es entzieht sich einer genaueren 
statistischen Feststellung, wie hoch sich etwa das Perzent der Fälle 
beläuft, die draußen einem im Anfall sich ergebenden üblen Zufalle 
erliegen; denn da man es bei den von Angehörigen erhaltenen Aus¬ 
künften über die Ursache des Todes in der Kegel mit Laiendiagnosen 
zu tun hat, ist denselben eine allzu große Bedeutung nicht beizumessen; 
es ist indessen ohne weiteres klar, daß Selbstmorde, lebensgefährliche 
Verletzungen, Todesfälle durch Erstickung, Verbrennung oder Er¬ 
trinken sich in der Außenwelt leichter ereignen können als unter dem 
wohltätigen Schutze des Anstaltlebens. Dennoch würde eine genauere 
Ermittlung mutmaßlich auch für die Außenwelt keine allzu beträcht¬ 
liche Zahl von durch Zufall erfolgten Todesfällen ergeben. 

Vielleicht trägt diese an sich nur geringe Gefährdung des Lebens 
der Epileptiker einen TeU der Schuld mit daran, daß das Publikum zu¬ 
meist erst unverhältnismäßig spät von der gebotenen Hilfe Gebrauch 
zu machen pflegt; zum TeU freilich wirken ohne Zweifel auch andere 
Faktoren mit, etwa eine unbegreifliche, oft nur schwer zu überwindende 
Scheu vor der Unterbringung in einer Anstalt und vor damit verknüpften 
Unbequemlichkeiten und Mehrausgaben, ganz besonders aber gewiß 
auch die Tatsache, daß das epileptische Leiden nicht selten erst allmählich 
mit dem Eintritt ins Pubertätsalter oder unter dem Einfluß ungünstiger 
äußerer Momente eine solche Verschlimmerung erfährt, daß die Kranken 
ln stetig zunehmendem Maße lästig und unerträglich für ihre Umgebung 
werden. Jedenfalls haben die Kranken meist schon seit geraumer Zeit 
an EpUepsie in der schwersten Form gelitten und bereits erstaunlich 
lange unter vielfach recht traurigen Verhältnissen in der Außenwelt zu- 
gebracht, bevor überhaupt daran gedacht wurde, sie in angemessene 
Anstaltpflege zu verbringen. Nach den Beobachtungen in der hiesigen 
Anstalt gelangte die Epilepsie in mindestens 80—85% aller Fälle bereits 
in der Kindheit oder längstens bis zum 20. Lebensjahre in vollausgebildeter 
Form zum Vorschein, ein Ergebnis, wie es übereinstimmend in allen 
statistischen Erhebungen über den Zeitpunkt des Beginns der EpUepsie 
gewonnen wird (vgl. die Ziffern und Tabellen in den einschlägigen Ab¬ 
handlungen von Köhler, Binswanger usw.); aber erst zwischen dem 20. 
bis 40. Lebensjahre, oft erst nach bereits 5—30 jährigem Bestehen der 


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Die Sterblichkeit, Todesursachen and Sektionsbefande bei Epileptikern. 821 

Epilepsie erfolgt in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle die Zuführung 
in die Anstalt; nur in einer verschwindend kleinen Zahl der Fälle — höch¬ 
stens in etwa 7—10% der Gesamtsumme der Aufnahmen — geschieht 
die Unterbringung schon innerhalb der ersten 2 Jahre nach Ausbruch 
der Krankheit. 

Wenn aber die Lebensgefahr für die Epileptiker nach den Er¬ 
gebnissen der voranstehenden Erörterungen an sich gewiß auch nicht 
allzu groß ist, so ist es doch von nicht geringem praktischen Interesse, 
festzustellen, woran die Epileptiker selbst unter den schützenden 
und konservierenden Einflüssen eines geordneten Anstaltlebens 
eigentlich zugrunde gehen. Zu diesem Zwecke sind in erster Linie 
die Todesursachen und die aus den klinischen Beobachtungen 
und insbesondere aus den Sektionsprotokollen sich ergebenden be¬ 
merkenswerten Befunde näher ins Auge zu fassen. Zuvor 
aber mögen zur besseren Orientierung noch einige klinisch-ätiologische 
Ermittlungen hier Erwähnung finden. 

Die von 1891 bis April 1912 hier verstorbenen 547 Kranken galten 
bei der Aufnahme durchweg als Epileptiker. Nach den Ergebnissen 
der vorgenommenen Untersuchungen und nach den klinisch hervor¬ 
getretenen Krankheiterscheinungen wurde diese Diagnose auch in 
541 Fällen bis zum Tode aufrecht erhalten. 3 m. und 3 w. Verpflegte 
wurden indessen schon bei Lebzeiten als an Dementia paralytica 
erkrankt erkannt, und da die bei der Sektion erhobenen Gehirn¬ 
befunde die Diagnose zu bestätigen schienen, wurden sie hier nicht 
weiter berücksichtigt. Alle übrigen Fälle dagegen fanden Verwendung. 
Die nachfolgende Übersicht fußt also auf einem 335 m. und 206 w. 
epileptische Kranke umfassenden Materiale, das innerhalb der Zeit 
vom 1. Januar 1891 bis zum 30. April 1912 in der hiesigen Anstalt 
mit Tod abging. 

Alle diese Kranken wurden bei Lebzeiten und während der Dauer 
ihres Aufenthalts in der hiesigen Anstalt trotz ausgiebigster fortlaufender 
Behandlung mit den gebräuchlichen antiepileptischen Mitteln im Durch¬ 
schnitt zumeist noch ziemlich häufig — nur in ganz wenigen Fällen unter 
50 mal im Jahre, in der Regel weitaus häufiger — von typischen all¬ 
gemeinen Krampfanfällen in wechselnden Zwischenräumen heimgesucht. 
Kaum einer der Kranken war freigeblieben von Veränderungen auf psy¬ 
chischem Gebiete; die überwiegende Mehrzahl bot neben den in wechselnder 
Stärke und Häufigkeit wiederkehrenden Krampfanfällen und im Zu¬ 
sammenhänge damit auftretenden Bewußtseinsstörungen Zustände an- 


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822 


Hahn, 


geborenen oder erworbenen Schwachsinns dar, viele zeigten auch in den 
anfallfrei verlaufenden Zwischenzeiten psychotische Zustände schwererer 
Art, fast alle ließen die typische epileptische Charakterentartung erkennen 
und waren häufigen inneren Aufregungen, jähen exzessiven Stimmung¬ 
schwankungen, plötzlichen expansiven Neigungen und impulsiven Hand¬ 
lungen unterworfen. In einem Teil der Fälle waren auch Residuen einer 
früheren zerebralen Kinderlähmung und andere auf anatomische Läsionen 
des Zentralnervensystems hindeutende Krankheiterscheinungen vorhanden; 
stets aber handelte es sich bei allen ad exitum gekommenen Krankheit¬ 
fällen um allgemeine tonisch-klonische Muskelkrämpfe von typisch¬ 
epileptischem Gepräge, und wenn auch fast jeder Fall durch Besonderheiten 
des klinischen Verlaufs sich auszeichnete und mehr oder minder konstant 
auftretende Begleitsymptome zuweilen auf eine organische Ursache der 
Krampfanfälle hinzudeuten schienen, so entsprach das klinische Krank¬ 
heitbild in seinen wesentlichsten Zügen doch stets dem der echten genuinen 
Epilepsie; anatomische Gehirndiagnosen ließen sich auf Grund der klinisch 
hervorgetretenen Krankheiterscheinungen bei Lebzeiten wohl kaum 
in einem einzigen Falle auch nur mit einem größeren Maße von Wahr¬ 
scheinlichkeit stellen. 

Über die Ursache der Epilepsie war aus der Vor¬ 
geschichte nur selten absolut Zuverlässiges in Erfahrung zu bringen 
Zwar fehlt es in den Krankengeschichten nicht an Angaben über die 
mutmaßliche Ursache der Epilepsie; wenn man aber kritisch zu Werke 
geht, wird man sich keiner Täuschung darüber hingeben dürfen, daß 
man in der überwiegenden Mehrzahl aller Fälle trotz solcher Angaben 
über die eigentliche Ursache der Epilepsie völlig im unklaren bleibt. 

Allgemein wird der erblichen neuropathischen Anlage, wie sie so 
häufig bei Nachkommen von Geisteskranken, Epileptischen, Hysterischen, 
Psychopathen, Verbrechern, Selbstmördern und Trinkern vorzukommen 
scheint, wohl mit Recht eine große Rolle bei Entstehung der Epilepsie 
zugeschrieben. Aber der sichere Nachweis einer hereditären bzw. familialen 
psychopathischen Belastung begegnet nicht selten unüberwindlichen 
Schwierigkeiten. Oft wird eine hereditäre oder individuelle Belastung 
ganz in Abrede gestellt, weil man sie als ein Stigma, als einen Makel für 
die ganze Familie ansieht; in anderen Fällen wieder wird sie nur voraus¬ 
gesetzt oder stützt sich beispielweise etwa auf die kurze Behauptung, 
daß der Vater dem Trünke ergeben gewesen sei, während nähere Angaben 
darüber fehlen, ob diese Trunksucht nicht etwa erst nach Erzeugung 
des kranken Abkömmlings ihren Anfang genommen hatte. So wird man 
allen statistischen Angaben über die angenommene Ursache des Leidens 
nur mit großem Skeptizismus gegenübertreten können, ganz besonders 
auch in den zahlreichen Fällen, wo neben oder statt der erblichen bzw. 
familialen Belastung allen möglichen anderen Dingen teils absichtlich, 


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Die Sterblichkeit» Todesursachen und Sektionsbefunde bei Epileptikern. 823 

teils unabsichtlich die Schuld an der Erkrankung aufgebürdet wird. Ist 
es schon schwer, die Wirkung einer in der Aszendenz oder vielleicht gar 
nur in der kollateralen Verwandtschaft vorgekommenen Psychose oder 
Neurose auf die vorliegende Erkrankung einwandfrei festzustellen, so 
ist es fast unmöglich, den Anteil zu ermitteln, den etwa eine bei der Geburt 
aufgetretene Asphyxie oder die Dentition, eine infektiöse Kinderkrankheit, 
ein Schreck, ein Unfall oder eine Verletzung, die Pubertätsentwicklung, 
angeborene oder erworbene Syphilis, individueller Alkoholismus oder 
eine sonstige körperliche Schädigung auf den Ausbruch oder die weitere 
Ausgestaltung des epileptischen Leidens gehabt hat. Die Möglichkeit, 
daß einigen der letzterwähnten Faktoren, namentlich auf dem Boden 
der erblichen Anlage, ein Einfluß, wennschon vielleicht nur ein ganz 
beiläufiger und sekundärer, auf die Entwicklung der Epilepsie einzuräumen 
sei, mag zugegeben werden; oft aber dürfte solchen Äußerungen nur der 
zweifelhafte Wert einer Laienhypothese zukommen, oder es liegt ihnen 
ein Erinnerungsfehler, ein Irrtum, eine Verlegenheilsangabe oder eine 
ofTensichtige Verwechslung von Ursache und Wirkung zugrunde, indem 
irgendein früher einmal vorgekommener Unfall oder eine sonstige soma¬ 
tische oder psychische Schädigung mit Findigkeit hervorgesucht und 
dann kurzerhand als Ursache in Anspruch genommen wird, obwohl die 
Epilepsie nachweislich vielleicht schon mehrere Jahre vorher zum Aus¬ 
bruch gelangt war; jedenfalls scheint es dringend geboten, insbesondere 
der häufig wiederkehrenden Angabe mit Mißtrauen zu begegnen, daß die 
Epilepsie lediglich als die Folge eines Schrecks, einer heftigen Gemüts¬ 
bewegung, eines erlittenen Unfalls usw. anzusehen sei 

Nach diesen Hinweisen auf das Erfordernis vorsichtiger Ver¬ 
wertung aller diesbezüglichen statistischen Feststellungen sei nur 
kurz angeführt, daß bei den verstorbenen epileptischen Kranken 
eine erbliche, bzw. familiale Belastung im üblichen Sinne in 214 
Fällen = 39,5% erwähnt wird, und zwar bei m. Kranken 128 mal 
= 38,2%, bei w. Kranken 86 mal = 41,7%. Teils in Verbindung damit, 
teils aber auch ohne Geltendmachung des Faktors der erblichen Be¬ 
lastung bzw. der angeborenen Anlage wird ein maßgebender Einfluß 
auf die Entwicklung des epileptischen Leidens zugeschrieben psy¬ 
chischen Einwirkungen bei 68=20,2% m. und 53=25,7% w., ins¬ 
gesamt also bei 121=22,3% Kranken, während somatische Ursachen 
bei 54=16,1% m. und 31=15,0% w., insgesamt also bei 85=15,7% 
Kranken angenommen und bei 22=6,5% m. und 12=5,8% w., ins¬ 
gesamt also bei 34=6,2% Kranken psychische und somatische Ein¬ 
wirkungen zugleich geltend gemacht werden. Unter den psychischen 
Ursachen findet ein plötzlicher Schreck bei weitem am häufigsten 


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824 


Hahn, 


Erwähnung, unter den somatischen Ursachen wird außer Traumen 
und Verletzungen, die den Schädel direkt trafen, auch allen mög¬ 
lichen anderen Unfällen und Erkrankungen eine verhängnisvolle 
Wirkung beigemessen, so u. a. der zerebralen Kinderlähmung, den 
verschiedenen infektiösen Kinderkrankheiten, den etwa eingetretenen 
Geburt Störungen, der Dentition, der Pubertätsentwicklung, sogar der 
zweiten Impfung. Individuelle Alkoholintoxikation wird als ätiologi¬ 
scher Faktor bei 15=4,4% m. und 3=1,4% w., insgesamt also bei 
18=3,3% Kranken angeführt; sie spielte unter den hier zur Aufnahme 
gelangten Kranken bei Entwicklung der Epilepsie auch sonst keine 
so gewichtige Rolle, wie es nach den statistischen Ermittelungen in 
anderen Ländern der Fall ist. Auch Syphilis wird als krankheit- 
auslösendes Moment im ganzen nur 4 mal (= 0,7%) erwähnt, und 
zwar bei je 2 m. und w. Kranken. Keine der vorerwähnten Krank¬ 
heitursachen wird namhaft gemacht bei 96=28,6% m. und 60=29,1% 
w., insgesamt bei 156=28,8% der verstorbenen Kranken. 

Über die Zeit des Eintritts der Epilepsie bei 
den verstorbenen 541 Kranken gibt Tabelle V Aufschluß. 


Tabelle V: Alter der Verstorbenen beim Auftreten 

der Epilepsie. 


Die Epilepsie 
trat auf 

bei 

männlichen | weiblichen 

Kranken 

insgesamt 

bei 

im 1.—10. Jahre 

133=39,7% 

79=38,3% 

212 =39,1 % 

„ 10.—15. „ 

79=23,5% 

55=26,6% 

134 =24,7% 

d 

(N 

1 

\6 

w* 

65=19,4% 

40=19,4% 

105=19.4% 

* 

• 

O 

CO 

1 

d 

26= 7,7% 

18= 8,7% 

44= 8,1% 

o 

l 

d 

CO 

17= 5,0% 

10= 4,8% 

27= 4,9% 

nach dem 40. ,, 

15= 4,4% 

4= 1,9% 

19= 3,5% 


Darnach waren bis längstens zum Eintritt ins 20. Lebensjahr an 
Epilepsie erkrankt 277=82,6% m. und 174=84,4% w’., insgesamt 451 = 
83,3% Kranke; nach dem 20. Lebensjahre erkrankten 58=17,3% m. 
und 32=15,5% w., insgesamt 90=16,6% Kranke, nach dem 30. I^ebens- 
jahre nur noch 32=9,5% in. und 14=6.7% w., insgesamt 46=8.5% 
Kranke. 

Es bestätigt sich somit auch für die hier verstorbenen Epileptiker 
die allgemein gemachte Erfahrung, daß die Epilepsie in der weitaus 


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Die Sterblichkeit, Todesursachen and Sektionsbefande bei Epileptikern. 825 

überwiegenden Mehrzahl aller Fälle eine Erkrankung des jugendlichen 
Alters darstellt. 

Es wurde aber bereits erwähnt, daß die Zuführung der Kranken 
in die Anstalt höchstens in etwa 7—10% der Fälle schon innerhalb 
der ersten 2 Jahre nach Ausbruch der Epilepsie erfolgt. Auch die 
verstorbenen Kranken gelangten zumeist erst zwischen dem 20. bis 
40. Lebensjahre zur Unterbringung, nachdem die Epilepsie bereits 
5—30 Jahre bestanden hatte. Berücksichtigt man, daß die Form 
der Epilepsie bei allen ad exitum gekommenen Fällen ausnahmlos 
eine sehr schwere war, und daß ein nicht geringer Teil dieser Kranken 
in durchaus verwahrlostem oder in körperlich und geistig ganz herunter¬ 
gekommenem Zustande zugeführt zu werden pflegt, so wird man sich 
wundem müssen, daß sie vielfach überhaupt noch so lange unter den 
zweifelhaftesten hygienisch-sozialen Verhältnissen in der Außenwelt 
fortvegetieren konnten, man wird aber andererseits auch nicht er¬ 
staunt sein dürfen zu hören, daß gegen 11% der verstorbenen Kranken 
bereits im ersten Jahre ihres Aufenthaltes in der Anstalt mit Tod 
abgingen. Genaueren Aufschluß über die Dauer des Anstaltaufent¬ 
haltes der verstorbenen Kranken gewährt Tabelle VI. 


TabelleVI: Dauer des Aufenthaltes der Verstorbenen 

in der Anstalt. 


Es verweilten in 
der Anstalt 

männliche 

Kranke 

weibliche 

Kranke 

insgesamt 

unterst Jahr 

40=11,9% 

21 =10,1 % 

61 =11,2% 

1— 2 Jahre 

13= 3,8% 

14= 6,7% 

27= 4,9% 

2— 5 „ 

72=21,4% 

61 =29,6 % 

133=24,5% 

5—10 „ 

86=25,6% 

48=23,3% 

134=24,7% 

10—15 „ 

66=19,7% 

36=17,4% 

102=18,8% 

15—20 „ 

41=12,2% 

14= 6,7% 

55 =10,1 % 

über 20 ,, 

17= 5,0% 

12= 5,8% 

29= 5,3% 

insgesamt 

335 

206 

541 


Darnach verwehten insgesamt 320 Verstorbene = 59,1 % über 
5 Jahre in der Anstalt, über 10 Jahre aber immerhin noch 186=34,3% 
Personen, ein Prozentverhältnis, das den Ermittelungen von Köhler 
gegenüber — speziell für die letzterwähnte Gruppe — als ausnehmend 
günstig bezeichnet werden muß und daher mit noch größerem Rechte 
den Schluß zu ziehen erlaubt, daß dem geordneten Anstaltleben im all* 
gemeinen ein schützender und konservierender Einfluß beizumessen ist 


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826 


Hahn, 


Bevor nun in eine Erörterung der Todesursachen ein¬ 
getreten werden kann, bedarf es noch einer kurzen Verständigung 
darüber, nach welchen Gesichtspunkten deren Bezeichnung hier 
erfolgt ist. Da es in erster Linie galt festzustellen, in wievielen Fällen 
der Tod als Folge der Epilepsie selbst zu betrachten sei, bzw. in wievielen 
Fällen sich ein Zusammenhang zwischen dem tödlich verlaufenen 
Ereignisse und der Epilepsie nachweisen ließe, so durfte aus den zur 
Verfügung stehenden Sektionsprotokollen nicht einfach irgendein 
bemerkenswerter pathologisch-anatomischer Befund oder etwa gar 
nur eine letale Erscheinung bzw. eine chronische, an sich aber nicht 
als todbringend zu betrachtende Organveränderung herausgegriffen 
werden, es kam vielmehr noch wesentlich auf Berücksichtigung der 
jeweilig hervorgetretenen klinischen Krankheitbilder und darauf an, 
ob dieser tödlich verlaufene Krankheitprozeß eine nähere oder ent¬ 
ferntere Beziehung zu vorausgegangenen epileptischen Zuständen 
erkennen ließe oder als ein mehr oder minder zufällig zustande ge¬ 
kommenes Ereignis aufzufassen sei. Eine Herzlähmung, ein Gehirn-, 
ein Lungenödem, eine Hyperämie, eine hypostatische, eine Schluck¬ 
pneumonie, eine Lungengangrän usw. kann unter den verschiedensten 
Umständen eintreten, ohne daß ein Zusammenhang mit dem epi¬ 
leptischen Leiden bestanden zu haben brauchte, während in anderen 
Fällen wieder solche Zustände im unmittelbaren Anschluß an einen 
einzigen schweren Krampfanfall oder an eine Häufung von Paroxysmen 
zur Entwicklung gelangt sein können oder einem dabei eingetretenen 
besonderen Ereignisse ihre Entstehung verdanken, das sich aber 
nach Lage der Dinge eben nicht verhüten ließ und deshalb auch mit 
auf das Konto des epileptischen Leidens zu setzen ist. Erst nach Fest¬ 
stellung des Anteils, den das epileptische Leiden selbst an den ein¬ 
getretenen Todesfällen hat, konnte weiter zu ermitteln versucht 
werden, welche Krankheitprozesse in Wirklichkeit den tödlichen 
Ausgang herbeigeführt haben, und welche bemerkenswerten Befunde 
die Sektion sonst etwa noch ergab. 

Auch in der Literatur wird in dieser Beziehung zumeist mit 
großer Willkür verfahren; die in einschlägigen Abhandlungen ent¬ 
haltenen Angaben lassen sich daher vielfach nur mit Vorbehalt be¬ 
nutzen. Im übrigen ist die literarische Ausbeute an genaueren statisti¬ 
schen Erhebungen über die Todesursachen der Epileptiker überhaupt 


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Die Sterblichkeit, Todesursachen und Sektionsbefunde bei Epileptikern. 827 

keine allzureiche; die Mehrzahl der Autoren beschränkt sich auf einige 
kurze, ganz allgemein gehaltene Bemerkungen, aus denen sichere 
Anhaltpunkte für die Häufigkeit der einzelnen Todesursachen nament¬ 
lich auch im Hinblick auf die Kleinheit des herangezogenen Materials 
nur selten zu gewinnen sind. Alle Autoren sind sich aber darüber 
einig, daß das epileptische Leiden als solches hohe Gefahren für das 
Leben in sich birgt, teils durch die Krampfanfälle selbst, teils durch 
die damit einhergehenden Bewußtseinstrübungen und sonstige psycho¬ 
pathische Zustände, teils durch allerhand unberechenbare Heben¬ 
umstände. 

Die Kasuistik ist reich an Mitteilungen über tödlich verlaufene 
Ereignisse, die sich mehr zufällig während des Anfalls oder während des 
Bestehens einer Bewußtseinstrübung oder eines sonstigen psychotischen 
Zustandes zutrugen. Sie berichtet über plötzliche Todesfälle, die dadurch 
zustande kamen, daß Kranke im Bade von einem Paroxysmus überrascht 
wurden oder bei einem solchen ins Wasser oder ins Feuer oder gegen heiße 
Gegenstände fielen und so ertranken bzw. verbrannten; sie berichtet von 
Erfrierungen, von tödlich wirkenden Verunglückungen und Verletzungen, 
insbesondere auch von Schädelbrüchen, die Kranke im Paroxysmus 
erlitten; sie berichtet endlich von Erstickungen, die durch mechanischen 
Verschluß der Luftwege oder durch Aspiration von Fremdkörpern zustande 
kamen. Gerade hier ergeben sich ja der üblen Zufälle so viele: der Tod 
kann eint p eten bei nächtlichen Anfällen durch passive Bauchlage, bei 
Tagesanfällen durch Eindrücken des Gesichts in weichen Boden wie Sand, 
frisch gepflügte Erde, Torfboden usw., durch traumatisch bedingte 
Blutkoagula im Bereiche des Mundes und der Nase, zuweilen vielleicht 
bei Rückenlage auch durch Herabsinken der im komatösen Stadium 
gelähmten Zunge gegen die Trachea; er kann erfolgen durch Aspiration 
von gerade im Munde befindlichen Nahrungsmitteln, von erbrochenen 
Massen, von Blutgerinnseln, Steinen, Gebissen, Pfeifenspitzen, großen 
Knöpfen, Kautabak u. dgl. m. Finden Todesfälle dieser Art auch vorzug¬ 
weise während des Verweilens in der Außenwelt statt, so sind sie, wie 
gelegentliche statistische Angaben in einschlägigen Berichten erkennen 
lassen, selbst bei sorgsamster und gewissenhaftester Pflege, Abwartung 
und Überwachung nicht immer ganz zu verhüten. Die offiziellen Mit¬ 
teilungen aus der Anstalt Wuhlgarten z. B. führen ziemlich häufig 
Erstickung im Anfall als Todesursache auf, vereinzelt auch tödlich ver¬ 
laufene sonstige Unglücksfälle der erwähnten Art, insbesondere auch 
Schädelbrüche. Nach Bourneville war unter 255 verstorbenen Epileptischen, 
über die er im Laufe der Jahre Bericht erstattet hat, bei 14 der Tod auf 
ein Trauma im Anfall zurückzuführen = 5,5 %. Gehören Todesfälle dieser 
Art auch gewiß zu bedauerlichen Vorkommnissen, die man bemüht sein 


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828 


Hahn, 


wird nach Kräften einzuschränken, so lassen sie sich nach Lage der Dinge 
doch nicht immer sicher verhüten; man muß also mit ihrem Eintritt auch 
in der Anstalt rechnen und wird sie daher mit auf das Konto des epi¬ 
leptischen Leidens setzen müssen. 

Das gleiche ist der Fall mit Selbstmorden. Bei der Neigung vieler 
Epileptiker zu impulsiven Handlungen und den häufig bei ihnen auf¬ 
tretenden Bewußtseinstrübungen und depressiven Stimmungen sind 
Selbstmordversuche kein allzu seltenes Vorkommnis. Man wird trotz 
aller Vorsichtsmaßregeln gelegentlich auch in den Anstalten geglückte 
Selbstmordfälle zu beklagen haben, wie es sich mannigfach auch aus der 
Literatur durch Beispiele belegen ließe. 

Sehr viel seltener führt jedoch der einzelne Paroxysmus als solcher 
zum Tode; das betonen übereinstimmend Binswanger , FM, Gotvers, 
Oppenheim u. a. Indessen lassen sich auch hierfür aus neueren Publikationen 
einwandfreie Beispiele anführen: der Tod kann ohne eintretende schwere 
Verletzungen und anderweitige unberechenbare Nebenumstände im 
tonischen wie im klonischen Stadium des Krampfanfalles erfolgen, teils 
durch Asphyxie infolge des gewaltsamen Spasmus des respiratorischen 
Muskelapparates resp. durch Herzruptur (Short, Lunier), teils durch 
Herzstillstand ( Magnan, Gowers) resp. durch hochgradige nervöse Er¬ 
schöpfung (FM), vielleicht zuweilen auch infolge Lähmung des Atmungs¬ 
zentrums. Wo grobe anatomische Veränderungen des Gehirns und seiner 
Häute oder der Gefäße bestehen, steht der plötzliche tödliche Ausgang 
meist in engem Zusammenhänge mit dem anatomischen Grundleiden; 
so mutmaßlich wohl auch in dem von Babinski geschilderten Falle, wo 
ein Syphilitiker an einer subarachnoidealen Blutung infolge eines Anfalls 
zugrunde ging (vgl. FM, Binswanger). Auch nach starken Trinkexzessen 
und hierdurch ausgelösten epileptischen Insulten tritt, wie Binswanger 
angibt, nicht selten plötzlich der Tod ein, noch häufiger aber bei aus¬ 
geprägtem Delirium tremens, wenn dasselbe mit epileptischen Kon¬ 
vulsionen einhergeht (Handfield Jones). Die Leichenuntersuchung führt 
bei solchen plötzlichen Todesfällen im Paroxysmus indessen nur selten 
zu positiven Ergebnissen und liefert in der Regel nur Befunde, wie sie 
auch sonst nicht allzu selten erhoben werden. Statistische Angaben über 
die Häufigkeit solcher Ereignisse lassen sich aus der Literatur im übrigen 
nicht machen; sie florieren hier nur als Kuriosa. 

Anders liegen die Verhältnisse bei plötzlich in großer Häufung sich 
einstellenden Anfällen, d. h. bei Entwicklung des sogenannten Status 
epilepticus und namentlich bei Entstehung eines komatösen Zustandes. 
Wodurch solche Zustände zur Auslösung gelangen, ist bis jetzt noch immer 
eine vielumstrittene Frage. Wohl ist es gelungen, durch Fernhaltung 
aller „seelischen und körperlichen Reizpotenzen“, durch aufmerksamste 
Pflege und Beobachtung der Kranken, besonders der Siechen und Elenden 
unter den Epileptikern, durch sofort einsetzende sachgemäße Behandlung 


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Die Sterblichkeit, Todesursachen und Sektionsbefunde bei Epileptikern. 829 

der Gefährdeten mit den gebräuchlichen hygienisch-diätetisc en und 
medikamentösen Hilfsmitteln die Entstehung schwerer Formen von 
Status epilepticus einzuschränken; aber alle Fälle lassen sich eben nicht 
auf zu vermeidende Schädlichkeiten zurückführen; manche Kranken 
neigen zum Status epilepticus, andere werden trotz aller schädlichen Ein¬ 
flüsse nie von einem solchen befallen, ohne daß es gelänge, die Gründe 
aufzudecken. Vielfach geht ihm ein schwerer psychischer Erregungs¬ 
zustand voraus. In einem Teil der Fälle aber kommt es, ohne daß Krampf¬ 
anfälle zur Auslösung gelangten und eine besondere Schädlichkeit voraus¬ 
gegangen wäre, zu zunehmender Benommenheit, die allmählich zu völliger 
Bewußtlosigkeit forlsehreitet, und gerade diese Zustände von Coma er¬ 
weisen sich therapeutischen Einwirkungen am schwersten zugänglich 
und verlaufen nach den hier gewonnenen Erfahrungen fast immer tödlich. 
Über die Häufigkeit des Eintritts solcher Zustände unter den Anstalt- 
insassen lassen sich schwer zuverlässige Angaben machen; allzu häufig 
scheinen sie sich jedenfalls nicht einzustellen. Aber Wildermuth und 
Oppenheim sehen gewiß zu schwarz wenn sie meinen, daß etwa die Hälfte 
der von einem Status epilepticus Befallenen zugrunde geht. Immerhin 
gehört ein Status epilepticus trotz aller mehr oder minder erfolgreich 
angewandten therapeutischen Hilfsmittel, wie wohl alle Autoren an¬ 
erkennen, noch immer zu den gefährlichsten Vorkommnissen, namentlich 
dann, wenn ein Koma zur Entwicklung gelangt, mögen nun schwere 
Störungen des Stoffwechsels oder Intoxikationszustände oder sonstige 
Schädigungen das auslösende Moment abgeben, und Clark und Prout 
dürften den Tatsachen jedenfalls nahe kommen, wenn sie die infolge von 
Status epilepticus eintretenden Todesfälle auf etwa 25 % taxieren. Wenn 
Worcester unter 70 gestorbenen Epileptischen 45 mal Tod infolge von 
Anfällen konstatierte und nach Heimann in den preußischen Irrenanstalten 
während des Zeitraumes von 1876 bis 1897 18,5% an den Folgen eines 
epileptischen Anfalles starben, so bleibt es zwar zweifelhaft, um welche 
Ereignisse es sich dabei im einzelnen gehandelt hat, man wird aber kaum 
fehlgehen mit der Annahme, daß hierbei besonders auch Status epilepticus 
eine sehr ins Gewicht fallende Rolle spielte. Die Angabe Köhlers, daß 
unter 145 in der Anstalt Hubertusburg verstorbenen Epileptikern in 
61,6% ein „Hirninsult“ Vorgelegen habe, bezieht sich auf alle möglichen 
Zustände, auf frisch hervorgerufene Läsionen, wie auf ältere Gehirnleiden 
und einfache letale Befunde wie Hyperämie und ödem; Status epilepticus 
findet sich in seiner Tabelle 20 mal = 14% als Todesursache angeführt. 
Nach den Mitteilungen Brehms aus der Anstalt Burghölzli er¬ 
eigneten sich innerhalb 17 Jahren unter 111 behandelten Epileptikern 
14 Todesfälle, davon 1 durch Fractura cranii, 2 durch Erstickung, 7 durch 
Kollaps im Status epilepticus bei Hirnerschöpfung. Unter den von Buzzard 
zusammengestellten 38 Todesfällen standen 12 mit dem epileptischen 
Leiden in Zusammenhang; 7 mal lag Status epilepticus vor. Nach Häher - 


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830 


Hahn, 


maas gingen von den innerhalb der Anstalt Stetten Gestorbenen 
47,6 % an Status epilepticus zugrunde, von den außerhalb Gestorbenen 
59%; nach Ganter erlagen in Saargemünd von 87 zwischen 1880 
bis 1904 gestorbenen Epileptikern 26=29,8% einem Status epilepticus. 
und auch aus den Berichten über die Todesfälle in der Anstalt Wühl- 
garten ließe sich ein ziemlich hoher Prozentsatz von Todesfällen infolge 
von Status epilepticus herausrechnen. Jedenfalls ergibt sich aus alledem, 
daß unbeschadet der guten Erfolge, die man vielfach mit rechtzeitiger 
sachgemäßer Anwendung von Amylen- oder Choralhydrat usw. erzielt, 
die Anzahl der Todesfälle an Status epilepticus überall noch immer eine 
recht erhebliche zu sein scheint. 

Nicht unerwähnt bleibe schließlich, daß nach Fire die Epileptiker 
leicht akuten Krankheiten erliegen und oft von Phthise befallen werden 
Er hält es für möglich, daß die Epilepsie durch die zirkulatorischen, respira¬ 
torischen und nutritiven Störungen, vielleicht im Bunde mit der bestehen¬ 
den kongenitalen Inferiorität, eine Disposition zur Phthise schafft, und 
daß die den nervösen Entladungen folgenden Alterationen des Blutes 
die Empfänglichkeit des Organismus für Krankheiten steigern. Auch 
über tödlich verlaufene Kopf- und Gesichtsrosen — sie kommen in der 
Regel traumatisch zustande — wird in der Kasuistik wiederholt berichtet 
(vgl Fischer und Brehm). 

Wenden wir uns nach dieser allgemeinen Umschau den in der 
hiesigen Anstalt gewonnenen Ergebnissen zu, so sei zuvor noch folgen¬ 
des bemerkt: Die Todesursachen waren nicht lediglich aus den er¬ 
hobenen Sektionsbefunden zu ermitteln, es bedurfte zugleich einer 
genauen Berücksichtigung der klinischen Beobachtungen und Fest¬ 
stellungen. Sektionsberichte standen von 533 epileptischen Kranken 
zur Verfügung; bei den fehlenden 6 m. und 2 w. Kranken, die einer 
Obduktion nicht unterworfen worden waren, boten sich zu Rück¬ 
schlüssen wenigstens in den vorhandenen Krankcnjoumalen aus¬ 
reichende Anhaltpunkte dar. Schwierigkeiten ergaben sich nur da, 
wo sich mit an sich schon lebensgefährlichen Krankheitprozessen 
noch andere nicht minder bedenkliche Krankheitzustände kom¬ 
binierten. Von manchen Befunden war es natürlich ohne weiteres 
klar, daß sie keine Beziehung zu der tödlich verlaufenen Grundkrank¬ 
heit aufwiesen, daß sie mehr sekundär zur Entwicklung gelangte 
Organveränderungen oder Residuen früherer Krankheiten u. dgl. m. 
dar stellten, so etwa der Befund eines akuten Magendarmkatarrhs, 
einer chronischen Leptomeningitis, eines alten Erweichungsherdes 
im Gehirn, eines Niereninfarktes usw. Wenn sich dagegen neben 


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Die Sterblichkeit, Todesursachen und Sektionsbefunde bei Epileptikern. 831 

einer ausgebreiteteren Lungenaffektion eine schwere Herzstörung 
oder neben einem Erysipel eine akute Meningitis, ein Lungenödem, 
eine septische Allgemeinerkrankung u. ä. m. vorfanden, so konnten 
Zweifel entstehen, welcher anatomisch nachweisbare Krankheit¬ 
prozeß als eigentliche Todesursache in Anspruch zu nehmen sei. In 
Fällen dieser Art wurde in erster Linie die Grundkrankheit festzustellen 
versucht und alle erst sekundär zur Entwicklung gelangten Organ- 
yerändcrungen oder sonst noch erhobenen Sektionsbefunde, auch 
wenn sie an sich vielleicht die eigentliche Todesursache abgegeben 
hatten, als Nebenbefunde registriert. 

Besonderen Schwierigkeiten begegnete diese Methode natur¬ 
gemäß bei Feststellung der im Anschluß an Anfälle zur Entwicklung 
gelangten Folgekrankheiten. Hier kamen primär und sekundär am 
allerhäufigsten lebensgefährliche Lungenaffektionen zustande, ver¬ 
bunden in der Regel mit Herzerschlaffung. Primär gab nicht selten 
die Aspiration von Schleim und Speichel aus der Mundhöhle resp. 
die Aspiration im Anfall erbrochener Massen zur Entstehung einer 
schweren Pneumonie Anlaß; bei etwas längerem Bestehen rief dieselbe 
dann leicht typische Gangränerscheinungen hervor. Die im Anfall 
so oft akut ein setzende Herzschwäche andererseits hatte nicht selten 
hochgradigste Blutstauungen zur Folge, die außer im Gehirn nament¬ 
lich auch in den Lungen die bedenklichsten Hyperämien und Ödeme 
bewirkten. Sekundär stellten sich im weiteren Verlaufe dann oft 
noch mehr oder minder ausgedehnte entzündliche Affektionen in den 
Lungen ein. Es liegt auf der Hand, daß sich gerade hier für Kom¬ 
binationen der verschiedensten lebensgefährlichen Krankheitzustände 
untereinander, besonders reiche Gelegenheit bot; scharfe Grenzen 
zwischen den einzelnen Krankheitprozessen ließen sich daher gerade 
hier am schwierigsten ziehen. Wo sich der Unterscheidung der Grund¬ 
krankheit von erst sekundär zur Entwicklung gelangten lebens¬ 
gefährlichen Zuständen unüberwindliche Schwierigkeiten entgegen¬ 
stellten, wurde dadurch eine gewisse Einheitlichkeit in den Angaben 
herbeizuführen versucht, daß der klinisch im unmittelbaren Anschluß 
an die Krampfanfälle am augenfälligsten hervorgetretene Krankheit¬ 
zustand als Todesursache in Anspruch genommen wurde. War eine 
scharfe Abgrenzung der tödlich verlaufenen Grundkrankheit gegen 
die Folgekrankheit oder gegen sonstige konkomittierende Krankheit- 

ZtitMfarlft (Br Payobifttrie. LXIX. 6. 57 


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832 


Hahn, 


Tabelle VII: Todesursachen der verstorbenen Epileptiker. 


Todesursachen 

Todesfälle überhaupt 

M. | W. | 8 "e'| Prozent 

In Zusammenhang 
mit epileptischenZu- 
ständen aufgetretene 
Todesfälle 

M. I W. S “T 'Prot 

Selbstmord. 

8 

3 

11 

2,0 

8 

3 

11 

t 

1 2,0 

Asphyxie. 

16 

8 

24 

4,4 

16 

8 

24 

4,4 

Plötzlicher Tod im Anfall. 

5 

5 

10 

1,8 

5 

5 

10 

1,8 

Status epilepticus, bez.Coma 









epilepticum . 

63 

54 

117 

21,6 

63 

54 

117 

21,6 

Schädelbrüche. 

8 

3 

11 

2,0 

8 

3 

! n 

2,0 

Tödliche Folgekrankheiten 









nach Knochenbrüchen 









anderer Art. 

1 

2 

3 

0,6 

1 

2 

3 

0,6 

Gehirnaffektionen. 

17 

3 

20 

3,7 

12 

2 

! 14 

2,6 

Marasmus. 

9 

5 

14 

2,6 




\ — 

Nennlasmen. 

5 

4 

9 

1,7 













Herz - und GefäßafTektionen 

28 

18 

46 

8,5 

12 

7 

19 

3,5 

Herz- und Gefäßruptur... 

1 

2 

3 

0,6 

1 

2 

3 

0,6 

HerzerschlafTung und deren 









Folgen (Hyperämienund 









Ödeme). 

33 

23 

56 

10,3 

33 

23 

56 

10,3 

Pneumonia crouposa . 

7 

3 

10 

1,8 

— 

— 

— 

— 

Lungengangrän. 

6 

2 

8 

1,5 

6 

2 

8 

1,5 

Emphysema pulmonum ... 

4 

1 

5 

0,9 

1 

— 

1 

0,2 

Tuberkulose. 

32 

15 

47 

8.6 


1 

1 

0,2 

Lungenblut., Lungeninfarkt 

2 

2 

4 

0,7 

1 

1 

2 

0,4 

Andere entzündliche Lun- 









genaflektionen. 

58 

26 

84 

15,5 

33 

16 

49 

9,0 

Erysipelas faciei. 

5 

4 

9 

1,7 

5 

3 

8 

1.5 

Influenza (Pneumonie usw.) 

10 

5 

15 

2,8 

— 

— 

— 

— 

Rp.harlarh ... 


1 

1 

0,2 

_ 




Peliosis rheumatica . 

— 

2 

2 

0,4 

_ 

— 

— 

— 

RkorVmt. . 

1 

1 

2 

0.4 





Typhus exanthematicus .. 

1 


1 

0,2 

— 

— 

— 

— 

Septikopyämie. 

3 

1 

4 

0,7 

2 

1 

3 

0,6 

Peritonitis purulenta. 

5 

3 

8 

1,5 

2 

1 

3 

0,6 

Cholelithiasis. t . T ,„ f t , t . 

2 


2 

0.4 





Leberzirrhose .____ r T T .. 

1 

1 

2 

0,4 





Magendarmblutung. 

1 

1 

2 

w > 

0,4 

— 

— 

— 

— 

Nenhritis. 

2 

6 

8 

1.5 


_ 



Diabetes mellitus. 

1 

2 , 

3 1 

0,6 

— 

— 

— i 

\ 

— 

Summe. 

CO 

CO 

206 [541 

100,0 

209 

134 |343 

63,4 


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Die Sterblichkeit, Todesursachen und Sektionsbefunde bei Epileptikern. 833 

zustände nach alledem auch nicht immer durchführbar, so wurde 
möglichste Annäherung an die Wahrheit in den nachfolgenden An¬ 
gaben doch wenigstens allenthalben erstrebt. 

Das so gewonnene Ergebnis aller einschlägigen Ermittlungen 
findet sich in Tabelle VII zusammengestellt. 

Wie diese Übersicht erkennen läßt, führten epileptische Zustände 
oder deren Folgeerscheinungen in 343 =63,4% Fällen den Tod herbei, 
während sich bei den Testierenden 198 =36,6% Todesfällen ein Zusammen* 
hang mit dem epileptischen Leiden nicht sicher nachweisen ließ. Die 
Einzelheiten ergeben sich aus der tabellarischen Zusammenstellung selbst. 
Der Hauptanteil aller Todesfälle überhaupt entfällt auf Status epilepticus, 
resp. Coma epilepticum = 21,6 %; nächstdem sind am stärksten vertreten 
entzündliche Lungenaffektionen und aus plötzlicher Herzerschlaffung 
hervorgegangene lebensgefährliche Zustände; es folgen, mit annähernd 
gleich starker Beteiligung (8,5 bzw. 8,6%), Herz- und GefäßafTektionen 
sowie Tuberkulose, vorzugsweise der Lungen; unter den übrigen Todes¬ 
ursachen entfallen etwas höhere Prozentzahlen nur noch auf „Asphyxie“ 
und akzessorische „Gehirnaffektionen“, auf erstere 4,4%, auf letztere 
3,7%; die sonstigen Todesursachen erreichen durchweg nicht die Höhe 
von 3 %. 

Die Influenza stellte sich während der Berichtszeit auch in der 
hiesigen Anstalt wiederholt in ausgedehnterem Maße ein, raffte in¬ 
dessen durch die in ihrem Gefolge auftretenden Nebenkrankheiten, 
insbesondere durch Lungen- und Herzaffektionen, speziell unter 
den Schwachen und Elenden nur verhältnismäßig wenige Patienten 
dahin. Im übrigen traten schwere Epidemien nicht auf. Die tödlich 
verlaufenen Fälle von Skarlatina, Typhus exanthematicus, Peliosis 
rheumatica und Skorbut blieben vereinzelt; Typhus und Skorbut 
waren von außen eingeschleppt worden. Infektiöse Kinderkrank¬ 
heiten wie Scarlatina, Morbillen, Rubeolen, Diphtherie, Varicellen 
gelangten hier zwar wiederholt zur Behandlung; der Tod trat jedoch 
nur bei einer an Scarlatina erkrankten und zugleich an bedeutender 
Herzhypertrophie und chronischer Endokarditis leidenden 19 Jahre 
alten Epileptica infolge von Herzschwäche ein. Leichtere und schwerere 
Anginen, eventuell mit stärkerer Beteiligung der Atmungswege am 
Krankheitprozesse, sind hier ein recht häufiges Vorkommnis; nicht 
allzu selten stellte sich darnach — namentlich bei jugendlichen weib¬ 
lichen Personen und vorzugweise in den Frühjahrs- und Herbst¬ 
monaten — mehr oder minder ausgedehntes Erythema nodosum 

57* 


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834 


Hahn. 


an den Unterschenkeln, gelegentlich auch an den oberen Extremitäten 
unter Fieber und Gelenkschmerzen ein; aber nur ganz vereinzelt 
gesellten sich — insbesondere bei Rezidiven — unter zunehmendem 
Fieber seröse Ergüsse in die Gelenke, periartikuläre Ödeme, Endo¬ 
karditis, Perikarditis, Pleuritis und Hautblutungen hinzu, also Krank¬ 
heiterscheinungen, die eine starke Wesensverwandtschaft zum akuten 
Gelenkrheumatismus erkennen lassen; einen tödlichen Verlauf 
nahmen hiervon nur die zwei als Peliosis rheumatica bezeichneten 
sehr schweren Krankheitfälle, von denen der eine eine 31, der andere 
eine 37 Jahre alte Frau betraf. Die beiden Falle von Skorbut gelangten 
bei einem 11% Jahre alten Knaben und bei einer 58 Jahre alten Frau 
zur Beobachtung und endeten im ersteren Falle durch schwere innere 
und Hautblutungen, sowie schließlich hinzugetretenes Lungenödem, 
im letzteren Falle durch Herzmuskelentartung und allgemeinen 
Marasmus tödlich. 

Von diesen wenigen Fällen abgesehen, gelangten besondere 
Schädlichkeiten, die vorübergehend oder dauernd eine Steigerung 
der Sterblichkeit über das natürliche Maß hinaus herbeizuführen 
geeignet gewesen wären, in der hiesigen Anstalt wohl nie zu verhängnis¬ 
voller Wirksamkeit, man wird die in der obigen Tabelle niedergelegten 
Ergebnisse daher unbedenklich als Durchschnittswerte betrachten 
dürfen. 

Das ergibt sich namentlich auch aus der verhältnismäßig kleinen 
Zahl von Opfern, die die Tuberkulose gefordert hat. Der 
Prozentsatz der Todesfälle an Tuberkulose war hier nicht wesent¬ 
lich höher als in der Gesamtbevölkerung Sachsens überhaupt; pflegte 
sie im Lande alljährlich doch mit etwa 8% unter den Todesursachen 
vertreten zu sein. Da von den hier Verstorbenen keiner länger als 
3 Jahre in der Anstalt verweilt hatte, so darf wohl angenommen 
werden, daß dieselben ihre Tuberkulose nicht erst in der Anstalt 
erworben, sondern schon von außen mitgebracht hatten. Das erreichte 
Alter betrug bei 6 m. und 2 w. Kranken 9—20, bei 21 m. und 6 w. 
Kranken 20—40 und bei den verbleibenden 12 Kranken 40—58 Jahre. 
Immer zeigten sich in erster Linie die Lungen von ausgedehnten 
Zerstörungen betroffen; außerdem fanden sich bei 10 m. und 7 w. 
Kranken tuberkulöse Geschwüre im Darm, bei 6 m. und 5 w. Kranken 
ausgebreitetc Veränderungen an den Lymphdrüsen vor, kombiniert 


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Die Sterblichkeit, Todesursachen und Sektionsbefunde bei Epileptikern. 835 

in 5 Fällen mit schwerster tuberkulöser Pleuritis und Peritonitis; 
allgemeine Tuberkulose lag bei einer w. Kranken vor, während eine 
andere w. Kranke neben Lungen- noch Hauttuberkulose und ein 
m. Kranker neben vielfachen anderen Veränderungen insbesondere 
noch Knochentuberkulose darbot. Jedenfalls handelte es sich in 
allen diesen Fällen stets um schwerste Formen der Tuberkulose, um 
Formen, die allgemeine Emaziation zur Folge hatten. 

Soweit die in der Literatur vorhandenen spärlichen Angaben einen 
Schluß zulassen, werden so günstige Zahlenverhältnisse im übrigen jedoch 
nirgends gewonnen. Je nach den herrschenden hygienischen Verhältnissen 
und nach der physischen Beschaffenheit des zur Unterbringung gelangten 
Krankenmaterials unterliegt freilich die Sterblichkeit infolge von Tuber¬ 
kulose in den verschiedenen Anstalten und innerhalb derselben Anstalt 
selbst in den einzelnen Jahren großen Schwankungen. Erlagen doch auch 
hier 17 m. und 6 w. Kranke bereits in den ersten 4 Berichtsjahren der 
Tuberkulose, während in den folgenden 17V 3 Jahren nur noch im ganzen 
15 m. und 9 w. Kranke diesem Leiden zum Opfer fielen. Im allgemeinen 
aber ergibt sich aus den Mitteilungen Ganters u. a., daß speziell in den 
Irrenanstalten die Sterblichkeit an Tuberkulose trotz aller hygienischen 
Vervollkommnungen fast überall noch eine recht hohe ist, und ein gleiches 
war für die sächsischen Irrenanstalten festzustellen, wo innerhalb der 
letzten Jahre zwar ein gewisser Rückgang in der Tuberkulosesterblichkeit 
eingetreten zu sein scheint, der Prozentsatz der Todesfälle an Tuberkulose 
nach den Erhebungen der letzten 10—15 Jahre sich aber immerhin noch 
auf etwa 15,5 % beläuft, über die Sterblichkeit der Epileptiker an Tuber¬ 
kulose liegen im übrigen nur vereinzelt Mitteilungen vor: sie betrug nach 
Köhler in Hubertusburg 16,7%, nach Habermaas in Stetten 
10%, nach Ganter in Saargemünd 21,8% und scheint nach den 
offiziellen Berichten aus der Anstalt Wuhlgarten auch dort recht 
häufig konstatiert zu werden. 

Spuren von Tuberkulose werden freilich auch hier nicht allzu 
selten bei den Obduktionen gefunden, teils in Form verkäster, mit 
Bindegewebe umgebener Knötchen oder verkalkter Herde, teils in 
Form von narbigen Einziehungen und Verwachsungen; die Sektions¬ 
berichte erwähnen dergleichen Nebenbefunde bei 185=34,3% an 
anderen Erkrankungen zugrunde gegangenen Individuen, und zwar 
bei 108 m. und 77 w. Epileptikern; aber die ausnehmend günstigen 
Lebensverhältnisse, in die die Epileptiker nach ihrer Unterbringung 
hierselbst gelangen, bringen den Krankheitprozeß selbst bei ursprüng¬ 
lich sehr stark ausgeprägten Erscheinungen in der Regel überraschend 
schnell zum Stillstand oder lassen ihn wenigstens nur langsam und 


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Hahn. 


in weit auseinanderliegenden Intervallen fortschreiten. Jedenfalls 
konnte die Vermutung Feres, daß neben der kongenitalen Inferiorität 
den durch die Anfälle herbeigeführten zirkulatorisehen. respiratorischen 
und nutritiven Störungen ein verhängnisvoller Einfluß auf die Ent¬ 
stehung und Fortentwicklung der Tuberkulose zuzuschreiben sei, 
ebensowenig wie seine Behauptung, daß die Epileptiker ,.sehr oft" 
der Lungenschwindsucht erliegen, an dem Material der hiesigen Anstalt 
bestätigt werden; nur soviel ist sicher, daß die Mehrzahl der Epileptiker 
körperlich entartet und wenig kräftig und rüstig ist: wenn die Kranken 
aber nicht schon bei der Aufnahme mit Tuberkulose behaftet waren, 
so blieben sie in der hiesigen Anstalt selbst bei jahrelangem Aufent¬ 
halte und bei sehr häufig sich einstellenden Krampfanfällen völlig 
frei davon. 

Die Widerstandkraft der Epileptiker gegen akute 
fieberhafte Krankheiten zeigte sich nach den Beobach¬ 
tungen in der hiesigen Anstalt nicht in dem Maße herabgesetzt, wie 
vielfach angenommen wird. Dem widerspricht schon die relativ geringe 
Zahl der hier an interkurrenten Infektionskrankheiten zugrunde 
gegangenen Patienten; dieselben forderten im allgemeinen nur unter 
von vornherein Siechen und Elenden oder sonst durch chronische 
Leiden Gefährdeten ihre Opfer, eine Wahrnehmung, die wohl all¬ 
gemeine Gültigkeit beansprucht und nichts für Epileptiker Spezifische? 
erkennen läßt. Nach den hier gewonnenen Erfahrungen, die auch 
sonst ( Fert , Goirers ) Bestätigung finden, sistieren die Krampfanfälle 
während einer akuten fieberhaften Krankheit in der Regel oder treten 
wenigstens nur selten und in stark abgeschwächter Form in die Er¬ 
scheinung, um erst einige Zeit nach Ablauf der interkurrenten Er¬ 
krankungen wieder in der früheren Weise sich bemerkbar zu machen: 
gefährdet sind die Epileptiker aber weitaus am meisten durch ihre 
Krampfanfälle selbst bzw. durch die in deren unmittelbarem Gefolse 
sich einstellenden lebensgefährlichen Krankheitzustände, vor allen, 
durch Herzschwäche und gleichzeitig zur Entwicklung gelangende 
Lungenaffektionen. Das ergibt sich aus den hier gewonnenen Resultaten 
mit unzweifelhafter Gewißheit: den im Zusammenhang mit epilepti¬ 
schen Zuständen erfolgten Todesfällen gegenüber treten alle übrigen 
Todesursachen weit zurück; außer den besprochenen tödlich ver¬ 
laufenen Erkrankungen führten unabhängig von epileptischen Zu- 


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Die Sterblichkeit, Todesursachen and Sektionsbefunde bei Epileptikern. 837 

ständen nur noch vereinzelt schwere allgemeine Erkrankungen wie 
hochgradigster Marasmus, Diabetes mellitus, Septikopyämie und 
Peritonitis purulenta oder chronische Leiden wie Herz- und Gefäß - 
affektionen, Emphysema pulmonum, Neoplasmen, Nephritis, Leber¬ 
zirrhose und Cholelithiasis oder akut unter ähnlichen Bedingungen 
wie gewöhnlich zustande gekommene lebensgefährliche Affektionen 
wie Apoplexie, Lungen-, Magendarmblutung, Erysipel, krupöse und 
katarrhalische Lungenentzündungen, resp. ausgedehnte eitrige Bron¬ 
chitis und schwere Pleuritis usw. den Tod herbei. 

Bei den 14 an Marasmus zugrunde gegangenen Kranken 
handelte es sich 2 mal um jugendliche, 12 mal um ältere, mit aller¬ 
hand chronischen Leiden behaftete Individuen. Die hier oder dort 
festgestellten Organveränderungen waren für sich und in ihrer Gesamt¬ 
heit wohl geeignet, allmählich einen fortschreitenden Verfall der 
Kräfte herbeizuführen; im einzelnen aber waren sie nicht derartig, 
um sie für sich als spezielle Todesursachen in Anspruch nehmen zu 
können. Von lediglich agonalen Befunden wie Herzerschlaffung und 
allgemeinen Stauungserscheinungen in den inneren Organen abgesehen, 
fanden sich dabei u. a. sehr oft pleuritische Verwachsungen und Kesi- 
duen früherer Tuberkulose, ferner 3 mal Dekubitalgeschwüre, die 
sich sonst im ganzen nur selten bei Epilepsie einstellen, 8 mal chro¬ 
nische Meningitis, 7 mal chronische Herzleiden, 6 mal schwerere 
sklerotische Veränderungen an den Gefäßen, 3 mal chronische Bron¬ 
chitis, 2 mal Emphysem, 6 mal Fettleber, 2 mal Gallensteine, 1 mal 
Pyelonephritis und Zystitis, 3 mal Zystenniere, 1 mal chronische 
Enteritis, 1 mal auf tuberkulöser Basis erwachsene Periproktitis, 

1 mal ausgedehnte Karies der Halswirbelsäule. 

Der letztere Fall betraf ein 14 ^jähriges Mädchen, bei dem der 
Zerstörungsprozeß mehrere Wirbelkörper in Mitleidenschaft gezogen 
und die dadurch herbeigeführte Deformation der Halswirbelsäule unter¬ 
halb des Foramen magnum eine Verengerung des Wirbelkanals und damit 
zugleich eine Kompression der Medulla bewirkt hatte. 

Im übrigen verdienen noch besondere Erwähnung vier akzessorische 
Gehirnbefunde: Ein 20*72 Jahre alt gewordener Kranker zeigte ausge¬ 
sprochenen Hydrocephalus externus und internus, eine über 70 Jahre 
alte Frau mehrere alte Erweichungsherde im Gehirn, bei einer anderen 
über 50 Jahre alten Frau fand sich im Bereiche der dritten linken Stirn- 
und vorderen Zentralwindung ein wallnußgroßer, derber, gestielt auf- 
sitzender Tumor nicht näher beschriebener Art, während ein 60*4 Jahre 


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Hahn, 


alter Mann an der unteren inneren und seitlichen Fläche des linken Stirn - 
hirns nahe dem Gyrus rectus und dem Lobus parietalis eine gänseeigroße 
Dermoidzyste aufwies. Ob diese Veränderungen am Zentralnervensystem 
besondere Symptome im Leben gemacht haben, war aus den Kranken¬ 
journalen leider nicht zu ersehen; stets wird nur von allgemeinen tonisch - 
klonischen Muskelkrämpfen berichtet, wie sie der genuinen Epilepsie 
zukommen. 

In den neun Fällen von Neoplasmen handelte es sich durch - 
gehends um bösartige Neubildungen mit Ausgang in allgemeine Kachexie. 
5 Männer und 3 Weiber gingen, zwischen 33 Yz und 56 Jahren alt. an 
Karzinom zugrunde. Einmal lag Kardia- bzw. Ösophagus-, dreima] 
Pyloruskarzinom vor, zweimal war die Geschwulst in der kleinen Kurvatur 
des Magens zur Entwicklung gelangt, einmal im Uterus, einmal bestand 
primär Kankroid der rechten Ohrmuschel. Bei 3 Männern und 2 Weibern 
werden Metastasen erwähnt, teils in umgebenden Lymphdrüsen. teils 
in entfernteren Organen. Eine 57 1 4 Jahre alte Frau erlag einem recht¬ 
seitig aufgetretenen Beckenschaufelsarkom, das Metastasen im linken 
Oberarm und in den Rippen zur Folge hatte. Metastasen im Gehirn ge¬ 
langten in keinem dieser Fälle zur Beobachtung; ebensowenig war eine 
Veränderung des epileptischen Grundleidens nach Form und Verlauf 
wahrzu nehmen. 

Von den akzessorischen Gehirnaffektionen standen 
nur 6 Todesfälle in keiner erkennbaren Beziehung zu epileptischen 
Zuständen. 

2 Männer im Alter von 47 und 54 Jahren erlagen plötzlich ein 
getretenen „Schlaganfällen“; in dem einen Falle bestand neben chronischer 
Myo- und Endokarditis hochgradigste allgemeine Arteriosklerose, die 
schließlich zu einer größeren Blutung aus einem Aste der rechten Arteris 
fossae Sylvii führte, in dem anderen Falle waren schon wiederholt kleinen: 
Blutungen in die Zentralganglien erfolgt, die Erweichungsherde hinter¬ 
ließen, während die letzte Blutung in die innere Kapsel tödlich endete. 
Ein 32 Jahre alter Kranker, der seit geraumer Zeit an eitriger Mittelohr¬ 
entzündung und Karies des rechten Felsenbeins litt, ging an Thrombo¬ 
phlebitis und anschließender eitriger Meningitis zugrunde. Man muß 
erstaunt sein, daß solche Ereignisse bei der Häufigkeit chronischer Mittel- 
ohrkatarrhe unter den hiesigen Epileptikern nicht öfter sich zu trugen 
Allmählich sich steigernde Erscheinungen von Hirndruck, bedingt durch 
Tumoren, lagen bei drei Kranken vor: ein 12 Jahre alter Knabe, der 
schließlich im marastischen Zustande einer hinzugetretenen rechtsedigrr 
Lungenentzündung zum Opfer fiel, wies an den Spitzen beider Stirnlapperi 
Verwachsungen auf „durch ein — wie es im Sektionsprotokoll heißt — 
atypisches, aus der Rinde wucherndes Gewebe von derber gelatinöse 
Beschaffenheit und unregelmäßiger Ausdehnung, in Größe und Fonr 
einer Morchel entsprechend“. Bei einem 36 Jahre alten Manne waren di« 


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Die Sterblichkeit, Todesursachen und SektionBbefunde bei Epileptikern. 839 

Gehirndrucksymptome hervorgerufen worden durch eine vom vierten 
Ventrikel ausgegangene, zum Teil zystisch entartete Geschwulst, die sich 
unter dem Kleinhirn und der Brücke hin bis zum Chiasma opticum er¬ 
streckte; die Hypophysis fand sich dabei mäßig vergrößert. Der dritte 
Fall betraf eine 32% Jahre alte Frau, bei der sich zu beiden Seiten der 
rechten Zentralwindung eine über gänseeigroße, typische Echinokokkus¬ 
blase fand. Auch in diesen Fällen werden wesentliche Abweichungen 
vom Bilde einer gewöhnlichen genuinen Epilepsie in den Kranken¬ 
geschichten im übrigen nicht erwähnt. 

Die Fälle von Diabetes mellitus, Nephritis, Leberzirrhose und Chole- 
lithiasis verliefen durchaus chronisch und führten wie gewöhnlich durch 
Erschöpfung resp. durch akute Herzinsuffizienz und sonstige Neben¬ 
krankheiten den Tod herbei. Von einer Beeinflussung des epileptischen 
Grundleidens durch diese erst im späteren Verlaufe hinzugetretenen 
Krankheiten wird nichts berichtet. Die hämorrhagischen Lungeninfarkte 
waren bei geschwächter Zirkulation im Anschluß an Herzklappenfehler 
resp. bei ulzeröser Endokarditis zur Entwicklung gelangt, beide Male 
rechts; in dem einen Falle — bei einer 20% Jahre alten Kranken — trat 
der Tod erst nach konsekutivem brandigen Zerfall des ganzen rechten 
Lungenunterlappens ein. Den tödlich verlaufenen Magendarmblutungen 
lag das eine Mal ein Ulcus ventriculi, das andere Mal eine Leberzirrhose 
zugrunde. In den 5 unabhängig von epileptischen Zuständen eingetretenen 
Fällen von Peritonitis purulenta handelte es sich stets um Weiterver¬ 
breitung entzündlicher Prozesse aus der Umgebung über das Peritoneum; 
3 mal bestand primär Perityphlitis, 1 mal inkarzerierte Hernia femoralis, 
t mal Pyosalpinx. Eine 38% Jahre alte Frau erlag einer durch Strepto¬ 
kokken hervorgerufenen Septikopyämie, ohne daß es bei der Unter¬ 
suchung im Leben und nach dem Tode gelungen wäre, die Eingangpforte 
für die Kokken aufzufinden. Der einzige Fall von tödlich verlaufenem 
Erysipelas faciei, bei dem es nicht möglich war, eine Beziehung zu epi¬ 
leptischen Zuständen festzustellen, ereignete sich bei einer 47 Jahre alten 
Frau, die an ausgedehnter chronischer Tuberkulose der Mesenterial- und 
Halslymphdrüsen litt und im Anschluß an das mutmaßlich von einer 
Fistel ausgegangene Erysipel noch allgemeine Streptokokkensepsis 
akquirierte. 

Lungenemphysem führte unabhängig von epileptischen Zuständen, 
wie sich aus der obigen Übersicht ergibt, 4 mal zum Tode, stets nach 
jahrelanger Dauer der Krankheit, 2 mal durch Herzschwäche, 2 mal 
durch interkurrente fieberhafte Bronchialkatarrhe. Bei den übrigen 
unabhängig von epileptischen Zuständen Gestorbenen handelte es sich 
um folgende Krankheitprozesse, bei denen in der Regel plötzliche Herz- 
erschlaffung die unmittelbare Todesursache bildete: 10 mal um Pneumonie 
crouposa (7 M., 3 W.), 28 mal um katarrhalische Pneumonie resp. um 
schwerste Bronchitis (21 M., 7 W.), 7 mal um exsudative Pleuritis resp. 


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840 


Hahn, 


um Empyem (4 M., 3W.), 3 mal um Pericarditis exsudativa (i M.. 2 W.), 
8 mal um Klappenfehler mit Herzhypertrophie (5 M, 3 W.), 9 mal um 
schwerste Formen von Arteriosklerose (7 M., 2 W.), 7 mal um Fettherz 
und sonstige Erkrankungen des Herzmuskels (3 M., 4 W.). 

Besonderes Interesse beanspruchen unter den Todesfällen natur¬ 
gemäß diejenigen, welche im Zusammenhang mit epileptischen Zu¬ 
ständen eingetreten sind; ihre Zahl beläuft sich, wie die obige Über¬ 
sicht zeigt, auf etwa 6 /s aller überhaupt vorgekommenen Todesfälle. 

Der Häufigkeit nach an der Spitze stehen, wie bemerkt, die durch 
Status epilepticus resp. Coma herbeigeführten Todesfälle. War es 
schon klinisch nicht immer möglich, die Ursache des Eintritts eines 
solchen Zustandes festzustellen, so gelang es auch durch die Obduktion 
nicht, sicheren Aufschluß darüber zu gewinnen. Nur die schon im 
Leben so hochgradig hervortretende venöse Stauung machte sich durch- 
gehends auch an der Leiche bemerkbar; im übrigen erinnerten die 
Befunde durchaus an diejenigen bei gewöhnlicher Asphyxie. Alle 
Eingeweide zeigten sich blutüberfüllt, ebenso die Venen, die venösen 
Sinus des Gehirns, das rechte Herz. Die Stauung pflegte namentlich 
auch in den Lungen und im Gehirn stets sehr ausgesprochen hervor¬ 
zutreten und hierzu erheblichen Hyperämien und Oedemen zu führen. 
Der Tod kommt unmittelbar wohl in der Regel durch zunehmende 
Herzinsuffizienz zustande, mag dieselbe nun durch nachweisbare 
organische Herz- und Gefäßleiden, durch fettige Degeneration des 
Herzmuskels, durch die im Anfall so erheblich gesteigerten mechani¬ 
schen Anforderungen an die Herzkraft oder durch toxische Wirkungen 
bedingt sein. Die Angabe Ffoe s, daß die stark injizierten Gehirnhäute 
bei längerer Dauer des Status an den Gehirnwindungen adhärierten 
und sich nur schwer abziehen ließen, fand bei den hiesigen Obduktionen 
keine Bestätigung; immer wird vielmehr ausdrücklich bemerkt, daß 
die weichen Häute leicht in zusammenhängenden Lamellen sich 
ablösen ließen. Vielleicht erklärt sich die Verschiedenheit der Befunde 
daraus, daß dort die Sektionen erst längere Zeit nach dem Tode, hier 
dagegen meist schon 2—10 Stunden darnach vorgenommen wurden. 
Alle übrigen Befunde bei Status epilepticus bzw. Coma epilepticum 
unterliegen vielfachem Wechsel und lassen nichts für diese Zustände 
Spezifisches erkennen. Ekchymosen auf dem Herzbeutel, auf der 
Pleura, auf der Gehirnoberfläche finden sich nur gelegentlich, ebenso 
Hämatom der Dura mater und größere Blutaustritte oder dadurch 


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Die Sterblichkeit, Todesursachen and Sektionsbefande bei Epileptikern. 841 


herbeigeführte Gewebszerstörungen im Zentralnervensystem; sie 
kommen in der Regel wohl nur — ähnlich wie Haut- und Konjunktival- 
blutungen — bei abnorm heftigen Krampfanfällen infolge der hoch¬ 
gradigen mechanischen Kongestion oder bei allgemein bestehender 
Arteriosklerose zustande. Nicht allzu selten findet sich bei längerem 
Bestehen des Komas hypostatische und Schluckpneumonie resp. 
beginnende Gangrän im Unterlappen als Nebenbefund; der Tod wird 
aber wohl auch in diesen Fällen schließlich durch Herzlähmung herbei¬ 
geführt. Ekchymosen an der Oberfläche der genannten Organe werden 
in den Sektionsprotokollen bei 17 m. und 16 w. im Status resp. Koma 
erlegenen Kranken erwähnt. Größere Blutaustritte im Gehirn fanden 
sich bei 7 m. und 4 w., Hämatom der Dura mater bei 13 m. und 6 w. 
Kranken. Anschoppungen oder entzündliche Veränderungen der 
Lungen in allen Übergängen von einfacher Hypostase in den hinteren 
unteren Abschnitten bis zu mehr oder minder weit fortgeschrittener 
Pneumonie und Gangrän, meist kombiniert mit Ödem und allgemeiner 
Hyperämie in den übrigen Lungenbezirken, wurden bei 53 m. und 
49 w. Kranken, also bei insgesamt etwa 8 /« aller im Status resp. 
Koma Gestorbenen festgestellt. 

Befunde dieser Art sind überhaupt, wie die obige Tabelle er¬ 
kennen läßt, etwas sehr Gewöhnliches bei allen im Anschluß an Krampf¬ 
anfälle zugrunde gegangenen Kranken. Ein Teil derselben über¬ 
windet freilich die eintretenden bedrohlichen Symptome allmählich 
wieder unter dem Einfluß der angewandten therapeutischen Ma߬ 
nahmen ; nur zu oft aber versagen alle Mittel, die Herzschwäche nimmt 
stetig zu, die Kranken sterben zwar nicht im Anfall oder im Koma 
direkt, erliegen aber schließlich doch noch den durch die Anfälle 
herbeigeführten schweren Störungen der Herztätigkeit, resp. den 
durch die Stauungen und durch die Aspiration von Schleim, Speichel 
oder Erbrochenem zustande gekommenen Hyperämien, Ödemen und 
entzündlichen Lungenaffektionen. Zieht man alle im Anschluß an 
Krampfanfälle zugrunde Gegangenen, bei denen außer gewöhnlicher 
Herzerschlaffung, allgemeiner Stauung und entzündlichen Affektionen 
in den Lungen weitere lebensgefährliche Erkrankungen weder klinisch 
soch pathologisch-anatomisch sich zeigten, in eine größere Gruppe 
zusammen, so ergibt sich, daß 72 m. und 41 w. = 20,8% Kranke 
solchen Zuständen zum Opfer fielen. Die Sektionen ergaben in diesen 


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842 


Hahn, 


Fällen stets Herzschlaffheit und allgemeine Stauungserscheinungen. 
daneben aber 57 mal entzündliche Lungenaffektionen, und zwar 
lagen 56 mal = 10,3% in den Lungen nur Hyperämien und Ödeme 
resp. einfache Hypostasen vor, 49 mal = 9,0% handelte es sich um 
hypostatische resp. um aspirative Pneumonien, 8 mal = 1,5% um 
typische Lungengangrän. Die entzündlichen Prozesse waren stet? 
in den hinteren unteren Lungenabschnitten lokalisiert, meist beider¬ 
seits, in den Fällen mit einseitiger Erkrankung aber etwas häufiger 
rechts als links, ein Ergebnis, wie es wohl gewöhnlich gewonnen wird. 

Mit Todesfällen dieser Art ist aber die Zahl derjenigen nicht 
erschöpft, die erst einige Tage oder Wochen nach Ablauf der Paroxysmen 
zunehmender Herzerschlaffung oder sonstigen Folgekrankheiten zum 
Opfer zu fallen pflegen. Selbstverständlich konnten dabei immer nur 
solche in der Regel tödlich verlaufende Krankheitprozesse Berück¬ 
sichtigung finden, die im unmittelbaren Anschluß an abgelaufeoe 
Krampfanfälle oder sonstige epileptische Zustände zur Entwicklung 
gelangt waren oder wenigstens sofort darnach eine bedenkliche Form 
angenommen hatten. In dieser Hinsicht wirkten für einen Teil der 
Epileptiker namentlich begtehende schwere Herz- und Gefäßaffektionen 
verhängnisvoll. Unter dem Einflüsse solcher Krankheiten trat der 
Tod bei 3 m. und 4 w. Kranken sogar direkt im Anfalle selbst ein, 
während 10 m. und 5 w. Kranke erst später den eingetretenen schweren 
Alterationen erlagen. 

Bei den 7 direkt im Anfall Gestorbenen handelte es sich um folgend" 
Zustände: Ein 63% Jahre alter Mann, der an Myokarditis infolge von 
Koronararteriensklerose litt, bekam eine Ruptur des linken Herzventrikeb: 
als Nebenbefunde ergaben sich Lungenemphysem, Leberzirrhose mäßigen 
Grades, Kolloidentartung der Nebennieren und Verwachsensein derselben 
mit den Nieren; ein 42 Jahre alter Mann wies totale Obliteration de^ 
Herzbeutels auf und zeigte außerdem ausgedehnte Adhäsivpleuritis und 
-peritonitis neben hämorrhagischen Infarkten in beiden Lungen, sowie 
Cholelithiasis; bei einem 53 % Jahre alten Manne lag hochgradigste Arterio¬ 
sklerose insbesondere der Aorta und der Koronararterien vor, während 
sich zugleich noch zahlreiche Ekchymosen auf der Brust, im Gesicht, 
unter der Pleura und dem Epikard sowie zahlreiche Blutaustritte in beiden 
Lungen fanden. Zwei an allgemeiner Arteriosklerose leidende 41 Jahre 
alte Frauen gingen an Aneurysmarupturen der linken Arteria subclavia 
bzw. der Aorta zugrunde; die eine bot als Nebenbefunde chronische Bron¬ 
chitis und chronischen Blascnkatarrh dar. Die beiden anderen Falle 
betrafen ein 13 jähriges, an Mitralklappeninsuffizienz leidendes Mädchen. 


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Die Sterblichkeit, Todesursachen und Sektionsbefunde bei Epileptikern. 843 

bei dem punktförmige Blutaustritte in die Haut und unter die Pleura 
angeführt werden, und eine 62 Jahre alte Frau mit ausgedehnter Arterio¬ 
sklerose und Aortenklappeninsuffizienz. Die übrigen erst im Anschluß 
an Krampfanfalle Gestorbenen 15 Herz- und Gefaßkranken litten an 
folgenden AiTektionen: 4 Männer und 1 Frau an allgemeiner Arterio¬ 
sklerose, 3 Männer und 1 Frau an chronischer Endokarditis, 2 Männer 
und 3 Frauen an Herzhypertrophie und Herzmuskelentartung, 1 Mann 
an fibrinöser Perikarditis. Unter den Nebenbefunden standen überall 
die Erscheinungen allgemeiner Stauung im Vordergründe. 

Weniger Gefahren als chronische Herz- und Gefäßleiden resp. 
plötzlich einsetzende Herzschwäche scheinen chronische Lungenleiden 
bei Krampfanfällen zu bedingen. 

Freilich boten auch die im Anschluß an Anfälle Gestorbenen vielfach 
chronische Veränderungen an den Lungen dar, teils in Form tuberkulöser 
Prozesse, teils in Form pleuritischer Verwachsungen und emphysematöser 
oder bronchitischer Erscheinungen; aber in ausgedehnterem Maße lagen 
solche Affektionen nur bei zwei im Anschluß an Paroxysmen erlegenen 
Kranken vor, bei einem 64 Jahre alten Emphysematiker, der nebenbei 
allgemeine Arteriosklerose und einige ältere Erweichungsherde im Gehirne 
aufwies, und bei der oben bereits berücksichtigten, 28 Jahre alten Frau, 
die außer an vorgeschrittener Lungen- noch an Hauttuberkulose litt. 
Ob zwei im Anschluß an Anfälle tödlich verlaufenen schweren Lungen¬ 
blutungen bei einem 24*/« Jahre alten Manne und einer 22*/« Jahre alten 
Frau Tuberkulose zugrunde lag, ist weder aus den Krankengeschichten 
noch aus den Sektionsprotokollen mit Sicherheit zu entnehmen. 

Gehirnaffektionen gaben bei 14 im Zusammenhang mit Krampf¬ 
anfällen Gestorbenen die Todesursache ab = 2,6%. 3 Männer und 
2 Frauen starben direkt im Anfall, die übrigen 9 Männer erst später. 
Bei den direkt im Anfall Gestorbenen wurde der Tod 2 mal durch 
Gehirnblutungen, 1 mal durch ausgedehntes Hämatom der Dura mater 
herbeigeführt, stets nach vorausgegangenem Kopftrauma. Bestehende 
Arteriosklerose resp. chronische Endokarditis scheint begünstigend 
gewirkt zu haben. 

Bei einer 33 Jahre alten, im Anfall verschiedenen Frau fand sich 
linkerseits ein „aus zwei Abschnitten bestehender, weicher, gallertartiger, 
aus der Fossa Sylvii hervortretender, ausgebreiteter Tumor“, der im 
übrigen nicht näher untersucht worden ist, während bei einem 34*/« Jahre 
alten Manne der plötzliche Tod durch einen obsoleten Zystizerkus im 
vierten Gehirnventrikel herbeigeführt wurde; als Nebenbefunde fanden 
sich hier neben einem weiteren obsoleten Zystizerkus in der Leber all¬ 
gemeine Hyperämie, Hydrocephalus internus und Ependymkörnung. 
Bei den 9 erst später gestorbenen Männern ließen sich, von sonstigen 


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844 


Hahn, 


Nebenbefunden wie Erweichungsherden, chronischer Meningitis, ödes 
und Hyperämie abgesehen, feststellen: 5 mal ausgedehnte Durahäma* 
tome, 3 mal frische zerebrale Blutungen, 1 mal eitrige Basilarmeningiiis, 
die ihren Ausgang von einer ausgedehnten, sekundär vereiterten Ver¬ 
letzung der Kopfschwarte genommen hatte. 

Im übrigen handelte es sich bei den im Zusammenhang mit epi¬ 
leptischen Zuständen aufgetretenen Todesfällen 11 mal um Schädel¬ 
brüche = 2 %, 3 mal um andere Frakturen und daraus hervorgegangen« 
schwere Folgezustände = 0,6%, 3 mal um sekundäre Peritonitis poru- 
lenta = 0,6 %, 3 mal um Septikopyämie = 0,6 %, 8 mal um Erysipelas facki 
= 1,5%, 24 mal um Asphyxie = 4,4%, 11 mal um Selbstmord = 2,0 f_. 
10 mal um sonstige plötzlich im Anfall erfolgte Todesfälle = 1,8%. 

Die Schädelbrüche waren stets durch direkte Gewalteinwirkung 
beim Niederstürzen herbeigeführt worden. Immer lag Basisfraktur 
vor, nur 4 mal zugleich ausgedehntere Zertrümmerung des Stirn- 
und Hinterhauptbeins. Verletzungen der Hautdecken und stärkere 
Hautblutungen an der Kopfschwarte waren 6 mal notiert, während 
sekundäre Veränderungen an den Häuten und am Gehirn in Form 
von Blutungen, Gewebszerstörungen, Erweichungen usw. sich in allen 
Fällen fanden, teils in geringerem, teils in größerem Umfange. 

Die tödüch verlaufenen sonstigen Knochenbrüche betrafen: Fraktur 
der sechsten linken Rippe bei einem 60 Jahre alten marastischen Manne, 
der schließlich zunehmender Herzschwäche und hinzugetretener Unter¬ 
lappenpneumonie erlag, Fraktur des rechten Unterschenkels mit an¬ 
schließender Fettembolie und ödem der Lungen, sowie Atelektase der 
Unterlappen bei einer 22 Jahre alten, sonst rüstigen Frau und Schambein- 
und Rippenfrakturen mit anschließender Herzlähmung bei einer 65 Jahre 
alten marastischen Frau. 

Der im Anschluß an Krampfanfälle aufgetretenen Peritonitis puru- 
lenta lag das eine Mal eine Zerreißung des Darms zugrunde, die sich ein 
49 Jahre alter Kranker durch Fall an die Kante eines Stuhls zugezogen 
hatte; bei einem anderen an Lat-nnecscher Leberzirrhose leidenden Kranken 
ging dieselbe von einein im Anfall zustande gekommenen Nabelbrueh 
mit Inkarzeration aus. Nicht einem Anfälle, sondern hochgradigster 
geistiger Abschwächung mit interkurrenten depressiven Stimmungsan¬ 
wandlungen w’ar die Peritonitis zuzuschreiben bei einer 41 Jahre alten 
Frau, die durch Verschlucken von Holzstücken eine Dünndarmperforation 
bekommen hatte. — Die 3 Fälle von Septikopyämie waren stets durch 
tiefe, in Vereiterung ausgegangene Hautwunden bedingt, die die Kranken 
im Anfall akquiriert hatten. 

Die 8 Fälle von Erysipelas faciei waren aller Wahrscheinlichkeit 
nach durch im Anfall eingetretene Gesichtshautverletzungen verursacht; 
doch lag für einige an ausgebreiteter Gesichtsakne leidende Kranke auch 


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Die Sterblichkeit, Todesursachen und Sektionsbefunde bei Epileptikern. 845 

die Möglichkeit einer von dort oder von Kratzwunden ausgegangenen 
Infektion vor. Der Tod trat bei den zumeist hinfälligen Kranken wohl 
stets nach Hinzutritt von Lungen- und Gehirnhyperämien und -Ödemen 
unter den Erscheinungen der Herzlähmung ein. 

Die Asphyxie im Anfall wurde herbeigeführt bei 7 m. und 4 w. 
Kranken durch passive Bauchlage und mechanischen Verschluß der 
Luftwege während nächtlicher Anfälle, bei 3 m. und 1 w. Kranken durch 
gerade im Munde befindliche Bissen, bei 6 m. und 3 w. Kranken durch 
Aspiration erbrochener Massen. Die Obduktion ergab in allen diesen 
Fällen stets die typischen Erstickungsbefunde: intensiv entwickelte 
Totenflecke, dunkle, flüssige Beschaffenheit des Blutes, Ekchymosen in 
der Haut des Gesichts, in der Bindehaut der Augen, in der Pleura, im 
Peri- und Epikard, Blutüberfüllung des rechten Herzens, Hyperämie der 
inneren Organe, in der Lunge und im Gehirn verbunden in der Regel mit 
ödem. In ihrer Intensität hingen diese anatomischen Befunde ab von 
der Intensität und Dauer der Erscheinungen während der einzelnen 
Erstickungsstadien. 

Die Fälle von Selbstmord waren stets auf bestehende psychische 
Alterationen zurückzuführen; teils lag ein Dämmerzustand, teils eine 
Depression, teils ein mit Neigung zu impulsiven Handlungen einher- 
gehender jäher Gefühlsausbruch vor. 6 Männer und 2 Frauen im Alter 
von 24 y 2 bis 41 *4 Jahren entwichen in einer solchen Verfassung aus der 
Anstalt und fanden den Tod dadurch, daß sie sich in der Nähe entweder 
in der Mulde bzw. in einem Teiche ertränkten (2 M., 2 W.) oder vom Eisen¬ 
bahnzuge überfahren ließen i4 M.). Ein Mann von 61 % Jahren und eine 
Frau von 33% Jahren stürzten sich aus einem Fenster des ersten Stock« 
werks und zogen sich dabei zahlreiche komplizierte Frakturen zu, der 
Mann außer Schädelbruch mit weitgehender Zertrümmerung der Knochen 
und ausgedehnten Gehirnzerstörungen noch Frakturen des 7. Halswirbels, 
des Brustbeins, der 2.—4. Rippe links und rechts, die Frau außer ebenso 
schwerem Schädelbruch noch eine rechtseitige Femurfraktur. Ein 
25*/* Jahre alter Mann fand seinen Tod durch hartnäckige Nahrungs¬ 
verweigerung und anschließende Aspirationspneumonie. 

Bei 10 plötzlich im Anfall erlegenen Kranken wurde als Todes¬ 
ursache zwar durchweg „nervöse Erschöpfung“ angenommen, aber einmal 
handelte es sich — bei einer 59 3 / 4 Jahre alten Frau — offenbar um Larynx* 
stenose infolge enormer Struma, 5 mal — bei 3 Männern und 2 Weibern — 
um Herzlähmung bei organischen AfTektionen des Herzmuskels resp. der 
Gefäße, und so bleiben nur 4 unklare Fälle übrig, bei denen die Sektion 
nichts weiter als allgemeine Stauungserscheinungen, insbesondere stets 
hochgradigste Lungen- und Gehirnhyperämie, verbunden mit ödem 
ergab. Besonders erwähnenswert erscheint unter diesen Fällen eine 
39jährige Frau, die seit der Jugend an epileptischen Anfällen, verbunden 
mit geistiger Abschwächung mittleren Grades, litt und hier wiederholt 


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846 


Hahn, 


im Anschluß an schwere Paroxysmen von akutem Lungenödem befallen 
wurde. Dieselbe zeigte in sehr charakteristischer Weise alle für tuberöse 
Sklerose typischen Veränderungen, wie sie Bourneville und in neuester 
Zeit namentlich H. Vogt beschrieben haben: zahlreiche tuberöse 
Herde in der Rinde des Großhirns, ferner an der Grenze von Thalamus 
und Corpus striatum sitzende tumorartige Prominenzen von ähnlicher 
Beschaffenheit in den erweiterten Seitenventrikeln, daneben derbe fibröse 
Nieren-, Pleura- und Uterustumoren, sowie auf dem Rücken unterhalb 
der Schulterblätter und im Gesicht die als Adenoma sebaceum bezeichnete 
Hautaffektion, die die Diagnose mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit 
schon im Leben stellen ließ. Die sonstigen anatomischen Befunde be¬ 
standen in Herzerschlaffung, Hyperämie der inneren Organe, im Gehirn 
und in den Lungen verbunden mit ödem, sowie in zahlreichen Ekchymosen 
an der äußeren Haut und auf der Oberfläche der Lungen und des Herzens. 

In Tabelle VIII wurden die gewonnenen Ergebnisse in anderer 
Gruppierung nochmals kurz zusammengestellt und zu denen Ganters 
in Vergleich gebracht. 

Für die Gruppen „Herzerschlaffung und deren Folgen“ und „plötz¬ 
licher. Tod im Anfall“ fand sich in der Übersicht Gante, s keine entsprechende 
Rubrik. In welcher Weise die übrigen Rubriken der Tabelle VII hier 
zusammengestellt wurden, ergibt sich aus den in Klammern beigefügten 
Angaben. Die Einzelheiten sind teils aus den voranstehenden Erörterungen, 
teils aus den beiden Tabellen selbst zu ersehen. Die größten Gefahren 
erwachsen dem Epileptiker aus Krampfanfällen, teils durch etwa ein¬ 
tretenden Status epilepticus resp. Coma epilepticum, teils durch Herz¬ 
störungen, teils durch etwa entstehende entzündliche Lungenaffektionen, 
teils durch Unglücksfälle und lebensgefährliche Verletzungen. Im übrigen 
sind sie keinen größeren Lebensbedrohungen ausgesetzt, wie andere Gehirn¬ 
kranke auch. Speziell die Tuberkulose und akute fieberhafte Infektions¬ 
krankheiten forderten unter den hiesigen Epileptikern nicht häufiger 
ihre Opfer wie sonst. Einem schweren Anfalle direkt erlagen, wenn man 
die Selbstmordfälle in Abzug bringt, 46 Kranke = 8,5 %; doch wurden, 
wie wir oben sahen, von diesen Fällen nur 4 =0,7 % nicht hinreichend 
durch die Sektion aufgeklärt; alle übrigen waren durch ein pathologisch - 
anatomisch nachweisbares Leiden bzw. durch Asphyxie bedingt. 

Im übrigen ergaben die Sektionen, wie schon die obigen Mitteilungen 
erkennen lassen, fast in jedem Falle noch eine Reihe mehr oder minder 
belangreicher Nebenbefunde. Fast aus allen Kapiteln der Pathologie 
fanden sich Befunde vertreten, so großem Wechsel sie bei den einzelnen 
Individuen auch sonst unterlagen. Ihre genaue Registrierung würde 
hier zu weit führen; nur einiges wenige sei kurz berührt. 

In der Mehrzahl aller Fälle führte, wie bemerkt, Herzschwäche 
zum Tode; es kann daher nicht wundernehmen, daß durch agonale Blut¬ 
stauung bedingte Hyperämien ungemein häufig zu konstatieren waren. 


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Tabelle VIII: Todesursachen der verstorbenen Epileptiker. 


Die Sterblichkeit, Todesursachen und Sektionsbefunde bei Epileptikern. 847 



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848 


Hahn, 


In den Lungen und im Gehirn gesellten sich besonders oft noch Ödeme 
hinzu. Der Wert solcher Befunde für die im Leben vorhandenen Krank¬ 
heiterscheinungen ist schwer abzuschätzen. Speziell intrakranielle Hyper¬ 
ämien und Ödeme, denen man oft eine große Bedeutung beigemessen 
findet, dürften in der Regel wohl nur als agonale Erscheinungen zu deuten 
sein. Charakteristische und einheitliche, nur bei Epilepsie vorhandene 
Organbefunde wurden im übrigen vermißt. Relativ am häufigsten fanden 
sich neben allgemeinen Hyperämien und einfachen Herzerschlaffungen 
akute entzündliche Veränderungen in den Lungen und chronische Hera- 
und GefäßafTektionen, ferner nicht allzu selten chronische tuberkulöse 
Prozesse, sowie Residuen früherer Entzündungen an den Hirnhäuten 
und in Form von Verwachsungen und sehnigen, schwartigen und schwieligen 
Verdickungen an der Pleura, am Peritoneum, am Perikard, an der Milz-. 
Nieren- und Leberoberfläche. 

Eines besonderen Interesses wert erscheinen unter diesen Neben- 
befunden namentlich die an den Zirkulationsorganen 
hervortretenden chronischen Veränderungen, weil in ihnen vielleicht, 
unterstützt durch intoxikatorische und sonstige Schädlichkeiten, 
die verhängnisvolle Wirkung des im Anfall gesteigerten Blutdrucks 
bis zu einem gewissen Grade zum Ausdruck gelangt. In der Tat sind 
Herzmuskelentartungen, Herzhypertrophien und -dilatationen, endo- 
karditische, perikarditische und ganz besonders allgemeine arterio¬ 
sklerotische Veränderungen, wie schon Weber (Beiträge zur Patho¬ 
genese und pathologischen Anatomie der Epilepsie, Jena 1901) betont 
hat, ein recht häufiges Vorkommnis bei Epileptikern. Die oben er¬ 
örterten Fälle eingeschlossen, wo solche Befunde direkt als Todes¬ 
ursachen in Anspruch zu nehmen waren, fanden sich organische Herz- 
und Gefäßaffektionen der erwähnten Art in den hiesigen Sektions¬ 
protokollen im ganzen bei 397 Kranken = 73,4% beschrieben. Um 
welche Prozesse es sich dabei im einzelnen handelte, ist aus der Zu¬ 
sammenstellung in Tabelle IX zu ersehen. Selbstverständlich wiesen 
dieselben Individuen von den erwähnten Veränderungen vielfach eine 
ganze Reihe auf. Der Intensität nach zeigten sich dieselben in den 
verschiedenen Fällen großem Wechsel unterworfen. Namentlich 
die arteriosklerotischen Prozesse an den Gefäßen bestanden bald 
nur in leichtesten Verfettungen der Intima, bald war es zu hoch¬ 
gradigsten Verdickungen und zur Bildung von Geschwüren und Kalk¬ 
platten gekommen. Nur leichteste Veränderungen fanden sich bei 
194 m. und 83 w., schwerste sklerotische Veränderungen dagegen bei 


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Die Sterblichkeit, Todesursachen und Sektionsbefunde bei Epileptikern. 849 
Tabelle IX: Herz- und Gefäßerkrankungen. 


Art der Erkrankung 

M. 

W. 

Sa. 

ooj3 o 

s-ga| 

« s h § 

5 -ä ® 
m 

Auf 100 über¬ 
haupt Oe¬ 
storbene be- 
sogen 

Perikarditis. 

26 

23 

49 

12,3% 

9,0% 

Hypertrophie, Fettherz, Herzmuskel¬ 
erkrankung . 

225 

107 

332 

83,6% 

61,4% 

Herzruptur . 

1 


1 

0,3% 

90,9% 

0 ,2% 

66,7% 

Arteriosklerose. 

258 

103 

361 

Aneurysmaruptur. 

Klappenfehler. 

' 126 

2 

65 

2 

191 

0,5% 

48,1% 

0,4% 

35,3% 

Zahl der mit Herz- und Gefäßaffektionen 
behafteten Kranken . 

263 

134 

397 


73,4% 


64 m. und 20 w. Kranken. Am deutlichsten trat die Arteriosklerose 
in der Regel an den Herzgefäßen, d. h. an der Aorta und an den 
Koronararterien, hervor, nur in wenigen Fällen zeigten sich die basilaren 
Gehirngefäße scheinbar allein affiziert. Wo erheblichere Arteriosklerose 
vorlag, dehnte sich der Prozeß wohl stets über alle Gefäße aus und 
fanden sich daher Herz- und basilare Gehirngefäße zugleich betroffen. 
Atheromatose der Aortenbasis, der Koronargefäße und der großen 
Gehirnarterien zugleich lag vor bei 74 m. und 27 w., insgesamt bei 
101 Kranken = 18,7% (bez. 25,4%), Atheromatose des Herzens 
allein bei 175 m. und 73 w., insgesamt bei 248 Kranken = 45,8% 
(bez. 62,5%), Atheromatose der basilaren Gehirngefäße allein bei 9 m. 
und 3 w., insgesamt bei 12 Kranken = 2,2% (bez. 3,0%), ein Ergebnis, 
das annähernd mit den von Ganter gewonnenen Zahlenwerten in 
Übereinstimmung steht. 

Daß viele der zur Obduktion gelangten Kranken ebenso wie ein 
großer Teil der lebenden Anstaltinsassen die charakteristischen Haut¬ 
eruptionen des Bromismus zeigten, daß sie nicht selten allerhand 
von chirurgischen Eingriffen oder von im Anfall akquirierten Ver¬ 
letzungen und Hautverbrennungen herrührende Narben und Wunden 
aufwiesen, bedarf keiner weiteren Ausführung. Die vorspringenden 
Partien des Körpers, insbesondere die Gegend der Superziliarbögen, 
der Stirn- und Schläfenbeinhöcker, der Protuberantia occipitalis 
externa, des Jochbeins, des Akromion, des Olekranon, des Kinns, 
der Nase usw. boten oft hypertrophische Wucherungen des Unter¬ 
hautzellgewebes dar, als deren Ursache durch wiederholten Fall auf 

68 * 


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850 


Hahn, 


die gleiche Stelle zustande gekommene Entzündungsvorgänge zu 
betrachten waren. Auch Residuen von im Anfall erfolgten Kon¬ 
tusionen, von Blutungen, von Schleimbeutelergüssen am Olekranon, 
von sonstigen traumatisch entstandenen Organveränderungen fanden 
sich nicht allzu selten, z. B. Hyperostosen, geheilte Frakturen und 
Kalluswucherungen, durch häufige Wiederholung irreponibel ge¬ 
wordene Luxationen im Schultergelenk u. ä. m. 

Auch sonst lieferten die Autopsien oft noch Befunde, die Be¬ 
achtung verdienten, aber kaum je Ergebnisse, die auf die Pathogenese 
des epileptischen Leidens und auf dessen Entstehungsort ein Licht 
zu werfen oder die wahrgenommenen Krankheitbilder restlos aus 
körperlichen Veränderungen zu erklären vermocht hätten. In der 
Literatur wird freilich nicht selten allen möglichen Befunden eine 
mehr oder minder große Wichtigkeit für die Entwicklung der epi¬ 
leptischen Krankheitzustände und für die Art der im Leben hervor¬ 
getretenen Krankheiterscheinungen beigemessen, ob mit Recht, muß 
jedoch bei der Wandelbarkeit und der fehlenden Konstanz der fest¬ 
gestellten Organveränderung einigermaßen bezweifelt werden. Die 
Besonderheiten, die sich in dem einen oder anderen Krankheitfalle 
etwa fanden, waren in der Regel wohl nur von sekundärer Bedeutung, 
insofern es sich um Residuen früherer Krankheitprozesse, um einfache 
anatomische Anomalien oder um ganz zufällig zustande gekommene 
und konstatierte krankhafte Veränderungen resp. um nebensächlichere 
Erscheinungen handelte, deren näherer oder entfernterer Zusammen¬ 
hang mit dem epileptischen Leiden zum mindesten sehr unklar bleibt. 

Degenerationszeichen sind bei unseren Kranken 
recht häufig zu finden gewesen. Bald handelte es sich um Anomalien, 
die die gesamte körperliche Entwicklung, bald um Abweichungen 
vom gewöhnlichen Bau und Aussehen, die nur einzelne Organe be¬ 
trafen, bald um Mißbildungen und Entwicklungsstörungen. Genauere 
Ermittlungen würden gewiß ergeben haben, daß alle überhaupt schon 
beschriebenen „Degenerationszeichen“ auch bei an genuiner Epilepsie 
Erkrankten Vorkommen können. Konstant auftretende oder ledig¬ 
lich auf Epileptiker und auf bestimmte Organe sich beschränkende 
„Degenerationszeichen“ findet man hier jedoch ebensowenig wie bei 
anderen „Gehirnkranken“. Ihre Verwertung ist daher erschwert, 
wenn nicht völlig illusorisch: sie liefern keine Beiträge zur Erkenntnis 


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Die Sterblichkeit, Todesursachen und Sektionsbefunde bei Epileptikern. 851 

der eigentlichen Ursache, des Sitzes, des Wesens und des speziellen 
Charakters der epileptischen Krankheitsymptome, sondern können 
nur die Annahme stützen, daß die Epilepsie am häufigsten auf dem 
Boden einer allgemeinen somatischen Entartung erwächst. 

Auch die gerade bei Epileptikern so häufigen Asymmetrien und 
sonstigen Besonderheiten am Schädel und am Zentralnervensystem 
vermögen das über die anatomischen Grundlagen der Epilepsie herr¬ 
schende Dunkel nicht zu zerstreuen. Ihr etwaiges Vorhandensein 
kann uns über deren mutmaßlichen Zusammenhang mit dem epi¬ 
leptischen Krankheitzustande um so weniger Aufschluß gewähren, 
als sie bei den einzelnen Individuen nicht unerheblichem Wechsel 
unterliegen und bei anderen ganz ähnliche Krankheitsymptome auf¬ 
weisenden Patienten in einem mindestens ebenso hohen Prozentsatz 
der Fälle überhaupt vermißt werden. Immerhin pflegen teils an¬ 
geborene, teils traumatisch oder durch Bachitis und andere Krank¬ 
heiten erworbene Unregelmäßigkeiten neben Exostosen, Impressionen 
und anderen Formveränderungen und Abnormitäten am äußeren 
Schädel nicht minder oft zur Wahrnehmung zu gelangen wie an der 
inneren Oberfläche des Kraniums und an dessen Basis. Auffällig 
oft, nämlich bei 154 m. und 101 w., insgesamt also bei 25ö Kranken 
= 47,1% fand sich das Schädeldach verdickt, bei 41,9% (145 M., 82 W.) 
annähernd „normal“, nur bei 30 m. und 21 w., insgesamt bei 51=9,4% 
Kranken, wird es als abnorm verdünnt bezeichnet. Ob die Vermutung 
Ganters, daß einem dünneren Schädeldache zumeist ein größeres und 
schwereres, einem dickeren Schädeldache dagegen ein kleineres und 
leichteres Gehirn entspreche, zu Recht besteht, erscheint mehr als 
zweifelhaft; die hier so häufigen erheblichen Verdickungen des Schädel¬ 
daches fanden sich bald bei größeren und schwereren, bald bei kleineren 
und leichteren Gehirnen und erklären sich vielleicht lediglich daraus, 
daß das epileptische Leiden, wie oben erörtert wurde, in der über¬ 
wiegenden Mehrzahl aller Fälle in der Jugend zum Ausbruch gelangt 
und so Gelegenheit findet, das Wachstum und die sonstige Entwicklung 
des Schädeldaches maßgebend zu beeinflussen; erst nach Abschluß 
der Entwicklungszeit aufgetretene Krankheitprozesse dürften im 
allgemeinen wohl keinen Einfluß mehr auf die Gestaltung des Schädel¬ 
daches gewinnen, wie auch Ganter zugibt. Meist bestanden die ver¬ 
dickten Schädeldächer fast nur aus Compacta, die Spongiosa trat in 


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852 


Hahn, 


der Regel stark zurück. Die Gefäßfurchen an der Innenfläche zeigten 
sich bei fast allen Epileptikern ausnehmend deutlich, tief und reich 
entwickelt; ob sich hierin eine Wirkung der durch die Krampfanfälle 
herbeigeführten Zirkulationstörungen und Blutdrucksteigerungen zu 
erkennen gibt, möge dahingestellt bleiben. Selten bestand bei den 
hier zur Obduktion gelangten Kranken ausgesprochene Mikrozephalie, 
weitaus häufiger Makrozephalie resp. Hydrozephalie mäßigen Grades. 
Im übrigen waren die zur Beobachtung gelangten Schädelformen 
durchgehends zu wenig genau beschrieben, um weitergehende Schlüsse 
über deren besondere Beschaffenheit zu gestatten. 

Einfache Deformitäten des Hinterhauptloches, wie sie Solbrig 
beschrieben hat, werden nur 2 mal, bei 1 m. und 1 w. Kranken, erwähnt. 
Auf den Fall von Karies der Halswirbelsäule, speziell des Atlas und Epistro- 
pheus, und auf die dadurch herbeigeführte Verengerung des Wirbelkanals 
bei einem 14 ^jährigen Mädchen wurde S. 837 bereits hingewiesen. Bei 
einem 21 V 4 Jahre alten Manne war es durch eine vom Dens epistrophei 
ausgehende knorpel- bis knochenharte Wucherung zu einer Kompression 
der Medulla gekommen. Fälle von Atlassynostosen, wie sie Sommer be¬ 
schrieben hat, gelangten hier nicht zur Wahrnehmung. 

Der Angabe Schuppmanns, daß die Schädelkapazität der Epileptiker 
im allgemeinen größer sei als normalerweise, scheint nach den hier ge¬ 
wonnenen Ergebnissen eine gewisse Berechtigung zuzukommen; doch 
bedürfte die Nachprüfung eingehender, sich auf ein großes Material er¬ 
streckende Messungen. Die Sektionsprotokolle lassen dergleichen Er¬ 
hebungen vermissen, ebensowenig wie sie in der Mehrzahl der Fälle An¬ 
gaben darüber enthalten, ob zwischen den beiden Gehirnhemisphären 
bei makroskopisch nicht hervortretenden gröberen Veränderungen Ge¬ 
wichtsungleichheiten bestanden, wie sie Follet bei allen Epileptikern 
konstatiert haben will (vgl. Binswan^er). Wo einseitig grobe anatomische 
Veränderungen bestanden, sind Differenzen im Volumen und Gewicht 
beider Hemisphären natürlich nicht weiter verwunderlich; sie pflegten 
dann auch in den Berichten Erwähnung zu finden und mehr oder minder 
eingehend beschrieben zu werden. 

Meynert hat beim epileptischen Irresein eine Abnahme des Gehim- 
gewichtes festgestellt, während nach Buchnül und Echieverra das 
Gehirn der Epileptiker eine größere Schwere besitzt als normalerweise. 
In den 533 hier vorhandenen Sektionsprotokollen fehlten bei 40 m. 
und 25 w. Kranken Angaben über das Gewicht des Gehirns; es konnten 
daher nur von 468 epileptischen Kranken die Gehirngewichte registiert 
werden. Die gewonnenen Ergebnisse finden sich in Tabelle X zu¬ 
sammengestellt. 


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X>ie Sterblichkeit, Todesursachen und Hektionsbefunde bei^Epileptikera. 853 


Tabelle X: Gehirngewichte. 


Gehirngewicht 
in g 

6—15 J. 
M. | W. 

15— 

M. 

J 

-20J. 

W. 

ilter 

20—40 J. 
M. | W. 

über 40 J. 
M. | W. 

ii 

M. 

asgesamt 

| W. | Sa. 

712—1000 

2 

1 

1 

3 

1 

8 

1 

2 

5 

14 

19 

1000—1200 

6 

4 

2 

4 

14 

22 

15 

29 

37 

59 

96 

1200—1250 

1 

3 

3 

3 

11 

17 

12 

7 

27 

30 

57 

1250—1300 

2 

— 

3 

1 

9 

18 

10 

9 

24 

28 

52 

1300—1350 

2 

— 

4 

— 

21 

7 

17 

7 

44 

14 

KU 

1350—1400 

— 

1 

2 

3 

24 

9 

7 

6 

33 

19 

52 

1400—1450 

— 

— 

4 

— 

23 

3 

14 

5 

41 

8 

49 

1450—1500 

— 

— 

2 

! _ 

13 

— 

14 

3 

29 

3 

32 

1500—1550 

2 

— 

— 

— 

12 

1 

3 

1 

Q 

2 

19 

1550—1600 

— 

— 

— 

— 

10 

1 

4 

o 

f 1 

1 

15 

1600—1650 

— 

— 

1 

— 


o 

5 

H 

Hl 

— 

11 

1650—1700 

— 

— 

— 

— 



^9 


H 

1 

2 

über 1700 

— 

— 

— 

— 

3 ! 

— 

3 

H 

6 

— 

6 

Summe 

15 | 

9 

22 

14 

147 | 

87 



289 

179 

468 

Durchschnitts¬ 
gewicht in g 



1314 

1167 

n 


■ 


1356 

1221 


Durchschnittl. 
Körperlänge in cm 

132 

128| 

160 

149 

169 

158 

168 

157J 

166 

156 

161 


Darnach sind schwerere Gehirne unter den Epileptikern in der Tat 
nicht selten; wiesen doch immerhin 152=52,6% m. und 34=19% w. 
Kranke ein Gehirngewicht von mehr als 1350 g auf. Das Durchschnitts¬ 
gewicht der 468 Epileptikergehirne überhaupt betrug freilich nur 1302 g; 
die durchschnittlich festgestellte Differenz zwischen dem Gewicht der 
m. und w. Gehirne betrug 135 g, und zwar zuungunsten der letzteren. 
Berücksichtigt man, daß das mittlere Gehirngewicht m. Europäer auf 
1360 g, beim w. Geschlecht auf 1220 g angenommen wird, so ergibt sich, 
daß die bei den hiesigen Epileptikern gefundenen Durchschnittsgewichte 
von 1356 bzw. 1221 g annähernd den sonst ermittelten Durchschnitts¬ 
werten entsprechen. 

Auf die geistigen Qualitäten ihrer Träger ließen die ermittelten 
Gehirngewichte im übrigen keinen sicheren Rückschluß zu: annähernd 
gleichweit vorgeschrittene Demenz fand sich bald an kleinere und 
leichtere, bald an größere und schwerere Gehirne geknüpft. Bemerkt 
sei ausdrücklich, daß sämtliche Gewichte am unzerschnittenen Gehirne 
festgestellt wurden; der Gehalt an Zerebrospinalflüssigkeit ist also 
meist einbegriffen. Aus den Beschreibungen geht indessen so viel 
mit Sicherheit hervor, daß hochgradigerer Hydrocephalus internus 


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854 


Hahn, 


in nur ganz wenigen Fällen bestanden hatte; meist lag nur geringe 
oder mäßige Erweiterung der Seitenventrikel vor, während freilich 
Hydrocephalus externus und allgemeines Gehirnödem in vielen Fällen 
nicht unbeträchtlich gewesen zu sein scheinen. In den 19 Fällen mit 
Gehirngewichten von 712 bis 1000 g lag wohl ausnahmlos ein gewisser 
Grad von Mikrozephalie vor, während die schwereren Gehirne sich 
bei mehr oder minder deutlicher Makrozephalie fanden. Die schwersten 
überhaupt gefundenen Gehirne wogen zwischen 1720 und 1760 g; 
ausgenommen eine 36 Jahre alte Frau, die ein Gehirngewicht von 
1680 g aufwies, zeigten lediglich Männer über 1600 g schwere Gehirne. 
Die Struktur ließ makroskopisch Abweichungen in der Regel nicht 
erkennen, doch war vielfach Zunahme der Bindesubstanz wahr¬ 
scheinlich. 

Der lebhafte Wunsch, für die klinisch hervortretenden Krank- 
heiterscheinungen der Epilepsie ebenso wie für andere psychoneuro- 
tische „Gehirnaffektionen” charakteristische anatomische Verände¬ 
rungen ausfindig zu machen, hat ganz besonders auch das Zentral¬ 
nervensystem zum Zielpunkt eingehendster Untersuchungen werden 
lassen. Bekanntlich wurde auch hier schon allen möglichen Befunden 
eine Bedeutung für die Entstehung epileptischer Zustandbilder bei¬ 
gemessen: kongenitalen Gehirnmißbildungen, Windungsanomafien 
und sonstigen atypischen Form Veränderungen; in frühester Kindheit 
oder später zustande gekommenen destruierenden Prozessen, poren- 
zephalischen Defekten, zirkumskripten oder mehr diffusen Ver¬ 
änderungen an den Gehirnhäuten, Verdickungen, Verwachsungen. 
Trübungen derselben, vaskulären Störungen, intrakraniellen Hyper¬ 
ämien und Ödemen, Hämorrhagien, Hämatomen der Dura mater. 
Sinusthrombosen, Endarteriitis der Basilargefäße und ihrer Aste. 
Aneurysmen, durch Embolie, Thrombose, Traumen oder Entzündungen 
herbeigeführten Zerstörungen und Erweichungen, einseitig oder 
doppelseitig, begrenzt oder ausgedehnt aufgetretenen, oberflächlich 
oder tief gelegenen Indurationen und Hypertrophien, der tuberösen 
oder hypertrophischen Sklerose, allen möglichen in ihrer Lokalisation 
nicht minder wie in ihrer Größe, Form und Natur wechselnden Tumoren 
der Schädelhöhle usw. usw. Mit mehr oder minder großer Exaktheit 
fanden sich dergleichen Befunde nicht allzu selten auch in den hiesigen 
Sektionsprotokollen erwähnt; aber wenn einzelne Befunde auch 


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Die Sterblichkeit, Todesursachen und Sektionsbefunde bei Epileptikern. 855 

relativ oft erhoben wurden, so fehlte es doch durchaus an charakte¬ 
ristischen und konstanten anatomischen Veränderungen, und so 
blieben auch hier die Beziehungen zu den im Leben hervorgetretenen 
epileptischen Zuständen in der Hegel durchaus zweifelhaft. Es seien 
daher die hauptsächlich hervorgetretenen Veränderungen am Gehirn 
und seinen Häuten nur kurz registriert, unter Einschluß der bereits 
bei Besprechung der Todesursachen erörterten Befunde. 


Tabelle XI: Erkrankungen des Gehirns und seiner 

Häute. 


Erkrankung 

M. 

W. 

Sa. 

% 

E ntwicklu ngsstöru ngen, Mißbildu ngen, Rück - 
bildungen, Defekte. 

68 

42 

110 

20,3 

Verwachsensein der Dura mater mit dem 
Schädeldach. 

93 

67 

160 

29,6 

Knochenplättchen. 

6 

5 

11 

2,0 

Sinusthrombose. 

4 

3 

7 

1,3 

Meningitis purulenta. 

2 

1 

3 

0,5 

Pachymeningitis haemorrhagica interna, 
Hämatom der Dura. 

77 

51 

128 

23,6 

Chronische Veränderungen an den weichen 
Häuten. 

211 

136 

347 

64,1 

Hydrocephalus internus oder externus. 

147 

106 

253 

46,7 

Erweiterung der Ventrikel. 

69 

48 

117 

21,6 

Granulationen. 

63 

51 

114 

21,1 

Gehirnhyperämie, Gehirnödem. 

244 

113 

357 

66,0 

Arteriosklerose. 

83 

30 

113 

20,4 

Blutungen . 

42 

21 

63 

11,6 

Encephalomalacie, Encephalitis non purul. 

79 

43 

122 

22,5 

Tumoren. 

9 

9 

18 

3,3 


Auf Einzelheiten soll hier nicht näher eingegangen werden; nur 
einige wenige Bemerkungen seien beigefügt. 

Ganz frei von krankhaften Befunden am Gehirn und seinen Häuten 
zeigte sich, wenn man von leichtesten Hyperämien und Ödemen absieht, 
nur höchstens etwa V* aller zur Obduktion gelangten Kranken. Besonders 
oft wurden, wie Tabelle XI erkennen läßt, außer Hyperämien und Ödemen 
Veränderungen an den Gehirnhäuten notiert. Die gefundenen Werte 
waren durchweg höher als bei Ganter. Dabei traten die krankhaften 
Veränderungen bald isoliert, bald einseitig, bald diffus, bald inleichterer, 
bald in schwererer Form hervor, nicht selten die verschiedensten AfTek- 
tionen bei dem gleichen Individuum in buntester Mischung und Häufung. 


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856 


Hahn, 


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Nur selten — in 2% der Fälle — begegnete man kleinen dünnen 
Knochenplättchen, teils an der Konvexität der Dura mater, teils an den 
weichen Häuten, vorzugweise im Bereiche der Sichel. Ob sie auf Traumen 
oder auf Entzündungen oder auf Weiterentwicklung verlagerter Knochen¬ 
kerne zurückzuführen waren, ließ sich mit Sicherheit nicht fest stellen. 

Ähnlich unklar blieb in der Regel die Entstehungsgeschichte der 
Verwachsungen zwischen Dura mater und Schädeldach, die sich im ganzen 
in 29,6 % Fällen fand, fast stets bei Leuten mittleren und höheren Alters, 
nur gelegentlich auch bei jugendlichen Personen. 

Bei den entzündlich-hämorrhagischen Erscheinungen an der inneren 
Fläche der Dura handelte es sich meist um leichtere Prozesse, teils um 
einfache rostbraune membranöse Auflagerungen, teils um frischere 
Blutungen. Nur gelegentlich waren sie so massig entwickelt, daß si- 
Hirndrucksymptome hervorriefen und, wie wir sahen, als Todesursache 
in Betracht kamen. Die Gegend über dem Scheitellappen, sowie über 
der mittleren und hinteren Schädelgrube zeigte sich am häufigsten be¬ 
troffen. 

Die bei den Schädelbrüchen aus den zerrissenen Ästen der Arteria 
meningea erfolgten extraduralen Hämorrhagien fanden ebenso wie sonstige 
dabei zustande gekommene intrakranielle Blutungen und Gewebsläsionen 
hier keine Berücksichtigung weiter. 

Schwächere und stärkere Trübungen, Verdickungen und ödematöse 
Entartungen der weichen Häute waren hier ein ungemein häufiges Vor¬ 
kommnis, während Verwachsungen mit der Hirnrinde nur vereinzelt 
erwähnt werden. Die Intensität der Prozesse unterlag ebenso großem 
Wechsel, wie deren Ausbreitung und Lokalisation; mit Vorliebe zeigten 
sich stets die Umgebungen der größeren Gefäße von chronischer Lepto 
meningitis befallen. 

Die Ansammlung von Flüssigkeit zwischen Dura mater und weichen 
Häuten war nicht selten recht bedeutend. Hydrocephalus internus dagegen 
pflegte nur da stärker hervorzutreten, wo erheblichere Erweiterungen 
der Ventrikel Vorlagen. Daß das nur relativ selten der Fall war, daß die 
Erweiterung der Ventrikel in der Regel nur mäßige Grade erreichte, wurde 
oben bereits bemerkt. Mit der Erweiterung der Ventrikel fiel gew'öhnlkh 
auch deren Granulierung zusammen. Hydrocephalus internus, Erweiterung 
der Ventrikel und Ependymkörnung waren überhaupt meist gemeinsam 
vorhanden. Sehr oft fanden sich auch Hydrocephalus externus und öde- 
matöse Entartung der weichen Häute zugleich vor, während sich all¬ 
gemeines Gehirnödem teils für sich, teils mit Hydrocephalus zusammen 
zeigte. 

Von den bei Schädelbrüchen entstandenen Blutungen abgesehen, 
stellten sich Gehirnhämorrhagien teils im Anschluß an schwere Krampf¬ 
anfälle, teils im Anschluß an Schädelkontusionen, teils ohne bekannte 
äußere Veranlassung mehr oder minder spontan infolge von Arterie- 


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Die Sterblickheit, Todesursachen und Sektionsbefunde bei Epileptikern. 857 

sklerose ein. Zwischen kleinsten punktförmigen Blutungen aus Miliar¬ 
aneurysmen und hühnereigroßen hämorrhagischen Herden fanden sich 
alle Übergänge. Meist hatten sie ihren Sitz im Bereiche von Ästen der 
Arteria fossae Sylvii, vorwiegend links, gelegentlich auch in anderen 
Großhirnbezirken. Soweit sie direkt als Todesursache in Anspruch zu 
nehmen waren, wurden sie oben bereits eingehender berücksichtigt. 
Blutungen im Kleinhirn, in Pons und Medulla oblongata werden nicht 
erwähnt, wiederholt dagegen subarachnoideale Blutungen von wechselnder 
Lokalisation und Ausdehnung. 

Enzephalitische Herde waren gleichfalls ein nicht seltener Befund. 
Auch sie hatten ihren Sitz meist in den Stammteilen, zum Teil aber auch 
in anderen Abschnitten des Gehirns. Sehr häufig fanden sie sich im Stirn- 
und Schläfenlappen, nicht allzu selten auch im Kleinhirn. Außer durch 
abgelaufene entzündliche Vorgänge dürften sie teils durch Traumen, 
teils durch Embolien und Thrombosen zustande gekommen sein. Ihre 
Ausdehnung überschritt kaum je die Größe einer Haselnuß. Durch Bildung 
zahlreicher kleiner Erweichungsherde nebeneinander kam zuweilen ein 
Etat cribl6 zustande, durch narbige Umwandlungen entstanden an der 
Gehirnoberfläche oft sogenannte Plaques jaunes. 

Entwicklungshemmungen, Mißbildungen, Rückbildungen, angeborene 
und erworbene Gehirndefekte werden im ganzen 110 mal erwähnt = 20,3 %. 
Es handelte sich in diesen Fällen teils um partielle Hemmungen des Gehirn¬ 
wachstums, teils um Mikrogyrie. um porenzephalische Gehirndefekte 
in der Umgebung der Zentralwindungen, um Atrophien und Sklerosen usw., 
die auf einzelne Abschnitte beschränkt blieben oder ausgedehntere 
Schrumpfungen und Verhärtungen des Gehirns herbeigeführt hatten. 
Scharfe Lokalisation vermißte man in der Regel, und selbst in den wenigen 
Fällen, wo sie für bestehende Hemiplegien und Kontrakturen — solche 
wiesen unter den Verstorbenen 7 männliche und 8 weibliche Kranke auf — 
die anatomische Ursache klarlegten, vermochten sie doch in keinem Falle 
über die sonst noch beobachteten allgemeinen epileptischen Krampf¬ 
anfälle Licht zu verbreiten. 

Die Sinusthrombosen waren stets bei allgemeinen Schwächezuständen 
zur Entwicklung gelangt, die eitrigen Hirnhautentzündungen schlossen 
sich an Thrombophlebitis der Hirnsinus, an vereiterte Hautwunden resp. 
an Gesichtserysipel an. 

Die sonstigen Gehirnbefunde, insbesondere die Arteriosklerose der 
Basisgefäße, wurden oben zum Teil bereits eingehend gewürdigt. Soweit 
die zur Beobachtung gelangten Tumoren noch keine Erwähnung fanden, 
betrafen sie folgende Fälle: einen nach oben stark vaskularisierten, im 
Zentrum erweichten Tumor von graugelatinöscm Aussehen im linken 
Schläfenlappen bei einem 35jährigen Manne; einen weichen, den dritten 
Ventrikel durchsetzenden blutreichen Tumor bei einem 39jährigen Manne; 
einen Solitärtuberkel im rechten Stirnlappen bei einem 50jährigen Manne; 


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858 


Hahn, 


multiple, zum Teil verkalkte Zystizerkenbläschen an der Großhirnrinde 
bei einem 42 und einem 52 Jahre alten Manne; ein Psammogliom in der 
rechten Großhirnhemisphäre bei einer 26 Jahre alten Frau; eine hasel¬ 
nußgroße Zystizerkusblase am verlängerten Mark bei einer 27jährigen 
Frau; eine gummiartig sich anfühlende, derbe, homogen rötlich grau 
gefärbte Geschwulst bei einer 29 Jahre alten Frau, die sich links unter¬ 
halb des Nucleus caudatus und Thalamus opticus in sagittaler Richtung 
bis in den Gyrus occipito-temporalis erstreckte; einen stellenweise von 
Pia überzogenen, aus weißlichen, krümligen, perlmutterglänzenden 
Massen bestehenden Tumor bei einer 58jährigen Frau, der sich durch 
den Schläfenlappen bis in den rechten Ventrikel verfolgen ließ; schließlich 
noch einen Fall von tuberöser Sklerose bei einer 39 V 2 Jahre alten Frau. 
Von etwa vorhanden gewesenem Adenoma sebaceum wird hier im Gegen¬ 
satz zu dem oben bereits erwähnten Falle nichts berichtet; doch ließ 
der im übrigen so charakteristische Befund zahlreicher bohnengroßer, 
derber Geschwülstchen an der Großhirnrinde und am Boden der Seiten¬ 
ventrikel, sowie derber, gelblich gefärbter Tumoren im Herzfleisch des 
linken Ventrikels und in beiden Nieren kaum einen Zweifel an der Diagnose 
zu. In der Umgebung der Geschwülste fand sich das Gewebe bald er¬ 
weicht, bald sklerosiert, bald annähernd normal. 

Wiederholt wird auch von Vergrößerungen der Hypophysis cerebri, 
in einem Falle selbst von „Exulzeration der Glandula pituitaria“ be¬ 
richtet; doch stehen solche Angaben in den Sektionsprotokollen zu ver¬ 
einzelt da, um ihnen größere Bedeutung beimessen zu können. 

Fassen wir die angestellten Erörterungen zum Schluß kurz zu¬ 
sammen, so führten sie in der Hauptsache zu folgenden Er¬ 
gebnissen: 

1. Die Sterblichkeit der Epileptiker übersteigt nicht wesentlich 
die Sterblichkeit in der Gesamtbevölkerung; sie belief sich in der 
hiesigen Anstalt nach dem Jahresdurchschnitt 1891—1911 auf etwa 
3,5% des Krankenbestandes. 

2. Wenn die Lebensgefahr für die Epileptiker an sich auch nicht 
groß ist, so sind sie durch ihr Leiden doch oft Gefahren ausgesetzt, 
in der Außenwelt freilich öfter als in der Anstalt; der Aufenthalt in der 
Anstalt wirkt im allgemeinen schützend und konservierend. 

3. Daß bestimmte Alterstufen lediglich durch das epileptische 
Leiden in stärkerem Maße Lebensbedrohungen ausgesetzt wären, ließ 
sich nicht feststellen; die Gefahren sind für alle Alterstufen annähernd 
gleich. Wie in der Gesamtbevölkerung wächst die Sterblichkeitsziffer 
im allgemeinen mit dem zunehmenden Alter. 

4. Die größten Gefahren drohen dem Epileptiker aus Krampf- 


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Die Sterblichkeit, Todesursachen und Sektionsbefunde bei Epileptikern. 859 

anfällen. Von den hier eingetretenen Todesfällen standen 63,4% in 
Zusammenhang mit epileptischen Zuständen. Außer Status epilepticus 
resp. Coma epilepticum (21,6%) wirkten besonders gefährlich: ein¬ 
tretende Herzstörung (14,4%), sich entwickelnde entzündliche Lungen¬ 
affektionen (11,1%), Unglücksfälle und schwere Verletzungen (7,0%). 
Im übrigen zeigten sich die Epileptiker, wie die obigen Erörterungen 
ergaben, keinen größeren Lebensbedrohungen ausgesetzt, als andere 
„Gehirnkranke“ auch. Speziell die Tuberkulose und akute fieber¬ 
hafte Infektionskrankheiten forderten unter ihnen nicht häufiger 
ihre Opfer wie sonst. Einem schweren Anfalle direkt erlagen 8,5%; 
doch wurden von diesen Fällen nur 4 = 0,7% nicht genügend durch 
die Sektion aufgeklärt; alle übrigen waren durch ein pathologisch¬ 
anatomisch nachweisbares Leiden, bez. durch Asphyxie bedingt. 
Selbstmord ließ sich auch in der Anstalt nicht immer verhüten. 

5. Die Sektionen Epileptischer liefern manche beachtenswerten 
Befunde, aber keine, die auf die Pathogenese und auf den Sitz der 
im Leben hervorgetretenen Krankheiterscheinungen ein Licht zu 
werfen vermöchten. Die Einzelheiten ergeben sich aus den obigen 
Darlegungen selbst. 

Literatur. 

Binswanger, Die Epilepsie. 1899. — Artikel „Epilepsie“ in Eulenburgs 
Realenzyklopädie der ges. Heilk. 3. AufL 
Firi, Die Epilepsie. Ubers, von Ebers. Leipzig 1896. 

Govrers, Epilepsie. 2. Aufl. Deutsch von Weiß. 1902. 

Oppenheim, Lehrbuch der Nervenkrankheiten. 4. Aufl. Berlin 1905. 
Köhler, Die Lebensdauer der Epileptiker. Allg. Ztschr. f. Psych. 1887, 
Bd. 43, S. 431. 

Brehm, Über die Todesfälle und Sektionsbefunde der Zürcherischen 
kantonalen Irrenheilanstalt Burghölzli vom 17. März 1879 
bis 17. März 1896. Ebenda 1898. Bd. 54, S. 373. 

Heimann, Die Todesursachen der Geisteskranken. Ebenda 1900. Bd. 57, 
S. 520. 

Habermaas, Über die Prognose der Epilepsie. Ebenda 1901. Bd. 58, S. 243. 
Ganter, Uber die Beschaffenheit des Schädeldaches und über einige innere 
Degenerationszeichen — Uber die Todesursachen und andere 
pathologisch-anatomische Befunde bei Geisteskranken. Ebenda 
1908 und 1909. Bd. 65, S. 916; Bd. 66, S. 460. 

Fischer, Die chirurgischen Ereignisse in den Anfällen der genuinen Epi¬ 
lepsie. Arch. f. Psych. 1903, Bd. 36. 

Jahresberichte des KönigL Sächs. Landes-Medizinal-Kollegiums 1891 ff. 
Abschnitt „Irrenwesen“. 


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Beitrag zur Frage der Fähigkeit, seinen Aufent¬ 
haltsort seihst zu bestimmen. 

Von 

Oberarzt Dr. Schott, leitendem Arzt der Heil- und Pflegeanstalt Stetten L R. 

Die isolierte Beurteilung der Fähigkeit, den Aufenthaltsort selbst 
zu bestimmen, wird nicht gerade häufig zu den Aufgaben des Irren¬ 
arztes gehören. Wegen der prinzipiellen Bedeutung der im Gesetz 
vertretenen Anschauung ist es berechtigt, einen hierher gehörigen 
Fall aufzuführen. 

Es handelt sich hierbei um den Streit zweier Ortsarmenbehörden, 
betreffend die Ersatzforderung für Verpflegung des N. im Spital zu E. 
für die Zeit vom 27. November bis 6. Dezember 1911. Die in Betracht 
kommende Summe beläuft sich auf 12,60 Mark. N. befand sich vom 
22 . April 1902 bis 17. Juli 1910 in hiesiger Anstalt. Er ist am 10. Oktober 
1893 geboren. Der Vater ist Potator, die Mutter leidet an tertiärer Lues. 
N. zeigte schon in früher Jugend eine geistige Schwäche, welche ihm 
den erfolgreichen Besuch der Volksschule unmöglich machte und die 
Überführung in die Anstalt bedingte. In der Anstaltschule konnten nur 
geringe Fortschritte erzielt werden. Schon frühzeitig traten starke sitt¬ 
liche Mängel störend in Erscheinung und spotteten erzieherischer Beein¬ 
flussung. Sachbeschädigung und Diebstahl kamen des öfteren vor. Auch 
im Praktischen, z. B. in der Korbmacherei, leistete N. fast nichts. In 
seinem Wesen war er heimtückisch und meist unzufrieden, daneben in 
allem flatterhaft und unbeständig, so daß seine Rückkehr in das Leben 
für absehbare Zeit nicht ratsam erschien, zumal im Hinblick auf die un¬ 
günstigen Verhältnisse im Elternhause. Am 16. Juli 1911 entwich X. 
aus der Anstalt, wurde am anderen Tage vom Vater zurückgeführt mit 
der Erklärung, seinen Sohn nunmehr wieder nach Hause zu nehmen. 
In der Folgezeit scheint N. vagabundierend nach E. gekommen und dort 
für einige Tage spitalbedürftig geworden zu sein. 

Auf Ersuchen der Ortsarmenbehörde E. wurde nachfolgendes Gut¬ 
achten hinsichtlich der Anstaltbedürftigkeit des N. ab¬ 
gegeben: 


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Beitrag za der Fähigkeit seinen Aufenthaltsort selbst zu bestimmen. 861 

„P. N., geb. 10. Oktober 1893 zu G., ist vom 22. April 1902 bis 
17. Juli 1910 wegen Schwachsinns mittleren Grades 
hier untergebracht gewesen. N. hat sich in der Anstaltschule nur geringe 
Kenntnisse angeeignet und schon frühzeitig starke sittliche Mängel er* 
kennen lassen. Diese Mängel zu beseitigen, ist der Anstalterziehung nicht 
geglückt. Fälle von Diebstahl und Sachbeschädigung kamen des öfteren 
vor. In seinem Wesen war N. vielfach frech und widersetzlich; Strafen 
waren ohne nachhaltige Wirkung. Später wurde N. in der Korbmacherei 
beschäftigt; dort standen den Leistungen Trägheit und Flatterhaftigkeit 
des N. hemmend im Wege. Am 16. Juli 1910 entwich N. aus der Anstalt. 
Der Vater brachte ihn zurück, kündigte aber gleichzeitig seinen unweiger¬ 
lichen Entschluß an, es mit dem Kranken zu Hause zu versuchen. Dem¬ 
zufolge schied N. ungebessert, gegen ärztlichen Rat, aus der Anstalt aus. 
In der Folgezeit sind mancherlei Klagen, auch vom Vater selbst, über N. 
eingelaufen. Die geistige Schwäche und die sittliche Mangelhaftigkeit 
des N. sind so hochgradig, daß von einer freien Willensbestimmung des 
Kranken keine Rede sein kann. N. wird infolge seiner krankhaften Eigen¬ 
schaften und Mängel nicht in der Lage sein, außerhalb der Anstalt sich 
ohne Störung der Rechtssicherheit und des Gemeinwohls zu halten und 
durchzubringen. 

N. bedarf nach ärztlichem Ermessen bis auf weiteres der Unter¬ 
bringung in einer Anstalt.“ 

Die Ortsarmenbehörde G. weist die Ersatzansprüche der Orts¬ 
armenbehörde E., welche sich darauf stützen, daß N. beim Eintritt der 
Hilfsbedürftigkeit und seit dein Austritt aus der Anstalt in der freien 
Willensbestimmung behindert gewesen sei und daher den Unterstützungs¬ 
wohnsitz in G. nicht habe verlieren können, zurück unter folgender Aus¬ 
führung: Der Einwand, daß N. seit dem Austritt aus der Anstalt in der 
freien Willensbestimmung behindert gewesen sei und er dadurch keinen 
Unterstützungswohnsitz habe erlangen können, wird zurückgewiesen. 
Aus dem ärztlichen Zeugnis geht hervor, daß N. ein sittlich verkommener, 
geistesschwacher Mensch ist. Dr. S. kommt zu dem Schluß, die geistige 
Schwäche und die sittliche Mangelhaftigkeit des N. seien so hochgradig, 
daß von einer freien Willensbestimmung des N. keine Rede sei, und daß 
N. infolge seiner krankhaften Eigenschaften und Mängel nicht in der 
Lage sei, außerhalb der Anstalt sich ohne Störung der Rechtssicherheit 
und des Gemeinwohls zu halten und durchzubringen. 

Demgegenüber ist die Ortsarmenbehörde G. der Ansicht, daß für 
die freie Willensbestimmung die sittliche Verkommenheit des N. gar nicht 
in Betracht kommt, auch nicht, ob er sich mit ehrlichen oder unehrlichen 
Mitteln durch das Leben bringt, sondern einzig und allein die Fähig¬ 
keit, seinen Aufenthaltsort selbst zu bestimmea 
Daß N. diese Fähigkeit besitzt, beweist in erster Linie sein Durchgang 
aus der Anstalt, ferner folgende von der Ortsarmenbehörde G. festgestellten 


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862 


Schott, 


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Tatsachen: Bei seinen Eltern in C. wohnte N. vom 17. Juli 1910 bis 
26. November 1910, von da ab bis 17. Dezember 1910 im Jugendheim 
in C., dann wieder bis 6. Juli 1911 bei seinen Eltern. Am 6. Juli 1911 
ging N. auf die Wanderschaft. Gearbeitet hat N. in dieser Zeit mit kurzen 
Unterbrechungen bei verschiedenen Werkmeistern in C. als Bautaglöhne? 
und verdiente täglich 4—4,20 Mark. Mit einem solchen Verdienst war 
er auch ganz gut in der Lage, sich selbst zu ernähren und für sein Fort¬ 
kommen zu sorgen. 

Aus diesen Tatsachen geht nach Ansicht der Ortsarmenbehörde G. 
deutlich hervor, daß N. trotz seiner geistigen Schwäche seinen Aufenthalt 
mehreremal selbständig gewechselt hat, so daß die freie Selbstbestimmung 
bei der Wahl seines Aufenthaltsorts zur Genüge bewiesen ist. 

Als weiterer Beweis hierfür darf sodann wohl auch noch der Um¬ 
stand anzusehen sein, daß N., so viel bekannt, jetzt noch fortgesetzt aus¬ 
wärts in Arbeit steht und für seinen Lebensunterhalt zu sorgen vermag. 

Unter diesen Umständen konnte die Ortsarmenbehörde G. den An¬ 
spruch der Ortsarmenbehörde E. nicht anerkennen. 

Bevor wir von psychiatrischen Gesichtspunkten die Streitfrage 
beleuchten, ist es unerläßlich, auf die bestehenden gesetzlichen Vor¬ 
schriften und ihre Auslegung hinzuweisen. 

§ 12 des Reichsgesetzes über den Unterstützungswohositz vom 
6 . Juni 1870 in der Fassung vom 12. März 1894 lautet: Wird der Aufenthalt 
unter Umständen begonnen, durch welche die Annahme der freien Selbst¬ 
bestimmung bei der Wahl des Aufenthaltsorts ausgeschlossen wird, so 
beginnt der Lauf der zweijährigen Frist erst mit dem Tage, an welchem 
diese Umstände aufgehört haben. Treten solche Umstände erst nach 
Beginn des Aufenthalts ein, so ruht während ihrer Dauer der Lauf der 
zweijährigen Frist. 

Nach G. Eger 1 hindert der Mangel eines vernünftigen 
Willens unstreitig die freie Selbstbestimmung (ebenso Rocholl * S. 82 
und Arnold * S. 196—198); jedoch könne der Begriff der Willensunfäbig- 
keit nicht streng im Sinne des Privatrechts der einzelnen Bundesstaaten 
aufgefaßt werden. Es komme lediglich auf die Beurteilung des 
konkreten Falles an, ob die Geistestätigkeit derartig 
gestört ist, daß sie einen Mangel der freien Selbstbestim¬ 
mung in sich schließt. Die Feststellung der Geisteskrankheit und des 
Grades der durch sie beeinträchtigten Willensstörung unterliege der 
Kompetenz und freien Beurteilung der armenrecht¬ 
lichen Spruchbehörden. 

So hat sich das Bundesamt lediglich nach Maßgabe der im armen- 
rechtlichen Streitverfahren erfolgten Beweisaufnahme in mehreren 
Fällen dafür ausgesprochen, daß ein die freie Selbstbestimmung aus¬ 
schließender Zustand geistiger Krankheit vorhanden sei. In mehreren 
Fällen ist vom Bundesamt nach Prüfung des konkreten Falles verneint 


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I 



Beitrag zu der Fähigkeit seinen Aufenthaltsort selbst zu bestimmen. 863 


worden, daß aus einem gewissen Zustande geistiger Schwäche der Mangel 
freier Selbstbestimmung bei der Wahl des Aufenthaltsorts zu folgern sei. 
Aus einem, wenn auch großen Grade geistiger Beschränkt* 
heit oder Geistesschwäche könne ebensowenig wie aus nur 
periodischem Auftreten von Irrsinnsanfällen ohne weiteres der 
Einwand hergeleitet werden, daß die betreffende Person der freien Selbst* 
bestimmung und damit der Fähigkeit, selbständig einen Unterstützungs- 
wohnsitz zu erwerben, entbehrt habe. 

Auch daraus, daß jemand an Wahnvorstellungen und 
an Melancholie gelitten habe, sei nicht ohne weiteres zu folgern, 
daß er der freien Selbstbestimmung bei der Wahl des Aufenthaltsorts 
beraubt gewesen sei (4, 5, 7, 8, 9 u. 10). Die Geisteskrankeit muß also 
so beschaffen sein, daß der Kranke der Fähigkeit, seinen Aufenthaltsort 
nach freier Selbstbestimmung zu wählen, tatsächlich beraubt 
ist (4, 7 u. 8). 

Die zur Entscheidung einer Armenstreitsache berufenen Spruch¬ 
behörden haben die Frage, ob in dem vorliegenden Falle die freie Selbst¬ 
bestimmung in der erwähnten Richtung ausgeschlossen war, selbständiger 
Prüfung zu unterziehen, bei der sie nach Scharpff 4 an den Ausspruch 
der Sachverständigen oder Zeugen usw. nicht unbedingt ge¬ 
bunden sind (4, 7 u. 9). 

Auch kommt für sich allein nicht in Betracht, ob eine Person wegen 
Geisteskrankheit oder Geistesschwäche entmündigt ist (4, 8 u. 10); 
doch hat nach Scharpff 4 andererseits die wirtschaftliche Selbständigkeit 
einer Person nicht notwendig zur Folge, daß freie Selbstbestimmung 
anzuerkennen ist, z. B. bei einem beurlaubten Geisteskranken (11). 

Aus dem Auf geführten ergibt sich ohne weiteres, daß die Fähig¬ 
keit der freien Selbstbestimmung des Aufenthaltsortes im Gesetz 
als ein besonderes geistiges Vermögen angesehen wird und* nach der 
bestehenden rechtlichen Handhabung auch von seiten des Sach¬ 
verständigen entsprechend beurteilt werden muß. Weder irgend 
eine Form der Geisteskrankheit oder der geistigen Schwäche noch die 
Tatsache der Pflegschaft oder Entmündigung, endlich auch nicht 
der Begriff der Anstaltbedürftigkeit genügen an sich zur Bejahung 
oder Verneinung der hier in Betracht kommenden Frage. Daß eine 
so isoliert hervorgehobene geistige Fähigkeit ausschließlicher Begut¬ 
achtung unterzogen wird, entspricht nicht den Grundsätzen irren- 
ärztlicher Beurteilung. Die im Gesetz und seinen Auslegungen sowie 
Ausführungsbestimmungen enthaltenen Ansichten werden vielfach 
der psychiatrischen Auffassung zuwiderlaufen. Es wäre deshalb von 
Wert, wenn noch ähnliche Gutachtenfälle zur Veröffentlichung kämen, 

Zeitiohrlft für Psychiatrie. LXIX. 6. ßß 


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864 


Schott, 


um durch eine Zusammenstellung der veröffentlichten Fälle eine 
gewisse Richtlinie für den irrenärztlichen Gutachter zu schaffen. Da 
die armenrechtlichen Behörden vollkommen frei in ihren Ent- 
Schließungen sind, so werden vermutlich überhaupt nicht viele Fälle 
der irrenärztlichen Begutachtung unterstanden haben. Der vor¬ 
liegende Fall lehrt außerdem, daß die das Gutachten einverlangende 
Behörde sich möglichst präzise darüber ausdrücken muß, was begut¬ 
achtet werden soll; ferner ist es durchaus notwendig, daß dem Gut¬ 
achter gleichzeitig Hinweise auf die in Betracht kommenden Gesetzes¬ 
paragraphen sowie ihre Auslegung und Ausführungsbestimmungen 
an die Hand gegeben werden. Die Befolgung dieses Grundsatzes 
wird mancherlei Mißverständnissen Vorbeugen und beiden Teilen 
die Arbeit erleichtern. In unserem Falle wäre die zutreffende Stellung¬ 
nahme dann sofort gesichert gewesen. 

Eine weitere Verfolgung der Rechtsangelegenheit von seiten der 
Ortsarmenbehörde E. wurde unterlassen, nachdem Verf. unter Zugrunde¬ 
legung der Erhebungen durch die Ortsarmenbehörde G. und gestützt 
auf die Gesetzesbestimmungen folgende gutachtliche Äußerung abgegeben 
hatte: „Nach Einsichtnahme des Standpunktes der Ortsarmenbehörde G. 
und nach Studium von Scharpff und Eger hält der Unterzeichnete zwar 
noch N. für anstaltbedürftig, vermag aber nicht — unter Voraussetzung 
der Richtigkeit der gemachten Erhebungen — die Fähigkeit des N., seinen 
Aufenthaltsort selbst zu bestimmen (im Sinne des Unterst. -Wohns. -Ges), 
zu bestreiten." 


Literatur. 

1. Dr. jur. G. Eger, Das Reichsgesetz über den Unterstützungswohnsitz usw. 

Breslau, J. U. Kerns Verlag. 

2. C. Rocholl, System des deutschen Armenpflegerechts. Berlin 1873. 

3. Arnold -Berlin, Kommentare z. Unterst.-Wohns.-Ges. 1872. 

4. Entscheidungen des Bundesamtes für das Heimatwesen. H. III, 35 

— VI, 4 — VII, 6 — VIII, 19 — VIII, 22 — XIII, 8 u. 10 — 
XV, 3 — XVI, 8 — XIX, 13 — XXII, 5 — XXIII, 11 u. 13 - 
XXV, 2, 4 u. 7 — XXXVI, 11. 

5. Bad. Verwaltungsgerichtshof vom 2. Mai 1876 in Ztschr. f. Bad. Verw. 

1876, S. 220. 

6. R. Scharpff, Handbuch des Armenrechts. II. AufL Stuttgart 1909. 

7. Württemb. Archiv für Recht und Rechtsverwaltung. Stuttgart 1858/81. 

Bd. 20, 242 — Bd. 22, 165 — Bd. 20, 207 — Bd. 19, 389. 

8. Entscheidungen der Gerichte und Verwaltungsbehörden, herausgegeben 

von Jfoger-München. Beck. I, 254 — II, 136 — XIII, 89. 


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Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Beitrag za der Fähigkeit seinen Aufenthaltsort selbst zu bestimmen. 865 


9. Württemb. Verwaltungsgerichtshof — 30. November 1878 — 10. Juli 

1878. 

10. Wielandt, Rechtspflege des Bad. Verwaltungsgerichtshofes 1864 bis 

1890. 

11 . Sächs. Oberverwaltungsgerichtshof I, 146. 

12. Seydel, Das Reichsarmenrecht in den Annalen 1877. 

13. Roscher, System der Armenpolitik. 1894. 

14. Arnoldt, Freizügigkeit und Unterstützungswohnsitz. Berlin 1892. 


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Eine Hysterie-Analyse und ihre Lehren. 1 ) 

Von 

Oberarzt Dr. Bruno Sanier. 

Die Analyse, die ich mitteilen will, macht weder Anspruch darauf, 
als „Psychoanalyse“ zu gelten, noch will sie es sein. Es hatte anfangs 
nicht einmal die Absicht bestanden, eine Analysierung der Erkrankung 
im Freudsehen Sinne vorzunehmen. Erst nachdem durch die Auf¬ 
dringlichkeit und Durchsichtigkeit gewisser Symptome der Verdacht 
einer sexuellen Grundlage wachgerufen war, und nachdem die Krankt 
die auf Grund Freudseher Theorien gemachten Schlußfolgerungen 
als mit den Tatsachen übereinstimmend bezeichnet hatte, sah ich mich 
veranlaßt, die vita sexualis der Kranken und ihre Beziehungen zur 
Neurose näher ins Auge zu fassen. Die Freudsehe Methodik, die durch 
ihre Willkür in der Einschätzung von „Widerständen“ wohl mit am 
meisten zur Diskreditierung der Lehre beigetragen hat (Isserlin 
bezeichnet die Methodik als eine völlige Verkehrung aller wissen¬ 
schaftlichen Maximen), kam dabei nicht in Anwendung. Auch wider¬ 
stand ich, wie ich glaube, erfolgreich der Versuchung, eine Inter¬ 
pretation anzunehmen, deren Richtigkeit nicht über jeden Zweifel 
erhaben war. Das Resultat, zu dem ich gelangt bin, wird daher wohl 
den Psychoanalytiker nicht zufriedenstellen. Daran liegt mir nichts: 
wohl aber daran, zu zeigen, daß zum Verständnis gewisser hysterischer 
Erkrankungen die Freudsehe Lehre in der Tat unentbehrlich ist. 
Für diesen Zweck ist der vorliegende Fall aus dem Grunde außerordent¬ 
lich geeignet, weil die kindliche Psyche der Patientin, die trotz ihrer 
20 Jahre intellektuell das Bild eines geistig geweckten 10—12jährigen 

*) Aus dem Sanatorium „Fichtenhof“ in Schlachtensee. Leitender 
Arzt: Prof. Dr. Boedeker. 

*) Isserlin, Die psycho-analytische Methode Freuds. Ztschr. f. d. 
ges. NeuroL u. Psychiatrie Bd. 1, H. 1. 


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Kindes repräsentierte, mit denkbar einfachen Mitteln arbeitete. Ich 
gehe wohl nicht zu weit, wenn ich behaupte, daß es unmöglich war, 
den Fall zu beobachten und dabei die Tätigkeit FrmZscher Mechanismen 
zu übersehen. So gelang es denn auch ohne Schwierigkeit, zu den 
biologischen Wurzeln der Neurose vorzudringen, die mit einer — wie 
ich glaube — seltenen Klarheit enthüllt werden. 

Es sei mir gestattet, die wichtigsten Punkte, die aus der Beob¬ 
achtung des Falles resultieren, der Mitteilung der Krankengeschichte 
vorauszuschicken: 

1. Die Neurose ist die Folge des Versuchs, eine sexuelle Per¬ 
version zugunsten normaler sexueller Betätigung aufzugeben. 

2. Die Neurose ist das Negativ der Perversion: 

a) Der an die verdrängte sexuelle Begehrungsvorstellung ge¬ 
knüpfte Affekt wird in das Gegenteil verwandelt (Angst statt Lust), 
während die verdrängte Vorstellung selbst unter Zuhilfenahme der 
Symbolik in einen anderen Vorstellungskomplex konvertiert wird 
(Entstehung der Angstvorstellung). 

b) Die körperlichen Symptome sind in der Hauptsache die Folge 
von Innervationen, die sich antagonistisch verhalten zu denen, die 
eine Rolle gespielt hätten, wenn die sexuelle Begehrungsvorstellung 
nicht verdrängt worden wäre (z. B. Erhöhung eines physiologischen 
Spasmus anstatt Lösung desselben). 

3. Die Analyse liefert den Beweis für die Existenz einer infantilen 
Sexualität, auf deren Boden die Perversion des Geschlechtstriebes 
entsteht („Pervers sein heißt nicht pervers geworden, sondern pervers 
geblieben“). 

4. Sie macht wahrscheinlich, daß die infantile Sexualität der 
männlichen Komponente der bisexuellen Anlage des Menschen ent¬ 
spricht. 

5. Charakteristische Sensibilitätstörungen rechtfertigen den 
Schluß, daß Sexualzentren im Gehirn tatsächlich existieren, und deuten 
auf die Möglichkeit hin, daß beim Weibe ein mit vorwiegend männ¬ 
lichen Sexualeigenschaften ausgestattetes Zentrum auf der rechten 
und eines mit vorwiegend weiblichen auf der linken Hirnhemisphäre 
angelegt ist. Das linke gelangte hiernach normalerweise erst in der 
Pubertät zur vollen Entwicklung, löste das rechte gewissermaßen ab, 
welches dann andere Funktionen erhielte. 


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6. Die IfrankengeBchichte stützt die Fließschen Lehren von 
der 28 und 23 tägigen Periodizität des biologischen Geschehens, in¬ 
dem sie es wahrscheinlich macht, daß die Tätigkeit der Sexualzentren 
der genannten Periodizität untertan ist. 

7. Sie bringt den Nachweis für die Richtigkeit der FUeßs ch€a 
Theorie von dem Zusammenhang von Nase und Geschlechtsorgan. 

Am 6. Dezember 1911 wurde die 20 Jahre alte, den wohlhabenden 
Ständen angehörende, verehelichte Maria B. in die Anstalt aufgenommen. 
Über die Vorgeschichte machte der sie begleitende Hausarzt fol¬ 
gende Angaben: 

Referent kennt die Patientin erst, seitdem sie in A. wohnt, d. h. 
seit etwa 2 y 2 Monaten. Eltern beide nervös. Sie verheiratete sich zu 
dieser Zeit mit dem Gutsbesitzer in A., mit dem Ref. persönlich gut be¬ 
kannt ist. Im Frühjahr 1909 soll Pat. von einer Leiter gestürzt sein und 
sich dabei eine Verletzung im Unterleib zugezogen haben. Sie blieb einige 
Monate zu Hause, soll Fieber gehabt haben, wurde dann im Spätsommer 
1909 auf y 4 Jahr nach einem Badeort geschickt, war vermutlich schon 
damals hochgradig nervös. Nach y 4 Jahr wurde sie aus dem Pensionat 
dort als angeblich geheilt entlassen. Die Beschwerden fingen jedoch zu 
Hause gleich wieder an, bestanden hauptsächlich aus Schmerzen im Unter¬ 
leib. Sie machte gleichwohl in Leipzig sehr viel Vergnügungen mit, tanzte 
usw. Die Menstruation war seitdem unregelmäßig, blieb mitunter monate¬ 
lang ganz aus. Nach der Verheiratung ging es der Patientin zunächst 
ganz gut. Vor etwa 14 Tagen war sie mit ihrem Gatten beim Referenten 
zu Tisch, saß neben dem Referenten, wurde während des Essens blaß, 
stocherte im Essen herum, klagte über Schmerzen im Unterleib, be¬ 
ruhigte sich aber nach entsprechendem Zuspruch usw. Ein paar Tage 
darauf klagte sie abermals über Schmerzen. Die Untersuchung durch 
den Ref. und durch einen Frauenarzt ergab lediglich eine Retroflexi» 
und leichte narbige Verdickung im linken Parametrium. Nachdem der 
Patientin eröffnet worden war, daß nichts besonderes zu finden 
sei, traten die ersten schweren hysterischen Anfälle auf. Diese charakteri¬ 
sierten sich dadurch, daß die Kranke offensichtlich ängstlich wurde, 
umhertobte und heulte, sich herumwarf, gelegentlich sich aus dem Fenster 
stürzen zu wollen schien, den sie verfolgenden Arzt (siehe unten) sah. 
angeblich auch sprechen hörte. Sie war Suggestion insofern zugänglich, 
als sie ausfahrende Bewegungen in den Extremitäten machte, als man 
in der Umgebung das Bevorstehen derartiger Bewegungen besprach. 
Pat. wurde auch, abgesehen von diesen Anfällen, unruhig, war absolut 
schlaflos trotz Brom (6 gr. pro die), Veronal, Bromidia usw. Vor Jahren 
war Patientin mit einem älteren Mediziner verlobt. Die Verlobung ging 
auf ihren Anlaß zurück, vermutlich weil ihr Bräutigam kein Staatsexamen 
machte. Letzterer soll ihr dann (angeblich schriftlich) mitgeteilt haben. 


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er werde, falls sie sich mit einem anderen verheirate, sie erst eine Zeitlang 
in Ruhe lassen, dann aber beide umbringen. Dieser frühere Bräutigam 
spielt in den Anfällen, wie es scheint, die einzige Rolle. Sie quälte den 
Ref. mit diesen Vorstellungen derartig, daß diesem nichts übrig blieb 
als sie zu versichern, sein Assistent sei nach Leipzig gereist, um jenen 
unschädlich zu machen. Wesentlich geholfen hat diese Versicherung 
bisher nicht; die Pat. wurde vielmehr von Tag zu Tag schlechter. Die 
Ehe war im übrigen glücklich. Andere ursächliche Momente sollen fehlen. 
Pat. leidet seit 1909 an hartnäckiger Stuhlverstopfung, gegen die nur 
Eingießungen halfen, die zuletzt täglich gemacht wurdeD. 

Die Eltern der Pat. leben in Leipzig, sollen beide nervös sein. Sie 
erzogen ihre Tochter ganz als modernes Kind, d. h. sie machte sehr viel 
Vergnügungen usw. mit. Soll sich übrigens bereits hinter dem Rücken 
der Mutter Veronal verschafft haben. 

Bei der Aufnahme ängstlich erregt, weint und schreit laut, er¬ 
hält subkutan Morfin-Hyoscin. 

7. XII. Status praesens: 

Die Kranke ist eine kindlich aussehende kleine Frau von grazilem 
Körperbau, blassem Aussehen, in reduziertem Ernährungszustand. Die 
Wangen sind eingefallen. Der Gesamteindruck ist der einer schwer Leiden¬ 
den. Das Körpergewicht beträgt 95 Pfund. 

Der Kopf ist dem kindlichen Habitus entsprechend sehr klein, der 
Gaumen ist schmal und steil, der Oberkiefer leicht prognat. Die Ohr¬ 
läppchen sind angewachsen. 

Herz und Lungen o. B. 

Der Leib ist überall etwas druckempfindlich. Im linken Hypo¬ 
gastrium wird Druck sehr schmerzhaft empfunden. 

Der Urin ist frei von Eiweiß und Zucker. 

Die Pupillen sind ungleich (Pat. gibt an, daß die Weite der Pupillen 
häufig wechselt). Licht und Konvergenz-Reaktion prompt. 

Kniesehnen- und Achillessehnenreflexe gesteigert. 

Patellar- und Fußklonus ist beiderseits leicht auszulösen. 

Die Haut- und Schleimhautreflexe fehlen völlig. Die Sensibilität 
und Schmerzempfindung ist am ganzen Körper erloschen bis auf die 
Nasenschleimhaut, die normal empfindlich ist. Auch der Temperatursinn 
ist erheblich gestört, während der faradische Strom überall normale 
Reaktion auslöst. 

Gehen und Stehen ist ganz unmöglich (Astasie, Abasie). 

Die Blase funktioniert mangelhaft. 

Pat. hustet fortwährend, obwohl keinerlei katarrhalische Er¬ 
scheinungen nachweisbar sind. Beim Entblößen der Beine steigert sich 
der Husten zu einem förmlich beängstigenden AnfalL 

Sie ist orientiert und besonnen und antwortet auf Fragen geordnet. 
Sie gibt an, vor drei Jahren einmal einen ähnlichen Husten gehabt zu 


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haben wie jetzt. (Wiederholt darüber befragt sagt sie, sie wisse nicht 
mehr genau, wann es gewesen sei; schließlich will sie sich genau darau 
besinnen, daß es vor 2 J ähren war. Sie habe sich sogar deswegen in ärzt- 
’ liehe Behandlung begeben; der Arzt habe eine Erkältung festgestellt 

Ihre jetzige Erkrankung datiert von dem Tage nach der Hochzen 
Sie befand sich auf der Hochzeitreise in München und mußte wegen starker 
Schmerzen auf der linken Seite des Leibes 10 Tage zu Bett bleiben. Weges 
der Blasenlähmung, die sich gleichzeitig einstellte, ist sie mehrf« 
katheterisiert worden. Zu Hause, wohin sie, ohne die Hochzeitreise fort 
zusetzen, von München aus zurückkehrte, ging es zunächst besser, «iie 
Leibschmerzen verloren sich (bis zu einem bestimmten Grade bestanden 
sie allerdings dauernd). Katheterismus war nicht mehr nötig. Dann kämet 
die Schmerzen wieder, waren zunächst mehr oder weniger stark und 
steigerten sich am 21. November auf der Gesellschaft bei dem Hausant 
plötzlich enorm. Im übrigen weichen ihre Angaben nicht von denen des 
Hausarztes ab. 

Die Ursache ihres Leidens sieht Pat. in einem Unfall, den sie im 
Mai 1909 erlitten hat. Sie stürzte damals infolge eines Schwindelanfall' 
von einer Leiter, die sie bis zu etwa 1 m Höhe vom Fußboden bestiegen 
hatte, herab und erhielt beim Fallen einen Stoß gegen ihren Leib. Im 
Anschluß daran stellten sich Fieber und heftige Schmerzen auf der linken 
Seite des Unterleibes ein. Die ärztliche Untersuchung ergab das Bestehen 
einer Entzündung im linken Beckenbindegewebe. Die Behandlung und 
auch eine daran angeschlossene Badekur konnten indessen die Schmerzen, 
an denen sie seitdem dauernd leiden will, nicht völlig beseitigen. Immerhin 
haben dieselben sie nicht gehindert, ihre Jugend zu genießen, sie machte 
alle Vergnügungen mit, die sich ihr in großer Zahl boten und hat, wie 
voll Stolz erzählt, mindestens 2—3 mal wöchentlich getanzt. 

8 . XII. Nachts schwerer ängstlicher Erregungszustand. Sie halt 
laut heulend die Hände vor das Gesicht, und ab und zu sieht sie mit allen 
Zeichen des Entsetzens unter den Händen hervor, um mit gellem Auf¬ 
schrei die Augen aufs neue zu bedecken. Dabei wirft sie sich wie im Orgas¬ 
mus im Bett herum, öffnet immer wieder krampfartig den Mund und 
lutscht gierig mit der Zunge an den Lippen. 

Trotz Morfm-Hyosdn-Injektion wenig Schlaf. Sie jammert di? 
ganze Nacht hindurch, wenn auch weniger laut. 

Nach der Ursache der nächtlichen Erregung befragt, gibt sie an. 
wieder ihren früheren Bräutigam unmittelbar vor sich gesehen zu haben, 
der sie mit einer Pistole bedrohte. Sie will schon des öfteren bemerkt 
haben, daß^sich ihr Mund während der Anfälle ohne ihr Zutun ganz von 
selbst öffnet. 

Nach dem Frühstück Erbrechen. Besserung des Befindens im Laufe 
des Tages. Gehversuche mit leidlichem Erfolg. Darauf Weinanfall wegen 
„Quälens seitens des Arztes“. Bald wieder heiter. 


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9. XII. Gut geschlafen, heiter, freundlich, zuversichtlich. Geh¬ 
versuche mit gutem Erfolg. 

10. XII. Ausgelassen heiter. Abends am ganzen Körper nur noch 
Hypalgesie nachweisbar. Sie empfindet überall „Kribbeln“. 

11 . XII. Nachts starkes „Kribbeln“. Heute ist die Schmerz¬ 
empfindung überall normal. Die Oberflächenreflexe sind sämtlich, wenn 
auch schwach, auslösbar. 

Sie habe keine Spur von Angst mehr. Schiebt die Besserung in 
ihrem Befinden auf einen Brief ihres Mannes, in dem dieser schreibt, er 
habe bestimmte Nachricht, daß sich der frühere Bräutigam jetzt in Königs¬ 
berg aufhalte, also sehr weit weg sei. Dadurch sei sie von ihrer Angst 
befreit. Es fehle ihr jetzt nichts mehr. 

Die Erklärung von der Wirkung des Briefes ihres Mannes erschien 
von vornherein wenig glaubhaft. Vor allem sprach dagegen, daß die ihr 
früher bereits gegebene Versicherung, der Mann, von dem sie sich bedroht 
fühle, sei verreist, verschollen, unschädlich gemacht, nicht das geringste 
geholfen hatte. Ferner hatte die Besserung bereits eingesetzt, bevor der 
Brief eingetroffen war. 

Die Erkrankung, wie sie sich bisher dokumentierte, ist nun mittels 
Freudscher Hypothesen unschwer zu deuten. Rief schon der Husten, 
der sich bei Entblößung der Beine enorm steigerte und dadurch seine 
Beziehung zur Sexualität verriet, die Erinnerung an die von Freud im 
„Bruchstück einer Hysterieanalyse“ gegebene Deutung wach, so wurde 
man zu der Annahme einer sexuellen Grundlage der Krankheit förmlich 
gedrängt durch den ausgesprochen sexuellen Charakter des Angstanfalls, 
der durch das gleichzeitig wahrnehmbare gierige Lutschen an den Lippen 
noch eine besondere Nuance erhielt. Die Freudsche Deutung des Falles 
w’ürde nun so ausfallen müssen: Die Kranke hat Angst, weil sie irgend 
einen sexuellen Wunsch verdrängt hat. Der Reizhusten, sowie das 
gierige Lutschen an den Lippen weist auf den Mund als die in Betracht 
kommende erogene Zone hin. Das Gefühl des Bedrohtseins mit der Pistole 
ist ein Erklärungsversuch, den d 5 e Kranke macht, um den wahren Grund 
der Angst zu cachieren. In der Tat hat der Bräutigam ihr ja einmal brieflich 
gedroht, sie zu erschießen. Es wird also der Affekt auf eine Vorstellung 
übertragen, mit der er ursprünglich nichts zu tun hat. Denn in Wahrheit 
ist die Pistole nur das Symbol für das männliche Glied, und die Furcht 
vor der Pistole des Bräutigams entspricht dem verdrängten Verlangen 
nach einem geschlechtlichen Verkehr mit ihm und zwar mittels Betätigung 
der Mundzone, also nach einem coitus per os. 

Ich habe nun, nachdem ich die Möglichkeit eines solchen Zusammen¬ 
hanges immerhin nicht von der Hand weisen konnte, die Kranke am 
11. XII. gefragt, welcher Art ihre Beziehungen zu ihrem früheren Bräutigam 
gewesen seien. Sie antwortete nach einigem Zögern, und nachdem ich ihr 
das Versprechen gegeben hatte, daß alles geheim bliebe, es hätten gegen- 


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seitige Berührungen stattgefunden, häufig habe sie auch das Glied des 
Mannes in den Mund genommen. Schließlich gab sie zu, daß es stets tu 
einem regelrechten coitus per os gekommen sei. Normaler Geschlechts¬ 
verkehr habe nicht stattgefunden. Als sie ihren jetzigen Mann kennen 
lernte, habe sie das Vorgefallene vergessen wollen. 

„Tatsächlich habe ich auch nie wieder daran gedacht. Ich bin über¬ 
haupt ganz anders geworden, als ich meinen Mann kennen lernte, bit 
nicht mehr ausgegangen und war ganz solide.“ 

Im Januar dieses Jahres habe sie begonnen, mit ihrem jetzigen 
Manne, damaligen Verlobten, in der gleichen Weise geschlechtlich za 
verkehren wie vorher mit dem früheren Bräutigam. Der erste normale 
Geschlechtsverkehr habe erst nach der Verheiratung stattgefundea 

Nachdem das Befragen der Pat. einen Tatbestand ergeben hatte, 
der mit dem vorher erschlossenen leicht in Einklang zu bringen war, hatte 
ich keinen Grund mehr daran zu zweifeln, daß die Erkrankung, die ja 
unmittelbar nach dem ersten normalen Geschlechtsverkehr einsetzte, 
als die Folge des Versuchs anzusehen ist, eine sexuelle Perversion zu¬ 
gunsten normaler sexueller Betätigung aufzugebea 

Am Abend des 11. XII. gab ich der Pat. die entsprechende Auf¬ 
klärung. Ich sagte ihr, der Angstanfall sei nichts anderes als das Verlangen 
nach sexueller Befriedigung durch einen Verkehr, wie sie ihn mit dem 
früheren Bräutigam auszuüben gewohnt war. Dieses Verlangen äußeit 
sich als Angst, weil es ihrem bewußten Ich unannehmbar erscheine und 
deshalb dauernd unterdrückt werde. Die Trockenheit des Mundes und 
des Rachens, der daraus resultierende Reizhusten und das unwillkürliche, 
gierige Lutschen an den Lippen seien Symptome, die ihre Entstehung 
dem Umstande verdankten, daß der Wunsch nach einem Lustgewinn 
durch Betätigung der Mundzone verdrängt und in das Gegenteil ver¬ 
kehrt sei. Da der Mund neben dem Zweck, sexuelle Lustgefühle zu er 
zeugen, ja vor allem auch der Nahrungsaufnahme diene, so teile sich die 
Unlust auch allen mit dieser in Beziehung stehenden Funktionen mit 
Die Folge davon seien Eßunlust, Übelkeit, Erbrechen. 

Ich sei ferner der Ansicht, daß sie einerseits den normalen Verkehr 
wünsche, schon deshalb, weil sie sich als Frau dazu verpflichtet fühle, 
andererseits aber von ihm nicht voll befriedigt werde und aus diesem 
Grunde die frühere Art der sexuellen Betätigung nicht aufgeben könne. 
Der infolgedessen immer wieder auftretende Wunsch nach Befriedigung 
mittels des Mundes werde aber in der Verdrängung gehalten, da sie von 
ihm nichts wissen wolle. So sei sie nun außerstande, überhaupt zu ge¬ 
schlechtlicher Befriedigung zu gelangen; es sei ein Konflikt zweier diametral 
entgegengesetzter, um die Vorherrschaft ringender sexueller Wünsche 
entstanden; die Krankheit sei die Folge ihrer Unfähigkeit, den Konflikt 
anders zu lösen. 


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Die Erklärungen mußten auf die Pat. einen starken Eindruck ge¬ 
macht haben. Sie widersprach nicht und schien sehr erregt zu sein. Dann 
wurde sie unruhig, rieb die Oberschenkel aneinander und bat mit Hinblick 
auf ihre sexuelle Erregung, ohne Aufsicht schlafen zu dürfen, da sie sich 
geniere. Kurz darauf ging sie völlig sicher, ohne jede Unterstützung, über 
den Korridor, wozu sie vorher noch völlig außerstande war. 

Abends ließ sie mich nochmals kommen, um mir spontan zu sagen, 
daß der Husten, den sie vor zwei Jahren gehabt habe, in Abwesenheit 
ihres damaligen Bräutigams aufgetreten sei. In dieser Zeit habe sie mit 
einem anderen Manne in Beziehungen gestanden, die aber durchaus harm¬ 
loser Natur gewesen seien (dies ist nicht die volle Wahrheit, wie sich später 
herausstellte; siehe S. 888). 

12 . XII. Die Nacht verlief ruhig. Angeblich hat sie nur wenig 
geschlafen und ist im Zimmer wegen „Prickelns“ in der Haut umher¬ 
gegangen. Heute früh ist ihr übel (wie bisher an jedem Morgen). Sie 
gibt an, es sei unzutreffend, daß der normale Geschlechtsverkehr sie nicht 
befriedige, sie habe zu Hause mit ihrem Manne allerdings meist per os 
verkehrt, aber auch in normaler Weise und sei davon voll befriedigt worden 
(die letzte Behauptung wird später widerrufen). 

Klagt heute über ein eigenartiges Ziehen im Unterleib, das angeblich 
schon seit ihrer Aufnahme besteht, von dem sie aber heute zum erstenmal 
spricht (die letzte Menstruation war am 8. XI). Sie sei vor einiger Zeit 
von einem Frauenarzt untersucht worden, der ihr gesagt habe, daß sie 
nicht schwanger werden könne, bevor sie nicht operiert werde; die Gebär¬ 
mutter stehe umgekehrt. Sie müsse immer daran denken, denn sie möchte 
doch so gerne Kinder bekommen. Ich erwiderte ihr etwa Folgendes: 

„Bevor Sie das Ziehen im Leib verspürten, hielten Sie sich für 
gesund. In der Tat waren die Leibschmerzen geschwunden, die Blasen¬ 
funktion war geregelt, das Geh - und Stehvermögen, die Schmerzempfindung 
wieder da. Wir müssen nun zunächst untersuchen, wie sich das alles so 
schnell gebessert hat. Ich habe schon gesagt, daß die Krankheit ent¬ 
standen ist infolge des Versuches, die Ihnen bekannte sexuelle Perversion 
zugunsten normaler sexueller Betätigung aufzugeben. Sie merkten nun 
aber in der Hochzeitnacht, daß Sie der normale Verkehr keineswegs 
befriedige, und kamen daher in Versuchung, wieder dem Wunsche nach 
munderotischem Verkehr (nennen wir ihn mal so) nachzugeben. Sie 
unterdrückten dieses Verlangen aber wieder, noch bevor es Ihnen recht 
zum Bewußtsein kam, da Sie von dieser Art der Betätigung ja nichts mehr 
wissen wollten. Am nächsten Tage hatten Sie Leibschmerzen und konnten 
nicht Urin lassen *). Später verschwanden diese Symptome wieder, offen¬ 
bar, weil Sie sich inzwischen wieder munderotisch betätigten. Sie hatten 
jetzt wahrscheinlich doch bemerkt, daß die krankhaften Erscheinungen 

*) Über die Entstehung dieser Symptome siehe S. 895 und 898. 


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mit der mangelhaften Befriedigung durch den normalen Verkehr in gewisses 
Beziehungen stehen. Sie sagten sich nun: wenn ich bereits schwanger 
wäre, hätte ich meine Pflicht meinem Manne gegenüber erfüllt, und auch 
mein Wunsch, ein Kind zu bekommen, wäre realisiert. Damit fiele aber 
auch die weitere Verpflichtung zu dem unbefriedigenden normalen Ver¬ 
kehr. Sie suchten nun eine gynäkologische Untersuchung durch Ihren 
Hausarzt unter Hinweis auf Ihre Schmerzen im Unterleib herbeizuführeu. 
die er ja auf der Gesellschaft in seinem Hause selbst hatte beobachten 
können. Sie erhofften damals von dieser Untersuchung, wie gesagt, die 
Verpflichtung zu normalem Verkehr loszuwerden und zwar 

1. weil im Falle des Bestehens einer Schwangerschaft Sie Ihrt 
ehelichen Pflichten erfüllt zu haben glaubten, 

2 . weil, im Falle eine Schwangerschaft nicht festgestellt werden 
könnte, sich doch vielleicht eine ernst zu nehmende Erkrankung 
der Unterleibsorgane finden würde, die ein Verbot des vaginalen 
Verkehrs rechtfertigte. 

Auf eine von beiden Eventualitäten glaubten Sie die Sch menen, 
die Sie ja tatsächlich empfanden, beziehen zu müssen. Als die Unter- 
suchung durch Ihren Hausarzt und den von ihm zugezogenen Frauenant 
aber „nichts Besonderes“ (siehe Anamnese) ergab, also erstens kein- 
Schwangerschaft, zweitens keine nennenswerte Erkrankung der Unter¬ 
leibsorgane, sahen Sie sich in Ihren Hoffnungen getäuscht. Von neues 
standen Sie der Verpflichtung zu normalem Verkehr, zum Verzicht aut 
volle sexuelle Befriedigung, die ja nur der perverse bringen konnte, gegen¬ 
über. Diesen erneuten Verzicht, die erneute Fixierung Ihrer sexuellen 
Triebe im Unbewußten, beantwortete Ihr Körper mit dem Ausbruch der 
Erkrankung in ihrer ganzen Schwere. Sie ersehen aus alledem, daß die 
Neurose gewissermaßen eine vorläufige Lösung des Konflikts bedeutete 
Wenn Sie jetzt plötzlich wieder gesund geworden sind, so kann man skii 
das nicht anders erklären, als daß Sie den verdrängten Wunsch na<h 
munderotischem Verkehr wieder aufgenommen haben. Ist das aber der 
Fall, so muß sich für die Lösung des Konflikts eine Möglichkeit ergeben 
haben, die vorher nicht bestand. Wie diese zustande gekommen ist, kann 
ich zunächst noch nicht sagen (siehe hierüber S. 876). Jedenfalls fiel der 
Widerstand, der dem Eintritt des Verlangens nach munderotischer Be¬ 
tätigung aus dem Unbewußten in das Bewußtsein entgegenstand, und 
es schwand die Neurose mit allen ihren Symptomen. Sie verspüren heule 
wieder ein Ziehen im Leibe, welches zweifellos darauf zurückzuführen ist 
daß der Konflikt der Sexualitäten von neuem begonnen hat. Wenn Sk 
sich in diesem Augenblick ganz besonders mit der Frage beschäftigt 
ob Sie überhaupt Kinder bekommen können, so tun Sie das offenbar 
deshalb, weil Sie sich darüber ins Klare kommen wollen, ob der normal« 
Verkehr überhaupt einen Zweck hat. Stellt es sich nämlich heraus, daß 
Sie nicht gebären können, so würden Sie in dieser Tatsache eine Lösung 


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des Konfliktes sehen, weil dann Ihrer Ansicht nach kein vernünftiger 
Grund für eine Verpflichtung zu normalem Verkehr bestünde.“ 

Die Pat. erwiderte mir auf diese Ausführungen nur, daß schon der 
Arzt, der sie, als sie in München erkrankte, untersuchte, Andeutungen 
gemacht habe, daß bereits eine Schwangerschaft eingetreten sei Ich 
erwiderte ihr: 

„Dies trifft wohl kaum zu, da es unmöglich ist, so kurze Zeit nach 
Beginn des ehelichen Verkehrs eine Schwangerschaft festzustellen. Sie 
haben jedenfalls eine Äußerung des Arztes mißverstanden, wohl (unbe¬ 
wußt) mißverstehen wollen, weil Sie schon damals aus dem gleichen Grunde 
wie jetzt hofften, schwanger zu sein.“ 

Während der Unterredung lutschte die Pat. wieder auffallend viel 
mit der Zunge an den Lippen. Kurz nach der Visite stellt sich von neuem 
Reizhusten ein, der sich im Laufe des Tages enorm steigert. Mittags ist 
die ganze linke Körperhälfte nahezu gefühllos. Sie hustet, jammert nach 
ihrem Mann, die Hände öffnen und schließen sich krampfartig, fahren 
auf der Bettdecke in wischender Weise auf und ab, wobei sie teils flach 
ausgestreckt, teils zur Faust geballt sind. Der Mund ist geöffnet, die Zunge 
lutscht gierig an den Lippen. Nachmittags jammert sie, weil sie die zur 
Faust gebauten Hände nicht öffnen könne und ein schreckliches Prickeln 
in den Fingerspitzen und in den Füßen verspüre. Beruhigung auf Zu¬ 
spruch. Abends ist sie übermäßig heiter, singt und tanzt. Lehnt ab, die 
Eier zu essen mit der Behauptung, sie röchen. 

13. XII. Auf 1 g Ver.-Natr. gut geschlafen. Morgens wie gewöhn¬ 
lich Übelkeit. Mittags nichts gegessen. Abends wurde sie im Bad blaß 
und ist nach Angabe der Krankenschwester eine halbe Minute ohne Be¬ 
sinnung gewesen. Der hinzugerufene Arzt vom Tagesdienst fand sie blaß 
und motorisch unruhig. 

Stuhlgang wurde bisher mittels täglichen Einlaufs erzielt. Heute 
war der Einlauf ohne Erfolg. 

14. XII. Weint. Äußert, sie bekomme täglich mehr Angst vor 
dem Assistenzarzt, der komme ihr so schrecklich vor. Ferner quäle sie 
der Gedanke, ob sie Kinder bekommen könne (sie schrieb in einem Briefe 
an ihren Mann, die Ärzte rieten ihr dringend zu einer Operation, eine 
Behauptung, die völlig erfunden war). Sie bittet mich dringend, sie 
gynäkologisch zu untersuchen, um ihr über diesen Punkt Aufklärung zu 
verschaffen. Sie habe keine Ruhe, bis sie wisse, woran sie sei Unter¬ 
suchung durch einen Gynäkologen lehnt sie ab. Sie könne unmöglich 
so lange warten, bis der komme. 

Mittags blaß. Klagen über Übelkeit. Verlangt Validol, das sofort 
hilft, worauf sie mit großem Appetit zu Mittag ißt. 

Die nachmittags von mir vorgenommene gynäkologische Unter¬ 
suchung ergab: leichte, nicht fixierte retroflexio uteri; wallnußgroße 
Verdickung im linken Beckenbindegewebe, die auf Druck wenig schmerz- 


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haft ist. Ich teile ihr mit, daß eine Schwangerschaft nicht festgestellt ] 
werden konnte, daß aber der Befund keineswegs gegen die Möglichkeit i 
einer Konzeption spreche. 

Ist angeblich sehr damit zufrieden, daß sie doch Kinder bekomm« 
könne. 

Während vor der Untersuchung die Schmerzempfindung nur an! 
der linken Seite aufgehoben war, fehlt sie heute Abend wieder gänzlich. 

Herpes-Eruption im Bereich des linken n. maxilL sup. 

15. XII. Gut geschlafen. Morgens heiter, mittags plötzliche: 
Angstanfall. Sie fürchtet, der Assistenzarzt werde zur Tür hereintretea 
und sie mit einer Pistole bedrohen. Jammert, schreit. Auf Zuspruch 
keine Beruhigung. Ißt zwar etwas zu Mittag, jammert dann aber noch 
stundenlang weiter. Bei meiner Nachmittagsvisite um 5 Uhr erkhft 
ich ihr Folgendes: 

„Ich habe Ihnen bereits angedeutet, daß Sie im Begriffe standen, 
das Verlangen nach munderotischem Verkehr von neuem zu unterdrücken 
Nach unserer letzten Unterredung kam gewissermaßen die Bestätigung 
dieser Auffassung durch den erneuten Husten und Krampfanfall und 
besonders auch durch das Verschwinden der Schmerzempfindung auf der 
linken Körperhälfte. Die rechte Körperhälfte blieb zunächst noch empfind¬ 
lich, was wohl so zu verstehen ist, daß die Verdrängung der mund- 
erotischen Wünsche erst zur Hälfte vorgenommen war. Bevor Sie die 
Verdrängung vollendeten, wünschten Sie nämlich von mir gynäkologisch 
untersucht zu werden, genau wie seinerzeit von Ihrem Hausarzt, um 
darüber informiert zu werden, ob diese Verdrängung überhaupt not¬ 
wendig ist. Wäre ich zu dem Ergebnis gekommen, daß Sie bereits schwanger 
sind oder infolge einer Anomalie der Geschlechtsorgane keine Kinder 
bekommen können, so hätten Sie wahrscheinlich auf die Verdrängung 
Ihrer munderotischen Wünsche verzichtet; so aber sahen Sie sich wiederum 
der Verpflichtung zu normalem sexuellen Verkehr gegenüber und vollen¬ 
deten die bereits begonnene Verdrängung des Verlangens nach mund 
erotischer Betätigung. Körperlich kam das zum Ausdruck durch das 
Verschwinden der Schmerzempfindlichkeit auch auf der rechten Körper- 
hälfte. 

Ich bin übrigens der Ansicht, daß Sie die Untersuchung durch mich 
und nicht durch einen Frauenarzt aus mehreren Gründen wünschten. 

1 . hätte es Ihnen, wie Sie selbst sagten, zu lange gedauert, bis derselbe 
gekommen wäre; denn der Verdrängungsprozeß war im Gange und konnte 
nicht warten, 2. aber versprachen Sie sich, nachdem Sie schon so häufig 
von Frauenärzten untersucht worden sind, die wohl in der Mehrzahl nicht-' 
besonderes festgestellt hatten, von meiner Untersuchung immerhin am 
ehesten ein Ihnen genehmes Resultat, vielleicht, weil Sie bei mir ab 
Nervenarzt einen gewissen Mangel an Sachverständigkeit annah men 
und ja auch wiederholt versucht hatten, mir das Bestehen einer erbeb- 


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Eine Hysterie-Analyse und ihre Lehren. 


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liehen Anomalie der Genitalorgane zu suggerieren. Der Konflikt ist nun 
wieder recht schön veranschaulicht worden. Ihr Oberbewußtsein wünscht 
normalen sexuellen Verkehr, Ihr Unterbewußtsein dagegen wünscht die 
munderotische Betätigung und bringt seinen Protest gegen die Wünsche 
des Oberbewußtseins vermittels körperlicher Symptome zum Ausdruck. 
Angst ist, wie ich Ihnen schon sagte, das psychische Symptom, das infolge 
der Verdrängung sexueller Begehrungsvorstellungen entsteht. Als Gegen¬ 
stand Ihrer Angst dient Ihnen jetzt der Assistenzarzt, weil ich Ihnen 
infolge meiner Ihnen früher gegebenen Aufklärung die Möglichkeit ge¬ 
nommen habe, sich vor Ihrem früheren Bräutigam zu ängstigen.“ 

Unmittelbar im Anschluß an diese Erklärungen ist Pat. völlig be¬ 
ruhigt. Sie entschuldigt sich bei dem Assistenzarzt mit dem Bemerken, 
daß es ihr jetzt unverständlich erscheine, wie sie solchen Unsinn habe 
denken können. Im übrigen protestiert sie aber wiederum gegen meine 
Behauptung, daß sie an normalem sexuellen Verkehr keinen Genuß habe, 
gibt aber zu, daß er ihr etwas schmerzhaft sei. Abends ist sie ausgelassen 
lustig. 

16. XII. Wenig geschlafen. Sehr verstimmt.. Müsse daran denken, 
daß sie infolge der Gefühllosigkeit am ganzen Körper auch keine Empfindung 
für den sexuellen Verkehr habe. Wenn sie zu Weihnachten nach Hause 
beurlaubt werde, so sei das schrecklich für sie und ihren Mann. Macht 
einen völlig indifferenten Eindruck. Es sei ihr momentan alles so egal. 
Man könne neben ihr jemanden umbringen, sie kümmere sich nicht darum. 

Herpes-Eruption am rechten Unterarm, abends am linken Bein. 

17. XII. Ließ nachts den Arzt holen wegen Schmerzen im After. 
Jammerte, schlief aber schließlich ein. 

Sie ist heute den fünften Tag ohne Stuhlgang, trotzdem tägliche 
Einläufe gemacht sind. Abends hoher Einlauf, gegen den sie sich sehr 
sträubt, ebenfalls ohne Erfolg. Unmittelbar im Anschluß daran furcht¬ 
bares Jammern über Schmerzen im After. Sie läßt mich rufen und bittet 
flehentlich um Hilfe. Zwischendurch ändert sich der Gesichtsausdruck 
und spiegelt anstatt qualvollen Schmerzes unverkennbare sexuelle Er¬ 
regung wieder. Gleichzeitig hebt sie mit hastigen rhythmischen Bewegungen 
das Becken auf und ab. 

Beruhigung auf subkutane Injektion von Morfin-Hyoscin. 

18. XII. Unruhig geschlafen. Schreckhafte Träume, auf die sie 
sich nicht mehr genau besinnt. 

Die Schwester gibt an, daß Pat. nachts zu ihr gesagt habe: „Schwester, 
eben habe ich geträumt, Sie rauften sich mit Schwester Marie.“ „Glauben 
Sie, daß Dr. X. auch treu sein kann?“ 

Ich erkläre ihr, daß der gestrige Schmerzanfall im After mit der 
fünftägigen Stuhlverhaltung im Zusammenhang stand. „Das Entstehen 
dieser Erscheinungen“, sagte ich ihr, „denke ich mir so. Durch die Ihnen 
am 15. XII. gegebene Aufklärung wurde Ihnen zwar die Bedeutung des 


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Saaler, 


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Angstzustandes klar, Sie konnten sich aber trotzdem nicht entschließen, 
den verdrängten Wunsch nach munderotischer Betätigrung wieder auf¬ 
zunehmen, da er eben Ihrem bewußten Ich in hohem Grade unannehmbar 
erschien. Ihre Sexualität blieb daher in der Verdrängung, kann aber nicht 
als Angst in Erscheinung treten, da, nachdem Sie über die Bedeutung 
der Angst aufgeklärt sind, dieses Versteckspiel Ihres unterbewußten Ich 
illusorisch gemacht worden ist. Die Unfähigkeit, einen Ausweg zu finden, 
nachdem Ihnen also auch dieser Weg der Flucht in die Krankheit ab¬ 
geschnitten war, äußerte sich als psychische Indifferenz, .die gewisser¬ 
maßen einen Waffenstillstand im Kampf Ihrer Wünsche, ein vorläufiges 
Aufgeben, eine Lösung des Konfliktes herbeizuführen veranschaulicht. 
Nichtsdestoweniger war ein neuer Ausweg für die in der Verdrängung 
befindliche Sexualität bereits gefunden, ein Ausweg, der geeignet ist, ein 
helles Licht auf die Art und Weise zu werfen, wie die körperliche sexuelle 
Befriedigung sich bei Ihnen vollzogen hat. Es gibt neben der Vaginai- 
und der Mundzone noch eine dritte erogene Zone, die AnalöfTnung, die 
zweifellos auch bei Ihnen eine große Rolle gespielt hat. Vor 3 Jahren, 
mehrere Monate bevor Sie zu ihrem früheren Bräutigam in sexuelle Be 
Ziehungen traten, setzte eine Stuhlverstopfung ein, die schließlich so 
hochgradig wurde, daß nur noch Eingießungen imstande waren, eine 
Stuhlentleerung herbeizuführen. In dem Auftreten dieser Stuhlver¬ 
stopfung erblicke ich ein Anzeichen dafür, daß sich damals eine Änderung 
in der Art und Weise, wie der Körper sich seine sexuelle Befriedigung 
verschaffte, vollziehen sollte. Bis zu dem Beginn der Geschlechtsreiff 
nämlich steht normalerweise die sexuelle Erregung und Entspannung 
noch in Beziehungen zu gewissen körperlichen Funktionen, besonders 
zur Stuhlentleerung. Um diese Zeit nun beginnt der Körper diese Be¬ 
ziehungen zu lösen und das weibliche Individuum für seine spätere Auf¬ 
gabe, den normalen Geschlechtsverkehr, zu präparieren. Der Umwandlungs¬ 
prozeß vom Kinde zum Weibe setzte offenbar an dem Tage ein, an dem 
Sie den Schwindelanfall hatten (Mai 1909). Dieser ist nämlich ein Zeichen 
dafür, daß die Umwandlung zunächst mißlang 1 ). 


*) Es handelt sich hierbei offenbar um Vorgänge, die Freud mit 
dem Namen „Verdrängungsschub der Pubertät“ belegt hat. Der Schwindel¬ 
anfall, der sich ja später noch häufig wiederholte, ist offenbar das Negativ 
eines coitus, also die Folge der Verdrängung der normalen Triebrichtung. 
Als Ursache für das Mißlingen des Verdrängungsschubs kommt wahr¬ 
scheinlich in erster Linie die Onanie in Betracht, die zwar dauernd, aber 
zeitweilig mit geringer Entschiedenheit bestritten wurde. Für ihre An¬ 
nahme spricht aber neben anderem auch der Schmerz auf der linken Seite 
des Leibes, der sich damals zum ersten Male bemerkbar machte, über 
dessen Bedeutung siehe S. 899. Als ursächliches Moment spielt außerdem 
ein sexuelles Trauma eine Rolle. Siehe hierüber S. 882. 


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Eine Hysterie-Analyse and ihre Lehren. 


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Es begann also damals schon ein Kampf zwischen der erwachenden 
normalen weiblichen Triebrichtung und der kindlichen Art der sexuellen 
Befriedigung. Die Stuhlverstopfung, die kurz darauf eintrat, bedeutet 
nichts anderes als einen Verzicht des Körpers auf die Analerotik zugunsten 
der normalen weiblichen Sexualität. Diese Auffassung steht durchaus 
im Einklang mit den jetzt aufgetretenen Darmerscheinungen. Nachdem 
Ihre verdrängten sexuellen Wünsche nicht wieder ins Bewußtsein auf¬ 
genommen worden, es ihnen also nicht vergönnt war, sich in der Wirk¬ 
lichkeit oder in der Phantasie auszuleben, aber auch die Äußerung als 
Angstanfall unmöglich geworden war, griff der Körper wieder als einzigen 
Ausweg auf die Analzone zurück. Entsprechend der Verdrängung der 
Sexualität trat aber anstatt Stuhlgangs nur noch intensivere Stuhl¬ 
verstopfung ein *), so daß wir schließlich zu einem hohen Einlauf unsere 
Zuflucht nehmen mußten. Würde sich Ihre Sexualität nicht in der Ver¬ 
drängung befunden haben, so hätten Sie natürlich Lustgefühle bei diesem 
Einlauf verspüren müssen, so aber trat an Stelle der Lust Unlust (Angst 
vor der dem bewußten Ich ja nicht genehmen sexuellen Erregung. Sie 
wehrten sich ja auch sehr gegen den hohen Einlauf). So ist es zu erklären, 
daß Sie die Reizung als Schmerz empfanden, es trat also ein Schmerz¬ 
anfall *) an die Stelle sexueller Lustgefühle.“ 

Abends wird festgestellt, daß die Medianlinie, die den Körper sagittal 
in zwei Hälften zerlegt, sowohl vorn wie hinten gegen Nadelstiche normal 
empfindlich ist, während im übrigen nach wie vor völlige Analgesie besteht. 

Die Stimmung ist eine gute. Ich weise Pat. darauf hin, sich etwaige 
Träume zu merken. 

19. XII. Heute früh erfolgt ohne Einlauf lediglich auf Abführ¬ 
mittel reichlich Stuhlgang (während der ganzen Beobachtungsdauer 
hatten sich im übrigen sämtliche Abführmittel, auch die stärksten Drastica, 
als völlig nutzlos erwiesen). 

Gibt an, in der Nacht drei Träume gehabt zu haben, auf die sie sich 
noch in allen Details genau besinnen könne. Nach jedem Traum sei sie 


>) Die körperliche Grundlage der 5 Tage anhaltenden intensiveren 
Stuhlverstopfung erblicke ich in einer Verstärkung des zweifellos dauernd 
bestehenden Darmspasmus, dessen Sitz wahrscheinlich am unteren Teil 
der Flexura sigmoides (am sphincter ani tertius) zu suchen ist. Die Stuhl¬ 
retention erscheint somit der Harnretention völlig homolog. Der untere 
Flexurabschnitt dient als Reservoir, der sphincter tertius als Ventil für 
die bei der Defäkation zu entleerende Kotsäule (vgl. Singer und Holz¬ 
knecht, Die objektiven Symptome des chronischen colospasmus. D. med. 
Wschr. 1912, Nr. 23). 

*) Es handelte sich offenbar um einen Krampf des Schließmuskels, 
also um eine Innervation, die der bei der Stuhlentleerung entgegen¬ 
gesetzt ist. 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXIX 6, 60 


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Saaler, 


aufgewacht. Aufgefordert, sie zu erzählen, beginnt sie mit dem zweiten 
Traum, den ersten könne sie nicht erzählen. Nachdem sie den zweiten 
und dritten mitgeteilt, läßt sie sich schließlich bewegen, auch den ersten 
zu erzählen. Die Träume folgen jetzt in der richtigen Reihenfolge. 

1. Traum: Dr. X. habe sie gestern Abend angefahren (de facto: 
etwas energisch zu ihr gesprochen; d. Ref.). Das habe ihr weh getan, 
weil sie so empfindlich sei. Im Traum habe sie dann geweint. Das habe 
Dr. X. gehört, sei zu ihr gekommen und habe sie getröstet; gesagt, es sei 
nicht so gemeint, wie sie es aufgefaßt habe. Dann habe er sie geküßt und 
mit ihr einen Verkehr per vaginam ausgeführt. Dann habe er ihr gesagt, 
sie solle sich von ihrem Manne scheiden lassen. 

2. Traum: Sie sei wieder zu Haus und völlig gesund. Bei dem 
Hausarzt auf der Gesellschaft. Da hätten alle sie riesig bedauert, daß sie 
krank gewesen sei Dem Assistenten des Hausarztes und dem Tierärzte 
habe sie nun erzählt, wie Dr. X. sie „ramponiert“ habe, indem er sie immer 
mit der Stecknadel gestochen, und habe dabei die Stiche in den Armen 
gezeigt; darauf hätten die beiden gesagt, das wären rechte Barbaren im 
Fichtenhof, und sie würden sie niemals wieder Weggehen lassen von A., 
sondern sie würden sie selbst wieder gesund machen, wenn sie von neuem 
erkranken sollte. Was der Tierarzt dabei zu tun habe, wisse sie allerdings 
selbst nicht. Der Assistenzarzt sei sehr nett zu ihr gewesen und habe wie 
früher öfters zu ihr gesagt: „Mein Kerlchen“, was sie so gerne höre. 

3. Traum: Zu diesem gibt sie folgende Vorbemerkung: Der 
frühere Bräutigam hatte mit seinem besten Freund ihretwegen ein Duell 
auf Säbel sine sine ausgefochten wegen einer Bemerkung, die der Freund 
zu ihr gemacht habe, und die sich der Bräutigam nicht gefallen ließ. 

Der frühere Bräutigam und der Freund hätten Kenntnis bekommen, 
daß sie im Fichtenhof sei. Darauf habe der Bräutigam Briefe geschickt, 
die alle nicht angenommen und zurückgeschickt worden seien. Daraufhin 
sei er gekommen und habe mit Steinen gegen ihr Fenster geworfen. Auf 
einem Spaziergang, den sie mit Schwester Kaethe machte, sei er auf sie 
zugekommen und habe sie ansprechen wollen, worauf sie ausgerissen sei 
und Schwester Kaethe mit sich fortgezogen habe. Da sei ihr plötzlich 
der Freund des Bräutigams aus der Richtung, in der sie lief, entgegen¬ 
gekommen. In furchtbarer Angst vor beiden sei sie gerannt, bis sie an den 
Fichtenhof zurückgekommen sei. Sie habe noch gesehen, wie der alte 
Bräutigam überall, wo sie gegangen sei, mit einem Blaustift Striche zog. 

Ich gebe ihr darauf folgende Deutung der Träume: 

„Träume sind Wunscherfüllungen. Auch in Ihren Träumen kommt 
das recht prägnant zum Ausdruck. Es Hegt auf der Hand, daß im ersten 
Traum Ihnen der verdrängte Wunsch nach normalem sexuellen Verkehr 
erfüllt wird. Wie es kommt, daß Sie im Traume diesen Verkehr nicht mit 
Ihrem Manne, sondern mit einem der hiesigen Ärzte ausüben, darauf will 
ich nicht näher eingehen. 


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Der zweite Traum knüpft an unsere Besprechung von gestern abend 
betreffs Ihrer Beurlaubung über die Festtage an. Sie sind im Traum schon 
xu Haus und befinden sich in Unterhaltung mit Ihrem Hausarzt, den Sie 
im Traum etwas kraß mit dem Tierarzt identifizieren, offenbar weil er 
bei seiner Behandlung das Körperliche dem Psychischen, dem spezifisch 
Menschlichen, voranstellte, und dessen Assistenten, denen Sie von Ihren 
Erlebnissen im Fichtenhof erzählten. Die von Ihnen erwähnte Tatsache, 
Dr. X. habe Sie mit einer Stecknadel gestochen, ist nicht wortgetreu, 
sondern symbolisch zu verstehen; hinter dieser harmlosen Äußerung 
von der Prüfung der Sensibilität mittels einer Stecknadel versteckt sich 
die Erinnerung an den im ersten Traum mit diesem Herrn ausgeübten 
Verkehr. So erklärt sich auch die Erregung des Assistenten über diese 
Tatsache, den Sie mit der Bemerkung offenbar auf Dr. X. haben eifer¬ 
süchtig machen wollen. 

Der dritte Traum ist eine recht charakteristische symbolische Dar¬ 
stellung des nach wie vor ungelösten psycho-sexuellen Konfliktes. Er 
resultiert gewissermaßen aus dem Vorhergehenden. Der Assistent des 
Hausarztes hatte gesagt, er werde Sie nicht wieder nach dem Fichtenhof 
lassen. Wenn Ihre Rückkehr hierher (von dem Weihnachtsurlaub) aber 
verhindert wurde, standen Sie wieder vor der Entscheidung, welche Art 
des sexuellen Verkehrs Sie wählen sollten. Der frühere Bräutigam im 
Traum repräsentiert Ihre verdrängten Wünsche nach munderotischem 
Verkehr. „Seine Briefe werden zurückgewiesen“ bedeutet: diese Wünsche 
werden aus dem Bewußtsein verdrängt; sie lassen sich aber nicht so leicht 
verdrängen, darauf deutet die Vorstellung hin, daß der Bräutigam Steine 
gegen das Fenster wirft, daß Sie schließlich die Flucht vor ihm ergreifen 
müssen. Während Sie sich aber vor den munderotischen Wünschen zu 
retten suchen, stoßen Sie auf das Verlangen nach normaler sexueller 
Betätigung. Dies und nichts anderes bedeutet nämlich der Freund im 
Traum. Wie es kommt, daß der Freund als Symbol für das Verlangen 
nach normalem sexuellen Verkehr eintritt, kann ich zunächst noch nicht 
erklären (über die Entstehung dieses Symbols siehe S. 888). In Ihrer Er¬ 
zählung von dem Duell kann ich einen Anhaltpunkt dafür nicht finden. 
Der Traum gibt übrigens eine recht schöne Erklärung für die psychologische 
Auffassung Ihrer Angstanfälle. Sie träumten, Sie seien in furchtbarer 
Angst vor dem Bräutigam und dem Freunde davongelaufen. Sie ersehen 
daraus, daß die Angst in der Tat nichts anderes bedeutet als Furcht vor 
dem Wiederauftreten der mühsam unterdrückten sexuellen Wünsche, 
also Furcht vor Ihren eigenen Begierden *). Daß Sie am Schluß des 
Traumes sahen, wie der frühere Bräutigam überall da, wo Sie gegangen 
waren, mit einem Blaustift Striche zog, deutet auch wieder darauf hin, 
daß Sie das Verlangen nach munderotischem Verkehr verfolgt. Blaustift 

l ) Vgl. Ernest Jones, The pathology of morbid anxiety. Journal 
of abnormal psychology June—July 1911. 

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Saaler, 


ist das Symbol für das in erigiertem Zustande befindliche und daher 
bläulich aussehende männliche Glied. Die Bedeutung des Stricheziehens 
dürfte Ihnen ohne weiteres klar sein. Daß Sie sich im Traum in den 
Fichtenhof retten, beweist, daß Sie in einer Rückkehr vom Weihnachts 
Urlaub hierher zunächst die einzige Mögichkeit sehen, dem Konflikt 
zu entgehen.“ 

Meine wiederholten Fragen nach einem sexuellen Erlebnis der 
Kindheit, das als sexuelles Trauma in Betracht kommen könnte, waren 
bisher von der Pat. stets in verneinendem Sinne beantwortet worden. 
Heute erzählt sie spontan, daß sie doch einmal etwas erlebt habe, wa? 
vielleicht von großem Einfluß auf sie gewesen sein könne. Im Alter von 
16 Jahren (erst sagte sie 14, dann 15, dann wieder 14, schließlich gab sie 
an, daß es sich nicht lange vor dem Schwindelanfall im Mai 1909 zu¬ 
getragen habe) ist sie auf Veranlassung ihres Vaters zu einem verheirateten 
Offizier gegangen, um einen Brief abzuholen. Plötzlich, während sie mit 
dem Offizier allein im Zimmer war, holte dieser sein Glied heraus und 
ersuchte sie, es anzufassen. Vor Schreck und Abscheu ist sie davon¬ 
gelaufen. Sie glaubte damals bestimmt, er habe mit ihr den Geschlechts¬ 
verkehr ausüben wollen. 

Die besondere Bedeutung, die diesem sexuellen Trauma zukommt, 
liegt in dem Umstande begründet, daß es in die Zeit fällt, in der durch den 
Verdrängungsschub der Pubertät sich der Wechsel in der leitenden erogenen 
Zone vollziehen soll. Es ist wohl denkbar, daß das mit dem Erlebnis 
verbundene Unlustgefühl hemmend auf den physiologischen Vorgang 
des Weibwerdens eingewirkt und so die „Sexualablehnung“ verursacht 
hat. Diese wiederum kann wohl zu einem erhöhten Verlangen nach auto¬ 
erotischer Befriedigung geführt und somit zur Masturbation (bzw. zum 
Onanismus conjugalis) geführt haben, die ja an und für sich, wie schon 
erwähnt, als Hindernis für den Umwandlungsprozeß der Pubertät anzu¬ 
sehen ist. Es kommen daher als Ursachen für die Frigidität der Pat. gegen 
normalen Verkehr im wesentlichen zwei Momente in Betracht: 

1. eine psychische, das sexuelle Trauma; 

2. eine körperliche, die Onanie. Von dieser wird später noch zu 
reden sein. 

Natürlich konnte man auch an die Möglichkeit denken, daß seinerzeit 
die perverse sexuelle Betätigung gewählt wurde, um eine Schwängerung 
zu verhindern, und daß dann eine Gewöhnung des Körpers an diese Art 
der Befriedigung eintrat. Diese Annahme erschien mir aber schon deshalb 
wenig wahrscheinlich, weil ich mit Hinblick auf die ausgesprochen „sexuelle 
Konstitution“ der Pat. den intellektuellen Faktoren bei der Wahl der 
geschlechtlichen Betätigung eine durchaus untergeordnete Bedeutung 
beimessen zu müssen glaubte. 

Nachdem ich mit der Pat. von diesen Dingen gesprochen und sie 
in ganz heiterer Stimmung verlassen hatte, traf ich sie abends wieder 


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sehr verstimmt an. Sie behauptete, während des Abendbrotes seien wieder 
heftige Schmerzen in der linken Seite des Leibes aufgetreten, wozu sich 
eine Übelkeit gesellt habe, genau wie heute vor 4 Wochen 
auf der Gesellschaft bei dem Hausarzt. Es sei ihr 
übrigens etwas eingefallen, was sie mir morgen sagen wolle. 

20. XII. Schlief unruhig. Habe nachts dauernd Schmerzen gehabt, 
die auch heute noch bestünden. Erzählt, was ihr gestern „eingefallen“ 
war: Sie empfinde in der Tat, wie sie jetzt zugeben wolle, bei Ausübung 
des normalen geschlechtlichen Verkehrs in normaler Lagerung so gut 
wie nichts, dagegen habe sie vollen Genuß, wenn sie sich oben, der Mann 
unten befinde. Sie bittet mich, ihr zu erklären, woher das komme. Ich 
erwidere ihr, es komme wohl daher, daß sie sich bei der früheren Art ihrer 
geschlechtlichen Betätigung in ähnlicher Stellung befunden habe (sie 
lag auf dem Partner, oder saß auf seinem Schoße). Diese Erklärung weist 
sie als unzutreffend zurück. Mittags weint sie, angeblich weil sie von 
ihrem Manne noch keine Antwort auf ihren Brief hat. Da sie aus solchem 
Anlaß noch nie geweint hat, äußere ich, sie weine, weil sie noch keine 
befriedigende Antwort auf ihre Frage erhalten habe. Ich gebe wieder 
eine Erklärung auf die mir gestellte Frage, die wiederum als unzutreffend 
abgewiesen wird, was mir immerhin als Beweis dafür diente, daß die Pat. 
in der Tat nur Erklärungen akzeptiert, die zum mindesten der Wahrheit 
sehr nahe kommen, eine Tatsache, auf die Freud bekanntlich mit beson¬ 
derem Nachdruck hinweist. 

Abends behauptet sie, sie werde unwohl, nachdem sie morgens 
schon mitgeteilt hatte, sie hätte wieder starken Ausfluß. Ein geringer 
Ausfluß bestand in der Tat dauernd, indessen wurde die Behauptung, 
daß er stärker als sonst sei, von der Krankenschwester nicht bestätigt. 
Auch vom Eintritt der Menstruation ist nichts zu bemerken. Ich nahm 
daher an, daß die Leibschmerzen und die Behauptung, starken Ausfluß 
zu haben, mit dem plötzlich aufgetauchten Gedanken an die umgekehrte 
Lagerung beim Geschlechtsverkehr in gewisser Beziehung stehen. 

Die Behauptung, an starkem Ausfluß zu leiden, konnte sehr leicht 
der Erinnerung an ein Ausfließen des Samens aus der Scheide bei Aus¬ 
übung des Geschlechtsverkehrs in umgekehrter Lage seine Entstehung 
verdanken. 

Die Angabe, daß die Schmerzen den gleichen Charakter hätten 
wie vor 4 Wochen, als sie die gynäkologische Untersuchung durch den 
Hausarzt erzwang, ließ darauf schließen, daß der momentane Gedanken¬ 
gang, den die Empfindung von Schmerzen begleitete, der gleiche war 
wie zu jener Zeit. Damals wünschte sie aber festgestellt zu wissen, ob 
sie schwanger sei. Es quälte sie also offenbar der Gedanke, daß bei der Art 
des ehelichen Verkehrs (in umgekehrter Lagerung) vielleicht eine Schwänge¬ 
rung nicht eintreten könne, weil der Samen wieder ausfließt. In der Tat 
bestätigt sie mir auf Befragen ohne weiteres, daß sie diese Befürchtung 


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Saaler, 


aus dem angegebenen Grunde hegte. Sie fügte sogar hinzu, daß sie sich 
schon gestern vorgenommen hatte, mir die Frage vorzulegen, ob eine 
Schwängerung in der betreffenden Lage möglich sei. — Ich erkläre der 
Pat. nun Folgendes 1 ): 

„Nachdem ich Ihnen durch Deutung des dritten Traumes den psycho 
sexuellen Konflikt wieder deutlich vor Augen geführt hatte, sahen Sie 
sich genötigt, irgend etwas zu unternehmen, was geeignet ist. die Lösung 
des Konfliktes herbeizuführen. Es „fiel Ihnen nun ein,“ daß Sie ja im¬ 
stande sind, sich normal sexuell zu betätigen, wenn auch nur in um 
gekehrter Lagerung. Im gleichen Moment fiel Ihnen aber auch ein/daß 
dieser Verkehr gar keinen Sinn hat, da infolge Ausfließens des Samens 
eine Schwängerung doch nicht eintreten könne. So entstanden Unlust¬ 
gefühle, die Sie .auf Ausfluß und Schmerzen bezogen. In Wirklichkeit 
bestanden gar nicht die gleichen Schmerzen wie vor 4 Wochen auf der 
Gesellschaft beim Hausarzt •), sondern es plagt Sie momentan nur der 
gleiche Gedanke wie damals, den Sie wieder mittels der gleichen körper- 
liehen Symptome zum Ausdruck bringen. Sie haben sich also jetzt ent¬ 
schlossen, diese Art des Verkehrs wieder aufzunehmen, vorausgesetzt, 
daß er zu dem erhofften Ziele, der Schwängerung, führt. Er ist also offenbar 
nur ein Kompromiß, auf den Sie eingehen wollen, um Ihren ehelichen 
Pflichten nachkommen zu können, denn volle Befriedigung erhalten Sie 
durch ihn nicht. — Ich will nun versuchen zu erklären, wie es kommt, 
daß Sie von diesem^ Kompromißverkehr, wie ich ihn einmal nennen will 
wenigstens einigermaßen befriedigt werden. Um das herauszufinden, 
ist es nötig, erst einmal zu untersuchen, wie sich überhaupt die sexuelle 
Befriedigung bei Ihnen vollzieht. Es kann keinem Zweifel unterliegen, 
daß die Munderotik, die Sie ja vor der Ehe zwei Jahre lang getrieben haben 
volle Befriedigung im Gefolge hatte. Bei dieser Art der sexuellen Be 
tätigung lagen oder saßen Sie auf dem Manne, nahmen sein Glied in den 
Mund und empfingen gleichzeitig Reizungen der Vaginalzone durch Mani- 
pulationen, die der Mann mit dem Finger ausführte. Es kam also zu 
gleichzeitiger Reizung der Mund- und Vaginalzone. Möglicherweise 
kommen auch Reizungen der Afterzone durch Stuhlgang bzw. Eingießungen 
in Betracht; ich glaube aber allerdings, daß diese keine so große Rolle 
mehr spielen wie früher. Welcher Art war nun der psychische Genuß, 
den Sie bei der Geschlechtsbetätigung empfanden? Die Empfindungen 
des normalen Weibes beim geschlechtlichen Verkehr sind schrankenlos? 


x ) Die folgende Auffassung von dem Wesen der sexuellen Perversion 
entspricht nicht ganz meiner endgültig gebildeten, die ich weiter unten 
entwickeln werde. Nichtsdestoweniger soll sie unverändert stehen bleiben. 

*) Ich halte es heute für wahrscheinlicher, daß die gleichen Schmerzen 
(infolge körperlicher Ursachen) die gleichen Gedankengänge auslösten: 
siehe S. 908. 


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Hingebung, während die Lustgefühle des Mannes identisch sind mit der 
Freude an der Unterwerfung des Weibes. Der Rolle des Weibes als der 
Unterworfenen entspricht ihre Lagerung unter dem Manne, wie ihr auch 
als dem erduldenden ein mehr passives, dem Mann als aggressiven Teil 
ein aktives Verhalten zukommt. Bei der Art, wie Sie sich vor der Ehe 
sexuell betätigten, liegen die Verhältnisse genau umgekehrt. Ihre Stellung 
war über dem Mann, die Rolle, die Sie dabei spielten, bei weitem die 
mehr aktive. — Ich vermute daher, daß Ihr Sexualziel keineswegs ein 
normales masochistisches, d. h. in der Freude an der Hingabe, dem Sich- 
unterwerfen wurzelndes war. Sie hatten es offenbar darauf abgesehen, 
den Mann in diese eigentlich Ihnen zukommende Rolle des Erduldens 
hinabzudrücken, und gerade diese Umkehrung des normalen Verhältnisses 
bereitete Ihnen Lustgefühle. Ich nehme an, daß diese Lustgefühle gipfelten 
in einem Anschauen und sich Weiden an dem sexuellen Orgasmus des 
Mannes. Das Sexualziel war also ein ausgesprochen sadistisches. Für 
die Annahme, daß Sie in der Tat zu einer mehr sadistischen Auffassung 
des Geschlechtsgenusses hinneigen, spricht auch Ihre ganze Charakter¬ 
anlage. Es fehlt Ihnen noch jede frauenhafte Weichheit, Ihre ganze Persön¬ 
lichkeit in körperlicher und geistiger Hinsicht macht einen auffallend 
knabenhaften Eindruck. Sie selbst erwähnten häufig Ihre Herrschsucht, 
Ihr unbotmäßiges Wesen, Ihre Neigung zu tollen Streichen, wie man sie 
mehr von Jungen als von Mädchen erlebt, und wiesen ganz besonders 
darauf hin, daß Sie mit großer Vorliebe Männer, die sich um Sie bemühten, 
verulkten und an der Nase herumführten. Obwohl Sie keine besonderen 
körperlichen Vorzüge besitzen, glaube ich Ihnen nichtsdestoweniger, daß 
um Ihretwillen Männer des öfteren schon gehörig aneinandergeraten 
sind. Denn Sie gehören zweifellos zu den weiblichen Wesen, die durch 
ihr kindlich naives und doch kokettes Wesen einerseits ein Anziehungs¬ 
punkt, durch die rücksichtlose Befriedigung Ihrer sadistischen Instinkte, 
d. h. Ihrer Freude an Grausamkeit, andererseits eine Gefahr für manche 
Männer bilden. Wie Ihr ganzes Wesen ein unentwickeltes ist, ist eben 
auch Ihre Sexualität eine unreife, wie wir Ärzte sagen, infantile. Es über¬ 
raschte mich daher keineswegs zu hören, daß Sie an normalem Geschlechts¬ 
verkehr keine Freude haben. Sie wissen, daß ich das längst angenommen 
habe, bevor Sie mir diese Tatsache berichteten. Daß der Verkehr in 
umgekehrter Lage Sie einigermaßen befriedigt, erklärt sich einfach so, 
daß Sie bei dieser Art des Verkehrs eben auch Aktivität und Stellung des 
Mannes innehaben und daher Ihren sadistischen Instinkten die Zügel 
schießen lassen können. Zu einer vollen Befriedigung kommt es aber 
auch dabei nicht, da keine Reizung der Mundzone stattfindet, und da Sie 
offenbar dabei auch die Situation nicht in dem Maße beherrschen können, 
wie es bei dem munderotischem Verkehr der Fall war. 

Sehr charakteristisch für Ihre sexuellen Wünsche sind auch zwei 
kurze Träume, die Sie in der letzten Nacht hatten und mir vorhin mit- 


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886 


Saaler, 


teilten. Der Inhalt des einen ist der: Auf dem Divan sahen Sie einen Ihnen 
bekannten Herrn mit nach oben verschränkten Armen liegen und mit 
den Beinen zappeln. Die Deutung ist einfach genug. Die Lage des Mannes 
entspricht der Stellung, in der Sie ihn bei Ausübung des Geschlechts¬ 
verkehrs zu sehen wünschen, das Zappeln der Beine deutet auf seine 
sexuelle Erregung. Der andere Traum lautet so: Schwester Kaethe (Ihre 
Pflegeschw'ester) reicht der Kronprinzessin einen Löffel Suppe. Kun 
vorher hatten Sie in der Zeitung gelesen, daß die Kronprinzessin ein Kind 
bekommen hat. Der Traum ist eine Wunscherfüllung. Sie identifizieren 
sich mit der Kronprinzessin, da Sie ja eine Schwangerschaft herbeiseh nen. 
um — und das besagt der Rest des Traumes — wieder voll und ganz zur 
munderotischen Betätigung zurückkehren zu können. Das Bild de? 
Suppenlöffels steht hier für das des männlichen Geschlechtsteils, die Suppe 
ist der in ihm befindliche Samen, den Sie wieder in den Mund zu bekommeo 
wünschen, was Sie aber erst für möglich halten, nachdem Sie Ihren ehe¬ 
lichen Pflichten nachgekommen sind.“ 

Die vorgetragenen Auffassungen, auch die Deutung der Träume, 
werden von der Pat. ohne weiteres akzeptiert. Ihre Frage, ob eine Schwänge¬ 
rung beim Geschlechtsverkehr in umgekehrter Lage möglich sei, beantworte 
ich in bejahendem Sinne. 

22. XII. Ruhig, heiter. Liegt viel auf dem Bauch! Äußerte schon 
früher, sie liege gerne so. 

23. XII. Wird von ihrem Gatten abgeholt, um die Weihnachts¬ 
tage zu Hause zu verleben. Geht in bester Stimmung. Die Schmerz¬ 
empfindung ist noch überall, bis auf die normal empfindliche Mittellinie 
aufgehoben. 

Am 27. XII. erhalte ich ein Schreiben von der Pat., aus dem ich 
Folgendes wiedergebe: 

-Die Fahrt ging ohne jeden besonderen Zwischenfall 

vonstatten, und war ich selbst erstaunt, daß es so schön ging. Ich habe 
mich unendlich gefreut, als ich wieder in den lieben Räumen zu Hause 
war, und habe mit meinem Mann ein schönes Weihnachtsfest verlebt. 
Am ersten Tag habe ich offengestanden sehr wenig gelegen, dafür aber 
den gestrigen Tag bis abends im Bett zugebracht und ebenso heute. Die 
Nächte waren sehr sehr unruhig. Kein Auge habe ich zugetan, die grä߬ 
lichsten Bilder entstanden vor meinen Augen. Am meisten verfolgt mich 
das Bild, daß mich jemand veranlaßt, mich von meinem Mann scheiden 
zu lassen. Ich habe auch das Empfinden, daß das Gefühl der Mittellinie 
wieder etwas zurückgegangen ist, und halten wir es alle für das Beste, 
wenn ich morgen wieder zurückkehre, denn hier bin ich doch etwas auf¬ 
geregter. Angstanfälle sind nicht wieder aufgetreten, nur die bösen Bilder 
verfolgen mich immer.- 

Nach einer anstrengenden, durch wiederholte Pannen unter- 


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jrochenen Automobilfahrt kommt Pat. abgespannt und blaß um 11 Uhr 
ibends in der Anstalt an. 

28. XII. Auf 1 g Ver.-Natr. leidlich gut geschlafen. Zu Hause 
iahe sie so gut wie gar nicht geschlafen und sei des Nachts von ängst- 
ichen Träumen geplagt worden, deren stets wiederkehrender Inhalt der 
var, daß sie von einem Manne vergewaltigt würde, daß der alte Bräutigam 
.vieder da sei, daß er oder ein anderer ihren Mann umbringen wolle. Über 
lie während des Aufenthalts zu Hause vorgefallenen sexuellen Ereignisse 
gefragt (ich hatte sie natürlich ermahnt, sich des Geschlechtsverkehrs 
su enthalten), gibt sie an, daß sie mit ihrem Mann per vaginam, aber in 
iimgekehrter Position verkehrt habe. In normaler Lage habe sie gar nicht 
den Versuch gemacht. Der sexuelle Genuß, der anfangs normal gewesen 
sei, habe sich dann sichtlich verringert, so daß sie schließlich selbst darauf 
drang, wieder in die Anstalt zurückzukehren. Die Deutung der ängst¬ 
lichen Träume machte auf Grund dieser Mitteilungen keine Schwierig¬ 
keiten. Da sie sich ausschließlich vaginal betätigte, war die sexuelle 
Befriedigung eine mangelhafte, es meldete sich daher wieder mächtig 
das Verlangen nach Munderotik in Gestalt des alten Bräutigams, der 
den Mann, der den Wunsch nach normalem sexuellen Verkehr repräsen¬ 
tiert, umbringen will. Die fortwährende Angst vor einer Vergewaltigung 
(um eigentliche Träume hat es sich wohl gar nicht gehandelt) entspricht 
den verdrängten masochistischen Sexualtrieben, dem Wunsche nach 
einem Geschlechtsverkehr, in dem sie die Rolle des Unterworfenen, des 
Weibes spielt. Daß sie sich sowohl vor dem früheren Bräutigam wie vor 
einer Vergewaltigung ängstigt, zeigt, daß beide Sexualitäten sich in der 
Verdrängung befinden. 

Die Gefühlsabstumpfung auf beiden Körperhälften besteht nach 
wie vor, nur hat sich die normal empfindliche Mittellinie etwas nach links 
verbreitet, so daß sie jetzt ein etwa 1 cm breites Band darstellt. 

Starker Juckreiz am rechten Unterarm, ausgehend von dem in 
Abheilung begriffenen Herpes. 

29. XII. Schmerzen in der linken Brustdrüse. 

30. XII. Außerdem Schmerzen auf der linken Seite des Leibs. 

31. XII. Schmerzen wie gestern und vorgestern. Außerdem 
Schmerzen im linken Auge, an dem sie fortwährend reibt. 

Außer Bett. Heiter, nimmt an der Sylvesterfeier teil. 

1. I. 1912. „Die ganze linke Körperhälfte tut weh.“ 

Während ich in meinen früheren Äußerungen der Pat. gegenüber 
es noch als immerhin wahrscheinlich hingestellt hatte, daß ihre sexuelle 
Perversion eine erworbene und daher heilbare sei. sagte ich ihr heute, 
daß sie doch vielleicht mit der Tatsache werde rechnen müssen, daß ihre 
Sexualität sich noch in einem Entwicklungsstadium befinde und erst 
im Laufe der Jahre zu einer normalen weiblichen heranreifen werde. 
Daraufhin erzählte mir die Pat. folgende Begebenheit: Vor 2 Jahren 


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Saaler, 


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hatte sie, während der frühere Bräutigam verreist war, sich von eimt 
Freunde desselben verführen lassen und mit diesem einmal in völlig ner- 
maler Weise geschlechtlich verkehrt; dabei habe sie voüen Genuß gehst*. 
Letztere Behauptung erscheint aber nicht glaubwürdig. Denn wie -- 
schon früher angegeben hatte, war zu der gleichen Zeit, als der Bräotigai 
verreist war und sie mit dessen Freunde in, wie sie damals behaupte*'- 
harmlosen Beziehungen stand, zum ersten Male der nervöse Husten v.' 
getreten. Dieser charakterisiert sich aber, wie ich nachgewiesen har- 
als die Folge des Versuchs, die perverse munderotische durch noma- 
sexuelle Betätigung zu ersetzen, und drückt gleichzeitig ein Mißhas 
dieses Versuchs aus. Es ist außerdem mit Hinblick auf ihren au=c 
sprochenen Mangel an Hemmungen nicht anzunehmen, daß sie sich s.: 
einem einmaligen Verkehr begnügt hätte, wenn sie von ihm voBe b 
friedigung gehabt hätte. 

Die Mitteilung der Pat. von diesem Ereignis schaffte übrigens 
Erklärung für das bisher noch unaufgeklärte Eintreten des ,,Freund* 
als Symbol für normalen Geschlechtsverkehr in dem am 19. XII. er 
geteilten Traum. 

2. I. Schlief gut und traumlos. Vonnittags plötzlich stan* 
Schmerzen im Leib. Weint. 

Nachmittags ruhig, heiter. Die Schmerzempfindung ist über* 
wieder vorhanden. Die Oberflächenreflexe sind auslösbar. Die Schm*::' 
der linken Körperhälfte sowie das Jucken am rechten Unterarm 
angeblich völlig verschwunden. Während des Schmerzanfalls hec- 
vormittag habe sie intensiv daran denken müssen, daß sie ein Kind hab r 
wolle. 

Zur Ergänzung ihrer Mitteilungen gibt sie an, daß sie nach de-' 
einmaligen normalen Verkehr mit dem Freunde des früheren Bräutka& 
auch einmal mit letzterem per vaginain verkehrt habe. Von diesem V- 
kehr habe sie keine Befriedigung gehabt, das sei aber daher gekoms^. 
weil der Bräutigam ein Kondom benutzt habe. Aus Furcht vor 
Schwangerschaft habe sie dann ganz auf den Verkehr per vaginam T * 
zichtet. Es bedarf keiner Erläuterung, daß die Erklärungen der P* 
auf einer Selbsttäuschung beruhen, die sie zur Rechtfertigung der 2* 
genehmen perversen Betätigung herangezogen hatte. Ich hielt es ab* 
zunächst nicht für richtig, sie hierüber aufzuklären, zumal sie jetzt, 
sie sich für gesund hielt, sehr auf Entlassung drängte und der Ehema® : 
ihr zugesagt hatte, sie in einigen Tagen abzuholen. Ich suchte sie dab* 
in ihrer Ansicht zu bestärken, daß sie jetzt gesund und in der Lage *>• 
ihren ehelichen Pflichten nachzukommen. In Wirklichkeit war ich ce* 
Ansicht, daß die Wiederkehr des Gefühls am ganzen Körper der Bereit 
schaft für die perverse Art der Befriedigung entsprach und die Frigide j 
für den normalen Verkehr nach wie vor bestand. 

4. I. Menstruiert. (Die letzte Menstruation war am 8. XI.) 


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Eine Hysterie-Analyse and ihre Lehren. 


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Menstruationsbeschwerden. Steigerung der Schmerzen auf der 
I i nken Seite des Leibes, die von Antipyrin -f Atropin nicht beeinflußt werden, 
dagegen auf 1,1 g Pantopon subkutan weichen, sich aber nach einigen 
Stunden wieder einstellen. 

Die Pat. klagt gleichzeitig spontan, daß sie keine Luft durch die 
Nase bekomme. Ihr Hausarzt habe früher einmal festgestellt, daß in der 
Nase etwas nicht in Ordnung sei. 

6. I. Die menstruellen Blutungen haben sistiert. Pat. ist an¬ 
geblich beschwerdefrei. Ist außer Bett, ruhig, heiter. Träumte nachts, 
sie sei von einem ihr bekannten Herrn furchtbar geschlagen worden. 
Drängt sehr auf Entlassung. Als Grund ihres Drängens gibt sie an, sie 
könne es nicht erwarten, so brenne sie darauf, mit ihrem Manne normalen 
sexuellen Verkehr zu beginnen. 

8. I. Verläßt heute, ungeachtet des ärztlichen Rats, noch 4—6 
Wochen zu bleiben, die Anstalt. 

Am 15. I. erhielt ich von ihr ein Schreiben, in dem sie mir über ihr 
Befinden wie folgt berichtet: 

-8 Tage bin ich nun bereits zu Haus und kann Ihnen 

erfreulicherweise mitteilen, daß es mir ziemlich gut ergangen ist. Der 
Appetit hat sich bedeutend gebessert, ich esse jetzt viel, viel mehr. Ich 
gehe mit meinem Mann vor- und nachmittags spazieren, was mir sehr 
gut bekommt. — Nun über die Einzelheiten. Betreffs des sexuellen Ver¬ 
kehrs kann ich Ihnen Gott sei Dank mitteilen, daß sich alles so normal 
eingestellt hat, wie Sie es mir vorausgesagt hatten *). In den ersten Tagen 
wollten meine Zweifel, die ich Ihnen gegenüber noch am letzten Tage 
ausgesprochen habe, nicht recht weichen und war ich erst noch hoffnung¬ 
los, was aber nun vorüber ist und mich beruhigt. — Nun sind aber noch 
so verschiedene Symptome wieder aufgetreten, die mich beunruhigen 
und bitte ich Sie, mir Ihre Meinung darüber zu äußern. Sie werden sich 
gewiß erinnern, daß ich, als ich Weihnachten zu Ihnen zurückkam, über 
heftige Schmerzen in der Herzgegend und der linken Brust klagte. Diese 
Schmerzen sind seit einigen Tagen wieder aufgetreten und steigern sich 
manchmal zur Unerträglichkeit. Ebenso verspüre ich auch im Leib oft 
Schmerzen, aber nicht nur an der alten Stelle. — Nun muß ich Ihnen, 
lieber Herr Doktor, leider auch noch mitteilen, daß ich seit heute wieder 
eine Gefühlsstörung, die sich auf die rechte Körperhälfte bezieht, bemerkt 
habe. Das Gefühl ist ganz bedeutend zurückgegangen, und bitte ich Sie, 
mir mitzuteilen, was ich dagegen tun soll, damit es sich nicht etwa wieder 
über den ganzen Körper verbreitet. — Mein Schlaf ist leider auch nicht 
besonders und nehme ich auf Anraten des Hausarztes noch jeden Abend 
Veronal. Trotzdem wache ich aber noch sehr oft auf und werde manchmal 
unruhig und weine etwas. — Alles übrige ist ja in Ordnung, nur mit der 

*) Diese Bemerkung illustriert treffend die Fähigkeit der Kranken 
zur Verdrängung unlustbetonter Gedanken. 


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Saaler, 


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Verstopfung ist es noch das alte und haben die Einläufe, die wir bis jetii 
gemacht haben, noch nicht so recht gewirkt. Auch wollte ich noch be¬ 
merken, daß zeitweise der Ausfluß recht stark auftritt und zwar meiste®, 
wenn wir spazieren waren; vielleicht hängt das auch mit den Nerve* 
zusammen. So ganz das Richtige ist es doch noch nicht.- 

Am 16. I. wandte sich der Gatte telephonisch an uns mit der BiUf 
seine Frau wieder aufzunehmen, da sie von neuem in der gleichen Webe 
wie damals erkrankt sei. 

Ist bei der Aufnahme ruhig, verstimmt. Gibt an, wieder Ac?- 
zu haben. Ferner klagt sie über Schmerzen in der linken Brustdnb- 
auf der linken Seite des Leibs und im linken Arm. Sie lutscht wie* - 
auffallend viel an den Lippen. Auf der ganzen rechten Körperhälfte erfck' 
auf Nadelstiche keine Reaktion, dagegen ist die Mundhöhle auch mb’: 
normal empfindlich. 

18. I. Schlaf auf Mittel. Habe zu Hause mit ihrem Manne re¬ 
in normaler Weise in der ihr als Frau zukommenden Lage verkehrt, dal 
zuerst keinen, dann etwas mehr Genuß gehabt. Schließlich habe sie wie*- 
so gut wie nichts empfunden, und gleichzeitig hätten sich wieder steu 
wachsende Schmerzen auf der linken Seite des Leibes, dann in der link:: 
Brustdrüse und im linken Arm eingestellt. Mit der GefühlsabstumpfuK 
rechts sei dann auch die Angst wiedeigekommen. Sie drängt sehr aJ 
gynäkologische Behandlung und Untersuchung durch einen Frauenan’ 

19. I. Nachts viel Schmerzen. Angst nur noch sehr gering. 

20. I. Die Gefühlsabstumpfung hat sich inzwischen auch auf ü- 
inke Körperseite und auf die Mundhöhle erstreckt. Untersuchung durt 
Frauenarzt. Derselbe stellt außer dem bereits früher erhobenen Befua 
einen Scheidenkatarrh und eine Vergrößerung und Druckempfindliche 
des rechten Eierstocks fest. Die Schmerzen auf der linken Ser 
des Leibes finden durch den gynäkologischen Befund nach Ansicht * - 
Spezialisten keine Aufklärung. 

Behandlung: Ichtyol-Glyzerin-Tamponade. Scheide nspülußf^ 
Wärme - Applikation. 

Im Anschluß an die Untersuchung gab ich der Pat. gegenüber 
Möglichkeit zu, daß ihre Unfähigkeit zu ehelichem Verkehr ihre Ursaci? 
in der Empfindlichkeit des rechten Eierstocks habe, die wohl geeigi* 
sei, beim sexuellen Akt Schmerzen und Unlustgefühle hervorzuruffr. 
Ich sagte ihr, man müsse zunächst einmal abwarten, bis die Anomal 
beseitigt sei, dann erst könne sich herausstellen. ob diese Vermutung 
zutreffe. Pat. ist sehr hoffnungfreudig, glaubt bestimmt, daß sich afe- 
so verhalte, sie habe auch immer Schmerzen beim Verkehr gehabt, ** 
sich wohl nur nicht eingestehen wollen. Auf ihre diesbezügliche Fra^ 
betone ich die Notwendigkeit einer monatelangen sexuellen Abstinent 
worauf sie entgegnet, daß sie das nicht aushalten könne. Ich erwidere, 
daß ein normaler Verkehr jedenfalls zunächst verboten sei, wie sie >«■-' 


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Eine Hysterie-Analyse und ihre Lehren. 


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nzwischen mit ihrer Sexualität abfinde, darüber könne ich ihr einen Rat 
rieht erteilen. 

Pat. hatte nun die Lösung des Konflikts erreicht, die sie von Anfang 
n mit dem Verlangen nach gynäkologischen Untersuchungen erstrebte, 
lämlich das ärztliche Verbot des ehelichen Verkehrs auf Grund des Be- 
tehens einer Anomalie an den Sexualorganen. Es stellte sich 
I ann auch fast unmittelbar im Anschluß an meine 
J nterredung mit ihr die Schmerzempfindung am 
: anzen Körper wieder ein. Der innere Zusammenhang dieser 
Erscheinung mit der erzielten Lösung des Konflikts wird treffend dadurch 
llustriert, daß sie sofort ihrem Manne schrieb in dem Sinne, sie sei wieder 
;anz gesund und eine nervenärztliche bzw. Sanatoriumsbehandlung 
•rührige sich, sie müsse sich nur noch eine Zeitlang in Behandlung eines 
''rauenarztes begeben; sie erörtert allerhand Pläne, wie das zu machen sei, 
ind weist auch daraufhin, daß ja vielleicht der Hausarzt die Behandlung 
ibernehmen könne. Als ich ihr daraufhin entschieden erkläre, daß eine 
Rückkehr zu ihrem Manne auf Monate hinaus ausgeschlossen sei, ist sie 
ichtlich enttäuscht, und gleichzeitig ist eine deutliche 
Herabsetzung der Schmerzempfindung auf der 
inken Körperhälfte festzustellen. 

21. I. Heute sind auch die Schmerzen wieder da. 

Ich äußere, daß sie „gesund“ gewesen sei, weil sie gehofft habe, mit 
lern ärztlichen Verbot des ehelichen Geschlechtsverkehrs in der Tasche 
iu ihrem Manne zurückkehren zu können und nun gewissermaßen ein 
verbrieftes Recht zu der ihr genehmen perversen Sexualbetätigung zu 
jesitzen. Die ihr bereitete Enttäuschung habe wieder zur Verwerfung 
ies Wunsches nach dieser Art der Befriedigung geführt und körperlich 
hren Ausdruck gefunden in erneuter Gefühlsabstumpfung auf der linken 
Körperhälfte. 

22. I. Links ist völlige Analgesie, rechts Hypalgesie eingetreten. 
Die Schmerzen und Druckempfindlichkeit im linken Hypogastrium sind 
>ehr erheblich. Die Druckempfindlichkeit entspricht einer scharf ab- 
jegrenzten, etw r a dreimarkstückgroßen Zone, in deren Bereich Sensibilität 
and Schmerzempfindung nicht aufgehoben ist. Während ich anfangs der An¬ 
sicht war, daß diese Schmerzen einem hysterischen Symptom entsprechen, 
das in der im linken Beckenbindegewebe nachweisbaren Verdickung sein 
somatisches Entgegenkommen findet, habe ich mich mehr und mehr 
davon überzeugt, daß wir es hier mit einer Neuralgie zu tun haben. Schon 
während der Menstruation am 4. XII. war mir aufgefallen, daß gleich¬ 
zeitig mit der Steigerung der Schmerzen sich eine Schwellung der Nasen¬ 
schleimhaut eingestellt hatte, die mir die Fließ sehe *) Theorie von dem 

i j *) Wilhelm Fließ, Über den ursächlichen Zusammenhang von Nase 
und Geschlechtsorgan. Zugleich ein Beitrag zur Nervenphysiologie. 

Carl Marhold, Halle 1910. 


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nasalen Ursprung dysmenorrhoischer Beschwerden in Erinnerung bracht* 
Schon damals habe ich der Pat. denVersuch vorgeschlagen, zur Besehiguae 
der Leibschmerzen die Nasenschleimhaut mit Kokain zu pinseln, was si? 
aber lachend ablehnte. Inzwischen war nun auch wiederholt eine later 
kostalneuralgie aufgetreten, mit der nach Fließ die intermenstnielk: 
Schmerzen häufig vergesellschaftet sind. Außerdem lag auch die vc 
Fließ als typische Ursache der nasalen Dysmenorrhoe bezeichnet« Ti', 
sache, die Onanie bzw. der Onanismus conjugalis, vor. (Die Änderung 
Auffassung bezüglich der Genese dieser Schmerzen hatte natürlich kein*' 
Einfluß auf die Annahme ihrer Bedeutung als hysterisches Symptom 
Lediglich das somatische Entgegenkommen wurde in einer anderen Grün: 
läge gesehen.) Ich habe nun, dem Vorgehen von Fließ folgend, die Nase: 
Schleimhaut der Pat. mit Kokain gepinselt, wobei ich nur eine 5 proientk- 
Lösung (Fließ verwendet eine 10 prozentige) zur Anwendung bracht* 
Nach drei Minuten wurden die Schmerzen im Leib geringer und war: 
nach sieben Minuten völlig verschwunden. Nach 3}» Stunden stellt?: 
sie sich allmählich wieder ein. Abends wurde die Pinselung wiederhol 

23. I. Hat infolge der Kokainpinselung zum erstenmal seit i ‘' 
Wiederaufnahme wirklich gut geschlafen. 

Heitere, übermütige Stimmung. Die linke Körperhälfte ist nach*! 1 
vor analgisch, auf der rechten werden Nadelstiche als Berührung eiq 
funden. Auf dem Rücken, von der Schulter bis zur Ferse, läßt sich beid¬ 
seits eine sagittal verlaufende durch den angulus scapulae gehende, nonca! 
empfindliche Linie nachweisen, die gewissermaßen jede der beiden Körpr’ 
hälften in zwei Teile teilt. Diese Linien bleiben auch nach Pinselung c?r 
Nasenschleimhaut mit 10 prozenliger Kokainlösung unverändert be¬ 
stehen, während die schmerzempflndliche Zone im linken Hypogastm* 
nahezu ausgelöscht wird. 

25. I. Die Kokainpinselungen haben stets den gleichen Erf<k 
Die Schmerzen verschwinden in 3—8 Minuten und treten nach 3—• 
Stunden wieder auf. Appetit und Schlaf sehr gestört. 

26. I. Weint nach Empfang eines Briefes von ihrem Manne. E* 
tue ihr so leid, daß er durch ihre Krankheit immer allein sein müsse. Dal- 
ist die ganze rechte Körperhälfte normal empfindlich, die linke wie vorhr. 
Nachdem sie sich beruhigt hatte, konnte bezüglich der Schmerzempfindur.-' 
der gleiche Befund wie vorher (siehe Eintrag vom 23. I.) erhoben wer-ie: 
(über die Entstehung dieser Erscheinung siehe S. 9(8). 

27. I. Konsultation Dr. Fließ. Kokainversuch positiv. Dane;’ 
wird die Schleimhaut beider unteren Muscheln mit Trichloressigsäu - * 
verätzt. Nach der Behandlung ist Pat. sehr angegriffen, klagt üb?' 
Schwindelgefühl. Besserung nach Koffeininjektion. 

28. I. Die Schmerzen auf der linken Seite des Leibs sind völik 
verschwunden, auch die entsprechende empfindliche Zone ist ausgelös*^' 


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Eine Hysterie-Analyse nnd ihre Lehren. 


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»agegen klagt Pat. jetzt über Schmerzen an der korrespondierenden 
teile der rechten Seite des Leibs. 

31. I. In den letzten Tagen starke Erregung im Anschluß an 
impfang eines anonymen Briefes, in dem behauptet wurde, ihr Mann 
nterhalte in ihrer Abwesenheit ein Verhältnis. Sie klammerte sich an 
iesen Gedanken mit dem ganzen abfuhrbedürftigen Affekt der ver- 
rängten Sexualität. Sie behauptete, die Beschuldigung sei wahr, führte 
Ile möglichen unwahrscheinlichen Gründe an, die für die Untreue des 
[annes sprächen, telegraphierte den Eltern, verbat sich den Besuch des 
fannes, sprach von Scheidung, jammerte, heulte, habe Angst vor dem 
lann. 

2. II. Menstruiert. 

3. II. Der Besuch der Eltern brachte ihr wenig Beruhigung. Sie 
ß so gut wie nichts mehr, klagte über starken Durst und trank enorme 
Iengen Pomril. Trockenheit des Mundes und des Rachens. Zunge belegt, 
'oetor ex ore. Erbrechen. Starke Magenschmerzen. Schlaf völlig auf- 
ehoben. Hyperalgische Zonen im Epigastrium und im rechten Hypo- 
astrium. Eine hyperalgische Linie reicht von der Mitte der Symphyse 
um Nabel, knickt rechtwinklig ab und verläuft horizontal nach links. 

Steigerung der Erregung vor dem Besuch des Mannes, lautes Jammern, 
-roße Angst. Dann allmählich Beruhigung. 

4. II. Schon nach dem ersten Besuch des Mannes war Pat. völlig 
lusgesöhnt und gab zu, daß sie ihm Unrecht getan habe. 

Heute ist während des Besuches des Mannes die Sensibilität und 
>chmerzempfindung am ganzen Körper wieder aufgetreten. Auf Befragen 
vie das gekommen sei, gibt Pat. an, daß sie mit ihrem Mann einen coitus 
»er os ausgeführt habe, unmittelbar darauf habe sie Kribbeln in den 
Fingerspitzen verspürt, und dann habe sie bemerkt, daß das Gefühl wieder- 
'ekommen sei. 

Es bestehen jetzt wieder Schmerzen auf der linken Seite des Ab- 
lomens (wohl durch die Menstruation hervorgerufen), gegen die Pantopon- 
njektionen mit Erfolg verabreicht werden. 

6. II. Besserung. Magenkatarrh beseitigt. 

7. II. Die Schmerzen links verschwinden auf nochmalige Ätzung 
ler Schleimhaut der unteren Nasenmuscheln durch Dr. Fließ. Die angeb- 
ich vorhandenen rechtseitigen Schmerzen sind von der Nase aus nicht 
:u beeinflussen. 

11. II. Fühlt sich recht wohl. Allgemeinbefinden gut. Nahrungs- 
lufnähme, Schlaf befriedigend. Keine Sensibilitätstörungen. Die Leib- 
schmerzen links sind nicht wieder aufgetreten. Außer Bett. 

13. II. Nachts nahezu schlaflos infolge sexueller Erregung (eigene 
Angabe der Pat.). Die Leibschmerzen der rechten Seite steigern sich gegen 
Abend. 

14. II. Gestern abend auffallend still, lutschte wieder viel an den 


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Saaler, 


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Lippen, grimassierte, wie wenn sie von unangenehmen Gedanken gepeinir 
würde. Schlief erst nach der zweiten Pantoponinjektion, die sie stürmt-:: 
und eigensinnig verlangt hatte. Gibt heute an, daß sie am ganzen Korpc- 
starkes Hautjucken habe. Äußert spontan, das sei daher gekommen, «ii 
sie sich normalen Verkehr mit ihrem Mann vorgestellt habe. Sie wolle vre 
Munderotik nichts mehr wissen. Gibt die Absicht zu, bei dem wku-: 
bevorstehenden Besuch des Mannes normalen Verkehr zu versuchen ?> 
glaube, daß sie jetzt dazu imstande sei, nachdem die gynäkologis- - 
Behandlung 4 Wochen lang durchgeführt sei. 

21. II. Schmerzen unterhalb des linken Rippenbogens. Hier is 
eine hyperalgische Zone von etwa Dreimarkstückgröße nachweisbar. 

I. III. Im Anschluß an den Besuch des Mannes, mit dem sieget 
den ausdrücklichen Rat des Arztes sexuell (normaliter) zu verkehrt 
versuchte, wieder erregt, schlaflos; hustet, hat leichte Angst, Schmer:« 
überall, auch Kopfschmerzen, Übelkeit, vorübergehend auch Erbrecht 
Abneigung gegen jedes Fleisch, besonders Hammd 
fleisch, Vorliebe für Eierspeisen (Sexualsymbolik). Gü: 
zu, durch den Verkehr nicht befriedigt worden zu sein. 

4. III. Steigende Erregung. Reizbar, launisch; unmotiviert 
Stimmungschwankungen. Abendliche Unruhe. Leichte Angst. Mango 
hafte Nahrungsaufnahme. Schlafstörung. 

6. III. Unfolgsam. Fügt sich weder den ärztlichen Anordnung?:. 
noch der Hausordnung. Beklagt sich über unfreundliche Behandlung 
ist zwischendurch ausgelassen heiter, macht sich über die Umgebuc? 
lustig, kommt fortwährend in Konflikte. 

7. III. Hat wieder Leibschmerzen links. Legt sich spontan :: 
Bett. Abends ängstliche Unruhe. Völlige Analgesie der rechten Körpt- 
hälfte. Weint. Wirft sich in deutlicher sexueller Erregung im Bett hen. 
und verhält sich schließlich so störend, daß die Verlegung nach der g 
schlossenen Abteilung vorgenommen werden muß. Während ich sie hk 
in energischem Tone ermahne sich zu beruhigen, wirft sie sich in 
gesprochenem Orgasmus herum, stöhnt wie beim Erdulden eines Kor¬ 
und schreit zwischendurch wütend auf. 

8. III. Ruhiger. 

9. III. Die Analgesie hat sich auf den ganzen Körper ausgeb reit?: 
Abends Angst und Schmerzen. 

II. III. Wesentliche Besserung. Versucht noch ab und zu dun- 
Heulszenen etwas durchzusetzen. Großer Durst. Trinkt viel Mil'- 
dieselbe muß roh sein und etwas Kognak enthalten, sonst trinkt sie sie 
nicht (Sexualsymbolik!). 

13. III. Gewichtzunahme. Hebung des Allgemeinbefinden 
Besserung des Schlafs. Heitere Stimmung. Heute ist auch die Anals** 1 
wieder verschwunden. Pat. gibt selbst an, das sei geschehen infolge Wiede:- 
aufnah me des Wunsches nach munderotischer Betätigung. Schon ser 


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Eine Hysterie-Analyse und ihre Lehren. 


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mehreren Tagen keine Schmerzen mehr, höchstens eine Spur auf der 
linken Seite des Leibs. 

16. III. Zu ihren Eltern entlassen mit dem Rat, sich sexuellen 
Verkehrs auf Monate hinaus zu enthalten. 

Suchen wir uns nun ein klares Bild von der Erkrankung und 
ihren wahren Ursachen zu machen. Die Analyse hat einwandfrei 
den Nachweis erbracht, daß bei der Pat. eine Frigidität gegenüber 
normalem sexuellen Verkehr besteht, daß die Betätigung der Sexualität 
eine perverse ist, und daß die Erkrankung die Folge des Verlangens 
ist, die perverse Sexualität zugunsten der normalen zu verdrängen. 
Um zu einem vollen Verständnis von der Art der Sexualbetätigung 
und auch, wie wir sehen werden, der Neurose zu gelangen, ist es zweck¬ 
mäßig, die Symptome, die der Verdrängungsprozeß gezeitigt hat, 
einer eingehenden Betrachtung zu unterwerfen. — Die ersten Sym¬ 
ptome, die unmittelbar im Gefolge der Vorgänge in der Hochzeitnacht 
auftraten, waren gesteigerte Schmerzen auf der linken Seite des Leibes 
und Blasenlähmung. Auf die ersteren komme ich weiter unten zu 
sprechen. Was die Blasenlähmung betrifft, so ist mit Hinblick darauf, 
daß sie unmittelbar im Anschluß an den versuchten vaginalen Verkehr 
auftrat, die Annahme, daß sie als Folge des Verdrängungsprozesses 

anzusehen ist, von vornherein recht wahrscheinlich. Man könnte zu 

! 

ihrer Erklärung allerdings auch die von Havelock EUis 1 ) erwähnte 
Tatsache heranziehen, daß die Füllung der Blase „wahrscheinlich 
nicht nur auf mechanischem, sondern auch auf reflektorischem Wege 
Erregung und Genußfähigkeit steigert“. Es würde dann also die 
Harnretention gewissermaßen die anästhetische oder nur wenig 
empfindliche Scheidenschleimhaut bei der Erzeugung sexueller Er¬ 
regung unterstützt haben. In diesem Sinne ist die Auffassung aber 
nicht zutreffend, schon deshalb nicht, weil die Hamretention über die 
Dauer des sexuellen Verkehrs hinaus sinnlos gewesen wäre, und sie 
ja auch vom Willen völlig unabhängig war. Nichtsdestoweniger 
kommen wir zur einzig zutreffenden Erklärung des Symptoms, wenn 
wir bei Havelock Ellis weiterlesen: „Umgekehrt steigert sexuelle 
Erregung die Explosibilität der Blase, Harndrang tritt auf, und beim 
Weibe begleitet den sexuellen Orgasmus nicht selten eine unwill- 

l ) Havelock Ellis, Das Geschlechtsgefühl. Deutsch von Hans Kurella. 
Würzburg, A. Stübers Verlag, 1909. 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXIX. 6. 01 


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Saaler, 


kürliche, manchmal reichliche und starke Urinergießung. ‘ 1 Ist als» 
eine unwillkürliche Urinentleerung in diesem Zusammenhänge al? 
Begleiterscheinung eines sexuellen Orgasmus aufzufassen, so eigibt sieh 
die Bedeutung der Blasenlähmung ohne weiteres als Abwesenheit 
eines solchen, ja als Fehlen einer sexuellen Erregbarkeit überhaupt. 
Die Urinentleerung erscheint mit einem Schlage als Teil er schein imr 
der sexuellen Befriedigung, als Mittel zur sexuellen Entspannung, 
und beweist gerade durch ihr Unterbleiben, daß zurzeit eine sexueil- 
EntSpannung unmöglich ist und zwar deshalb, weil infolge der Ver¬ 
drängung der Sexualität die Erregungsleitung eine Unterbrechung 
erlitten hat. Um sich in den Stand zu setzen, normal sexuell zu ver¬ 
kehren, hatte die Pat. ihr Verlangen nach perverser Betätigung ver¬ 
drängt, damit aber auch die Möglichkeit, zu einer körperlichen Be¬ 
friedigung zu gelangen, da diese ja mit der perversen Betätigung 
untrennbar vereint war. Die Folge der Verdrängung ist daher soma¬ 
tische Anästhesie gegen jede Art des geschlechtlichen Verkehrs, dir 
sich in der Aufhebung aller Innervationen 1 ), die mit der sexuellen 
Entspannung zu tun haben, äußern mußte. Betrachten wir uns nun 
die übrigen Innervationsstörungen, die zur Beobachtung kamen, unter 
dem gleichen Gesichtswinkel, so erkennen wir ohne weiteres, dafi 
außer der Innervation der Blase die der Haut, des Darmes und der 
gesamten, der Bewegung dienenden Körpermuskulatur in Beziehung 
zu der körperlichen sexuellen Befriedigung stehen müssen, da de: 
Verdrängungsprozeß Analgesie, gesteigerte Obstipation und Abasi- 
im Gefolge hatte. Letztere war allerdings erst kurz vor der Aufnahro 
eingetreten, und bezüglich des Zeitpunktes, in dem sich die Gefühl; 
abstumpfung der Haut einstellte, habe ich Sicheres nicht in Erfahrne 
bringen können, da Pat., bevor sie hier auf das Bestehen dieser 
Störung aufmerksam gemacht wurde, von ihr überhaupt nichts wußte. 
Im übrigen ist aber der anfängliche Wechsel im Auftreten und in der 
Intensität der Symptome, wie bereits gesagt, zwanglos mit der mehr 
oder minder starken Energie, mit der die Verdrängung ausgeführt 
wurde, zu erklären. Zeitweise hatte Pat. sicherlich auf eine Verdrängung 
der perversen Neigung überhaupt ganz verzichtet. Bei ihrer Aufnahme 
in die Anstalt war die Verdrängung hingegen eine absolute, was sich 

l ) Der Spasmus des sphincter vesicae entspricht völlig dem Darm- 
spasmus (siehe S. 879 Anm. 1). 


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Eine Hysterie-Analyse nnd ihre Lehren. 


897 


in der weitgehenden Ausbildung der Symptome zu erkennen gab. 
Die Auffassung von den Beziehungen der Innervationen der genannten 
Organe zu der körperlichen sexuellen Befriedigung entspricht nun 
durchaus den Theorien Freuds 1 ) von den Quellen der infantilen 
Sexualität. Die sexuelle Erregung entsteht nämlich nach Freud 
„erstens als Nachbildung einer im Anschluß an andere organische 
Vorgänge erlebten Befriedigung, zweitens durch geeignete periphere 
Reizung erogener Zonen, drittens als Ausdruck einiger uns in ihrer 
Herkunft noch nicht voll verständlicher „Triebe“, wie der Schau* 
trieb und der Trieb zur Grausamkeit.“ Die sogenannten erogenen 
Zonen zeigen aber nach Freud nur eine Steigerung einer Art von Reiz¬ 
barkeit, welche in gewissem Grade der ganzen Hautoberfläche zu¬ 
kommt. Demnach treten bei manchen Arten allgemeiner Haut¬ 
reizung, von denen Freud besonders die Temperaturreize hervorhebt, 
sehr deutliche erogene Wirkungen auf. (Hierauf beruht auch die 
Vorliebe unserer Pat. für besonders heiße Bäder, die nicht unter 40° C. 
geduldet wurden. In einem Bad von 38° C. trat regelmäßig eine deut¬ 
liche „Gänsehaut“ auf.) Ferner wird von Freud auf ausgiebige aktive 
Muskelbewegung als Quelle außerordentlicher Lust für das Kind 
hingewiesen. 

Die Beweiskraft, die dem vorliegenden Falle innewohnt, beruht 
meines Erachtens unter anderem darauf, daß ich imstande bin, um 
mit Freud zu sprechen, neben dem Negativ auch das Positiv der 
sexuellen Perversion zu zeigen. Indem sich dabei ergibt, daß die 
im Anschluß an den Versuch eines normalen Verkehrs aufgetretene 
Neurose in der Tat nichts anderes als das Negativ der früher geübten 
Perversion ist, zeigt sich nicht allein das Wesen der Neurose selbst 
im klaren Licht, sondern auch der Mechanismus der sexuellen Be¬ 
friedigung wird aufgedeckt. Die Pat. schöpfte ihre sexuelle Lust 
tatsächlich aus einer Reizung der Mundzone mittels Lutschens am 
Gliede des Mannes, der Analzone durch Eingießungen *), der ganzen 

*) Freud , Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Leipzig u. Wien, 
Franz Deutieke, 1910. 

*) Da das Negativ der Analerotik, die Stuhlverstopfung, schon seit 
Jahren besteht, so könnte man denken, daß die Analerotik jetzt keine 
Holle mehr spielte. Wahrscheinlicher ist aber die Annahme, daß die 
Obstipation heute gar nicht mehr als ihr Negativ anzusehen ist, sondern 

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Saaler, 


Haut durch Temperaturreize (heiße Bäder) und aus einem ausgiebigen 
Gebrauch der Muskulatur des Bewegungsapparates. Denn die Freude 
der Pat. an kindischem Umhertollen (wobei natürlich auch Haut¬ 
reize infolge des Anpralls der Luft eine Rolle spielen), ist zu den Zeiten, 
in denen die Krankheitsymptome mehr zurückgetreten waren, ihrer 
Umgebung recht häufig aufgefallen. Dazu kamen als psychische 
Komponenten der Sexualität die Freude am Anschauen der sexuellen 
Lust des Partners und an seiner Unterwerfung, also die Triebe, die 
Freud Schau- und Grausamkeitstriebe genannt hat. Diesem Positiv 
entsprechen als Negativ die Symptome: Unempfindlichkeit der Haut, 
unangenehme Sensationen im Munde bzw. dem mit der Mundöffnung 
beginnenden Intestinaltraktus (Trockenheit, Reizhusten, Ekel vor 
dem Essen, Erbrechen), im After (Spasmen), Lähmung der der Be¬ 
wegung dienenden Körpermuskulatur (Astasie, Abasie) und als 
psychisches Symptom Angst. 

Neben den genannten Erregungsquellen kommt im Sexualleben 
unserer Pat. nun noch die in Betracht, die durch die digitalen Mani¬ 
pulationen des Partners gereizt wurde. Daß es sich hierbei nicht um 
die Scheidenschleimhaut, sondern um die Klitoris handelt, dafür 
scheint mir neben anderem vor allem der Umstand zu sprechen, daß 
sie bei Ausübung des coitus in normaler Lage keine, in umgekehrter 
Stellung etwas Befriedigung empfand. Im letzteren Falle hatte sie es 
eben völlig in der Hand, eine ausgiebige Reizung der Klitoris zu er¬ 
zielen, was bei Aktivität des Mannes nicht der Fall ist. (Daneben 
kommen zur Erklärung dieser Tatsache auch noch die früher an¬ 
gegebenen Dinge in Betracht.) Sehen wir uns nun nach dem Negativ 
der Klitoriserregung um, so fällt uns sofort der bald stärkere, bald 
schwächere Schmerz im linken Hypogastrium ins Auge, der von den 
Hauptsymptomen allein noch einer Erklärung harrt. Daß es sich 
bei diesen Schmerzen um die von W. Fließ beschriebenen handelt, 
halte ich nach dem eklatanten Erfolg der Flaschen Therapie in 
dem vorliegenden Falle für völlig erwiesen. Die Entstehung dieser 

vielmehr als Folgezustand eines ungeheilten hysterischen Symptoms, 
das ursprünglich allerdings dem Negativ der Analerotik entsprach. Als 
auf diese später wieder zurückgegriffen wurde, Stuhlgang aber in aus¬ 
reichender Menge nicht mehr erzielt werden konnte, wurde die Reizung 
der Analzone durch Eingießungen erzielt. 


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Eine Hysterie-Analyse und ihre Lehren. 


/ 


899 . 


Schmerzen führt Fließ nun auf Veränderungen an den nasalen Genital¬ 
stellen zurück, die ihrerseits wieder auf die Onanie bzw. den Onanismus 
wnjugalis zurückzuführen sind. Da die Onanie bei jungen Mädchen, 
vie Freud überzeugend nachweist, stets Klitorismasturbation ist, 
50 ist der Zusammenhang der Schmerzen mit der Erregung der Klitoris 
neines Erachtens klar. Sie sind gewissermaßen eine unangenehme 
Begleiterscheinung der Lust, die durch Beizung der Klitoris entsteht; 
iin geeigneteres somatisches Entgegenkommen kann der in der Ver¬ 
drängung befindliche Wunsch nach Befriedigung durch Klitoris¬ 
reizung zum Zwecke der Konversion in ein körperliches Symptom 
überhaupt nicht finden. 

Wir haben somit die wesentlichsten Symptome der Neurose 
völlig aufgeklärt und gefunden, daß sie in der Tat nichts anderes 
sind als das Negativ der bisher geübten sexuellen perversen Betätigung 
der Kranken. Wir haben gesehen, daß die Sexualität der Pat. sich 
zusammensetzt aus Lustempfindungen, die Reizungen der Klitoris, 
der Mund- und Afterzone, der gesamten Haut, der Urinentleerung 
und der Bewegung ihre Entstehung verdanken. Zu diesen somatischen 
Lustquellen kamen als psychische Komponenten die als Schau- und 
Grausamkeitstrieb bezeichneten Faktoren. Diese Regungen kann 
man mit Recht sadistische nennen, sie repräsentieren nach Freud 
die Sexualität des geschlechtlich noch indifferenzierten Kindes; es 
fehlen ihr noch alle spezifisch weiblichen Triebregungen, wie ja über¬ 
haupt die Sexualität des Kindes, wie Freud treffend bemerkt, ein 
Stück Männlichkeit darstellt. Erst die Pubertät bringt die Entwicklung 
zum Weibe,, was körperlich dadurch zum Ausdruck kommt, daß die 
früheren erogenen Zonen an Bedeutung verlieren und die Erregung 
von der Klitoris auf die Scheidenschlcimhaut fortgeleitet wird. Freud 
führt des weiteren aus, daß sich die Klitoris mitunter weigert, ihre 
Erregung abzugeben, was gerade durch ausgiebige onanistische Be¬ 
tätigung im Kinderleben vorbereitet wird, woraus die Anästhesie für 
den normalen sexuellen Akt resultiere. In der Tat läßt der vorliegende 
Fall eine andere Deutung nicht zu. Man könnte ja nun annehmen, 
daß die Sexualität der Pat. überhaupt eine kindliche ist, entsprechend 
dem kindlichen Habitus ihrer gesamten Persönlichkeit, entsprechend 
den Äußerungen der psychischen Komponenten ihres Geschlechts¬ 
triebes. Man darf aber nicht vergessen, daß die Letzteren Partialtriebe 


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Saaler, 




der kindlichen Sexualität und somit mit den entsprechenden somatischen 
Komponenten untrennbar vereint sind. Man ist wohl zur Annahme 
berechtigt, daß die Pat., wenn es ihr vergönnt wäre, sich weiblich zu 
befriedigen, auch weiblich empfinden würde. Gerade diese Tatsache 
scheint mir auch die eigentliche Ursache des psychosexuellen Kon¬ 
fliktes zu sein. Der lediglich auf intellektuellen Faktoren basierende 
Wunsch, den ehelichen Pflichten nachzukommen, würde zur Erzeugung 
des Konfliktes kaum ausgereicht haben, andererseits würde die Ver¬ 
drängung der infantilen Sexualität nicht immer wieder erfolgt sein, 
wenn sie nicht in dem inneren Empfinden der Kranken stets auf Wider¬ 
stand gestoßen wäre. Auch einige der Erregungszustände der Pat., 
besonders der am 7. III., charakterisierten sich recht deutlich als 
Folge der Verdrängung einer ausgesprochen weiblichen, masochistischen 
Sexualität. Ich halte mich daher zu der Annahme für berechtigt, 
daß der psychische Umwandlungsprozeß der Sexualität vom Infantilen 
zum Weiblichen schließlich, wenn auch verspätet, so doch in durchaus 
normaler Weise einsetzte x ), daß hingegen der körperliche Umwand¬ 
lungsprozeß, die Abgabe der Erregung von der Klitoris auf die Scheiden¬ 
schleimhaut, mit diesem nicht hat Schritt halten können, so daß der 
Konflikt sich gewissermaßen als ein Mißverhältnis zwischen den 
psychischen und somatischen Komponenten des Geschlechtstriebs 
darstellt. Der normalen Libido ist der normale Weg zur Befriedigung 
versagt, sie verhält sich, um die Worte Freuds zu gebrauchen, „wie 
ein Strom, dessen Hauptbett verlegt wird; sie füllt die kollateralen 
Wege aus, die bisher vielleicht leer geblieben waren.“ Das verlegte 
Hauptbett ist die anästhetische Vagina, die Kollateralen sind die 
Lustquellen der infantilen Sexualität. 

Die vorgetragene Auffassung von dem Wesen der Frigidität gegen 
normalen sexuellen Verkehr, als deren letzte Ursache also die Onanie 
anzusehen ist, führt natürlich zu einer wesentlich günstigeren Prognose 
als die Annahme einer defekten Anlage, einer Entwicklungshemmung, 
der eine Weiterentwicklung zu normalen Verhältnissen versagt ist, 
gestatten würde. Wir haben uns daher auch für berechtigt geglaubt, 
die Prognose günstig zu stellen, vorausgesetzt, daß die Pat. unseren 
eindringlichen Rat, sich während mehrerer Monate jeglicher sexueller 

*) Hemmend auf die Umwandlung wirkte allerdings auch das sexuelle 
Trauma. 


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Eine Hysterie-Analyse und ihre Lehren. 


901 


Betätigung zu enthalten, befolge. Dabei haben wir uns nicht ver¬ 
hehlt, daß die Durchführung der sexuellen Abstinenz in Anbetracht 
der Minderwertigkeit der Pat. und ihrer starken sexuellen Triebe 
auf vielleicht unüberwindliche Schwierigkeiten stoßen würde. Aus 
diesem Grunde haben wir uns nur mit einer Entlassung zu den Eltern 
und nicht zu dem Manne einverstanden erklärt. Die erfolgte dann 
auch; wie aber nicht anders zu erwarten war, ist die Pat. wenige Tage 
nach ihrer Entlassung zu ihrem Manne durchgebrannt. Weitere 
Nachrichten über ihr Befinden habe ich nicht erhalten 1 ). 

Auf eine Tatsache will ich nun hinweisen, die aus der Betrachtung 
der Sensibilitätstörungen erhellt, und die, wenn sie durch fernere 
Beobachtungen bestätigt werden sollte, meines Erachtens eine nicht 
unwesentliche Bereicherung biologischer Erkenntnis bedeuten würde. 
Ich will zu diesem Zwecke die hauptsächlichen Sensibilitätstörungen, 
die beobachtet wurden, kurz rekapitulieren: 

Bei der Aufnahme: Totale Analgesie. 

Am 11. XII.: Sensibilität normal. 

„ 12. XII.: Rechte Körperhälfte normal, linke analgisch. 

,, 14. XII.: Totale Analgesie. 

„ 18. XII.: Auftreten einer normal empfindlichen Mittellinie. 

,, 2. I.: Das Gefühl breitet sich über den ganzen Körper aus. 

„ 17. I.: Linke Körperhälfte und Mundhöhle normal, rechte 

unempfindlich. 

„ 18. I.: Totale Analgesie. 

„ 20. I.: Sensibilität normal. 

„ 21. I.: Analgesie links. 

„ 22. I.: Totale Analgesie. 

,, 26. I.: Vorübergehend normale Empfindlichkeit rechts, links 

wie vorher. 

„ 4. II.: Sensibilität normal. 

„ 14. II.: Paraesthesien. 

„ 7. III.: Analgesie rechts. 

„ 9. III.: Totale Analgesie. 

„ 13. III.: Normale Sensibilität. 

Aus der vorstehenden Tabelle geht hervor, daß die Analgesie 
stets zuerst die eine Körperhälfte betraf und sich dann erst mehr oder 
weniger plötzlich auf den gesamten Körper erstreckte. Natürlich 

Ich habe die Pat. inzwischen wiedergesehen. Es ist ihr seitdem 
relativ gut gegangen. Allerdings hatte sie auf normalen Geschlechtsverkehr 
gänzlich verzichtet. 


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Saaler, 


muß dieses verschiedene Verhalten verschiedenen psychischen Pro¬ 
zessen entsprechen; daß es sich beim Schwinden der Sensibihtit uc 
Verdrängungsprozesse der Sexualität handelt, wurde bereits emhr. 
Ins hellste Licht gerückt wird diese Tatsache ja durch das Schwini: 
der Analgesie am 4. II. im Anschluß an einen Coitus per os. I)a w? 
wie ich ausgeführt habe, mit einem Kampf zweier Sexualitäten 
infantilen und der weiblichen, zu tun haben, so hegt es sehr nahe ann- 
nehmen, daß dem Schwinden der Schmerzempfindung auf der eins 
Körperhälfte die Verdrängung der infantilen, dem auf der ander : 
Seite die der normalen Sexualität entspricht. Tatsächlich zeigt es 
daß jedesmal, wenn die Pat. die perversen Neigungen verdrängte, ü 
Analgesie auf der linken, im anderen Falle auf der rechten Seite began. 
Die totale Analgesie entsprach stets der totalen Verdrängung te 
einer der beiden Sexualitäten, während die gleichzeitige Verdränge 
beider Sexualitäten in der normal empfindlichen Medianlinie bei mi 
analgischem Verhalten der gesamten übrigen Körperoberfläche nr 
Ausdruck kam. Die Analgesie der rechten Körperhälfte, die am 1”. - 
beobachtet wurde, erstreckte sich zwar auch auf die Nasen schleimig, 
der rechten Seite, nicht aber auf die Mundhöhle, die in ihrer gam-: 
Ausdehnung normal empfindlich war und damit die Bereitschaft fir 
die munderotische Betätigung eklatant zum Ausdruck brachte. Leie 
habe ich am 7. III., als wieder Analgesie der rechten Körperhälfte bestaec 
nicht rechtzeitig auf das Verhalten der Mundhöhle geachtet. Immert" 
scheint mir aus alledem zur Genüge hervorzugehen, daß die Media: 
linie des Körpers gewissermaßen eine Zone sexueller Indifferenzienr. 
darstellt, daß die rechte Körperhälfte der weiblichen, die linke o 
infantilen Sexualität entspricht. Hält man sich nun die Tatsart 
vor Augen, daß die infantile Sexualität mit ihrer sadistischen Eigen*' 
im ausgesprochenen Gegensatz steht zu der masochistischen ge¬ 
liehen, erinnert man sich ferner der Auffassung Freuds , die in 
infantilen Sexualität überhaupt ein Stück Männlichkeit sieht, so for 
die Vermutung nahe, in der rechten Körperhälfte die Repräsentativ 
der weiblichen, in der linken die der männlichen Anlage zu sehen 
Die Analyse liefert daher in der Tat, worauf Freud häufig h-‘ 
gewiesen hat, die Bestätigung der heute allerdings wohl kaum n>- 
bestrittenen Theorie von der bisexuellen Anlage des Menschen. 
wenn man bedenkt, daß sich das Individuum aus männlichem 


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Eine Hysterie-Analyse nnd ihre Lehren. 


903 


weiblichem Keimmaterial entwickelt, ja eigentlich auch selbstver¬ 
ständlich erscheint. Das Besondere aber, das der vorliegende Fall 
lehrt, ist, daß wir gezwungen sind, beim Weibe ein der Sexualität 
des eigenen Geschlechts entsprechendes Zentrum auf der linken und 
ein die infantile oder männliche Sexualität verkörperndes Zentrum 
auf der rechten Hirnhemisphäre anzunehmen 1 ). Das linke Zentrum 
würde demnach das persistierende sein, das in der Pubertät erst zur 
vollen Entwicklung gelangt und das rechtseitige primitive ablöst. 
Die an das letztere gebundenen Sexualtriebe würden normalerweise 
der Sublimierung anheimfallen müssen und, im Falle diese ausbleibt, 
die Vorbedingungen für die Inversion bzw. Perversion des Geschlechts¬ 
triebes des Weibes abgeben. Dieses selbe Zentrum müßte beim Manne 
natürlich, da aus ihm die männliche Sexualität hervorgeht, das 
persistierende sein und auf der linken Hemisphäre liegen. Aus Analogie¬ 
schlüssen würde man genötigt sein, bei ihm auf der rechten Seite ein 
der weiblichen Sexualität entsprechendes Zentrum anzunehmen, 
dessen übermäßige Entwicklung Homosexualität zur Folge haben 
würde. Eine Bestätigung dieser Theorien erblicke ich in dem analogen 
Verhalten des Sprachzentrums, das, wie allgemein angenommen wird, 
sich nur bei Rechtshändern auf der linken Hirnhemisphäre befindet, 
bei Linkshändern dagegen rechts, entsprechend der überwiegenden 
Entwicklung der rechten Hemisphäre 2 ). Auch das gleichzeitige Vor¬ 
kommen von Inversion und Linkshändigkeit erfährt durch die An¬ 
nahme von der Persistenz eines rechtseitigen, die Triebe des anderen 
Geschlechts enthaltenden Zentrums eine zwanglose Erklärung. Von 
dieser Beobachtung ausgehend, ist W. Fließ s ), wie ich allerdings erst 

‘) Dies kann natürlich nur bedeuten, daß das linke Zentrum mit 
vorwiegend weiblichen, das rechte mit vorwiegend männ¬ 
lichen Eigenschaften ausgestattet ist, da nichts Organisches denkbar ist, 
das nicht männliche und weibliche KSimelemente enthielte. 

*) Die durch die Beobachtung Mendels (Über Rechtshirnigkeit 
bei Rechtshändern. Neurol. Zentralbl. 1912, Nr. 3) jetzt wohl feststehende 
Tatsache, daß sich das Sprachzentrum bei Rechtshändern ausnahmweise 
auch auf der rechten Hirnhemisphäre entwickelt, ist ein vollgültiger 
Beweis für die ursprünglich doppelseitige Anlage des Sprachzentrums. 
Die Entwicklung desselben auf der im übrigen nicht dominierenden Hirn¬ 
hälfte würde ihr Analogon haben im Bestehen von Homosexualität bei 
Rechtshändern bzw. normaler sexueller Triebrichtung bei Linkshändern. 

*) W. Fließ, Der Ablauf des Lebens. 1906. 


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S aaler, 


wesentlich später erfuhr, schon vor mir zu einer ähnlichen Ansckum: 
gelangt, die er in seinem „Ablauf des Lebens“ niedergelegt hat Ii 
konnte nachweisen, daß manche Menschen, besonders Künstler, den* 
Wesen die psychischen Ausstrahlungen der Sexualität des anderes 
Geschlechts erkennen ließen, entweder Linkshänder waren, oder ht 
stärkere Ausbildung der linken Körperhälfte aufwiesen, eine Tatsache, 
die er als Linksbetonung des Künstlers beschrieben hat. In de 
Übergewicht der linken Körperhälfte, also der rechten Hirahemisphän 
erblickt er ein Plus von Weiblichkeit bei Männern, von Männlich^ 
bei Frauen. 

Die Annahme eines primitiven Sexualzentrums, das bei beider 
Geschlechtern die infantile, indifferenzierte Sexualität verkörptn 
beim männlichen die Vorstufe zur endgültigen Sexualität da rsteli' 
beim weiblichen mit dem Eintritt ins Pubertätsalter seinen Zweu 
erfüllt hat und sublimierte höhere Funktionen erhält, steht aber iud 
durchaus im Einklang mit unseren biologischen Anschauungen. 
wissen, daß die Ontogenie, die Entwicklungsgeschichte des Individuum- 
nichts anderes ist als eine kurze Rekapitulation der Phylogenie, d« 
Entwicklungsgeschichte der Art. Läßt sich die Richtigkeit die* 
Satzes an der Entwicklung der Organe nachweisen, warum sollte m£ 
nicht berechtigt sein anzunehmen, daß auch die Psyche mit allen 
Teilerscheinungen, also auch die Sexualität, einen ähnlichen 
wicklungsgang durchmacht? 

Wir wissen, daß die sekundären Geschlechtsmerkmale bei df' 
übrigen Säugetieren bei weitem nicht so ausgesprochen sind wie beis 
Menschen 1 ). Je weiter wir die Stammesgeschichte zurückverfo^ 1 
um so geringer wird der Unterschied zwischen den Geschleckten 
Eben beim erwachsenen Menschen erst sehen wir die Differenz^ 
der ursprünglich eingeschlechtigen Anlage in eine männliche und fl* 
weibliche in ihrer Vervollkommnung. Die Sexualität des Kindes 1 ' 
aber nichts anderes als indifferenzierte Sexualität entsprechend ^ 
Tätigkeit eines primitiven Sexualzentrums. 

Die Annahme des Bestehens einer Sexualität beim Kinde 
meines Erachtens keineswegs im Gegensatz zu der kindlichen Unschuld 
Wer dem Begriff der infantilen Sexualität voll gerecht wird, verbind 
eben mit ihr ganz andere Anschauungen als mit der des Erwachs^ 1 

*) Vgl. Oskar Schläue, Das Weib in anthropologischer Betracht 
Würzburg, A. Stübers Verlag, 1906. 


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Eine Hysterie-Analyse und ihre Lehren. 


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Am meisten hat man sich gestoßen an der Behauptung Freuds von der 
polymorph-perversen Anlage des Kindes. Streng genommen ist auch 
die Bezeichnung „pervers“ für die Sexualität des Kindes nicht passend; 
denn von einer Perversion des Geschlechtstriebs kann ja nur da die 
Rede sein, wo eine normale Libido, die Libido des Erwachsenen, 
Voraussetzung sein sollte. Von einer solchen ist aber beim Kinde 
nicht die Rede. Man hat daher unter der polymorph-perversen Anlage 
keine Perversion zu verstehen, sondern eine Anlage, die, wenn sie über 
die Geschlechtsreife hinaus fort besteht, die Vorbedingung für die 
Perversion abgibt. Meines Erachtens ist es auch nicht statthaft, beim 
Kinde von einer erotischen Phantasie im Sinne bewußter Sexualität 
zu sprechen. Denn auch die Onanie wird normalerweise beim Kinde 
nicht von sexuellen Phantasien begleitet, sie geschieht lediglich zur 
Bereitung von Lustgefühlen, deren sexuelle Natur dem Kinde nicht 
einmal bekannt zu sein braucht. Man kann übrigens zweifelhaft sein, 
ob man masturbatorische Betätigung vor Beginn der Geschlechtsreife, 
wenigstens soweit sie nicht auf Verführung zurückzuführen ist, nicht 
schon in das Bereich des Pathologischen zu verweisen hat. Es ist ja 
bekannt, daß bei neurotisch veranlagten Individuen das „Primat der 
Genitalzonen“ (Glans penis, Clitoris) sich früher einstellt als bei 
Gesunden, eine Tatsache, die mit der sexuellen Frühreife der meisten 
Neurotischen wohl im Einklang steht. Auch Freud weist daraufhin, 
daß das Interesse, das die Kinder schon in relativ zartem Lebensalter 
der Frage der Fortpflanzung entgegenbringen, nicht sexuellen Ursprungs 
ist, sondern nur ihrer Wißbegier entspringt. Tatsächlich berührt 
das Problem der Fortpflanzung die Sexualität des Kindes nicht, 
solange sie sich im Stadium des Autoerotismus befindet. Erst mit dem 
Erwachen der heterosexuellen Triebe gewinnt die Frage eine neue und 
völlig ungeahnte Bedeutung. 

Das primitive Sexualzentrum muß ja naturgemäß auch viel 
weniger differenziert sein, als das bleibende; es empfängt wahrschein¬ 
lich seine Impulse hauptsächlich durch Fortieitung der Erregung 
von dem auf reflektorischem Wege gereizten, im Sakralmark gelegeüen 
niederen Sexualzentrum. Erinnert man sich der Tatsache, daß dieses 
ja in unmittelbarer Nähe der Zentren für die Urin- und Stuhlentleerung 
gelegen ist, so ist es auch verständlich, wie es kommt, daß so innige 
Beziehungen zwischen der sexuellen körperlichen Entspannung und 


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Sa&ler, 


der Blasen-Mastdarm-Tätigkeit bestehen. Es ist bis zu einem gewissen 
Grade ja auch wahrscheinlich, daß die im Sakralmark gelegenen 
Zentren beim Kinde noch nicht differenziert sind und nur e i n Zentrum 
darstellen, von dem sich das Sexualzentrum erst mit beginnender 
Geschlechtsreife absondert. Bis dahin geschieht sexuelle Reizung 
und Entspannung eben vermittels der Blasen-Mastdarm-Tätigkeit 
und ist mit ihr untrennbar verbunden. 

Daß die Hysterie nicht in dem Sinne eine psychogene Erkrankung 
ist, wie man gewöhnlich annimmt, sondern, um einen treffenden 
Ausdruck Strohmayers x ) zu gebrauchen, mit einem Fuße im Organi¬ 
schen steht, geht schon aus dem Vorstehenden recht deutlich hervor. 
Ich bin aber in der Lage, diese Tatsache in noch wesentlich helleres 
Licht zu rücken. Die Annahme, daß zu bestimmten Zeiten körperliche 
Ursachen eine hervorragende Rolle spielten, resultiert schon aus der 
Erfahrung, daß mitunter der Aufklärung eines Symptoms, dem zu 
anderen Zeiten auf psychischem Wege beizukommen war, die Be¬ 
seitigung nicht auf dem Fuße folgte. Dies zeigt sich besonders in der 
zweiten Erkrankungsperiode, aber auch während der ersten Periode 
trat „Heilung“ erst ein, nachdem lange nichts mehr zu analysieren 
war. Ich sah mich daher* veranlaßt, anzunehmen, daß Symptome, 
selbst wenn sie psychogen entstanden sind, keineswegs zu jeder Zeit 
auf psychischem Wege beseitigt werden können, sondern daß ganz 
bestimmte im Körperlichen begründete Bedingungen für ihre Be¬ 
seitigung (wie auch für ihre Entstehung) vorhanden sein müssen. 
Diese Annahme fand ihre Bestätigung durch Untersuchungen, die sieb 
auf den Flaschen biologischen Lehren aufbauen. Diese gipfeln 
darin, daß allen Lebensvorgängen in der Natur die Periodizität von 
28 und 23 Tagen gemeinsam ist. Fließ betont, daß auch die Funktionen 
des Gehirns, insbesondere die psychischen Leistungen, dem periodischen 
Geschehen untertan sind. Betrachten wir uns nun die wichtigsten 
Daten der Krankengeschichte, die ich zu diesem Zwecke in zwei 
Gruppen einteüe, nach dem Gesichtspunkte der Periodizität: 

I. Gruppe: II. Gruppe: 

10. XII. 11. abends 20. XI. 11. abends 

2. I. 12. ., 13. XII. 11. „ 

‘) Strohmayer , Kinderhysterie mit schweren Störungen der Lage- 
und Bewegungsempfindungon. Ztsohr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. Bd. VIII. 
Heft 6. 


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Eine Hysterie-Analyse and ihre Lehren. 


907 


4. II. 12. 18. XII. 11. abends 

13. III. 12. morgens 15. I. 12. „ 

12. II. 12. 

7. III. 12. morgens. 

Die Zeitabstände der ersten Gruppe sind: 

1. 10. XII.—2. I. = 23 Tage. 

2. 2. I.—4. II. = 33 = 2 X28 — 23 Tage. 28 

3. 4. II.—13. III. morgens = 37 = 23 + 14 = 23 + % Tage. 

Abstand 1 + Abstand 2 = 56 = 2 x28 Tage. ^ 

„ 2 + „ 3 = 70 = 3 x23 + 1 Tage. 

„ 1 + ,, 2 + Abstand 3 = 93 = 4 x23 + 1 Tage. 

Die Zeitabst&nde der zweiten Gruppe sind: 

1. 20. XI.—13. XII. = 23. 

2. 13. XII.—18. XII. = 5. 

3. 18. XII.—15. I. = 28. 

4. 15. I.—12. II. = 28. 

5. 12. II.—7. III. morgens = 23. 

Abstand 1 + 2 = 28 Tage. 

„ 2+3+4+5=84=3x28 Tage. 

„ 1 + 2+ 3+ 4+ 5 - 107 *3x28 + 23 Tage. 

In der ersten Gruppe habe ich die Daten zusammengestellt, an 
denen die Sensibilitätstörungen verschwunden sind. Die Abstände 
lehren, daß diese Erscheinung in der Tat an irgend welche periodische 
körperliche Vorgänge geknüpft sein muß. Wer jemals Menstruations¬ 
abstände in größerer Zahl gemessen hat, der weiß, daß die Abstände 
23, 33 = 56 — 23 und 37 = 23 + 14 ungemein häufig Vorkommen. 
Am 4. II. verschwanden die Gefühlsstörungen allerdings nicht von 
selbst, sondern im Anschluß an einen coitus per os. Es muß aber in 
Betracht gezogen werden, daß das Verlangen nach dieser Art des 
Verkehrs nur an wenigen Tagen während der Erkrankung vorhanden 
war; man muß daher auch annehmen, daß, wenn er zu einer anderen 
Zeit stattgefunden hätte, keinesfalls eine Wiederkehr der Hautempfin¬ 
dung, wahrscheinlich sogar nervöse Störungen in seinem Gefolge auf¬ 
getreten wären. Da nun, wie ich gezeigt habe, die Beseitigung der 
Analgesie stets auf eine Wiederaufnahme des verdrängten Wunsches 
nach munderotischer Betätigung zurückzuführen war, so liegt es nabe, 
anzunehmen, daß an diesen Tagen irgendwelche körperlichen Vorgänge 
zu einer sexuellen Erregung im Sinne der infantilen Sexualität führten. 
Ich könnte den vier Daten der ersten Gruppe noch ein fünftes hinzu- 


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Saaler, 


fügen, nämlich den 26.1. vormittags, 23 Tage nach dem 2. L Damals 
war vorübergehend die rechte Körperhälfte gegen Nadelstiche empfind¬ 
lich. Die Kranke weinte, angeblich weil ihr Mann unter ihrer Krank¬ 
heit leiden müsse. Wenn es zutrifft, daß sie an diesem Tage ihre Un¬ 
fähigkeit zu normalem sexuellen Verkehr in erhöhtem Maße empfand, 
so erscheint die Annahme, daß es damals zu einer erneuten Ver¬ 
drängung der infantilen Sexualität gekommen ist, wohl begründet. 
Da die Kranke bereits völlig analgisch war, so trat nicht wie sonst 
Analgesie links, sondern Algesie rechts auf. Man kann diese natürlich 
auch als Folge von Reaktionsverstärkung des entgegengesetzten 
Verlangens, also der normalen Triebrichtung auffassen, was praktisch 
auf das gleiche hinausläuft. 

Was bedeuten nun die Daten der zweiten Gruppe? Ich bin da 
ausgegangen von dem 18. XII. 1911, nachdem ich ausgerechnet hatte, 

28 X 23 

daß die Pat. an diesem Tage 14 x 23* = 23x —-— Tage alt war. 

Folgt man den Fließ sehen Theorien, so muß man dieser Zahl eine 
hervorragende Bedeutung im Leben der Pat. beimessen. Des näheren 
kann ich hier darauf nicht eingehen. An diesem Tage abends trat nun 
die normal empfindliche Medianlinie auf, deren Entstehung ich als Folge 
der Verdrängung beider Sexualitäten aufgefaßt habe. Da sich die 
infantile bereits in der Verdrängung befand, so mußte an diesem Tage 
ein Verdrängungsschub der normalen Sexualität stattgefunden haben, 
der aber nur erfolgen konnte, wenn ihm eine durch entsprechende 
körperliche Vorgänge begründete Stärkung der weiblichen Anlage 
vorangegangen war. Die Neurose verwandelt eben alles in das Gegen¬ 
teil. Die Bedeutung des Tages läge demnach in der Tendenz des 
Körpers, die infantile durch die weibliche Sexualität zu ersetzen. 
Am folgenden Tage, dem 19. XII. gab die Kranke an, die gleichen 
Leibschmerzen zu haben wie genau 4 Wochen vorher, während sie 
sich auf der Gesellschaft bei dem Hausarzt befand. Ich habe auf S.884 
nachgewiesen, daß an diesem bzw. am folgenden Tage auch ihr Ge¬ 
dankengang der gleiche gewesen ist wie 4 Wochen vorher, was gewiß 
für die Identität der physiologischen Vorgänge spricht. Am 21. XL 
war die Gesellschaft bei dem Hausarzt, damals begann die Erkrankung. 
Am 19. XII. (richtiger am 18. XIL) beginnt ein neuer Krankheitschub. 

4 Wochen später, am 15.1.12. setzt die zweite Krankheitperiode ein 


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Eine Hysterie-Analyse und ihre Lehren. 


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mit Analgesie rechts, am 16. I. folgen Schmerzen (wie am 19. XII. 
und am 21. XI.) und Angst. Am 17. I. verlangt sie energisch nach 
gynäkologischer Untersuchung mit der Begründung, daß etwas im 
Unterleib nicht in Ordnung sein müsse, ganz ebenso wie 2 mal 28 Tage 
vorher, während sie 28 Tage früher, am 20. XIL Sensationen im 
Unterleib hatte, die sie als Menstruation deuten zu müssen glaubte. 
Wahrscheinlich hätte sie an diesem Tage auch die Untersuchung 
verlangt, wenn diese nicht am 14. XII. auf ihren Wunsch bereits erfolgt 
wäre, nachdem sie am 13. XII. im Bade einen leichten Ohnmacht¬ 
anfall gehabt hatte, der wohl nichts anderes als das Symbol eines 
normalen coitus vorstellt. Am 13. XIL waren aber 23 Tage seit dein 
20. XI. vergangen. 28 Tage nach dem 15. L, in der Nacht vom 12. zum 
13. II. ist sie schlaflos infolge sexueller Erregung. Am 13. II. hat sie 
Schmerzen im Leib, am 14 IL Paraesthesien, stellt sich normalen 
Verkehr vor und glaubt jetzt infolge der gynäkologischen Behandlung 
dazu imstande zu sein. Am 7. III., 23 Tage nach dem 13. IL, hat sie 
Angst, Analgesie rechts und eine schwere Erregung, in der sie sich 
verhält wie beim Erdulden eines coitus. 

Wir sehen also an den Tagen der zweiten Gruppe und den darauf¬ 
folgenden dieselben Erscheinungen mit fast photographischer Treue 
wiederkehren. Daß es sich dabei um einen Zufall handelt, wird wohl 
niemand behaupten. Zweifellos ging an den genannten Tagen im Körper 
irgend etwas vor sich, was auf eine Erregung im Sinne der weiblichen 
Sexualität hinauslief 1 ). Am 18. XIL, 15. I. und 7. III. reagierte die 
Psyche auf diesen Vorgang mit der Verdrängung (wahrscheinlich 
aus denselben Gründen wie im Mai 1909), während sich am 13. II. eine 
sexuelle Erregung einstellt, die nicht verdrängt wurde, offenbar deshalb 
nicht, weil die Kranke damals hoffte, infolge der gynäkologischen 
Behandlung von ihrer Frigidität gegenüber normalem Verkehr geheilt 
zu sein. Am 7. III. kam es wieder zur Verdrängung, da inzwischen 
der Versuch eines normalen coitus mißglückt war. Die „Welle“ vom 
21. XL gab, wie aus der Art der Angstvorstellung, die kurz darauf 
auf trat, hervorging, Anlaß zur Verdrängung der perversen Trieb- 

*) Bei dem Verlangen nach gynäkologischen Untersuchungen spielt 
neben den genannten Momenten wohl auch das Faktum eine Rolle, daß 
solche Untersuchungen eine Reizung der Genitalien mit sich bringen, die 
gerade in Zeiten sexueller Erregung erwünscht war. 


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Saaler, 


richtung, was offenbar infolge des Wunsches, den ehelichen Pflichten 
nachzukommen, geschehen war. Aus alledem geht mit großer Deut¬ 
lichkeit hervor, daß die unmittelbare Ursache der Sensibilitätstörungen 
in der Tat eine psychische ist, während der psychische Vorgang wiederum 
aus körperlichen Prozessen resultiert. 

Was nun das Wesen dieser körperlichen Vorgänge betrifft, so geht 
man wohl nicht fehl in der Annahme, daß die innere Sekretion eine 
hervorragende Bolle dabei spielt. Die Beziehungen der Schilddrüse 
und der Hypophyse zur Sexualität (ersterer besonders zur weiblichen! 
sind bekannt. Möglicherweise spielt auch die innere Sekretion der 
Ovarien dabei eine Rolle. Meines Erachtens sind diese Vorgänge aber 
in erster Linie auf besondere Funktionen der Ganglienzellen der Hirn¬ 
rinde zurückzuführen. 

Stellt man die Daten der Krankengeschichte zusammen, an 
denen ein Schmerzanfall auftrat (der sich naturgemäß über mehrere 
Tage erstrecken kann), so sieht man, daß auch der 29. XII. (Schmerzen 
in der linken Brustdrüse, denen solche im linken Hypogastrium, im 
linken Auge, auf der ganzen linken Körperhälfte folgen) und der 21.1. 
(Schmerzen im linken Hypogastrium) die Periodizität der 23 Tage 
erkennen lassen, ferner daß der Abstand vom 21. L bis zum 13. IL 
(Schmerzen im rechten Hypogastrium) wiederum 23 Tage ist. Es 
gehören also der 29. XIL und der 21. I. ebenfalls in die zweite Gruppe. 
In dieser spielt demnach auch die Periodizität der 23 Tage eine Rolle, 
offenbar aber eine wesentlich geringere als die der 28, während in der 
ersten Gruppe die Periodizität der 23 Tage überragt. Erinnert man 
sich daran, daß die infantile Sexualität der männlichen Anlage ent¬ 
spricht, so kann man in diesem Verhalten eine Bestätigung des Flie߬ 
achen Satzes erblicken, daß die 23 Tage die Lebensdauer der männlichen, 
die 28 die der weiblichen Substanzeinheit bedeuten x ). 

Zum Schluß will ich nicht verfehlen, auf die völlige Bedeutung- 
losigkeit von Anomalien an den Genitalorganen für die Neurose hinzu¬ 
weisen. Es wäre dies allerdings überflüssig, da die Theorie von der 
Entstehung der Hysterie auf dem Boden der Erkrankungen des Uterus 
und seiner Adnexe eine längst überwundene ist, wenn nicht gerade 

*) Gleichzeitig eine Bestätigung der Annahme, daß das linke Sexual¬ 
zentrum vorwiegend weibliche, das rechte vorwiegend männliche Eigen¬ 
schaften enthält. Vgl. S. 903 Anm. 1. 


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Eine Hysterie-Analyse and ihre Lehren. 


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in neuerer Zeit von gynäkologischer Seite (Schultee, Bossi ) wieder 
auf diese alten Anschauungen zurttckgegriffen würde. Aber auch noch 
etwas anderes lehrt die Analyse, nämlich daß man auch in der Annahme 
von Anomalien am Genitalapparat bei Neurotischen nicht vorsichtig 
genug sein kann. In unserem Falle ist, wie mir berichtet wurde, vorher 
eine Operation von Gynäkologen tatsächlich in Erwägung gezogen 
worden und zwar wegen Beschwerden, die, wie ich habe zeigen können, 
mit dem Genitalapparat selbst in keinerlei Beziehungen standen. 
Es war ein bloßer Zufall, daß der Sitz der neuralgischen Schmerzen 
mit einer alten, kaum empfindlichen und völlig belanglosen Narbe im 
Beckenbindegewebe zusammenfiel. 

Nachtrag bei der Korrektur: Ich möchte noch darauf hinweisen, 
daß die Angaben der Pat. über die Art des sexuellen Verkehrs regel¬ 
mäßig durch den Gatten bestätigt worden sind. Leider war es nicht 
möglich, über die sexuellen Erlebnisse vor der Ehe objektive Mit¬ 
teilungen zu erhalten. Im wesentlichen wird man aber den Angaben 
der Pat. Glauben schenken dürfen, da das Gedächtnis keine Defekte 
aufwies und auch nichts für das Bestehen einer Pseudologia phan- 
tastica sprach, wie überhaupt die Artung der Kranken mehr die Züge 
des psychischen Infantilismus als die des sogenannten hysterischen 
Charakters erkennen ließ. 


Ztitaohrift für Psyohiatrie. LXIX. 6. 


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88. ordentliche Generalversammlung des Psychiatri¬ 
schen Vereins der Eheinprovinz am 15. Juni 1912 in 

Bonn. 

Anwesend sind die Mitglieder: Adams, Bastin, Becker, Bernerd, 
Beyer, Beyerhaus, Bodet, v- Ehrenwall, Ennen, Fabricius, Förster- Bonn, 
Gerhartz, Giesler, Gudden, Herting, Herzfeld, Höstermann, Hübner, Kentenith- 
Gladbach, Lenneper, Liebmann, Linzbach, Lücnerath, Mappes, Märchen, 
Neu, Oebeke, Pelman, Peretti . Pfahl, Pollitz, Rademacher, Rosenthal, Rilj, 
Rusak, Schaumburg, Schmitz-Bonn, Schulten, Sioli, Strasmann, Thomsen, 
Thywissen, Umpfenbach, Vohs, Wassermeyer, Westphal, Wilhelmy. 

Als Gäste sind anwesend: Dr. Bergerhoff -Bonn und Dr. Wildenrath 
Beuel bei Bonn. 

Der Vorsitzende teilt bei Beginn der Sitzung mit, daß seit der letzten 
Versammlung gestorben sind: Sanitätsrat Behrendt-Ö&yn, Geh. Sanitätsrat 
Brandis -Godesberg, früher in Aachen, Sanitätsrat Länderer, Direktor 
der Prov.-Heil- und Pflegeanstalt in Andernach a. Rh., und Geh. Medizinal¬ 
rat Marx- Bonn, früher Kreisarzt in Mülheim a. Ruhr. 

In den Verein werden aufgenommen: Dr. Kellner, Anstaltsarzt, 
und Dr. Leber, Assistenzarzt, beide in der Prov.-Heilanstalt Johannistal 
bei Süchteln, Dr. Recktenwald- Langenfeld, Anstaltsarzt der Prov.-Heil¬ 
anstalt Galkhausen, und Dr. Strasmann, Arzt für innere und Nerven- 
Krankheiten in Godesberg. 

Zur Aufnahme in den Verein melden sich: Dr. Lorenz, Assistenzarzt 
der Prov.-Heilanstalt in Düren, und Dr. Steinbrecher, Assistenzarzt der 
Prov.-Heilanstalt in Merzig a. Saar. 

Es folgen die Demonstrationen und Vorträge: 

Westphal- Bonn: Krankenvorstellungen. 

1. Komplikation von Tetanie mit Hysterie oder 
hysterischer Pseudotetanie? 

Der demonstrierte Patient, der 60 jährige Schuhmacher Sch., ist seit 
dem Jahre 1894 zu wiederholten Malen in der hiesigen Anstalt wegen 
dipsomanischer Anfälle und Tetanie in Behandlung gewesen. Bei einem 


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Psychiatrischer Verein der Rheinprovinz. 


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mehrmonatigen Aufenthalt in der medizinischen Klinik im Jahre 1896 
-wurden auch epileptische Anfälle und akute halluzinatorische Verwirrt¬ 
heitszustände bei dem Patienten beobachtet. Der Fall ist damals vom 
Herrn Geh. Rat Schultze l ) eingehend beschrieben und veröffentlicht 
worden. Der Umstand, daß in dem Krankheitbilde jetzt wesentliche 
Symptome verschwunden, andere krankhafte Erscheinungen neu auf- 
getreten sind, rechtfertigt die erneute Besprechung und Demonstration 
des Falles. Die Auslösbarkeit der Anfälle ist noch im wesentlichen dieselbe 
außerordentlich mannigfaltige, wie sie von Fr. Schultze beschrieben worden 
Ist. Durch Druck auf die Gefäße oder Nervenstämme (Trousseausches 
Phänomen), durch Kompression von Muskeln und Hautfalten gelingt 
es regelmäßig die Anfälle an oberen und unteren Extremitäten bald ein¬ 
seitig, bald doppelseitig hervorzurufen. Auch bei intendierten Bewegungen, 
kräftigem Händedruck, Heben des Armes über die Horizontale werden 
typische Tetanieanfälle in den betreffenden Extremitäten ausgelöst. 
Auch durch Hautreize, Nadelstiche, Kitzeln der Haut der Nierengegend 
(Fr. Schultze) gelingt es, die Krampfzustände hervorzurufen. 

Im übrigen fehlen zurzeit die Kardinalsymptome der Tetanie völlig. 
Galvanische Übererregbarkeit, Fazialisphänomen, Übererregbarkeit der 
anderen motorischen Nerven, Erscheinungen, die im Jahre 1895 von Herrn 
Geh. Rat Schultze, mit Ausnahme der auch damals nicht deutlich vor¬ 
handenen elektrischen Veränderungen, festgestellt wurden, lassen sich 
jetzt weder in den anfallfreien Zeiten, noch nach den Anfällen nach- 
weisen. Auch die von Fr. Schultze 2 ) beschriebene eigentümliche Falten¬ 
bildung in Zunge und Gesichtsmuskeln bei Perkussion derselben ist nicht 
vorhanden. 

Das Fehlen aller wesentlichen Symptome der Tetanie macht die 
Beurteilung der noch in voller Ausbildung vorhandenen eigenartigen 
Krampfzustände jetzt zu einer schwierigen. Eine Reihe von Unter¬ 
suchungen ( A. Weatphal, Curschmann jun. u. a.) haben gezeigt, daß die 
hysterische Pseudotetanie alle Erscheinungen der echten Tetanie in 
frappanter Weise Vortäuschen kann, mit Ausnahme des Frischen Phäno¬ 
mens, welches bei der Pseudotetanie stets fehlt, demnach als differential- 
diagnostisches Kardinalsymptom ( Curschmann jun.) bezeichnet werden 
muß. 

Die große Mannigfaltigkeit in der Auslösbarkeit der AnfäBew bei 
der psychische autosuggestive Momente sicher eine Rolle spielen, kommt 
gewöhnlich bei der hysterischen Pseudotetanie, mitunter aber auch bei 
der echten Tetanie zur Beobachtung. Handelt es sich nun in dem vor¬ 
liegenden Fall um eine hysterische Pseudotetanie, welche sich bei unserem 
Patienten auf dem Boden einer früher vorhandenen echten Tetanie ent- 

») Weiterer Beitrag zur Lehre von der Tetanie. Deutsche Zeitschrift 
für Nervenheilkunde 7. Bd., 1895. 

*) Münchener medizinische Wochenschrift 1911, Nr. 44. 

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Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 


wickelt hat, oder um eine Kombination von echter Tetanie mit hysterischen 
Beimengungen? Wir glauben, daß die Beobachtungszeit des erst vor 
kurzem wieder aufgenommenen Kranken noch nicht ausreicht, um sichere 
Schlüsse über die Frage zu ziehen. Wiederholte Untersuchungen werden 
erst Aufschluß darüber geben können, ob elektrische oder mechanische 
Erregbarkeitsteigerungen der Nerven bei unseren Kranken jetzt dauernd 
fehlen, oder ob diese Erscheinungen vielleicht im weiteren Verlauf der 
Beobachtung wieder in die Erscheinung treten werden. Ein hysterische* 
Moment spielt in dem Krankheitbilde jetzt zweifellos eine Rolle. Wb 
haben bei der Einlieferung des Kranken einen typisch hysterischen Anfall 
mit Herumwälzen und Schlagen, Beißen nach der Umgebung usw. kon¬ 
statieren können. Epileptische Anfälle sind noch nicht wieder aufgetreten 
Die früheren dipsomanischen Anfälle scheinen jetzt mehr einem chroni¬ 
schen Alkoholismus Platz gemacht zu haben. Von körperlichen Er¬ 
scheinungen sind wie bei den früheren Beobachtungen die Patellarreflexe 
sehr schwach, mitunter nicht deutlich auslösbar, und es fehlen die Bauch- 
deckenreflexe. 

2. Hysterische Pseudotetanie. 

Die Anfälle in den oberen Extremitäten der jugendlichen demon¬ 
strierten Patientin, welche bei Druck auf den Sulc. bicip. int. oder durc-i 
beliebige suggestive Einflüsse ausgelöst werden, entsprechen ganz dem 
Bilde der echten Tetanie. 

Die Entwicklung des Leidens heraus aus einer hysterischen Geh¬ 
störung, zahlreichen hysterischen Stigmata (Hemianästhesie, zeitweilig 
auftretender hysterischen Aphonie, Globus usw.), typisch-hysterische 
Schüttelanfälle sichern in diesem Falle die Diagnose. Es besteht keine 
galvanische oder mechanische Übererregbarkeit der Nerven. 

3. Fall von beginnender Akromegalie mit deut 
lichem Röntgenbefund an der Sella turcica 1 ) 

Die 36 Jahre alte, früher gesunde Frau A. K. erkrankte vor 3 Jahren 
im Anschluß an das vorletzte Wochenbett unter allgemeinen nervösen 
Beschwerden, Schwindel, Herzklopfen, Schmerzen in der Herzgegend. 
Angst und Depressionsgefühl. Zu gleicher Zeit merkte sie, daß sich ihre 
Hände vergrößerten. Sie mußte Herrenhandschuhe tragen und sich ihren 
Trauring erheblich weiter machen lassen. Auch die Füße vergrößerten 
sich, ihre Schuhe paßten ihr nicht mehr. Die Verwandten gaben an, daß 
auch das Gesicht größer, besonders länger geworden sei 

Objektiv finden sich bei der Patientin auffallend große Hände mit 
plumpen verdickten Fingern. Die Verdickung betrifft anscheinend sowohl 


*) Von diesem Fall konnten nur Photographien und Röntgen¬ 
aufnahmen des Schädels demonstriert werden, da die Patientin nicht zur 
Vorstellung erschienen war. 


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die Knochen, wie die Weichteile. Die Füße und Zehen sind groß, wenn 
auch nicht so auffallend verändert wie die Hände. Der Gesichtsschädel 
ist groß, die Nase lang, die Jochbogen breit, das Kinn tritt stark hervor. 

Opht almoskopisch findet sich beiderseits 
Stauungspapille r. >1. 

Es besteht keine Hemianopsie. 

Das Röntgenbild des Schädels (Chirurgische 
UDiversitäts-Klinik) ergibt eine ausgesprochene 
Vertiefung und Verbreiterung der Sella turcica. 
Im übrigen ist der Befund an den inneren Organen und dem Nerven¬ 
system ein negativer. Es besteht keine Albuminurie oder Glykosurie. 
Die Vergrößerung der distalen Teile der Extremitäten und des Gesichts, 
‘in Verbindung mit der Stauungspapille und dem Befunde an der Sella 
turcica, lassen die Diagnose auf Akromegalie und Hypophysentumor 
mit großer Wahrscheinlichkeit stellen. 

Der Fall beweist die Wichtigkeit der von Oppenheim zuerst aus¬ 
geführten Röntgenuntersuchung des Schädels bei Fällen, deren klinische 
Erscheinungen auf Akromegalie hinweisen. 

Der vorliegende Fall muß als ein beginnender mit noch nicht sehr 
ausgesprochenem akromegalischen Veränderungen bezeichnet werden, 
so daß der Röntgenbefund besonders bemerkenswert ist. Hervorzuheben 
ist ferner die Tatsache, daß die Sexualfunktion der Patientin noch nicht 
erloschen ist, die klinischen Erscheinungen vielmehr im Anschluß an ein 
Wochenbett zuerst in die Erscheinung traten. Ziehen *) hat vor kurzem 
das Verhalten der Sexualfunktion bei Hypophysentumoren eingehender 
besprochen und das Erlöschen derselben als das wichtigste und charakte¬ 
ristischste Symptom dieser Tumoren bezeichnet. Unser Fall zeigt, daß 
auch dies Symptom nicht ausnahmlos vorhanden ist, vielmehr in Früh- 
Stadien des Leidens die Zeugungsfähigkeit beim Weibe noch erhalten 
sein kann. 

4. Fall von Tabes bei einer Zwergin auf hereditärer 

luischer Basis. 

Es handelt sich um eine 40 jährige imbezille Zwergin, bei der die 
körperliche Untersuchung als zufälligen Befund reflektorische Pupillen¬ 
starre und Fehlen der Kniephänomene ergeben hat. Patientin ist virgo 
intacta! Wassermann im Blut negativ. Die Spinalpunktion ist bei der 
stark rachitisch verkrümmten Wirbelsäule der Zwergin nicht ausführbar 
gewesen. 

Anamnestisch ergibt sich, daß der Vater früh an einer Gehirnkrank¬ 
heit gestorben ist, und daß Patientin selbst mit einem „roten pöckchen- 
artigen“ Ausschlag bedeckt zur Welt gekommen ist. Sehr wahrscheinlich 

i) Vers, der Charitö-Ärzte. Sitzung 7. März 1912. BerL klin. Wschr. 
1912, Nr. 20. 


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ist es, daß es sich um Syphilis gehandelt hat, auf deren Boden sich im 
späteren Leben eine Tabes entwickelt hat, über deren Beginn nichts 
bekannt ist. 

Da die serologische Untersuchung der Spinalflüssigkeit nicht möglich 
war, kann der Fall leider keinen ganz einwandfreien Beitrag zu dem inter- ' 
essanten, neuerdings von Nonne und Hauptmann l ) beigebrachten Tat¬ 
sachenmaterial „über serologische Untersuchungen von Familien syphi- 
logener Nervenkranker“ bringen. 

«Strasmonn-Godesberg stellt eine 63 jährige Patientin vor mit einer 
seit jetzt 6 Jahren bestehenden Atrophie beider Vorderarme 
und der Handmuskulatur. Es handelt sich um eine Paralyse 
aller großer Fingerbeuger und eine mäßige Parese aller kleinen Hand¬ 
muskeln, die ganz symmetrisch verteilt sind. Elektrisch besteht völlige 
und partielle Entartungsreaktion. Die Radialismuskulatur ist beiderseits 
. intakt. Die Reflexe sind vorhanden, am rechten Arm etwas lebhafter 
als links. Die Sehnenreflexe der Beine nicht different, nicht besonders ge- 1 
steigert. Keine Rigidität der Muskulatur, keine fibrilläre Zuckungen. Links 
deutlicher Babinski. Keinerlei Sensibilitätstörung. 

Dem klinischen Symptomenbilde nach handelt es sich um eine 
Erkrankung der gesamten zentralen motorischen Leitungsbahnen, d. h. 
um eine amyotrophische Lateralsklerose. Auffallend ist der ganz abnorm 
lange Verlauf, das sehr langsame Fortschreiten der Erkrankung, das 
Fehlen der Rigidität und der fibrillären Zuckungen. 

Interessant ist ferner die Tatsache, daß die Kranke vor langen 
Jahren zweimal operiert wurde wegen „angeborener“ HalsfisteL Es 
handelte sich um einen Testierenden Kiemengang, der durch Kauterisation 
entfernt wurde. Diese abnorme Entwicklungsanlage ist deshalb von 
Wichtigkeit, weil sie einen weiteren Beitrag bildet zu der Ansicht Strüm¬ 
pells, daß es sich bei diesen symmetrischen chronischen Erkrankungen 
des Rückenmarks wahrscheinlich um eine abnorme Anlage der motorischen 
Bahnen handele, die dann im späteren Alter versage. 

Jüfcrnng-Galkhausen: „Über Hausindustrie in den 
Anstalte n.“ 

Als Hausindustrie im eigentlichen Sinne sind die fabrik¬ 
mäßig und zur Rechnung anderer gehenden Arbeiten zu bezeichnen, im 
weiteren Sinne auch die, zum Teil erst in den letzten Jahren ein¬ 
geführten Beschäftigungsarten, deren Produkte entweder im Anstalt - 
haushalt selbst verwendet oder über den Bedarf hinaus angefertigt werden. 
Mit der Steigerung des irrenärztlichen Interesses an der Arbeitstherapie 
wuchs auch das Verlangen nach größerer Mannigfaltigkeit der Arbeits¬ 
zweige, und zwar wünschte man 1. Massenbeschäftigung für zu Feld- und 

*) Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie Bd. VIII, 

S. 1. 


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Werkstattarbeit unfähige Kranke und 2. geeignete Einzelbeschäftigungen 
für intelligente, fluchtverdächtige, vielfach auch gemeingefährliche Kranke. 
Aus gesundheitlichen Rücksichten verdienen die Feld-, Garten- 
und Forstarbeiten vor allen anderen den Vorzug, aus wirtschaft¬ 
lichen die Arbeiten in den allgemein üblichen und .notwendigen Werk¬ 
stätten der Anstalt, in Küche, Waschhaus und den Nähstuben. Als 
Massen beschäftigung für den körperlich schwachen oder geistig stumpfen 
Kranken sind Arbeiten zu wählen, -die keine besondere Handfertigkeit 
und keinen besonderen Apparat erfordern, nicht gesundheitschädlich 
sind und im Sitzen, vielleicht auch im Bett ausgeübt werden können: 
Kleben von Schachteln und Tüten, Verlesen von Hülsenfrüchten, Heft¬ 
arbeiten verschiedenster Art, Entkletten gereinigter Wolle, Sortieren 
von Wollfäden, Entrippen von Tabakblättern, Verknüpfen von Bind¬ 
fadenresten usw. Diese Arbeiten sind möglichst den lokalen Fabrik¬ 
betrieben anzupassen. 

Einzel beschäftigungen sind: Anfertigung von Peddigrohr- und 
Bambusmöbeln und feineren Korb- und Bürstenwaren, Zigarrenmachen, 
Druckerei, Teppichknüpfen, Maschinenstricken, Weben von Gobelins 
und GebrauchstofTen. Alle Betriebe sind nach Krankenbestand, Jahres¬ 
zeit, Angebot und Nachfrage, nach dem Interesse der Ärzte, Beamten 
und des Personals und nach Stimmung der Kranken großem Wechsel 
unterworfen; vielfach wird über Erschwerung des Absatzes der fertigen 
Waren geklagt; es wird empfohlen, daß entweder der mehr fabrikmäßige 
Betrieb durch Mannigfaltigkeit ersetzt wird, oder daß die einem größeren 
Verbände angehörenden Anstalten sich spezialistisch ausbilden und, anstatt 
zu konkurrieren, sich mit ihrer Überproduktion und ihren Aufträgen gegen¬ 
seitig aushelfen. 

In der Diskussion bemerkt GerAortz-Rheinbach: So gut, wie die 
Anstalten sich nach dem zweckmäßigen Vorschläge des Herrn Direktors 
der Galkhausener Anstalt ihre Aufträge, die oft von einer Anstalt in der 
verlangten Divise nicht effektuiert werden können, gegenseitig verteilen, 
wäre es auch vielleicht ratsam, daß die einzelnen Anstalten ein bestimmtes 
Arbeitgebiet bevorzugten, daß nur sie mit besonders teuren Einrichtungen 
reichlich ausgestattet würden, andere mit anderen, und daß dann die 
Direktionen jene Insassen, welche für diese bestimmten Branchen sich 
vorzugweise eignen, sich gegenseitig austauschten. Es gibt um so mehr 
Lust und Liebe zur Sache, je mehr Hervorragendes erzielt wird. Auch 
könnten beispielweise Landwirte dahin ausgetauscht werden, wo der 
Anstalt reichlich Gelegenheit zu landwirtschaftlicher Tätigkeit geboten 
ist, Gärtner dahin, wo reichlich Warmhäuser usw. zur Verfügung stehen usw. 

PoMite-Derendorf schlägt vor, daß die zuständigen Behörden, Landes¬ 
hauptmann, Regierungspräsident usw., in irgend einer Weise ein gegen¬ 
seitiges Unterbieten der Anstalten durch Abmachungen verhindern müßten, 
damit diese Arbeiten einen gewissen Ertrag lieferten. 


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Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 


.Peretti-Grafenberg befürchtet, daß die Gewerbetreibenden sich mit 
der Zeit über die durch die Anstalten geübte. Konkurrenz beklagen werden. 
Der Absatz ist für die Anstalten schwierig; die Kranken liefern mehr, 
als die Anstalten selbst brauchen. Andererseits müssen wir uns wehren 
gegen die Zumutung, Geschäfte zu machen. 

Gefängnisdirektor Dr. Pollitz : „Zur Psychologie des 
Strafvollzuges.“ 

Der Strafvollzug steht heute ganz besonders im Brennpunkt einer 
scharfen Kritik von allen Seiten. Die einen halten ihm seine mangelnden 
Erfolge bei der Bekämpfung des gewohnheitmäßigen Verbrechertums 
vor, die anderen seine ungenügenden sittlichen Einwirkungen und weitere 
Kreise ganz allgemein den Mangel an psychologischer Vertiefung des 
gesamten Problems. Es scheint fast, daß bei all diesen Kritiken nicht 
immer genügend berücksichtigt wird, was der Strafvollzug leisten kann, 
und was er leisten soll. Ich darf gerade in diesem Kreise daran erinnern, 
daß ein großer Teil der Vorwürfe, der dem heutigen Strafvollzüge gemacht 
wird, besonders von seiten der Irrenärzte ausgeht. Und doch fehlt vielleicht 
gegenüber einer sehr eingehenden Behandlung der Verbrecherpsychologie 
und der Kriminalpsychiatrie eine Analyse der psychologischen Wirkung 
des Strafvollzuges noch fast vollständig. Ein großer Teil der Kenntnisse 
über die Wirkungen des Strafvollzuges erhält die Öffentlichkeit aus den 
meist sehr kritisch-ablehnenden Mitteilungen früherer Strafgefangener. 
Diese Veröffentlichungen, die ich als subjektive psychologische Unter¬ 
suchungen über den Strafvollzug bezeichnen möchte, sind trotz vieles 
Falschen und Übertriebenen nicht ohne Wert. Als zweite Methode würde 
eine Untersuchung der'Strafvollzugswirkungen auf das Seelenleben durch 
scharf kontrollierte Mitteilungen und Beobachtungen der Gefangenen 
zu nennen sein, wie sie Freudenthal in der Form von Strafvollzugsenqueten 
gefordert hat. Freudenthal schlägt vor, die Gefangenen vor ihrer Ent¬ 
lassung vor einer besonderen Kommission über ihre Eindrücke zu ver¬ 
nehmen. Versuche dieser Art hat bekanntlich Fritz Auer gemacht, indem 
er öffentlich zu Mitteilungen über Strafvollzugserfahrungen früherer 
Sträflinge aufforderte. Man kann aus derartigen objektiv-subjektiven 
Untersuchungen recht viel verwertbare und bemerkenswerte Aufschlüsse 
erhalten. Wir erfahren aus einer solchen Zusammenstellung, wie ich sie 
selbst gelegentlich von höher gebildeten Gefangenen habe machen lassen, 
mancherlei über die Wirkungen und die Eindrücke des Gefangenenlebens, 
der plötzlichen Inhaftierung, der Einzelhaft, über die eigenartige Ver» 
Stärkung des Innenlebens, die Neigung zu optimistischen Zukunftsträumen, 
die Wirkungen der Kost, über Abstumpfung infolge der Einsamkeit und 
des Schweigegebots, Schlaflosigkeit, Wirkung und Wert der Zellenbesuche 
durch höhere^ Beamte, Einschätzung der Straftat und der verhängten 
Strafe selbst und manches andere. 


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Psychiatrischer Verein der Rheinprovinz. 


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Die psychologischen Wirkungen des Strafvollzuges auf den einzelnen 
Inhaftierten hangen von einer großen Zahl von Faktoren ab. Alter und 
Geschlecht, Vorstrafen, Strafdauer, Art des Strafvollzuges, ob Einzelhaft 
ob Gemeinschaftshaft, besonders aber frühere Lebensbedingungen, Zu¬ 
kunftsaussichten, die durch die Strafe vernichtet werden, Familien- 
Verhältnisse geben eine ganze Reihe besonderer Gesichtspunkte. Daß 
der Geisteszustand und die Charakteranlage ein weiteres, sehr wichtiges 
Moment in dem Wirkungskreis der Strafvollzugsbedingungen abgibt, 
bedarf keiner speziellen Ausführungen. 

Es ist bekannt, daß der heutige Strafvollzug im allgemeinen durch 
zwei Gesichtspunkte charakterisiert wird. Einmal durch das Vorherrschen 
der Einzelhaft, sodann durch die Arbeit. Gerade gegen diese Einzelhaft, 
die die Männer des Strafvollzugs für einen großen Fortschritt der neuen 
Gefängnisreformen halten, werden heute die meisten Angriffe erhoben. 
Die Erfahrung lehrt allerdings, daß ein gewisser Prozentsatz der Ge¬ 
fangenen, besonders geistig labile Elemente, die Einzelhaft auch in der 
abgeschwächten Form des heutigen Vollzugs schlecht vertragen. Falsch 
ist dagegen und übertrieben, ihr jeden Vorzug abzusprechen. Diese Trennung 
der Gefangenen, die, wie man zugeben muß, stets immer nur eine relative 
bleiben wird, da ein geheimer Verkehr zwischen den Gefangenen nie 
ganz vermieden werden kann, hat zu einer erheblichen Humanisierung 
des Strafvollzuges beigetragen. 

Von ganz besonderem Interesse ist die Stellung der Arbeit im Straf¬ 
vollzüge. Es ist bekannt, daß die Strafgesetzgebung die Intensität der 
Arbeit zum Maßstab der Schwere der Strafe gemacht hat. Die Erfahrung 
lehrt, daß die Gefangenen nur mit den seltensten Ausnahmen regelmäßige 
intensive Arbeit ablehnen, sie vielmehr als große Erleichterung ihrer 
Lage betrachten. Abneigung gegen die Arbeit wird man nur dann häufiger 
finden, wenn die Art der Tätigkeit dem Gefangenen nicht zusagt oder 
er sie nicht leisten kann. Einer psychologischen Analyse bedürfen weiterhin 
die mancherlei Fragen, die sich an die allgemeine Führung der Gefangenen, 
an seine Stellung zur Strafe und ihre Berechtigung knüpfen. Reiches 
Material bietet ferner die Korrespondenz, sowohl die eingehende wie die 
ausgehende und nicht zuletzt die geheime, die in Form von Kassibern 
und Fleppen in der Anstalt fast unvermeidlich hin und hergeht. Zoten¬ 
gedichte und Zotenbilder von unglaublich zynischem Inhalt, Verhöhnung 
und Verspottung der Gerichte und Beamten, Anwerbung von Entlastungs¬ 
zeugen, Grüße von Zuhältern an die Dirnen mit den Gelöbnissen ewiger 
Treue ergänzen oft das Bild, das gar mancher ruhige und harmlose Ge¬ 
fangene darbietet. Eine Hauptrolle spielen in dieser Korrespondenz die 
lebhafteren und unruhigen jüngeren Elemente. So ergibt sich aus diesen 
Beobachtungen ein überaus reiches Material für die psychologische Analyse 
des Strafvollzugs. 

Schließlich bleibt aber als wichtigste Methode zur Erforschung 
der Psychologie der Strafe ” ’ naturwissenschaftliche, wie sie Wundt, 


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Sommer, Aschaffenburg und' andere ausgearbeitet haben. Hier bleibt 
einer zukünftigen wissenschaftlichen Forschung noch ein weites Arbeit - 
feld, auf dessen Umfang und Bedeutung Referent nur hinweisen kann. 

Hübner - Bonn: „UberTrugwahrnehmungen ohne 
Wahnvorstellungen bei erhaltener Krankheitein* 
sicht (Demonstration ).“ 

Vater gestorben an Schlaganfall, Mutter Hysterica, hatte vor 3 Jahren 
auch einen Schlaganfall. Zwei Schwestern und ein Bruder sind gesund, 
eine Schwester nierenleidend. Patientin, jetzt 43 Jahre alt, war als Kind 
sehr schwächlich. Lernte ziemlich gut, beschäftigte sich geistig stark, 
musizierte viel, war „zur Sentimentalität geneigt“. Musikstücke und 
sentimentale Gedichte behielt sie, das trockene Schulwissen vergaß sie 
vom Abend bis zum folgenden Morgen. Sehr lebhafte Phantasie. 

Bis zum 17. Lebensjahre sehr schwach. Auch später schwankte 
der körperliche Zustand häufig. Patientin nahm plötzlich zu und ebenso 
wieder ab. Seit etwa 1903 schwerhörig (alte otitis media). 1903 Blut¬ 
andrang nach dem Kopf, Kopf-, Schulter-, Magenschmerzen von wechseln¬ 
der Stärke und wechselndem Sitz, Mattigkeit, Neigung zum Weinen. 
1908 wegen ähnlicher Beschwerden in der Heilstätte Roderbirken. Damals 
Magengegend druckschmerzhaft, Reflexe sehr lebhaft, Händezittern, 
Lidflattern, zeitweilige mäßige Tachykardie. Gedächtnisschwäche. Nach 
3monatiger Behandlung gebessert nach Bonn zurück. 

Mit dem Tage der Rückkehr wurde sie „plötzlich taub“. Gleich¬ 
zeitig stellten sich Gehörstäuschungen ein. Sie hörte aus ihrem Innern, 
vorwiegend „aus dem Herzen“, Orgel- und Flötenspiel, Kindergeschrei, 
die Stimme eines alten Mannes, Fastnachtstrubel mit Hähneschreien 
und Karusselmusik. Einen Teil dieser Trugwahrnehmungen lokalisierte 
sie auch ins „Gehirn“, einen weiteren in die Ohren. 

Diese Gehörstäuschungen waren an stillen Orten — z. B. auch 
Nachts — stärker, als in belebten Gegenden. Patientin war deshalb eine 
Zeitlang nachts schlaflos, wanderte mitunter auf den Straßen umher, 
weil jedes von außen kommende Geräusch die Sinnestäuschungen ver¬ 
ringerte. Im Jahre 1909 wurde sie wegen der letzteren in die Klinik auf¬ 
genommen, hielt es aber nur einen Tag aus, weil es ihr hier zu still war. 

In der Folgezeit sind noch Gesichtstäuschungen und solche des 
Gefühlssinns hinzugekommen. 

Patientin sieht jetzt ganze Szenen (Begräbnisse, Fastnachtstrubel, 
Konzerte, Schlachtmusik u. ähnl.). Sie sieht ferner nachts, wenn sie 
wach ist, mitunter auch am Tage, einen bestimmten Mann, den sie genau 
beschreiben kann. Er spricht mit ihr, hat ihr-mehrfach Liebeserklärungen 
gemacht und sie auch wiederholt geschlechtlich berührt. Sie hat dabei 
an den Genitalien erotische Empfindungen. 

Ihre Trugwahrnehmungen, namentlich soweit sie szenischer Natur sind, 
betreffen häufig solche Dinge, mit denen sie sich früher viel beschäftigt 


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hat. Sie ist z. B. gern auf Kirchhöfe gegangen, hat Konzerte gehört u. ähnL 
Daneben hört und sieht sie aber auch andere Dinge. Nur liegt das meiste, 
wie sie selbst angibt, in der Richtung ihrer früheren Neigungen. Um 
Gedankenlautwerden handelt es sich dabei nicht. ‘Letzteres fehlte stets. 

Patientin besitzt absolute Kritik dafür, daß es sich um Sinnes¬ 
täuschungen handelt. Sie sagt selbst, das sei krankhaft, dessen sei sie sich 
wohl bewußt. Es belästige sie auch sehr. Sie sei, wenn die Sinnestäuschungen 
zu stark würden, genötigt, nachts auf der Straße umherzulaufen. Die 
Stärke der Trugwahrnehmungen hänge von ihrem körperlichenBeflnden sehr 
ab. Wenn es ihr körperlich schlechter gehe, nähmen die Geräusche usw. zu. 

Wahnideen fehlen vollkommen. Die Sinnestäuschungen sind gut¬ 
artiger Natur. Sie sei nie bedroht oder mißhandelt worden. Sie fürchte 
auch keine Feinde. An den Mann, der ihr erscheine, habe sie sich so ge¬ 
wöhnt, daß sie sich nach seinen Worten im allgemeinen richte, obwohl 
sie wisse, daß es sich um krankhafte Vorstellungen handle. Sie erlebt 
mit demselben ein Liebesidyll. 

Körperlich: In beiden Trommelfellen große Löcher. Ab- 
gelaufene Otitis media (Prof. Eschtveiler), Tachykardie, Hyperalgesie 
am ganzen Körper, Globusgefühl, zeitweise Klavus, gesteigerte Sehnen¬ 
reflexe, Myopie beiderseits. 

Subjektiv wurde früher vielfach über Hyperakusis, Lichtscheu, 
Überempfindlichkeit der Haut geklagt. 

Behandlung des Ohrenleidens 1909 auf Veranlassung des Vortr. 
eingeleitet, hatte keinen Erfolg, brachte überhaupt keine Änderung. 
Beim Durchleiten galvanischer Ströme durch den Kopf gleichfalls keine 
Änderung im Befinden. 

Die Abhängigkeit vom körperlichen Befinden trat im Verlauf einer 
längeren Behandlung deutlich hervor. 

Vortr. faßt den Fall als Hysterie auf. 

Dem Ohrenleiden ist er nicht geneigt ätiologische Bedeutung zuzu- 
erkennen, weil es bei Eintritt der Sinnestäuschuncen bereits abgelaufen 
war, und weil ferner das akute Eintreten der Herabsetzung des Gehörs 
durch die abgelaufene Otitis nicht erklärt werden kann. Andererseits stehen 
die Trugwahrnehmunden quoad Stärke und Zahl in engsten Beziehungen zu 
den übrigen hysterischen Symptomen. Kaltes Wetter, Aufregungen und 
ruhige Umgebung wirken ungünstig auf den Gesamtzustand der Pat. ein. 

Besonders betont Vortr. auch noch, daß die Sinnestäuschungen 
inhaltlich mit dem übereinstimmen, womit sie sich früher viel beschäftigthat. 

Für die von einzelnen Autoren aufgestellte Theorie, daß die Sinnes¬ 
zentren derartiger Kranker sich in einem Zustande gesteigerter Erreg¬ 
barkeit und Empfindlichkeit befinden, spricht der Umstand, daß sowohl 
zu Beginn der Erkrankung wie auch später Geräuschfurcht, Lichtscheu 
und Überempfindlichkeit der Haut bestand. 

Eine echte Psychose glaubt Vortr. deshalb ausschließen zu müssen, 
weil dauernde Krankheiteinsicht besteht und außer den hysterischen 


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Symptomen andere psychische Krankheiterscheinungen wie Wahn¬ 
vorstellungen, Bewußtseinstrübungen, Negativismus, Zerfahrenheit des 
Denkens, Gemütsverblödung u. a. fehlen. 

Ätiologisch ist Lues (Wassermann) und Arteriosklerose auszu¬ 
schließen. Dagegen ist neuerdings die Periode bei der Patientin unregel¬ 
mäßig geworden 1 ). 

ifanen-Merzig: Bemerkungen zu Bossii „Die gynäkolo¬ 
gische Prophylaxe bei Wahnsinn.“ 

Kritik der bekannten Bossischen Broschüre. Von den 32 Kranken¬ 
geschichten, die Bossi bringt, beziehen sich 18 auf Fälle von Hysterie. 
Von den übrigen Kranken sind ebenfalls mehrere hysterisch; bei anderen 
ist die Diagnose ganz unbestimmt. Eine einigermaßen einwandfreie Dia¬ 
gnose ist nur bei 4 Fällen vorhanden, 2 von Dementia praecox und 2 von 
manisch-depressivem Irresein. Daß die gynäkologischen Erkrankungen 
Ursache der Geistesstörung sind, und daß durch die,operative Beseitigung 
der ersteren noch die Heilung der Geistesstörung verursacht worden ist, 
ist durch das von Bossi vorgebrachte Material nicht bewiesen. 

Den Behauptungen und Forderungen Bossis kann daher nicht 
zugestimmt werden. 

Diskussion. — Peretti weist auf den von Bossi in seiner Broschüre 
angeschlagenen, zum Teil vielleicht auf das südländische Temperament und 
die zu geringe Beherrschung der deutschen Sprache zurückzu führenden 
Ton hin, den wir Anstaltsärzte nicht ohne Widerspruch lassen dürfen, 
so, wenn er nicht nur von „Schande und Schaden der Einschließung 
in ein Irrenhaus“ und davon spricht, daß „nach Verurteilung wegen 
Verbrechens es die größte, dem Menschen aufzuerlegende Kränkung ist, 
ihn für unzurechnungfähig zu erklären und in ein Irrenhaus einzuschließen“, 
sondern sogar fragt: „Ist es billig, ist es anständig, daß soviel und solange 
dauerndes Unglück ungestraft bestehen und noch immer geschaffen werden 
darf, jetzt, nachdem die Aufmerksamkeit des Publikums, der Ärzte, 
Gynäkologen, Neuropathologen, Psychiater nicht nur auf die Möglichkeit 
solch verhängnisvoller Irrtümer, sondern auch auf die Weise, sie zu ver¬ 
meiden, gelenkt ist?“ 

Während Bossi die Patientinnen vor und aus den Irrenanstalten 
retten will, so gesteht doch Schultze in Jena, der seit mehr als 30 Jahren 
für die systematische gynäkologische Behandlung der psychischkranken 
Frauen eintritt, wenigstens die Behandlung innerhalb einer Irrenanstalt 
zu. Die von ihm angeführten Hobbsschen gynäkologisch-therapeutischen 
Erfolge bei Geisteskranken betreffen anscheinend fast ausschließlich 
manisch-depressive Formen, bei denen überhaupt für den Anfall die Prognose 
eine günstige ist, und erscheinen deshalb nicht so über das Maß glänzend. 

*) Uber weitere Versuche, die Vortr. mit der Pat. gemacht hat, 
wird im Arch. f. Psych. berichtet werden. 


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Der Schultzesche Vorschlag, einmal „einen als Diagnostiker und Operateur 
bewährten Gynäkologen zum Direktor einer großen Weiberirrenanstalt“ 
einzusetzen, wird wohl so leicht nicht ausgerührt werden, schon aus dem 
Grunde nicht, weil schwerlich ein gynäkologischer Operateur seine ein¬ 
träglichere Spezialpraxis mit einer weniger lukrativen und für ihn beim 
Fehlen der Kenntnis in Psychiatrie und Anstaltwesen wohl auf sonst 
nicht befriedigende Tätigkeit vortäuschen wird. 

F. Sioli-Bonn: „Über amyloidähnliche Degene¬ 
ration im Gehirn.“ 

Bei einem Fall von Paralyse fand sich eine auf mehrere Hirnwindungen 
ausgedehnte tumorartige Veränderung; die mikroskopische Untersuchung 
des seit Jahren in der Sammlung der Anstalt Galkhausen aufbewahrten 
Präparats zeigte, daß es sich um die Ablagerung einer homogenen Sub¬ 
stanz handelt, die einige Amyloidreaktionen noch gab, andere vermissen 
ließ. Die Degeneration geht von den Gefäßwänden aus und erstreckt 
sich als massige Ablagerung in das Gehirngewebe. Es fand sich kein 
Anhaltpunkt, daß in Glia- und Ganglienzellen die fremdartige Substanz 
gebildet wird, das histologische Bild läßt vielmehr vermuten, daß das 
Grundgewebe eingeschmolzen und zum Aufbau der Substanz mitverwendet 
wird. In der Literatur sind ähnliche Veränderungen beschrieben, meist 
unter dem Namen Kolloiddegeneration, der vorliegende Fall übertrifft 
die der Literatur bei weitem durch die Mächtigkeit der Ablagerung. Es 
erscheint berechtigt, die Veränderung als lokale Amyloidbildung in para¬ 
lytisch verändertem Gewebe zu betrachten. (Der Vortrag erscheint aus¬ 
führlich in der Zeitschrift für die gesamte Psychiatrie und Neurologie.) 

Umpfenbaeh. 


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Kleinere Mitteilungen. 


Die nächste Jahresversammlung des Deutschen Vereins 
für Psychiatrie findet in Breslau am 15. u. 16. Mai 1913 statt. 
Da das Referat über die sog. verminderte Zurechnungfähigkeit auf 
Wunsch der Referenten für später zurückgestellt wurde, haben die 
Herren Bleuler- Zürich u. Z/ocAe-Freiburg ein Referat über den Wert der 
Psychoanalyse übernommen, ln das zweite Referat über Psychiatrie u. 
Fürsorgeerziehung werden sich die Herrn Sfier-Rerlin u. Mönkemöller- 
Hildesheim teilen. Über die zweckmäßige Größe von Anstalten für 
Geisteskranke wird auf Wunsch des Vorstandes Herr Starlinger Mauer- 
öhüng vortragen. 


Der 17. internationale medizinische Kongreß 
soll am 6. bis 12. August 1913 in London unter dem Protektorat S. M. 
des Königs Georg V. stattftnden. Präsident: Sir Thoma Barlow; General¬ 
sekretär: Dr. W. P. Herringham. In der (11.) Sektion für Nervenkrank¬ 
heiten wird Sir David Ferrier präsidieren; an Referaten sind vorgesehen: 
Die Symptome der Kleinhirnerkrankungen und ihre Bedeutung ( Babinski • 
Paris, Rothmann- Berlin); Motorische Aphasie, Anarthrie und Apraxie 
(Dejerine- Paris, Liepmann- Berlin); Beziehungen der Myopathien ( Oppen - 
heim- Berlin, Spi'Mer-Philadelphia); Die Behandlung der Gehirntumoren 
und die Indikationen für deren Operation (Bruns -Hannover, Harvey 
Cushing-\. St. A., v. Eiseisberg -Wien, TootA-London); Natur des krank¬ 
haften Zustandes Parasyphilis (Afott-London; Nonne- Hamburg). Präsident 
der (12.) Sektion für Psychiatrie ist Sir J. Crichton-Browne; Referate: Die 
psychiatrische Klinik, ihr pädagogischer und therapeutischer Zweck und 
die Resultate mit Beziehung zur Genesungsförderung (Ad. Meyer-Balti- 
more, Sommer-Gießen); Psycho-Analyse (/anef-Paris, Jung-Zürich); Die 
Infektions- und Autointoxikationspsychosen (Bonhöffer- Berlin); Die 
syphilitischen und parasyphilitischen Geisteskrankheiten (v. Bechterew - 
Petersburg, A. Marie-Paris); Die Psychologie des Verbrechens (Cramer- 
Göttingen, Morseüi- Genua). 


bv Google 


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Nekrolog Gutsch. — Am 26. Juli d. J. verschied in Karls¬ 
ruhe nach langem Leiden im hohen Alter von 87 Jahren Geheimrat 
Dr. Anton Gutseh , früher Strafanstaltsarzt in Bruchsal. Seine hervor¬ 
ragende Tätigkeit auf forens-psychiatrischem Gebiet, die er vor über 
zwei Menschenaltern begann und 31 Jahre lang, zum Teil bahnbrechend 
führte, rechtfertigt es, sein Lebensbild in diesen Blättern in einem kurzen 
Umriß wiederzugeben. Wir folgen dabei, oft wörtlich, den Aufzeich¬ 
nungen, die der Verewigte in seinem 84. Lebensjahr selbst nieder¬ 
geschrieben hat. 

Gutseh wurde 1825 in Bruchsal als Sohn des dortigen Oberamts- 
physikus Dr. Gutseh geboren und widmete sich nach Besuch der Gymnasien 
zu Bruchsal und Rastatt von 1844—1849 in Heidelberg dem Studium 
der Medizin. Nach vorzüglich bestandenem Staatsexamen und eben¬ 
solchem Doktorat war Gutsch ein Jahr lang Assistent der inneren Klinik 
unter Puchelt und hatte dort zugleich Gelegenheit, auf der chirurgischen 
Station bei Chelius an zahlreichen Schwerverwundeten aus den Gefechten 
des badischen Aufstandes seine chirurgischen Kenntnisse zu vervoll¬ 
kommnen. 

Nach weiterer Ausbildung an den großen Krankenhäusern zu Paris 
ließ sich Gutsch im Jahre 1850 in seiner Vaterstadt zur Ausübung der 
ärztlichen Praxis nieder und bekam noch im gleichen Jahre die Stelle 
des Hausarztes am neuen Männerzuchthause übertragen. Letzteres war 
nach dem amerikanischen System des Isolierungsgefängnisses als erster 
Versuch auf dem europäischen Kontinent im Jahre 1848 eröffnet worden. 

Uber 30 Jahre hat Gutsch an dem Zellengefängnis gewirkt und wesent¬ 
lich mit dazu heigetragen, daß dieses Institut sich bald zu einer Muster¬ 
anstalt entwickelte, die mit Vorliebe das Ziel von Besuchskomissionen 
auswärtiger Regierungen wurde. In den Beginn seiner dortigen Tätigkeit 
fällt auch die von Bruchsal ausgegangene Gründung des „Vereins der 
deutschen Strafanstaltsbeamten“ und dessen Organs, der „Blätter für 
Gefängniskunde“, die noch heute ihre fruchtbringende Tätigkeit ent¬ 
falten. Gutsch selbst war bis zu seinem Ausscheiden aus dem Gefängnis¬ 
dienst Mitglied des Ausschusses dieses Vereins gewesen und wurde 1889 
Ehrenmitglied desselben. 

Sein Lebenswerk hat er dem Bruchsaler Gefängnis gewidmet und 
sich dabei zu seiner Hauptaufgabe gemacht, seine besondere Fürsorge 
und Aufmerksamkeit den psychischen Anomalien und Krankheitzuständen 
zuzuwenden, die an Verbrechen und Gefangenschaft sich knüpfen und 
namentlich in der Einzelhaft ihre Entstehung finden sollten. 

In mehreren umfangreichen, auch heute nach Jahrzehnten noch 
lesenswerten Arbeiten hat Gutsch seine dort gewonnenen Erfahrungen 
niedergelegt. Diese Aufsätze sind zum Teil in den „Blättern für Gefängnis¬ 
kunde“, zum Teil in der „Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie“ er¬ 
schienen. 


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Kleinere Mitteilungen. 


Stets war er bemüht, seine ärztlichen Befugnisse sowohl durch 
individuelle Verordnungen als durch allgemeine Maßnahmen zur Erleich¬ 
terung der Lage der Gefangenen innerhalb des Rahmens der Hausordnung 
zur Geltung zu bringen, und hat es auch erreicht, daß bei manchen Modi¬ 
fikationen der Einzelhaft die auf seinem Gebiet gewonnenen Erfahrungen 
raitwirkten. So ist z. B. die Abschaffung der urteilmäßigen Strafver¬ 
schärfungen durch Dunkelarrest und Hungerkost, die in den fünfziger 
Jahren reichlich von den Gerichten verhängt wurden, und die sich in der 
Statistik der Gesundheitsverhältnisse der Sträflinge in jenen Jahren so 
ungünstig bemerkbar machten, wohl mit in erster Reihe seinen unaus¬ 
gesetzten Bemühungen zu verdanken (siehe die Jahresberichte der Anstalt 
für 1853—1856). 

Als erste größere Arbeit veröffentlichte Gutsch 1862 im XIX. Band, 
1. Heft der Allg. Ztschr. f. Psychiatrie den Aufsatz über „Seelenstörung 
in Einzelhaft“. Er legt darin die Ergebnisse seiner in 12 Jahren im Zellen- 
gefängnis Bruchsal gewonnenen Erfahrungen nieder, die darin gipfeln, 
daß wohl die allgemeine Disposition des Verbrechens und der Gefangen¬ 
schaft zur Entwicklung von Seelenstörungen sowie angeborene individuelle 
Anlagen durch die hinzutretenden seelischen Einflüsse der Isolierung 
eine Förderung erfahren und unter ihrem Einfluß eher zur Geltung kommen, 
daß dagegen die ausschließlich Einflüssen des Alleinseins zur Last fallenden 
Psychosen entschieden die weitaus mindere Zahl bilden, sich meist schon 
durch einfache Aufhebung der Isolierung als heilbar erweisen und keine 
dauernden Nachteile zur Folge haben. Er will deshalb auch die Einzelhaft 
wegen ihrer sonstigen Vorzüge im allgemeinen beibehalten haben. 

Schon früher hatte Gutsch erkannt, daß zur Erreichung günstiger 
Erfolge bei geisteskranken Sträflingen ein rasches Einschreiten 
und eine besondere Unterkunft unter ärztlicher Leitung für dieselben 
erforderlich seien. Mit der ihm eigenen Tatkraft verfolgte er in Wort 
und Schrift dieses Ziel, und er drang auch bald mit seiner Ansicht bei 
seiner Vorgesetzten Behörde durch, trotzdem ihm in Geheimrat RoUsr 
ein nicht zu unterschätzender Gegner entgegengetreten war, der in einer 
scharfen Kritik manche Ansichten Gutschs bekämpfte. 

Entsprechend Gutschs Vorschlägen wurde ein mitten im Straf¬ 
anstaltgebiet freistehendes Krankenhaus nach psychiatrischen Grund¬ 
sätzen im Jahre 1864 eingerichtet und damit ein erster Versuch einer 
Verbindung von Straf- und Irrenanstalt in Deutschland gemacht. In 
seiner äußeren und inneren Einrichtung wurde dieses Gebäude möglichst 
jedes gefängnisartigen Eindrucks entkleidet und bot trotzdem alle Er¬ 
fordernisse einer sicheren Verwahrung. Auch war zur Trennung, je nach 
Krankheitskategorien, Charakter und Bildungsgrad, jede gewünschte 
Gelegenheit geboten, und in der gesamten Behandlung der Insassen wurde 
ohne Zustimmung des Arztes keine Anordnung getroffen. Es wurde in 
dem geisteskranken Verbrecher nicht der Verbrecher, sondern nur der 


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Kleinere Mitteilnngen. 


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Kranke und dessen Bedürfnisse im Auge behalten (Gutseh, Das Zellen¬ 
gefängnis Bruchsal nebst der dazu gehörigen Hilfsstrafanstalt. Heidel¬ 
berg bei G. Weiß 1867). 

Die nach diesem Vorgang in Fluß gekommene Frage, ob größeren 
Gefangenenanstalten besondere Abteilungen für geisteskranke Sträflinge 
anzugliedern seien, fand von da an in allen einschlägigen Zeitschriften 
eine lebhafte Erörterung und bildete in zahlreichen psychiatrischen und 
gefängniswissenschaftlichen Vereinsversammlungen ein ständiges Thema. 
In mehreren derselben (München, Hannover, Wien) war Gutseh das Referat 
übertragen worden. Besonders eingehend hat er in der Versammlung 
südwestdeutscher Irrenärzte in Heidelberg im Jahre 1873 diese Frage 
in einem Vortrag erörtert („Wohin mit den geisteskranken Sträflingen?“ 
Allg. Ztschr. f. Psych. Bd. XXX). Er kommt darin zu dem Ergebnis, 
daß die geisteskranken Verbrecher in besonderen Abteilungen von Straf¬ 
anstalten, sogenannten Hilfsstrafanstalten, unterzubringen seien, denen 
neben der formellen Fortsetzung des Strafvollzuges alle Hilfsmittel der 
Irrenpflege zu Gebote stehen müssen, also in Anstalten, wie er in Bruchsal 
eine gegründet hatte. 

Auf der Versammlung der deutschen Irrenärzte in München im 
Jahre 1875 wurden seine Anträge bezüglich der Frage, welche Wünsche 
vom psychiatrischen Standpunkte hinsichtlich der in der Justizkommission 
des Reichstags zur Beratung stehenden „Strafvollstreckung“ in den 
Gefängnissen zu äußern seien, mit großer Majorität angenommen. 

Gulschs Anregungen folgend, wurden auch bald in einer größeren 
Zahl von Strafanstalten Einrichtungen zur Behandlung der akuten Fälle 
von Geisteskrankheit entweder in dem psychiatrisch erweiterten Kranken¬ 
hause oder in besonderen Abteilungen getroffen. So entstanden in Preußen 
in den Strafanstalten Berlin-Moabit, Köln, Halle, Graudenz, Breslau, 
Münster besondere Irrenstationen. 

Seine weiteren humanen Bestrebungen, auch für die große Zahl 
zu Geisteskrankheit disponierter und psychisch defekter, minderwertiger 
Sträflinge, die Grenzfälle, die überall in den Strafanstalten zahlreich 
vorhanden sind, Herausnahme aus dem gefährdenden Zwange rücksicht- 
losen Strafvollzugs und individualisierende Behandlung zu erlangen, 
hatten nicht den von ihm erhofften Erfolg. Er hätte seine Bemühungen 
in dieser Hinsicht wohl noch länger fortgesetzt, wenn nicht die angestrengte 
jahrzehntelange Anstalttätigkeit in Verbindung mit einer großen Privat- 
praxis in der Stadt und der Besorgung der chirurgischen Abteilung des 
städtischen Krankenhauses seine Nervenkraft allmählich untergraben 
hätte. Zur Wiederherstellung seiner Gesundheit zog er sich 1881 von 
jeder Tätigkeit zurück und siedelte nach Karlsruhe über, wo er die nächsten 
Jahre seinen Sohn — jetzt einer der geschätztesten Operateure unseres 
Landes — bei Einrichtung einer chirurgischen Privatklinik unterstützte. 

Nach und nach kräftigte sich seine Gesundheit wieder mehr, so daß 

Zeitschrift för Psychiatrie LX1X. 6. 63 


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Kleinere Mitteilungen. 


er sich entsprechend der an ihn ergangenen Aufforderung noch viele Jahre 
in erfolgreichster Weise Vereinsbestrebungen widmen konnte, die einen 
seiner früheren Tätigkeit verwandten Zweck verfolgten. So wurde er 
zum Mitglied der Zentralleitung des Landesverbandes der badischen 
Schutzvereine für entlassene Sträflinge ernannt sowie zum Mitglied des 
Verwaltungsrates des Vereins sittlich verwahrloster Kinder, in welchen 
Stellungen Gutsch seine reichen Erfahrungen vielfach verwerten konnte. 

Aber auch dem speziell psychiatrischen Gebiet wandte er in gleicher 
Weise wie in früheren Jahren sein lebhaftes Interesse zu, besuchte noch 
manche Versammlung, wo er sofort durch seinen energischen, durch¬ 
geistigten Gesichtsausdruck auffiel und vielfach wirksam in die Diskussion 
•ingriff. 

Mehr noch betätigte er seine Mitarbeit an dem Gefängniswesen, 
wozu ihm das Jahr 1890 ganz besonders Gelegenheit bot, als er als offizieller 
Delegierter Badens und Vertreter des Vereins der deutschen Strafanstalts- 
beamten dem IV. internationalen Kongreß für Gefängniswesen in 
St. Petersburg beiwohnte, über den er im Auftrag des genannten Vereins 
in den „Blättern für Gefängniskunde“, Band XXV, Heft 2, ein inter¬ 
essantes ausführliches Referat erstattete. 

Die Bedeutung Gutschs auf forens-psychiatrischem Gebiete ist in 
vorstehenden Ausführungen gewertet. Vieles, was er schon vor 50 J ähren 
erkannt und erstrebt hatte, wurde erst in neuerer Zeit allgemeiner, auch 
von Kriminalisten, gewürdigt, und mit Genugtuung erfüllte es ihn noch 
in hohem Alter, bei vielen eine Übereinstimmung mit seinen Ideen und 
Bestrebungen zu sehen. 

Das Wirken Gutschs wäre aber nicht erschöpfend behandelt, wenn 
wir nicht hinzufügen würden, daß er auch in somatischen Krankheiten 
ein viel erfahrener und viel gesuchter Arzt war. Mit Stolz konnte sein 
pietätvoller Sohn als Einführender der chirurgischen Abteilung der 
vorigjährigen 83. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in 
Karlsruhe, welcher der 86 jährige Vater noch selbst anwohnte, in seiner 
Begrüßungsansprache von ihm sagen, daß er seinerseit auch Kaiserschnitt 
und Staroperationen mit Erfolg ausgeführt habe. Im Kriege 1870/71 
hatte er seine Kräfte auch in den Dienst des Vaterlandes gestellt und 
stand als Chefarzt an der Spitze der Reservelazarette der freiwilligen 
Hilfstätigkeit in BruchsaL 

Bei seinen Kollegen und den Strafanstaltsbeamten erfreute sich 
Gutsch auch wegen seiner ausgezeichneten Charaktereigenschaften alle¬ 
zeit einer großen Beliebtheit und hoher Achtung, von den Sträflingen 
und seinen Klienten wurden sein humanes Wirken und seine mitfühlende 
Teilnahme an Unglück und Krankheit hochgeschätzt. Dabei zierten 
ihn, trotz hoher Auszeichnungen und Ehren, die ihm in reichem Maße 
zuteil wurden, eine wohltuende Zurückhaltung und Bescheidenheit, die 
ihn sogar zu der Bestimmung führten, daß sein Hinscheiden erst nach der 


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Kleinere Mitteilungen. 


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in aller Stille gewünschten Feuerbestattung Öffentlich bekanntgemacht 
werden durfte. 

Sein Leben war bis in sein 6. Jahrzehnt hinein Mühe und Arbeit 
gewesen, die nicht spurlos an seinen Nerven vorübergingen. Die dadurch 
erzwungene Ruhe in Verbindung mit mehrfachen längeren Winteraufent¬ 
halten im Süden brachten ihm zwar wieder Erholung, doch nie voll¬ 
ständig. Von Zeit zu Zeit traten immer wieder stärkere Beschwerden 
auf, vermehrt auch durch interkurrierende somatische Erkrankungen 
und Operationen. Schließlich gesellten sich qualvolle Beschwerden des 
Alters hinzu. Diese ließen trotz liebevollster Teilnahme seiner Angehörigen 
und trotz sorgsamster Pflege von seiten seiner Schwägerin, die sich die 
treffliche Frau nach schweren Schicksalschlägen zur Lebensaufgabe 
gemacht hatte, den greisen Kollegen oft den sehnlichen Wunsch aus¬ 
sprechen, es möge ihm ein baldiger Tod Erlösung bringen. Nach des 
Lebens Mühe und Arbeit, aber auch voll schöner und dauernder Erfolge, 
nach überstandenen schweren Krankheitsnöten ging ihm dieser Wunsch 
am 26. Juli in Erfüllung. Sein Andenken wird bei den badischen Kollegen 
und in der Geschichte der Psychiatrie, weit über unser Land hinaus, 
immer in Ehren bleiben. 

Oster. 


Nekrolog August Cramer. — Wie sich der Sturmwind 
aus den Bäumen des Waldes zuweilen den gewaltigsten herausgreift und 
zu Boden schmettert, so hat sich ein tückischer Tod gerade den Mann 
aus unseren Reihen zum Opfer erkoren, dem wir bis vor kurzem in Gesund¬ 
heit und Kraft willig die erste Stelle einräumten. 

Am Abend des 5. September 1912 ist August Cramer von uns ge¬ 
schieden. Er ist dahingegangen vor dem vollendeten 52. Lebensjahre 
und in der Fülle der Manneskraft, ein Liebling der Götter, die ihn rasch 
zu der Höhe geführt, die einem deutschen Psychiater beschieden sein 
kann, und die ihn wieder zu sich nahmen, bevor er dem alles zerstörenden 
Alter den unabwendlichen Tribut zahlen mußte. 

Cramer war am 10. November 1860 in St. Pirminsberg, der St. Gallener 
Irrenanstalt, als der Sohn des damaligen Direktors dieser Anstalt geboren, 
und Befähigung und Liebe zur Psychiatrie waren ihm schon in die Wiege 
gelegt. Sein Vater, der auf dem Wege über Solothurn und Köln die Anstalt 
und Professur an der Universität Marburg übernommen hat und dort 
gestorben ist, war ein geradezu einziges Gemisch von kindlichem Gemüt 
und scharfem Verstand, und dabei Psychiater mit Leib und Seele, der 
wie kein Anderer dazu angetan war, die Begeisterung auf seinen Sohn 
zu übertragen, die er selber für sein Fach empfand. 

Was er damals als Knabe und Jüngling dem Vater abgelauscht hat, 
das konnte er später bei dem berufensten Meister weiter vervollkommnen, 
bei Zinn zu Eberswalde, der, wenn ich nicht irre, sein Pate und wo er als 


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Kleinere Mitteilungen. 


Assistenzarzt tätig war. Zinn war unstreitig einer der klügsten Menschen 
seiner Zeit, in allen Sätteln gerecht und ein Mann, den die Stürme des 
Lebens frühzeitig gereift, und dessen angeborene praktische Befähigung 
sie zur vollen Blüte entfaltet hatten. Die beiden Alten, Cramer und Zinn. 
bildeten in der tief empfindenden Milde des Einen und der urwüchsigen 
Kraft des Anderen einen Gegensatz, der sich in dem jüngeren Cramer, 
dem Sohne und Paten, zu einem harmonischen Ganzen ausgeglichen hatte, 
das ihm überall Vertrauen und Liebe erwarb. 

Seiner machtvollen Persönlichkeit gegenüber hatte man den Ein¬ 
druck, daß er seinen Mann stehen und seine Stelle ausfüllen werde, gleich¬ 
viel wohin ihn Zufall und Geschick führen würden. Als es sich im Jahre 
1904 um die Besetzung der durch meinen Abgang freiwerdenden Stelle 
in Bonn handelte, sagte mir Allhoff: „Auf Cramer brauchen Sie sich keine 
Hoffnung zu machen, den lassen die Hannoveraner nicht fort“; das war 
auch tatsächlich nicht der Fall, so sehr hatte er sich in der kurzen Zeit 
seiner dortigen Tätigkeit das Vertrauen der maßgebenden Persönlichkeiten 
zu erwerben und sie zu veranlassen gewußt, ihm die zur Verwirklichung 
seiner Pläne unerläßlichen Mittel zur Verfügung zu stellen. Und dieser 
Pläne und der hierfür aufzubringenden Geldmittel waren nicht wenige, 
da schon bald nach seiner Berufung als Nachfolger Ludwig Meyers zum 
Professor für Psychiatrie und Nervenheilkunde, und gleichzeitig zum 
Direktor der Göttinger Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt (April 1900) 
auf sein Betreiben eine Poliklinik für psychische und Nervenkrankheiten 
errichtet und später zur Klinik ausgebaut wurde. Wie hier dem Staate, 
so wußte er der Provinz in der Errichtung eines Provinzial-Sanatoriums 
für Nervenkranke die erforderlichen Mittel abzugewinnen, und die 
Schöpfung der Rasemühle ist sein eigenstes Werk, das allein schon genügen 
würde, seinem Namen die Unvergessenheit zu sichern. Man muß dieses 
Idyll gesehen haben und seinen eigenartigen Heb auf sich einwirken 
lassen, um den Eindruck zu gewinnen, wie er einen Teil seines eigenen 
Ichs in seine Schöpfung hineingelegt hat, aus deren Einfachheit, und 
Gediegenheit uns das Wesen ihres Schöpfers entgegenleuchtet. Nehmen 
wir hinzu, daß auf seine Veranlassung das Provinzialverwahrungshaus 
für unsoziale Geisteskranke bei Göttingen errichtet, und eine Heil- und 
Erziehungsanstalt für psychopathische Fürsorgezöglinge, die erste ihrer 
Art, gegründet wurde, deren Leitung ihm mehr oder weniger unterstand, 
so bedurfte das einen Aufwand an Zeit und Kraft, den zu leisten nur 
wenige berufen sind. Wer wie ich Direktor einer großen Anstalt und dabei 
verpflichtet war, gleichzeitig den psychiatrischen Unterricht an der Univer¬ 
sität zu leiten, der weiß, was arbeiten heißt, und kann ruhig zugestehn, 
daß ihm zuweilen des Guten etwas viel wurde. Hier aber waren es der 
Ämter noch viel mehr, und jedes erforderte seinen Mann und dessen Zeit, 
während manches davon bei seiner Eigenart der treibenden Fürsorge 
seines Schöpfers überhaupt nicht entbehren konnte und sie in ganz be- 


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sonderem Maße in Anspruch nahm. Wem könnte man es alsdann ver¬ 
denken, wenn er unter sotanen Umstanden der Überlastung in vermehrter 
Reizbarkeit und Hast auch nach außen hin Ausdruck geben würde und 
hin und wieder etwas kurz und deutlich geworden wäre? 

Ob andere bei Cramer eine derartige Erfahrung gemacht haben, 
möchte ich auf Grund meiner eigenen bezweifeln. Ich wenigstens habe 
stets seine Ruhe und seinen Gleichmut bewundert, und es ist mir ein 
Rätsel, wo er die Zeit zur Erledigung seiner massenhaften Geschäfte 
gefunden hat. Erledigt aber hat er sie, und zwar gut erledigt, und nie 
habe ich von ihm ein Wort der Klage oder der Ungeduld gehört. Für ihn 
gilt das Horazische: Aequam in arduis servare mentem, und dieser Gleich¬ 
mut bildete nicht die am wenigsten gewinnende Seite des Verstorbenen. 

Dabei habe ich seiner wissenschaftlichen Tätigkeit noch keine Er¬ 
wähnung getan, und doch kann Eichelberg in seinem warm empfundenen 
Nachrufe die Zahl seiner Veröffentlichungen auf mehr als 60 beziffern, 
die das gesamte Gebiet unserer Fachwissenschaft umfassen und den wissen¬ 
schaftlichen Ruf Cramers begründet haben. 

Auch in ihnen ist es das zielbewußte Erfassen des jeweiligen Gegen¬ 
standes, das uns von vornherein in seinen Bann stellt, und uns der ebenso 
klaren wie einfachen Darstellung bis zum Schlüsse willig folgen läßt. 
Man hat das Gefühl, daß hier ein Mann zu uns redet, der uns etwas zu 
sagen, etwas Neues zu bieten hat und daß die Zeit, die man in seiner 
Gesellschaft verbringt, nicht verloren ist. Daher auch die Verbreitung 
und Beliebtheit seiner Lehrbücher, und die, wie ich glaube, ebenso all¬ 
gemeine wie neidlose Zustimmung seiner Fachgenossen, als ihm nach 
Ziehens Abgang die Berliner Professur angeboten wurde. Daß hier der 
richtige Mann an der richtigen Stelle gewesen und er wie kein Anderer 
diesen nicht ganz ebenen Pfad gewandelt wäre, aufrecht und unbeirrt 
wie ein Dürerscher Ritter, daran wird wohl niemand zweifeln, der ihn 
gekannt, und das ganze Elend seines Geschicks greift uns an, daß es ihm 
nicht mehr vergönnt war, diesem Rufe zu folgen. 

In diesem Ausgang liegt gewiß eine Tragik, und doch, wer sollte 
den nicht beneiden, der auf der Höhe seiner Leistungfähigkeit, in voller 
Wehr und Waffen, abberufen wird, ein Liebling der Götter? 

Pelman. 

Bei dem hundertjährigen Jubiläum des Sonnensteins wurde wieder¬ 
holt hervorgehoben, daß diese Anstalt die erste in Deutschland gewesen 
sei. Diese Annahme ist indes irrig; 11 Jahre früher hatten bereits die 
Stände der Kurmark eine Anstalt zur Behandlung Geisteskranker in Be¬ 
trieb gesetzt, die bis vor drei Jahren wenig verändert, wenn auch seit 
45 Jahren anderen Zwecken dienend, in Neuruppin bestanden hat. 
Während aber Sonnenstein in einer alten aufgelassenen Feste, Sorau in 
einem Kurfürstlich sächsischen Schlößchen errichtet wurden, kam in 


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Neuruppin ein Neubau zur Ausführung, der am 1. März 1801 seiner Be¬ 
stimmung übergeben wurde. Es war die erste für diesen Zweck in Deutsch¬ 
land erbaute Anstalt; die nächste völlig neue Irrenanstalt, der 
Sachsenberg bei Schwerin, folgte ihr erst 1830. 

Die Anstalt lag innerhalb der Stadtmauer in deren südöstlicher 
Ecke. Eine 3 m hohe Mauer grenzte den Anstalthof von der Schiffer - 
straße ab, von der eine durch ein großes Tor verschlossene Einfahrt zur 
Anstalt führte. Das Krankenhaus bestand aus einem in der Flucht der 
Häuser der Schifferstraße liegenden Flügel von 11 Fenster Front nach 
der Straße zu und rechtwinklig dazu einem kleineren Flügel von 6 Fenster 
Front nach dem Hofe zu. Die Länge des Gebäudes war auf der Ostseite 
41,9 m, auf der Südseite 33,35 m; es hatte ein Kellergeschoß von 3,55 m 
und zwei Obergeschosse von je 3,45 m Höhe. Den Zwischenraum von 
10 m, der den östlichen Flügel des Krankenhauses von den Häusern der 
Schifferstraße trennte, füllte ein Haus von vier Fenster Front und geringerer 
Stockwerkhöhe aus, das von dem Eingang des Krankenhauses aus zu 
betreten und etwa 1,50 m niedriger war. Es befanden sich Bureauräume 
für die Anstalt und die Wohnung des Inspektors darin. 

Die Anstalt war für 100 Kranke (*/* m., 7» w.) bestimmt; die Männer 
nahmen den Flügel an der Schifferstraße, die Frauen den rechtwinklig 
dazu gelegenen ein. In dem ersten Oberstock lagen Zimmer für Pensionäre, 
sowie zwischen Männer- und Frauenfiügel ein Betsaal und Versammlung¬ 
saal. Das Kellergeschoß nahmen die Küche mit Nebenräumen, die Wasch¬ 
küche, das Bad und 9 Isolierräume, 6 für Männer, 3 für Frauen, ein. Auf 
der der Stadtmauer zugew r andten Seite des Gebäudes lief in jedem Stock¬ 
werk ein breiter Korridor entlang, Zimmer von verschiedener Größe 
lagen nach der Hofseite. Sämtliche Fenster waren vergittert. Zwei große 
ummauerte, mit Bäumen bestandene Gärten füllten den Raum bis zum 
Gange um die Stadtmauer aus, je einer für die Männer und die Frauen. 
Von dem Kellergeschoß führten Ausgänge in die Gärten. 

Ende der 30er Jahre wurden infolge zunehmender Krankenzahl 
noch an der Seite der Heinrichstraße Grundstücke gekauft und da noch 
ein Gebäude mit zwei Obergeschossen errichtet. Darin war eine Schneider¬ 
und Schuhmacherwerkstatt untergebracht, es wohnten mehrere Be¬ 
dienstete darin, und die Obeigeschosse wurden von Kranken bewohnt. 

Von wem der Plan zu der für die damalige Zeit zweckmäßigen und 
geräumigen Anstalt entworfen ist, habe ich nicht ermitteln können. Auch 
war aus der ersten Zeit über den ärztlichen Dienst in der Anstalt nichts 
festzustellen. Er wurde wahrscheinlich vom Kreisphysikus mit versorgt. 
Ein ärztlicher Direktor wurde erst 1841 in der Person des Dr. Wallüs 
eingesetzt. Dessen Nachfolger Dr. Sponholz ging bei der Aufhebung der 
Anstalt (1. Nov. 1865) mit nach Eberswalde über. 

Während der Direktor außerhalb wohnte, w’ar mindestens seit 


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Anfang der 50er Jahre ein unverheirateter Arzt in der Anstalt wohnhaft 
(um 1860 Dr. Ideler, der spätere Direktor von Dalldorf, bei Aufhebung 
der Anstalt Dr. Wendt, später Direktor in Schwetz). 

Wenn die Anstalt sich zu sehr füllte, wurden die unheilbaren Kranken 
nach Wittstock überführt, wo anscheinend schon vor der Eröffnung von 
Neuruppin gemeingefährliche Geisteskranke, zusammen mit Landarmen, 
Siechen und Korrigenden, untergebracht waren. (Aus einem Aufsatz von 
Geh. San.-Rat Dr. Knecht in der Märkischen Zeitung v. 18. 8. 1912.) 


Aus dem Verein zum Austausch der Anstalt¬ 
berichte ist das Sanatorium Rockwinkel bei Bremen ausgetreten. 


Per8onafoi<whAricfoten* 

Dr. Wilhelm Alter, Geh. San.-Rat, bisher Direktor von Leubus, ist am 
1. Oktober in den Ruhestand getreten. Sein Nach¬ 
folger ist 

Dr. Joh. Hinter, San.-Rat, bisher 2. Arzt in Brieg. 

Dr. V. Magnan, Prof. u. Chefarzt von St. Anne in Paris, ist ebenfalls 

in den Ruhestand getreten. 

Dr. Albr. o. Kunowski wurde als Oberarzt von Leubus nach Brieg, 

Dr. Wilh. Weidenmüller, Oberarzt, von Uchtspringe nach J erichow 

versetzt. 

Dr. Guido Kunze in Leubus und 

Dr. Hugo Heilemann in Bunzlau wurden zu Oberärzten befördert. 

Dr. Rieh. Stöckle in Eglfing ist Oberarzt in Lohr geworden. 

Dr. Karl Brandl, Anstaltsarzt in Eglfing, 

Dr. Karl v. Hößlin, Anstaltsarzt in Eglfing, 

Dr. Alb. Imhof, Anstaltsarzt in Gabersee, und 

Dr. Emil Krapf, Anstaltsarzt in Haar (bisher in Kaufbeuren), haben 
Titel u. Rang eines Oberarztes erhalten. 

Dr. Max Seige, früher Assistent in Jena, hat sich in Partenkirchen 
als Nervenarzt niedergelassen. 

Dr. Ernst Schultze, o. Prof., bisher in Greifswald, ist nach Göttingen 
als Dir. der Prov.-Anstalt u. als Leiter der Klinik berufen 
worden und hat die Berufung angenommen. 

Dr. Georg Stertz, bisher Priv.-Doz. in Bonn, ist Oberarzt an der psy¬ 
chiatrischen Klinik zu Breslau geworden u. hat sich an der 
dortigen Universität habilitiert. 

Dr. W. Spielmeyer, Priv.-Doz. in Freiburg, ist zum Leiter des anatom. 

Laboratoriums der psychiatr. Klinik zu München ernannt 
worden. 

Dr. Hane W. Maier, 2. Arzt im BurghölzH zu Zürich, und 


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Kleinere Mitteilungen. 


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Dr. Jos. Berte, Primararzt am Steinhöf zu Wien, haben sich als Privat¬ 
dozenten habilitiert. 

Dr. Kurt Goldstein, Priv -Doz. in Königsberg, und 

Dr. Jos. Peretti, Geh. San.-R., Dir. d. Prov.-Anst. Grafenberg u. Dox. 

an der Akademie Düsseldorf, haben den Titel Professor 
erhalten. 

Dr. Alfr. Richter, Dir. in Buch, 

Dr. Reinh. Otto, Oberarzt in Herzberge, und 

Dr. Friedr. Kortum, Oberarzt in Dalldorf, sind zu Geh. Sanitäts¬ 
räten, 

Dr. Walter Levinstein, Dir. der Maison de Santö in Schöneberg, zum 
Sanitätsrat ernannt worden. 

Dr. Wilh. Alter, Geh. San.-R., bisher in Leubus, jetzt in Knetern b. 
Breslau, und 

Dr. Ad. Schmidt, Geh. San.-Rat, Dir. der Prov.-Anstalt Sorau, haben den 
Kronenorden 3. Kl., 

Dr. 08k. Kluge, Dir. der Prov.-Anstalt f. EpiL in Potsdam, den Roten 
Adlerorden 4. KL, 

Dr. Gust. Länderer, San.-R., die Kar 1-0Iga-Medaille in Silber, 

Dr. Heinr. Schloß, Reg.-Rat, Dir. der Landesanstalt am Steinhof in 
Wien, den Orden der Eisernen Krone 3. Klasse er¬ 
halten. 

Dr. Gerh. v. Seidlitz, Assist.-Arzt in Teupitz, ist am 2. Sept. an InflueDza- 
pneumnie, 

Dr. Julius MüUer, Oberarzt der Pflegeanstalt St. Thomas in Andernach, 
am 9. Sept., 34 J ahre alt, infolge eines Schlaganfalls g e - 
s t o r b e n. 

Dr. Edm. Ribstein, Geh. Med.-Rat, Dir. Arzt am Landesgefängnis zu 
Freiburg i. B., 

Dr. Stöwesand, Anstaltsarzt in Kreuzburg L SchL, zuletzt Schiffsarzt, u. 

Dr. Herrn. Früstück, Oberarzt in Hochweitzschen, sind gestorben. 


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ALLGEMEINE ZEITSCHRIFT 

FÜR 

PSYCHIATRIE 

UND 

PSYCHISCH-GERICHTLICHE MEDIZIN 

HERAUSGEGEBEN VON 

DEUTSCHLANDS IRRENÄRZTEN 

UNTER DER MITREDAKTION VON 
BONHOEFFER CRAMER v. GRASHEY KREUSER PELMAN SCHÜLE 

BERLIN GÖTTINGEN MÖNCHEN WINNENTAL BONN ILLENAC 

DURCH 

HANS LAEHR 

SCHWEIZERHOF 

NEUNUNDSECHZIGSTER BAND 
I. LITERATURHEFT 



BERLIN 

W. 36. GENTUINERSTRA8SE 38 

DRUCK UND VERLAG VON GEORG REIMER 

1912 



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BERICHT 

ÜB£ß DIE 

PSYCHIATRISCHE LITERATUR 

IM JAHRE 1911 


REDIGIERT 

VON 

OTTO SNELL 

DIREKTOR DER BEIL* C. PFLEGEA58TALT LtSEBCRO 

I. 


I. LITERATURHEFT 

ZUM 69. BANDE 

DER ALLGEMEINEN ZEITSCHRIFT FÜR PSYCHIATRIE 



BERLIN 

W. 35. GENTHINERSTRASSE 38 

DRUCK UND VERLAG VON GEORG REIMER 

1912 . 


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1. Psychologie und Psychophysik. 

Ref. Max Isserlin-München. 

1. Abraham, K. (Berlin), Giovanni Segantini. Ein psychoanalytischer 

Versuch. Leipzig u. Wien, F. Deuticke. 66 S. 2 M. 

2. Abramowsky, E. (Warschau), L’analyse physiologique de la per- 

ception. Blond et Cie. 120 S. 1,50 fr. 

3. Ach, N., Uber den Willensakt, eine Replik (Untersuchungen z. 

PsychoL u. Philos., herausg. v. N. Ach, I, 4). 40 S. Leipzig 
1911. (S. 24*.) 

4. Ach, Narziss, Willensakt und Temperament. Ztschr. f. Psychol. 

Bd. 58, H. 3 u. 4, S. 263—276. (S. 24*.) 

5. Acker, Rudolph, Recent Freudian Literature. Americ. Joum. of 

Psychol. Bd. XXII, H. 3, S. 408-444. 

6. Alexander, 0 ., Die Reflexerregbarkeit des Ohrlabyrinthes am 

menschlichen Neugeborenen. Ztschr. f. SinnesphysioL 1911 
Bd. 45, H. 3 u. 4, S. 153—197. 

7. D'Aüones , R., Proc6d6 clinique pour mesurer la rapiditä de l’atten- 

tion. Joum. de psychol. normale et pathoL 8 e ann., no. 1. 

8. Anschütz, 0 ., Über die Methoden der Psychologie. Arch. f. d. 

ges. Psychol. 1911 Bd. XX, H. 4, S. 414-498. (S. 17*.) 

9. Bajenoff et Ossipoff (Moskau). La Suggestion et ses limites. 

Paris, Bloud et Cie. 117 p. 1,50 fr. 

10. Barnholt, Sarah E., und Bentley , Madison , Thermal Intensity and 

the Area of Stimulus. Americ. Joum. of Psychol. 1911 
Bd. XX, H. 3, S. 325—333. 

11. v. Bechterew, W., Über die Anwendung der assoziativmotorischen 

Reflexe als objektives Untersuchungsverfahren in der klini¬ 
schen Neuropathologie und Psychiatrie. Ztschr. f. d. ges. 
Neuro), u. Psych. Bd. V, H. 3, S. 299. 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXIX. Lit. a 


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2* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


12. Bentley siehe Barriholt. 

13. Benussi, Vittorio , Über die Motive der Scheinkörperlichkeit bei 

umkehrbaren Zeichnungen. Mit 9 Figuren und 4 Diagrammen 
im Text. Arch. f. d. ges. Psychol. 1911 Bd. XX, R. 4, S. 363 
bis 397. 

14. Berriheim (Nancy), Definition et valcur thörapeutique de Ihypno- 

tisme. Revue de psych. no. 10, p. 402. 

15. Berte, J., Zur Psychologie und Pathologie der Affekte. Wien. 

klin. Wschr. Nr. 9. Ref.: Münch, med. Wschr. Nr. 11, S. 588. 

16. Betz, W., Vorstellung und Einstellung. IL Über Begriffe. Areh. 

f. d. ges. Psych. 1911 Bd. XX, H. 2, S. 186—225. 

17. Betz, W., über Korrelation. VI, 88 S. (Beihefte z. Ztschr. f. angew. 

PsychoL Nr. 3). Leipzig 1911. 

18. Birnbaum, K., Die krankhafte Willensschwäche und ihre Er¬ 

scheinungsformen. Wiesbaden, J. F. Bergmann. 75 S. 2 M. 

19. Bobertag , 0., Über Intelligenzprüfungen, nach der Methode von 

Binet und Simon. Ztschr. f. angew. Psychol 5,105. 1911. 
(S. 24*.) 

20. Boruttau, H. (Berlin), Leib und Seele. Grundzüge der Physiologie 

des Nervensystems und der physiologischen Psychologie 
Leipzig, Quelle u. Meyer, 141 S. 1,25 M 

21. Boulenger (Liemnux), Poösie et Dömence. Journ. de neuroL 

22. Buyse, 0 ., Le probleme psychophysique de l’apprentissage. Revue 

psychol. 4, fase. 1, p. 51. 

23. Chatelain, A. (St. Blaise), Note sur la sidSration par la douleur. 

Ann. m^d.-psychol no. 3, p. 398. 

24. Chinaglia. Leopold, siehe Kiesow. 

25. Clarke, Helen Maud, Conscious Attitudes. Americ. Journ. of 

Psychol. 1911 Bd. XXII, H. 2 S. 214—225. 

26. Clark, Dorothy, Qoodell, Mary S., and Washbum, M. F., The 

Effect of Area on the Pleasantuess of Colors. Americ. Journ. 
of Psychol. 1911 voLXXfl, p. 578—579 (Minor Studie* 
from the Psychological Laboratory of Vassar College). 

27. Cohn und Dieffenbacker, Untersuchungen über Geschlecht*-. 

Alters- und Begabungsunterschiede bei Schülern. VI, 213 S. 
Beihefte z. Ztschr. f. angew. Psychol Nr. 2. Leipzig 1911 

28. Gollins siehe Ferree. 


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Original fro-rri 

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Isserlin, Psychologie and Psychophysik. 3* 

29. Crawford, Dorothy , and Washbum, M. 1F., Fluctuätions in the 

Affective Value of. Colors Düring Fixation for One Minute. 
Americ.. Journ. of PsychoL 1911 vol XXII, p. 579—583. 
(Minor Studies from the Psychological Laboratory of Vassar 
College.) 

30. Dauber, Johann, Über bevorzugte Assoziationen und verwandte 

Phänomene. Ztschr. f. PsychoL Bd. 59 ,H. 3, S-176 
bis 222. 

31. Delage, Y., La mämoire visuelle chez les peintres. Bull, de l’institut 

g6n6ral psychoL no. 1, p. 45. 

32. Delage, Y., Comment pensent les bStes. Bull, de l’nstitut g6n6ral 

psychoL no. 1, p. 35. 

33. Dessoir, Max, Abriß einer Geschichte der Psychologie. 272 S. 

Heidelberg, Karl Winters Universitätsbuchhandlung. (S. 17*.) 

34. Devoux et Logre, Amnesie et fabulation. Iconographie de la 

Salpetriere (nouvelle) no. 1, p. 90. 

35. Dexler, H., Fröschl, A. (Prag), Beiträge zur Psychologie der Tiere. 

Prag. med. Wschr. Nr. 42—43. 

36. Dieffenbach siehe Cohn. 

37. Dolle, M., Das magnetische Gesetz, die Offenbarung des Lebens 

in jeder Form. 45 S. Leipzig, Kommissionsverlag von Otto 
Wigand m. b. H. 

38. Dosai-Revesz, M., Experimentelle Beiträge zur Psychologie der 

moralisch-verkommenen Kinder. Ztschr. f. angew. PsychoL 
5, 272. 

39. Doumey, June E., A Case of Colored Gustation. Americ. Journ. 

of PsychoL vol. XXII, p. 628—540. 

40. Dreher, Edgar, Methodische Untersuchung der Farbentonände¬ 

rungen homogener Lichter bei zunehmend indirektem Sehen 
und veränderter Intensität (mit 9 Figuren im Text). Ztschr. • 
f. Sinnesphysiol. Bd. 46, H. 1 u. 2, S. 1—83. 

41. Drozynski, L., Atmungs- und Pulssymptome rhythmischer Ge¬ 

fühle. Mit Tafel I—II. PsychoL Studien v. Wundt, Bd. VII, 

H. 1 u. 2, S. 83—140. (S. 23*.) 

42. Dunhtp,’Knight, Terminology in the Field of Sensation. Americ. 

Journ. of PsychoL voL XXII, fase. 3,. p. 444—445. 

a* 


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4* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


43. DuprS, E., et Nathan, M., Le langage musicaL (Etüde m6dico- 

psychologique.) Paris, F. Alcan. 

44. Dupuis, L., Le moindre effort en psychologie. Revue pbiios. 

36® an., no. 2. 

45. Ebbinghaus , ff., Grundzüge der Psychologie Bd. II Lieferung 

I u. 11. II. Lieferung von Prof. Ernst Dürr-Bern, 

46. Eüis, Hav ., Die Welt der Träume. Deutsch von H. Kurelia. 

Würzburg, C. Kabitzsch. 292 S. 4 M. 

47. EUis, Havelock , Symbolismus in Träumen. Ztschr. f. Psychother. 

u. med. Psychol. Bd. III, H. 1, S. 29. 

48. Ellison Ordahl. Louise Consciousness in Relation to Leaming. 

Americ. Joum. of Psychol. vol. XXII fase. 2, p. 158—214 

49. Elsenhans, Theodor, Theorie der Phantasie. Arch. f. d. ges. PsychoL 

Bd. XXIT, H. 1, S. 30—40. 

50. Eulenburg, A., Sammelbericht über Psychotherapie und medizi¬ 

nische Psychologie. Med. Klinik Nr. 31, S. 1210. 

51. Ferree, C. E., and Cottins, Ruth, An experimental Demonstration 

of the Binaural Ratio as a Factor in Auditory Localization. 
Americ. Journ. of PsychoL 1911 vol. XXII, fase. 2, p.225—298 

52. Feuchiwanger, Albert, Versuche über Vorstellungstypen. Ztschr. 

f. Psychol. Bd. 58, H. 3 u. 4, S. 161—200. (S. 22*.) 

53. Forbes siehe Wells. 

54. Friedmann, M., Über die Psychologie der Eifersucht. Wies¬ 

baden, J. F. Bergmann, 1911. 112 S. 

55. Freud, S. (Wien), Über den Traum. 2. Aufl. Wiesbaden, Berg¬ 

mann. 

57. Freud, Sigm., Die Traumdeutung. 3. vermehrte Auflage. 414 S. 

10 M. Leipzig u. Wien, Franz Deuticke. 

58. Fröhlich, Albert, Assoziationspsychologische Studien bei Epi¬ 

leptikern. Inaug.-Diss. Greifswald. 

59. j Fröschl siehe Dealer. 

60. Floumoy, Th., Beiträge zur Religionspsychologie (in autorisierter 

Übersetzung von Prof. Dr. M. Regel). 62 S. Leipzig, Fritz 
Eckardt Verlag. 

61. Fursac, J. R. de, L’avarice, essai de psychologie morbide. 185 p. 

Paris, Felix Alcan. 


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Iss erlin, Psychologie und Psychophysik. 


5* 


62. Oaedeken, Paul, Über die psychophysiologische Bedeutung der 

atmosphärischen Verhältnisse, insbesondere des Lichts. (Eine 
vergleichend statistische Untersuchung.) Zeitschr. f. Psycho- 
ther. u. med. Psychol. 3, 129. (S. 24*.) 

63. Galasso, F., Nuova ipotesi sul sonno fisiologico. Rivista di psicologia 

applicata Ann; 7, no. 3, p. 257. 

64. Geiger, M., Das Bewußtsein von Gefühlen. Münch, philos. Ab- 

handl Th. Lipps zu seinem 60. Geburtstag gewidmet. Leipzig, 
Barth, 1911. 

65. Goanza siehe Stefanescu. 

66. Göcke, Curt , Uber die Schwankungen der Erfolge untermaximaler 

Beize. Inaug.-Diss. Freiburg i. Br. 

67. Goebel, Uber die Ursache der Einklangsempfindung bei Ein¬ 

wirkung von Tönen, die im Oktavenverhältnis zueinander 
stehen. Ztschr. f. Sinnesphysiol. Bd. 45, H. 2, S. 109—117. 

68. Göring , H., Vergleichende Messung der Alkoholwirkung. Psychol 

Arb., herausg. von E. Kräpelin, VI, 1911. 

69. GoodeU siehe Clark. 

70. Graf, Max (Wien), Richard Wagner im „Fliegenden Holländer“. 

Ein Beitrag zur Psychologie künstlerischen Schaffens. 
Schriften zur angewandten Seelenkunde, herausg. von 
S. Freud, H. 9. Leipzig u. Wien Fr. Deuticke. 45 S. 

71. Grösst, Isabeüa, Einfache Reaktionszeit und Einstellung der 

Aufmerksamkeit. Ztschr. f. Psychol Bd. 60 H. 1 u. 2, S. 46 
bis 73. 

72. Grooß, Karl, Untersuchungen über den Aufbau der Systeme. 

Ztschr. f. Psychol. Bd. 60, H. 1 u. 2, S. 1—26. 

73. Günther , Friedrich, Reaktionsversuche bei Durchgangsbeobach¬ 

tungen. (Mit 3 Figuren im Text und 3 Tafeln.) Psychol. 
Studien 1911 Bd. VII, H. 4 u. 5, S. 229—284. 

74. Guttmarm, L. (Moskau), Russische medizinisch-psychologische 

Arbeixen. Kritisches Sammelreferat. Ztschr. f. Psychother. 
u. med. Psychol. Bd. III, H. 1, S. 52. 

75. Hacker, Friedr., Systematische Traumbeobachtungen mit be¬ 

sonderer Berücksichtigung der Gedanken. (Mit 1 Figur 
im Text.) Arch. f. d. ges. Psychol. Bd. XXI, H. 1—3, 
S. 1—132. (S. 24*.) 


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6* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


76. v. Hartungen, Ch., Kritische Tage und Träume. Ztschr. f. 

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77. Hayes, Samuel P., The Color Sensations of the Partially Color- 

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of Psycbol. vol. XXTI, fase. 3, p. 369—408. 

78. Heller, Theodor , Über Psychologie und Psychopathologie des 

Kindes. Wien, Hugo Heller u. Comp. 

79. Hellpach, W., Die geopsychischen Erscheinungen. Wetter, Klima 

und Landschaft in ihrem Einfluß auf das Seelenleben. 
Leipzig, W. Engelmann. (S. 24*.) 

80. Hemon, V. A. C., The relation of the time of a judgemsnt to its 

accuracy. The psychol. review 18, no. 3, p. 186. 

81. Henry, Ch., Mömoire et habitude. Bull, de l’institut g6n4ral 

psychol. no. 1, p. 70. 

82. Henry, Ch., Sensation et Energie. Bull, de l’institut gSnöral psychol. 

no. 1, p. 65. 

83. Hüdebra/nd-v. Renauld, L., Zur Psychologie eines Sprichworts. 

(Geteilte Freude ist doppelte Freude, Geteilter Schmerz 
ist halber Schmerz.) Eine psychologische Studie. Arch. f. 
d. ges. Psychol. Bd. XXII, H. 2 u. 3, S. 395—398. 

84. Hinrichsen, 0., Zur Psychologie und Psychopathologie des 

Dichters. 94 S. Wiesbaden, J. F. Bergmann. 

85. Hirschlaff, L., Zur Psychologie und Hygiene des Denkens. Ztschr. 

f. d. ges. Neurol. u. Psych. Bd. 6, H. 2, S. 214. 

86. Höfler, Alois, Zwei Modelle schematischer Farbenkörper und die 

vermutliche Gestalt des psychologischen Farbenkörpers. 
Ztschr. f. Psychol. Bd. 58, H. 5 u. 6, S. 356—371. 

87. Huber, Edwin, Assoziationsversuche an Soldaten. Ztschr. f. 

Psychol Bd. 59, H. 4, S. 241. 

89. Inccarini, Em., Los origines de la vida y la fÜosofia italiana. 

Archivos de psiquiatria y criminalogia 10 an., p. 355. 

90. Isserlin, M., Bewegungen und Fortschritte in der Psychotherapie. 

Ergebn. d. Neurol. u. Psych. I, 1—88. 1911. (S. 20*.) 

91. Jacobson, Edmund , On meaning and Understanding. Americ. 

Journ. of Psychol. vol. XXII, p. 553-578. 


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Isserlin, Psychologie and Psychophysik. 


7* 


92. Jacobson, Edmund , Consciousness under Anaesthetics. Americ. 

Journ. of Psychol. vol. XXII, fase. 3, p. 333—346. 

93. Jaensch, E., Über die Wahrnehmung des Raumes. Eine experi¬ 

mentell-psychologische Untersuchung nebst Anwendung auf 
Ästhetik und Erkenntnislehre. Ztschr. f. Psychol Erg.-Bd. 6, 
488 S. (S. 17* ) 

94. Jaspers, Analyse der Trugwahrnehmungen. Ztschr. f. d. ges. 

Neurol. u. Psych. VI, H. 4. 

95. Jesinghaus, Carl, Zur psychologischen Theorie des Gedächtnisses. 

Psychol. Studien Bd. VII, H. 4 u. 5, S. 336—375. 

96. Jones, Emest (Toronto), The psycbopathology of the everydaylife. 

Journ. of psychol. vol 22, p. 477. 

97. Joteyko, J., Les illusioDS alimentaires. La revue psychol fase. 2, 

p. 214. 

98. KaUen, Horace M., The. Aesthetic Priuciple in Comedy. Americ. 

Journ. of Psychol. vol. XXII, no. 2, p. 139—158. 

99. Katz, D., Die Erscheinungsweisen der Farben und ihre Beein¬ 

flussung durch die individuelle Erfahrung. Ztschr. f. Psychol. 
Erg.-Bd. 7, 425 S. (S. 17*.) 

100. Keller, A., Das Wesen der Vernunft. 32 S. Groß-Lichterfelde, 

Unverdorben & Co. 

101. Keller, A., Das Wesen des Seins und Nichtseins. 32 S. 1 M. 

Groß-Lichterfelde, J. Unverdorben & Co. 

102. Kiesow, F., Uber die Versuche von E. H. Weber und M. Szabad- 

földi, nach welchen einer Hautstelle aufliegende Gegenstände 
von gleicher Größe nicht gleich schwer empfunden werden, 
wenn ihre Temperaturen gewisse Unterschiede aufweisen. 
Nach einer zum Teil von Dr. Leopold Chinaglia ausgeführten 
Untersuchung. Arch. f. d. ges. Psychol Bd. XX, H. 1, 
S. 50—105. 

103. Klages, Ludwig, Über Charakterkunde (Eine Erwiderung). 

Arch. f. d. ges. Psychol. Bd. XXII, H. 1, S. 108-116. 

104. Klemm , O., Geschichte der Psychologie. Leipzig, Teubuer. 

(S. 17*.) 

105. Kohl, A., Pubertät und Sexualität. Untersuchungen zui Psycho¬ 

logie des Entwicklungsalters. 80 S. 1,50 M. Würzburg, 
Curt Kabitzsch. 


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8* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


106. Köhler, W., Akustische Untersuchungen II. Ztschr. f. PsychoL 

58, 59—140. (S. 17*.) 

106a. Köhler, W., Bibliographie der deutschen und ausländischen 
Literatur des Jahres 1910 über Psychologie, ihre Hilfswissen¬ 
schaften und Grenzgebiete. (Mit Namenverzeichnis.) Ztschr. 
f. PsychoL Bd. 59. H. 5 u. 6. S. 331—474. 

107. Kraepelin, E., Die psychologischen Untersuchungsmethoden. 

Allg. Ztschr. f. Psychiatrie. 68, 509. 

108. Kramer, F., Die lntelligenzprüfung bei kriminellen und psycho- 

path. Kindern. Vortrag, Bericht über den 1. Kongreß für 
Jugendbildung und Jugendkunde zu Dresden, Okt. 1911. 
Arbeiten des Bundes für Schulreform. Leipzig, Teubner, 
1911. 

109. Kronfeld, Arthur, Über die psychologischen Theorien Freuds 

und verwandte Anschauungen. Systematik und kritische 
Erörterung. Arch. f. d. ges. PsychoL Bd. XXII, H. 2 u. 3, 
S. 130—249. 

110. Ladame, P. L ., Religion et pathologie mentale. Extrait des 

Comptes rendus du Vl e Congres international de Psychologie. 
Geneve 3, no. 4 Aoüt 1909, p. 139 et 688—697. 

111. Legendre et Pieron, Contribution experimentale ä la phisiologie 

du sommeiL Revue de psych. et de psychoL experimentale 
no. 5, p. 190. 

112. Lupine, Jean, Intonation und Gedächtnis. Revue d°. Medecine no. 6. 

113. Leschke, Erich, Die körperlichen Begleiterscheinungen seelischer 

Vorgänge. (Mit 3 Figuren im Text.) Arch. f. d. ges. PsychoL 
Bd. XXI, H. 1—3, S. 435—464. 

114. Leschke, Erich , Erwiderung auf die Bemerkung von Ernst Weber 

zu meiner Abhandlung: „Die körperlichen Begleiterschei¬ 
nungen seelischer Vorgänge“. Arch. f. d. ges. PsychoL 
BdL XXI, H. 4, S. 581. 

115. Levy-Suhl, Max (Berlin), Über experimentelle Beeinflussung 

des VorstellungsVerlaufes bei Geisteskranken nebst einer 
Kritik der Assoziationsexperimente an Geistesgesunden. 
Leipzig, Barth, 144 S. 4,50 M. (S. 18*.) 

116. Levy-Sulü, Max, Studien über die experimentelle Beeinflussung 


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IsBerlin, Psychologie and Psychophysik. 9* 

des Vorstellungsverlaufes. (Dritter Teil.) Ztschr. f. PsychoL 
Bd. 59, H. 1 u. 2, S. 1—91. 

117. Ley, Äug ., et Menzerath , P., L'6tude experimentale de l’asso- 

ciation des idöes dans les maladies mentales. Bull de la 
soc. de m&L ment, de Belgique no. 157. (S. 18*.) 

118. Liebermann, Paul v ., und Marx, Eugen, Über die Empfindlichkeit 

des normalen und des protanopischen Sehorgans für Unter¬ 
schiede des Farbentons. Ztschr. f. Sinnesphysiol. Bd. 45, 
H. 2, S. 103-109. 

119. Lipmann, Otto , Die Spuren interessebetonter Erlebnisse und 

ihre Symptome (Theorie, Methoden und Ergebnisse der 
Tatbestandsdiagnostik). IV, 96 S. Beihefte z. Ztschr. f. 
angew. Psychol. Nr. 1. (S. 24*.) 

120. Lobedank, E., Das Problem der Seele und der Willensfreiheit in 

Theorie und Praxis. 55 S. Berlin, J. Guttentag. 

121. Loeb, S., Ein Beitrag zur Lehre vom Farbengedächtnis. Ztschr. 

f. Sinnesphysiol Bd. 46, H. 1 u. 2, S. 83—128. 

122. Logre siehe Devoux. 

123. Mach, E., Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis 

des Physischen zum Psychischen. 6. Auflage. Jena, G. 
Fischer. (S. 17*.) 

124. Mackenzie WdUis, R. L. (Cardiff), Metabolism in the insane. 

Journ. of mental Science no. 237, vol. 67, p. 327. 

125. Moravcsik, E., Diagnostische Assoziationsuntersuchungen. Ztschr. 

f. Psychiatr. u. psychisch-gerichtliche Med. Bd. 68, S. 626. 

126. Moravcsik, E., Experimente über das psychogalvanische Reflex- 

phänomen. Joum. f. Psychol. u. Neurol. Bd. 18, S. 186. 
(S. 23*.) 

127. Margis, Paul: E. T. A. Hoff mann, Eine Individualanalyse mit 

2 Faksimiles, 2 Stammtafeln und 2 grapholog. Urteilen. VIII 
220 S. Beihefte z. Ztschr. f. angew. Psychol. Nr. 4. Leipzig. 

128. Marie, D. A., Traitö international de Psychopathologie. II. Teil. 

Paris, Felix Alcan. 

129. Marx siehe Liebermann. 

130. Marx, Eugen, und Trendelenburg, Wilhelm, Über die Genauigkeit 

der Einstellung des Auges beim Fixieren. (Mit 1 Tafel.) 
Ztschr. f. Sinnesphysiol. 1911 Bd. 45, H. 2, S. 87—103. 


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10* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


131. Menzerath siehe Ley. 

132. Messer, A., Husserls Phänomenologie in ihrem Verhältnis nur 

Psychologie. Arch. f. d. ges. PsychoL Bd. XXII, H. 2 und 
3, S. 117—130. 

133. Meumann , E., Über Bekanntheits- und Unbekanntheitsqualität. 

Arch. f. d. ges. Psychol. 8, 36—44. (S. 20*.) 

133a. Meyer, Experimentelle Analyse psychischer Vorgänge beim 
Schießen mit der Handfeuerwaffe. Ein Versuch. (Mit 7Fig.im 
Text.) Arch. f. d. ges. Psychol 1911 Bd. XX, H. 4, S. 397—414. 

134. Meyer, Vorschläge zu Versuchen im Anschluß an meinen Auf¬ 

satz „Experimentelle Analyse psychischer Vorgänge beim 
Schießen mit der Handfeuerwaffe“. (Mit einer Figur.) Arch. 
f. d. ges. Psychol. Bd. XXI, H. 1, S. 47—50. 

135. Minkowski, Eugen, Zur Müllerschen Lehre von den spezifischen 

Sinnesenergien. Ztschr. f. Sinnesphysiol. Bd. 45, H. 2. 
S. 129—152. 

136. Minnemann, C., Untersuchungen über die Differenz der 'Wahr¬ 

nehmungsgeschwindigkeit von Licht und Schallreizen. 

I. Theoretische Erörterungen über die Differenz von Wahr- 
nehmungsgeschwindigkeiten. (Mit 2 Figuren im Text.) 

II. Bisheriger Stand der Untersuchungen über die Wahr¬ 
nehmungsgeschwindigkeit von Licht und Schallreizen. 
(Mit 2 Figuren im Text.) IIL Experimentelle Unter¬ 
suchung über die Wahrnehmungsgeschwindigkeit von 
Licht- und Schallreizen nach der Methode direkter Ver¬ 
gleichung. (Mit 20 Figuren im Text.) Arch. f. d. ges. 
Psychol. Bd. XX, H. 3, 1911. 

137. Mütenzwey, K., Versuch einer Darstellung und Kritik der Freud- 

schen Neurosenlehre. Ztschr. f. Pathopsychol. I. 

138. Molde, Walter, Gedächtnis in Psychologie, Physiologie und 

Biologie. Kritische Beiträge zum Gedächtnisproblem. 
Arch. f. d. ges. PsychoL Bd. XII, H. 2 u. 3, S. 312—390. 

139. Monnet, R., La perception de la troisieme dimension. Journ. 

de psychol. normale et pathol. no. 2, p. 104 

140. Müller, O. E., Zur Analyse der Gedächtnistätigkeit und des 

Vorstellungsverlaufs. I. Teil. Ztschr. f. Psychol. Erg.-Bd. 5, 
403 S. (S. 18*.) 


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Isserlin, Psychologie and Psychophysik. 


11* 


141. Münsterberg, H., Psychologie und Pathologie. Ztschr. f. Patho- 

psychoL I. 

142. Nathan siehe DuyrL 

143. Ossipoff siehe Bajenoft. 

144. Paeheu, J., L’expärience mystique et l’activitß subconsciente. 

Revue de phUos. 1, I, p. 10. 

145. Pauli, Richard, Über die Beurteilung der Zeitordnung von 

optischen Reizen im Anschluß an eine von E. Mach beob¬ 
achtete Farbenerscheinung. (Mit 39 Figuren im Text.) 
Arch. f. d. ges. Psychol. Bd. XXI, H. 1—3, S. 132-T-219. 
(S. 17*.) 

146. Paulsen, Johannes, Untersuchungen über die psychophysio¬ 

logische Erkenntnistheorie Th. Ziehens. I. Der psycho¬ 
logische Begriff der Empfindung. Arch. f. d. ges. Psychol. 
Bd. XXII, H. 1, S. 1-30.. 

147. Peters, W., Gefühl und Erinnerung. Beiträge z. Erinnerungs¬ 

analyse. Psychol. Arb., herausg. von E. Kräpelin. VI, 196. 
(S. 18*.) 

148. Peitow, Ralph, Zur Psychologie der Transvestie. Zugleich ein 

Beitrag zur Reform des § 51 StGB. Arch. f. d. ges. Psychol. 
Bd. XXII, H. 2 u. 3, S. 249—267. 

149. Pick, A., Zur Lehre von den Störungen des Realitätsurteils 

bezüglich der Außenwelt; zugleich ein Beitrag zur Lehre 
vom Selbstbewußtsein. Ztschr. f. Pathopsychol I. (S. 26*.) 

150. Pick, A. (Prag), Les troubles psychopathiques des modes de 

l’expression. Arch. internationales de Neurol. vol. I, 9 sßrie, 
33 6 ann6e, mars, no. 3, p. 137. 

151. Pieron siehe Legendre. 

152. Pi&ron siehe Toulouse. 

153. Powo, M., Über einen Apparat zur Bestimmung der beim Lokali¬ 

sierungen von Hautempfindungen begangenen Fehler und 
deren Richtungen (Dermolokalimeter). (Mit 1 Figur.) Arch. 
f. d. ges. Psychol. Bd. XXII, H. 1, S. 105—108. 

154. Ponzo, M., Über einen neuen Zirkel für die Bestimmung der 

simultanen Raumschwellen der Körperhaut. (Mit 1 Figur 
im Text.) Arch. f. d. ges. Psychol. Bd. 22, H. 2 u. 3, S. 390 
bis 395. 


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12* 


Bericht übet die psychiatrische Literatur 1911. 


155. Poppelreuter, Walter, Beiträge zur Raumpsychologie. Ztschr. 

f. PsychoL Bd. 58, H. 3 u. 4, S. 200—263. 

156. Prandtl, Antonm, Experimente über den Einfluß von gefühls¬ 

betonten Bewußtseinslagen auf Lesezeit und Betonung. 
Ztschr. f. Psychol. Bd. 60, H. 1 u. 2, S. 26—46. 

157. Radbruch, 0., Die Psychologie der Gefangenschaft. Ztschr. f. 

d. ges. Strafrechtswissensch. 32, Liszt-Festschrift 1911. 

158. RakiS, Wicentije, Gedanken über Erziehung durch Spiel und 

Kunst. Arch. f. d. ges. Psychol. Bd. XXI, H 4, S. 521 bis 579. 

159. Ranschbwrg, P., Das kranke Gedächtnis. Ergebnisse und Methoden 

der experimentellen Erforschung der alltäglichen Falsch¬ 
leistungen und der- Pathologie des Gedächtnisses. 138 S. 
Leipzig, J. A. Barth. (S. 18*.) 

160. Rehwoldt, Fr., Über respiratorische Affektsymptome. Psycholog. 

Studien (W. Wundt) Bd. VII, H. 3, S. 141. (S. 23*.) 

161. Remuld siehe Hildebrand. 

162. Rieffert, J., Bericht über den TV. internationalen Kongreß für 

Philosophie zu Bologna vom 6.—11. April 1911, insbesondere 
die psychologische Sektion. Arch. f. d. ges. Psychol. Bd. XXI, 

H. 1—3, S. 464—519. 

163. Rigmano, Eugenio, Von der Aufmerksamkeit. I u. II. Arch. 

f. d. ges. Psychol. Bd. 22, H. 2—3, S. 267—312. 

164. Rohde, Max, Assoziationsvorgänge bei Defektpsychosen. Mtschr. 

f. Psych. u. Neurol. Bd. 30, H.6, S. 519. 

165. Rossolimo, O. (Moskau), Die psychologischen Profile. Zur Methodik 

der quantitativen Untersuchung der psychischen Vorgänge 
in normalen und pathologischen Fällen. Sommers Klinik 
f. psych. u. nerv. Krkh. Bd. 6, H. 3, S. 249. (S. 24*.) 

166. Salow, Paul, Untersuchungen zur uni- und bilateralen Reaktion. 

I. Entwicklung der Auffassung und Behandlungsweise der 
Reaktionsversuche. Psychol. Studien (Wundt) Bd. VII, H. 1 
u. 2, S. 1—83. 

167. Schanoff, B., Die Vorgänge des Rechnens. (Ein experimenteller 

Beitrag zur Psychologie des Rechnens.) Mit 7 Figuren und 
9 Tabellen. Pädagog. Monogr. 11. Leipzig, Nemnich. 120 S. 

168. Scheler, M., Über Selbsttäuschungen. Ztschr. f. PathopsychoL L 

169. Schlesinger, Abraham, Die Methode der historisch-völkerpsycho- 


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Isserlin, Psychologie and Psychophysik. 


13* 


Irischen Begriffsanalyse. Arch. f. d. ges. Psychol. Bd. XX, 
H. 2, S. 150—186. 

170. Schneidemühl, 0., Handschrift und Charakter. 318 S. 10 M. 

Leipzig, Th. Griebens Verlag, 1911. 

171. Schneider, Stanislaus, Über Helligkeitsadaption bei kontinuier¬ 

lichen Erregungen. (Mit 8 Figuren im Text.) Psychol. 
Studien (Wundt) Bd. VII, H. 3, S. 196—228. 

172. Schneider, Karl Camillo, Leitende Gedanken der modernen 

Tierpsychologie. Wien. klin. Rundsch. Nr. 37—38. 

174. Schnidtmann, M., Der Einfluß des Alkohols auf den Ablauf der 

Vorstellungen. Psychol Arb., herausg. von E. Kräpelin. VI. 

175. Schönberg, A., Beziehungen zwischen der Quantität des Reizes 

und der Qualität der Empfindung. Ztschr. f. SinnesphysioL 
Bd. 45, H. 3 u. 4, S. 197—204. 

176. Schubotz, Friedrich, Beiträge zur Kenntnis des Sehraumes auf 

Grund der Erfahrung. (Mit 13 Figuren im Text.) Arch. 
f. d. ges. Psychol Bd. XX, H. 2. S. 101—150. 

177. Selz, Otto , Willensakt und Temperament. (Eine Erwiderung 

auf N. Achs Widerlegung.) Ztschr. f. Psychol. Bd. 59, H. 1 
u. 2, S. 113—122. (S. 24*.) 

178. Serog, Max, Das Problem des Wesens und der Entstehung des 

Gefühlslebens. Ztschr. f. d. ges. Neurol u. Psych. Bd. 8, 
H. 2, S. 107. 

179. Siebrand, Untersuchungen über Kältesinn. Ztschr. f. Sinnes¬ 

physioL Bd. 45, H. 3 u. 4, S. 204—217. 

180. Sikorski, Les corrölations psychophysiques. Revue philos. no. 8, 

p. 113. 

181. Sokolomky, A., Verständigungsmittel in der höheren Tierwelt. 

Med. Klinik Nr. 23, S. 892. 

182. Sommer, R., Die psychologischen Untersuchungsmethoden. Referat 

für die Versammlung des deutschen Psychiater-Vereins 
in Stuttgart am 21. April 1911. Klin. f. psych. u. nerv. 
Krkh. Bd. 6, H. 3, S. 205. (S. 17*.) 

183. Sommer, R., Untersuchungen eines Gedankenlesers. Klin. f. 

psych. u. nerv. Krkh. Bd. 6, H. 4, S. 339. 

184. Specht, W., Über den Wert der pathologischen Methode in -der 

Psychologie und die Notwendigkeit der Fundierung der 


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14* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


Psychiatrie auf einer Pathopsychologie. Ztschr. f. Patho- 
psychol I. Leipzig 

185. Stefanescu-Goanga, Florian, Experimentelle Untersuchungen au 

Gefühlsbetonung der Farben. (Mit 1 Figur im Text und 
8 Tafeln.) Psychol.Studien (Wundt) Bd.VII H.4u.5, S.284 
bis 336. 

186. Stekel, W. (Wien), Die Sprache des Traumes. 539 S. 12,60 M. 

Wiesbaden, J. F. Bergmann. (S. 25*.) 

187. Stern, V., Monistische Ethik. Gesetze der Physik und Ethik. 

abgeleitet aus den Grundprinzipien der Deszendenztheorie. 
246 S. 6,30 M. Leipzig, J. A. Barth. 

188. Stern, W., Die differentielle Psychologie in ihren methodischen 

Grundlagen. An Stelle einer zweiten Auflage des Buches: 
Über Psychologie der individuellen Differenzen (Ideen zu 
einer differentiellen Psychologie). IX, 603 S. Leipzig. 
(S. 17*.) 

189. Stein, W., Fragestellungen, Methoden und Ergebnisse der In¬ 

telligenzprüfung. Vortrag. Verhandl. d. 1. Kongr. f. Jugend¬ 
bildung u. Jugendkunde zu Dresden, Okt. 1911. Arbeiten 
d. Bundes f. Schulreform. Leipzig, Teubner, 1911. 

190. Sternberg, Wüh., Der Appetit in der exakten Medizin. Ztschr. 

f. Sinnesphysiol. Bd. 45, H. 5 u. 6, S. 433—460. 

192. Sternberg, Wüh., Die Physiologie der Kitzelgefühle. Ztschr. f. 

Psychol. Bd. 60. H. 1 u. 2, S. 73—109. 

193. Sternberg, Wühelm, Die physiologische Grundlage des Hunger¬ 

gefühls. Ztschr. f. Sinnesphysiol. Bd. 45, H. 2, S. 71—87. 

194. Stoffels, Jos., Die Angriffe der Dämonen auf den Einsiedler 

Antonius. Theologie u. Glaube II. Jahrg., 9.—10. H. Pader¬ 
born, Ferd. Schöningh. 

195. Stumpf, C., Differenztöne und Konsonanz. (Zweiter Artikel.) 

Ztschr. f. Psychol. Bd. 69, H. 1 u. 2, S. 161—176. 

196. Stumpf , Pleikart, Über die Abhängigkeit der visuellen Bewegungs¬ 

empfindungen und ihres negativen Nachbildes.von den Reiz- 
Vorgängen auf der Netzhaut. Ztschr. f. Psychol. Bd. 59, H.ä 
u. 6, S..321—331. 

197. Stumpf, C., Konsonanz und Konkordanz. Ztschr. f. Psychol- 

Bd. 58, H. 5 ii. 6, S. 321-^356. , . 


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Isserlin, Psychologie and Psychophysik. 


15* 


198. Swoboda, H., Otto Weiningers Tod. Wien und Leipzig, Franz 

Deuticke. 

199. Titchener, E. B., A note of the Consciousness of Seif. Americ. 

Journ. of PsychoL vol. XXII, p. 540—553. 

200. Trendeletiburg, W., Berichtigung zu der Arbeit von Marx und 

Trendelenburg über die Genauigkeit der Einstellung des 
Auges beim Fixieren. Ztschr. f. SinnesphysioL Bd. 45, 
H. 5 u. 6, S. 460. 

201. Trendelenburg siehe Marx. 

202. Toulouse et Püron, H., Technique de psychologia experimentale. 

Paris, Doin. 

203. Trömner, E. (Hamburg), Vorgänge beim Einschlafen. (Hypnagoge 

Phänomene.) Journ. f. PsychoL u. Neurol. Bd. 17, S. 37. 

204. Turro, R., Ursprünge der Erkenntnis. (I. Die physiologische 

Psychologie des Hungers.) Leipzig, Barth,. 236 S. 

205. Turro, R., dasselbe, Ztschr. f. SinnesphysioL Bd. 45, H. 3 

u. 4, S. 217-306 und H. 5 u. 6, S. 327-433. 

206. Urban siehe Willis. 

207. Urban, F. M., A Reply to Professor Safford. Americ. Journ. 

of PsychoL Bd. XXII, H. 2, S. 298—319. 

208. Vries Schaub , Alma de, On the Intensity of Images. Americ. 

Journ. of PsychoL Bd. XXII, H. 3, S. 340—369. 

209. Washbum siehe Craioford. 

210. Washbum siehe Clark. 

212. Weber, Emst, Bemerkung zu der Abhandlung „Die körperlichen 

Begleiterscheinungen seelischer Vorgänge“. Arch. f. d. ges. 
PsychoL Bd. XXI, H. 4, S. 579—581. 

213. Weiß, Otto, Die zeitliche Dauer der Augenbewegungen und der 

synergischen Lidbewegungen. (Mit 1 Tafel.) Ztschr. f. 
SinnesphysioL Bd. 45, H. 5 u. 6, S. 313—327. 

214. Wells, F. L., and Forbes, A., On certain electrical processes in 

the human body and their relation to emotional reactions. 
Arch. of psychol. 1911 no. 16 (edited by R. S. Woodworth, 
New York, the Science press). (S. 23*.) 

215. Wells, F. L., Practice effects in free association. Americ. journ. 

of psychol. 1911 vol. 22, p. 1—13. 

216. Wells, F. L., Review of Kent’s and Rosanoffs a study of asso- 


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16* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


ciation in insanity. Joura. of philos., psychoL and scientific 
methods vol. VII, no. 25. 

217. Wells, F. L., Some properties of the free association time. PsychoL 

Review 1911 no. 1. 

218. Westphal, Emst , Über Haupt- und Nebenaufgaben bei Reaktions- 

versuchen. Arch. f. d. ges. Psychol. Bd. XXI, H. 1—3, 
S. 219-435. (S. 24*.) 

219. Williams, T. A., Physiological measures in the therapeutics of 

nervous disease. The american journal of physiologic 
therapeutics 1911, p. 264—271. 

220. Willis, C. A., und TJrban, F. M., Ein Beitrag zur Kenntnis der 

psychometrischen Funktionen im Gebiete der Gewichts¬ 
empfindungen. Arch. f. d. ges. Psychol Bd. XXII, R 1, 
S. 40—47. 

221. Wittels, Fr., Tragische Motive. Das Unbewußte von Held und 

Heldin. 165 S. Berlin, Egon Fleischei & Co. 

222. Wundt, W., Hypnotismus und Suggestion. II. Anfl. 69 S. 

Leipzig, W. Engelmann. (S. 17*.) 

223. Wundt, W., Vorlesungen über die Menschen- und Tierseefc 

V. Aufl. 658 S. Hamburg u. Leipzig, Leopold Voss. (S. 16*.) 

224. Wundt, W., Grundzüge der physiologischen Psychologie. Sechste 

umgeaib. Aufl. Bd. III. Mit 71 Figuren im Text undSach-und 
Namenregister (XI, 810 S.). Leipzig, Engelmann. (S. 16*.) 

225. Wundt, W., Einführung in die Psychologie. VIII, 129 S. Leipzig, 

Voigtländer. (S. 16*.) 

226. Wundt, W., Kleine Schriften. Bd. 2, VII u. 496 S. Leipzig, 

Engelmann. (S. 17*.) 

227. Wundt W. Grundriß der Psychologie. 10. verb. AuE mit 23 

Textfiguren (XVI u. 414 S.). Leipzig Engelmann. (S. 16*. I 

228. Ziehen, Th. (Berlin), Leitfaden der physiologischen Psychologie 

in 15 Vorlesungen. 9., teilweise umgeärbeitete Aufl. 313 S. 
Jena, G. Fischer, 1911. (S. 17*.) 

Eine Reihe nennenswerter zusammenfassender Darstellungen liegen wiederum 
vor. Wundt hat eine kleine Einführung in die Psychologie neu geschrieben (225). 
Von seinen früheren bekannten Werken liegen der 3. Band der „Grundzüge“ (22t)* 
der „Grundriß der Psychologie“ (227), die „Vorlesungen über Menschen und Ti«* 
seele“ (223) in neuen Auflagen vor, alles durchgesehen, entsprechend venneW 


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Isserlin, Psychologie und Psychophysik. 


17* 


bzw. umgearbeitet. Auch von den „Kleinen Schriften“, einer Sammlung früher 
verstreut erschienener, zum Teil auch neuer Aufsätze, ist der 2. Band heraus- 
gekommen (226); er enthält die Aufsätze: Über psychische Kausalität; Die Defini¬ 
tion der Psychologie; Über psychologische Methoden; zur Lehre von den Gemüts¬ 
bewegungen; Hypnotismus und Suggestion; letzterer ist auch als Sonderdruck 
erschienen (222). In neuen erweiterten Auflagen erschienen sind auch die bekannten 
Bücher von Ziehen (228) und Mach (123). 

Ein ganz neues Buch — gegenüber seiner ersten Auflage — ist Siems Diffe¬ 
rentielle Psychologie (188) geworden, es enthält umfassende und gehaltreiche Aus¬ 
führungen in drei Hauptteilen über die „Feststellungsmethoden“, „Variationen 
und Korrelationen“ und „die Erforschung der Individualitäten“; eine sehr aus¬ 
gedehnte Bibliographie ist angefügt. — Eine Geschichte der Psychologie haben 
Dessoir (33) und Klemm (104) in mäfiigem Umfang geliefert. 

Über psychologische Methoden im allgemeinen handelt eine Arbeit von 
Anschütz (8); eine Übersicht über die Methodik für die Zwecke der Psychiatrie 
gibt Sommer (182). 

Aus dem Gebiete der Sinnespsychologie können die Arbeiten von Jaensch (93), 
Katz (99), Köhler (106) trotz ihres Interesses für die Pathologie hier nur genannt 
werden, wie dieser Bericht überhaupt gezwungen ist, sehr aphoristisch und zum 
Teil willkürlich zu verfahren. Etwas eingehender sei über eine Arbeit von Pauli (146) 
berichtet — besonders auch wegen ihrer Beziehungen zum Problem der Aufmerk¬ 
samkeitswanderung. Ausgangspunkt der Untersuchung war eine Beobachtung 
Mache , daß von zwei gleich großen roten Quadraten das direkt gesehene rot, das 
indirekt gesehene grün erscheint, und zwar oft sehr intensiv. Mach suchte das 
Phänomen durch die Wanderung der Aufmerksamkeit zu erklären; die verspätete 
Aufmerksamkeit findet das indirekt gesehene Quadrat schon im Stadium des 
negativen Nachbildes vor. P. kommt auf Grund eigener, in besonderer Anordnung 
angestellter Versuche, zu folgenden Ergebnissen, die die verschiedenen Seiten des 
Problems anlangen: 

Die Schwellen (die 60% richtige und 60% falsche Beobachtungen angebenden) 
für die Auffassung des zeitlichen Verhältnisses zweier kurzdauernder, optischer 
Beize, die beide indirekt gesehen werden, liegen unter 0,1 Sek.; die Endschwellen 
(die durch das 1- tzte falsche Urteil gebildeten) zwischen 0,1 und 0,2 Sek. 

Der Einfluß des relativen Abstandes der Beize ist dabei weder eindeutig und 
unabhängig von der Person des Beobachters, noch sehr wesentlich. Nur ganz 
allgemein kann man behaupten, daß ein kleiner Gesichtswinkel die Beobachtung 
eher erleichtert, ein großer dieselbe eher erschwert. 

Der konstante Fehler ist von der monokularen Beobachtung in der Weise 
abhängig, daß der Eindruck bevorzugt ist, der auf seiten des beobachtenden Auges 
liegt. 

Fixation eines Beizes bewirkt eine erhebliche Verschiebung der Schwellen 
zugunsten desselben und zuungunsten des peripher gesehenen. 

Die Konzentration der Aufmerksamkeit auf einen Beiz hat keine Zeittäuschung 
zur Folge. 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXIX. Lit. b 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


Bei Fixation eines Beizes wachsen die Fehler mit dem Gesichtswinkel 

Die durch ausschließliche Beachtung eines bestimmten zeitlichen Verhält¬ 
nisses hervorgerufene Zeittäuschung beträgt V*o—Vio Sek. 

Ihre Größe hängt unter andern ab von dem Gesichtswinkel sowie den Intec- 
sitäts- und Größenverhältnissen der Reize; auch die Lage der Reize im Sehfeld 
ist nicht ohne Einfluß. 

Trennung von Fixationspunkt und Aufmerksamkeit bewirkt einen nur un¬ 
wesentlichen Rückgang der Täuschung. 

Die Zeittäuschung kann nicht durch Aufmerksamkeitswanderung im Sinne 
von Mach und Bethe erklärt werden und beruht nicht auf einer Veränderung der 
Empfindungen. 

Dagegen läßt sie sich aus dem Verhalten der Funktionen erklären, die skh 
auf die Empfindungen richten, nämlich der Aufmerksamkeit und Zeitauf¬ 
fassung. 

Zur Bestimmung der Geschwindigkeit der Aufmerksamkeitswanderunr 
diente eine besondere, von Külpe angegebene Methode. 

Die Werte, die man auf diese Weise findet, hängen von der Person des Beob¬ 
achters und der Richtung der Wanderung ab: je nachdem betragen sie 80—170;. 
Dagegen sind sie unabhängig von der Größe des Gesichtswinkels. 

Aus der Möglichkeit von Augenbewegungen läßt sich kein Einwand gegen 
die Methode ableiten. 

Die Erklärung des Machschen Phänomens durch die Aufmerksamkeitstheorie 
ist hinfällig. 

Dasselbe verläuft in drei Phasen, die bei rotem Licht sind: rot — weiß — grün. 

Seine Bedingungen sind: Ausschaltung von Kontrasteinflüssen, eine gewisse, 
nicht zu kurze Reizdauer und indirektes Sehen. 

Das Machsche Phänomen ist wahrscheinlich als ein Ausdruck für die be¬ 
sonderen Verhältnisse des Farbensehens anzusehen, die in der Netzhautperipherie 
herrschen. 

Die Erscheinung läßt sich sowohl nach der Dreikomponententheorie als auch 
nach der Theorie von Hering verständlich machen. 

Zur Psychologie des Gedächtnisses liegt der erste Teil umfassender und 
wichtiger Untersuchungen vor in demBuch von G. E. Müller (140), das hier auch nur 
erwähnt werden kann. Eine schöne und sehr brauchbare Übersicht über patho¬ 
logische Verhältnisse gibt Ransckburg (159); von für die Psychiatrie bemerkens¬ 
werten Arbeiten mit dem Assoziationsversuch sei die von Levy-Suhl (116) und 
Ley-Menzerath (117) genannt. 

Über das wichtige Problem der Bedeutung von Gefühlsvorgängen für die 
Erinnerung hat Peters (147) Untersuchungen angestellt. Er suchte über diese 
Beziehungen Klarheit zu gewinnen, indem er den Assoziationsversuch für diesen 
speziellen Untersuchungszweck modifizierte. P. stellte seinen Vp. die Aufgabe, 
auf Reizworte immer nur mit einer persönlichen Erinnerung zu reagieren. Durch 
genaueres Befragen suchte er dann die Gefühlsbetonung des Erlebnisses, das er¬ 
innert wird, festzustellen und mit der Gefühlsbetonung der Erinnerung selbst zu 


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Isserlin, Psychologie and Psychophynik. 


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vergleichen, ferner die Beziehungen zwischen der Gefühlsbetonnng, dem Alter 
and der Häufigkeit der Erinnerung zu untersuchen. Die Reaktionszeit wurde mit 
der Fünitelsekundenuhr gemessen. Auf der Grundlage dieses Versuchsmaterials 
suchte P. die Frage nach dem Einfluß des Gefühls auf die Erinnerbarkeit von Erleb¬ 
nissen zu eTörtem. Was nun den Gefühlston der Erlebnisse und Erinnerungen 
anlangt, so stellte P. fest, daß der größte Teil der erinnerten Erlebnisse beim Erleben 
gefühlsbetont war. Von den gefühlsbetonten Erlebnissen waren */» lustbetont. 
Die lustbetonten Erlebnisse bilden etwa die Hälfte aller erinnerten Erlebnisse; 
die unlustbetonten Erlebnisse sind zahlreicher als die indifferenten. Die häufigsten 
Erlebnisse waren zugleich alte Erlebnisse, und zog man die Gefühlsbetonung in 
Betracht, so zeigte sich, daß die älteTenErlebnisse mehr Lust¬ 
betonung, weniger Unlustbetonung und weniger In¬ 
differenz aufweisen als die jungen Erlebnisse. Suchte 
man dagegen festzustellen, ob das einzelne Erlebnis vor dem Erinnertwerden 
im Versuch häufig oder selten erinnert wurde, und zieht zugleich seine Qualität 
in Betracht, so zeigt sich nach P., daß die Unlusterlebnisse am zahl¬ 
reichsten unter den häufig erinnerten Erlebnissen 
sind und hier an Zahl die Lust- und Indifferenzerlebnisse übertreffen. Diese Tat¬ 
sache, daß die unlustbetonten Erlebnisse, während sie im allgemeinen in der Er¬ 
innerung weniger begünstigt sind als die lustbetonten, wenn sie einmal erinnert 
wurden, sich als „häufig“ erinnerte erwiesen, führt P. auf die persönliche Bedeutung, 
die das Erlebnis für den Erlebenden besitzt, zurück. Wichtig sind die Ausführungen, 
die P. über die Erinnerung unlustbetonter Erlebnisse macht. Während sich nach 
seiner Ansicht der gefundene Unterschied in der Erinnerbarkeit gefühlsbetonter 
und indifferenter Erlebnisse erklären läßt aus der verschiedenen persönlichen Be¬ 
deutung dieser Erlebnisse, reicht diese Erklärung nicht aus, um den Unterschied 
in der Erinnerung lust- und unlustbetonter Erlebnisse verständlich zu machen. 
Er glaubt vielmehr, daß seine Versuche zeigen, daß die unlustbetonten Erlebnisse 
von geringerer Bedeutung weniger Chancen haben erinnert zu 
werden, als die lustbetonten Erlebnisse von der gleich en 
Bedeutung. Ferner konnte P., wenn er den Gefühlston des Erlebnisses während 
des Erlebens mit dem Gefühlston verglich, den die Erinnerung daran hatte, zeigen, 
daß die lustbetonten Erlebnisse etwas häufiger kon¬ 
stanten Gefühlston haben als die unlustbetonten Er¬ 
lebnisse, und daß bei den unlustbetonten Erlebnissen 
häufiger eine Verschiebung des Gefühlstons eintritt, 
ferner, daß unlustbetonte Erlebnisse häufiger beim Er¬ 
innern indifferent sind, als lustbetonte. Weiterhin konnte P. zeigen, 
daß die Reaktionszeit der unlustbetonten Erlebnisse größer ist als die der indiffe¬ 
renten und lustbetonten, ferner bei Reproduktionsversuchen im Sinne Jungs, daß 
die unlustbetonten Erlebnisse am seltensten richtig reproduziert werden. P. schließt 
deshalb auf eine allgemeinbestehende Tendenz zur Unlust¬ 
verminderung in der Erinnerung. Von den unlustbetonten Erleb¬ 
nissen wendet sich die Aufmerksamkeit ab, sie werden unterdrückt, stehen darum 

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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


in der Wiederholungszahi (im Sinne der Gedächtnispsychologie) und damit in dn 
Chance, neuerlich erinnert zu werden, zurück hinter den Erinnerungen an hstbetonte 
oder indifferente Erlebnisse. 

Gilt das eben Mitgeteilte von Erinnerungen bzw. Erlebnissen mittlerer Be¬ 
deutung, so haben jene zusammengesetzten Erlebnisse, die man mit Jung als 
Komplexe bezeichnet, nach P. besondere Gesetzmäßigkeiten. Unter ihnen 
sind weniger lustbetonte und mehr unlustbetonte, als 
unter den Erlebnissen, die außerhalb der Komplexe 
waren. Ein stärkeres Hervortreten der Unlust zeigt sich auch, wenn man die 
Gefühlsbetonung der zu Komplexen gehörigen Erinnerungen im Erinnern be¬ 
trachtet. Zweifellos erhalten nach P. die Komplex erlebnisse 
in weit höherem Maße ihren Gefühlston konstant, als 
die Erlebnisse außerhalb der Komplexe. Besonders Komplexe, welche den Charakt« 
des „Unabgeschlossenseins“ hatten, zeigten dies abweichende Verhalten gegenüber 
den nicht zu Komplexen gehörenden Erlebnissen. 

Endlich fand P. bei seinen Vp. charakteristische persönliche Typen. Ir 
unterscheidet zwei Gruppen seiner Vp., die erste dieser ist ausgezeichnet durch 
die große Zahl der unlustbetonten Erinnerungen. Bei einer Reihe von Vp. war» 
die erinnerten unlustbetonten für Erlebnisse besonders zahlreich. Deutlicher wird 
dieser Unterschied zwischen den Typen, wenn man den Gefühlston der Er¬ 
innerungen in Betracht zieht. Es zeigt sich, daß die Vp., die mehr unlust¬ 
betonte Erlebnisse erinnern, auch in der Erinnerung mehr den Gefühlston der Un¬ 
lust haben, und weniger Verschiebungen des Gefühlstons der Unlusterlebnis^ 
aufweisen. Ferner trat hervor, daß die Personen vom ersten Typus durchweg mcht 
Komplexerlebnisse erinnerten, als die Vp. der zweiten Gruppe. Auch beim Er¬ 
innern der Erlebnisse außerhalb der Komplexe haben alle Vp. der ersten Grupp 
mehr' Unlustbetonung als die Vp. der zweiten Gruppe. 

Den letzten Grund dieser Typenunterschiede sieht P. in einer Disposition 
unlustbetonte Erlebnisse häufiger zu erinnern und Erlebnisse in einer Weise n 
erleben und zu erinnern welche die Bildung von Komplexen begünstigt. Auö 
alltägliche Erlebnisse werden offenbar von diesem Typus mehr mit dem Geftl 
des Unbefriedigtseins, der Unabgeschlossenheit erlebt. Offenbar ist bei die«" 
Personen (drei von den vier Vp. dieses Typus hatten übrigens leichte ahnora« 
Verstimmungszustände gehabt) die Tendenz zur Unlu st v ermindf- 
rung nur von geringer Stärke. 

Ref. selbst hat zu der Frage der Beziehungen von Gefühl und Erinnerau? 
unter Berücksichtigung der vorliegenden Daten und der Abwägung der vorgetrsgenet 
Lehren besonders der der Schule Freuds in einer kritischen Übersicht Steilung 
genommen (90). 

Mit den Tatsachen und Grundlagen desWiedererkennens beschäftigt sich 
eine Arbeit von Meumann (133). Dieser stellte Versuche an mit Hilfe der Methode 
des fraktionierten Lernens. Hierbei war die Möglichkeit gegeben, die einzelnen 
Stadien des Wiedererkennens und den Charakter unbekannter Eindrücke zu beob¬ 
achten. Die Vpn. hatten Reihen sinnloser Silben zu lesen. Es wurde dann vsA 


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Isserlin, Psychologie and Psychophysik. 


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jeder Lesung festgestellt, welche Silben die Vpn. wieder erkannten nnd zwar ob 
sicher oder vermutungsweise. Zur Kontrolle wurden zwischendurch auch neue 
Silben in unregelmäßiger Reihenfolge dargeboten. Von der 2. bis 3. Lesung ab 
wurden niemals neue Silben als gelesen oder bekannt bezeichnet. Unbestimmt 
wiedererkannte und unbekannte neue Silben erhalten gewissermaßen einen psychi¬ 
schen Index, der bei den gelesenen Silben bisweilen versagt, bei den neuen unbedingt 
sicher ist. Sobald die gelesenen Silben ein gewisses Maß von Bekanntheit haben, 
heben sich die neuen wie durch ein unmittelbares Gefühl ihrer Neuheit ab. Nach 
der Beschreibung der subjektiven Erlebnisse tritt bei der Unbekanntheit eine 
Empfindung des Stockens und Stutzens, eine Hemmung des Vorstellungsablaufs, 
ein Bewußtsein innerer Leere, ein Ausbleiben der gewohnten Vorstellungsreproduk¬ 
tion, ein Gefühl der Unlust ein. Bei Bekanntheit ist von diesen Merkmalen keine 
Spur vorhanden. Die ersten Symptome der Bekanntheit bestehen im Wieder- 
erkennen, welches den Charakter der reinen Vermutung trägt. Die Bekanntheits¬ 
schwelle wird allmählich erreicht, wenn die inneren Kennzeichen so stark werden, 
daß sie zum Bewußtsein kommen. Diese Kennzeichen sind: leichterer Ablauf der 
psychischen Prozesse, charakteristische Gefühle und Organempfindungen (Ent¬ 
spannung, leichte Lustgefühle). Wichtig für die Unterscheidung zwischen Bekannt 
und Unbekannt ist das verschiedene Verhalten der Aufmerksamkeit, die durch 
Unbekanntes sehr gefesselt wird, bei Bekanntem leichter von einem zum anderen 
schreitet. Ferner ist bedeutungsvoll das Ausbleiben der Reproduktion beim Un¬ 
bekannten; das reguläre Eintreten reproduktiver Vorstellungen, die sich an einen 
Eindruck knüpfen, bei Bekanntem. Bisweilen scheinen alle Kennzeichen zu fehlen; 
vielleicht ist die Hypothese berechtigt, daß der faktische Charakter des schon 
dagewesenen Eindrucks genüge, um die Reproduktion des Urteils „bekannt“ usw. 
herbeizuführen, als Erklärung hierfür wäre eine Art von Bahnung anzunehmen. 
Wahrscheinlicher jedoch ist, daß schon ein Minimum von dunkel bewußten Kriterien 
genügt, die Vorstellung des Bekannten auszulösen und daß diese auslösenden 
Prozesse nicht in an den Inhalt der Vorstellungen anknüpfenden Vorstellungen 
zu bestehen brauchen, sondern daß Formalgefühle, Organempfindungen und moto¬ 
rische Begleitvorgänge genügen. Am Anfang ist das Kriterium für die Unbekannt¬ 
heit sicherer; die Silbe scheint als schon dagewesen, aber nicht bekannt; in den 
meisten Fällen ist die Bekanntheit nicht unmittelbar vorhanden, sondern er¬ 
schlossen. Das Erkannte hat dann wohl alle Merkmale des Erlebten außer 
den bestimmten, an den Inhalt der wiedererkannten Vorstellung anknüpfenden 
reproduktiven Vorstellungen; zugleich fehlen ihm die Merkmale des Unbekannten; 
nur daß es sich weder vollkommen glatt in das psychisch Geschehene auf der Seite 
der reproduktiven Vorstellungen einreiht, noch das Stocken wie bei neuen Vor¬ 
stellungen zeigt, sondern eine Mittelstellung einnimmt, die der Unsicherheit ent¬ 
spricht. Beim unmittelbaren Erkennen tritt das Schwanken des Urteils nicht ein, 
vielleicht weil die psychischen Indizes des schon Dagewesenen intensiver wirken. 
Die Indizes des schon Dagewesenen bewirken dabei faktisch das Urteil bekannt, 
werden aber nicht als Kriterien aufgefaßt. So entsteht der Schein des unmittelbaren 
Wiedererkennens. Das unmittelbare Wiedererkennen wäre danach ein Bewußtsein 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


des schon Erlebten, das vermittelt wird ohne inhaltlich bestimmte,'an den Inhalt 
des als schon erlebt bezeichneten Eindrucks anknüpfende reproduzierte Vor¬ 
stellungen, das vielmehr ausgeht von lauter formalen. Kriterien, die sich an die An 
des Ablaufs der psychischen Prozesse des schon Erlebten anknüpfen; durch diese 
Kennzeichen hebt sich das unmittelbar Bekannte scharf ab von dem im Bewußtsein 
durch besonders deutliche Kennzeichen charakterisierten Unbekannten (Xoch- 
nicht-erlebten). Der Sinn unseres Urteils über das unmittelbar Wiedererkannte 
ist mehr der, dieses als für uns schon dagewesen, schon erlebt zu bezeichnen, ab 
der, es für „bekannt“ erklären. 

Der auch für die Psychopathologie wichtigen Frage nach den Vorstellungs¬ 
typen suchte Feuchtuxmger (52) sowohl mit Hilfe subjektiver Verfahren (Methode 
der unmittelbaren Selbstwahrnehmung) wie objektiver näher zu treten. Es seien 
seine Ergebnisse hier angeführt: 

Bei Anwendung der Methode der unmittelbaren systematischen Selbstwahr¬ 
nehmung zur Bestimmung des Vorstellungstypus (direkten Methode) wurden 
wohl taktil-motorische Empfindungen, nicht aber auch taktil-motorische Vor¬ 
stellungen gefunden. 

Es zeigte sich, daß Wörter einfielen, ohne daß hierbei irgendwelche Vor¬ 
stellungen oder Empfindungen vorhanden waren (Wortbewußtseins¬ 
lagen). Es zeigte sich ferner, daß das Bewußtsein des innerlichen Sprechens 
auftrat ohne gleichzeitige Vorstellungen und Empfindungen (Bewußtseins¬ 
lage des innerlichen Sprechens). 

Bei allen Vpn. traten akustische Vorstellungen seltener auf als Reaktionen 
des innerlichen Sprechens und seltener als visuelle Vorstellungen. 

Die akustischen Vorstellungen waren zum größten Teile WortvorsteUungen, 
zum geringeren Sachvorstellungen. 

Der wortvisuelle Vorstellungstypüs trat deutlich beim Anhören vorgesprochener 
Silben, Wörter und Sätze, beim Anhören und Beantworten von Fragen und beim 
Assoziieren hervor, nur undeutlich beim lauten und leisen Lesen und beim Ab¬ 
schreiben, überhaupt nicht beim Ansehen von Ornamenten und Bildern. 

Beim. Abschreiben hatten alle Vpn. mehr sprechmotorische Reaktionen als 
beim Anhören von Silben, Wörtern und Sätzen. Einen Einfluß der sensorischen 
Qualität der Reize auf die Reaktion konnte F. nicht feststellen. 

Beim Anhören sinnloser Silben traten am wenigsten sachvisuelle Vorstellungen 
auf, beim Anhören von Wörtern mehr, beim Anhören von Sätzen am meisten. 
Beim Anhören von sinnlosen Silben traten mehr sprechmotorische Reaktionen 
auf als beim Anhören von sinnvollen Sätzen. 

Die besondere Einstellung der Aufmerksamkeit auf taktil-motorische oder 
auf visuelle Reaktionen ergab keine deutliche Vermehrung der Zahl dieser Reak¬ 
tionen. 

Die visuelle Vp. (A) konnte besser, deutlicher, leichter und schneller visuelle 
Vorstellungen willkürlich hervorrufen als die akustisch-motorische Vp. (B), diese 
aber besser, deutlicher, leichter und schneller akustische und taktile Vorstellungen 
als A. Es besteht eine Übereinstimmung zwischen dem direkt ermittelten Vor- 


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Isserlin, Psychologie und Psychophysik. 


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Stellungstypus (Methode der systematischen Selbstwahrnehmung) und dem mit 
der Methode der Einprägung und Reproduktion indirekt ermittelten Vorstellungs* 
typus. 

Das Reproduzieren eingeprägter Zahlen wird bei der akustisch-motorischen 
Vp. B. durch die akustisch-motorische Ablenkung des Zählens und Rechnens, bei 
der visuellen Vp.A. durch die visuelle Ablenkung des leisen Lesens stärker geschädigt 
(modifizierte Eckhardtsche Methode). 

Die Versuche mit der Kräpelins chen Methode zur Bestimmung des Vor¬ 
stellungstypus (Aufzeichnung während einer bestimmten Zeit der Namen von 
Sinneseindrücken mit Farben, von Wahrnehmungen im Bereich des Gehörs) er¬ 
gaben keine gute Übereinstimmung mit den Resultaten der direkten Methode. 

Die Kräpelinsche Methode kann zur Bestimmung des Vorstellungstypus 
dadurch modifiziert werden, dafi die Vpn. durch die Stellung der Aufgabe veranlaßt 
werden, auch wirklich die Vorstellungen hervorzurufen, deren Namen sie nieder¬ 
schreiben. Eine solche Modifikation der Methode wurde verwendet zur Unter¬ 
suchung der sachvisuellen (Form-, Größen- und Farben-) Vorstellungen und zur 
Untersuchung der wortakustischen Vorstellungen. Die motorische Veranlagung 
wurde geprüft durch eine Kombination dieser Methode mit der Methode der Störung. 

Die (aus der Kräpelinschen Methode entstandene) neue indirekte Methode 
zur Bestimmung des Vorstellungstypus zeigt dieselben Unterschiede der Vpn. 
in bezug auf die Zahlen der wortakustischen, sprechmotorischen und sachvisuellen 
Reaktionen wie die direkte Methode. 

Im Gebiet der Erforschung der Affektäußerungen liegen neue pneumo- 
graphische und Pulsuntersuchungen aus dem IFundfechen Institut vor [Drozynski 
(41), Rehwoldt (160)], welche den Wert dieser Ausdrucksmethoden weiter dartun 
und die IFundfcche Lehre von den Gefühlen stützen sollen. 

Viel Interesse findet noch bei den Psychiatern die Untersuchung von Gefühls¬ 
vorgängen mit Hilfe des Galvanometers. Moravczik (126) hat bei solchen 
Studien im wesentlichen die Befunde Veragulhs und anderer bestätigen und inter¬ 
essante Details (z. B. bei Versuchen in der Hypnose) bringen können. 

Sehr besonnen und sorgfältig sind die Untersuchungen von Wells und Forbes 
(214). Ihre Versuche suchen zunächst in sehr sorgfältiger Weise (unpolarisierbare 
Elektroden, Widerstandsmessungen) die physikalischen und physiologischen Tat¬ 
bestände festzustellen. Sie kommen in Rücksicht dieser, wie schon andere vor ihnen, 
zum Schlüsse, daß sowohl Schwankungen der elektromotorischen Kraft wie des 
Widerstandes bei den in Rede stehenden Phänomenen wirksam werden. Als Ursache 
sehen sie vor allem Tätigkeit und Sekrete der Schweißdrüsen an. Nach der Art 
der Schwankungen glauben sie die durch die Änderungen der elektromotorischen 
Kraft von den durch Widerstandsschwankungen bedingten einigermaßen aus¬ 
einander halten zu können. Ein zweiter Abschnitt der Arbeit beschäftigt sich mit 
den Fehlerquellen und der Bedeutung der Einführung einer körperfremden Strom¬ 
quelle. In dem dritten Kapitel wird die Bedeutung der Galvanometerablenkung 
als Test für Gefühlsprozesse im Assoziationsexperiment dargetan und ihre Uber- 


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Bericht Aber die psychiatrische Literatur 1911. 


legenheit Aber die Zeitmessung betont; ein Anhang endlich berichtet über einige 
Untersuchungen an Kranken. 

Über die Frage der Sparen interessebetonter Erlebnisse 
(Komplexforschung) orientiert in geschickter Weise die Schrift Lipmanm 
(119). Ans dem Gebiet der Willenspsychologie sei eine Diskussion von J.cA und 
Selz (177, 3, 4) und eine Arbeit von Westphal (218) genannt. 

Über IntelligenzprAfungen im Anschluß-an die Methode Binet s be¬ 
richtet Boberlag (19); die Herstellung allgemeiner psychologischer Profile durct 
Tests für die verschiedenen Gebiete des Seelenlebens erstrebt Rossolimo (166), 
auch dieser, wie andere vor ihm, gehemmt durch eine bislang anscheinend un¬ 
vermeidliche Willkür der Verrechnung. 

Von der psychophysiologischen Bedeutung der atmosphäri- 
schen Verhältnissehandelt eine sorgfältige Arbeit von Gaedeken (62). Erbringt 
sehr eingehende Unteruschungen, die den Weg vergleichender statistischer Feststellung 
bestimmterVerhältnisse unter denBedingungen verschiedenerZonen, Milieus und Ras¬ 
sen wählt, um über die einzelnen zusammenwirkenden Ursachen Klarheit zu gewinnen. 
Besonders untersucht sind nach dieser Richtung die Häufigkeitskurven von Selbst¬ 
mord, Kriminalität bestimmter Art und Konzeptionen. Indem das Erscheinen 
einer bestimmten Tatsache, z. B. Zunahme der Selbstmorde und der Konzeptionai 
im Frühjahr in sehr verschiedenen Milieus und Zonen in gleicher Weise konstatiert 
wird, sucht Verfasser die Bedeutung der einzelnen Faktoren — soziale, klimatische, 
und unter diesen wieder z. B. Wärme, Licht, Luftdruck usw. — herauszuheben. 
Als Hauptergebnis solcher Erwägungen meint Gaedeken feststellen zu können, 
daß das Frühjahr in den europäischen Ländern auf das sexuelle Leben einen Einßnfi 
hat, der durch den Einfluß sozialer Faktoren modifiziert wird, sich aber aus diesen 
allein nicht erklären läßt; in den südeuropäischen Ländern scheint der Einfluß des 
Frühjahrs am stärksten zu sein, und es ist charakteristisch für Serbien, daß das 
Maximum der Konzeptionen wie das der Selbstmordfälle hier in den Anfang des 
Sommers fällt, wohingegen Mord und Totschlag in der Herbstzeit am häufigsten 
sind, wo die Festtage der Südslaven ein besonders zügelloses Gepräge haben. 

Daß dieser Einfluß des Frühjahrs auf das Seelenleben nicht etwa einer ererbten 
Periodizität oder irgendeiner „Tradition“ zuzuschreiben ist, beweist G. ans der 
Tatsache, daß bei Bewohnern der südlichen Erdhälbkugcl (auch Kolonisten) die 
entsprechenden Frühjahrs- und Sommermonate das Steigen der betreffenden 
Zahlen aufweisen. Aus mannigfachen Überlegungen und Nachweisen glaubt G. 
ableiten zu können, daß vor allem die chemische Wirksamkeit der gesteigerten 
Lichtintensität Ursache der erörterten Erscheinungen ist. Auf zahlreiche inter¬ 
essante Einzelheiten der inhaltreichen Arbeit kann hier nicht eingegangen werden. 

Einen Überblick über das Gesamtgebiet der geopsychischen Tatsachen gib; 
wohl zum erstenmal das Buch von Hellpach (79). Der schwierige Stoff wird in 
umfassender, gefälliger und kritischer Weise bewältigt; der letzte Teil über Land¬ 
schaft und Seelenleben enthält besonders Eigenarbeit des Autors. 

Wichtige Tatsachen — schon in einem Grenzgebiet nach der Pathologie hin — 
bringt die schöne Arbeit von Hacker über den Traum (76). Gegenüber den Phan- 


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Isserlin, Psychologie und Psychophysik. 


25* 


tasien, in denen Adepten Freuds jetzt auf diesem Gebiet schwelgen (186), finden 
wir hier ruhige und kritische Beobachtungen. Ich gebe die Ergebnisse H .s im 
wesentlichen nach seiner eigenen Zusammenfassung wieder. Danach ist das Seelen¬ 
leben im Traum etwa in folgenden Zügen verändert: 

Wegen des Zurücktretens aller psychischen Funktionen vermag die ganze 
noch vorhandene psychophysische Energie den Vorstellungen zugute 
zu kommen. Die Vorstellungen werden nach außen projiziert, und da sie in ein 
räumliches Sehfeld eingeordnet werden und auch nicht in einer vom Willen ab¬ 
hängigen Weise auftreten, werden sie realisiert und erscheinen als Wahrnehmungen, 
wovon diejenigen Vorstellungen, die auch dem Träumenden als Vorstellungen 
erscheinen, zu unterscheiden sind. Die Lebhaftigkeit der Vorstellungen nimmt 
mit der abnehmenden Schlaftiefe zu. 

Während im wachen Leben schon in der Wahrnehmung die Bedeutung 
von Empfindungen bzw. Vorstellungen enthalten ist, tritt im Traum eine Disso¬ 
ziation von Vorstellungen und Gedanken (im Sinne Külpes 
und Bühlen) ein, die dazu führt, daß die Vorstellungen entweder auftreten, ohne 
von der Bewußtheit einer Bedeutung begleitet zu sein, oder aber 
häufig mit einer Bedeutung, die ihnen nach den Erfahrungen des wachen Lebens 
nicht zukommt. Auch die Beziehungen zwischen den einzelnen Traumvorstellungen 
untereinander oder auf das träumende Subjekt treten namentlich im tieferen Schlaf 
fast völlig zurück. 

Diese Erscheinung macht sich besonders geltend bei der Sprache im 
Traum, wo oft die Wortvorstellungen nicht als die Träger der ihnen zukommen¬ 
den Bedeutung auftreten. Das begriffliche Denken tritt hinter dem Denken in der 
Anschauung zurück, Objektsurteile sind häufiger als Begriffsurteile, doch sind 
alle logischen Funktionen überhaupt erst im weniger tiefem Schlaf wieder in Tätig¬ 
keit. Der Vorstellungsablauf ist wegen des Mangels eines geordneten 
Denkens, wegen des Fehlens der determinierenden Tendenzen und der großen 
Ablenkbarkeit der Aufmerksamkeit als ideenflüchtig zu bezeichnen; in der Kegel 
tritt eine Vorstellung besonders hervor und ordnet sich durch die Wirkung der 
Konstellation andere Vorstellungen unter. An ein solches Bild reiht sich assoziativ, 
aber meist ohne jeden kontinuierlichen Übergang, ein neues. Doch haben nament¬ 
lich in dem leichten Schlaf vor dem Erwachen neue, rasch auftauchende Empfin¬ 
dungen bzw. Vorstellungen eine rückwirkende Kraft, der zufolge sie das voraus¬ 
gehende Bild im Sinne des folgenden verändern, so daß scheinbar ganz lange Zu¬ 
sammenhänge sich abwickeln können. 

Hierzu muß Referent bemerken, daß nicht in genügendem Maße zwischen 
der Verknüpfung von Vorstellungs- bzw. Gedankenabläufen, die dem Träumenden 
als solche erscheinen, und der Verknüpfung der Traumerlebnisse, welche allerdings 
letzten Endes auch „Vorstellungen“ sind, unterschieden wurde. Diese letzteren 
sind aber nur in bedingtem Maße für die Theorie zu verwerten. Auch bezüglich 
der ersteren wären manche wichtige Unterschiede gegenüber der Ideenflucbt, 
wenigstens der manischen, hervorzuheben gewesen. 


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26* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


Das Selbstbewußtsein tritt im tiefen Schlaf sehr zurück. Obwohl 
das Ich als empirisches Zentrum gewöhnlich der Mittelpunkt der Handlungen 
ist, sind doch alle Formen von doppelter Persönlichkeit usw. möglich, da die Bewußt¬ 
heit der Beziehungen auf das Ich fehlt. 

Willensregungen kommen namentlich am Morgen öfters und in ver¬ 
schiedenen Formen vor, doch fehlt ein eigentlicher Willensakt dem Traum völlig, 
ebenso wie wirkliche Willenshandlungen, da die Vorstellung von Bewegungen des 
Willensimpuls ersetzt. 

Die von verschiedenen Autoren beschriebene Unabhängigkeit der Gefühle 
von den Vorstellungen ist oft zu beobachten. Die Gefühle scheinen nur durch den 
Gefühlston namentlich der Organ- und Temperaturempfindungen bedingt zu sein. 
Im tiefen Schlaf treten gewöhnlich die Gefühle gänzlich zurück. Gefühlsbetonte 
Vorstellungen haben im Traum keine größere Ideationstendenz als andere Vor¬ 
stellungen. Funktions- und Determinationsgefühle kommen nur im Morgenschlafe 
und auch hier nur recht selten vor. 

Beize werden infolge der geringen Aufmerksamkeit nicht identifiziert, und 
wegen des Mangels einer Einstellung tritt nicht der ganze ihnen zukommende Vor¬ 
stellungskomplex ins Bewußtsein. Im tieferen Schlaf haben die Beize eine viel 
geringere Wirkung auf den Traumverlauf als im leichten. Die Träume im tiefen 
Schlaf bestehen fast ausschließlich aus optischen Vorstellungen. 
Die Dauer einzelner Träume kann 10 Minuten betragen, wohl auch mehr, viel 
häufiger aber mag sie kürzer sein. Dem Erwachen zur gewohnten Zeit geht wahr¬ 
scheinlich immer eine längere Reihe von Träumen voraus. 

Während im tiefen Schlaf Vorstellungen von weiter zurück 
liegenden Erlebnissen stark überwiegen, kommen beim oberflächliches 
Schlaf vor dem Erwachen zur gewohnten Zeit die mit der TagesbeschäJtigung 
zusammenhängenden Träume mehr zur Geltung, während die Frühträume 
ein Übergewicht von Erlebnissen des Traumtages ent¬ 
halten. Die Anschauung Freuds, daß jeder Traum eine Wunscherfüllung sei, ist 
namentlich für die Träume des tieferen Schlafs empirisch nicht als richtig zu er¬ 
weisen. 

In das Gebiet der pathologischen Psychologie hinein führt eine geistvolle 
Arbeit von Pick (149) über Störungen des Realitätsurteils, die im Rahmen 
dieses Berichts nur genannt werden kann. 


2 . Gerichtliche Psychopathologie. 

Ref. Karl Wendenburg-Osnabrück. 

I. Allgemeine gerichtliche Psychiatrie. 

1. Aschafleriburg, G., Sachverständigenerlebnisse. Mtschr. f. Kriminal- 
psychol. u. Strafrechtsref. Jahrg. 8, H. 4, S. 245 ff. 


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Wendenbarg, Gerichtliche Psychopathologie. 27* 

2. Besehoren (Neuwedell), Freie Willensbestimmung und Rechts¬ 

pflege. Med. Klinik Nr. 51, S. 2002. 

3. Dubuisson, P., et Vigouroux, A., Responsibilitö pönale et folie. 

484 p., 7,50 fr. Paris, Alcan. (S.32*.) 

4. Glaser, M. H., Die forensische Bedeutung der leichteren Formen 

. des zirkulären Irreseins. Inaug.-Diss. Straßburg. (S. 32*.) 

5. Heübronner, K. (Utrecht), Die forense Diagnose der Epilepsie. 

Münch, med. Wschr. Nr. 9, S. 441. (S. 31*.) 

6. Hughes, C. H. (St. Louis), Imbecility and the insanity of imbecility 

or dementia praecox before the law. The alienist and neurol. 
vol. 32, no. 1, p. 66. 

7. Kinberg, Olof, Uber die Unzulänglichkeit aller Versuche, einen 

Begriff der Zurechnungsfähigkeit festzustellen. Mtschr. f. 
Kriminalpsychol. u. Strafrechtsref. Jahrg. 8, H. 6 u. 7, 
S. 390 ff. 

8. Kolisko , A. (Wien), Beiträge zur gerichtlichen Medizin. Bd. 1, 

384 S. 15 M. Leipzig u. Wien, Franz Deuticke. (S.30*.) 

9. Ledermann, R., Die Serumreaktion bei Syphilis in der forensischen 

Praxis. Ärztl. Sachv.-Ztg. Nr. 17, S. 178. 

10. Lentz, F., L’expertise contradictoire et l’organisation de la mödecine 

legale. Extrait du Bulletin de l’Acadömie royale de mödecine 
de Belgique, s6ance du 27. V. 

11. Lochte, Wollenberg und Kohlrausch, Referat über den Vorentwurf 

des Deutschen Strafgesetzbuches. Vjhrschr. f. gerichtl. 
Med. 3. Flg., Bd. 41, II. Suppl.-H. (S.31*.) 

12. Lochte, Th. (Göttingen), Ärztliche Atteste. Ärztl. Sachv.-Ztg. 

Nr. 2. (S.31*.) 

13. Mac Donald, A. (Washington), A plan for the study of man. 

14. Möller (Saarbrücken), Geistige Störungen nach Schlaganfällen 

und ihre gerichtsärztliche Bedeutung. Vjhrsschr. f. gerichtl. 
Med. u. öffentl. Sanitätsw. Bd. 42, H. 2, S. 290. (S. 33*.) 

15. Pitsch, Wiederaufnahme eines Strafprozesses wegen Geistes¬ 

krankheit des Richters. Mtschr. f. Kriminalpsychol. u. 
Strafrechtsref. Jahrg. 8, H. 4, S. 242 ff. 

16. Placzek, Aus der forensisch-psychiatrischen Tagesgeschichte. 

Med. Klinik 1912 Nr. 1 u. 2. (S. 29*.) 

17. Placzek, 8. (Berlin), Die Wassermannsche Probe als Hilfsmittel 


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28* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


der forensisch-psychiatrischen Beurteilung; Schwachsinn; 
sexuelle Delikte. Med. Klinik Nr. 17, S. 656. 

18. Raecke, Zur psychiatrischen Beurteilung sexueller Delikte. Arch. 

f. Psych. Bd. 49, H. 1. (S. 32*.) 

19. Rittershaus, E., Die „Spuren interessebetonter Erlebnisse“ und 

die,, Komplexforschung‘‘. Ztschr. f. d. ges. NeuroL u. Psych.. 
Sönderabdruck aus Bd. VIII, H.3, S. 273 ff. (S. 32*.) 

20. Rixen, P. (Breslau), Sachverständiger Zeuge oder Sachverständiger. 

Mtschr. f. KriminalpsychoL u. StrafrechtsreL Jahrg. 8, , 
H. 5, S. 305. 

21. Schnitze, Emst , Die ungerechtfertigten Einweisungen in die Irren¬ 

anstalten und ungerechtfertigte Entmündigungen. Mtschr. 
f. KriminalpsychoL u. StrafrechtsreL Jahrg. 8, H. 6 u. 7, 

S. 420 ff. (S. 29*.) 

22. Sello, Irrtümer der Strafjustiz und ärztliche Sachverständige. 

Berlin 1911, R. v. Deckers Verlag. G. Schenck, Hofbuch¬ 
händler. (S. 29*.) 

23. Simons, R., L’dcole positive et ses adversaires. Arch. d’anthropoL 

crimin. p. 81. 

24. Straßmann, F. (Berlin), Medizin und Strafrecht. (Ein Handbuch 

für Juristen, Laienrichter und Ärzte.) Berlin 1911, Dr. P. 
Langenscheidt. (S. 30*.) 

25. Vorkastner, W. (Greifswald), Wichtige Entscheidungen auf dem 

Gebiet der gerichtlichen Psychiatrie. 63 S. 1 M. Halle a..S. 
1911, Carl Marhold. 

26. Vorkastner, W. (Greifswald), Wichtige Entscheidungen auf dem 

Gebiet der gerichtlichen Psychiatrie. X. Aus der Literatur 
des Jahres 1910 zusammengestellt. Psych.-neuroL Wschr. 
Jahrg. 8, Nr. 1, 3, 4. (S. 29*.) 

27. Voß, Beitrag zur Psychologie des Brautmordes. Mtschr. L Kriminal¬ 

psychoL u. StrafrechtsreL Jahrg. 8, H. 10, S. 622 ff. (S. 31*.) 

28. Weygandt, W. (Hamburg), Die Entwicklung der gerichtlichen 

Psychiatrie und Psychologie. Mtschr. f. KriminalpsychoL 
u. StrafrechtsreL Jahrg. 8, H. 4, S. 209. (S. 29*.) 

29. Weygandt, W. (Hamburg), Psychiatrische Begutachtung von 

Mördern. Jahrbücher der Hamburgischen Staatskranken¬ 
anstalten Bd. XV. Hamburg 1911, Verlag von L. Voß. 


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Wendenbarg, Gerichtliche Psychopathologie. 29* 

30. Ziemte^ Emst (Kiel), Minderwertigkeit, geistige Minderwertigkeit» 
verminderte Zurechnungsfähigkeit. Enzyklop. Jahrb. d. ges. 
Heilk. Neue Folge, Bd. 8. Herausgeber: Prof. Dr. Albert 
Eulenburg-Berlin. (S. 32*.) 

Emst Schnitze (21) bekämpft nachdrücklich die gegen die Arzte erhobenen 
Vorwürfe, sie wären zu leicht mit der Diagnose Geisteskrankheit bei der Hand. 
Gerade in letzter Zeit hat ja die Tagespresse wieder viel von ungerechtfertigten 
Aufnahmen und Zurückhaltungen in Irrenanstalten geschrieben und Berichte von 
unbegründeten Entmündigungen gebracht. Unter diesen Umständen muß man 
es hoch anerkennen, daß Schultze sich die Mühe macht, die dort vorgebrachten 
Bedenken zu zerstreuen. Ob’s was hilft, ist freilich eine andere Frage, ich habe 
bis jetzt nirgends gelesen, daß man in der Tagespresse von seinen sachlichen Aus¬ 
führungen Kenntnis genommen hätte. 

Weygandt (28) betont mit aller Entschiedenheit, daß die forensische Psychiatrie 
ein notwendiger Bestandteil des Gerichtsverfahrens ist, dem freilich aus der Sucht 
mancher Ärzte, ihre Kompetenzen weiter auszudehnen, als notwendig ist, oder sich 
in übertriebener Weise selbst zu beschränken, noch manche Schwierigkeiten er¬ 
wachsen. 

Placzek (16) beklagt, daß der Stand der Psychiater zu wenig Aktivität bei 
der Abwehr der gegen ihn in der Tagespresse gerichteten Angriffe zeigt. Er beklagt 
ferner, daß wir einen Teil dieser Angriffe uns selbst zuzuschreiben haben, weil die 
erstatteten Gutachten oft unnötigerweise divergieren und führt mehrere Fälle aus 
seiner Gutachtertätigkeit an, die diese Tatsachen illustrieren. Auch er verlangt» 
daß zur Erstattung psychiatrischer Gutachten möglichst nur psychiatrisch wirklich 
erfahrene Ärzte herangezogen werden, und spricht sich gegen den Brauch aus, dem 
Gerichtsarzt auch diese Tätigkeit zuzuweisen, obwohl sein eigentliches Arbeitsfeld 
doch vorwiegend pathologisch-anatomischer Natur ist. 

Vorkastner (26) hat die wichtigsten Entscheidungen auf dem Gebiete der 
gerichtlichen Psychiatrie aus dem Jahre 1910 zusammengestellt. Auf diese inter¬ 
essante und viel praktisch Wichtiges enthaltende Zusammenstellung sei hier ganz 
besonders hingewiesen. Der Stoff ist sehr übersichtlich geordnet. 

Auf ein Buch möchte ich hier ganz besonders hinweisen, daß zwar in erster 
Linie für Juristen geschrieben, aber auch für den Psychiater und den sachver¬ 
ständigen Arzt von höchstem Interesse ist. Es ist das Buch von Seih (22) über 
die lrrtümer der Strafjustiz und ihre Ursachen. Es ist hier nicht der 
Ort, die juristische Seite des Buches zu erörtern; ob es sich in den vorliegenden 
Fällen wirklich um lrrtümer der Justiz handelt oder nicht, das zu entscheiden ist 
Sache der Juristen. Aber einige andere Punkte verdienen um so mehr die Beachtung 
der ärztlichen Leserwelt. Das Buch zeigt uns nämlich evident, welch’ ungeheure. 
Verantwortung oft der Sachverständige auf sich nehmen muß, wieviel für ein 
Menschenleben manchmal davon abhängt, daß er sein Gutachten wirklich nach 
reiflichster Überlegung erstattet und daß er in Fällen, die ihm nicht besonders 
liegen, lieber einen anderen Gutachter, der auf dem Spezialgebiete mehr Erfahrung 


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30* 


Bericht über die- psychiatrische Literatur 1911. 


besitzt, verschlagen soll, als nach eigenem, wenn auch bestem, aber doch in 
Funkte vielleicht beschränkterem Wissen zu urteilen. Es zeigt uns auch, da£ •• 
von größter Wichtigkeit ist, daß der Jurist sich den richtigen Sachverständig 
als Gutachter auswählen kann. Da das Buch in einem geradezu glänzenden Lapidar- 
Stil geschrieben ist, der trotz prägnantester Kürze alles Wichtige bringt, ist && 
Lektüre ein Genuß. Der ärztliche Leser bekommt ein plastisches Bild davon, v- 
es vor Gericht zugeht und worauf es bei der Erstattung forensischer Gutacht-i 
ankommt. 

Straßmann (24) hat unter Mitwirkung von H. Hofmann und H. Marx 
Handbuch für Richter und Ärzte herausgegeben, das den Titel Medizin bi: 
Strafrecht führt. Es ist im Langenscheidtschcn Verlage erschienen ah «t 
Teil der Enzyklopädie der modernen Kriminalistik und zeichnet sich wie alle d-. 
bisher erschienenen Bände durch vorzüglichen Druck und ganz hervorraget 
Reproduktion der beigegebenen Abbildungen aus, die größtenteils photographisch- 
Aufnahmen nach der Natur sind. Das Handbuch zerfällt in vier Abschnitte. I-: 
erste erläutert die Methodik der gerichtlichen Medizin, der zweite schildert de 
gewaltsamen Todesarten, der dritte bringt eine eingehende Darstellung der forci- 
sischen Psychiatrie (über 200 Seiten), der vierte beschäftigt sich mit den Beziehung: 
zwischen den sexuellen Vorgängen und dem Strafrecht und in einem Anhang <:■: 
von P. Fraenkel bearbeitet ist, werden die kriminellen Vergiftungen kurz besprocfcti. 
Der klare Text wird durch die zahlreichen naturwahren Abbildungen aufs bcs- 
illustriert, ganz besonders sei noch auf die vielen eingeschalteten Protokolle n-: 
praktischen Fällen hingewiesen. Gerade diese werden durch ihre Anschaulich^: 
und vor allem durch das verständliche Deutsch der Gutachten auch dem Xiehtan; 
das Verständnis für die Aufgaben der gerichtlichen Medizin erleichtern und da;, 
beitragen, daß die gerichtliche Tätigkeit des Arztes bei Richtern und Laien o 
Würdigung und Anerkennung findet, die sie verdient. Der gerichtlich-psychiatriset- 
Teil besteht vorwiegend aus Einzeldarstellungen praktischer Fälle. Marx. 
diesen Teil bearbeitet hat, macht darauf aufmerksam, daß es in der forensisch: 
Praxis weniger darauf ankommt, eine psychiatrische Diagnose bei dem zu Unter¬ 
suchenden zu stellen, als vielmehr auf den Nachweis, daß er geisteskrank oder nid: 
geisteskrank ist. Simulation von Geisteskrankheit kommt nach seinen Erfahrne?-:: 
selten vor, sie wird sich leichter durch Beobachtung in einer Irrenanstalt fest steh: 
lassen als durch Beobachtung im Gefängnis. Der § 81 soll deshalb so oft wie möglk: 
Anwendung finden. Auch der Vorentwurf des Strafgesetzbuches wird erwähn. 

Zum 100 jährigen Bestehen des Wiener Lehrstuhles für gerichtliche Medin: 
hat Kolisko (8) einen Band Beiträge zur gerichtlichen Mediii: 
herausgegeben. Die Beiträge sollen hauptsächlich der Verwertung des Rie*s- 
materials dienen, das die Zweimillionenstadt Wien dem gerichtsärztlichen Instin: 
der Universität liefert. Die Einleitung bildet eine Geschichte der W i e n t r 
Lehrkanzel für gerichtliche Medizin von A. Häberda, von dem auch der drin* 
Aufsatz stammt: zur Lehre vom Kindesmorde. Dieser Aufsatz bringt en- 
umfassende Darstellung aller beim Kindesmorde vorkommenden gerichtlid¬ 
medizinischen Fragen auf Grund eines ungewöhnlich reichen Materiales. Es r. 


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Wendenburg, Gerichtliche Psychopathologie. 


31* 


. deshalb hier besonders darauf hingewiesen. Den Psychiater wird die Arbeit KoKskos 
: über Hirnruptur besonders interessieren, die namentlich den Unterschied 
zwischen Spontanruptur infolge Blutung und traumatischer Ruptur erörtert und 
dem Gerichtsarzt wertvolle Aufschlüsse bringt. Fritz Revier bespricht die forensische 
Bedeutung der Selbstbeschädigung, ihre Motive, die nicht selten 
krankhafter Natur sind, häufiger aber in der Absicht zu suchen sind, durch Selbst¬ 
beschädigung vom Militärdienst frei zu kommen, oder durch Vortäuschung von 
Unfallfolgen zu einer Rente zu gelangen. Auch die Operationen zur Verhütung 
der Konzeption finden ihre Besprechung. Den Schluß des Bandes bildet eine aus¬ 
führliche Untersuchungsreihe K. Meimers über den Glykogengehalt 
der Leber bei den verschiedenen Todesarten. Der Glykogenbefund ist nament¬ 
lich dann wichtig, wenn es sich um die Entscheidung der Frage handelt, ob der 
Tod rasch oder langsam eingetreten ist, ob Verstümmelungen intra vitam oder 
post mortem entstanden sind, doch ist die Methode der Untersuchung der Leber 
auf Glykogen, die chemische wie namentlich die mikroskopische, so kompliziert, 
daß sie nach M. nur in der Hand des mit ihr vertrauten Arztes zu bündigen Schlüssen 
berechtigt. Druck und Ausstattung des Bandes, dem hoffentlich bald viele von 
gleicher Güte folgen, genügen allen Anforderungen. 

Lochte (12) macht auf einige Fehler aufmerksam, welche häufig bei Aus¬ 
stellung von ärztlichen Attesten begangen werden. Zunächst das Format 
des Papieres: Man schreibe nicht auf kleinen oder bunten Briefbogen oder gar auf 
Rezeptformularen. Man schreibe ferner deutlich und gebrauche deutsche Aus¬ 
drücke, hüte sich, subjektive Angaben, deren Wahrheit nicht bewiesen ist, als Tat¬ 
sachen anzuführen und der Beurteilung zugrunde zu legen und lasse sich nie mals 
von falscher Humanität leiten. Dies gilt namentlich der Begutachtung nervöser 
Personen. Zeugnisse brauchen sich nicht nur auf die Bezeugung unmittelbar wahr¬ 
nehmbarer Tatsachen zu beschränken, sondern haben auch die sachverständige 
Würdigung der Folgen dieser Tatsachen für die Gesundheit zu enthalten. Im zu- 
■ v künftigen Strafrecht werden auch die Totenscheine wie die ärztlichen Zeugnisse 
behandelt. 

Voß (27) geht mit einem psychiatrischen Gutachten über einen Schwach¬ 
sinnigen, der seine Braut zu erschießen versucht hatte, scharf ins Gericht. Er ver¬ 
mißt in dem von dem Meuizinalkollegium des Hamburgischen Staates erstatteten 
Gutachten namentlich den Nachweis des Schwachsinns durch Erhebung einer 
genauen Vorgeschichte, ein Einwand, der Dicht ungerechtfertigt erscheint, 
wenn das Gutachten so erstattet ist, wie V. es referiert. 

Nach Lochte (11) liegt kein Grund vor, den Kreis der Tatsachen, die der ärzt¬ 
lichen Schweigepflicht unterworfen sind, zu erweitern oder das bestehende 
Strafmaß zu erhöhen. Erwünscht wäre, wenn auch im V.-E. zum Strafgesetz¬ 
buche zum Ausdruck käme, daß gelegentlich höhere sittliche Pflichten die Preis¬ 
gabe des Berufsgeheimnisses an eine beteiligte Person fordern können. 

- Heilbronner (5) rät in seiner Arbeit dem Gutachter dringend zur Vorsicht 

> bei der Diagnose Epilepsie in Kriminalfällen. Dies gilt in gleicher Weise 
für die großen und kleinen Anfälle, besonders aber für die psychischen epileptischen 


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32* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


Veränderungen, zu denen auch die Dämmerzustände gehören. Allen sibjtkrv: 
Angaben stehe man mit Mißtrauen gegenüber und verwerte nur Selbstbeob*£h < ?i 
zu ausschlaggebenden Schlüssen im Gutachten. 

Eine umfassende Darstellung des Begriffs und der rechtlichen Befarq 
der Minderwertigkeit gibt Zierrike (30) in Eulenburgs Enzyklopädie 
Jahrbüchern. In dem Aufsatz findet sich auch zahlreiche Literatur angts-iH 
Die Frage der Minderwertigkeit ist in diesen Berichten so oft besprochen, dai ; J 
eine eingehende Inhaltsangabe erübrigt. 

Rittershaus (19) hält die sogenannte Komplexforschung noch -‘i 
für juristisch-kriminalistische Zwecke geeignet und setzt sich namentlich ult J 
Lvpmanns chen Untersuchungen auseinander. 

Einen guten Einblick in die französische gerichtliche Psychiatrie gwäl 
das kleine Buch von Dubuisson und Vigouroux (3). Es bringt im ersten Ti 
positiven Theorien des Strafrechts, der Verantwortlichkeit und der Geistesirr 
heiten, der zweite klinische Teil beschäftigt sich praktisch mit den Beziehst 
zwischen Kriminalität und Geisteskrankheit. Zahlreiche praktische Fälle ühistri 
die Formen der Geisteskrankheiten und ihre Begutachtung in Strafrechts*^ 
Auch die Simulation wird erörtert. 

Mit Recht beklagt Raecke (18) die Übertreibungen, Einseitigkeit« a 
Entstellungen auf dem Gebiete der sexuellen Perversitäten i 
sich durch eine halb wissenschaftliche Literatur in den Vorstellungskreis der h 
und Richter in den letzten Jahren eingeschlichen haben und zum Teil auch scii 
im Publikum ihre unheilvolle Wirkung geltend machen. Er betont, daß nur erli 
liehe Beherrschung der klinischen Psychiatrie, aber nicht die Beschältigune 1 
vagen Hypothesen den medizinischen Gutachter befähigt, sexuelle Delikte nc 
zu beurteilen, und daß die bisherige Einteilung der sexuellen Delikte in Masochist 
Sadismus, Fetischismus usw. ganz unwissenschaftlich ist, weil sie nur den zußüJ 
Inhalt des perversen Gedankenganges, nicht aber die Art seiner Entstehung be¬ 
sichtigte. Er bevorzugt die Ztehensche Bezeichnung der sexuellen Perversni 
als Parhedonien und berichtet unter diesen Gesichtspunkt über 60 Sexualverbnti 
deren Täter in der Kieler Klinik zur Beobachtung gekommen sind. Er teilt sin 
in konstitutionelle Parhedonien, hierher gehören die echten Konträrempfindea. 
in assoziative (Zwangsvorstellungen), implantierte (Verführung) und kos? 
satorische (Mangel an normaler Befriedigung) Parhedonien. Die letzten fe* 
Gruppen möchte Raecke besser unter dem Sammelnamen Situationsparhediä 
zusammengefaßt wissen. Bei seinem Material handelte es sich nur 2 mal um 
stitutionelle, 9 mal um assoziative und 15 mal um Situationsparhedonien, lo 3 
lag eine Psychose dem Sittlichkeitsverbrechen zugrunde. 

Glaser (4) betont, daß die leichten Formen des zirkulären Irrest 
eine erhöhte forensische Bedeutung haben, weil sie meist längere Zeit uneria3 
bleiben, während die schweren rasch zur Anstaltsaufnahme führen. Kamectä 
die Hypomanen neigen zu strafbaren Handlungen infolge ihrer Selbstüberschits'l 
ihres gesteigerten Tätigkeitsdranges und ihrer Reizbarkeit. Auch in zivibeefcltf 
Hinsicht ist sowohl die Hypomanie wie die Hypomelancholie nicht unbedesk^ 


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Wendenbarg, Gerichtliche Psychopathologie. 


33* 


eranr :■ 

afe die Geschäftsfähigkeit fast immer beeinträchtigt ist. Meist genügt die Einsetzung 
ramer Pflegschaft zur Korrektur der Störungen der Geschäftsfähigkeit. Von der 
ltmündigung soll man im allgemeinen absehen, da sie die Kranken unnötig erregt 
«rrad der Zustand kein dauernder zu sein pflegt. In Fällen, wo dies nicht zutrifft, 
ckircflß aber die Entmündigung eingeleitet werden, selbst auf die Gefahr hin, daß die 
mkychischen Störungen dadurch eine Verschlimmerung erfahren, 
viv- Möllers (14) Arbeit über die geistigen Störungen nach Sch lag - 
n f ä 11 e n und ihre gerichtsärztliche Bedeutung ist eine Literaturzusammen- 
5 «.;;: ettung, die im Anhänge ein Literaturverzeichnis von 48 Nummern über dieses 
r- aema bringt. Störungen des Gedächtnisses, der rückläufigen Assoziation und 
» Urteils von leichter Kritiklosigkeit bis zur völligen Urteilslosigkeit finden sich 
- allen Graden nach Schlaganfällen. Wahnideen, Zwangsvorstellungen und Sinnes- 
. [rT . .uschungen sind selten, dagegen findet man regelmäßig Afiektstörungen, Apathie 
. r - 1er Reizbarkeit und Erregungszustände. Schrift und Sprache leiden je nach dem 
!ifi . tz des Herdes mehr oder weniger, rechtsseitig Gelähmte sind häufig beider Aus- 
r% ., rucksmittel beraubt. Kriminelle Handlungen sind bei der Dementia postapoplectica 
^„...cht allzuhäufig. Die Affektstörungen führen manchmal zu Gewalthandlungen 
fgen Angehörige und Umgebung, die gemütliche Stumpfheit läßt die Kranken 
: sweilen Sittlichkeitsdelikte begehen. Je nach dem Grade der psychischen Störungen 
■ ’ ird man den § 51 in Anwendung bringen müssen oder nicht, das Gros fällt unter 
,1 ie Grenzzustände, die der Vorentwurf des Strafgesetzbuches berücksichtigt, die 
• I ber das geltende Recht noch nicht kennt. Die meisten Apoplektiker sind nicht 
aftfähig (§ 487 StPO.), Aufschub der Haft kann ihnen nicht bewilligt werden 
" § 488), da die Störungen gewöhnlich nicht heilbar sind. Häufig werden sie nach 

56 StPO, und § 393 ZPO. unbeeidigt zu vernehmen sein, weil sie nicht das ge- 
ügende Verständnis für Wesen und Bedeutung des Eides haben. Die Geschäfts- 
ihigkeit in zivilrechtlicher Hinsicht kann leiden, kann aber auch erhalten bleiben, 
' gelbst Aphasische sind manchmal imstande, ihre Angelegenheiten zu besorgen. 
l! ‘' st der Apoplektiker in seinen geistigen Leistungen geschwächt, so wird je nach 
v age des Falles eine Pflegschaft einzusetzen oder die Entmündigung anzuordnen 
ein. Ehescheidung nach §1569 BGB. kommt bei Dementia postapoplectica selten 
; ' u Frage, da es sich meist um ältere Leute handelt, manchmal werden sie aber in 
L igennütziger oder gewinnsüchtiger Absicht zur Eingehung einer Ehe überredet. 

Nichtiger ist die Frage nach der Testierfähigkeit, die nach einer Apoplexie nicht 
-' hne weiteres aufgehoben zu sein braucht. Andererseits ist gerade die bekannte, 
sichte Besti mm barkeit der vom Schlage Getroffenen ein wichtiges Moment, das 
ri ' om Arzte nicht übersehen werden darf. Besondere Schwierigkeiten macht die 
Beurteilung der Testierfähigkeit bei Aphasischen; diese sind nicht testierfähig, 
venn sie auch der Schrift beraubt sind, da ein Testament schriftlich oder durch 
i- nündliche Erklärung, nicht aber durch Zeichen errichtet werden darf (§§ 2243, 
^ !238, 2247 BGB., § 188 GVG. und § 178 FGG.). 

'I II. Strafrechtliche Psychiatrie, 

i 1. Eingabe des Vorstandes der Ärztekammer für die Provinz 
^ Brandenburg und den Stadtkreis Berlin betreffend den 

Zeitschrift für Psychistrie. LXIX. Lit. C 

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UNIVERS1TY OF MICHIGAN 



34* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


Entwurf zu einem deutschen Strafgesetzbuch- Ärztehr:: 
für die Provinz Brandenburg und den Stadtkreis Be:: 
Berlin, Mai 1911. (S. 38*.) 

2. Bericht der Kommission der Ärztekammer für die Rev* i 

des Strafgesetzbuches. Ärztekammer für die Provinz Bnrnd : 
bürg und den Stadtkreis Berlin. Berlin, Mai 1911. ($. £' 

3. Birnbaum, K., Psychiatrie und Strafrechtspflege vor 75 Jabi 

Psych.-neuroL Wschr. Jahrg. 13, Nr. 3. 

4. Birnbaum, K., Die strafrechthche Beurteilung der Degenerier:! 

Ärztl. Sachv.-Ztg. Nr. 5, S. 89. (S. 39*.) 

5. Bloch, E. (Kattowitz), Zwei Gutachten, beide das Vergehen ge 

den § 175 StGB, für das Deutsche Reich (widematürbi 
Unzucht) betreffend, von denen jedes zu einem verschied* 
Resultat kommt. Wien. klin. Rundsch. Nr. 7, S. 101. 

6. Fürstenheim, TP. (Berlin), Die Beurteilung des Geisteszustssi 

jugendlicher Angeklagter. Ztschr. f. Psycho+her. n. m 
PsychoL Bd. 3, H. 3, S. 158. (S. 40*.) 

7. Glauning, Die im Vorentwurf zu einem deutschen Strafgesetz! 

vorgesehenen Schärfungen. Betrachtungen eines S::J 
vollzugsbeamten. Sonderabdruck aus den Blättere -1 
Gefängniskunde S. 1 ff. (S. 38*.) 

8. Göring, M. H. (Merzig), Die Kritik der Psychiater an dem V| 

entwurf zu einem deutschen Strafgesetzbuch. Ztschr. Li 
ges. NeuroL u. Psych. Bd. 3, H. 2. (S. 38*.) 

9. Hahn, R. (Frankfurt a. M.), Wertung des Charakters be I 

forensischen Begutachtung eines Geisteskranken. Jä 
Sachv.-Ztg. 1911 Nr. 2. 

10. Haymann, H. (Freiburg), Selbstanzeigen Geisteskranker. J 

psych. Grenzfr. Bd. 7, H. 8, 39 S. 1 M. Halle a. S.. 1 * 
Marhold. (S. 40*.) 

11. Heinicke, TP., Einige Bemerkungen zu § 18 des Vorentwuri.': 

einem deutschen Strafgesetzbuch. H. Groß’ Archiv Bd.-! 
H. 3 u. 4, S. 346 ff. (S. £8*.) 

12. HeUwig, A. (Berlin-Friedenau), Homosexualität und Strafreö 4 

reform. Deutsche med. Wschr. Nr. 7, S. 312. (S. 38* 

13. Biller, K. (Berlin), Homosexualismus und deutscher Vorenrv- 


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Wendenburg, Gerichtliehe Psychopathologie. 


35* 


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des- 


Mtschr. f. KriininalpsychoL u. Strafrechtsref. Jahrg. 8, H. 1, 
S. 29. (S. 38*.) 

Hirschfeld, M. (Berlin), Homosexualität und Strafrechtsreform. 
Eine Erwiderung. Deutsche med. Wschr. Nr. 12, S. 651. 

Hofimann und Marx , Retrograde Amnesie nach Kohlenoxyd¬ 
vergiftung oder epileptischer Dämmerzustand? Ztschr. f. 
med. Beamte Jahrg. 24, Nr. 14. (S. 40*.) 

v. Jagemmn, E. (Heidelberg), Vor- und Gegenentwurf zu einem 
deutschen Strafgesetzbuch als Stufen des Fortschritts. 
Mtschr. f. KriminalpsychoL u. Strafrechtsref. Jahrg. 8, 
H. 4, S. 194. 

Juliusburger, Otto, Über emen Fall von akuter autopsychischer 
Bewußtseinsstörung, ein Beitrag zur Lehre von Kriminalität 
und Psychose. ZentralbL f. PsychoanaL 1 7/8. (S. 41*.) 

Kahl, Lilienthal, Liszt, Goldschmidt , Gegenentwurf zum Vorentwurf 
eines deutschen Strafgesetzbuches. 3 M. Berlin, J. Guttentag 

Kahl, W. (Berlin), Der Stand der europäischen Gesetzgebung 
über verminderte Zurechnungsfähigkeit. Deutsche med. 
Wschr. H. 44, S. 2041. (S. 37*.) 

Keferstein , Tötungsversuch der Braut im pathologischen Rausch¬ 
zustand. Ztschr. f. med. Beamte Jahrg. 24, Nr. 11. (S. 40*.) 

Kohlrausch (Königsberg i. Pr.), Der Vorentwurf vom deutschen 
Strafgesetzbuch. Vjhrschr. f. gerichtL Med. u. öffentl. 
Sanitätsw. BcL 41, 2. Supplementheft. 

Leppmann, A. (Berlin), Ein eigenartiger Fall von falscher Selbst¬ 
bezichtigung. Ärztl. Sachv.-Ztg. Nr. 22. (S. 41*.) 

Marx, Hugo (Berlin), Schuld und Strafe. Ein kriminalpsycho¬ 
logisches Vorwort zu einem Deutschen Strafgesetzbuch. 
H. Groß’ Archiv Bd. 42, H. 3 u. 4, S. 304. 

Marx, Hugo, Die geistig Minderwertigen in einem künftigen 
deutschen Strafgesetzbuche. BerL klin. Wschr. Nr. 22, 
S. 993. (S. 37*.) 

Meyer, Bruno, Homosexualität und Strafrecht. H. Groß’ Archiv 
Bd. 44, H. 3 u. 4, S.249ff. S. 249 ff. 

Moeli (Berlin), Bemerkungen über die „Psychischen Mängel“ 
als Strafausschließungsgrund. Psych.-neuroL Wschr. Jahrg.13, 
Nr. 11, S. 99. 


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36* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


27. Rosenfeld, Emst, Die vorläufige Entlassung und der VorenW 

zum Strafgesetzbuch. Mtschr. f. KriminalpsychoL u. StrJ 
rechtsref. Jahrg. 8, H. 4, S. 241 ft 

28. Schnitze, E. (Greifswald), Die Sicherung der Gesellschaft m 

gemeingefährliche Geisteskranke und der Vorentwurf: 
einem deutschen Strafgesetzbuch. Arch. f. Psych. u. Ner-: 
krkh. Bd. 48, H. 1, S. 1. (S. 37*.) 

29. Seelig, P. (Herzberge), Die Jugendlichen im Vorentwuri u 

deutschen Strafgesetzbuch. ÄrztL Sachverst,-Ztg. >'rJ 
S. 155. ('S. 40*.) 

30. Seidel, Der Vorentwurf zu einem Strafgesetzbuch für das K:£| 

reich Serbien. Mtschr. f. KriminalpsychoL u. Strafrectta 
Jahrg. 8, H. 9, S. 555. 

31. Simon (EUwangen), Unzurechnungsfähigkeit, geminderte j 

rechnungsfähigkeit, Trunksucht — in einem kficftJ 
Strafgesetzbuch. Mtschr. f. KriminalpsychoL u. Sn 
rechtsref. Jahrg. 7, H. 10, S. 593. 

32. Stransky, Erwin, Das Aßektdelikt. Separatabdruck au» J 

„Allgemeinen österr. Gerichts-Zeitung“ 1911, Nr. 8 a 
S. 1 ff. (S. 39*.) 

33. Thomsen, Andreas, Gesetzgeberische Bekämpfung neuzeiii j 

Delikte. Nebst einem Vorschlag betr. Titel und Teun 
der Entwürfe zu einem Strafgesetzbuch. Mtschr. f. Krim 
psychoL u. Strafrechtsref. Jahrg. 7, H. 11/12, S. 

34. Wagner v. Jauregg (Wien), Der ZurechnungsunfähigkeitsparnrJ 

im Strafgesetzentwurf. Wien. med. Wschr. Nr. 3 - 
(S. 41*.) 

35. Weiter, Hugo, Die schwere Körperverletzung im jetzigen Sn 

recht (§ 224 StGB.) vom gerichtsärztlichen Standpuul 
Friedreichs BL f. gerichtL Med. H. 1—3. (S. 38*.) 

36. Wellstein, Die Strafprozeßreform in der Kommission des K- 

tags. Mtschr. f. KriminalpsychoL u. Strafrechtsref. Jah- 
H. 11/12, S. 695 ff. 

37. Wollenberg (Straßburg), Der Vorentwurf vom deutschen S"i 

gesetzbuch, Vjhrschr. f. gerichtL Med. u. üffentL Saniti 1 
• 1911 Bd. 41, 2. Supplementheft. 

38. Ziemke, Emst (Kiel), Der § 56 StGB, und seine Beziehung' 1 


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Wendenburg, Gerichtliche Psychopathologie. 


37* 


'ULUU.' 


Schwachsinn. Mtsohr. I. Kriminalpsychol. u. Strafrechtsref. 
Jahrg. 8, RÖ, S. 266. (S. 39*.) >_kLJ 


- in 


ja i- Unser heutiges Strafrecht enthält keine einzige Vorschrift über£die Sicherung 
. r Gesellschaft vor Geisteskranken, die außer Verfolgung gesetzt oder freigesprochen 
.. ld. In Preußen beruht die Möglichkeit, gegen solche Geisteskranke Sicherungs- 
aßregeln zu ergreifen, noch auf dem Allgemeinen Landrecht (§ 10, Titel 17, 
>il II). E. Schnitze (28) macht auf den § 6 des Gesetzes zum Schutze der persön- 
en e hen Freiheit vom 12 . II. 1860 aufmerksam. Nach diesem sind Personen in Ver- 
^.vthrung zu nehmen, wenn der eigene Schutz oder die öffentliche Sicherheit dies 
fordert. Es gestattet die Verwahrung von geisteskranken Verbrechern, die nicht 
meingefährlich sind. Sch. kritisiert dann die verschiedenen Ministerialerlasse 
~etzfc ; 3. 6 . u. Io. 12 . 01, 6 . 1 . 02, 20. 6 . 04) über die Entlassung geisteskranker Ver- 
tjVCM- • scher und beklagt das geringe Verständnis untergeordneter Polizeiorgane für 
ychiatrische Dinge, namentlich die Scheu vor irgend welchen Kosten führt bei 
, nen oft zu krassen Mißständen. Nach dem § 65- des neuen Gesetzes können Leute, 
} sich einer strafbaren Handlung schuldig gemacht haben und geisteskrank oder 
rmindert zurechnungsfähig sind, auf Gerichtsbeschluß in einer Anstalt verwahrt 
■fljnifC-rden, wenn sie die öffentliche Sicherheit zu gefährden drohen. Hierzu bemerkt 
hultze , daß freigesprochene Minderwertige und solche, die nur eine Person gefährdet 
, _.ben, nach jenem Paragraph nicht verwahrt werden können, und daß die Ein- 
isung auch ohne Anhörung eines ärztlichen Sachverständigen geschehen könnte. 
:uü? gse Mängel erscheinen ihm beachtenswert. Zum Schlüsse fordert er für jeden 
rwahrten einen Fürsorger, der seine Interessen während der Verwahrung vertritt, 
die Einführung der bedingten Aussetzung der Verwahrung. 
j.. In dem Verlangen nach strafrechtlicher Berücksichtigung der vermin* 
^ ' rten Zurechnungsfähigkeit möchte Kahl (19) kein -Zeichen 
)lich- lehmender Degeneration, sondern vielmehr eine verfeinerte Höhenlage des Straf- 
v ,", £'hts auf der Linie der Individualisierung des Verbrechertums erblicken. In England 
ifl 0 ?ll!$'d man der v. Z. allein durch die Freiheit des richterlichen Ermessens und dem 
. ^ ehanismus des Strafvollzuges gerecht, in Frankreich ist es bisher bei dem Wunsche 
'■ >h geeigneten Anstalten für die Leute mit ResponsabilitG limitöe geblieben, 
hrend in der Schweiz die Kantonalgesetzgebung seit langem die v. Z. berück- 
etzffl? ^ ltigt und Italien dafür eine minutiöse Strafskala besitzt. In Österreich be- 
äftigt sich der neue Entwurf des Strafgesetzes mit der v. Z., das geltende Hecht 
^ int sie nicht, ähnlich liegen die Verhältnisse in Ungarn und Serbien. Griechenland 
, vennt sie seit langem an, auch in Rußland, Finnland, Schweden und Norwegen 
r 1 in Dänemark wird sie berücksichtigt. In Deutschland ist sie schon zu Zeiten 
ll. Stra^ Partikularstrafgesetzgebung erwogen und z. T. auch eingeführt, also keines- 
p etwas Neues. Zu allen Zeiten und auch heute dreht sich der Streit hauptsäch- 
5 um die vier Grundfragen des Begriffs, des Strafprinzips, des Strafvollzuges 
*1 der Sicherung. 


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Marx (24) hält die strafrechtliche Anerkennung der geistigen Minder- 
rtigkeit für eine logische und gerechte Forderung, hält aber die Form, 


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38* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


in der sie im V.-E. und in dem Komischen Gegenentwurf anerkannt wird, nicht für 
glücklich. Nach ihm liegt der Schwerpunkt der strafrechtlichen Behandlung geistig 
Minderwertiger im Strafvollzüge, und wir bedürfen deshalb eines Gesetzes, das den 
Strafvollzug und die Fürsorge für entlassene Strafgefangene regelt, damit eine 
zweckentsprechende Behandlung der geistig Minderwertigen stattfinden kann. 
Im Strafgesetzbuch wird man ihnen am besten durch generelle Einführung mildernder 
Umstände gerecht werden, wie sie der Gesetzentwurf vorsieht. 

Neben dem deutschen Verein für Psychiatrie, der seine Vorschläge zur Straf¬ 
rechtsreform auf der Stuttgarter Tagung durch Cramer formulieren ließ, hat auch 
die Berliner Ärztekammer (1, 2) Stellung zum V.-E. genommen. In ihrer Eingabe 
an den Staatssekretär des Reichsjustizamtes verlangt sie vor allem Schutz für den 
ärztlichen, operativen Eingriff durch einen Zusatz zu § 67 des V.-E.s. Außerdem 
hat sie noch zu den Paragraphen über das ärztliche Berufsgeheimnis, über die 
widerrechtliche Behandlung von Leichen, über unberechtigte Abgabe von Arznei 
und über Verletzung von Schutzmaßregeln gegen die Verbreitung ansteckender 
Krankheiten Stellung genommen. 

Von den im V.-E. vorgesehenen Strafschärfungen kann sich Glau- 
ning (7) keinen praktischen Erfolg versprechen. Nach seinen Erfahrungen als 
Strafanstaltsbeamter bliebe der §18 am besten ganz fort. 

Auch Heinicke (11) wendet sich gegen die Einführung von Strafschärfungen 
bei der Strafvollstreckung, wie sie der V.-E. vorsieht. Sie sind geeignet, die Gesund¬ 
heit der Inhaftierten schwer zu schädigen, weil z. B. die Kostentziehung oder 
Schmälerung zu einem erheblichen Abbau der eigenen Körpersubstanz führen muß, 
und weil sie bei dem meist recht degenerierten Material keine bessernde Wirkung 
auf die Psyche haben würden. Außerdem wird durch gerichtliche Anordnung von 
Strafschärfungen der Strafanstaltsbeamte seiner wichtigsten Disziplinarmittel 
beraubt. 

Heilung (12) sieht in der Tatsache, daß nur ein kleiner Teil der Päderastec 
zur Verantwortung gezogen wird, ebensowenig einen Grund zur Beseitigung des 
§175 wie in der Möglichkeit, daß durch das Vorhandensein eines solchen Para¬ 
graphen das Erpressertum großgezogen wird. Wenn er sich trotzdem für Abschaffung 
des § 176 (250 d. V.-E.) ausspricht, so tut er dies nur aus dem Grunde, weil er aus 
der homosexuellen Betätigung keinen Schaden für das Individuum oder den Staat 
herleiten kann. Außerdem darf der Gesetzgeber aus der großen Zahl von moralisch 
tadelnswerten Unzuchtsakten nicht einige wenige herausgreifen und unter Strafe 
stellen. Dies erscheint ihm willkürlich und ungerecht. 

Hiller (13) spricht sich gegen die Strafbarkeit der Homosexualität aus und 
bekämpft namentlich die Anschauungen des Vorentwurfs. 

Eine Zusammenstellung der von den Psychiatern bisher am V.-E. geübten 
Kritiken bringt Göring (8). Das Literaturverzeichnis enthält 51 Nummern. 

Eingehend begründet Weller (35) die im § 224 StGB, aufgezählten Möglich¬ 
keiten, durch deren Eintritt die sie verursachende Verletzung zu einer schweren 
gestempelt wird. Die Leser dieser Zeitschrift interessieren natürlich vor allem 
seine Ausführungen über den Verfall in Geisteskrankheit. Ref. kann aber 


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Wendenbarg, Gerichtliche Psychopathologie. 


39 * 


nicht seinen Ausführungen beistimmen, daß darunter jeder dauernde, krankhaft 
veränderte Geisteszustand zu verstehen ist, auf den auch § 1910 II. BGB. zutrifft; 
denn diese Bestimmung sagt nichts über die Schwere der unter sie fallenden Psychose. 
Gegen die Fassung des entsprechenden Paragraphen im V.-E. des StGB, hat Verf. 
erhebliche Bedenken. Die lange Dauer des Folgezustandes der Verletzung wird 
nicht ausdrücklich gefordert. Vor allem ist seine Fassung zu allgemein gehalten 
mit der nicht zutreffenden Begründung, die Kasuistik des §224 StGB, sei nicht 
erschöpfend. Verf. fürchtet, daß die neue Fassung eine sehr verschiedene Beurteilung 
des Sachverhaltes zuläßt und dadurch eine große Rechtsunsicherheit herbeiführt. 
Die Reform soll daher von der alten Fassung ausgehen, mit der Verf. sich, soweit 
sie die Folge der Verletzung betrifft, einverstanden erklärt. 

(Emst ScÄultee-Greifswald.) 

Ziemke (38) äußert sich dahin, daß die Einsicht, welche der § 66 RStG. 
erfordert, lediglich das kriminelle Unterscheidungsvermögen und nicht die Fähigkeit, 
das Unmoralische der strafbaren Handlungsweise einzusehen, bedeutet. Der jugend¬ 
liche Täter muß im konkreten Falle unterscheiden können, ob seine Tat strafbar 
ist oder nicht. Dies Unterscheidungsvermögen ist von einem gewissen Grade der 
lntelligenzentwicklung abhängig, und es ist nun die nicht immer leichte Aufgabe 
des Sachverständigen, festzustellen, ob dieser Grad der Intelligenzentwicklung 
von einem Jugendlichen erreicht ist oder nicht. Dieses fehlt meist nur bei höheren 
Graden des Schwachsinns und deshalb ist den meisten jugendlichen Kriminellen 
die Einsicht zuzusprechen. Eine Frage ist dabei, ob sie, trotz vorhandener Einsicht, 
zurechnungsfähig sind. Diese Frage kann sehr oft verneint werden müssen. 

Die Geringfügigkeit, die Partialität und die Unbeständigkeit der pathologischen 
Symptome machen nach Birnbaum (4) die Hauptschwierigkeiten bei der strafrecht¬ 
lichen Beurteilung der Degenerierten. Bei nachgewiesener psychopatischer 
Durchschnittsverfassung muß die Zurechnungsfähigkeit als herabgesetzt gelten, 
Steigerung einzelner, schon in der Durchschnittsverfassung vorhandener seelischer 
Zustände kann oft die Veranlassung eines Deliktes sein und diese zeitlich begrenzten 
Verstärkungen der Psychopathie können die Zurechnungsfähigkeit noch weiter 
herabsetzen, ja aufheben. In foro empfiehlt es sich, den psychologischen Gesamt¬ 
eindruck einer degenerierten Persönlichkeit der Beurteilung zugrunde zu legen. 
Mit Ausdrücken wie partielle oder bedingte Zurechnungsfähigkeit ist da wenig 
anzufangen. 

iStransky (32) behandelt die Affektdelikte in Beziehung zum öster¬ 
reichischen und deutschen Vorentwurf zum Strafgesetz. Beim Kindesmord bemerkt 
er die glückliche Fassung des österreichischen Entwurfs vor dem deutschen, da 
in ihm die von Hocke an dem deutschen Entwurf getadelte Unterscheidung zwischen 
ehelich und unehelich fortfällt und außerdem an Stelle des unbestimmten Begriffes 
„gleich nach der Geburt“ die biologische Bestimmung der Geburt und ihrer Nach¬ 
wirkungen gesetzt ist. 

Bei einem Manne, Epileptiker, der sich und sein Töchterchen mit Leuchtgas 
zu vergiften versucht hatte, bestand nach dem Abklingen der Gasvergiftung Er¬ 
innerungslosigkeit. Es handelte sich nun um die Frage, ob diese Erinnerung 8 * 


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40 * 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


losigkeit eine Folge der Epilepsie oder der Gasvergiftung wäre. Hoffmann 
und Marx (16) entschieden sich in ihrem Gutachten für die letzte Annahme und 
faßten die Amnesie als retrograde auf. Exkulpation könnte also nicht stattfinden. 
Trotzdem wurde der Angeklagte freigesprochen, weil Leppmann in der Verhandlung 
zur Ansicht kam, daß man einen epileptischen Dämmerzustand nicht ausschließen 
könnte. 

Keferatein (20) berichtet über einen hereditär belasteten Menschen, der aus 
Eifersucht seine Braut zu erschießen versuchte und dann sich selbst zwei Schüsse 
in den Kopf beibrachte. Er verliert ein Auge, wird aber wieder hergestellt und be¬ 
hauptet nun, in einem Zustande geistiger Verwirrung gehandelt zu haben, und daß 
ihm die Erinnerung an die Tat fehle. Es konnte nachgewiesen werden, daß er schon 
vor der Tat alkoholintolerant gewesen war und nach Alkoholgenuß 
die Erinnerung verloren hatte, und daß er die Tat in einem derartigen Zustande 
begangen hatte. Es wurde deshalb angenommen, daß seine Angaben glaubwürdig 
wären, worauf er vom Gericht freigesprochen wurde. 

Seelig (29) vergleicht die Bestimmungen über die Jugendlichen im 
alten Strafgesetz mit denen des Vorentwurfs. Verbesserungen möchte er in dem 
Hinaufrücken der Altersgrenze auf das 14. Lebensjahr, im Fortfall des Diszemements 
nach §66 und in der Einführung von Erziehungsmaßnahmen anstatt oder neben 
einer Freiheitsstrafe erblicken, doch müßte im letzten Falle Erziehung die Kegel, 
Strafe die Ausnahme bilden. Freiheitsstrafen gegen Jugendliche könnten nach 
seiner Auffassung auch durch den Aufenthalt in Heil- oder Erziehungsanstalten 
als vollzogen gelten, eine Ansicht, die von vielen bekämpft wird, die eine strikte 
Trennung der Strafmaßnahmen von denen zu Heil- oder Erziehungszwecken für 
notwendig halten. 

Fürstenheim (6) unterscheidet bei den jugendlichen Angeklagten drei Gruppen. 
Die eine umfaßt die Angeklagten mit ernsterer krankhafter Beeinträchtigung der 
Geistestätigkeit, die zweite jugendliche Kriminelle mit leichten angeborenen oder 
erworbenen Defekten, die dritte die Gesunden. Auf die erste Gruppe ist meist der 
§ 61 anzuwenden, zu ihr gehören z. B. jugendliche Epileptiker, Debile und Hysteriker, 
die unter Alkoholwirkung kriminell geworden sind. Bei der zweiten Gruppe handelt 
es sich meist um einen Erziehungsschaden auf dem Boden einer krankhaften Ver¬ 
anlagung, die hierher gehörenden Kriminalen tragen meist zahlreiche Degenerations¬ 
zeichen und Zeichen psychopathischer Konstitution. Hier kann der § 61 nur unter 
besonderen Umständen angewandt werden. Eine besondere Gruppe bilden denn 
noch die Jugendlichen, bei denen mangels jeder Erziehung das tatsächliche Wissen 
um die Strafbarkeit einer Handlung fehlt oder nicht zur Geltung kommen kann. 
Diese besitzen nicht die notwendige Einsicht und sind deshalb nach § 66 zu exkni- 
pieren. 

Haymann (10) vermehrt die in der deutschen Literatur nicht allzu häufig 
beschriebenen Fälle von Selbstanzeigen Geisteskranker durch einige Bei¬ 
spiele. Er unterscheidet Selbstanzeigen Geisteskranker infolge Störung des Be¬ 
wußtseins, Störung des Affektlebens und Störung der Denkprozesse. Von den inter¬ 
essanten Fällen, die Haymann mitteilt, zeigt besonders der zweite, wie schwer 


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Wendenburg, Gerichtliche Psychopathologie. 


41 * 


es oft ist, bei Selbstanzeigen notorisch Geisteskranker die Schnldfrage zu klären. 
Ein Mann, der vor 4 Jahren der Brandstiftung beschuldigt und aus Mangel an Be¬ 
weisen freigesprochen war, hatte einen Schädelbruch erlitten mit nachfolgender 
traumatischer Demenz. In diesem Zustande krankhafter Störung der Geistes - 
tätigkeit bezichtigte er sich nun jenes Verbrechens, dessen er einst angeklagt war. 
Das neue Verfahren mußte aber wieder eingestellt werden, weil der Mann geistes¬ 
krank und nicht verhandlungsfähig war, so daß die Schuldfrage nach wie vor unge¬ 
klärt blieb. Auch in dem fünften Falle lagen ähnliche Schwierigkeiten vor, diesmal 
handelte es sich um einen von Jugend auf pathologischen Menschen, der an Pseudo¬ 
logia phantastica und wahrscheinlich auch an Epilepsie litt und sich .des Verrats 
militärischer Geheimnisse bezichtigte. Hier konnte nur eine genaue Beobachtung 
die Wahrscheinlichkeit eines pathologischen Ursprungs der Selbstanzeige erbringen. 
Der Mann wurde deshalb und aus Mangel an Beweisen freigesprochen. 

A. Leppmann (22) teilt einen interessanten Fall von falscher Selbst- 
bezichtigung mit. Ein junger Mann hatte sich der Urkundenfälschung 
und Unterschlagung bezichtigt, war verurteilt, hatte seine Strafe verbüßt und 
betrieb danach das Wiederaufnahmeverfahren, weil er unschuldig verurteilt wäre. 
Er hätte in Wirklichkeit keine der Straftaten begangen. L. kam auf Grund seiner 
Nachforschungen zu dem Gutachten, daß der Verurteilte zur Zeit der Anklage 
geisteskrank gewesen wäre, und daß es nicht ausgeschlossen sei, daß er sich infolge 
krankhafter geistiger Vorgänge zu Unrecht falsch bezichtigt hätte. In der Wieder¬ 
aufnahmeverhandlung stellte sich heraus, daß der Angeklagte den größten Teil 
der in Frage kommenden Straftaten unmöglich begangen haben konnte, und er 
wurde als unschuldig freigesprochen. 

Ein 17 jähriger Kaufmannslehrling, dessen Krankengeschichte Juliusburger (17) 
mitteilt, war nach einer Szene mit seiner Muttör, die ihm übertriebene Vorwürfe 
machte, in der darauf folgenden Nacht plötzlich mit der Vorstellung erwacht, er 
hätte gestohlen. Er benahm sich am anderen Morgen etwas anders als sonst, ohne 
gerade aufzufallen, ging aber nicht ins Geschäft, sondern schrieb Briefe an seinen 
Handlungsherm, in denen er sich selbst bezichtigte, an seine Mutter, er befände 
sich auf einer Geschäftsreise, und fuhr dann zu Verwandten, die ihn festhielten. 
Am Abend kehrte die richtige Orientierung wieder zurück, die Dauer der Psychose 
währte also kaum 24 Stunden. Die in diesem Zustande geschriebenen Briefe zeigten 
die Flüchtigkeit manischer Briefe, und die Schriftzüge waren von denen, die der 
Patient im normalen Zustande schrieb, deutlich verschieden. 

Wagner von Jauregg (34), der den Zurechnungsunfähigkeitsparagraphen 
im österreichischen Strafgesetzentwurf kritisiert, sieht als wesentliche Vorzüge 
der Neufassung dieses Paragraphen an, daß er eine zeitgemäße Nomenklatur der die 
Zurechnungsfähigkeit ausschließenden geistigen Störungen einführt, und daß er, 
wenigstens in der Theorie, die ärztlichen von den richterlichen Kompetenzen ab¬ 
grenzt. Auch daß die strafausschließende Wirkung geistiger Störungen von ihrer 
Art und ihrem Grad abhängig gemacht und die Beurteilung der Zurechnungs¬ 
fähigkeit in Beziehung auf die konkrete Tat gefordert wird, erscheint ihm als wesent¬ 
licher Fortschritt. 


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42 * 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


III. Kriminal-Anthropologie und -Psychologie. 

1. Behrend , Gewohnheitsverbrecher in England. Mtschr. f. Kriminal- 

psvchol. u. Strafrechtsref. Jahrg. 8, H. 5, S. 290 ff. 

2. Bell, Clark (New York), Drunkenness as a defence for homicide. 

The alienist and neurologist vol 32, no. 2, p. 315. 

3. Birnbaum, Die krankhafte Willensschwäche und ihre Erscheinungs¬ 

form. Wiesbaden, Bergmann. 75 S. (S. 51*.) 

4. Birnbaum, K., Einige wichtige Gesichtspunkte für die strafrecht¬ 

liche Beurteilung konstitutionell-psychopathischer Personen. 
Mtschr. f. KriminalpsychoL u. Strafrechtsref. Jahrg. 7, 
H. 10, S. 606. (S. 51*.) 

5. Buchbinder (Lahr in Baden), Einige nach epileptischen Krampf¬ 

anfällen beobachtete körperliche Veränderungen vorüber¬ 
gehender Art. Beitrag zur gerichtsärztlichen Diagnose 
epileptischer Krampfanfälle. Vjhrschr. f. gerichtL Med. u. 
öffentl. Sanitätsw. Bd. 41, H. 2, S. 263. (S. 52*.) 

6. Del Oreco, F ., La mentalitä criminala. Rivista di psicologia appli- 

cata 7 an., no. 5, p. 356. 

7. Deroubaix (Proidmont), Tentative d’assassinat; dflire de Jalousie 

et Epilepsie. — rapport m6dicol6gaL Bull. de la soc. de ra&l. 
ment, de Belgique, fdvrier, no. 154, p. 73. 

8. du Lac , A., Une mercuriale beige. Arch. d’anthropol. crim. p. 119. 

9. Fehlinger, H., Ist Alkoholismus eine Ursache der Entartung? 

H. Groß’ Archiv Bd. 41, H. 3 u. 4, S. 302 ff. 

10. Filassier, D6g6n6rö öpileptique: syndrome episodique; idöes de 

persGcution, d^pression m61ancolique; vertige, importance 
m^dico-legale. Revue de mddecine legale no. 6, p. 161. 

11. Fomenko , B. P. (St. Petersburg), Uber Mandschurische Taschinen. 

Psych.-neuroL Wschr. Jahrg. 13, Nr. 26, S. 255. 

12. Fursac, J. R. de, Observation d’un mythomane; contribution 

h la mädecine legale de la mythomanie. Revue de Psycb. 
T. 15. Nr. 11, p. 465. 

13. v. Qniber und Rüdin, Fortpflanzung, Vererbung, Rassenhygiene. 

178 S. 3 M. München, Lehmann. (S. 52*.) 

14. Gruhle, H. (Heidelberg), Beitrag zum Studium der Kriminalität 


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Wen den barg, Gerichtliche Psychopathologie. 


43 * 


Jugendlicher. Mtschr. f. Kriminalpsychol. u. Strafrechtsref. 
Jahrg. 8, H. 1, S. 17. (S. 49*.) 

15. Gudden, Hans, Die Behandlung der jugendlichen Verbrecher in 

den Vereinigten Staaten von Nordamerika. Friedreichs Bl. 
H. 1, 2 (ref. diese Ztschr. Jahrg. 1911, Literaturbericht 
S. 28*). 

16. Gudden, Hans, Diebstähle infolge von Zwangsvorstellungen. 

Friedreichs Bl. f. gerichtl. Med. H. 6. (S. 49*.) 

17. Hahn, R., Beitrag zur Wertung des Charakters bei der forensischen 

Begutachtung eines Geisteskranken. Ärztl. Sachv.-Ztg. 1911, 
Nr. 2, S. 1 ff. (S. 54*.) 

18. Haury, La mödecine legale au congrös des aüönistes et neurologistes. 

Arch. d’anthrop. crim. p. 192. 

19. Heine, Siegfried (Dalldorf), Die forensische Bedeutung der Amnesie. 

Vjhrschr. f. gerichtl Med. Juli 1911, H. 3, S. 51. (S.53*.) 

20. Hexnicke, W., Über die Anfänge geistiger Störungen bei Straf¬ 

gefangenen. Mtschr. f. Kriminalpsychol. u. Strafrechts, ef. 
Jahrg. 8, fl. 5, S. 276 ff. (S.51\) 

21. Heilung, A. (Berlin-Friedenau), Volkskundliches und Kriminal¬ 

psychologisches aus dem Prozeß der Giftmörderin Gesche, 
Margarete Gottfried. H. Groß’ Archiv Bd. 41, H. 1 u. 2, 
S. 64. 

22. Hoppe, Hugo, Ist Alkoholismus eine Ursache der Entartung? 

H. Groß’ Archiv Bd.45, H. 1 u. 2, S. 144 ff. 

23. Hotter, C., Alkohol und Verbrechen in Niederbayern. Mtschr. f. 

KriminalpsychoL u. Strafrechtsref. Jahrg. 8, H. 4, S. 228 ff. 
(S. £0*.) 

24. Huwald, W., Über die forensische Bedeutung der Familienähnlich¬ 

keit. H. Groß’ Archiv 1911 Bd. 41, H. 1 u. 2, S. 1—41. 
(S. 52*.) 

25. Huwald, Walter, Uber die forensische Bedeutung der Familien¬ 

ähnlichkeit. Inaug.-Diss. Berlin. 

26. Icard, S., Procödö pour marquer d’un signe indölöbile et non 

infamant les professionnels du crime. Arch. d’anthropol. 
crimin. p. 30. 

27. Janet, P., La Kleptomanie et la dSpression mentale. Journ. de 

psychol. normal et pathol. no. 2, p. 97. 


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UMIVERS1TY PF MICHIGAN 



44 * 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


28. Jassny, A., Zur Psychologie der Verbrecherin. Arch. f. Kriminal- 

anthrop. u. Kriminalistik 42—90. 

29. Laeassagne, Responsabilitä pönale et folie (Etüde m6dico-lägale). 

Paris, Librairie F61ix Algan, ancienne librairie Gama Bail¬ 
iiere et Comp., 1911, p. 1 ff. 

30. Lacaze, De la criminalitä feminine en France. Arch. d’anthrop. 

crimin. 26—449. 

31. Laguer, L. (Frankfurt a. M.), Über die Schädlichkeit kinemato- 

graphischer Veranstaltungen für die Psyche des Kindesalters. 
ÄrztL Sachv.-Ztg. Nr. 11, S. 221. (S. 49*.) 

32. Ledle, H ., Les qualit^s du juge au crimineL Arch. d’anthrop. 

crimin. 26—369. 

33. Lentz, F. (Tournai), Vol ä l’6talage, rapport m6dico-legaL Bull 

de la soc. de m6d. ment, de Belgique, juin, no. 156, p. 211. 

34. Liebermann von Sonnenberg , Zwei Fälle von Besudelung. H. Groß’ 

Archiv Bd. 43, H. 3 u. 4, S. 281 ff. (S. 53*.) 

35. Linke, A. (Lüben), Zum Verlauf chronischer Psychosen beim 

Verbrecher. Psych.-neuroL Wschr. Jahrg. 13, Nr. 16, S. 149. 
(S. 53*.) 

36. Lohmann, Otto, Kriminalstatistische Mitteilungen. Mtschr. f. 

KriminalpsychoL u. Strafrechtsref. Jahrg. 7, H. 10, S. 616 ff. 

37. Louveaux et Glaus, A. (Anvers), Tentative d’homicide, rapport 

m6dico-16gal. BulL de la soc. de m§d. ment, de Belgique, 
tevrier, no. 154, p. 42. 

38. Lückerath, M. (Bonn), Über Degenerationspsychosen bei krimi¬ 

nellen Geisteskranken. ÄrztL Sachv.-Ztg. Nr. 3, S. 45—48. 
(S. 50*.) 

39. Mac Phaü, H. D. (Newcastle-on-Tyne), A case of moral insanity 

with Pyromania. Journ. of ment. Science vol. 57, no. 236, 
p. 124. 

40. Makino, E., Der Rückfall nach der japanischen Kriminalstatistik. 

H. Groß’ Archiv Bd. 43, H. 3 u. 4, S. 323 ff. (S. 54*.) 

41. Maxwell, L’action psychologique des peines. Arch. d’anthrop. 

crimin. p. 47. 

42. v. Mayr, Georg, Kriminalstatistik und „Kriminalätiologie". Mtschr. 

f. KriminalpsychoL u. Strafrechtsref. Jahrg. 8, H. 6 u. 7, 
S. 333 ff. 


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Wenden bürg, Gerichtliche Psychohathologie. 


45 * 


43. Meyer, E., und Puppe, 0., Über gegenseitige Anziehung und 

Beeinflussung psychopathischer Persönlichkeiten. Sonder¬ 
abdruck aus der Vjhrschr. f. gerichtL Med. u. öffentl. Sanitäts- 
wesen, 3. Flg., Bd. 43, H 1, S. 1 ff. (S. 53*.) 

44. Mönkemötter, 0. (Hildesheim), Zur Kriminalität des Kindesalters. 

Arch. f. Kriminalanthrop. u. Kriminalistik Bd. 40, H. 3 u. 4, 
S. 246. (S. 48*.) 

45. Näcke, P. (Hubertusburg), Biologisches und Forensisches zur 

Handschrift. NeuroL Zentralbl. Nr. 12, S. 642. 

46. North, Ch. H. (Dannemora, N.-Y.), Insanity among adolescent 

criminals. Americ. joum. of insan. vol. 67, no. 4, p. 677. 

47. Papadaki, A., L’aliönation mentale d’un prisonnier. L’Encöphale 

no. 6, p. 67. 

48. RSgts (Bordeaux), Dösöquilibration mentale et divorce. Affaire 

Par... -Rapport mödico-lögal. Jugement. Ann. möd.-psychol. 
tome 40, IV, 1, p. 59. 

49. Remond, A., et Voivenel, P., Considörations sur la criminalitö 

infantile. Progr. möd. no. 7. 

50. Richter, H., Ein Beispiel für hereditäre Belastung. H. Groß’ 

Archiv Bd. 43, H. 3 u. 4, S. 303 ff. (S. 52*.) 

51. Robertson, 0. M., Some medico-legal and practical considerations 

relating to melancholia. The British med. joum. 8. IV. 1911 

52. Rogues de Fursac, Une Observation d’un mythomane. Contribution 

ä la mödecine lögale de la mythomanie. Revue de Psych. 
no. 11, p. 465. 

53. Rupprecht, Strichjungen. Mtschr. f. Kriminalpsychol. u. Straf- 

rechtsrcf. Jahrg. 8, H. 4, S. 221 ff. 

54. Rupprecht, K. (München), Kindlicher Schwachsinn und Straf¬ 

fälligkeit Jugendlicher. Arch. f. Psych. u. Nervenkrkh. 
Bd. 48, H. 3, S. 881. (S. 50*.) 

55. Rupprecht (München), Jugendliche Sexualverbrecher. Fried- 

reichs Bl. f. gerichtL Med. Bd. 42 H. 4. (S. 49*.) 

56. Rupprecht (München), Straffällige Jugend und psychopathische 

Minderwertigkeit. Münch, med. Wschr. Nr. 14, S. 742. 
(S. 48*.) 

57. Scdgo, J., und Obersteiner, H., Willensentschließung und Rechts¬ 

praxis. Der Geisteskranke und das Gesetz in Österreich. 


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46* 


Bericht über die psychiatrische Literstar 1911. 


Jur.-psych. Grenzfr. 42 S. 1 M. Halle 1911, C. Marhuld. 
(S. 52'.) 

58. Schilling,, F., Der Selbstmord. Friedreichs Bl. f. gerichtL Med. H. 3. 

59. Senf, M. R. (Ronneburg), Zur Psychologie des Lustmörders. 

Mtschr. f. KriminalpsychoL u. Strafrechtsref. Jahrg. 8, 
H. 5, S. 299. 

60. Seriem, P., et Liberi , L., Les anormaux constitutionnels ä la 

Bastille (interprßtateurs, revendicateurs, fabulateurs). La 
chronique m6dicale no. 19, p. 609—619. 

61. Sdieux, Paul, et Libert, Luden, La Bastille et ses prisonniers. 

Contribution h l’Stude des asiles de süretA L’encöphale 
no. 7, p. 18; no. 8, p. 112; no. 9, p. 223. 

62. v. Schrenck-Notzing (München), Über ein sexuelles Attentat auf 

eine Hypnotisierte. H. Groß’ Archiv Bd. 43, H. 1 u. 2, S. 139. 
(S. 54*.) 

63. Schröder, P. (Breslau), Das Fortlaufen der Kinder. Mtschr. f. 

KriminalpsychoL u. Strafrechtsref. Jahrg. 8, H. 5, S. 257. 
(S. 48*.) 

64. Schütze, W., Kriminalistische Studien. Arch. f. Kriminalanthrop. 

u. Kriminalistik 1911 Bd. 43, S. 174. 

65. Schütze, W., Fünfstündige Abschlachtung einer Geisteskranken 

durch ihren Mann und ihre 73 jährige Mutter. Arch. f. 
Kriminalanthrop. u. Kriminalistik 1911 Bd. 42, S. 136. 
(S. 53*.) 

66. Sommer, Robert, Kriminalpsychologie. VerhandL d. Kölner 

Kongresses f. Kriminalanthrop. (S. 47*.) 

67. Stammer, Vagabundentum in Amerika. Mtschr. f. Kriminal¬ 

psychoL u. Strafrechtsref. Jahrg. 8, H. 10, S. 635 ff. 

68. Stekel, W., Berufswahl und Kriminalität. Arch. f. Kriminalanthrop. 

u. Kriminalistik Bd. 41, S. 268. 

69. Storfer, A. J. (Zürich), Zur Sonderstellung des Vatermordes. 

34 S. 1,50 M. Leipzig’ und Wien 1911, Franz Deuticke. 
(S. 53*.) 

70. Stransky, E., Das Affektdelikt. Allg. österr. Gerichtsztg. 1911. 

(S. 39*.) 

71. Straßmann, F. (Berlin), Neurasthenischer Dämmerzustand. ÄrztL 

Sachv.-Z+g. Nr. 24, S. 493. 


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Wendenbarg, Gerichtliche Psychopathologie. 


47* 


72. Türkei, 8. (Wien), Der Einfluß der Lektüre auf die Delikte phan¬ 

tastischer jugendlicher Psychopathen. * H. Groß’ Archiv 
Bd. 42, H. 3 u. 4, S. 228. (S. 50*.) 

73. Türkei, 8. (Wien), Der Fall Hermann Hertzka. H. Groß’ Archiv 

Bd. 41, H. 3 u. 4, S. 193. 

74. Veit, E., Über Kriminalität der Epileptiker. Epilepsia Bd. 2, 

S. 247. (S. 51*.) 

75. Viemstem (Kaisheim), Ärztliche Untersuchungen an Kaisheimer 

Gefangenen. Münch, med. Wschr. Nr. 45, S. 2392. (S. 51*). 

76. Vigouroux, A., Un debile moral simulateur. Bull, de la soc. clin. 

de möd. ment. no. 6, p. 214 

77. Vigouroux, A., Un faux masochiste. Ann. m6d.-psychol. T. 13. 

Jan. p. 83. 

78. Viollette, M., L’ali6nation mentale cause de divorce. L’assistance 

20® annöe, 11. s6rie, p. 81. 

79. Vladoff, D., L’homicide en pathologie mentale. 379 p. 10 fr. 

Paris, Maloine. 

80. Voß, Beiträge zur Psychologie des Gattenmordes und Verwandtes. 

H. Groß’ Archiv Bd.41, H. 3 u. 4, S. 281 ff. 

81. Voß, Mord oder Unfall? Ein Sieg der Lüge. Beitrag zur Psycho¬ 

logie des Kindermordes. H. Groß’ Archiv Bd. 41, H. 3 u. 4, 
S. 319 ff. 

82. Wassermann, R., Ist die Kriminalität der JudenRassenkriminalität ? 

Ztschr. f. Demogr. u. Stat. der Juden S. 36. 

83. Wilhelm, Eugen (Straßburg i. E.), Beseitigung der Zeugungs¬ 

fähigkeit und Körperverletzung de lege lata und de lege 
ferenda. Die künstliche Zeugung beim Menschen und ihre 
Beziehungen zum Recht. Jur.-psych. Grenzfr. Bd. 7. 
H. 6 u. 7. Halle a. S. 1911, Carl Marhold. (S. 52*.) 

Die Kriminalpsychologie ist nach Sommer (66) ein Teil der 
analytischen Psychologie, und zwar derjenige, der sich mit dem Studium der Personen 
beschäftigt, welche durch Rechtsverletzungen eine Gefahr für die soziale Gemein¬ 
schaft bilden. Sie führt zu einer systematischen Untersuchung der menschlichen 
Handlungen in bezug auf ihre Motive und den geistigen Zustand, aus dem sie ent¬ 
springen; die strafrechtliche Handlung erscheint bei ihr als Ausdruck eines inneren 
Zustandes. Sie wird ergänzt durch soziologische Untersuchungen und Unter¬ 
suchungen der Gesetze als Folge und Ausdruck von bestimmten, in der kulturellen 
Entwicklung eines Volkes gegebenen Momenten. Die allgemeine Kriminalpsychologie 


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48* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


umfaßt die Beschaffenheit der einzelnen geistigen Funktionen in Beziehung zur 
Kriminalität, die spezielle stellt bestimmte Gruppen aus dem übergangsgebiet 
zwischen Psychiatrie und Strafrecht sowie eine Reihe rein krimineller Typen dar. 

MönkemöUers (44) Arbeit über die Kriminalität des Kindesalters 
beschäftigt sich eingehend mit allen den Ursachen, welche 686 Fürsorgezöglinge 
unter 14 Jahren in 10 Anstalten der Provinz Hannover frühzeitig auf den Weg 
des Verbrechens getrieben hatten. 73% von ihnen waren Straftaten nachgewiesen, 
psychische Defekte waren bei den Mädchen häufiger als bei den Knaben. Zam 
Schluß der sehr gründlichen Arbeit wirft der Verfasser die Frage auf, ob die Defekten 
überhaupt der Fürsorgeerziehung überwiesen werden dürfen und kritisiert die 
heutige Ausführung der Fürsorgeerziehung. Die Einrichtung von Zwischenanstalten 
für geistig defekte F.-Z. hielt er für wünschenswert. 

Das Fortlaufen und Fortbleiben von Hause hat bei Jugendlichen und 
Kindern nach Schröder (63) verschiedene Ursachen. Es kann Epilepsie zugrunde 
liegen, dann kommt es zu richtigen plan- und ziellosen Wanderungen, es t»nn sich 
einfach um psychopathische, moralisch minderwertige Kinder handeln, dann beob¬ 
achtet man einfaches Umhertreiben auf der Straße oder es handelt sich um jugend¬ 
liche Phantasten, diese stellen die Gruppe der Ausreißer, Durchbrenner und jugend¬ 
lichen Abenteurer. Die erstgenannte Gruppe sind Kranke, die man entsprechend 
behandeln muß. Beobachtet man ihre Verstimmungen genau, so läßt sich das 
Fortlaufen verhindern. Die zweite Gruppe gibt eine ungünstige Prognose. Ihre 
angeborenen Defekte lassen sich weder durch Behandlung noch Erziehung bessern. 
Die Jugendlichen der dritten Gruppe können dagegen sehr brauchbare Menschen 
werden. Ihre Abenteuerlust vergeht meist mit fortschreitender Reife. 

Uber straffällige Jugend und psychopathische Minder¬ 
wertigkeit verbreitet sich der Münchener Jugendstaatsanwalt RupprecJU (56), 
dem die zahlreichen von Psychiatern während zweier Jahre im Strafverfahren 
gegen Jugendliche gemachten Beobachtungen und erstatteten Gutachten zur Ver¬ 
fügung stehen. Er unterscheidet drei Gruppen von Straffälligen, nämlich die 
Imbezillen, die Hysterischen und die Psychopathischen. Nur den letzteren, speziell 
den psychopathisch Minderwertigen gelten seine Ausführungen. Die psychopathische 
Minderwertigkeit ist keine Geisteskrankheit im Sinne des §61 RStGB., sie stellt 
sich entweder als ein Defekt im Willen oder als ein Mangel im Intellekt oder als 
eine Verbindung beider Erscheinungen dar. Äußere Degenerationszeichen treten 
nur selten auf. Der Mangel im Intellekt äußert sich in der Regel in einem allgemeinen 
Zurückbleiben hinter der Durchschnittsnorm des jeweiligen Alters, er muß aber 
immer noch ein verantwortliches Handeln zulassen, sonst liegt Imbezillität vor, 
auf die die Voraussetzungen des §61 RStGB. zutreffen. Schwieriger feststellbar 
sind die Defekte im Willen. Sie sind auf eine Reihe von Ursachen zurückzuführen, 
von denen erbliche Belastung, Erziehungsfehler, Entwicklungsmängel und ins¬ 
besondere die beginnende Pubertät die wichtigsten sind. An Stelle der Willens¬ 
handlungen treten durch Ausschaltung oder Herabsetzung der HemmungsmÖglicb- 
keit Triebhandlungen. Mit einer übertriebenen Steigerung des Selbstgefühles gebt 
eine Minderung, wenn nicht gar der Verlust der Achtung vor fremden Rechten 


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Wendenburg, Gerichtliche Psychopathologie. 


49* 


Hand in Hand. Die überwiegende Mehrzahl der minderwertigen Jugendlichen 
sind Knaben. Ob die psychopathische Veranlagung die Verletzung bestimmter 
Rechtsgüter (Eigentum, körperliche Integrität, Geschlechtsehre) fördert, oder 
ob umgekehrt diese Rechtsgüter den psychopathischen Jugendlichen besonders 
zum Angriff reizen, oder ob er die Straftat gleich normalen Jungen je nach Gelegen¬ 
heit und innerem Anreiz begeht, läßt sich nach den bisherigen Erfahrungen nicht 
mit Sicherheit feststellen. Sittlichkeitsverbrechen an Kindern wurden von normalen 
und imbezillen Jugendlichen begangen, nur in einem Falle ließ sich psychopathische 
Minderwertigkeit feststellen. Zwei zur Anzeige gelangte Fälle von Exhibitionismus 
wurden von verblödeten Geisteskranken verübt. Jugendliche, die sich nach § 176 
RStGB. verfehlt haben, waren in keinem Falle Psychopathen; das Motiv der Straftat 
war meist Verführung oder Gewinnsucht, nicht innerer Drang. Das von Psycho¬ 
pathen weitaus am häufigsten begangene Delikt ist der Diebstahl. Da aber dieses 
Vergehen zugleich das typische Jugenddelikt ist, so ist die Häufigkeit seines Er¬ 
scheinens beim minderwertigen Jugendlichen keine Besonderheit. Die Ausführungen 
Rupprechts , die durch Beispiele aus der Präzis ergänzt werden, klingen in den 
Wunsch aus, daß die in Erziehungsanstalten untergebrachten Zöglinge rechtzeitig 
einer psychiatrischen Untersuchung unterstellt werden, und daß Anstalten errichtet 
werden, in denen die psychopathischen Elemente von den normalen Zöglingen 
getrennt werden können, da auch bei den Minderwertigen noch Erziehung möglich 
ist, aber Erziehung in anderer Form und mit anderen Mitteln als bei den normalen 
Jugendlichen. (M. Kaiser-München.) 

Eine sehr eingehende Studie über die Kriminalität von 86 Jugendlichen, 
die dem Jugendgericht in Mannheim vorgeführt wurden, bringt Gruhle (14). Hervor¬ 
zuheben ist namentlich, daß die Kriminalität sich bei verschiedenen Volksstämmen 
verschieden gestaltet, wie namentlich Vergleiche des Mannheimer mit dem Frank¬ 
furter Material ( Poüigketl ) zeigen. 

Die Sexualdelikte Jugendlicher gleichen nach den Erfahrungen 
Rupprechts (66) auffallend den Unzuchtshandlungen alternder Männer. Die Ein¬ 
sichtsfrage ist gerade bei den Triebhandlungen auf sexueller Basis häufig schwer 
zu beantworten. Die Hinzuziehung eines Psychiaters und des Lehrers läßt sich nur 
selten umgehen. Von rund 1000 Anzeigen gegen jugendliche Personen betrafen 
33 Verbrechen im Sinne des § 176 und § 177 des StGB. 17 wurden angeklagt, in 
16 Fällen wurde das Verfahren eingestellt. Die Mehrzahl der Verurteilten war 
vollsinnig, bei den übrigen Angeklagten bestand eine psychopathische Minder¬ 
wertigkeit, bei der bedingte Begnadigung angebracht ist. In anderen Fällen fehlte 
die Einsicht oder ein Schwachsinn führte zur Freisprechung. Die eingestreute 
kurze Kasuistik ist lesenswert. Schließlich rät Verf. zur Vorsicht, wenn der Jugend¬ 
liche gegenüber den alleinigen Belastungsaussagen des angegriffenen Mädchens 
die Tat in Abrede stellt; die Glaubwürdigkeit des Mädchens bedarf einer genauen 
Prüfung. (Emst Se/wÜze-Greifswald.) 

Den üblen Einfluß, den die Kinematographentheatcr auf die kindliche 
Psy che ausüben können, demonstriert der von Laquer (31) mitgeteilte Fall, in dem 
ein aus ärmlichem, aber sittlich einwandsfreiem Milieu stammender Knabe, der 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXIX. Lit. d 


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50* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


allerdings schon früher Neigung zu verbotenen Handlungen gezeigt hatte, einen 
T&schendiebstahl auf offener Straße beging. Er hatte kurz vorher die Darstellung 
eines solchen Diebstahls im Kientopp gesehen und es dem Helden des Stückes 
gleich tun wollen. 

Türkei (72) schildert zwei Degenerierte, die durch die Lektüre von Schund¬ 
literatur zu Verbrechern geworden waren. Der unheilvolle Einfluß dieser Literatur 
auf die psychisch Minderwertigen wird durch die mitgeteilten Fälle deutlich demon¬ 
striert. 

K. Rupprecht (64) sieht die Hauptaufgaben, der Jugendgerichte 
in der Bestrafung der Jugendlichen und in der Fürsorge für die noch Besserungs¬ 
fähigen. Der Jugendrichter, der diese beiden Forderungen erfüllen will, steht deshalb 
vor der Notwendigkeit, sich eingehender, als es sonst geschieht, mit der Individualität 
des Täters zu beschäftigen, und dabei ist der Psychiater sein bester und unentbehr¬ 
licher Berater. Während der Jahre 1909 und 1910 hat Rupprecht alle Strafverfahren 
gegen Jugendliche in München bearbeitet, und er hat beobachtet, daß der Schwach¬ 
sinn, die Psychopathie und die Hysterie die größteRolle unter den geistigenAnomalien 
spielt, welche den Straftaten Jugendlicher zugrunde liegen können. Eltern und 
Schule sind nur selten in der Lage, diese Anomalien zu erkennen, auch der Polizei 
und den Vormundschaftsgerichten entgehen sie. Deshalb fällt dem Psychiater 
die Hauptarbeit bei ihrer Feststellung zu, und da es sich hierbei um eine der wich¬ 
tigsten Aufgaben der Psychiatrie handelt, sind deren Vertreter verpflichtet, ihre 
besten Kräfte in den Dienst der guten Sache zu stellen. 

Hotter (23) weist auf die traurigen, aber leider recht engen Beziehungen hin, 
die in Niederbayern zwischen Alkohol und Verbrechen bestehen. In 
Straubing wurden 1900—1909 207 Fälle von Totschlag oder Körperverletzung 
mit Todeserfolg abgeurteilt. Von 208 getöteten Personen mußten 131 = 63 % 
an Sonn- und Feiertagen ihr Leben lassen, 176 Todesfälle = 84% kamen auf die 
Wirtshäuser, überhaupt waren 187 = 90,3% dem Alkohol in Rechnung zu setzen, 
während nur 9,7% der Delikte von nüchternen Leuten begangen wurden. 

Von 200 Geisteskranken, die aus der Untersuchungshatt und aus dem Straf¬ 
vollzüge überwiesen waren, und von Lückerath (38) untersucht wurden, gehörte 
ein Drittel zu den Degenerationspsychosen. Die meisten waren 
erblich belastet, besaßen eine ihrem Stande entsprechende Bildung, zeigten aber 
schon seit der Kindheit degenerative Züge. Die erste Strafe lag bei den meisten 
zwischen dem 16 und 26., der Ausbruch der Psychose zwischen dem 20. bis 30. 
Lebensjahr. Übertreibung war häufig, Simulation selten. Es handelte sich bei dem 
L.sehen Material um drei Gruppen: Degenerierte mit psychogenen Erregungs¬ 
zuständen, Degenerierte mit Psychosen vom Bilde des Ganserschen Symptomen- 
komplezes und um degenerierte mit paranoiden Zustandsbildern. Dies ist die 
wichtigste von allen Gruppen, die sich übrigens kombinieren können. Allen gemein¬ 
sam ist der degenerative Einschlag, und sie unterscheiden sich durch progressive 
Wahnbildung, die von äußeren Umständen abhängig ist und durch sie beeinflußt 
werden kann (Labilität der degenerierten Psyche) und nicht zur Verblödung führt, 
von den Psychosen nicht Degenerierter. Für die Diagnose ist es wichtig, den ganzen 


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Wendenburg, Gerichtliche Psychopathologie. 51* 

Lebensgang ins Auge zu fassen und die Entwicklung der Persönlichkeit. Die Prognose 
ist günstig, die meisten können dem Strafvollzug zurückgegeben werden. 

Die Besonderheit der Grenzfälle mit ihrer pathologischen Charakter¬ 
anlage fordert nach Birnbaum (4) besondere Berücksichtigung einiger Punkte 
bei ihrer forensischen Beurteilung. Das erste betrifft die Feststellung eines abnormen 
Gefühlslebens bei solchen Personen, der zweite die Berücksichtigung des raschen 
Wechsels, der Labilität ihres Geisteszustandes, drittens muß man das Verhältnis 
der Strafhandlung zur psychischen Eigenart des Täters berücksichtigen. 

Birnbaum (3) erörtert zunächst allgemein den Begriff Wille und Willens¬ 
schwäche, ihre Grundlagen und ihre Äußerungen. Sodann befaßt er sich mit 
der pathologischen Willensschwäche bei einzelnen Krankheiten und bei verkehrter 
Erziehung. Die für den Juristen sehr wissenswerten Erscheinungen der Willens¬ 
schwäche bei den psychischen Grenzzuständen werden eingehend erörtert, ebenso 
die bei Geisteskranken und Schwachsinnigen bei Alkoholisten und Morphium¬ 
süchtigen vorkommenden Formen. 4 

Von den Ergebnissen der eingehenden Untersuchungen, welche Viemstein (76) 
an den Züchtlingen zu Kaisheim gemacht hat, ist besonders bemerkenswert 
die Ziffer der Belasteten (mit Geisteskrankheit und Alkoholismus etwa 40%, mit 
Tuberkulose etwa 25%) und der früh kriminell Gewordenen. Von 216 Untersuchten 
waren 118 vor dem 18. und von diesen 118 wieder 66, also die Hälfte, vor dem 
18. Lebensjahre mit dem Strafgesetz in Konflikt geraten. Die überwiegende Zahl 
der Züchtlinge war körperlich schwächlich und mit allerhand Gebrechen behaftet, 
Geisteskranke fanden sich selten, Psychopathen sehr häufig unter ihnen, namentlich 
Debile und moralisch Imbezille, aber auch alle anderen Formen. 

Heinicke (20) schildert einige der häufigsten Formen psychischer Erkrankung 
in der H a f t. Die anschauliche Darstellung wird Strafanstaltsbeamten und allen, 
die mit dem Strafvollzug zu tun haben, ein willkommener Behelf zur Erkennung 
psychischer Abnormitäten bei Strafgefangenen sein. 

Uber die Beziehungen zwischen Epilepsie und V erbrechen macht 
Veit (74) auf Grund von Untersuchungen am Wuhlgartener Krankenmaterial 
folgende Angaben. Von 687 epileptischen Männern waren 320, von 499 Frauen 
30 und von 87 Kindern 6 bestraft, während in den Anstalten Dalldorf, Buch und 
Herzberge sich unter 2231 Männern nur 860 und unter 1817 Frauen 106 fanden, 
die mit dem Strafgesetz in Konflikt gekommen waren. Die meisten Verbrechen 
und Vergehen waren von den Alkoholepileptikern begangen. 70 von 128 Alkohol¬ 
epileptikern waren mehr als 10 mal bestraft, aber auch 20, 30 und 40 mal Bestrafte 
fanden sich darunter. Sehr häufig war bei allen Epileptikern Diebstahl und Unter¬ 
schlagung, Arbeitsscheu, Obdachlosigkeit und Betteln, Körperverletzung, Be¬ 
leidigung und Widerstand, dagegen fanden sich wenig Sittlichkeitsverbrecher 
unter ihnen. Die Fürsorgezöglinge bildeten auch unter den Wuhlgartener Pfleg¬ 
lingen eine besonders unangenehme Gruppe, ihnen nahe standen die Affektepileptiker 
in bezug auf Kriminalität. Verblödete Epileptiker werden auch nicht selten zu 
Werkzeugen gesunder Verbrecher. Zwei Kriminelle, die im übrigen geisteskrank 
waren, versuchten Anfälle zu simulieren, also eine verschwindende Zahl gegen den 

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52* Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 

Bestand von 1286. Alles in allem werden die Epileptiker sehr häufig und sehr früh 
straffällig, die Alkoholepileptiker stehen inbezug auf Kriminalität an der Spitze. 
Die gefährlichsten Verbrechen werden nicht von Leuten mit vielen und schweren 
Anfällen begangen, sondern von solchen, die hauptsächlich an psychischen, epi¬ 
leptischen Veränderungen und selten an Krämpfen leiden. 

Von vorübergehenden körperlichen Veränderungen naeh epileptischen Krampi¬ 
anfällen beobachtete Buchbinder (6) mehrfach Fieber bis 39,6*, das in einem Falle 
so lange anhielt, wie ein postparoxysmaler Verwirrungszustand und nicht selten 
bei verhältnismäßig niedriger Pulszahl (60 bei 38*) auftrat. Es trat auch öfter 
nach Einzelanfällen auf; einmal, im sekundären Stadium der Syphilis, trat Fieber 
mit einer Serie von Krampfanfällen auf und verschwand nach spezifischer Kur 
ebenso wie die Krämpfe dauernd. Beulen fanden sich am Hinter- und Vorderkopf 
gleich häufig, selten Kratzwunden im Gesicht, ein Musketier bekam vom Kragen 
eine Schnürfurche, als der Hals im Anfall schwoll. Ekchymosen finden sich oft 
besonders lange im Gehör^ang und auf dem Trommelfell. Besonders interessant 
ist die Beobachtung B.s, daß die Pupillenreaktion nieht immer aufgehoben zu 
sein braucht, vielmehr abhängig ist von der Stärke der angewandten LichtqueDe, 
manchmal blieben die Pupillen während des ganzen Anfalls eng oder sie waren 
ungleich weit, fast immer kehrte die Lichtreaktion vor dem Bewußtsein wieder. 

Der Arbeit von v. Gruber und Rüdin (13) sei hier kurz Erwähnung getan, 
da sie das Wichtigste und alles Neue auf dem Gebiete der Bassenhygiene 
enthält und die Bedeutung der Vererbung in helles Licht rückt. 

Über die Nachkommen eines Trinkers berichtet H. Richter (50). 
Von 6 Kindern wurde der älteste Sohn Trinker und gefürchteter Schwerverbrecher, 
die Tochter Prostituierte, der dann folgende Sohn verfiel in späteren Jahren ebenfalls 
dem Trünke, er erschlug seine Frau und seinen idiotischen Sohn. 

Huwali (24) faßt in einem sehr interessanten Artikel über die forensische 
Bedeutung der Familienähnlichkeit alles zusammen, was dem Gut¬ 
achter an sicheren Merkmalen zur Beurteilung dieser Frage zur Verfügung steht. 
Mehr als ein Wahrscheifilichkeitsurteil kann man freilieh heutzutage über diesen 
Punkt noch nicht abgeben. Es ist zu hoffen, daß uns die Zukunft weitere Aufschlüsse 
über die Frage bringt, die nicht selten große praktische Wichtigkeit erlangen kann. 
Man denke nur an den Kwilecki-Prozeß. 

Die juristisch-psychiatrischen Grenzfragen bringen einige sehr interessant» 
Abhandlungen, unter denen ich die von Salgo (b7) über Willensentschließung und 
Rechtspraxis und die von Obersteiner (67) „der Geisteskranke und das Gesetz 
in Österreich in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ besonders hervorheben 
möchte. Den Gerichtsarzt und den Juristen wird die eingehende Behandlung, 
die Wilhelm (83) der Beseitigung der Zeugungsfähigkeit angedeihen läßt, besonders 
interessieren, da ja in heutiger Zeit die Technik der Sterilisierung namentlich durch 
die Vasektomie große Fortschritte gemacht hat. Ein zweiter Artikel von Wilhelm (83) 
behandelt die künstliche Zeugung beim Menschen in ihrer Beziehung zum Recht, 
es wird vielleicht in Zukunft von praktischer Wichtigkeit werden. 


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. Wendenburg, Gerichtliche Psychopathologie. 


53* 


Amnesie kann nach Heine (19) bei sehr verschiedenen Krankheitsformen 
Vorkommen. Er teilt aus der Literatur (116 Nummern) einschlägige Fälle mit und 
kommt zu dem Resultat, daß Amnesie unter Umständen der einzige Hinweis auf 
vorhergegangene Bewußtseinsstörung sein kann. Sie ist wichtig für die Diagnose 
Dämmerzustand, darf aber wegen der Gefahr der Simulation nur in Gemeinschaft 
mit anderen Symptomen dafür verwandt werden. Handlungen im Zustande ein¬ 
facher Amnesie sind nach §61 straffrei, bedingen keine Verantwortlichkeit zum 
Schadenersatz nach §827 BGB. und Willenserklärungen, die in einem solchen 
Zustande abgegeben sind, müssen als nichtig nach § 106 BGB. angesehen werden. 
Handlungen in einer Zeit, für die retrograde Amnesie besteht, sind in jeder Weise 
verantwortlich, Zeugenaussagen über Vorgänge, die in Zuständen einfacher oder 
retrograder Amnesie wahrgenommen sind, sind mit Vorsicht zu verwerten. Schwere 
Formen der anterograden Amn esie können auch die Testierfähigkeit aufheben, 
sowie die Identifikation von Personen erschweren. 

Bei fortgesetzten Besudelungen darf man nicht ohne weiteres annehmen, 
daß sie von Geisteskranken ausgeführt sind. Manchmal besudeln auch Geistes¬ 
gesunde ganz planmäßig Gegenstände oder Liegenschaften, um sich Vermögens¬ 
vorteile zu verschaffen. Einen solchen Fall teilt Liebemann von Sonnenberg (34) 
mit, dem er einen zweiten hinzufügt, bei dem die Täterin allerdings psychopathisch 
gewesen zu sein scheint. 

E. Meyer und G. Puppe (43) betrachten das Aliensteiner Drama als das 
Resultat psychischer Infektion zwischen zwei psychopathischen Persönlichkeiten. 

Linke (36) berichtet über einen psychopathischen und an chronischer Ver¬ 
rücktheit leidenden Verbrecher, der schon 6 mal nach Österreich ausgewiesen, 
dort in Anstaltsbehandlung genommen, aber immer bald wieder entlassen war 
und der sein Verbrecherleben von neuem aufgenommen hatte. 

Den früher mitgeteilten Fällen von Diebstählen infolge Zwangsvorstellungen 
fügt Gudden (16) einen neuen Fall an. Er betrifft eine Dame der Gesellschaft, die 
in Geschäften Sachen entwendete (an einem Tage in nicht weniger als 6 Geschäften); 
sie wollte stehlen lernen, weil sie fürclftete, der österreichische Staat, bei dem sie 
ihr Geld angelegt hatte, könnte Bankerott machen. Freisprechung in der zweiten 
Instanz, entsprechend dem ärztlichen Gutachten. (Emst ScÄutee-Greifswald.) 

Ein Mann hatte ip Gemeinschaft mit seiner Schwiegermutter seine hysterische 
Ehefrau auf deren Verlangen getötet und zwar hatte er sie vergeblich durch Er¬ 
schießen, Erstechen und Pulsaderaufschneiden zu töten versucht, aber schließlich 
durch Erhängen vom Leben zum Tode gebracht. Schütze (66) macht an der Hand 
des Falles darauf aufmerksam, wie viel und wie schwere Verletzungen ein Mensch 
vertragen kann. 

Slorfer s (69) kleine Schrift über die Sonderstellung des Vatermörders bringt 
viele entwicklungsgeschichtliche Angaben über die Grundlagen des Vater- 
m o r d e s , schildert seine ökonomischen und psychologischen Wurzeln, wobei 
auch Freudsche Theorien herangezogen werden, und beschäftigt sich zum Schluß 
mit dem paricidium der Römer und der bei ihnen üblichen Tiersyrabolik bei Be¬ 
strafung des Vatermörders. 


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54* Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 

Hahn (17) teilt das Gutachten über einen Erpresser mit, der außer 
einigen hysterischen Stigmen nichts Krankhaftes bot, bei dem die Tat aber in einen 
solchen Gegensatz zu seinem bisherigen Lebenswandel stand, daB dem Richter 
Bedenken aufstiegen, ob der Angeklagte zurechnungsfähig sei. Da die Handlung 
einem plötzlichen Impulse entsprungen war, hielt H. bei dem Vorhandensein hysteri¬ 
scher Stigmen die Möglichkeit einer krankhaften Störung der Geistestätigkeit für 
vorliegend. Das Gericht sprach den Angeklagten frei. 

Eine tuberkulöse 20 jährige Bettnässerin war von ihrem Arzte mehrfach mit 
Hypnose zur Beseitigung der Enuresis behandelt und gestand eines Tag« 
ihrem Beichtvater, daß der Arzt sie im Zustande der Hypnose geschlechtlich mi߬ 
braucht hätte. Schrenck-Nolzing (62), der zur Begutachtung herangezogen wurde 
gab sein Gutachten dahin ab, daß es sich in diesem Falle wohl mit Sicherheit u& 
lascive Träume einer Tuberkulösen gehandelt hätte. Das Verfahren wurde eic- 
gestellt. Der Fall mahnt zur allergrößten Vorsicht gegenüber hysterischen nnc 
psychopathisch veranlagten Personen, die man, wenn überhaupt, nur in Gegenwar 
von Zeugen hypnotisieren und behandeln soll. 

Die japanische Rückfallstatistik unterscheidet sich nact 
Makino (40) nicht von der europäischen, trotzdem Sitten, Gewohnheiten und wirt¬ 
schaftliche Zustände hier und dort ganz verschieden sind. Die Zahl der Rück¬ 
fälligen wächst in Japan mehr und mehr, die kurzen Freiheitsstrafen zeigen sieb 
ihnen gegenüber machtlos. Bei den Jugendlichen hat sich Strafaufschub uni 
Anklageaufschub — ein japanischer Rechtsusus — gut bewährt. Die Erfolge d« 
Fürsorge für entlassene Jugendliche, die etwa unserer Fürsorgeerziehung entspricht, 
sind noch nicht eindeutig. 


IV. Zivilrechtliche Psychiatrie. Psychologie 

der Aussage. 

1. Bolle (Bremen), Geistesstörung bei Dercumscher Krankheit. 

Ärztl. Sachv.-Ztg. Nr. 1. (S. 57*.) i 

2. Crasetnann, Edgar, Berufs Vormundschaft und die volljähriges | 

geistig Minderwertigen, unter besonderer Berücksichtigung 
des Schutzes der menschlichen Gesellschaft vor den Un-j 
sozialen. Mtschr. f. Kriminalpsych. u. Strafrechtsref. Jahrg. 8 ,; 
H. 8, S. 465 ff. (S. 57*.) 

3. Keferstein, Ablehnung der Entmündigung bei einem wegen 

chronischer Verrücktheit pensionierten Beamten. Ztschr. 
f. med. Beamte Jahrg. 24, Nr. 7. (S. 56*.) j 

4. van Erp Taalman Kip, M. J. (Arnheim, Holland), Ein Novum 

im Strafrecht. Mtschr. f. Kriminalpsychol. u. Strafrechtsref 
Jahrg. 8, H. 3, S. 143. (S. 58*.) j 


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Wendenbarg, Gerichtliche Psychopathologie. 


55* 


5. Lambrami, R., In causa d’annullamento di matrimonio per im- 

potenza virile funzionale. Rivista Sperimentale di Freniatria 
vol. XXXVII, p. 384—406. 

6. Mach (Bromberg), Die Eheanfechtung und Ehescheidung wegen 

Geisteskrankheit seit Inkrafttreten des BGB. in Deutschland. 
Vjhrschr. f. gerichtl. Med. u. öffentl. Sanitätsw. Bd. 41, 
H. 2, S. 229. (S. 56*.) 

7. Maier, Hans W., Kasuistische Beiträge zur Psychologie der Aus¬ 

sage vor Gericht. Mtschr. f. Kriminalpsychol. u. Straf- 
rechtsref. Jahrg. 8, H. 8, S. 480 fl. (S. 57*.) 

8. Pfeiffer , Hermann , Ärztliches zur Ehereform. H. Groß’ Archiv 

Bd. 42, H. 3 u. 4, S. 193 ff. 

9. Raecke (Frankfurt a. M.), Entmündigung wegen Imbezillität. 

Friedreichs Bl. f. gerichtl. Med. (S. 55*.) 

10. Raecke (Frankfurt a. M.), Aktengutachten über den Geistes¬ 

zustand eines inzwischen verstorbenen Alkoholisten. Vjhrschr. 
f. gerichtl. Med. u. öffentl. Sanitätsw. Bd. 42, H. 1. (S. 67*.) 

11. Schouten, H. «/., Ein wegen Zeugenaussage merkwürdiger Fall 

aus der alten niederländischen Kriminalgeschichte. H. Groß 
Archiv Bd. 41, H. 1 u. 2, S. 67 ff. 

12. Seidel, Johannes, Kinder als Zeugen im Strafprozeß. Mtschr. f. 

KriminalpsychoL u. Strafrechtsref. Jahrg. 7, H. 11/12, 
S. 679 ff. (S. 58*.) 

13. Sturm, Zur Lehre vom psychologischen Beweise im Zivil- und 

Strafverfahren. Mtschr. f. Kriminalpsychol. u. Strafrechtsref. 
Jahrg. 8, H. 9, S. 566 ff. (S. 58*.) 

14. Tamburini, A., Questioni medico-forensi relative alla Paralisi 

generale progressiva specialmente in relazione alla capacitä 
di testare. Rivista Sperimentale di Freniatria vol. XXXVII, 
p. 456-480. (S. 57*.) 

15. ThomaUa, R., Eine merkwürdige Entmündigung. Ztschr. f. med. 

Beamte Jahrg. 24, Nr. 13. (S. 56*.) 

16. Varendonck, M. «/., Les temoignages d’enfants dans un proces 

rotentissant. Arch.de Psycholog. 1911 Bd. 11, S. 29. 

Raecke (9) hebt hervor, daß die berechtigte Forderung Crame rs, man sollte 
alle schwachsinnigen Fürsorgezöglinge bei Eintritt der Volljährigkeit 
entmündigen, häufig deshalb unerfüllt bliebe, weil die zur Begutachtung 


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56* Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 

herangezogenen Ärzte außerstande wären, die Symptome leichteren Schwachsinns 
gerade richtig zu erkennen und in ihren Folgen für dieGeschäf tsfähigkeit zu würdigen. 
Er teilt dann ein Gutachten über eine schwachsinnige 21 jährige Person mit, die 
überall gescheitert war und lebhafte unsoziale Neigungen hatte. Er kam im Gegen¬ 
satz zu den Vorgutachten zu der Ansicht, daß die Person geistesschwach im Sinne 
des § 6 des BGB. wäre. Die abweichenden Anschauungen der Vorgutachter wären 
dadurch zustande gekommen, daß sie sich durch die verhältnismäßig guten Ge¬ 
dächtnisleistungen der Person darüber hatten täuschen lassen, daß bei ihr große 
Mängel der Urteilsfähigkeit bestanden. 

Thomalla (15) wurde in einem Anfechtungsverfahren gegen Entmündigung 
als Sachverständiger gehört. Es handelte sich um ein 21 jähriges Mädchen, einen 
früheren Fürsorgezögling, der sich nach der Entlassung aus der Fürsorgeanstalt 
gut geführt hatte und keine Spur von Schwachsinn aufwies, während ein Zeugnis 
des Anstaltsarztes sie für schwachsinnig erklärt hatte. Die Entmündigung wurde 
aufgehoben. Th. verlangt unter Hinweis auf den Fall, daß zu Entmündigungs¬ 
gutachten nur unabhängige und entsprechend vorgebildete Ärzte als Gutachter 
herangezogen werden sollten. 

Ein Staatsbeamter, der seinen Dienst immer einwandsfrei getan hat, mußte • 
wegen Paranoia pensioniert werden, da ihm als Geisteskranken die Ver¬ 
antwortlichkeit für seine Handlungen fehlte. Ein von der Staatsanwaltschaft 
eingeleitetes Verfahren auf Entmündigung kam nicht zum Abschlüsse. Denn wie 
Keferstein (3) mitteilt, wurde festgestellt, daß der Untersuchte zwar geisteskrank 
wäre, aber trotzdem den größten Teil seiner Angelegenheiten zu besorgen ver¬ 
möchte. 

t;. Mach (6) gibt eine Zusammenstellung von Entscheidungen der Gerichte 
auf dem Gebiete der Eheanfechtung und Ehescheidung wegen 
Geisteskrankheit seit Inkrafttreten des BGB., er bringt auch die einschlägigen 
Gesetzesparagraphen mit Kommentaren der juristischen und medizinischen Begriffe. 
Der Ausfall der einzelnen Entscheidungen war im wesentlichen von der Auslegung 
des Begriffes „geistige Gemeinschaft“ abhängig und deshalb keineswegs gleichartig. 
Die einen verlangten zur Aufhebung der geistigen Gemeinschaft „völligen geistigen 
Tod“ des kranken Ehegatten, die anderen, und das ist die Mehrzahl, bestritten, 
daß dieser Grad der Störung notwendig wäre, doch stimmten fast alle Entscheidungen 
darin überein, daß das bloße Bewußtsein von dem Bestehen des ehelichen Bandes 
noch keine geistige Gemeinschaft bedeute. Eine Entscheidung sprach sich auch 
dahin aus, daß die bloße Möglichkeit einer Besserung der Psychose nicht genüge, 
um eine Ehe weiter bestehen zu lassen, es müssen vielmehr reale Anhaltspunkte 
vorhanden sein, aus denen man auf die Möglichkeit einer baldigen Besserung 
schließen kann. Diese Entscheidung ist vom Reichsgericht aufgestellt. Der § 1586, 
aus dem die Möglichkeit einer Ehescheidung wegen Trunksucht hergeleitet werden 
kann, leistet nicht das, was im medizinischen Sinne vom BGB. für die Ehegatten 
und für die Nachkommenschaft gefordert werden muß. Zur Ehescheidung ist 
erforderlich, daß die Trunksucht beharrlich und z. Z. der Klageerhebung vorhanden 
gewesen ist, außerdem muß der Trunksüchtige für die Zerrüttung der Ehe durch 


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Wendenbarg, Gerichtliche Psychopathologie. 57* 

seine Trunksucht verantwortlich sein. Bei angeborener Minderwertigkeit ist dies 
z. B. nicht der Fall und die Ehe kann nicht geschieden werden. 

Crasemann (2) wünscht für ganz Deutschland eine allgemeine, staatliche 
Berufsvormundschaft für die geistig Minderwertigen, die sich im Leben 
nicht behaupten können, um ihrer selbst willen oder im Interesse der Gesellschaft 
einer besonderen, sachgemäßen Aufsicht bedürfen. Zur Einsetzung einer solchen 
Vormundschaft für die geistig Minderwertigen genügt vollko mm en § 6 BGB., die 
Überweisung solcher Entmündigten muß stets an die Berufsvormundschaften 
erfolgen, zu deren Organisation Cr. ausführliche Vorschläge macht. 

Ein sehr instruktives Aktengutachten über den Geisteszustand 
eines verstorbenen Alkoholisten veröffentlicht Raecke (10). Er betont, daß ein 
derartiges Gutachten zu den schwierigsten und undankbarsten Aufgaben der foren¬ 
sischen Psychiatrie gehört Die in den Akten enthaltenen Zeugenaussagen sind oft 
wertlos, weil sie zu unbestimmt sind oder oft einander widersprechen. Es ist deshalb 
oft unmöglich, den Nachweis einer geistlichen Störung, und auf diesen ko mm t 
es an, wenn es sich um die Giltigkeit eines Rechtsgeschäfts handelt, zu führen, 
und wenn das gelingt, so ist oft der zweite notwendige Nachweis, nämlich daß die 
geistige Störung so hochgradig war, daß sie die freie Willensbestimmung ausschloß, 
unmöglich. Gerade bei diesen Gutachten ist es besonders notwendig, daß der Sach¬ 
verständige zum Ausdruck bringt, auf Grund welcher Zeugenaussagen er zu den 
einzelnen Ergebnissen gelangt ist, und er darf sich nicht verleiten lassen, etwas mit 
Bestimmtheit zu behaupten, was sich nicht überzeugend dartun läßt. Für die Art 
und Weise, wie man in diesen Fällen zu verfahren hat, ist das mitgeteilte Gutachten 
ein gutes Beispiel. Es handelte sich um einen Potator, der an Leberzirrhose und 
Wassersucht gestorben war. Er hatte eine Lebensversicherungspolize zurück¬ 
gekauft ohne ersichtlichen Grund. Verschiedene Zeugenaussagen und ein Attest 
des Hausarztes machten es wahrscheinlich, daß der Begutachtete an Verfolgungs- 
ideen gelitten hatte. Diese wurden aber später durch andere Zeugenaussagen wieder 
unwahrscheinlich gemacht, und das Gericht wies die Klage auf Anfechtung des 
Rückkaufs ab. 

Bolle (1) beobachtete einen Mann, der an Derkumachei Krankheit litt. Die 
Derkumache Krankheit äußerte sich durch symmetrisch sitzende, schmerzhafte 
Fettgeschwülste, Gelenkveränderungen, Kopfschmerzen, Ohnmächten, profuse 
Schweißausbrüche und Verblödung. Im vorliegenden Falle kam noch chronischer 
Alkoholismus hinzu, auch Krämpfe wurden beobachtet. Der Patient hatte ein 
Testament gemacht, das von den Kindern angefochten wurde. B. kam zu 
der Ansicht, daß er nicht geschäftsfähig gewesen wäre, als er vor 2 Jahren das 
Testament abfaßte. 

Tomburini (14) untersucht die Testierfähigkeit der Para¬ 
lytiker und beschäftigt sich in seiner Arbeit auch mit dem schwierigen Kapitel 
der Beurteilung der Testierfähigkeit Paralytischer nach deren Tode. 

Zwei lehrreiche Fälle zur Psychologie der Aussage teilt B. W. 
Maier (7) mit. Im ersten hatte ein schwachsinniges 16% jähriges Mädchen an¬ 
gegeben, sie wäre von einem alten Mitbewohner ihres Hauses geschwängert, der 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


daraufhin verurteilt wurde. Nach einigen Jahren stellte sich heraus, daß der eigene 
Vater Blutschande mit seiner Tochter getrieben hatte und ihre frühere Angabe 
unter dem Drucke von Drohungen seitens des Vaters zustande gekommen war. 
Alle Leute, die sich mit sog. gesunden Menschenverstände über den Fall geäußert 
hatten, hatten der schwachsinnigen Zeugin und ihrem Vater das beste Zeugnis 
ausgestellt. Der zweite Fall berichtet, über einen Hebephrenen, der 
in der Remission zwischen zwei Schüben seiner Krankheit behauptete, er hätte 
nur simuliert. Er wurde dementsprechend verurteilt, erkrankte aber schon wenige 
Tage nach seinem Strafantritt aufs neue mit katatonischen Symptomen. 

Einen sehr schönen zusammenfassenden Bericht über Kinder als Zeugen 
im Strafprozeß liefert Seidel (12). Er bringt alles, was auf diesem Gebiet 
an praktischen und experimentellen Erfahrungen vorliegt, und macht auch prak¬ 
tische Vorschläge, wie man Kinder als Zeugen vernehmen soll. Sturm (13) gibt 
theoretische und praktische Anweisungen zur Erhebung des psychologischen Be¬ 
weises im Zivil- und Strafverfahren, die den Richter mehr interessieren als den 
Sachverständigen, aber auf naturwissenschaftlichen Anschauungen aufgebaut sind. 

E. T. Kip (4) teilt ein Novum aus der holländischen Strafrechtspflege mit. 
das besonders die Bedeutung der Möglichkeit auch Zeugen psychiatrisch 
untersuchen zu können in helles Licht rückt. Ein Arbeiter hatte gegen 
zwei Gendarmen die Beschuldigung erhoben, sie hätten ihn mißhandelt. Ein Proze߬ 
agent nimmt sich seiner an, und schließlich entsteht ein großer Prozeß aus der 
Sache, bei dem es zu schweren Anschuldigungen gegen die Gendarmen kommt. 
Nach den Untersuchungen von Kvp ist es nun aber wahrscheinlich, daß der Kläger, 
ein Schwachsinniger, und sein Prozeßagent, ein Querulant, die ganzen Beschul¬ 
digungen rein aus krankhaften Motiven erhoben hatten. 

V. Irrenrecht. Verwahrungsmaßnahmen. Für¬ 
sorgeerziehung und Psychiatrie. 

1. Arango y de la Luz, Fr., Organizacion del servicio de locos crimi- 

nales en Cuba. Kevista frenopätica Espafiola no. 106, p. 298. 

2. Bericht über die Verhandlungen des Ersten Bayerischen Jugend¬ 

fürsorge- und Zwangserziehungstages am 20. 21. und 
22. Juni 1911 in München. 96 S. 2 M. München 1911, Verlag 
von Ph. L. Jung. (S. 62*.) 

3. Bührer, Irrenanstalten und Strafrecht nach dem Vorentwurf zu 

einem deutschen Strafgesetzbuch. Mtschr. f. Kriminal- 
psychol. u. Strafrechtsref. Jahrg. 8, H. 8, S. 505 ff. (S. 61*.) 

4. Freudenthal, B., Die Aufenthaltsbeschränkung im Vorentwurf 

zu einem deutschen Strafgesetzbuch. Mtschr. f. Kriminal- 
psychol. u. Strafrechtsref. Jahrg. 8, H. 3, S. 132 ff. 

5. Freymuth, Sind die in Irrenanstalten untergebrachten Geistes- 


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Wendenburg, Gerichtliche Psychopathologie. 


59* 


kranken Gefangene im Sinne der §§ 120 und 121 StGB. 
Ztschr. f. Versieh. Med. Nr. 7. 

6. Fürstenheim, W., Zur Frage der gesetzlichen Fürsorge für geistig 

schwächliche und kränkliche Kinder. Ztschr. f. d. Erforsch, 
u. Behandl. d. jugendl. Schwachsinns Bd. IV, H. 5—6, 
S. 485. (S. 61*.) 

7. Horstmann (Stralsund), Zur psychiatrischen Beurteilung der 

Jugendlichen. Ärztl. Sachv.-Ztg. Nr. 4, S. 79. 

8. Hudovemig, C. (Budapest), Der Entwurf des neuen ungarischen 

Irrengesetzes (von Otto Freiherrn von Babarczi-Schwartzer). 
Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. Bd. 4, H. 4, S. 494. (S. 60*.) 

9. Jaquelier et Füassier, La jurisprudence des tribunaux en matiere 

de divorce et d’aliönation. Ann. m6d.-psychol. no. 1, p. 91. 

10. Köhne (Berlin), Berichtigung betr. Fürsorgeerziehung. Psych. - 

neurol. Wschr. Jahrg. 12, Nr. 48, S. 450. 

11. Lagriffe, L. (Auxerre), Quelques considörations sur l’assistance 

des aliönös et sur le projet de rßforme de la loi du 30. VI. 1838. 
Ann. möd.-psychol. 69 e annöe, no. 2, p. 243. 

12. de la Luz, F. A., Organizacion del servicio de locos criminales 

en Cuba. Rivista Frenopätica Espanola no. 106, p. 298. 

13. Major , Gustav (Zirndorf), Fürsorgeerziehung und Heilpädagogik. 

Ztschr. f. Psychother. u. med. Psychol. Bd. III, H. 4, S. 193. 
(S. 62*.) 

14. Mönkemöller, 0. (Hildesheim), Die geistigen Abnormitäten bei 

schulpflichtigen Fürsorgezöglingen und ihre Behandlung. 
Ztschr. f. Erforsch, u. Behandl. d. jugendl. Schwachsinns 
Bd. VI, H. 5—6, S. 431. (S.62*.) 

15. Näcke, P., Die Notwendigkeit ärztlicher Leitung an Defekten- 

anstalten (Anstalten für Idioten, Schwachsinnige, Epileptiker, 
Taubstumme, Fürsorgezöglinge usw.). H. Groß’ Archiv 
Bd. 41, H. 1 u. 2, S. 88 ff. (S. 61*.) 

16. Obersteiner, H., Der Geisteskranke und das Gesetz in Österreich. 

Jur.-psych. Grenzfr. Bd. 7, H. 5. 1 M. Halle, C. Marhold. 

17. RoMe, Wann muß eine Trinkeranstalt und besonders eine Irren¬ 

anstalt einen gegen seinen Willen festgehaltenen Trinker 
entlassen? Mtschr. f. Kriminalpsychol. u. Strafrechtsref. 
Jahrg. 8, H. 1, S. 1 ff. (S. 61*.) 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


18. Schnitzer, Hubert, Bericht über das Ergebnis der psychiatrisch- 

neurologischen Untersuchung und Behandlung der Fürsorge¬ 
zöglinge in den Erziehungsanstalten Züllchow, Warsow und 
Magdalenen-Stift bei Stettin. Sonderabdruck aus der Ztschr. 
f. d. Erforsch, u. Behänd! d. jugendl. Schwachsinns Bd. 5, 
S. 97 ff. Jena 1911. (S. 62*.) 

19. Schnitzer, H. (Stettin), Die Mitwirkung des Psychiaters bei der 

Fürsorgeerziehung. Ztschr. f. d. ges. NeuroL u. Psych. 
Bd. V, H. 1, S. 1. (S. 62*.) 

20. Schröder, P., Die geistig Minderwertigen und die Jugendfürsorge¬ 

erziehung. Ztschr. f. d. ges. NeuroL u. Psych., Sonderabdruck 
aus Bd. II! H. 5, S. 705 ff. (S. 61*.) 

21. Stooß, Karl, Zur Natur der sichernden Maßnahme. Mtschr. 1 

Kriminalpsycho! u. Strafrechtsref. Jahrg. 8, H. 6 «i. 7, 
S. 368 ff. 

22. Victor io, A. F. (Reus), Enfermedades, nerviosas y mentales y un 

aplndice conteniendo la legislacion referente a los alienados. 
467 S. Barcelona 1911, Manuel Marin. 

23. Weber, L. W. (Göttingen), Ist ein gemeingefährlicher Anstalts¬ 

kranker ein Gefangener im Sinne der §§ 120, 121 StGB.? 
Mtschr. f. KriminalpsychoL u. Strafrechtsref. Jahrg. 8, 
H. 2, S. 103. 

24. Wümanns, Karl (Heidelberg), Die praktische Durchführbarkeit 

der Bestimmungen über die verminderte Zurechnungs¬ 
fähigkeit im Vorentwurfe. Mtschr. f. Kriminalpsycho! u. 
Strafrechtsref. Jahrg. 8, H. 3, S. 136. (S. 61*.) 

25. Wynibow, N., Zur Frage der Fürsorge und Behandlung geistes¬ 

kranker Verbrecher. Revue f. Psych., Neuro! u. experim. 
Psycho! (russ.) H. 16. 

In Ungarn war das Irrenwesen bisher nur^ durch 6 Paragraphen des Gesetzes 
XIV vom Jahre 1876 geregelt. Die Paragraphen betrafen hauptsächlich die admini¬ 
strative Seite des Irrenwesens, das im übrigen durch eine Unzahl von Ministerial- 
verfügungen zu konkreten Fällen „geregelt“ war. Neuerdings ist nun ein Irren¬ 
gesetz von Barbaren -Schwärteer ausgearbeitet und im Entwurf vom Landes¬ 
sanitätsrat approbiert. Der Entwurf wird von Hudovemig (8) mitgeteilt, er umfahr 
104 Paragraphen in 12 Abschnitten. Der erste Abschnitt stellt fest, daß die Beauf¬ 
sichtigung des Irrenwesens eine staatliche Aufgabe ist, und daß die Bestimmungen 


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Wendenburg, Gerichtliche Psychopathologie. 61* 

des Gesetzes auf jede Form von Geisteskrankheit Anwendung finden sollen. Der 
zweite beschränkte die Anstaltsaufnahme lediglich auf die Gemeingefähriichen, 
während früher auch die Heilbarkeit ein Grund zur Anstaltspflege war. Der dritte 
Abschnitt bestimmt, dafi jede Lokalität oder Kolonie, die nicht zur Familie gehörige 
Geisteskranke pflegt, unter das Gesetz fällt, damit sich keine derartige Unter* 
nehmung der Aufsicht entziehen kann. Ferner soll der Direktor in jedem Falle 
ein Arzt sein, der über mindestens 2 jährige psychiatrische Vorbildung verfügt. 
Ihm untersteht das Pflegepersonal, dessen Annahme und Entlassung von ihm 
abhängt. Für je 10 Kranke muß ein Pfleger vorhanden sein. Der vierte Abschnitt 
unterscheidet zwischen Krankenaufnahme und -Übernahme; diese geschieht auf 
Grund ärztlicher Notwendigkeit, jene auf Gerichtsbeschluß. Ein Entmündigungs¬ 
verfahren braucht dazu nicht eingeleitet zu werden. Gegen den Beschluß kann 
Revision eingelegt werden. Bezirksgericht, Vormundschafts- und Aufsichtsbehörde * 
sind von der Übernahme binnen 24 Stunden zu benachrichtigen. Für die Ent¬ 
lassung gelten ähnliche Bestimmungen. Der siebente Abschnitt verfügt, daß nicht 
nur die in Anstalten befindlichen, sondern auch die in Familienpflege oder sonstwo 
untergebrachten Kranken der behördlichen Aufsicht unterstehen, über alle Kranken 
sind genaue Personalregister zu führen. Kriminelle Kranke sind von den anderen 
gesondert zu halten, geistig minderwertige in besonderen Anstalten unterzubringen, 
so lange der pathologische Zustand besteht und zu befürchten ist, daß sie die öffent¬ 
liche Ordnung stören. Im elften Abschnitt finden sich Strafbestimmungen für 
Vergehen gegen das Gesetz, der zwölfte enthält die Ausführungsbestimmungen. 

Auf Rohdes (17) juristische Ausführungen über die Entlassung von 
Trinkern aus Trinker und Irrenanstalten sei wegen ihrer Gründlichkeit und der 
Wichtigkeit des Themas besonders hingewiesen. 

Willmating (24) glaubt, daß sich bei der Verwahrung der gemindert 
Zurechnungsfähigen, wie sie der V.-E. vorsieht, nicht unerhebliche 
praktische Schwierigkeiten einstellen werden. Namentlich wird bei strenger An¬ 
wendung der betr. Paragraphen eine große Zahl von Minderwertigen in Verwahrung 
genommen werden müssen. 

Näcke (15) hält, unter dem Hinweis auf die traurigen Zustände des belgischen 
Irrenwesens, Personal, das einem geistlichen Orden angehört, nicht für Irren¬ 
anstalten geeignet. Er tritt ferner dafür ein, daß auch die Leitung der Defekteh- 
anstalten in ärztliche Hände gelegt wird. 

Bührer (3), ein Jurist, verlangt dringend rechtlichen Schutz gegen unge¬ 
rechtfertigte Einsperrung in Irrenanstalten. Den Beweis, daß 
solche Einsperrungen wirklich Vorkommen, führt er leider nicht. 

Fürstenheim (6) beklagt, daß Debile und Psychopathen weder durch das 
Gesetz vom 11. Juli 1891 noch durch das Fürsorgeerziehungsgesetz eine gesetzlich 
geregelte Fürsorge gefunden hätten, weil diese psychischen Krankheitszustände 
damals, als man diese Gesetze gab, noch nicht so genau bekannt gewesen wären. 
Er verlangt, daß diese Zu stände in Zukunft durch eine entsprechende Formulierung 
des F.-E.-G. berücksichtigt werden, damit auch sie der Heilerziehung unter mediko- 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


pädogischen Gesichtspunkten teilhaftig werden können. Der Erfolg der Erziehung 
würde die vermehrten Kosten reichlich aufwiegen. 

Der Bericht über den ersten bayerischen Jugendfürsorgetag i v 2i 
bringt mehrere sehr anregende Vorträge über die körperliche und geistige Ent- 
-wicklung und die Psychopathologie im Kindesalter von Seite, Isserlin und Rüdin. 
Auch die Erziehung jugendlicher Minderwertiger und die Asylbehandlung werden 
eingehend erörtert. 

Ein Vortrag Mönkemöüers (14), der besonders den Vorstehern und Lehren: 
an den Rettungshäusern das Verständnis für geistige Abnormitäten- 
bei schulpflichtigen Fürsorgezöglingen vermitteln sollte, hebt hervor, d&£ 
die Normalschule schon lange die geistigen Mängel der Schüler berücksichtigen ge¬ 
lernthätte, während die Schulen für Fürsorgezöglinge hierin noch nicht soweit wären. 

• Er schildert dann eingehend die bekannten krankhaften Veränderungen welche 
wir als Resultat der psychiatrischen Untersuchungen bei Fürsorgezöglingen in den 
letzten Jahren kennen gelernt haben und bespricht ihre Ursachen und ihre Behandlung. 

P. Schröder (20) hat 80 Minderjährige untersucht, bei denen das Gericht üb« 
■die Notwendigkeit der Fürsorgeerziehung entscheiden sollte. Die Hälfte 
von ihnen war noch nicht 13 Jahre alt, einzelne noch nicht einmal 6. 60% wäret 
schwachsinnig, viele erinnerten in ihren Handlungen, ihrer Stimmungslage und 
Unmoralität am chronisch Manische. 

Schnitzer (19), dessen Untersuchungen an Fürsorgezöglingen die bekanntet 
Resultate ergeben haben, tritt ebenfalls für stärkere Mitwirkung des 
Psychiaters bei der Fürsorgeerziehung ein. Sie hätte schon 
bei der Anordnung der F.-E. einzusetzen, damit für eine dem psychischen Zustande 
entsprechende Unterbringung Sorge getragen wird. Die Möglichkeit zu längerer 
Beobachtung in Adnexen von Irren- oder Erziehungsanstalten ist unbedingt not¬ 
wendig. Die Abnormen müssen von den Normalen oder leicht Abnormen strenr 
getrennt werden. Lehrer und Erzieher müssen in regelmäßigen Kursen mit der 
Psychopathologie vertraut gemacht werden. Geistig Abnorme sind nach Ablauf 
der F.-E. zu entmündigen. Anstalten, die keinen psychiatrischen Beirat haben, 
müßten durch Besuchskommissionen kontrolliert werden. Diesen Kommissionen 
muß ein Psychiater angehören. 

Schnitzer (18) berichtet ferner über die Untersuchungsergebnisse an pommer- 
schen Fürsorgezöglingen. Auch er kommt zu dem Resultat, daß der Prozentsatz 
der Abnormen erschreckend hoch (62%) ist und daß namentlich unter den Krimi¬ 
nellen sich besonders viel pathologische Naturen finden. Auch Major (13), der eine 
größere Zahl (178) von kriminellen und unerziehbaren Kindern auf psychische 
Abnormitäten untersucht hat, weist auf den hohen Prozentsatz der psychisch 
Abnormen (73%) unter ihnen hin und richtet an die maßgebenden Behörden den 
eindringlichen Appell, diese Tatsachen zu berücksichtigen und ihnen abzuhelfen. 

VI. Psychiatrie und soziale Gesetzgebung. 

1. Ascher , Selbstmord angeblich infolge von Sonnenstich. Ent¬ 
schädigung abgelehnt. Med. Klinik Nr. 32. (S. 67*.) 


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.Wendenburg, Gerichtliche Psychopathologie. 


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2. Ascher, Progressive Muskelatrophie-Armverletzung. Sonder¬ 

abdruck aus der ÄrztL Sachv.-Ztg. 1911 Nr. 14, S. 1 ff. 
(S. 68*) 

3. Becker, L., Die Bestimmung des Beginns der dauernden Erwerbs¬ 

unfähigkeit bei der Invalidenversicherung. Ärztl. Sachv.-Ztg. 
Nr. 19, S. 393. 

4. Bischoff, E. (Langenhorn), Über einen Fall von Starkstrom¬ 

verletzung. Die Restitutionsreihe der körperlichen und 
geistigen Störungen. Med. Klinik Nr. 28, S. 1080. (S. 68?.) 

5. Boldt, K. (Graudenz), Schwere hysterische Lähmung eine Züch¬ 

tigungsfolge? Ärztl Sachv.-Ztg. Nr. 14, S. 289. (S. 68*.) 

6. Bolten, Traumatische Neurose. Tydschr. voor Geneesk. no. 9. 

Ref.: Deutsche med. Wschr. Nr. 38, S. 1764. 

7. Bruch, Carl, Psychisches Trauma und Gehirnentzündung. Med. 

Klinik Nr. 24. (S. 68*.) 

8. Engelen (Düsseldorf), Simulation und Aggravation neurasthenischer 

Beschwerden. Ärztl. Sachv.-Ztg. Nr. 8, S. 158. (S. 67*.) 

9. Erben, S., Vorschläge zur Beurteilung und Behandlung der Unfall¬ 

neurosen. Wien. med. Wschr. Nr. 61, S. 2241. 

10. Glueck, B., Traumatic psychoses and post traumatic psychopatic 

States. Journ. of the Americ. med. Assoc. no. 13. 

11. Jolly, Ph. (Halle), Selbstmord nach Unfall. Ärztl. Sachv.-Ztg. 

‘ Nr. 15. (S. 67*.) 

12. Juliusburger , Otto (Steglitz), Über einen Fall von akuter auto- 

psychischer Bewußtseinsstörung, ein Beitrag zur Lehre von 
Kriminalität und Psychose. Zentralbl. f. Psychoanal S. 308. 

13. Kieman, J. 0. (Chicago), Forensic aspects of fright caused trau- 

matism. The alienist and neurol. 1911 vol. XXXII, no. 4, p. 642. 

14. Koppen, M., Zur Frage der Beurteilung des Selbstmordes in 

Versicherungsangelegenheiten. Charite Ann. XXXV. (S. 66*.) 

15. Kurthen, Jacob Theodor, Über atypische Unfallpsychosen und ihre 

unfallrechtliche Bedeutung. Inaug.-Diss. Bonn 1911. 

16. Laignel-Lavastme, Les troubles psychiques dans les accidents du 

travail. Paris Medical no. 48, p. 461. 

17. Leppmann, A. (Berlin), Die traumatischen Psychosen (und Neu¬ 

rosen) mit besonderer . Berücksichtigung der Unfallgesetz¬ 
gebung. Ztschr. f. ärztl. Fortbildung Nr. 22. (S. 64*.) 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


18. Mametschke (Breslau), Geisteskrankheit und Unfall. Med. Klinik 

Nr. 52, S. 2035. (S. 66*.) 

19. Placzeh , 8. (Berlin), Selbstmord, Geistesstörung, UnfalL Med. 

Klinik Nr. 49, S. 1910. (S. 66*.) 

20. Plaezek , S. (Berlin), Simulation von Geistesstörung und Schwer¬ 

hörigkeit. Med. Klinik Nr. 30, S. 1176. 

21. Plaezek (Berlin), Gutachtliche Seltsamkeiten. 36 S. 1 M. Leipzig. 

J. A. Barth. (S. 65*.) 

22. Räuber , Geisteskrankheit nach Entziehung der Invalidenrente. 

Ztschr. f. Versicherungsmed. Nr. 2. 

23. Reinhard , Ein Fall von Bentenkampfhysterie. Med. Klinik Nr. 36, 

S. 1400. 

24. Reinhard (Bautzen), Tod an delirium tremens als Unfallfolge 

anerkannt. Med. Klinik Nr. 40, S. 1558. 

25. Schnüer , E., Gliose des Gehirns und Schwachsinn; forensischer 

Fall, auf Grund der histopathologischen Untersuchungen 
entschieden. Sonderabdruck aus der Ztschr. f. d. Erforsch, 
u. Behandl. d. jugendl. Schwachsinns Bd. 4, S. 212 f. Jena 
1910. (S. 68*.) 

26. Zmgerle (Graz), Bemerkungen über Unfallneurosen. Mtschr. L 

Unfallhlk. Nr. 9. (S. 67*.) 

Das Trauma ist nach A. Leppmann (17) selten die alleinige U r • 
sache einer Psychose oder traumatischen Neurasthenie, es kommen fast 
immer noch andere Momente bei der Entstehung dieser Zustände in Frage, welche 
vom Arzt bei der Begutachtung als Mitursachen ip Rücksicht zu ziehen sind. Für 
den § 224 StGB. (Verfall in Geisteskrankheit nach Körperverletzung) ist es aller¬ 
dings nach einer Reichsgerichtsentscheidung gleichgültig, ob der Boden, anf den 
die Verletzung fiel, schon vorbereitet war oder nicht. Durch die soziale Gesetz¬ 
gebung des BGB., den Tierhalterparagraphen, das Haftpflichtgesetz für die Eisen¬ 
bahnen und die private Unfallversicherung kommt der Arzt nun häufig in die Lage, 
in zivilrechtlichen Prozessen sein Gutachten abgeben zu müssen. Da ist zunächst 
interessant, daß die Privatgesellschaften häufig durch Klauseln die Entschädigung 
für rein psychisch erzeugte Geistes- und Nervenkrankheiten, sog. Schreckpsychosen 
und Neurosen, ausschließen und ferner für Neurosen nur 60% der wirklichen Er¬ 
werbsbeschränkung entschädigen. Für die Entstehung von psychischen Krank¬ 
heiten durch Unfälle kommen zwei Momente hauptsächlich in Frage: die mechanische 
Erschütterung des Gehirns, die nicht immer durch Kommotionssymptome sich zn 
dokumentieren braucht, und der Schreck. Ein drittes Moment bilden die Folgen: 
Krankenlager, Schmerzen und Notlage, schließlich auch der Rentenhunger. Trau- 


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Wen den bürg, Gerichtliche Psychopathologie. 


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matische Psychosen können unter dem gewöhnlichen klinischen Bilde der primären 
Geistesstörungen verlaufen, sie können als primäre Demenz auftreten, ein Zustand, 
der wohl noch am meisten den Namen der traumatischen Demenz verdient, während 
es eine eigentliche traumatische Psychose nicht gibt, es können Dämmerzustände 
nach Traumen Vorkommen, es können aber auch sekundär alle möglichen Geistes¬ 
krankheiten sich einstellen, auch Katatonie und Hypochondrie und Paralyse. 
Nicht selten tritt nach Kopftraumen auch eine Veränderung der Psyche im Sinne 
seelischer Minderwertigkeit auf und schließlich folgt ihnen noch das Heer der trau¬ 
matischen Neurosen. Dies sind Zustände von reizbarer Schwäche des Nerven¬ 
systems, die gewöhnlich erst dann auftreten, wenn der Verletzte cliirurgisch geheilt 
ist und wieder ins Leben hinaustritt. Für die Schadenabschätzung gibt L. folgende 
Angaben: traumatische Psychosen 100%, Neurastheniker, die nicht zu schwerer 
Arbeit fähig sind, 33\'<%, solche, die nicht zu schwerer und mittlerer fähig sind, 
66‘/s%» und solche, die auch keine leichte Arbeit tun können, 100%. Die Prognose 
ist unsicher, namentlich in höherem Lebensalter. Häufig finden sich bei den Trau- 
matikern zahlreiche körperliche Degencrationszeichen. 

Der Arzt, der Placzeks (21) gutachtliche Seltsamkeiten liest, 
kommt aus dem Erstaunen nicht heraus. Gleichzeitig muß ihn aber das Gefühl 
der Beschämung überkommen, daß es in unserem Stande noch so viel Kollegen 
gibt, welche, um es gelinde auszudrücken, so wenig Ahnung von den Anforderungen 
haben, welche die soziale Gesetzgebung heute täglich an uns stellt. Der selbstver¬ 
ständlichen Forderung, daß die jeweilige Behandlungsart eines Unfallverletzten 
mit seinem sozialen Milieu, seinen bisherigen Lebensbedingungen und den darauB 
resultierenden Ansprüchen im Einklänge stehen soll, entspricht es doch gewiß nicht, 
wenn ein Arzt für einen Ingenieur mit 2600 M. Einkommen täglich eine Flasche 
Wein zu 4 M., Kaviar zum Frühstück und Abendbrot und einen täglichen Ver¬ 
pflegungssatz von 20 M. (notabene in der eigenen Häuslichkeit) für angemessen 
hält. Und was soll man dazu sagen, daß eine Telegraphengehilfin in 300 Tagen 
für 347 M. Schabefleisch, für 109 M. Milch, für 66 M. Eier, ferner Malzextrakt, 
Ananas u. dgl. verordnet werden, oder wenn jemand „einem kräftigen Manne mit 
reichlichem Fettpolster“ in 3 Jahren für 1166,84 M. Stärkungsmittel wegen „trau¬ 
matischer Ischias“ vorschreibt? Auch in der Verordnung von Badekuren wird 
unglaublich gesündigt, wenigstens erscheint die Verordnung einer Reise nach Kon¬ 
stantinopel ebenso seltsam, wie die Bescheinigung, daß ein Kaufmann Frau, Kind 
und Spreewälderin im teuersten Sanatorium um sich haben mußte, um genesen 
zu können. Alle diese angeführten Tatsachen geben zu denken, und es ist uns ein 
schwacher Trost, daß auch Nichtärzte irren können, wie Placzek weiter ausführt. 
Sehr beachtenswert ist noch, was er über die Beziehungen zwischen Paralyse und 
Nervosität mit Unfällen sagt, bei denen in den meisten Fällen die Gutachter wohl 
nur deshalb einen Zusammenhang annehmen müssen, weil der Nachweis fehlt, 
daß die Paralyse oder die Nervosität schon vor dem Unfall bestanden hat. Den 
Schluß des äußerst lesenswerten Werkchens bilden Beiträge zur Psychologie der 
Rentenbewerber und kritische Besprechungen der Symptome der Unfallneurasthenie, 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXIX« Lit. e 


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66* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


der Untersuchungstechnik und der Gepflogenheit, den Unfallverletzten die Gut¬ 
achten in extenso mitzuteilen, so daß sie sich danach einüben können. 

Eine sehr interessante Mitteilung über den Zusammenhang von Traanu 
und Psychose macht Marmetschke (18). Ein Maurer war 1906 etwa 4 m hoch 
.herabgestürzt, hatte sich am Halse und am Kopfe gequetscht, war auch weh 
vorübergehend bewußtlos gewesen, hatte aber nach kurzem Krankenlager die Arbe.t 
wieder aufgenommen und 3 Jahre lang gearbeitet. Er hatte dabei fast immer üb<: 
Kopfschmerzen geklagt und zuletzt auch Zeichen geistiger Veränderung geböte:. 
Er erhängte sich schließlich, wurde als unbekannt beerdigt, nach 14 Tagen exhumiert 
und obduziert. Die Sektion stellte am Gehirn die für Paralyse typischen Ver¬ 
änderungen fest, außerdem an dem linken, verletzten Stirnhöcker eine Knecher.- 
verdickung und Verwachsung mit der harten Hirnhaut. M. sprach sich auf Gm 
des früher erhobenen klinischen Befundes und nach dem Ergebnis der Sektion 
dahin aus, daß ein Zusammenhang der Paralyse mit dem Unfall wahrscheinM 
wäre, die Hinterbliebenen erhielten Rente, da das Suizid als eine mittelbare Fok? 
des Unfalles angesehen wurde. 

Vier interessante Gutachten über die Frage, ob ein Selbstmord durrt 
einen Unfall mittelbar oder unmittelbar veranlaßt wäre, teilt Koppen (14 1 
mit. In drei Fällen konnte der Suizid auf eine nach dem Unfall aufgetretene Geistes¬ 
störung zurückgeführt werden, im vierten hatte der Kranke nach dem Unfall Lungen- 
gangrän bekommen und war zum Fenster hinausgesprungen. Obwohl hier keiur 
Geisteskrankheit Vorgelegen hatte, glaubte K. doch, daß der Kranke unter einem 
besonderen Zwange gehandelt hätte, weil er unheilbar und durch den aashafttr 
Geruch des Auswurfs sich und anderen widerlich geworden wäre. In allen Gutachten 
hatte das Reichsversicherungsamt die Frage vorgelegt, ob eine die freie Willens- 
bestimmung ausschließende Unzurechnungsfähigkeit bestanden hätte. K. macht 
darauf aufmerksam, daß diese Frage für den Psychiater besondere Schwierigkeit^ 
enthält, weil der Begriff „Unzurechnungsfähigkeit“ weder juristisch noch ps\- 
chiatrisch ist. Dies hat seine Nachteile, die namentlich in der wenig präzisen Font 
des Ausdrucks liegen, aber auch seine Vorteile, weil dem Gutachter, wenn er über¬ 
haupt solche in Ausdrücken des täglichen Lebens gehaltenen Fragen beantwortet 
will, größere Bewegungsfreiheit bleibt in dem, was er als Unzurechnungsfähigkeit 
ansehen will und was nicht. Er kann nämlich Handlungen, die unter einem abnormen 
äußeren Zwange stehen, als unzurechnungsfähig ansehen, auch wenn der Nachweis 
einer Geisteskrankheit nicht geführt werden kann. Und dies ist kein Nachteil, 
da man einen Unfallkranken entschieden anders beurteilen muß wie einen Ver¬ 
brecher. 

Placzek (19) teilt ein Aktengutachten über einen Maurer mit, der durch ein 
Mauerstück an Kopf, Oberarm und Kreuz verletzt wurde, drei Monate nach dem 
Unfall einen Selbstmordversuch durch Erhängen machte und sich 
eine Woche danach wirklich erhängte. Es ließ sich feststellen, daß eine Melancholie 
Vorgelegen hatte, und da diese Krankheit sich unmittelbar an den Unfall angeschlossen 
hatte, kam PI. zu dem Gutachten, daß Unfall, Krankheit und Selbstmord in unmittel¬ 
barem, ursächlichem Zusammenhänge gestanden hätten. 


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Wendenburg, Gerichtliche Psychopathologie. 67* 

Ein Maurergeselle war von seinem Polier getadelt. Er verließ, ohne ein Wort 
zu sagen, seine Arbeit und erhängte sich. Die Witwe machte Ansprüche auf Hinter¬ 
bliebenenrente geltend, zuerst, weil der Verstorbene früher ein Kopftrauma erlitten 
hätte und seitdem nervenkrank gewesen wäre, später, weil er an dem Todestage 
einen Sonnenstich erlitten hätte und dadurch der Besinnung beraubt wäre. Ascher (1) 
kam, trotzdem die Temperatur an dem Tage wohl imstande war, einen Sonnenstich 
hervorzurufen, zu einem ablehnenden Gutachten, weil die bloße Möglichkeit eines 
Sonnenstichs nicht genügte zur Annahme eines Betriebsunfalles. Es ließ sich nicht 
nachweisen, daß der Verstorbene an dem Tage Veränderungen seines Wesens gezeigt 
hätte, welche auf eine psychische, durch Sonnenstich hervorgerufene 
Erkrankung schließen ließen. Da demnach nicht einmal eine Wahrschein¬ 
lichkeit für einen solchen Betriebsunfall vorlag, konnte auch der Selbstmord nicht 
auf einen Unfall zurückgeführt werden. Das Reichsversicherungsamt schloß sich 
dieser Auffassung an. 

Jolly (11) macht auf die Tatsache aufmerksam, daß die Zahl der Selbstmorde 
dauernd zunimmt (20,6 :100 000) und sich in Deutschland seit 1873 fast ver¬ 
doppelt hat. Nicht wenige Selbstmörder sind geisteskrank, die Angaben darüber 
schwanken zwischen 20—30—40%. Er hatte in einem Falle zu begutachten, ob 
der Selbstmord eines Unfallverletzten (kompl. Knöchelbruch mit folgendem 
delirium trem.) auf den Unfall zurückzuführen wäre. Da der Verletzte nach 
dem Unfall ein depressives Wesen gezeigt hatte, kam Jolly zu der Ansicht, daß 
ein mittelbarer Zusammenhang zwischen Suizid und Trauma bestände, das Schieds¬ 
gericht erkannte demgemäß, das Reichsversicherungsamt hob den Beschluß aber 
wieder auf, weil der Selbstmord nicht einer plötzlichen krankhaften Eingebung 
entsprungen wäre, sondern als eine wohlüberlegte Handlung anzusehen sei. J. 
zitiert dann Fälle, in denen das R.-V.-A. über den Zusammenhang von Unfall und 
Suizid zu entscheiden hatte, beklagt, daß nur in wenigen eine Untersuchung der 
Psyche stattgefunden hätte, und kann sich der Entscheidung des R.-V.-A. nicht 
anschließen, da sie vom psychiatrischen Standpunkt aus in mehr als einem Punkte 
anfechtbar ist. 

Eine kurze, aber zusammenfassende Übersicht über die Anschauungen, welche 
in den letzten Jahren in der Literatur über die Unfallneurosen zutage 
getreten sind, bringt Zingerle (26). Man erkennt aus ihnen namentlich das Mi߬ 
verhältnis von körperlichem oder psychischem Trauma und Schwere der Neurose, 
den ungünstigen Einfluß der Rentensucht und den günstigen der Kapitalsabfindung 
auf den Verlauf. Aber auch die Notwendigkeit, daß die Ärzte noch mehr als bisher 
sich der Verantwortlichkeit und der Folgen ihrer Gutachtertätigkeit bewußt werden 
müssen, wird scharf beleuchtet. 

Engelen (8) hält Simulation von nervösen Beschwerden für recht 
häufig, namentlich in der mit der Invaliden- und Unfallgesetzgebung in Verbindung 
stehenden Praxis treten dem Arzte die Schattenseiten der sozialen Fürsorge deutlich 
vor Augen. Wehleidigkeit, Energielosigkeit und Verweichlichung bei den Ver¬ 
sicherten finden sich häufig. Es ist dringend notwendig, die Nervösen nicht zu 

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68* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


milde zu beurteilen, namentlich allen Aggravationsversuchen energisch entgegen¬ 
zutreten, um der Gefahr, den Volkscharakter zu verderben, entgegenzutreten. 

Über einen interessanten Fall von Starkstromverletzu ng (24'.’ 
Volt) mit nachfolgender psychischer Störung berichtet E. Bischoff (4). Die unmittel¬ 
baren Folgen waren: lokale Brandblasen, weißer Schaum vor dem Munde, Mydriasij 
und Starre der Pupillen, tonische Starre des ganzen Körpers, Oppenheim unc 
Babinski, Bewußtlosigkeit, Jaktationen, dann Ruhe und langsam wieder eintretenc# 
Reaktion der Muskeln auf Schmerzreize und der Pupillen auf Licht. Der Puls 
schwankte, anfangs 90, später 44. Nach 16 Stunden Rückkehr des Bewußtsein-, 
es bestand aber deutliche retrograde Amnesie von 7 Tagen und Abnahme der ilerk- 
fähigkeit, die beide erst nach 4 Wochen verschwanden. 

Bruch (7) nahm bei einem Steuermann, der einen heftigen Schreck erlitten 
hatte und etwa ein Jahr später nach längerer Krankheit starb, einen Zusammen¬ 
hang der bei der Sektion gefundenen serösen Enzephalomeningitis mit dem psychi¬ 
schen Trauma an. 

Ein Schmied hatte durch einen herabfallenden Mauerstein eine Kontusion 
des linken Handgelenks erlitten und führte Muskelschwund und Schwäch# 
des linken Unterarms auf die Verletzung zurück. Als ihn Ascher (2) untersucht#, 
fand er an beiden Armen Zeichen progressiver Muskelatrophie, die am rechten 
Arme stärker ausgeprägt war als am linken, verletzten. Auf Grand dieses Befundes 
glaubte A. einen Zusammenhang zwischen dem Unfall und dem bestehenden Leider 
nicht annehmen zu dürfen. Die Unfallansprüche wurden abgelehnt. 

Boldt (ö) begutachtete einen 10 jährigen Jungen, der nach einer Züch¬ 
tigung durch den Lehrer schwere hysterische Lähmungen be¬ 
kommen hatte. Er konnte nachweisen, daß das Kind schon vor der Züchtigung 
nervös gewesen war, und daß die Hysterie nur die indirekte Folge einer das nornuk 
Züchtigungsrecht nicht überschreitenden Züchtigung (Maulschelle, Hiebe auf 
das Gesäß) gewesen war. Von einer vorsätzlichen Körperverletzung konnte trotz 
der schweren Folgen nicht die Rede sein und die gegen den Lehrer eingeleiteten 
strafrechtlichen und zivilrechtlichen Verfahren wurden eingestellt. 

Ein Lehrer war angeklagt, gegen einen Schüler das Züchtigungsrecht 
überschritten und dadurch dessen Verfall im Siechtum mit tödlichem 
Ausgang herbeigeführt zu haben. Es handelt sich um epileptische Krämpfe und 
Tod im Status epilepticus. Die Krämpfe hatten sich im Anschluß an eine Züchtigung 
mit dem Stock auf Gesäß, Arme und Beine eingestellt; w r ie später nachgewiesen 
wurde, hatte der Junge aber auch schon in der Nacht vor der Züchtigung einen 
Anfall gehabt, er war im übrigen ..schwachsinnig dumm und stinkfaul“. Gaupp 
konnte auf Grand histologischer Untersuchung des übersandten Gehirns feststellen, 
daß eine diffuse Sklerose die Ursache der Krämpfe und des Todes gewesen war. 
Da die Sklerose als angeborenes Leiden betrachtet werden muß, und ein Krampf¬ 
anfall schon vor der Züchtigung aufgetreten war, so konnte diese nicht als Ursache 
der Krankheit angesehen werden. Es erfolgte Freisprechung. Wie Schnizer (25) 
mitteilt, haben sich bei der Untersuchung der gliösen Veränderungen besonders 


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Wendenbarg, Gerichtliche Psychopathologie. 


69* 


die Methoden von Menbacher und AUeheimer wegen ihrer Zuverlässigkeit und der 
Schnelligkeit, mit der sie zum Ziele führten, bewährt, 

VII. Psychiatrie und Militär. 

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H. 1, S. 1 ff. 

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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


committed by the insane in the United States army for the 
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im Kriege. Deutsche militärärztL Ztschr. H. 11. (S. 71 *.) 

18. Weyert (Posen), Kritische Bemerkungen zur Erkennung des 

angeborenen Schwachsinns. Deutsche militärärztL Ztschr. 
H. 20. (S. 70*.) 

Weyerl (18) macht in einer sehr anregenden Arbeit darauf aufmerksam. daS 
die Hälfte aller Zugänge an psychischen Erkrankungen bei der Truppe auf des 
angeborenen Schwachsinn entfällt. Nach eingehender Würdiguc; 
der Literatur teilt er seine Erfahrungen als Anstaltsarzt des Spandauer Festunz?- 
gefängnisses mit. Er hat alle Militärgefangene, die früher in Erziehungsanstalten 
untergebracht waren, systematisch durchuntersucht und 29 Fürsorgezöglinrr 
unter ihnen gefunden. Von diesen waren 44,8% schwachsinnig und wenn dies; 
Zahl auch nur klein ist, so rechtfertigt sie doch die von den Psychiatern erhobene 
Forderung, Fürsorgezöglinge nur versuchsweise einzustellen. Er teilt dann die 
Ministerialerlasse mit, auf Grund deren die Einstellung solcher Defekten nach 
Möglichkeit verliindert werden kann. Die Beobachtung zweifelhafter Elemente 
bei der Truppe ist freilich nicht leicht, eine genaue Kenntnis ihrer Vorgeschichte 
ist vor allem nötig, Belehrung der ausbildenden Offiziere und Unteroffiziere über 
die Kennzeichen der Grenzzustände ist zu empfehlen. Zur Feststellung der Vor¬ 
geschichte teilt er das Schema eines Fragebogens mit. Weyerl kritisiert dann die 
häufigsten Formen des Schwachsinns und die Untersuchungsmethoden der In¬ 
telligenz. Er empfiehlt zur Intelligenzprüfung hauptsächlich Ziehens Methoden. 
Im allgemeinen hält TV. die Schwachsinnigen nicht für diensttauglich, wenn auch 
zugegeben werden muß, daß einzelne unter ihnen sich ganz gut ausbilden lassen 
und in die militärische Disziplin einfügen. Jedenfalls muß es der Truppe zur Auf¬ 
gabe gemacht werden, die geistig auffälligen Soldaten herauszufinden. Dazu ist 
die Erhebung einer genauen Vorgeschichte notwendig, denn die kritische Würdigung 
des ganzen Lebensganges ist den Methoden der Intelligcnzprüfung noch immer 
bei der Erkennung des Schwachsinns überlegen. 

Stier (16), der über Fürsorgeerziehung und den Militär¬ 
dienst berichtet, ist ebenfalls der Ansicht, daß es im Interesse der Truppe hegt, 
wenn psychisch Abnorme von der Truppe ganz ferngehalten werden. Zu diesem 
Zwecke müßten die Namen aller Fürsorgezöglinge, bei denen sich psychische Ab- 


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Wendenburg, Gerichtliche Psychophatologie. 


71* 


normitäten gezeigt haben oder die sich in den letzten 3 Jahren vor der Einstellung 
nicht tadelfrei geführt haben, den Ersatzkommissionen mitgeteilt werden. Auf 
diese Weise könnten die Unbrauchbaren leicht erkannt werden, ohne daß das Prinzip 
der allgemeinen Wehrpflicht durchbrochen würde. Beigefügte Gutachten müßten 
vor allem Tatsachen enthalten, aus denen der Schwachsinn oder die psychische 
Abnormität erhellt, damit die Kommissionen sich ein eigenes Urteil über die Dienst¬ 
brauchbarkeit des Mannes bilden könnten. Die Gefahr der Stigmatisierung einzelner 
Rekruten würde bei diesem Verfahren so gering sein, daß man sie ruhig außer Acht 
lassen kann. Bei diesem Verfahren würde also niemand Schaden leiden, die Armee 
aber nur Nutzen haben. 

Um den Geisteskranken im Felde die nötige Pflege angedeihen 
zu lassen, sind in neuester Zeit mehrere Verordnungen ergangen, über die Stier (17) 
berichtet. Sie betreffen namentlich die Bereithaltung von Beruhigungsmitteln, 
von Betten, unzerreißbarer Kleidung und die Ausbildung von Sanitätspersonal 
in der lrrenpflego. Wünschenswert wäre es, wenn auch die freiwillige Kranken¬ 
pflege Ärzte und Personal stellte, welches mit der Pflege und mit dem Transport 
Geisteskranker vertraut wäre. 

Albrechl (2) stellt zahlreiche Angaben aus der Literatur über die Krank- 
sinnigenfürsorge im Felde zusammen, aus denen übereinstimmend 
hervorgeht, daß Geisteskranke im Felde möglichst rasch ausgeschieden werden 
müssen, daß deshalb geeignete Vorkehrungen bei den Truppen getroffen werden 
müssen, welche gestatten, die Kranken zunächst aufzugreifen und vorläufig zu 
sichern, und daß drittens Vorkehrungen zur Unterbringung und Entfernung der 
Kranken vorhanden sein müssen. Die Truppen müssen dazu Hyoszin und Zwangs¬ 
jacken mitführen, besonders eingerichtete Automobile haben den Transport vom 
Verbandplatz zur nächsten Irrenanstalt oder Barackensammelstelle für Geistes¬ 
kranke zu übernehmen. Diese Barackensammelstellen müssen im Falle eines Krieges 
in erreichbarer Entfernung von der Armee eingerichtet werden, damit weite Trans¬ 
porte nicht zu viel Sanitätspersonal kosten. 

Die russische Armee hat im japanischen Feldzuge in größerem Maßstabe 
sich mit der praktischen Irren pflege im Kriege befassen müssen. Vor¬ 
gesehen war nach Bendixsohn (4) nichts, es wurde alles unter dem Zwnnge der 
Verhältnisse eingerichtet. Im ganzen waren etwa 2000 Fälle zu behandeln, auf 
1000 Kranke kamen 4 Psychosen. Bei den Offizieren standen die Alkoholpsychosen, 
bei den Mannschaften die epileptischen Psychosen, die beide */* der Zugänge aus¬ 
machten, an erster Stelle. Hecht gering war die Zahl der traumatischen Psychosen, 
nur bei 34 von 1072 Soldaten und 8 von 275 Offizieren, die an Psychosen litten, 
hatte ein Trauma die geistige Erkrankung verursacht, die infektiösen Delirien 
waren ebenfalls selten. B. rät dringend davon ab, den Soldaten im Felde Alkohol 
zu verabfolgen, da er Psychosen begünstigt, ohne die Leistungsfähigkeit zu erhöhen. 

Schniztr (15) teilt das Gutachten über einen Soldaten mit, der in einem Zu¬ 
stande plötzlicher Störung der Geistestätigkeit sich Widersetzlichkeit 
gegen einen Unteroffizier hatte zu schulden kommen lassen. An einen initialen 
Wutausbruch schloß sich längeres Toben, dann tiefer Schlaf und Verwirrtheit an. 


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72* Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 

Nachher bestand undeutliche Erinnerung. Die Genese des Zustandes war nkiu 
klar, es blieb unentschieden, ob Epilepsie oder Hysterie vorlag. Die ganze Persön¬ 
lichkeit des Angeklagten sprach dafür, daß ein hysterischer Dämmer¬ 
zustand Vorgelegen hatte. Er war schon immer durch sein Selbstgefühl. sein- 
Empfindsamkeit, seine Stimmungsschwankungen und seine Unstetigkeit aaf- 
gefallen. 

Hoff mann (8) teilt das Untersuchungsergebnis bei einem Imbeziller 
mit, der oft vorbestraft war und als unsicherer Heerespflichtiger 
eingestellt wurde. Schon bei der Ausbildung fiel der Mann auf, dann machte t-r 
einen unmotivierten Fluchtversuch, wehrte sich gegen seine Verfolger und wurtir 
dementsprechend angeklagt. In der Klinik trat der Schwachsinn klar zutage uc<i 
H. gab sein Gutachten dahin ab, daß der Angeklagte dienstuntauglich und nicht 
verantwortlich sei. Er macht ferner darauf aufmerksam, daß Imbezille für d* 
Heer höchst lästig wären, und wie wichtig es ist, daß über solche Leute ein genauer 
Bericht über ihr Vorleben vor der Einstellung eingezogen wird. Auf die für dir 
Schwachsinnigen charakteristische Lebensführung muß man bei der Begutachtung 
größeren Wert legen als auf die Schulleistungen, die eventuell noch genügend seit 
können. 

Bennecke (6) hat die seit 1890 in der sächsischen Armee vorgekommenet 
Fälle von Selbstverstümmelung (34 Fälle) und Simulatior. 
(42 Fälle) einer Durchsicht unterzogen. Von den 42 Simulanten hatten nur 2 ver¬ 
sucht, eine Geistesstörung zu simulieren, 9 litten tatsächlich an Nervenleiden 
Mannschaften des 2. und 3. Jahrganges waren stärker unter ihnen vertreten, wahr¬ 
scheinlich beruht dies auf der schwächlicheren Konstitution dieser Leute. V*r 
den Selbstverstümmlern war ein geringer Prozentsatz geistig abnorm. 


3. Allgemeine Psychiatrie. 

Ref. Hans Schroeder-Lüneburg. 

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151. Hoepffner, Ch. (Badenweiler), Ein Fall phantastischer Erlebnisse 

im Verlauf einer chronischen Lungentuberkulose. Ztschr. 
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f* 


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Jahrg. XIII, Nr. 28, S. 283. (S. 110*.) 

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Königsberg 1911. 

331. Sommer, R. (Gießen), Genealogie und Vererbungslehre vom 

psychiatrischen Standpunkt. Deutsche med. Wschr. Nr. 38, 
S. 1733. (S. 111*.) 

332. Sommer, R. (Gießen), Bemerkungen zu einem Fall von ererbter 

Sechsfingerigkeit. Klinik f. psyeb. u. nerv. Krankh. Bd. 6, 
H. 4, S. 380. (S. 131*.) 

333. Sommer, R. (Gießen), Die weitere Entwicklung der öffentlichen 

Ruhehallen. Klinik f. psych. u. nerv. Krankh. Bd. 6, H. 4, 
S. 368. (S. 102*.) 

334. Spielmeyer, W. (Freiburg i. Br.), Technik der mikroskopischen 

Untersuchung des Nervensystems. 131 S. 4,40 M. Berlin, 
1911, Julius Springer. 

335. Spüler, Ein plötzlicher Todesfall nach Lumbalpunktion durch 

Gehirnblutung. Deutsche militärärztl. Ztschr. H. 4. 

336. Suchanow, S., Uber die sogenannte Zwillingspsychose. Medi¬ 

zinskoje Obosrenje 1911, no. 3 (russisch). (S. 122*.) 


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Original fro-m 

UNIVE.aSITY OF MICHIGAN 



96* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


337. Swizu, Nohuharu (Tokio), Der diagnostische Wert der Wasser- 

mannschen Reaktion in ihrer Anwendung auf die Psych¬ 
iatrie. Neurologia, deutsche Ausgabe, Bd.2, S. 48. (S. 103*. i 

338. Szicsi, Stephan (Berlin), Neue Beiträge zur Zytologie des Liquor 

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f. d. ges. NeuroL u. Psych. Bd. VI, H. V, S. 537. 

339. Szicsi, Beiträge zu der zytologischen Untersuchung der Lumbal¬ 

flüssigkeit. Mtschr. f. Psych. u. NeuroL Bd. 29, H. 1. 

340. Scheidemantel, E. (Nürnberg), Klinische Erfahrungen mit Adalin. 

einem neuen bromhaltigen Sedativum und Hypnoticum. 
Münch, med. Wschr. Nr. 8. (S. 134*.) 

341. Scheidemantel, E. (Nürnberg), Erfahrungen über die Spezifität 

der Wassermannschen Reaktion, die Bewertung und Ent¬ 
stehung inkompletter Hemmungen. Deutsches Areh. f. 
klin. Med. Bd. 101, H. 5-6. 

342. Schilling, R., Beitrag zur Lehre von den Psychosen nach Unfall 

Tnaug.-Diss. Kiel 1911. 

343. Schlesinger, Erich, Pupillenverengerung durch willkürliche 

Muskelbewegung. Deutsche med. Wschr. Nr. 38, S. 1748. 

344. Schmidt, W., Über den Einfluß von Kältereiz'en auf die sen¬ 

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Hl, S. 58. 

345. Schrumpf u. Zabel, Diagnostische Bedeutung der psychogenen 

Labilität des Blutdrucks. Münch, med. Wchschr. Nr. 37. 

346. Schückmg, A (Pyrmont)., Letzte Erkenntnismöglichkeiten. Ge¬ 

danken eines Arztes. 85 S. 1,60 M. Stuttgart 1911, F. Enke. 

347. Schnitze, B. S. (Jena), Gynäkologie und Irrenhaus. Zentralbl. 

f. GynäkoL Nr. 45. (S. 132*.) 

348. Schuster, P., Zu der „Bemerkung zur Prüfung der Pupillar- 

lichtreaktion“ von Herrn Prof. Oppenheim. NeuroL ZtbL 
Nr. 9, S. 472. (S. 114*). 

349. Stadler, Ed. (Leipzig), Arbeiten über Rassen- und GeseJlschafts- 

biologie (Sammelreferat). Med. Klin. Nr. 33, S. 1285. 

350. Stanford, V ., The production of indigo in the human organism. 

Journ. of ment. Science, April. (S. 129*.) 

351. Stans field, T. E. K. (Bexley), Heredity and Insanity. Journ. 

of ment. Science voL 57, no. 236, p. 55. 


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Original fro-rri 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Scbroeder, Allgemeine Psychiatrie. 


97* 


352. Stein, 0 ., Grundschema der Geisteskrankheiten. (Zusammen¬ 

gestellt nach Vorträgen des k. k. Hofrates Prof. J. Wagner 
v. Jawegg.) Wien u. Leipzig 1911. Josef Safar. (S. 107*.) 

353. Sterte, 0., Über periodisches Schwanken der Hirnfunktion. 

Arch. f. Psych. u. Ncrvenkrankh. Bd. 48, H. 1, S. 199. 
(S. 117*.) 

354. Stieda, L . (Königsberg), Etwas über Tätowierung. Wien. med. 

Wschr. Nr. 14. (S. 114*.) 

355. Stier, E., (Berlin), Untersuchungen der Linkshändigkeit und 

die funktionellen Differenzen der Hirnhälften. Jena, G. 
Fischer 352 + 59 S. 10 M. (S. 109*.) 

356. Stier, E. (Berlin), Die Bedeutung der Psychiatrie für den Kultur¬ 

fortschritt. Akad. Antrittsvorlesung. 40 S. 1 M. Jena, 
G. Fischer. (S. 102*.) 

357. Stierlin, E. (Basel), Nervöse und psychische S x örungen nach 

Katastrophen. Deutsche Med. Wschr. H. 44, S. 2028. 
(S. 118*.) 

358. Siransky, E. (Wien), Unilaterales Gedankenecho. Ein Beitrag 

zur Lehre von den Halluzinationen. NeuroL ZentralbL Nr. 21, 
S. 1230. (S. 127*.) 

359. Stroehlin, O., Les syncinösies. — Leurs rapports avec les fonctions 

d’inhibition motrice. 147 S. Paris 1911, G. Steinheil. 
(S. 126*.) 

360. Stroemer, A., Beitrag zur Lehre von den postoperativen Psy¬ 

chosen. Inaug.-Diss. Kiel 1911. (S. 118*.) 

361. Stursberg (Bonn), Ein Beitrag zur Kenntnis der Zerebrospinal¬ 

flüssigkeit. Berl. klin. Wschr. Nr. 43, S. 43. (S. 101*.) 

362. Takasu, R ., Arakawa, K., u. Mino , E. (Osaka), Über die mensch¬ 

liche Groß- und Kleinhimrinde in verschiedenen Lebens¬ 
altern. Neurologia Bd. H (deutsche Ausg.), S. 26. (S. 103*.) 

363. Taniburini, A (Born), Über den Zusammenhang zwischen 

Zivilisation und Geisteskrankheiten. Med. Klin. Nr. 6, 

5. 211-216. (S. 102*.) 

364. Throckmorton, Babinskis Phänomen. Joum. of americ. assoc. 

6. Mai 1911. 

365. Tmtemann, W. (Göttingen), Beobachtungen über Zuckeraus- 


Zeitschrift für Psych 

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Lit. 


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UNIVERSETY J 


1IGAN 



98* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


Scheidungen bei Geisteskrankheiten. Mtschr. f. Psych. u. 
Neurol. BdL 29, H. 4, S. 294 (S. 130*.) 

366. Todde, C., Bicerche sulla funzione e sulla struttura delle ghian- 

dole sessuali maschili nelli malattie mentali. PathoL riv. 
quindicinale 1. Sept. 1911. (S. 131*.) 

367. Tomaschny, V. (Treptow a. R), Über die Anwendung des Pan.- 

topon in der Psychiatrie. Neurol. Zentralbl Nr. 3 S. 127. 
(S. 135*.) 

368. Tomaschny, V. (Treptow a. R), Ein Fall von mehr als 10 Jahre 

dauernder Ernährung einer Geisteskranken mittels der 
Schlundsonde. Med. Klin. Nr. 42. (S. 128*.) 

369. van der Tonen, Beginnende Geisteskrankheit. Tijdschr. voor 

Geneesk. Nr. 6. 

370. Toulouse, E., et Mignard, M., Les maladies mentales et Taute- 

conduction. Conceptions nouvelles sur la pathogönie et les 
synthöses cliniques des psychoses. Revue de psych. et de 
psychol. exp6r. no. 7 p. 265. 

371. Traugott, R. (Breslau) Erfahrungen mit einem neuen Hypno- 

ticum (Adalin) in der ambulanten Praxis. BerL klin. Wschr. 
Nr. 7, S. 300. 

372. Travaglmo, P. H. M., Glykosurie bei Geisteskrankheit. Ned. 

Tijdschr. voor Geneesk. no. 5. 

373. Trimmer, E. (Hamburg), Über Modifikationen des Babinski- 

und Oppenheim-Reflexes und ein neues Fußphänomen 
(Wadenphänomen). Deutsche med. Wschr. Nr. 37, S. 1700. 

374. Trimmer, E., Über motorische Schlafstörungen (speziell Schlaftie, 

Somnambulismus, Enuresis nocturna.) Ztschr. f. d. ges. 
Neurol und Psych. Bd. 4, H. 2, S. 228. (S. 120*.) 

375. VaUon, Gh., Nöcessit6 d’un asile de süretö pour les alcooliques 

criminels. Le meurtre de l’acteur Rögnard. L’ene4phale 
no. 9, p. 245. (S. 127*.) 

376. Valverde, J. M., Analogias y diferencias entre las alncinaciones 

y las ilusiones. Son las unas y las oltras un mismo fenomeno en 
lo esencial? Revista frenopätica Espafiola 9, no. 108, p. 353. 

377. Victorio, A. F., Enfermedades nerviosas y mentales y un ap$n- 

dice conteniendo la legislaciön referente ä los alienados. 
467 p. Barcelona 1911, Manuel Marin. (S. 107*.) 


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Schroeder, Allgemeine Psychiatrie. 


99* 


378. Vioüette, M., Notes thärapeutiques: Etüde sur l’extrait sec de 

FichL Arch. intern, de neurol 1911, no. 4, p. 263. 

379. Vogt, H. u. Bing, R., Ergebnisse der Neurologie und Psychiatrie. 

Bd. I, H., 1 u. 2. 20 M. Jena, 1911, G. Fischer. 

380. Voß, 0 . (Düsseldorf), Tuberkulose und Nervensystem. Med. 

Klin. Nr. 24, S. 913. (S. 118*.) 

381. Weißenberg, 8., Das Wachstum des Menschen nach Alter, Ge¬ 

schlecht und Basse. 220 S. 6 M. Stuttgart 1911, Strecker 
u. Schröder. (S. 101*.) 

382. Wendt, W. W., Alte und neue Gehirnprobleme nebst einer 1078 

Fälle umfassenden Gehirngewichtsstatistik aus dem kgL 
pathol-anatom. Institut zu München. Inaug.-Diss. München 
1911. 

383. Wertheim, M., Zur Lehre von den Psychosen bei Urämie. Inaug.- 

Diss. Kiel 1911. (S. 127*.) 

384. Westphal, Ham, Geisteskrankheiten und Jahreszeiten. Inaug.- 

Diss. Freiburg i. Br. Mai 1911. 

385. White, E. B., and Scholberg, H. A. (Whitchurch), Pituitary and 

supra-renal growths in a case of insanity. Journ. of ment, 
Science vol 67, no. 236, p. 18. (S. 127*.) 

386. WiUiams, T. A. (Washington), A simple clinical method to 

demonstrate and measure dysergia. The quaterly journ. of 
med. vol 3, no. 12. (S. 126*.) 

387. WiUiams, T. A. (Washington D. C.), A simple clinical method 

for measuring the diameter of the pupil Med. record 24. Dec. 
1910. (S. 114*) 

388. Wütige, Hans (Halle a. S.), Über nervöse und psychische 

Störungen nach Blitzschlag. Arch. f. Psych. u. Nerven- 
krankh. Bd. 48, H. 3, S. 1132. (S. 124*.) 

389. WiUimann, H. (Genf), L’histoire de Joseph Heuer. Arch. intern. 

de neurol. vol. I, 9 e sörie, no. 5, p. 317. (S. 128*.) 

390. Wines, F. H., Studies in heredity-inbreeding. The alien. and 

neurol Nov. 1911, vol XXXII, no. 4, p. 693. 

391. Wintemüz, O. (Wien), Les agents physiques dans les maladies 

mentales et nerveuses. Arch. de neurol. 33. ann. no. 6. 
p. 341. 


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A 



100* Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 

392. Ziehen, Th. (Berlin), Psychiatrie, IV, vollst. umgearb. AnfL 

18 M. Leipzig 1911 S. Hirzel. (S. 106* ) 

393. Zingerle. H. (Graz), Die psychiatrischen Aufgaben des prak¬ 

tischen Arztes. Jena 1911, G. Fischer. (S. 107*.) 

394. Zweig, A. (Dalldorf), Die diagnostischen und prognostischen 

Fortschritte in der Psychiatrie. (Sammelbericht.) ÄrztL 
Sachverst.-Ztg. Nr. 9, S. 183. 

I. Allgemeines. 

DöWcens (82) geistvolle Ansführungen geben einen vorzüglichen Überblick 
über den jeweiligen Stand and die Entwicklung der großen Probleme der Hin- 
lehre von den ältesten Zeiten an. Schon im griechischen Altertum finden sich 
wichtige Probleme klar und scharf herausgearbeitet. Aber erst 250 Jahre nach 
Descartes großen Lokalisationsideen hat Flechsig aus physiologischem und ana¬ 
tomischem Denken heraus die endliche Lösung des Seelenproblems in greifbare 
Nähe gebracht. 

v. Monakow (247) weist auf die immer noch vorhandenen Widersprüche in 
der modernen Lokalisationslehre hin. Er kann sich mit derVikariierungshypothese 
nicht befreunden und zieht zur Erklärung seine Diachisislehre heran, v. M. ver¬ 
steht unter Diaschisis eine meist durch akute Herdläsion ausgelöste, schockartige 
Funktionshe mmung in primär nicht lädierten, vom Herd femliegenden, aber mit 
diesem anatomisch verbundenen Himstellen. „Mögen die Dinge liegen wie sie 
wollen, aus den bisherigen Erfahrungen auf dem Gebiet der Lokalisation der Krank¬ 
heitssymptome ergibt sich mit Bestimmtheit, daß zwischen der anatomischen 
Läsion und dem klinischen Krankheitsbilde ein gewisses Etwas liegt, das wir noch 
nicht verstehen, gewisse schwankende, ordnende, abschleifende, regulierende 
Momente, gewisse dynamische mit der anatomischen Läsion nur indirekt suzammen- 
hängende Wirkungsweisen, die temporär sind, gelegentlich aber auch stabil bleiben 
können. Und in diesem Moment erblicke ich ein Walten des Prinzips der Dia¬ 
schisis.“ 

Münzer (255) faßt seine Ausführungen dahin zusammen: „Die GaUsche 
Kleinhirntheorie ist, wie Möbius bereits gefordert, einer experimentellen und 
klinischen Revision zu unterziehen, deren Ergebnisse über ihren endgültigen Wert 
entscheiden werden. Die normale Zirbeldrüse scheint mit einem mehr oder minder 
ausgeprägten Hemmungsvermögen für das Auftreten des Geschlechtstriebes aus¬ 
gestattet zu sein. Die Hypophyse beherrscht zu einem gewissen Grade die normale 
Geschlechtstätigkeit. Diese Funktion kommt möglicherweise dem Hinterlappen 
zu. Es ist nicht sicher entschieden, ob die Sekretion der Hypophyse die Geschlechts¬ 
tätigkeit anregt bzw. fördert. Vielleicht macht sich die Einwirkung der Hypo¬ 
physe nach verschiedenen Richtungen hin geltend (fördernd und hemmend). Die 
Frage, ob und welche anderen Himteile an der Regulation der Geschlechtstätigkeit 
beteiligt sind, bedarf weiterer Klärung. 


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Schroeder, Allgemeine Psychiatrie. 


101* 


Funk (112) kommt zu folgenden Schlüssen: Die Größe des absoluten wie 
des relativen Hirngewichts (d. h. das Hirngewicht in Beziehung zum Körper¬ 
gewicht) bei den Tieren ist von der Größe der sogenannten Intelligenz durchaus 
unabhängig. Bei den einzelnen erwachsenen Exemplaren einer gleichen Tier- 
spezies schwankt das absolute Himgewicht in gewissen umschriebenen Grenzen: 
die Schwankungen des relativen Himgewichts können bedeutend größer sein als 
die des absoluten Hirngewichts. Als Ursache für die Schwankungen des relativen 
Hirngewichts der gleichen Tierart kommen in erster Linie der verschiedene Er¬ 
nährungszustand, dann die jeweilige individuelle Verschiedenheit der Körper¬ 
anlage und des Körpergewichts und schließlich auch der Umstand in Betracht, 
daß bei gleicher Körperanlage und gleichem Körpergewicht das absolute Hirn¬ 
gewicht verschieden sein kann. 

Jentliehe (162) stellt die Gewichte von 64 selbst untersuchten Gehirnen zu¬ 
sammen; ein pathologisch verwendbares Resultat hat er dabei nicht erzielt. Auf¬ 
fallend ist nur der durchweg beträchtliche Gewichtsverlust bei Dementia praecox. 

Rosanoff und Wiseman (309) empfehlen als Füllmaterial zur Bestimmung 
der Schädelkapazität den Glaserkitt. Er muß etwas weicher sein, was man durch 
Zusetzen von Leinöl erreicht; eine zu große Weichheit wird dnreh Zusatz von 
Schlämmkreide behoben. Die Fehlerquellen sind bei dieser Art des Messens ge¬ 
ringer als sonst. (Ganter.) 

Stursberg (361) kommt auf Grund seiner Versuche zu dem Schlüsse, „daß 
eine einfache Transsudation bei der Bildung da Zerebrospinalflüssigkeit, wenn sie 
überhaupt stattfindet, nur eine unbedeutende Rolle spielen kann, daß vielmehr 
die überwiegende Menge nach Art einer Sekretion erzeugt wird.“ Was den Ort der 
Absonderung betrifft, so neigt der Autor dazu, die Plexus chorioldei als Sekretions¬ 
organ aufzufassen. 

Weißenberg (381) berücksichtigt den ganzen Entwicklungsgang des Menschen. 
Seine anthropometrischen Studien beginnen mit dem dritten Fötalmonat, nachdem 
die Fracht nach Art und Geschlecht deutlich ausgebildet ist. Bei Betrachtung 
der Körperproportionen des Neugeborenen und des Erwachsenen werden die charak¬ 
teristischen Eigentümlichkeiten beider in prägnanter Weise hervorgehoben. Der 
Entwicklungsgang des Körpers ist kein regelmäßiger. Perioden gesteigerten Wachs¬ 
tums wechseln mit solchen schwächeren Charakters. Dabei macht jeder Körperteil 
seine eigene Entwicklung durch. Der Kopf wächst am schwächsten, die Beine am 
stärksten, die Extremitäten intensiver als der Rumpf. Die Breitenmaße bleiben 
im Verhältnis zu den Längenmaßen zurück, weil der Körper das Bestreben hat. 
mehr in die Länge als in die Breite zu wachsen. Rasse, Alter, Geschlecht, Um¬ 
gebung beeinflussen das Wachstum; letztere besonders zur Zeit der Pubertät. 
Zwerg- und Riesenwuchs werden als polare Manifestationen einer und derselben 
krankhaften Anlage aufgefaßt, deren Ursache hauptsächlich in Störungen der 
Schild- und Keimdrüsensekretion zu suchen ist. Der dem Körper innewohnende 
angeborene und erbliche Wachstumstrieb wird besonders durch die in der Anlage 
prädisponierte Wachstumstendenz und durch die Drüsen mit innerer Sekretion 
beeinflußt. Zahlreiche Tabellen erläutern die interessanten Ansführungen. 


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102* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


Aas semen Tierversuchen hält es Choroschko (61) für möglich, einige noch 
hypothetisdien Charakter tragende Schlösse über die biologische Bedeutung des 
Nervengewebes za ziehen, die auch für die Auffassung der WassenMmaeha 
Reaktion von Bedeutung sind. Der Verl fand Anhaltspunkte für die Anftaaanug, 
wonach das Zentralnervensystem als ein eine innere Sekretion besitzendes Qrgas 
erscheint, das Stoffe sezemiert, welche die Gerinnongsfähigkeit des Blntes außer¬ 
ordentlich steigern. Es ist nach Ch. möglich, daß der positive Ansfall der Reaktkc 
der Komplementbindnng bei manchen organischen Erkrankungen des Nerven¬ 
systems nicht durch Lues, sondern durch die ins Blut oder in die Zerebrospinal¬ 
flüssigkeit gelangenden Zerfallsprodukte des Nervengewebes bedingt ist. 

(Fleischmarm-Kiev.) 

Stier (366) beleuchtet in seiner akademischen Antrittsvorlesung die Stefan? 
der Psychiatrie zur geistigen Entwicklung der Menschen in prägnanter, form¬ 
vollendeter Weise. Nach kurzem geschichtlichen Rückblick auf die Entwickhug 
der Psychiatrie bespricht der Antor ausführlich die Beziehungen zwischen Psy¬ 
chiatrie und Religion, Pädagogik and Rechtspflege und macht überall auf den 
befrachtenden Einfluß der Psychiatrie aufmerksam. Eine kurze Würdigung der 
Frage, welche Lehren die Psychiatrie dem modernen Staat für seine richtige Fort¬ 
entwicklung gibt, beschließt die interessante Arbeit. 

Taniburini (363) widerlegt die weit verbreitete Ansicht, daß die Zivilisation 
die Schuld trage an der Zunahme der Geisteskrankheiten. Sie kennzeichnet eine 
große Zahl von Toren und weist auf die Notwendigkeit ihrer Behandlung hin. 
die Schuld an der Krankheit trägt sie nicht. Dagegen vermehren Alkoholisnms. 
Syphilis, Pellagravergiftnng nsw. die Zahl der Geisteskranken; sie tun es, weil 
die Zivilisation noch nicht alle Gesellschaftsklassen in wünschenswerter Weise 
durchdrungen and so einer wirksamen Prophylaxe den Weg gebahnt hat. 

Juliusburger (177) macht auf einige Gebiete sozialer Betätigung der Psy¬ 
chiatrie aufmerksam: Strafreform, bedingte völlige Begnadigung nach dem Pollard- 
System, Maßnahmen zur Verhinderung der Vererbung von Verbrechen und Geistes¬ 
störung, und polemisiert gegen die ungerechten Vorwürfe, welche jetzt mehr denn 
jemals gegen die Psychiater erhoben werden. 

Sommer (333) kommt auf seine vor etwa 10 Jahren gemachten bekannt« 
Ausführungen über Errichtung von öffentlichen Schlaf- and Rahehallen zurück 
and gibt seiner Freude darüber Ausdruck, daß seine damals entwickelten Gedanken 
jetzt bei der internationalen Hygiene-Ausstellung ausgeführt sind. Sinne Be¬ 
schreibung der dort aufgestellten Ruhehalle. Der Erfolg zeigt, daß die Errichtung 
solcher Ruhehallen einem wirklichen Bedürfnis entspricht. 

Baedeker u. Faücenbergs (36) offizieller Bericht über den IV. internationalen 
Kongreß zur Fürsorge für Geisteskranke gibt ein anschauliches Bild von seinem 
glänzenden Verlauf; er bringt die Referate und Vorträge von Autoren des In- 
und Auslandes mit den anschließenden Diskussionen, berichtet ausführlich über 
die mit dem Kongreß verbundene Ausstellung der Fürsorge für Gemüts-, Geistes¬ 
und Nervenkranke und gibt so eine vortreffliche Übersicht über die in den letzten 
Jahrzehnten auf diesem Gebiete gemachten Fortschritte. 


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Schroeder, Allgemeine Psychiatrie. 


103* 


Der 82. Band der Jahrböcher für Psychiatrie und Neurologie (167) enthält 
in seinen beiden ersten Heften außer einem kurzen Nachruf für den im Dezember 
1910 verstorbenen J. Fritsch drei interessante Arbeiten. E. Sträussler-Vfien gibt 
wertvolle Beiträge zur Kenntnis des hysterischen Dämmerzustandes, C. v. Economo- 
Wien beschäftigt sich mit der dissoziierten Empfindungslähmung bei Ponstumoren 
and mit den zentralen Bahnen des sensiblen Trigeminus, und R. Stern- Wien be¬ 
richtet über seine Studien, die Zukunft nervenkranker Kinder mit spinalen und 
zerebralen Lähmungen betreffend. 

Die deutsche Ausgabe des japanischen Zentralblattes für Neurologie, Psy¬ 
chiatrie, Psychologie und verwandte Wissenschaften ..Neurologia, Bd. 11“ (260) 
enthält interessante Mitteilungen über die Verbreitung des endemischen Kropfes 
und dessen Einfluß auf die Gesundheit der Bewohner der Insel Taiwan von Prof. 
S. Kure. — Tdkasu, Arakawa und Mino haben verschiedene, besonders kindliche 
Groß- und Kleinhirnrinden in verschiedenen Lebensaltern untersucht und berichten 
über ihre Resultate. — Matsubara kommt bei seinen Untersuchungen über das 
Wesen der depressiven Psychosen zu dem Schluß, daß die Depressionszustände 
des manisch-depressiven Irreseins und die sog. Rückbildungsmelancholien näher 
miteinander verwandt sind, als Kräpelin bisher angenommen hat, daß aber die 
Rückbildungsmelancholie kein Zustandsbild des manisch-depressiven Irreseins 
ist im Sinne von Dreyfus. Außer den genannten Depressionszuständen be¬ 
schreibt der Autor dann noch andere Formen von Depressionszuständen, welche 
ihren psychologischen Analysen, ihrem klinischen Verlauf und Ausgang nach nicht 
zu den genannten Formen gehören. — Suieu berichtet über den diagnostischen 
Wert der W asserma«nschen Reaktion in ihrer Anwendung auf die Psychiatrie 
unter kurzer Zusammenstellung der Resultate seiner zytologischen und biologischen 
Untersuchungen. Die zweite Hälfte der Zeitsclirift enthält Referate über die 1908 
in Japan erschienene einschlägige Literatur. 

Nach Maier (224) bestehen in sechs Staaten von Nordamerika Gesetze zur 
Verhinderung der Eheschließung von Geisteskranken, Schwachsinnigen, Epilep¬ 
tikern und schweren Trinkern, die sicher ein wertvolles Mittel gegen die 
Entstehung geistig degenerierter Familien geben. Der Staat Indiana hat 1907 
ein gut formuliertes Sterilisationsgesetz angenommen; bisher sind so 873 Defekte, 
meist Verbrecher, fortpflanzungsunfähig gemacht worden. Connecticut hat diese 
Bestimmungen übernommen; weitere Staaten werden folgen und so gegen die 
beständige Zunahme von Verbrechern und versorgungsbedürftigen Geisteskranken 
nicht für heute, aber für die kommenden Generationen in vernünftiger Weise an- 
kämpfen. Verf. schlägt vor, die amerikanischen Vorschriften zu ergänzen: Wenn 
ein Eheverbot wegen geistiger Krankh eit oder Defektes eines Verlobten ausge¬ 
sprochen wird, so gilt dieses Verbot nur so lange, wie der Betreffende fortpflanzungs¬ 
fähig ist; läßt er sich dauernd sterilisieren, so wird die Ehe gestattet, vorausge¬ 
setzt, daß der Betreffende überhaupt die Handlungsfähigkeit zur Eingehung eines 
Kontraktes besitzt. 

Oberhoher (266) berichtet an Hand eines reichhaltigen Materials über die 
in der Schweiz mit der Sterilisierung von Geisteskranken gemachten Erfahrungen. 


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104* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


19 zam Teil selbst beobachtete Fälle werden ausführlich geschildert and be¬ 
sprochen. Verf. zeigt, daß es zahlreiche Fälle gibt, wo die Ausschaltang von (fcr 
Fortpflanzung dureh Sterilisierung das einzig Richtige ist. 

Pfeiffer (279) fordert aus rassenhygienischen Gründen eine Sichtung der 
eheschließenden Teile und bezeichnet als erstrebenswertes Ziel die staatliche Über¬ 
wachung aller, welche eine Ehe schließen wollen, und Ausschaltung der hiefür 
ungeeigneten Elemente. 

Savage (321) befürwortet nicht ein schematisches Verbot des Heiratens 
Geisteskranker. Er hat Fälle gesehen, die in ihrer Jugend einen manischen oder 
melancholischen Krankheitszustand durchgemacht hatten, später heirateten und 
gesunde Kinder zeugten. {Ganter.) 

Bila Rivisz (301) hat seine reichen psychiatrischen Beobachtungen and 
Studien bei den verschiedensten Völkern in dem vorliegenden Werke zusammen¬ 
gefaßt. Sein Buch zerfällt in zwei Teile. Der I. Teil handelt von den „rassenpsy¬ 
chiatrischen Erfahrungen“ bei den Völkern aller Weltteile und beschreibt nicht 
nur ihre spezifischen Geistes- und Nervenkrankheiten, sondern auch die ubiqui¬ 
tären Psychosen und Neurosen (Paralyse, Tabes, Alkoholismus usw.). Der II. Teil 
enthält die Lehren der rassenpsychiatrischen Erfahrungen und bringt sehr wert¬ 
volle Beiträge zur Ätiologie und Pathologie der Geistes- und Nervenkrankheiten. 

Preobrashenski (287) führt einige interessante Fälle von Geisteskranken an, 
die als wundertätige und wahrsagende Heilige verehrt wurden. Und zwar handelt 
es sich in diesen in russischen Irrenanstalten beobachteten Fällen nicht um Epi¬ 
leptiker, Deliranten und halluzinierende Patienten mit leidlich erhaltenem Intellekt. 
Bei solchen Patienten hätte man eher erwarten können, daß die Anfälle, Wut¬ 
ausbrüche, die schwunghaften unverständlichen Reden auf die ungebildete Menge 
eine starke Wirkung ausüben würden. Aber in den von P. angeführten Fällen 
haben wir es mit Verblödung, mit katatonischer, postapoplektischer und sekun¬ 
därer Demenz zu tun. Weder der offenbare geistige Verfall, noch das Fehlen jeg¬ 
licher Aufsehen erregender Erscheinungen konnten es verhindern, daß sich Leute 
fanden, — darunter Angehörige der sogen, gebildeten Klassen —, die diese unglück¬ 
lichen verblödeten Kranken als Heilige behandelten, bei denen sie Rat und Be¬ 
lehrung suchten. Einige Patienten haben auch Biographen gefunden, die die 
dementen Züge getreu schildern und mit den Ausdrücken höchster Bewunderung 
kommentieren. (Fleischmarm-Kievr.) 

Lachtin (197) bringt interessante historische Materialien, die Aufschluß über 
die Behandlung der Geisteskranken in Rußland in den vorigen Jahrhunderten 
geben. Man ersieht daraus, daß diejenigen Kranken, um die sich unglücklicher¬ 
weise die Obrigkeit kümmerte, am häufigsten nach den Klöstern beordert wurden, 
wo sie durch Strafen und rohe Behandlung „zur Vernunft gebracht** werden 
sollten. Noch schlimmer erging es den sehr zahlreichen Kranken, die naoh dem 
Inhalte ihres Wahnes als Verbrecher gegen den Staat oder die Kirche betrachtet 
wurden: sie wurden grausam gefoltert und nur wenige entgingen danach der 
Hinrichtung. Erst gegen das Ende des 18. Jahrhunderts begann man die Geistes¬ 
gestörten als Kranke anzusehen und demgemäß zu behandeln. 

(FfewcAmann-Kiew.) 


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Schroeder, Allgemeine Psychiatrie. 


105* 


Ewers (97) schildert das Leben und Treiben der Nonnen von Loudon, be¬ 
sonders der Schwester Jeanne auf Grund der von ihr um die Mitte des 17. Jahr¬ 
hunderts niedergeschriebenen Memoiren; er schildert den Besessenheitswahn in 
all seinen Formen und Folgen und entrollt ein düsteres Kulturbild jener Zeit. 

An der Hand von Gerhart Hauptmanns fioman „Emanuel Quindt“ befaßt 
sich Lomer (213) mit dem Problem des Wesens und der Wertung des reinen und 
des heutigen Christentums. Hauptmann wollte nach Lomer mit seinem Roman 
zweierlei, erstens „die Persönlichkeit Jesu menschlich rekonstruieren, und zweitens 
mit dieser Persönlichkeit die Probe aufs Exempel machen, ob das Christentum 
den gegenwärtigen und kommenden Geschlechtern noch etwas ist und — seiner 
Natur nach sein kann“. Beides ist Hauptmann nach Lomer gelungen. Der Held 
des Romans, Emanuel Quint, der Narr in Christo, ist Psychopath, nach Lomer 
Paranoiker, und bei der Schilderung seines Helden hat Hauptmann sich die modernen 
Gesetze der Vererbung, Anpassung, Entwicklung zunutze gemacht. Dadurch 
gewinnen Lomers Ausführungen auch für den Psychiater größeres Interesse. 

ln seiner Abhandlung „Krankes Christentum“ gibt Lomer (214) die Gedanken 
eines Arztes über Religion und Kirchenemeuerung. Die Ausführungen wollen 
nichts sein „als die Formulierung der Religionsauffassung eines naturwissenschaft¬ 
lich gebildeten Laien“ und bringen neben einer Kritik der herrschenden christ¬ 
lichen Lehre positive Vorschläge über eine Umgestaltung der protestantischen 
Kirche. Besonders hervorgehoben sei die elegante, formvollendete Sprache, die 
sich an einzelnen Stellen, wie im Vorwort, zu rein poetischer Diktion steigert. 

Jentsch (164) hat es sich zur Aufgabe gemacht, der Entwicklungsgeschichte 
der Genialitätslehre Lonibrosos nachzugehen, was um so mehr verlohnt, als dieser 
Forscher an seinem Werke, das ein vor ihm gänzlich unbekanntes Land erschloß, 
sein ganzes langes Leben hindurch gearbeitet und geändert hat. Die einzelnen 
Phasen der Entwicklung dieser Lehre werden verfolgt, Gründe für die oft einseitig 
und unüberlegt scheinenden Behauptungen Lonibrosos beigebracht und der Kern 
der ganzen Lehre herausgeschält. Zum Schlüsse pflichtet Jentsch der Ansicht 
Lonibrosos bei, daß das Genie nicht der höchste Typus der menschlichen Entwick¬ 
lung ist, sondern im besten Falle eine höhere Staffel in einer oder mehreren Rich¬ 
tungen der Fortentwicklung der menschlichen Spezies vorstellt. 

Boulenger (47) findet das Gemeinsame des Dichters und des Dementen darin, 
daß beide einem Traumzustand verfallen. Besonders die Dem. praecox ist geeignet, 
diesen hervorzurufen und dichterische Empfindungen anzuregen. Beweis: Ein 
Fall von Dem. praecox dichtete, was er in seinem gesunden Zustand nie getan 
hatte. (Ganter.) 

Genil-Perrin (116): Der Philosoph Cabanis, der Zeitgenosse und Freund 
Pinels, berührt in seinen Werken vielfach Fragen der Psychiatrie und äußert über 
die Natur und Entstehung der Geisteskrankheiten, über ihre Beziehungen zur 
Psychologie, über Erblichkeit, Degeneration vielfach modern anmutende An¬ 
schauungen. Um die Verbesserung des Loses der Geisteskranken, ihre humane 
Behandlung und ihren Rechtsschutz hat er sich wesentliche Verdienste erworben. 

(Ganter.) 


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106* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


Kohui (192) macht auf einen vor 66 Jahren in den österreichischen Blättern 
für Literatur nnd Kunst erschienenen, unbekannt gebliebenen Aufsatz des Arztes 
und Philosophen Freiherm Ernst v. Feuchtersieben in Wien „über die ärztliche 
Seelenkunde“ aufmerksam, gibt ihn zum großen Teil wörtlich wieder and zeigt, 
daß diese Ausführungen tTotz der ungeheuren Fortschritte der Medizin und Philo¬ 
sophie noch jetzt allgemeinen Wert haben. 

Jettiffe (161) bedauert den Mangel an historisch-psychiatrischen Arbeiten 
in englischer Sprache, rühmt dagegen die reiche deutsche Literatur, aas der er 
seinen Lesern einen historischen Blumenstrauß pflückt. (Ganter.) 

Liepmann (207) schildert in anschaulicher Weise den großen Einfluß, welchen 
Wemtcke auf die klinische Psychiatrie ausgeübt hat. Die Geistesstörung im engsten 
Sinne ebenfalls als neurologische Erscheinung aufzufassen, das nennt er den eigent¬ 
lichen Kern Wemickescher Psychiatrie. Sie ist Gehimpathologie. Aber nicht die 
pathologische Anatomie, sondern die Pathophysiologie steht im Vordergrand. 
Wemicke suchte das ganze psychische Leben mit allen seinen Störungen den Be¬ 
griffen der Physiologie und Physio-Pathologie des Nervensystems zu unterwerfen. 

Ziehens (392) bekannte „Psychiatrie für Ärzte und Studierende“ liegt in 
vierter, vollständig umgearbeiteter Auflage vor. Die großen Vorzüge dieses aus¬ 
gezeichneten Handbuches sind so bekannt, daß es eines besonderen Hinweises 
darauf an dieser Stelle nicht bedarf. Die Einteilung des Stoffes ist unverändert 
.geblieben. Die Zahl der instruktiven Bilder ist vermehrt. Im allgemeinen Teil 
hat das Kapitel über „Störungen des Handelns“ eine erhebliche Erweiterung 
erfahren. Bei Besprechung der Hydrotherapie fällt der Satz auf: „Seitdem die 
Psychiatrie aufgehört hat, die geistigen Erkrankungen auf Immoralität zurück¬ 
zuführen, hat das hydriatische Strafverfahren sich in die Winkel einiger Pflege¬ 
anstalten zurückgezogen.“ Sollte es heute wirklich noch Pflegeanstalten mit 
„hydriatischem Strafverfahren“ geben? 

Die zweite, nahezu völlig umgearbeitete Auflage der „Pupillenstörungen“ 
bei Geistes- und Nervenkrankheiten von Bumke (66) berücksichtigt alle in Frage 
kommenden neuen Erfahrungen auf anatomischem, physiologischem und be¬ 
sonders klinischem Gebiet. Es ist dem Autor nicht zum wenigsten dank eigener 
ausgezeichneter Arbeit auf diesem Gebiet gelungen, in seiner Monographie eine 
umfassende Darstellung der Physiologie und Pathologie der Irisbewegungen zu 
bringen. Die Methodik der Pupillenuntersuchung wird im Anhang ausführlich 
behandelt. Besondere Erwähnung verdient das reichhaltige Literaturverzeichnis 
über 1014 Arbeiten. 

Das sehr verbreitete Lehrbuch für Psychiatrie, von Cramer , Westphal, Hocke, 
Wöüeriberg und den Herausgebern Binsuxmger und Siemerling (32) bearbeitet, ist 
in dritter vermehrter Auflage erschienen. Es wendet sich besonders an die Stu¬ 
dierenden und macht in kurzer, knapper Form mit dem sicheren Bestand unserer 
Wissenschaft bekannt und berücksichtigt dabei auch die neueren Forschungs¬ 
ergebnisse in entsprechender Weise. Übersichtliche Einteilung des Stoffes sowie 
die vorzügliche Darstellung von Diagnose und Therapie werden nicht zum wenigsten 
zur weiteren Verbreitung des Buches beitragen. 


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Scbroeder, Allgemeine Psychiatrie. 


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Stein (362) hat nach den Vorträgen von Professor Wagner von Jauregg ein 
Grundschema von Geisteskrankheiten anfgestellt. Auf sechs Tabellen bespricht 
er akute und chronische funktionelle Störungen, Alkoholpsychosen, Verblödungs¬ 
prozesse, Geistesstörungen bei organischen Erkrankungen des Gehirns (mit Aus¬ 
nahme der progressiven Paralyse, diese wird bei den Verblödungsprozessen abge¬ 
handelt), Schilddrüsenprozesse, epileptisches Irresein, hysterisches Irresein und 
Entwicklungsdefekte. Auf jeder Tabelle wird in bestimmten Rubriken kurz und 
schematisch auf die Kardinalsymptome hingewiesen und auch auf alle anderen 
Punkte aufmerksam gemacht, welche für die Diagnose, Differentialdiagnose, 
Prognose, Therapie oder als ätiologisches Moment in Frage kommen. 

Zingerle (393) wendet sich an den praktischen Arzt und zeigt in übersicht¬ 
licher Weise, wie auch er auf dem Gebiet der Irrenpflege nutzbringend tätig sein 
kann und soll. Vor allem sind es die leichten oder akut verlaufenden psychischen 
Störungen in Begleitung sonstiger körperlicher Erkrankungen sowie die Anfangs¬ 
stadien schwerer Psychosen, wo sein Eingreifen geboten und von ausschlaggebender 
Bedeutung sein kann. Gar nicht zu entbehren ist seine Mitarbeit auf dem Gebiete 
der Prophylaxe; hier liegt seine eigentliche Domäne. Auf die Verhütung geistiger 
Ejrankheiten und auf die Maßnahmen bei bestehender geistiger Erkrankung weisen 
des Verf.s anregende Ausführungen besonders hin. 

Vietorio (377): Kleines Kompendium der Nerven- und Geisteskrankheiten 
nebst einem Anhang über den Rechtsschutz der Geisteskranken in Spanien. Es 
ist besonders die französische Literatur benutzt, aber auch die Werke deutscher 
Autoren sind vertreten, soweit sie ins Französische übersetzt worden sind. (Oanter.) 

Ewald und Wollenberg (149) haben Hitziga Werk über den Schwindel unter 
Berücksichtigung der neueren Anschauungen und Forschungsresultate um- und 
zum großen Teil neu bearbeitet. Während die allgemeine Anordnung des Stoffes 
im II. pathologischen Teil im wesentlichen unverändert geblieben ist, hat der 
1. physiologische Teil eine durchgreifende Umarbeitung und Vervollständigung 
erfahren. Neu hinzugefügt ist das Kapitel über den Schwindel bei Erkrankungen 
des Vestibularapparates. 

Von Forels (106) „Hypnotismus 1 * ist bereits die sechste Auflage notwendig 
geworden. Wichtige einschlägige neuere Arbeiten sind berücksichtigt und haben 
zu Abänderungen und Zusätzen Anlaß gegeben. Die „Psychanalyse“- wird in 
einem neuen besonderen Kapitel behandelt. 

Löwenfelds (211) Werk enthält drei interessante Abhandlungen: „Die sexuelle 
Konstitution“, „Erotik und Sinnlichkeit“ und „Die Libido als Triebkraft im 
geistigen Leben“. Die erste Abhandlung zeigt, daß es eine besondere, von der All¬ 
gemeinkonstitution unabhängige sexuelle Konstitution gibt; sie unterscheidet 
verschiedene Sexualkonstitutionen, charakterisiert dieselben und knüpft daran 
beachtenswerte hygienische Ratschläge. Die zweite Abhandlung erörtert die Be¬ 
ziehungen zwischen Erotik und Sinnlichkeit. Die dritte Abhandlung behandelt 
den Einfluß der Sexualität auf das geistige Leben und stellt fest, daß die Förderung 
des geistigen Lebens durch die Libido nicht so sehr auf völliger Abstinenz, sondern 
auf Beschränkung des Sexualgenusses beruht. 


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108* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


Buienburgs (94) wertvolle Monographie liegt in zweiter, teilweise umgearbeiteter 
Auflage vor. Nach kurzer Erklärung und Ableitung der Begriffe Sadismus und 
Masochismus, „der aktiven und passiven Algolagnie“, geht Verf. näher auf Wesen 
und Bedeutung dieser Abnormitäten auch ihrer physiologischen, psychologischen 
und anthropologischen Seite nach ein, skizziert de Sade s Leben, Werke, Charakter 
und Geisteszustand sowie Sacher-Masochs Lebensgeschichte ihres großen psycho¬ 
logischen Interesses wegen und behandelt dann die spezielle Symptomatologie and 
Entwicklungsgeschichte der algolagnistischen Phänome, Notzucht, Lustmord. 
Mädchenstecherei, Nekrophilie, Flagellation, weibliche Grausamkeit, Sadismus 
und Masochismus beim Weibe. Auch die neueste einschlägige Literatur erfährt 
eine kurze Besprechung. 

Kiernan (1S6) bringt Beispiele, besonders aus dem Sektenwesen, in denen 
die sexuelle Befriedigung durch Erdulden oder Zufügen von Schmerz erfolgt (Ma¬ 
sochismus und Sadismus). Dafür setzt er Asketizismus, Enthaltung vom nor¬ 
malen Geschlechtsverkehr und Ersatz durch Schmerzzufügung. (Ganter.) 

Fleischmann (103) forscht besonders nach den Ursachen der gleichgeschlecht¬ 
lichen Liebe. Er kommt zu dem Schluß, daß diese psychische Anomalie keinem 
Individuum angeboren ist; er faßt sie als Folge und Zeichen von Entartung auf. 
Begünstigend wirken Verführung, Lektüre, Alkoholabusus, exzessive Onanie. 
Bei Degenerierten findet sich eine große Bestimmbarkeit des sexuellen Trieb¬ 
lebens, unscheinbare Vorko mmnis se können hier vom normalen Sexualziel ab¬ 
lenken. „Es wird auch dem Entstehen der Perversion meistens nicht der nötige 
Widerstand entgegengesetzt, da infolge der ganzen Domestikation einerseits unser 
Triebleben nicht mehr die unbedingt zwingende Macht hat, andererseits unser 
Wille nicht mehr in der nötigen Weise gestärkt und gekräftigt wird.“ 

Hvrschfeld (147) teilt Fälle von sexueller Teilaversion (Fetischhaß) mit, auf 
die eine spezielle Eigenschaft anderer so abstoßend wirkt, daß dadurch gegen die 
ganze Person ein hochgradiger sexueller Widerwille entsteht. Der entscheidende 
Faktor bei dem Zustandekommen dieser Aversion ist , .nicht sowohl in der allge¬ 
meinen psycho- oder neuropathischen Konstitution zu suchen, als in der ziel¬ 
strebigen, individuellen Sexualkonstitution. Das wirklich Entscheidende ist nicht 
das äußere Erlebnis, sondern eine spezifische Konstitution, die sich stets nur auf 
Adäquates, nicht auf einen beliebigen, zufälligen, gleichgültigen Inhalt einstellt“ 

Von Boruttau und Manns (43) unter Mitwirkung zahlreicher Autoren des 
In- und Auslandes herausgegebenem Handbuch der gesamten medizinischen An¬ 
wendungen der Elektrizität einschließlich der Röntgenlehre liegt die erste Hälfte 
des zweiten Bandes vor; sie bringt eine eingehende Darstellung der gesamten 
Elektrodiagnostik. Die Elektrotherapie soll in der zweiten Hälfte folgen. Zanie- 
towski-Kiakaa behandelt die allgemeine Elektrodiagnostik, Mendelssohn-Paris die 
spezielle Elektrodiagnostik der Muskelkrankheiten und Monn-Breslau die spezielle 
Elektrodiagnostik der Nervenkrankheiten; hierbei wird auch die Elektrodiagnostik 
der Psychosen besprochen. 

Meyers (235) Ausführungen liegen die mit klinis chen Demonstrationen ver¬ 
bundenen Vorträge zugrunde, welche er in seiner Klinik gelegentlich eines Kursus 


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vor den Bahnärzten des Eisenbahndirektionsbezirkes Königsberg gehalten hat. 
Interessante Fälle von Melancholie, Paralyse, Epilepsie, Dementia praecox, prä¬ 
senilem Beeinträchtignngswahn, traumatischer Neurose usw. werden ausführlich 
besprochen unter besonderem Hinweis auf alle für Bahnärzte wichtigen Faktoren. 

Pereüi (276) weist in seinem im Verein der Ärzte Düsseldorfs gehaltenen 
Vortrag darauf hin, daß absichtliches, zielbewußtes Vortäuschen von Geisteskrank¬ 
heit außerordentlich selten ist und fast nur bei Degenerierten und geistig abnormen 
Individuen vorkommt, er betont dabei ausdrücklich, daß.der Nachweis von Simu¬ 
lation psychischer Störungen keineswegs gleichbedeutend ist mit geistiger Ge¬ 
sundheit. 

Essayaniz (92) beschreibt zwei Fälle von Desertion, die anfangs den Ein¬ 
druck der Simulation machten, sich aber im Verlaufe der Beobachtung als Dem. 
praecox entpuppten. (Ganter.) 

Stiers (366) vorzügliche Monographie behandelt im ersten Teil die Links¬ 
händigkeit als physiologische Erscheinung. Der zweite Teil zeigt, daß die. Links¬ 
händigkeit als Ausdruck eines funktionellen Überwiegens der ganzen rechten Hirn¬ 
hälfte aufzufassen ist. Der dritte Teil handelt von der Erkennung und Bedeutung 
der funktionellen Differenzen beider Hirnhälften. Über die Linkshändigkeit in 
der Armee wird im Anhang an der Hand eines großen statistischen Materials be¬ 
richtet. „Die Linkshändigkeit ist eine im Aussterben begriffene Varietät der 
Gattung Mensch. u Linkshänder zeigen doppelt so häufig Degenerationszeichen 
als Rechtshänder; sie sind sozial weniger wertvolle Menschen. Unter den Ge¬ 
fangenen und Verbrechern ist ihre Zahl groß. 

Liepmann (206) unterzieht die sogen. Linksknltur oder Zweihändigkeits- 
bewegung, auch kurz Linksbewegung genannt, einer kritischen Besprechung, 
weist die Einwände, die dagegen erhoben werden können, zurück und prüft, was 
zugunsten dieser Bewegung spricht. Dem Satze, daß Linkshändigkeit ein Degene¬ 
rationszeichen ist, steht der Autor skeptisch gegenüber. Entscheidende Tatsachen, 
welche die Erfolge der Linksübung von vornherein aussichtslos erscheinen lassen, 
sind nicht vorhanden. Das, was die linke Hand durch fortgesetzte Übung lernt, 
kommt zum großen Teil der rechten Hemisphäre zugute. Ob es möglich ist, durch 
Übung der rechten Hemisphäre bei intakter linker Hemisphäre, den ganzen Effekt 
der Übung in die rechte Hemisphäre zu dirigieren, ob nicht der angeborene Vorrang 
der linken sich trotz aller Übung der linken Hand darin zeigen würde, daß die 
rechte Hemisphäre, von der linken im Stich gelassen, doch mangelhaft agierte, 
läßt Verf. dahingestellt. 

Bauen (17) Untersuchungen zeigen, neben anderem Interessanten, daß im 
allgemeinen normale Rechtshänder Gewichte bei aktiver und passiver Schätzung 
links, Linkshänder rechts überschätzen, daß die Zahl der Funktionslinkser = „mani¬ 
festen“ Linkshänder kleiner ist als die Zahl der Skelettlinkser - latenten Linkshänder, 
und daß die Überschätzung von Gewichten auf der rechten Seite zu den Merk¬ 
malen der latenten Linkshändigkeit gehört. Unter pathologischen Verhältnissen 
können Störungen der Gewichtsschätzung bedingt sein durch Störungen der moto¬ 
rischen Kraft, durch Störungen jenes Teiles der tiefen Sensibilität, "welcher uns 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


über den Effekt von Innervationsimpulsen unterrichtet, und schließlich durch 
Störungen der peripher entstehenden Schwereempfindung. 

Foerster (104) bespricht die vielfachen Beziehungen von Beruf und Mode 
zu Geisteskrankheiten und illustriert deren Einfluß an einzelnen Fällen. „Während 
der Beruf in der Verursachung von Geisteskrankheiten im wesentlichen nur als 
indirekter Erreger der Geisteskrankheit beteiligt ist, ist er bei den meisten Fällen 
von Geisteskrankheit direkt beteiligt in der Färbung, in dem gedanklichen Inhalt, 
dm die Wahnideen der Kranken haben.“ In ihren kleinen Zügen werden die 
Geisteskrankheiten auch von der Mode beeinflußt. 

Heveroch (143) beschäftigt sich in seinen interessanten Ausführungen mit 
der Genese von Wahnideen, Halluzinationen und Zwangsvorstellungen und macht 
dabei auf ihre psychogenetische Verwandtschaft aufmerksam. „Die Grundstörung 
der Halluzination, der Wahnbildung und der Erinnerungstäuschung ist die krank¬ 
hafte Überzeugung, die eine Äußerung einer Störung des Ichbewußtseins ist.“ 
„Bei den Zwangsvorstellungen äußerst sich die Störung des Ichbewußtseins als 
ungenügende Überzeugungskraft mit gesteigertem Begehren nach dem Über¬ 
zeugtsein, und nebstdem finden wir bei ihnen eine zweite Äußerung des gestörter, 
Ichbewußtseins: Störungen, die das Gefühl betreffen.“ 

Jaspers (168) faßt die wichtigsten Thesen seiner sehr interessanten Arbeit 
in folgenden Schlußsätzen zusammen: „Außer den echten Trugwahmehmungeri 
gibt es, ohne daß zwischen beiden ein Übergang bestände, pathologische Vorstel¬ 
lungen, die detailliert und unabhängig vom Willen sind (PseudohaUuzinationec 
Kandinsky s). Der Gegensatz der Leibhaftigkeit (Objektivitätscharakter) der 
echten Halluzinationen und der Bildhaftigkeit (Subjektivitäts- oder Vorstellungs¬ 
charakter) der Pseudohalluzinationen ist zu trennen von dem Gegensatz des rich¬ 
tigen und falschen Realitätsurteils. Jener ist ein Unterschied der sinnlichen Phä¬ 
nomene, dieser ein Unterschied des Urteils über solche sinnlichen Phänomene. 
Die Leibhaftigkeit ist etwas Gegebenes, das nur durch außerbewußte Vorgänge 
„erklärt“, das Realitätsurteil etwas im Bewußtsein Gewordenes, das aus seinen 
Motiven „verstanden“ werden kann. Vom Realitätsurteil ist das „psychologische 
Urteil“ der Kranken zu trennen. Im ersteren beurteilen sie eine äußere Wirklich¬ 
keit, im letzteren beurteilen sie richtig oder falsch, was sie selbst wirklich erlebten. 
Das aus Sinnestäuschungen „verständlich“ ableitbare falsche Realitätsurteil ist 
zu trennen vom „unverständlichen“ Realitätsurteil. Nur das letztere ist para¬ 
noisch.“ 

Jentsch (166) untersucht den Begriff der „Agilität“ nach Wesen, Form und 
Ursache. Er unterscheidet eine physiologische, psychologische und affektive Agi¬ 
lität. Psychopathische Agilität ist Ausdruck oder Begleiterscheinung eines ano¬ 
malen Gesamtzustandes. 

Behms (296) Ausführungen zeigen, „daß periodische Schwankungen mehr 
oder weniger ausgesprochener Art mit der Psyche im allgemeinen und mit der 
erkrankten Psyche im besonderen in innigem Zusammenhang stehen. Die Peri¬ 
odizität zählt zu den Faktoren, die mit unserem Seelenleben eng verwoben sind 
und in Krankheitszuständen wirkungsvoll zum Ausdruck kommen. Doch nicht 


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Schroeder, Allgemeine Psychiatrie. 


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nur die Psyche, auch unser Körper, unser Leben überhaupt sowie die ganze Natur 
sind periodischen Einflüssen unterworfen. Es ist eben der ewige Kreislauf der 
Natur, dessen Erkenntnis uns in das Gebiet des Dunkeln und Unentwirrbaren 
iührt.‘‘ 

Mugdan (268) zeigt, daß ein der Mathematik und der Naturwissenschaft 
gemeinsamer Begriff, wie es die Periodizität ist, in beiden Wissensgebieten eine 
ganz verschiedene Bedeutung haben muß und gibt dann folgende Begriffsbe¬ 
stimmung: „Einem Systeme von Ereignissen kommt die Eigenschaft der Perio¬ 
dizität zu, wenn in zeitlich gesetzmäßigen Intervallen logisch verwandte Ereig¬ 
nisse eintreten, aus Gründen, die lediglich in der Organisation des Betroffenen 
liegen, ohne daß dafür ein äußerer Anlaß oder doch ein entsprechender äußerer 
Anlaß vorläge.“ Verf. unterscheidet und scnildert drei Gruppen von solchen peri¬ 
odischen Zuständen: die erste Gruppe rechnet er zum Gebiete der Zyklothymie, 
die zweite zum manisch-depressiven Irresein; die dritte Gruppe umfaßt die Fälle 
von „periodischem Schwanken der Hirnfunktion (Sterte). 1 * 

v. Gruber und Rüdins (127) Buch bietet mehr als ein Katalog. Die ausführ¬ 
lichen Erläuterungen zu den zahlreichen Tafeln und Tabellen ermöglichen eine 
rasche Orientierung über den heutigen Stand unseres Wissens auf dem Gebiete 
der Rassenhygiene. Ein ausführliches Verzeichnis über die gesamte Fachliteratur 
beschließt das vorzügliche Werk, von dem bereits die zweite Auflage notwendig 
geworden ist. 

Alters (3) skizziert den Inhalt des vorgenannten Werkes und betont seine 
große, anregende Bedeutung. 

Higier s (146) wertvolle Arbeit bespricht nach kurzer Einleitung in zwölf 
Kapiteln die Pathologie der angeborenen, familiären und hereditären Krankheiten 
speziell Nerven- und Geisteskrankheiten. Das 13. und 14. Kapitel handelt von 
der allgemeinen Prognose und Prophylaxe und von der allgemeinen Therapie. Hier 
werden wertvolle Winke zur Verhinderung von Degeneration und Entartung 
gegeben; mit Recht wird darauf hingewiesen, daß der in mancher Hinsicht über¬ 
triebene Humanismus die Ausrottung der Degeneration verhindert und daß ent¬ 
sprechende Maßnahmen und Vorkehrungen notwendig sind. 

Ribberts (303) interessante Ausführungen bringen eine kritische Würdigung 
des wertvollen Materials über Vererbung krankhafter Zustände beim Menschen, 
welches die ersten sechs Hefte des von „Francis Galton Laboratory for national 
eugenics“ herausgegebenen Werkes „Treasury of human enheritance“ enthalten. 
„Vererbbare pathologische Veränderungen des Körpers müssen zuerst an Keim¬ 
zellen, nicht an ausgebildeten Individuen aufgetreten sein. Alle in der Phylo¬ 
genese auftretenden vererbbaren Variationen, die zur Bildung neuer Arten führen, 
entstehen von innen heraus, nicht durch äußere Einflüsse, die niemals etwas Neues 
schaffen, sondern nur auf Individuen und Keime auslösend einwirken können. 
Auslese und Anpassung kommen für die Entwicklung der organischen Welt ledig¬ 
lich als unterstützende Faktoren in Betracht. 

Sommer (331) macht nach kurzer Betonung des gegenseitig befruchtenden 
Einflusses von Genealogie und Naturwissenschaft auf die Bedeutung der hierdurch 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


entstandenen modernen Familienforschung aufmerksam und zeigt, welch große 
Menge von Arbeitsproblemen noch durch methodisches Zusammenwirken von 
Genealogen und Naturforschern gelöst werden können. 

Rüdin (316) weist auf die Wichtigkeit methodischer Famiiienforsehnng hin. 
erörtert deren Grundzüge unter eingehender Würdigung der Jtfaidgchm Ver- 
erbungsprinzipien, macht auf alle zu berücksichtigenden Punkte aufmerksam. 
anal ysiert und kritisiert die bisherigen Resultate. Die ausgezeichnete Arbeit 
schließt mit der Forderung einer wissenschaftlichen Zentrale für FamiHenforsehuns 
und plädiert für die Errichtung einer entsprechenden Abteilung im Rwctegesnnd- 
heitsamt, deren Hauptaufgabe die Unterstützung der Ursachenforschung sein 
soll, insofern sie nur im Rahmen des Studiums der Familie und des Stammes gelöst 
werden kann. 

Pick (280) beschäftigt sich mit der Konstitution des Organismus, mit seiner 
Anlage und mit der Vererbung; er rekapituliert die Grundlagen der 1866 ver¬ 
öffentlichten Mendelschen Vererbungsregeln und zeigt, daß sie auch für die mensch¬ 
liche Pathologie im allgemeinen Geltung haben. 

Bosanoff und Orr (3101 haben 72 F amilie n mit einer Nachkommenschaft von 
1097 Individuen nach den Afendefechen Vererbungstheorien untersacht und sind 
zu folgenden Schlüssen gekommen: 1. Die neuropathische Konstitution vererbt 
sich von Generation zu Generation als ein im Sinne Mendels sich rezessiv zur nor¬ 
malen Konstitution verhaltender Charakterzag. Theoretisch sind folgende Mög¬ 
lichkeiten gegeben: a) Eltern nenropathisch, dann alle Kinder neuropathisch. 
b) Der eine Elter normal, aber einer der Großeltern nenropathisch, der andere 
Elter nenropathisch, dann die eine Hälfte der Kinder nenropathisch, die andere 
normal, aber so beschaffen, den nenropathischen Zog auf die Nachkommenschaft 
zu vererben, c) der eine Elter normal, ebenso die Großeltern, der andere Elter 
nenropathisch, dann alle Kinder normal, aber so, daß sie den nenropathischen Zog 
auf die Nachkommenschaft vererben, d) Beide Eltern normal, aber jeder Teil 
nenropathisch belastet von einem der Großeltern, dann ein Viertel der Kinder 
normal, auch nicht die neuropathische Belastung vererbend, die Hälfte der Kinder 
normal, aber imstande, den nenropathischen Zug zu vererben, der Rest von einem 
Viertel neuropathisch. e) Beide Eltern normal, der eine von normalen Großeltern 
nnd der andere mit nenropathischem Zog von einem der Großeltern, dann alle 
Kinder normal, wovon die eine Hälfte imstande sein wird, den nenropathischen 
Zug zu vererben, die andere nicht, f) Beide Eltern normal, ebenso die Großelton, 
dann alle Kinder normal, anch kann kein neuropathischer Zag vererbt werden. 
2. Die verschiedenen nenropathischen Erkrankungen (Vff. fassen die endogen ent¬ 
standenen Geisteskrankheiten, wie Psychopathien, Dem. praecox, Paranoia, Imbex., 
Epilepsie, senile Störungen usw. als verschiedene Grade der nenropathischen Ver¬ 
anlagung auf) verhalten sich in verschiedenem Grade rezessiv. Die heilbaren Psy¬ 
chosen sind zwar rezessiv im Vergleich zum normalen Zustand, aber dominierend 
über die Epilepsie und die verwandten Störungen. 3. Verschiedene andere neoro- 
pathische Äußerungen spielen in ihren gegenseitigen Beziehungen die Rolle nenro- 
pathischer Äquivalente. 4. Kinder von normalen Elton, deren Eltern neuro- 


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Schroeder, Allgemeine Psychiatrie, 


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pathisch sind, können theoretisch nur äquivalente Defekte aufweisen. 6. Als solche 
Formen der Vererbung haben sich ergeben: a) Die Geschwister leiden an identischen 
neurop&thischen Erkrankungen, b) Psychose bei einem Individuum und abnorme 
Disposition bei den Geschwistern, c) Psychose bei einem Individuum und isolierte, 
aber verwandte Symptome bei den Geschwistern, besonders häufig Dem. praecox 
= Ohnmachtsanfälle oder Krämpfe in der Kindheit, d) Psychosen, die klinisch 
nicht verwandt sind, z. B. Dem. senilis = hysterische Psychosen. 6. Die neuro- 
pathischen Erkrankungen verlangen nur etwa in einem Viertel der Fälle Anstalts¬ 
behandlung. Im ganzen machen sie 1,5—2,0% der Bevölkerung aus. 7. Etwa 
30% der Bevölkerung sind neuropathisch belastet und gegebenenfalls imstande, 
die Neuropathie zu vererben. ( Ganter .) 

Bayerlhal (19) ist es in hervorragender Weise gelungen, die vielfachen Be¬ 
ziehungen zwischen Vererbung und Erziehung ins rechte Licht zu stellen. Unter 
Erziehung versteht der Autor die Entwicklung, Förderung und Hemmung der 
ererbten Anlagen von der Befruchtung der Keimzelle an bis zum Beginn der Selbst¬ 
erziehung in einem für das Wohl des einzelnen Individuums und der Gesamtheit 
günstigen Sinne mittels gleichmäßiger Einwirkung. „Vererbungsproblem und 
Erziehung“ sowie „die angeborenen Anlagen und die Erziehung“ werden aus¬ 
führlich und anregend behandelt und dabei wertvolle Hinweise für die Praxis 
gegeben. 

Binswanger (81) schildert in glänzender Bede kurz und prägnant die Kon¬ 
stitutionsanomalien und präzisiert die hierbei erforderlichen psychopädagogischen 
Maßnahmen, die um so mehr Erfolg versprechen, je frühzeitiger sie einsetzen. 

Birnbaum (34) weist auf die Notwendigkeit einer geeigneten einheitlichen 
Nomenklatur der psychopatischen Grenzzustände hin und gibt eine praktische, 

gut verwertbare ,.Kompromißnomenklatur“. 

Birnbaum (33) beschäftigt sich mit den psychogenen Eirankheitsformen 
und stellt fest, daß affektiv wirksames Geschehnis (Erlebnis) und persönliche 
Eigenart (psychogene Disposition) die grundlegenden Komponenten psychogener 
Krankheitszustände bilden und daß die eigentliche Bedeutung des Erlebnisses 
in der Rolle des auslösenden Reizes liegt. „Erlebnis“ and „persönliche Eigenart“ 
werden ausführlich gewürdigt. 

Auch nach Sichel (327) beruht der Selbstmord in den allermeisten Fällen 
auf psychisch-abnormer Veranlagung. Seine Ausführungen zeigen, welche Rolle 
die Neigung zu Selbstmord und Selbstbeschädigung bei den einzelnen Krank- 
heitsformen spielt, welche Mittel und Wege zur Erreichung dieses Zieles benntst 
werden und welche Maßnahmen bei der Behandlung selbstmordgefährlicher Kranker 
in Frage kommen. 

Fiivei (101) stellt die bisher beschriebenen Fälle von Mißbildungen des 
äußeren Ohres zusammen und beschreibt dazu acht selbstbeobachtete Fälle von 
Mißbildungen am äußeren Gehörapparat. Er legt seinen Betrachtungen folgendes 
Schema zugrunde: I. Fehlen a) des ganzen äußeren Ohres, b) einzelner Teile 1. der 
Ohrmuschel; 2. des Gehörganges. II. Mißbildungen a) des ganzen äußeren Ohres, 
b) einzelner Teile, 1. der Ohrmuschel, 2. des Gehörganges. Bei der Erklärung der 
Entstehung von Mißbildungen bildet Vererbung einen wesentlichen Faktor. 

Zeitschrift für Pgyohittrie. LXIX. Lit. h 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


Stieda (354) gehört nicht zu den Antoren, welche aus tätowierten Figur« 
nnd Zeichen Schlüsse auf das Seelenleben der betreffenden Personen machen; 
er sieht darin keine Degenerationszeichen. 

Williams (387): In eine Karte werden Öffnungen gemacht, die jeweils 1. i 
3, 4, 6, 6, 7, 8 mm voneinander entfernt sind. Blickt man dnrch zwei Öffnungen 
nach einem entfernten Gegenstand, so ergibt die Entfernung der beiden Öffnung^, 
sobald man die zwei scheinbaren Bilder des Gegenstandes einander fast deck« 
sieht, den Durchmesser der Pupille. (Ganter, i 

Oppenheim (270) hat bei Prüfung der Pupillarreaktion mittels elektrisch« 
Taschenlampen bei Neuropathen gefunden, daß in einigen Fällen auf den elek¬ 
trischen Lichtreiz keine Pupillenverengerung erfolgte, während sich die Pupille 
gleich darauf bei Tageslicht prompt zusammenzogen. — Hey (144) bestätigt di-^ 
Beobachtungen nnd nimm t mit Oppenheim an, daß die plötzliche Blendung 
Schreck Erweiterung der Pupille hervorruft, und daß diese psychische Reakti-r. 
die normale Reflexbewegung kompensiert. Nur für einen Teil der Fälle, bei nicfct- 
neuropathischen Individuen, akzeptiert er-die Barte Ische Erklärung, der das Phi¬ 
nomen darauf zurückführt, daß bei der künstlichen Beleuchtung nicht genüget. 
Strahlen auf die Macula, die pupillomotorisch wirksamste Gegend, kommen. 

Auch Schuster (348) ist ein Gegensatz im Ausfall der Reflf xerscheinutr 
bei Prüfung der Pupillarreaktion aufgefallen, je nachdem er künstliches oder dif¬ 
fuses Tageslicht einwirken ließ. Völlig ausgeblieben ist die Reaktion bei seinn 
vorzugsweise nicht neuropathischen Patienten aber niemals. Sch, glaubt, durt: 
Verschiedenheiten des reflexauslösenden Reizes, welche entweder in der Licht¬ 
quelle begründet sind oder bei Passage des Lichtes durch die brechenden Medi-t 
des Auges entstehen, das Phänomen am besten zu erklären. 

Pfahl (277—278) will mit dazu beitragen, den graphischen Untersuchung 
metboden das allgemeine Bürgerrecht nnter den klinischen Untersuchungsmethod« 
zu verschaffen. Er hat sich selbst einen Apparat konstruiert und eine eigene Methoo- 
atisgebildet zur genaueren Untersuchung der verschiedensten Bewegungsfonner. 
Mittels der graphischen Methode, so zeigt Pfahl, kann ein großer Teil der Bewegung* - 
Vorgänge bei Gesunden und Kranken in einer Weise verfolgt, fixiert und nach¬ 
träglich studiert werden, wie das auf Grund des Augenscheines unmöglich ist 
Mit dieser Methode können krankhafte Schwächezustände, abnorme Ermüdbar¬ 
keit, Hemmungszustände, Störungen der Koordination schon dann nachgewiesen 
werden, wenn dies sonst noch nicht möglich ist; auch für die Therapie gibt si- 
unter Umständen wertvolle Anweisungen. Mittels Spiegelung hat der Autor feinst* 
Zitterbewegungen der Muskulatur festgestellt und gefunden, daß auch bei sogen, 
ruhiger Haltung ein großer Teil der Körpermuskulatur Zittererscheinungen er¬ 
kennen läßt. 

Citron (63) zeigt, daß die Plethysmographie es uns ermöglicht, herauszufinden 
wie ein Individuum auf bestimmte psychische Reize bezüglich der Btutverteihm* 
reagiert; so können wir den Einfluß von Bädern auf die pathologische Blutver¬ 
teilung studieren und feststellen, wie weit ein durch psychische Reize ausgelöste* 
pathologisches Verhalten durch Hydrotherapie modifiziert werden kann; es scheint, 
als ob das pathologische Verhalten dadurch gebessert werden kann. 


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Schroeder, Allgemeine Psychiatrie. 


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Cimbdl (62) beschreibt einen einfachen Apparat zar Untersuchung des Auf¬ 
fassungsvermögens von ungeübten Gesunden, Nerven- und Geisteskranken. Der 
Apparat besteht aus einer Laterna magica, deren Licht durch eine besondere Vor¬ 
richtung für eine gewisse, genau und beliebig regulierbare Zeit auf einen Projektions¬ 
schirm geworfen wird. Cimbai hat hiermit nicht nur bei Prüfung des Auffassungs¬ 
vermögens, sondern auch bei der Prüfung der Merkfähigkeit und der Intelligenz 
gute Resultate erzielt. 

Mikulski (238) gebraucht bei der Intelligenzprüfung eine Methode, die es 
gestattet, die Ergebnisse in Ziffern darzustellen und so die Vergleichung von ver¬ 
schiedenen Resultaten bei verschiedenen Kranken und in verschiedenen Krank¬ 
heitsstadien ermöglicht; er legt den Versuchspersonen zerschnittene Bilder von 
Tieren usw. vor mit der Aufforderung, die passenden Teile zusammenzulegen. 
Verf. hat mit dieser einfachen Methode, besonders in Verbindung mit der von 
Ebbinghaus und Heilbronner, gute Resultate erzielt. 

Raimisl (290) untersucht, wie weit sich der Einfluß willkürlicher Hemmung 
auf den Verlauf der Patellar- und Achillessehnenreflexe beim gesunden Menschen 
erstrecken und wie sich dieser Einflufi in pathologischen Fällen ändern kann. Die 
interessanten Untersuchungen zeigen, daß wir in der Lage sind, „willensfreie“ 
und „willensgehemmte“ Reflexe vergleichend zu untersuchen und das Ergebnis 
dieses Vergleichs für Diagnsoe und event. auch Prognose zu verwenden. 

Solomon (318) empfiehlt, bei Prüfung des Patellarreflexes den Unter¬ 
schenkel vorschieben, dabei die Fußsohle auf die Unterlage aufsetzen und dann 
Fußspitze und Zehen nach abwärts drücken, d. h. die Plantarflektoren von Fuß 
und Zehen kräftig innervieren zu lassen. Dadurch wird die Antagonistengruppe 
= M. quadriceps zur Erschlaffung gebracht und derjenige Effekt herbeigeführt, 
den man zur Auslösung des Patellarreflexes erstrebt. 

AUhoff (4) empfiehlt zur Prüfung des Achillessehnenreflexes folgende Methode: 
der zu Untersuchende sitzt auf einem Stuhl, den Rücken an die hintere Stuhlwand 
gelehnt, das Gesicht etwas nach oben gerichtet. Die Unterschenkel sind im Knie¬ 
gelenk etwa im Winkel von 110—120° vorgestreckt. Die Füße stehen im mittleren 
und hinteren Drittel der Fußsohle auf einer etwa 22 cm hohen Fußbank, deren 
etwa 6 cm breite obere Platte nach beiden Seiten abgerundet ist. So läßt sich 
der Achillessehnenreflex auch unter schwierigen Verhältnissen prompt auslösen. 
falls er überhaupt auslösbar ist. 

Oeconomakis (267) hat die Marathonläufer hinsichtlich ihrer Reflexe unter¬ 
sucht. Nach dem Laufe wurde eine fast ausschließliche Veränderung der Reflexe 
der unteren Extremitäten beobachtet, in erster Linie der Patellar- und Achilles¬ 
sehnenreflexe. Bei einem von den neun in Athen angekommenen Läufern war 
ein völliger Verlust der Patellarreflexe zu konstatieren. Der Plantarreflex fand 
sich meist gesteigert. Auch der normale Unterschenkelreflex von Oppenheim zeigte 
einige Veränderungen: er schien den Veränderungen der Patellar- und Achilles¬ 
reflexe zu folgen, da er bei Steigerung der letzten sich gesteigert darstellte und bei 
Verminderung derselben nach dem Laufe völlig ausblieb. Außerdem war auch der 
Cremasterreflex auffallend verändert: Er war nach dem Laufe meist vermindert 

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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


und fehlte beiderseits vollständig bei zwei Läufern. Die Veränderung dieses Re¬ 
flexes ist auf eine durch die während des Laufens fortwährende Reibung des Hodft- ■ 
sacks an den Innenflächen der Schenkel hervorgerufene Schädigung zurärkia- 
fflhren. Für eine solche Schädigung im sensorischen Teil des entsprechenden Re 
flexbogens (Gefühlsabstumpfung) spricht wohl der Umstand, daß bei einigte ! 
Läufern der beim Streichen in der Adduktorengegend ausbleibende Cremaster- | 
reflex jedoch durch Reizung tiefer gelegener Partien der Innenfläche des Schenkel 
noch auszulösen war. 

An den oberen Extremitäten wurden nur spärliche Veränderungen am 
Biceps- und den sonst wenig konstanten Radius- und Beugesehnenreflexen kor.* ; 
statiert, was der Verf. auf die eigentümliche Haltung der Arme (in Beugung mi; 
geballten Fäusten) während des Laufens zurückzuführen geneigt ist. Der Triceps- 
reflex, der konstanteste aller Reflexe der oberen Extremitäten, zeigte gar kein« 
Veränderung. Auch der Bauchreflex, der Unterkieferreflex und der Liehtreflti 
der Pupillen blieben unverändert. 1 

Diese interessanten Befunde sind wohl als reine Aufbrauchserscheinungft ; 
im Edingerschen Sinne aufzufassen und können nicht durch eine bei der Ermüdung 
entstehende Toxämie erklärt werden. (Autoreferat.) 

Juschischenko (178) hat bei Geisteskranken und zum Vergleich auch bei Ge¬ 
sunden den Gehalt an Katalase, Phylokatalase, Nuklease, Antitryphin untersuch; 
die hämolytischen Eigenschaften des Serums geprüft und auch die Reaktion 
der Komplementbildung ausgeführt. Wenn es auch keinem Zweifel unterliegen 
kann, daß die fermentativen und fermentartigen Prozesse im Organismus der 
Geisteskranken und schwer Degenerierten Störungen erleiden, so bringen doch 
die bisher gewonnenen Resultate nur wenig Aufklärung. Immerhin hat der Autor 
sehr bemerkenswerte Befunde festgestellt, die nicht nur für die Diagnostik, sondere 
auch für die Therapie von großer Bedeutung sein können. 

Ealbey (131) weist darauf hin, daß Geisteskrankheiten, geistige Schwäche¬ 
zustände und Epilepsie eine gewisse Rolle bei der Auswanderung und Einwanderung 
spielen. Er hält es im Interesse der Schiffahrtsgesellschaften für wünschenswert. 
daß bei der Untersuchung der Auswanderer auf Geisteskrankheiten und psychische 
Abnormitäten besonderer Wert gelegt wird. Im Jahre 1910 sind 379 Personen 
wegen Geisteskrankheit vom Einwandem in die Vereinigten Staaten von Nord¬ 
amerika ausgeschlossen worden; 709 Personen sind wegen geistiger Störungen 
und Epilepsie wieder in die alte Heimat zurücktransportiert, zusammen 1088 = 
0.1% der Gesamtzahl der Auswanderer. 

Funaioli (111) macht unter reichlicher Verwendung, besonders auch der 
deutschen Literatur, Vorschläge zur Reformierung des italienischen Sanitäts- 
wesens, soweit die Psychiatrie in Frage kommt, und zwar für die Friedens- wie 
für die Kriegszeiten. Vor allem schwebt ihm Deutschlands Beispiel vor. 

{Ganter.) 

Auf Grund einer Publikation von cCAutheaume und Mignot bespricht Adam 
(2) das Vorkommen der Geisteskrankheiten im französischen Heere. Er stellt 
fest, daß in jedem Jahre eine ganze Anzahl Rekruten eingestellt werden, die nach 


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ihrem ganzen Geisteszustände den Anstrengungen und der Verantwortung des 
militärischen Dienstes nicht gewachsen sind. Die Zahl der Imbezillen und Idioten 
ist von 0,04 :1000 im Jahre 1893 auf 0,29 im Jahre 1904 gestiegen; es ist das fast 
die Hälfte des Gesamtabganges wegen Geisteskrankheit. Die progressive Para» 
lyse nimm t eine sehr wichtige Stellung in den geistigen Erkrankungen des Heeres 
ein, was wohl den mannigfachen körperlichen Anforderungen mit zu zu schreiben 
ist. Nach ihr kommt die Dementia praecox. Unter den Straffälligen im Heere 
ist eine große Anzahl psychopathischer, degenerierter Individuen, deren geistige 
Schwäche sie zu häufigen Opfern der Militärjustiz werden läßt. Empfohlen wird 
als Prophylaxe genaue Untersuchung der Soldaten durch spezialistisch ausge¬ 
bildete Militärärzte und Unterstützung dieser Maßregel durch Offiziere, die die 
Grundlagen der Geisteshygiene sich angeeignet haben. 

U Ätiologie. 

Stertz (868) hat in der Breslauer Klinik charakteristische Fälle von perio¬ 
dischem Schwanken der Himfunktion beobachtet; auf kurze Phasen relativ freien 
Bewußtseins folgten in regelmäßigem Wechsel solche von Benommenheit. Er 
führt diese periodischen Schwankungen der Himfunktion vor allem auf organische 
Gefäßwanderkrankung und hinzutretenden intermittierenden Angiospasmus zu¬ 
rück, der periodische Ischämien des Gehirns und damit entsprechende Funktions¬ 
störungen zur Folge hat. 

Hannes (134) glaubt auf Grand seiner Untersuchungen nicht, daß es eine 
Beeinflussung der späteren körperlichen und geistigen Entwicklung asphyktisch 
oder mit Kunsthilfe, namentlich mit der Zange zur Welt gekommener Kinder gibt. 
Asphyktisch oder mit Kunsthilfe geborene Kinder stehen hinsichtlich der hier 
in Betracht kommenden Möglichkeiten nicht schlechter als die bei regelrechtem 
Geburtsverlauf spontan Geborenen. Die Bewertung der schweren und asphyk- 
tischen Geburt als ätiologischen Moments für später manifest werdende geistige 
und nervöse Störungen wird übertrieben. 

Münzer (254) führt die Schwangerschafts- und Wochenbettspsychosen auf 
im Übermaß sezemierte toxische Produkte des graviden bzw. puerperalen Uterus 
zurück. Zu dieser Grundursache treten dann noch eine Reihe von Hilfsmomenten, 
welche den Ausbrach der Psychose begünstigen. 

Plönies (285) führt eine große Zahl nervöser und psychischer Störungen 
auf Magenerkrankungen, auf gastrogene Toxine zurück und weist ausführlich auf 
die Wichtigkeit entsprechender diätetischer Behandlung hin: die Diät ist und bleibt 
der unentbehrliche Heilfaktor in der Behandlung der gastrogenen zerebralen 
Störungen. 

Setoell und Me. Dowdll (325) untersuchten das Blut von 50 Geisteskranken 
(Verwirrtheit, Melancholie, ehr. Psychosen) auf Mikroorganismen, die man für die 
Krankheit etwa hätte verantwortlich machen können. Resultat negativ. Trotzdem 
lassen die Verf. die Frage offen, ob nicht Giftstoffe von irgendwo im Körper ver¬ 
borgen sitzenden Bakterien die Ursache der Geisteskrankheit sein könnten. 

( Oanter .) 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


Meyer (236) hat eine größere Anzahl von Kranken mit frischen Kopfver¬ 
letzungen oder schwerer allgemeiner Körpererschütterung psychiatrisch-neuro¬ 
logisch untersacht und dabei festgestellt, daß psychische Abweichungen ver¬ 
schiedener Art: Störungen der Orientierung, der Merkfähigkeit, abnorme Ermüd¬ 
barkeit, Neigung zur Perseveration, aphasische Störungen, leichte Stuporzustände, 
Euphorie viel häufiger sind, als die oberflächliche Untersuchung und das eigene 
Empfinden der Kranken erkennen läßt. 

Kopystinski (194) bearbeitet auf Grund des eigenen Materials und der Lite- 
raturangaben die Frage nach dem Zusammenhänge zwischen Schädeltrauma und 
Psychose. Aus seinen Schlüssen heben wir Folgendes hervor: Die traumatischen 
Psychosen können sowohl unmittelbar nach dem Trauma, als auch nach Ablauf 
einer längeren — manchmal jahrelangen — Periode zum Ausbruch kommen. Sie 
verlaufen meist nach dem Typus einer Dementia praecox (in 38%), kommen aber 
auch als Epilepsie (18%), Imbezillität (14%), Köppensche Dementia post-trau- 
matica (8%) und progressive Paralyse (6%) zum Vorschein. Als ätiologischer Faktor 
figuriert das Trauma am häufigsten in der Epilepsie(10%), dann in der Imbezillität 
(9,4%) und in der Dementia praecox (6,1%). In der progressiven Paralyse übt 
das Trauma einen Einfluß in der Weise aus, daß es entweder den Zustand ver¬ 
schlimmert oder' eine latente Krankheit zum Ausbruch bringt. 

(Fleischmann- Kiew.) 

Siroemer (360) berichtet über einen im Anschluß an eine gynäkologische 
Operation aufgetretenen Fall von Amentia und macht darauf aufmerksam, daß 
beim Zustandekommen dieser Psychose körperliche (Vorleben, Trauma, lang¬ 
dauernde Blutverluste, Operation) und seelische Schädigungen (Angst vor der 
Operation) eine Bolle gespielt haben, daß die Operation als auslösendes, die schlie߬ 
lich akut gewordene Erschöpfung aber als ursächliches Moment anzusehen sei. 

Voß (380) schildert in anschaulicher Weise die vielfachen Beziehungen 
zwischen Tuberkulose und Nervensystem, besonders nach ihrer klinischen Seite. 

Lagriffe (199): Ein Fall von akutem Delirium, ein anderer von Verwirrtheit, 
deren Ursache Verf. in einer tuberkulösen Meningitis zu erkennen glaubt. Jener 
durch die Sektion bestätigt. (Ganter.) 

Stierlins (357) interessante Ausführungen berichten über die psychischen 
und nervösen Störungen, welche bei den überlebenden der Katastrophen von 
Valparaiso, Messina-Reggio, Courriöres, Radbod, Mülheim u. Crail festgestellt 
worden sind: Akute, rasch ablaufende Schreckpsychosen vom Charakter hysterischer 
oder epileptischer Dämmerzustände und solche chronischen Verlaufs, an Er¬ 
schöpfungspsychosen und Korsakow erinnernd. Oft war in der ersten Zeit folgender 
nervöser, vorwiegend vasomotorischer Symptomenkomplex nachweisbar: Schlaf¬ 
störungen, erhöhte Frequenz und Labilität des Pulses, Steigerung der Patellar- 
reflexe; weniger regelmäßig: Demographie, starkes Schwitzen, Gefühl aufsteigender 
Hitze, kühle Extremitäten, Zephalgie, Vertigo, Abulie, Tremor. Die Störungen 
verliefen meist günstig, nur in einzelnen Fällen entwickelten sich daraus eigent¬ 
liche Neurosen. Bezüglich der Bassendisposition bemerkt der Autor, daß der Süd- 
Italiener zu rasch ablaufenden akuten hysterischen Manifestationen, der nord- 


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Schroeder, Allgemeine Psychiatrie. 


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französische Arbeiter für hysterische Neurosenformen disponiert scheint. Bei 
Deutschen der bessergestellten Klassen sind vorwiegend neorasthenische Störungen 
beobachtet worden. 

Mondio (248) hat die nach dem Erdbeben von Messina und infolge desselben 
geistig Erkrankten in der Irrenanstalt „Lorenzo Mandalaro“ zu beobachten Ge¬ 
legenheit gehabt. Es gehörten an: der allgemeinen Verwirrtheit 20 (12 M. 8 Fr.), 
den hysterischen Geistesstörungen 30 (3 M. 27 Fr.), den neurasthenischen Geistes¬ 
störungen 30 (28 M. 2 Fr.), den epileptischen Geistesstörungen 12 (8 M. 4 Fr.), 
der Hypomanie 2, dem halluz. Irresein 13, der progr. Paralyse 3. Seine sonstigen 
wichtigsten Erfahrungen waren: Eine schlimmere Wirkung als das körperliche 
Trauma hatte der Schock auf die Psyche. Dauer und Ausgang der Psychose hing 
außer von der Heftigkeit der Gemütserschütterung auch von der Veranlagung 
des Individuums ab. Die traumatischen Psychosen, bei denen der psychische 
Schock die Hauptrolle spielt, stellen sich kurz nach dem Trauma ein, während bei 
den körperlichen Verletzungen die Psychose erst später zum Ausdruck kommt. 

(Ganter.) 

Cotton und Hammond (68) schildern auf Grund der Krankengeschichte einer 
56 Jahre alten Negerin (Lehrerin) das Bild einer Herz- oder „Zirkulationspsychose“: 
Ängstliche Verstimmung mit plötzlichem Beginn und unregelmäßigem Verlauf, 
nächtlichen Delirien, lebhafter Reaktion auf Halluzinationen und raschem töd¬ 
lichem Ausgang. Ursache eine Herzkrankheit. Die histologische Untersuchung 
ergab Degenerationserscheinungen in den Pyramidenzellen. Verf. nimmt einen 
Zusammenhang an zwischen der Herzkrankheit, der „zentralen Neuritis“ und der 
Psychose an. (Ganter.) 

III. Pathologie. 

Reichardt (297) behandelt nach kurzer Definition der „Himschwellung u 
und besonderem Hinweis auf die Notwendigkeit konsequenter Berücksichtigung 
des Schädelinnenraums bei Feststellung des Himgewichts zunächst die Beziehungen 
von Himhyperämie, Hydrozephalus, Hirnödem zur Hirnschwellung und wendet 
sich dann ihren Ursachen zu. Die Liquorverhältnisse bei Himschwellung, ihre 
Histologie und ihr Wesen werden hierauf besonders besprochen. Das Literatur¬ 
verzeichnis nennt 78 Arbeiten. „Als Hirnschwellungen im engeren Sinne kann 
man zurzeit verstehen: Volumenvergrößerungen des Gehirns von verschiedenster 
Ätiologie, bei welchen die Volumenvermehrung nach dem gegenwärtigen Stand 
der Kenntnisse nicht erklärt werden kann durch Hypertrophie oder Hyperplasie, 
entzündliche Neubildung, Schwellung durch Hyperämie, Anwesenheit vermehrter 
freier Flüssigkeit und auch nicht durch histologische Befunde, welche die Volumen¬ 
vergrößerung des Gehirns restlos erklären könnten.“ „Das Wesen der Hirnschwellung 
ist dunkel.“ 

Reichardt (296) beschäftigt sich mit der Frage nach der Existenz bestimmter 
charakteristischer Todesarten bei Hirakrankheiten. Er weist dabei zunächst auf 
die Wichtigkeit richtiger Körpergewichtsbestimmungen hin, macht auf die Wert¬ 
losigkeit einer Körpergewichtszahl ohne sonstige Angabe aufmerksam und betont, 
daß das Körpergewicht in Beziehung zur Körpergröße gebracht und der Körper- 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


gewichtsquotient festgestellt werden muß. Auf Grund seiner Untersuchungen 
stellt R. dann folgende Todesarten auf: Tod nach vorangegangener endogener, 
wahrscheinlich zerebraler Abmagerung, auch wenn das Maximum der an sich röt¬ 
lichen Abmagerung nicht erreicht ist; Tod im zerebrospinalen sogenannten Maras¬ 
mus; Tod nach trophischen Störungen; Tod nach auffallenden Temperatur- 
erscheinungen; Tod nach starken anfallsartigen Störungen, wobei m«.nrhnn*l gleich¬ 
zeitig ein abnormes Verhalten des Körpergewichtes vorangegangen war; Tod nach 
starken und charakteristischen (anscheinend) psychischen Symptomen; Tod ohnr 
alle auffallenden akuten klinischen Symptome. R. glaubt, daß diese verschiedenen 
Todesarten in Beziehung zu bringen sind zu einer verschiedenen Lokalisation de« 
Krankheitsprozesses im Gehirn, wobei dann auch die individuell verschiedene 
Hirnorganisation, das Lebensalter und die Eigenart der Hirnkrankheit zu berück¬ 
sichtigen ist. 

Münzer (267) beschäftigt sich mit den schweren Marasmen, wie sie zeitweilig 
im Gefolge von Hirne■ krankungen auftreten; er schildert deren Erscheinungsformen 
und erörtert die Möglichkeiten ihrer Entstehung. Der paralytische Marasmus wird 
als Typus einer mit den Erscheinungen des schwersten Marasmus einhergehender 
zerebralen Erkrankung besonders eingehend behandelt. Das Wesen der Krankheit 
wird als eine durch schwere Funktionsstörungen der nntergehenden Nervenzellen 
bedingte Intoxikation charakterisiert. 

Münzer (266) führt uns die krankhaften Erscheinungen der Tanzwut, des 
Tarantismus, der Selbstgeißelung, des modernen Sektenwesens mit seinen Ans¬ 
wüchsen und Absonderheiten vor Augen. Auch er rubriziert diese psychischen 
Epidemien unter die Hysterie und führt sie besonders auf 3 Faktoren zurück: 
Nachahmungstrieb, Suggestion und Einfluß der Massenwirkung (Massenhysterie). 
Eine kurze kritische Betrachtung der hysterischen Phänomene beschließt die 
interessanten Ausführungen. 

Trömner (374) bespricht in seinen Ausführungen die motorischen Störungen 
des Schlafes. Das Schlafsprechen ist an sich kein Zeichen pathologischer Ver¬ 
anlagung. Einen klinis chen Zusammenhang zwischen Schlafwandeln and Epilepsie 
hält Trömner für unbeweisbar. Der kataleptische Halbschlaf ist häufiger bei nervösen 
als bei nicht nervösen Personen, dagegen sind die als „Schlaftic“ oder „Jactationes 
nocturnae“ bezeichnten motorischen Störungen des Schlafes ausgesprochen neoro- 
pathischer Genese. Was die Enuresis nocturna anlangt, so begünstigt manifeste 
Epilepsie zwar das Auftreten unwillkürlicher nächtlicher Entleerungen, in den 
meisten Fällen sind aber allerlei andere neuropathische Momente als Ursache 
anzuschuldigen. Außerdem bleibt ein nicht geringer Prozentsatz solcher fälle 
übrig, bei denen die Enuresis einen aus der Wiege in das Leben übernommenen 
Schwächezustand, eine Art „Reflexinfantilismus“ darstellt. Empfohlen wird gegen 
diese motorischen Schlafstörungen die Hypnose, die Verf. auch bei älteren Fällen 
mit Erfolg angewandt hat. 

Eaymann (136) gibt eine vorzügliche umfassende Übersicht über die gesamte, 
seit 1906 erschienene Literatur aus dem Bereich der Kinderpsychosen ausschlie߬ 
lich der Epilepsie. Das Literaturverzeichnis nennt 273 Arbeiten. 


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Schroeder, Allgemeine Psychiatrie. 


121* 

Hockringen (160) Ausführungen kommen zu dem Schluß: Das isolierte Fazialis- 
phänomen bei älteren Kindern und Jugendlichen hat unter allen Umständen eine 
pathologische Bedeutung, es ist das sinnfällige Symptom einer angeborenen neuro* 
p&thischen Konstitution, welche sieh bei den Eltern, besonders den Müttern, durch 
das sehr häufig vorhandene gleiche Phänomen in Verbindung mit funktionellen 
Neurosen zu erkennen gibt; das isolierte Fazialisphänomen ist ein Hauptattribut 
der psychischen Ubererregbarkeit und Nervosität der Jugendepoche und haftet 
fester beim weibliohen als beim männlichen Geschlechte. Jugendliche Nervosität 
und infantile Übererregbarkeit, bez. Spasmophilie der Säuglinge, gehören genetisch 
zusammen und beruhen in letzter Linie auf hereditärer neuropathischer Ver¬ 
anlagung. 

Dreyiua (86) schildert nach kurzer Präzisierung des depressiven Symptomen- 
komplexes eine Reihe von leichten Depressionszuständen bei bis dahin psychisch 
völlig Gesunden und bei Psychopathen; er zeigt dabei, wie diese Depressionszustände 
die Folge von ganz verschieden zu bewertenden ursächlichen Momenten sein können, 
und macht darauf aufmerksam, daß hier die Ätiologie der Symptomatologie diffe¬ 
rential-diagnostisch überlegen ist und Prognose wie Therapie entscheidend be¬ 
einflußt. 

Genil-Perrin (114): Beispiele von krankhaftem Altruismus bei Geisteskranken, 
Melancholischen, Hysterischen, Degenerierten usw. Das Symptom zeigt sich in 
einem merkwürdigen Schwanken oder in der ungleichmäßigen Entwicklung der 
verschiedenen Seiten des Gemütslebens, z. B. begeht jemand einen Diebstahl, 
oder verschleudert sein Vermögen, um den Armen eine Gabe zu verschenken, oder 
setzt die Tierliebe über die Menschenliebe u. dgL m. (Garnier.) 

Grawe (124) zeigt, daß die scapula scaphoidaea sich vom Durchschnittstypus 
des menschlichen Schulterblattes in vielfacher Hinsicht unterscheidet; vor allem 
ist ihr Vertebralrand unterhalb der spina mehr oder weniger konkav. Gr. weist 
auf den Zusammenhang zwischen Vorkommen der scap. scaph. und Syphilis in 
der Aszendenz hin und stellt folgende These auf: „Die scap. scaph. ist eine Anomalie 
der Entwicklung, welche in der Nachkommenschaft entsteht, veranlaßt durch 
einen abnorm wirkenden Umstand, der die Eltern betroffen hat; sie pflanzt sich 
von den Eltern auf Kinder fort durch mehrere Generationen; und wenn nicht der 
abnorme Umstand von neuem bei den Abkömmlingen wirksam wird, verschwindet 
die scap. scaph. allmählich und der Rassetypus herrscht wieder vor. 

Beye (302) stellt auf Grund seiner Untersuchungen über das Vorkommen 
der kapholden Form der Skapula fest, daß die scapula scapholdea in ganz 
überwiegender Mehrzahl der Falle als Degenerationszeichen zu betrachten ist. 
ln ätiologischer Beziehung spielt in erster Linie Lues, aber nur etwa in der Hälfte 
der Fälle, eine Rolle. Weiter kommen Alkoholismus, Tuberkulose und schwere 
nervöse Erkr ankung en des Aszendenten als ätiologische Faktoren in Betracht. 
In ganz seltenen Fällen scheinen auch in den ersten Lebensjahren akquirierte 
Schädigungen das Auftreten von skaphoTden Skapulaformen bewirken zu können. 
R. bestätigt also im wesentlichen die Anschauungen des Amerikaners Grawe. 

Frankhaueer (107) präzisiert kurz seinen diagnostischen Standpunkt und 
bringt dann 40 in der Bezirksheilanstalt Stephansfeld 1900—1906 beobachtete 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


Falle von Geschwisterpsychosen: Dementia praecox-Fälle, manisch-depressiv? 
Fälle and Rückbildungspsychosen (Spätdemenzen). Das hereditäre Moment in 
der Ätiologie ist das innere Band aller funktionellen Psychosen. Von den 40 Gt- 
schwisterpsychosen betreffen 17 beide Geschlechter, 23 nur eins; hiervon 4 d*> 
männliche, 19 das weibliche. Das weibliche Geschlecht ist überall empfängliche 
für die erbliche Übertragung von Krankheitsanlagen als das männliche. Bei Here¬ 
dität von seiten des Vaters sind mehr die Töchter, bei solcher von seiten der Mutt« 
mehr die Söhne gefährdet. Der Einfluß des Vaters bei der Vererbung scheint im 
allgemeinen mächtiger zu wirken, als der der Mutter. Bei Erkrankung eines Bruder? 
ist die Wahrscheinlichkeit, daß eine Schwester erkrankt, größer als die, daß wiederum 
ein Bruder erkrankt; bei Erkrankung einer Schwester ist die Wahrscheinlichkeit, 
daß wiederum eine Schwester erkrankt, größer. Die jüngeren Geschwister erkranke 
zweimal so oft früher als die Eltern; die Schwere der Belastung ist auch vom Ake: 
der Eltern abhängig. 

Suchanow (336) schildert den Fall einer manisch-depressiven Erkrankung 
bei Zwillingsschwestern und erörtert im Anschluß daran die Frage über die Zwillings¬ 
psychose. S. erkennt die Berechtigung einer solchen Krankheitsform nicht uv 
In seinem Falle konnte von einer Identität der Erkrankung bei den Geschwister: 
keine Rede sein. Es handelt sich vielmehr um eine Familienpsychose, die bei 
allernächsten Verwandten zum Ausbruch gekommen war. {Fleischmann-Kiew, i 

Partenheimer (273) faßt seine interessanten Ausführungen in folgenden Schlu߬ 
sätzen zusammen: „Das Bestehen induzierten Irreseins im strengen Sinne ist äußer?: 
selten, wenn nicht überhaupt fraglich. Induziertes Irresein kann nur angenommen 
werden, wenn ein nachweisbar erblich nicht erheblich belastetes, also zu geistig?: 
Erkrankung nicht von vornherein prädisponiertes Individuum lediglich durch d*a 
Umgang mit einem Geisteskranken in eine Geisteskrankheit verfällt, die in klinischem 
Sinne, in Inhalt und Form mit der Psychose des Ersterkrankten identisch ist urd 
nach der Trennung auch weiter einen selbständigen Charakter trägt. Die Krank¬ 
heitsform, die für das induzierte Irresein bei diesen Voraussetzungen wohl allen: 
in Betracht kommen könnte, wäre die Paranoia“. 

Runge (317) stellt auf Grund eigener Erfahrung und unter Heranziehung 
zahlreicher Statistiken anderer Autoren fest, welche Psychosenformen während 
des Generationsgeschäftes Vorkommen, welche ätiologischen Momente bei Ent¬ 
stehung der einzelnen Formen eine Rolle spielen und welche Momente für Verlauf 
und Prognose von besonderer Bedeutung sind. Auch Runge s Resultate bestätigen, 
daß es keine spezifischen Generationspsychosen gibt. Endogene ätiologische Momente 
sind hier weniger als sonst bei den Psychosen vertreten, dagegen zeigen über die 
Hälfte der Fälle exogene ätiologische Momente. Die Prognose der Generations¬ 
psychosen in der Gesamtheit ist günstig und zwar infolge des Prozentsatzes an 
Fällen der Amentiagruppe, der Melancholie und der hysterischen Psychosen. Bei 
der Therapie betont Runge die außerordentlich große Suizidgefahr. Der Einleitung 
des künstlichen Abortes bei Graviditätspsychosen gegenüber äußert er sich sehr 
zurückhaltend und empfiehlt größte Vorsicht und vorherige Beobachtung und 
Behandlung in einer Anstalt. 


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123* 


Meyer (231) bespricht nach kurzen statistischen Mitteilungen und kurzer 
Würdigung der Beziehungen zwischen Generationstätigkeit und Paralyse, Alkoholis¬ 
mus, Epilepsie und Hysterie ausführlich die Graviditätspsychosen, die kurz dauern¬ 
den psychischen Störungen während oder direkt nach der Geburt, die Puerperal¬ 
psychosen im strengen Sinne, die eklamptischen Psychosen und Laktationspsychosen. 
Auch nach M. gibt es keine spezifische puerperale Psychose. Er glaubt, dafi die 
Generationstätigkeit weniger von unmittelbarer Bedeutung für die Entstehung 
von Psychosen ist, als mittelbar durch Schwächung des Nervensystems den günstigen 
Boden für nervöse und psychische Störungen bietet. Für Stellung der Indikation 
des künstlichen Abortes stellt der Autor folgenden Satz auf: „Das Fortbestehen 
der Schwangerschaft muß die dringende Gefahr in sich schließen, daß ein dauerndes 
schweres Nervenleiden entstehen wird, das auf keine andere Weise zu beseitigen 
ist, und von dem man mit Bestimmtheit erwarten kann, daß es durch die Unter¬ 
brechung der Schwangerschaft geheilt bez. in der Entwicklung für die Dauer ge¬ 
hemmt wird. Eine vorherige Beobachtung in nicht ganz klaren Fällen und ein 
sorgfältiger Behandlungsversuch sind notwendig; auch soll man stets verlangen, 
daß eine neue Gravidität jedenfalls für Jahre vermieden wird/ 4 

JoUy (168) hat bei 79 von 1887—1900 in der Hallenser Klinik behandelten 
Puerperalpsychosen katamnestische Untersuchungen angestellt; er macht auf 
Grund seiner Feststellungen wertvolle Mitteilungen über Ätiologie, Zeit des Aus¬ 
bruchs, Dauer und Ausgang der Erkrankung und knüpft daran diagnostisch¬ 
statistische Bemerkungen. Meist handelte es sich um Frauen zwischen 26 und 
35 Jahren und zwar um Mehrgebärende, selten um außerehelich Geschwängerte. 
Die meisten Psychosen gehörten der Amentia an, etwas weniger der Manie-Melan- 
cholie-Gruppe, noch weniger der Katatonie. Die Katatonie zeigte absolut un¬ 
günstige Endprognosen. Völlig geheilt 46%, bei Hinzurechnung der mit geringem 
Defekt Geheilten und bei Wiedererkrankung Genesener 59%. Wiedererkrankung 
durchschnittlich nach 3 Jahren 8 Monaten. Für den Ausgang als günstig erwiesen 
sich Infektion und erschöpfende Momente, als ungünstig angeborener Schwach¬ 
sinn, chronischer Beginn, frühere geistige Erkrankung im jugendlichen Alter, Fehlen 
einer besonderen Veranlassung. Die Dauer der Psychosen war länger: bei Belasteten, 
Frauen über 30 Jahren, bei chronischem Beginn und bei Amentia mit besonders 
hervortretenden katatonen Zügen; kürzer: bei den in den ersten zwei Wochen 
nach der Geburt und bei den im Anschluß an Infektion aufgetretenen Psychosen. — 
Derselbe Verfasser (169) beschäftigt sich an der Hand des gleichen Materials noch 
einmal besonders mit der Prognose der Puerperalpsychosen; sie ist am günstigsten 
bei den Amentia-Fällen. 

Da Rocha (306) hat in der Irrenanstalt zu Juquery (Brasilien) Beobachtungen 
an 286 geisteskranken Negern angestellt. Es fanden sich: Periodisches Irresein 
bei 38 M. 41 Fr., Melancholie bei 4 M. 1 Fr., Dementia praecox (die katatonische 
Form ist sehr selten) bei 27 M. 32 Fr., systematisierter Wahnsinn der Degenerierenden 
(nach Magnan) bei 6 M. 2 Fr. (Heilung nach einigen Monaten nach Aufhören der 
schädigenden Ursachen), Paranoia bei 1 M. 1 Fr. (die harmlosen Fälle kommen 
natörlich nicht in die Anstalt), Epilepsie bei 16 M. 18 Fr. (vorwiegend Kr iminal - 


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124* Bericht fiber die psychiatrische Literatur 1911. 

fälle; sie zeigen alle Formen der Epilepsie), Alkoholismns bei 13 M. 16 Fr.. Demesm 
par&lvtica bei 4 M. 1 Fr., Dementia senilis bei 12 M. 16 Fr., Imbezillität bei 7 X. 
20 Fr., Idiotie bei 1 M. 4 Fr., moralisches Irresein bei 3 M. Der geistige Tidsaec 
and der Mangel vonKnltur spiegelt sich auch im Krankheitsbild wieder. Die Dementi 
paralytica ist sehr selten, trotzdem Syphilis und Alkoholismns häufig vorkomne. 
Der Alkoholismns findet sich besonders häufig bei den Weibern. Der Anteil te 
Weiber an der Verblödung übertrifft den der Männer. {Gante.) 

Heumard (133): Sfrieux and Capgras versuchten aas der Krankheitsgrnpp« 
des dölire systömatisö chroniqae (Paranoia) das dfelire d'interpretation (Beriehnng- 
wahn) als wohlcharakterisierte Unterabteilung hervorzuheben (Vorherrsehea an 
Eigenbeziehungen, fast völliges Fehlen von Halluzinationen, im übrigen kein k- 
telligenzdefekt, Unheilbarkeit, keine Verblödung). Der Verf. erkennt an da Hw 
von 10 ausführlichen Krankengeschichten im großen ganzen diese Einteilung 
richtig an, nur findet er, daß die Mischformen überwiegen. Nor 2 Krankengeschichte 
können als fast reines dölire d’interpretation angesprochen werden, die übn?-: 
zeigen Mischungen mit dem dölire de revendication (Qaärulantenwahnsinn), d«. 
dölire hallncinatoire chronique, dem dölire d’imagination (Fabulieren). Den Schis: 
bildet ein Literaturverzeichnis von 260 Nummern (darunter auch viele deutsch: 
Autoren). {Ganter, i 

Hitsche and Wümanns (262) unterscheiden in ihrem Referat drei Periode 
Die erste umfaßt die Arbeiten der alten Schulen, die zweite betrachtet die Frie¬ 
der Gefängnispsychose unter dem Gesichtspunkte der Dementia praecox-Leis: 
Kräpelins, die dritte unter dem Gesichtspunkt der Magnan-Mobiueschea An¬ 
schauungen über Degeneration. „Der langjährige Kampf um die Frage nach eine: 
spezifischen Haftpsychose hat sich dahin entschieden, daß die in der Haft »: 
Entwicklung ko mm enden juvenilen Verblödungsprozesse nur eine charakteristisch« 
Färbung von dem Haftmilieu erhalten, und daß bei entsprechend organisiertet 
Persönlichkeiten akute und chronische Psychosen zur Entwicklung kommen können 
die denjenigen an die Seite zu stellen sind, die auch in der Freiheit unter dem Einfioi 
affektbetonter Erlebnisse bei ihnen beobachtet werden.“ 

Heinicke (138) beschreibt einen seltenen Fall von Begnadigungswahn bri 
einer an seniler Geistesstörung leidenden Gewohnheitsverbrecherin, die fast di' 
Hälfte ihres Lebens in Strafanstalten zugebracht hatte. Der Autor bestätigt di; 
bekannten Rüdtnschen Anschauungen über Genese und Verlauf dieses Krankheits- 
bildes. 

Hemicke (139) schildert kurz und prägnant die Hauptanfänge psychisch«: 
Störungen bei Gefangenen und knüpft t aran bemerkenswerte Ausführungen übe: 
Simulation psychischer Störungen. 

Willige (388) beschäftigt sich in seinen sehr beachtenswerten Ausführung«; 
mit nervösen und psychischen Störungen nach Blitzschlag und veröffentlicht eine 
Reihe charakteristischer großenteils selbst beobachteter Fälle. Er teilt die Fäll« 
ein in solche von unmittelbarer Schädigung und solche von mittelbarer (durch 
Telephon oder Telegraph) Schädigung durch Blitzschlag. Gemeinsam ist allen 
Krankheitsbildem eine Mischung von organischen Läsionen — besonders der 


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125* 


Hinmerven — nnd funktionellen Störungen, wie man es bei anderer Ätiologie 
seltener findet. Die Aussichten auf definitive Heilung sind bei den unmittelbaren 
Blitzwirkungen günstiger als bei den mittelbaren. 

König (191) beschreibt ausführlich das Krankheitsbild einer schweren hysteri¬ 
schen Psychose nach Blitzschlag. 

Biachoff (36) beschreibt den Verlauf einer selbst beobachteten Starkstrom¬ 
verletzung bei einem 36jährigen Arbeiter mit glücklichem Ausgang. Während 
der Ausgleich der Störungen auf vegetativem und nervösem Gebiete nnr Sekunden, 
Minuten und Stunden in Anspruch nahm, dauerte der Ausgleich der psychischen 
Störungen Stunden, Tage, Wochen und Monate. 

v. MdUzahn (227) hat bei Geisteskranken, welche an den verschiedenen Formen 
der Dementia, an hysterischen Psychosen, an Manie, Melancholie, Dämmerungs¬ 
zuständen und Amentia litten, mit Hilfe der Bourdonschen Probe Aufmerksamkeits¬ 
prüfungen vorgenommen; er schildert die verschiedenen Arten von Aufmerksam¬ 
keitsstörungen: Hypo- und Hypervigilität, Hypo- und Hypertenarität, Aprosexie 
nnd Hyperprosexie und macht darauf aufmerksam, daß der Ausfall solcher Unter¬ 
suchungen in Verbindung mit den übrigen Symptomen der Krankheit für die 
Diagnose ausschlaggebend sein kann. 

Rohde s (307) Versuche zeigen, daß Assoziationsproben bei der Diagnose der 
Geisteskrankheiten wertvolle Dienste leisten und daß sich damit Wahnideen be¬ 
sonders gut hervorlocken lassen. Für die forensische Praxis sind derartige „Über- 
listungsversuche“ aber nur mit großen Einschränkungen verwertbar. 

Klepper (189) hat Assoziationsversuche zur Unterscheidung von epileptischen 
und katatonischen Zuständen angestellt. Seine Untersuchungen zeigen, daß man 
mit der Assoziationsmethode allein oder in Verbindung mit anderen Prüfungen 
wohl imstande ist, auch ohne Kenntnis der Anamnese die Unterscheidung von 
katatonischen und epileptischen Zuständen mit großer Wahrscheinlichkeit zu 
machen. 

Kilians (187) zahlreiche Assoziationsversuche bei einem Fall von Manie 
haben viele Stereotypien ergeben; er läßt es deshalb dahingestellt, ob diese Stereo¬ 
typien ein bei den Assoziationen manischer Kranker häufig vorkommendes Symptom 
sind, oder ob sie eine Besonderheit seiner auch sonst viel Manieriertheiten ab¬ 
weisenden Versuchsperson darstellen. Anamnestische und sonstige klinische Sym¬ 
ptome haben daran denken lassen, das Krankheitsbild als manisch-depressive 
Erregung auf latent-epileptischer Grundlage zu deuten. 

Rosenfeld (311) macht auf die diagnostische Verwertbarkeit des kalorischen 
Nystagmus aufmerksam und wünscht dieser einfachen, gefahrlosen und bequemen 
Untersuchungsmethode weitere Verbreitung; er hat damit nicht nur bei organischen 
Gehimkrankheiten, sondern auch bei der Prüfung der Schwere von Bewußtseins¬ 
störungen bemerkenswerte Tatsachen festgestellt. Bei Bewußtseinsstörungen 
durch Intoxikationen (Morphium-, Alkoholvergiftung, Delirium tremens besonders) 
empfiehlt Verfasser auf kalorischen Nystagmus zu prüfen; prognostisch wichtig 
ist, ob rascheNj stagmusbewegung oder langsame, wechselnde bzw. fixierte Deviation 
erfolgt oder ob die bulbi überhaupt nicht mehr mit Bewegungen reagieren. 


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126* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


Meyer (237) macht auf Grund langjähriger Beobachtung darauf aufmeksü 
daß der Patellarreflex des typischen Neurasthenikers „schnellend“ ist und au 
der „springende“ Reflex auf Hysterie deutet. Der schnellende Reflex ist die dank- 
ristische Form der Erhöhung des Reflexes bei Übermüdung und Uberreiian; 

Goldflam (119) hat die Knie- und Achillessehnenreflexe an einem zrafc 
Material nach einheitlichen Gesichtspunkten und Methoden untersucht und ha: 
Jahre weiter beobachtet und geprüft. Er kommt dabei zu dem Resultat, daß 
Menschen mit Fehlen der Sehnenxeflexe an den Beinen zu den größten Selten^ '-: 
gehören. 

Hahn (130) hat eine größere Zahl von Kranken unter Hyoszin- und Alk« 
Wirkung untersucht und dabei besonders den Bdbinskischen, Oppenheimschez j> 
Mendel sehen Reflex geprüft. Seine Untersuchungen zeigen, daß „Babinski" • 
einzelt bei chronischem Alkoholismus vorkommt, er kann in vereinzelten Fl-.- 
auch bei Epileptikern unabhängig vom Anfall ohne andere Lokalerscheinur; 
bestehen. Der Oppenheimsche Reflex ist der Ausdruck einer schwereren Schade- 
als der Babinski&che. Der Mende Ische Reflex scheint nnr bei organischen Störuig 
vorzukommen. 

Cohn (66) beschreibt einen neuen Kniesehnenreflex, den er bei Beklopf 
der Fußsohle doppelseitig bei einer multiplen Sklerose, einer syphilitischen Spiü 
paralyse usw., einseitig bei Hemiplegien usw. gefunden hat und fordert zur X» 
prüfung auf. 

Maas (219) macht auf die Bedeutung des gekreuzten Zehenreflexes aufer - 
sam; dieser Reflex beweist das Vorhandensein organischer Veränderungen - 
zentralen motorischen Neuron auch in Fällen, wo „Babinski“ fehlt. Eins «:, 
gekreuzter Zehenreflex ist ohne Bestehen eines organischen Nervenleidens nur > 
vorgeschrittener Tuberkulose beobachtet worden. 

Stroehlin (359): Untersuchungen über das Symptom der Mitbeweguig- 
bei 24 Hemiplegischen, Erörterung der verschiedenen Theorien über Entstehc. 
dieses Symptoms. ( Garnier. 

Williams (386): Die vom Kleinhirn ausgehende Dysergie läßt sich in einfach 
Weise so zeigen, daß man den Kranken Linien ziehen und an bestimmten Punkt 1 -' 
halten läßt. Der Kranke wird dann über die Punkte hinausfahren, der an Aut 
L eidende hingegen kann meist anhalten, wenn nicht, ist seine Linie unregelmit. 
und zittrig. (Gante r. 

Devine (79): Drei Fälle von Brustkrebs bei Frauen, von denen die eine Zeich« 
von Verfolgungswahn, die zweite von Melancholie, die dritte von Verwirrtfc-' 
zeigte. Daß sie ihr Krebsleiden kaum beachteten und es trotz Aufklärung für tir- 
leichte Erkrankung hielten, erklärt Verf. nach den Freudschen Theorien. Auf 
geistig Gesunde wollen oft nicht an derartige schwere Krankheiten glauben (Ai- 
wehrneurose). (Ganter. > 

Jones (171): Beispiele aus der Psychopathologie des Alltagslebens nach Frtv 
gleichgenanntem Buch. (Ganter - 1 

Jones (170): Erklärung der nervösen Angstzustände nach der Freudsch 
Theorie. (Ganter . 1 


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Schroeder, Allgemeine Psychiatrie. 


127* 


Hoepffner (161) hat einen interessanten Fall phantastischer Erlebnisse im 
Verläufe einer chronischen Lungentuberkulose beobachtet, die wohl als illusionäre 
Produkte einer ausschweifenden Phantasie, ausgelöst durch eine zehrende, fieber¬ 
hafte Erkrankung, anzusehen sind. 

Oppenheim (271) teilt vier Krankengeschichten von Psychopathen mit, bei 
denen sich ohne äußere Ursache im Anschluß an einen heftigen Schwindelanfall 
mit Übelkeit und Erbrechen ein Jahr hindurch bestehender „Dauerschwindel“ 
entwickelte. Objektive Untersuchung negativ. Autor rubriziert die Patienten 
in die Gruppe der Neurastheniker und führt den Schwindel auf Reizzustände in 
den perzipierenden Großhimzentren zurück. Therapie ziemlich erfolglos. 

Stransky (368) berichtet über einen seit Jahren rechts schwerhörigen Alko- 
holisten ohne Beziehungs-, Verfolgungsideen und sonstige Halluzinationen, der 
häufig Rauschen, Stimmen beschimpfenden Inhalts, vor allem aber Nachsprechen 
seiner eigenen Gedanken auf dem rechten Ohr hört und diese Täuschungen auch 
als solche erkennt. An die Besprechung des Falles knüpft der Autor beachtens¬ 
werte Ausführungen über Wesen und Zustandekommen von Halluzinationen. 

Wertheim (383) beschreibt eine unter dem klinischen Bilde der Amentia 
tödlich verlaufene, mit Albuminurie, Zylindrurie, gespanntem Puls, erhöhtem Blut¬ 
druck, Kopfschmerzen und Erbrechen verbundene renale Psychose, entstanden 
im unmittelbaren Anschluß an urämische Krämpfe, welche 3 Monate nach Beginn 
einer akuten Nephritis aufgetreten waren. 

Olivier und Boidard (268): Zwei Fälle von Delirium, bei denen kurz nach der 
Aufnahme Typhus festgestellt wurde. Die Verf. fanden, daß es kein sicheres Zeichen 
gibt, wonach man ein Infektionsdelir von einer eigentlichen Psychose unterscheiden 
könnte, auch Temperatur, Puls und Serodiagnostik sind nicht immer zuverlässige 
Wegeweiser. {Ganter.) 

White und Schalberg (386): 64 Jahre alter Mann, der an Manie mit Hallu¬ 
zinationen leidet, Angriffe auf männliche Kranke, zuletzt Demenz. Bei der Sektion 
fanden sich die Nebennieren vergrößert (Blutergüsse), zugleich auch, und dies 
Zusammentreffen ist besonders merkwürdig, die Hypophyse (Adenom). Dieser 
Tumor wird von den Verf. mit den geistigen Störungen und dem geringen Grad 
einer Akromegalie in Verbindung gebracht, auch besteht möglicherweise ein Zu¬ 
sammenhang zwischen den Veränderungen in den Nebennieren und der sexuellen 
Perversion. {Ganter.) 

Vallen (376): Der Schauspieler Rögnard wurde im Restaurant von einem 
Manne erschossen, den er wegen seines aufgeregten Wesens hatte besänftigen wollen. 
Verf. gab sein Gutachten dahin ab, daß es sich um einen akuten Rauschzustand 
bei einem chronischen Alkoholisten gehandelt habe. Es bestand Amnesie für den 
Vorfall. Der Mörder wurde freigesprochen und auf freien Fuß gesetzt. Da das 
Gesetz keine Handhabe bietet, solche gefährliche Individuen, da sie nicht eigentlich 
geisteskrank sind, in die Irrenanstalt zu verbringen, so befürwortet Verf. die Er¬ 
richtung einer besonderen Anstalt oder eines Adnexes an eine Irrenanstalt, wo 
gefährliche Alkoholiker, verbrecherische Geisteskranke und geisteskranke Ver¬ 
brecher in sicherer Verwahrung unter ärztlicher Leitung behandelt werden könnten. 

{Ganter.) 


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Bericht über die psychiatrische Literator 1911. 


Casamajor (60): Mädchen von 25 Jahren, vor 7 Jahren Typhus, seitdem 
Gastritis. Dagegen in 44 Tagen etwa 100.0 Bromkali, täglich 1.0—3.0. Zeichen 
der Bromvergiftung: Erschwerung des Sprechens, Benommenheit, Apathie, plötz- 
liches Delirium mit Halluzinationen, Beflexsteigerung, träge Pupillenreaktion, 
allgemeine Hyperästhesie, Heilung nach Entziehung. Ähnlich ein Fall von Syphilis, 
der ebenfalls ungewöhnlich auf kleine Bromdosen reagierte. (Ganter.) 

WiUimann (389) gibt die ausführliche Krankengeschichte eines 83jährigen 
Paranoikers, der seit 48 Jahren sich in der Anstalt befindet, um zu prüfen, welchen 
Einfluß das Anstaltsleben auf seine Vorstellungen ausgeübt hat und ob der Kranke 
dement geworden ist; kein sicheres Ergebnis. (Ganter.) 

Bond (38): Ein an Dementia praecox leidender, 25 Jahre alter Kranker lebte 
längere Zeit nur von Brot, Milch und Wasser. Er verlor 20 Pfd. Einige Zeit hindurch 
streute er sich Salz aufs Brot. Da traten Ödeme auf an den Beinen und Genitalien, 
das Gewicht stieg um 32 Pfd. Nach regelrechter Ernährung und Ausschluß des Salzes 
verlor sich das ödem. Nieren und Herz erwiesen sich als gesund. (Ganter.) 

Tomaschny (368) berichtet über einen Fall von Katatonie, der seit mehr als 
10 Jahren wegen völliger Nahrungsverweigerung mit der Sonde ernährt wird. 
Die Sondenfütterung erfolgt ohne jedes Widerstreben der Kranken 2—3mal täglich. 
Alle Versuche, dieselbe wieder zur freiwilligen Nahrungsaufnahme zu bewegen, 
sind erfolglos geblieben. Das körperliche Befinden der Patientin war dabei niemals 
wesentlich gestört; Ernährungsstörungen bedenklicherer Art wie Skorbut haben 
sich nicht bemerkbar gemacht. 

Bacceüi und Temi (il): In Fällen von Dementia praecox schwankte der 
opsonische Index des Blutserums um den Normalwert, in Fällen von Epilepsie 
hingegen zeigte er sich in der anfallsfreien Zeit beträchtlich erhöht. (Ganter.) 

Bigelow (30): Untersuchungen des Liquor cerebro-spinalis bei verschiedenen 
Nerven-, Geistes- und körperlichen Krankheiten. Der Zellengehalt im Kubik¬ 
millimeter schwankt zwischen 0.5—5, durchschnittlich 1.75 Zellen. Krankheiten 
mit Beizung der Meningen und des Ependyms führen zu einer Steigerung. 

(Ganter.) 

Morton (251): Die Wdssemannsche Beaktion fiel positiv aus in 28 von 30 
Fällen von progr. Paralyse. Weiter untersuchte Verf. den Liquor auf Substanzen, 
welche auf mit Kobragift sensibilisierte rote Ochsenblutkörperchen hämolytisch 
wirken. Frischer Liquor besitzt keine aktivierenden Eigenschaften für das Kobra¬ 
gift. Zellenreicher Liquor he mm t die aktivierende Kraft des alkoholischen Leber¬ 
extraktes. Nach dem Zentrifugieren schwindet diese Kraft, mithin beruht sie auf 
den zelligen Elementen. (Ganter.) 

Bravetta (49) untersuchte das Blutserum von 67 verschiedenen Fällen von 
Geisteskrankheit auf die Meiostagminreaktion und mit der TFassermannsohen 
Methode. Als Antigen benutzte er eine alkoholische entsprechend verdünnte Lezithin¬ 
lösung. Die Beaktion fiel nur in 7 Fällen positiv aus. In diesen 7 Fällen war die 
TFamrmannsche Beaktion nicht immer positiv, ln allen anderen Fällen schwankten 
die Werte und konnten auf kleine technische Fehler zurückgeführt werden. Mithin 
hat die Meiostagminreaktion keinen praktischen Wert für die Diagnose der Syphilis 


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Schroeder, Allgemeine Psychiatrie. 


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bei Geisteskrankheiten im allgemeinen nnd für die para- und metasyphilitischen 
Erkrankungen des Nervensystems im besonderen. {Ganter.) 

Boß (313): Menschliche Sera zeigen große Unterschiede, was ihre hemmenden 
oder fördernden Eigenschaften auf die Kobrahämolyse betrifft, so daß die Klinik 
hieraus keinen Nutzen ziehen kann. {Ganter.) 

Pighini (282) veröffentlicht das Resultat seiner Studien über die Fermente 
Esterase und Nuklease im Blutserum von Geisteskranken. Aus der Gesamtheit 
der Untersuchungen kann man schließen, daß bei den untersuchten Geisteskrank¬ 
heiten leichte Schwankungen in der enzymatischen Intensität der Esterase wahr¬ 
zunehmen sind, während bei Epileptikern die Aktivität der Nuklease je nach dem 
Stande der Erkrankung variiert. 

Pighinis (283) Untersuchungen über die Menge Cholesterins und Oxycholeste- 
rins des Serums bei verschiedenen Formen von Geisteskrankheiten haben ergeben, 
daß eine verhältnismäßig große Menge Cholesterins, begleitet von noch größeren 
Mengen OzyCholesterins, regelmäßig in den Fällen von manisch-depressivem Irre¬ 
sein, Alkoholismus und bei der progr. Paralyse vorhanden ist. Bei den anderen 
untersuchten Krankheiten zeigen sich veränderliche Werte, die sich nicht weit 
vom Normalen entfernen. Von einer Cholesterämie kann also bei keiner der unter¬ 
suchten Krankheiten gesprochen werden. Vielleicht kommt dem Cholesterin — 
und auch dem Lezithin — eine hervorragende Rolle beim Zustandekommen der 
IV'assmnannschen Reaktion zu. 

Graziani (125) stellte Blutuntersuchungen an bei 66 Geisteskrankep und 
18 Pflegern und Pflegerinnen. Die morphologische Beschaffenheit der weißen und 
roten Blutkörperchen bei Geisteskranken zeigt nur in Ausnahmefällen Abweichungen. 
Oft schwankt die Zahl der Leukozyten. Vielkernige Leukozyten, seltener Leuko¬ 
zytose, und Hypoeosinophilie im akuten Stadium der Krankheit. Verminderung 
der vielkernigen Leukozyten, selbst Vorwiegen der einkernigen, mit Beginn der 
Genesung oder des Überganges ins chronische Stadium. Polynukleäre Leukozytose 
und Hypoeosinophilie finden sich fast immer bei der Amentia, seltener bei der De¬ 
mentia praecox und dem manisch-depressiven Irresein und besitzen einen gewissen 
diagnostischen und prognostischen Wert. Die genannten Veränderungen weisen auf 
toxische Vorgänge im Organismus hin, von denen wohl auch die krankhaften Hirn¬ 
symptome abhängen. (Ganter.) 

Maaß (220) stellt fest, daß der Restkohlenstoff im Blute von Paralytikern, 
Katatonikem, Epileptikern, Alkoholdeliranten und chronischen Alkoholikern 
vermehrt ist und daß bei einzelnen dieser Erkrankungen eine Parallelität zwischen 
Steigerung des Restkohlenstoffes und Exazerbation im klinischen Zustandsbild 
besteht. 

Stanford (360) untersuchte 1363 Urinproben und fand ein großes Schwanken 
des Indigogehaltes, ohne daß der geistige Zustand der betreffenden Kranken eine 
besondere Veränderung zeigte. Verf. hat für diese Erscheinung keine Erklärung. 

(Ganter.) 

Butenkos (67) Untersuchungen zeigen, daß der positive Ausfall der Ehrlich- 
schen Dimethylamidobenzaldehydreaktion in der psychiatrischen Praxis auf das 

Zeitschrift für Psychiatrie. LX1X. Lit j 


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130* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


Vorhandensein einer komplizierenden'Krankheit schließen läßt und mit Sicherheit 
auf einen pathologischen Zustand der somatischen Sphäre des psychisch Erkrankten 
hinweist; außerdem leistet diese Reaktion bei der frühzeitigen Erkennung arterio¬ 
sklerotischer Störungen wichtige Dienste. 

Loewe (210) zeigt, daß sich im Ham der Epileptiker eine wechselnde Ver¬ 
mehrung der adialysablen Substanzen von zeitweise außerordentlicher Höhe findet 
und daß an dieser Vermehrung besonders kolloidale phosphorhaltige Verbindungen 
beteiligt sind. Das Harnadialysat des Epileptikers enthält im Anschluß an den 
epileptischen Anfall, seltener während des Dämmerzustandes, toxische Substanzen. 
Die Giftwirkung dieser Substanzen besteht in Erscheinungen, welche zuweilen 
weitestgehende Ähnlichkeit mit dem epileptischen Krampfanfall besitzen. Eine 
Vermehrung des Harnadialysates findet sich auch bei Fällen von Katatonie, Hebe- 
phrenie, progressiver Paralyse und Delirium tremens; bei der Katatonie am aus¬ 
gesprochensten, bei der Paralyse bisher nur nach epileptiformen Anfällen. Das 
Harnadialysat bei Katatonie, Dementia paranoides, progressiver Paralsye und 
Delirium tremens besitzt eine hohe Toxizität, die sich wesentlich von der des Epi- 
leptikeradialysates unterscheidet: ihre Wirkung äußert sich nie in epileptiformen 
Erscheinungen. 

Loewe s (209) Untersuchungen stellen eine Vermehrung der organischen 
Phosphorsäureausscheidung nach dem epileptischen Anfall fest; sie weisen eine 
ebensolche Steigerung für eine Anzahl anderer mit Anfällen verschiedener Art 
verbundener Krankheiten nach; eine Vermehrung der organischen Phosphorziffer 
im Ham wird weiter wahrscheinlich gemacht für bestimmte Phasen der Paralyse 
und des Delirium tremens, unwahrscheinlich ist eine solche für eine Anzahl anderer 
Erkrankungen aus dem psychiatrischen Gebiete, insbesondere für die Katatonie. 

Tvntemann (366) hat Zuckerausscheidung bei organischen Erkrankungen, 
bei chronischem Alkoholismus, bei Melancholie, Jugendirresein, Katatonie und 
Idiotie beobachtet und untersucht. Einen einheitlichen Gesichtspunkt für die Genese 
dieser Zuckerausscheidungen hat er bei seinen Fällen nicht feststellen können. 
Bei den organischen Gehimerkrankungen und beim chronischen Alkoholismus 
sind psychische Veränderung und Glykosurie Folge einer gemeinsamen Ursache. 
In anderen Fällen lag der psychischen Störung und der Glykosurie das gemein¬ 
same Moment minderwertiger Anlage zugrunde; hier wurde die Glykosurie als körper¬ 
liches Degenerationszeichen aufgefaßt. 

Benigni (26) untersuchte in 50 Fällen von verschiedenen Geisteskrankheiten 
die Faezes nach der Methode von Schmidt und Strashirger und konnte in über der 
Hälfte der Fälle Störungen im Darmkanal und seinen Adnexen nachweisen. Am 
häufigsten bestanden die Störungen in mangelhafter Eiweißverdauung, dann in 
mangelhafter Stärkeverdauung, zuletzt in Fettstühlen. Auch in der Bakterienflora 
des Darmes zeigten sich Abweichungen. Verf. glaubt aus seinen Befunden das 
Auftreten toxischer Substanzen im Darm erklären zu können, deren Resorption 
das prädisponierte Gehirn schädige und die geistige Störung hervorrofe. Damit 
sei für die autotoxische Theorie eine greifbare Basis gewonnen. (Ganter.) 

Grafe (122) hat bei 18 Fällen von Stupor ausgedehnte Stoffwechselunter¬ 
suchungen vorgenommen und dabei eine deutliche Stoffwechselverlangsamung 


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estgestellt. Die Herabsetzung der Wärmeproduktiön betrug bei besonders aus- 
;eprägtem Stupor bis zu 39% gegenüber dem Durchschnittswert der Norm. 

Sommer (332) berichtet über eine polydaktyle Familie, in der sich die Anomalie 
/om Vater auf vier Söhne vererbt hat, während die einzige Tochter orthodäktyl 
st. Die Ausführungen enthalten beachtenswerte Winke für die Erforschung von 
norphologischen Abnormitäten und deren Vererbung. 

Sarteschi (320): Mann von 76 Jahren mit Riesenwuchs, besonders der Extremi¬ 
sten, und kindlichem Aussehen der Genitalien. Hingegen besteht normale geistige 
Verfassung. Die Röntgendurchleuchtung ergibt normale Größe der Sella turcica, 
mithin keine Vergrößerung der Hypophyse. Verf. nimmt an, daß die Akromegalie 
ind der sexuelle Infantilismus vielleicht auf einer Veränderung der Nebenhypo¬ 
physen beruhen könnte. (Ganter.) 

Marchand (228): Eine Frau von 51 Jahren mit akuter halluzinatorischer 
Verwirrtheit und akuter Ataxie. Heilung. Die Enzephalitis des Großhirns bewirkte 
die geistige Störung, die des Kleinhirns die Ataxie. (Ganter.) 

Franz (108): Frau von 27 Jahren, wurde 13 Jahre alt von einer Kugel auf 
der linken Kopfseite getroffen, einige Tage später Krämpfe, die jahrelang aus¬ 
blieben, dann wieder kamen. Verf. stellte vor und nach der Operation (Zysten¬ 
bildung in der hinteren Zentralwindung) Sensibilitätsprüfungen an, die bestätigten, 
daß in der hinteren Zentralwindung das sensible Zentrum liegt. (Ganter.) 

Ladame (198) untersuchte die .Beteschen Zellen bei verschiedenen Geistes¬ 
kranken und unterscheidet drei Gruppen. In der ersten Gruppe waren sie unver¬ 
ändert. Hierhin gehörten die sogenannten funktionellen Geisteskrankheiten, die 
keinerlei Störungen ihres motorischen Apparates zeigten (Schwachsinn, Dementia 
praecox, Melancholie, periodisches Irresein). Bei der zweiten Gruppe wiesen die 
Zellen große Veränderungen auf (Sklerose, Verlust des Kernes, der Färbbarkeit). 
Die Kranken dieser Gruppe hatten an motorischen Störungen gelitten (Dem. paral., 
Dem. sen., Dem. arteriosclerotica, tief stehende Idioten). Die dritte Gruppe zeigte 
neben völlig unversehrten Zellen solche mit weitgehenden Veränderungen. Es 
waren Kranke, bei denen die Lähmung erst begonnen hatte (Dem. paral., praecox, 
sen.). Demnach finden sich bei manchen Geisteskrankheiten eng verknüpft mit 
den motorischen Störungen gewisse Veränderungen in den Beteschen Zellen. 

(Ganter.) 

Todde (366) bestimmte Gewicht und Volumen und untersuchte histologisch 
die Hoden von Geisteskranken und Gesunden. Gewicht und Volumen fanden sich 
bei Geisteskranken fast immer unter der Norm (unter Berücksichtigung des Alters), 
so besonders bei der Paralyse, Epilepsie, Idiotie, Dementia praecox und dem Alko¬ 
holismus. Ebenso verhielt es sich mit der Produktion der Samenzellen. 

(Ganter.) 


IV. Therapie. 


Becker (23) gibt in seinem Buche eine zusammenfassende, übersichtliche 
Darstellung der Therapie der Geisteskrankheiten. Er bespricht kritisch die gebräuch¬ 
lichsten physikalischen und chemischen Beruhigungsmittel, die spezifisch wirkenden 
Medikamente und erläutert auch die chirurgische, diätetische und psychische 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


Behandlung. Der Therapie einzelner häufig wiederkehrender Krankheitssymptome, 
wie Nahrungsverweigerung u. dgl. ist ein besonderes Kapitel gewidmet. Als Anhang 
wird eine kurze Einführung in die psychiatrische Krankheitsklassifizierung gegeben. 
Ein ausführliches Register ermöglicht rasche Orientierung in dem anregend ge¬ 
schriebenen Buche. 

Pilcz (284) berichtet über die Erfolge der Himchirurgie bei Tumoren, Morbus 
Basedowii, bei traumatischer, symptomatischer Epilepsie und bei Trigeminus¬ 
neuralgie; er macht auf die diagnostische und therapeutische Bedeutung der 
Lumbalpunktion aufmerksam, und wendet sich dann der medikamentösen Be¬ 
handlung und den physikalischen Heilmethoden zu. Die günstigen Erfolge des 
künstlichen Fiebers mittels Tuberkulininjektionen bei Paralyse (nach v. Wagner) 
werden besonders hervorgehoben. Verf. schildert das Verfahren und bemerkt dazu, 
dafi er damit auch in einem Fall von veralteter, stationärer Dementia praecox 
Erfolg gehabt hat. 

Siebert (328) kommt auf Grund seiner Untersuchungen zu dem Schluß, daß 
gelegentlich zu Psychosen hinzutretende Eiterprozesse den Verlauf derselben günstig 
beeinflussen. Die durch künstliches oder natürliches Fieber bedingten Heilerfolge 
bei Psychosen beruhen auf der den Fieberprozeß begleitenden Leukozytose. Fälle 
von progressiver Paralyse, besonders im Initialstadium, geben bei der Behandlung 
mit künstlichem Fieber, speziell mit Tuberkulinfieber, eine verhältnismäßig günstige 
Prognose, indem die Krankheit tiefe Remissionen macht oder stationär wird. Die 
Erfahrungen über den Einfluß des Fiebers auf einfache Seelenstörungen lehren, 
daß die Psychosen, die mit motorischer Unruhe einhergehen, beeinflußbar sind. 

Die Ausführungen Bresgens (50) über die ärztliche Beeinflussung sind recht 
beachtenswert. Sie bringen allerlei Hinweise auf Einzelheiten der ärztlichen Hode- 
getik, die für unsere heutige, so materialistisch-spezialistische ärztliche Welt viel¬ 
leicht von Interesse sind. Seine Vorschläge und Ratschläge sind von einem warmen 
Herzen für das Wohl der Kranken diktiert. 

Behm (294) gibt eine kurze, für den praktischen Arzt bestimmte Abhandlung 
über die Behandlung Geisteskranker, in der Einrichtung und Art der Kranken¬ 
behandlung in den öffentlichen Anstalten besprochen werden. 

Moll (246) kritisiert verschiedene Behandlungsweisen sexueller Perversionen: 
Hypnose, Psychoanalyse, Kastration usw. Auch der therapeutischen Bedeutung 
der Psychoanalyse steht Verf. skeptisch gegenüber und empfiehlt vor allem die 
Assoziationstherapie. Sie besteht in der richtigen Leitung des Vorstellungslebens, 
in der methodischen Ausbildung der normalen und in der methodischen Unter¬ 
drückung der perversen Assoziationen. 

Jones (172) vertritt Freudsche Anschauungen. (Ganter.) 

Schullze (347) fordert Einführung regelmäßiger Genitaldiagnose und ent¬ 
sprechende Therapie bei weiblichen Geisteskranken. Er hat schon vor 31 Jahren 
auf den Zusammenhang psychischer Erkrankung mit gynäkologischen Leiden 
aufmerksam gemacht und gefordert, in jeder Irrenanstalt solle ein Assistent ein 
fertiger Gynäkologe sein, um den psychisch erkrankten Frauen auch gynäkologische 
Hilfe bringen zu können. Borns Arbeit über Genesung von psychischer Krankheit 


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nach operativer Beseitigung uteriner Leiden (ZentralbL f. Gynäkologie, 36. Jahrg., 
Nr. 36) hat Schnitze angeregt, auf obige Forderungen zurückzukommen. 

Collins (67), Gynäkologe, berichtet über größere und kleinere Operationen, 
die einen günstigen Einfluß auf den Ablauf der Geisteskrankheiten hatten. 

(Ganter.) 

Raw (292) fand in 6 Jahren unter 31 Fällen von puerperaler Septizämie nur 
3, die die Aufnahme in die Irrenanstalt nötig machten. Die Behandlung mit Anti¬ 
streptokokkenserum wirkte auf den körperlichen Zustand günstig, während sie 
den Lauf der Geisteskrankheit unbeeinflußt ließ. (Ganter.) 

Diehl (81) weist auf den Mißbrauch hin, der vielfach mit Verdauungsbe¬ 
förderungsmitteln, mit Beruhigungs- und Schlafmitteln getrieben wird und berichtet 
dann über seine Erfahrungen mit Bromsalzen, Arsenpräparaten, Veronal, Aspirin 
usw. und gibt dabei beachtenswerte Winke für ihre Anwendungsweise. 

Curschmann (70) macht darauf aufmerksam, daß die therapeutische Be¬ 
deutung der Lumbalpunktion vielfach noch unterschätzt wird, während ihr dia¬ 
gnostischer Wert außer allem Zweifel steht. Nach kurzer Beschreibung der Technik 
geht der Autor ausführlich auf ihre therapeutische Bedeutung besonders bei allen 
Meningitisformen ein und wünscht, daß die Indikationen der Quinckeachen Punktion 
sich auch für den Praktiker erweitern und auch für diesen zum selbstverständlichen 
therapeutischen Rüstzeug werden möge wie die Punktion der Pleura und Bauch¬ 
höhle. 

Fitzgerald (102) gibt eine Übersicht über die serodiagnostischen und sero¬ 
therapeutischen Methoden in ihrer Anwendung bei Geisteskranken. (Ganter.) 

Bürgis (63) Untersuchungen über die Wirkung von Arzneigemischen haben 
auch für die Praxis beachtenswerte Resultate ergeben. Die Versuche mit Narkotika- 
kombinationen zeigen, daß Kombinationen, deren Komponenten aus verschiedenen 
pharmakologischen Gruppen stammen, zur Wirkungspotenzierung führen; stammen 
dagegen die Komponenten aus ein und derselben Gruppe, so erhält man nur eine 
Addition der Einzel Wirkungen. Der Autor stellt folgende Regel auf: „Ein Gemisch 
von zwei Narkotika verursacht immer dann einen Effekt der über dem Additions¬ 
ergebnis liegt, wenn seine zwei Glieder verschiedene pharmakologische Angriffs¬ 
punkte haben; bei gleichem Angriffspunkt der zwei Komponenten erzielt die Kom¬ 
bination nur ein Additionsergebnis.“ 

Becker (24) hat mit der Kombination von Hyoszin-Morphin und Paraldehyd 
bei Erregungs- und Schlaflosigkeitszuständen in Fällen von Dementia praecox, 
seniler und arteriosklerotischer Demenz guten Erfolg gehabt; er gibt dabei bis zu 
10.0 Paraldehyd. 

Reiß (299) empfiehlt auf Grund seiner Versuche das von den Farbenfabriken 
vorm. Friedr. Bayer u. Co. in den Handel gebrachte Adalin (Bromdiaethylkarbamid) 
als mittelstarkes, prompt wirkendes Hypnotikum und Sedativum bei Geistes¬ 
kranken, besonders bei Fällen von seniler Demenz und epileptischer Seelenstörung. 
Einzeldosis 0,6—1,0 mehrmals täglich, bei schweren Erregungszuständen bis zu 
2.0 pro Dosis. Unangenehme Neben- oder Nachwirkungen hat er nicht be¬ 
obachtet. 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


Scheidemantel (340) empfiehlt Adalin bei Zuständen, in denen die Zufuhr 
von Brom mit einer kräftigeren, beruhigenden Wirkung vereinigt und nicht von 
vornherein zu den starken Schlafmitteln gegriffen werden soll „Vermöge seiner 
Mittelstellung zwischen der Gruppe der einfachen Sedativa und der reinen Hypnotika 
ist die Bedeutung dieser neuen chemischen Komposition um so beachtenswerter, 
als unser moderner Arzneischatz an ähnlich mittelstark wirkenden Präparaten 
nicht sehr reich ist.“ 

Pelz (274) bezeichnet Adalin in Dosen von 0,25—0,6 g als ein brauchbares 
Sedativum, in Dosen von 0,6—1,0 g als ein vorzügliches unschädliches Hypnotikum; 
seineVorzüge sind Unschädlichkeit, ideale Bekömmlichkeit trotz geringer Löslichkeit, 
relative Geschmacklosigkeit und Sicherheit der Wirkung. Die rasche Gewöhnung 
stört aber, wo, wie bei Epilepsie usw., eine Dauerwirkung erzielt werden soll; hier 
scheint es nicht verwendbar. 

König (190) hat gefunden, daß Adalin bei depressiv erregten Kranken (ab¬ 
gesehen von den stark halluzinatorisch .beeinflußten) ganz außerordentlich günstig 
wirkt, während es bei Kranken mit entgegengesetztem Affekt, bei Manischen, auch 
in großen Dosen völlig wirkungslos bleibt. 

Kempner (183) verwendet Adalin als Schlafmittel nur, wenn es sich um Schlaf¬ 
losigkeit bei Neurasthenie oder Hysterie, im Alter oder aus Gründen gesteigerter 
Affekterregbarkeit handelt. Bei Chorea hat er keine günstigen Erfolge gesehen. 
Auch er lobt die rasche Wirkung, das Ausbleiben kumulativer Wirkung und das 
Fehlen unliebsamer Nebenerscheinungen. 

Kalischer (180) hat Adalin bei Hysterie, Neurasthenie, Angstzuständen, 
Zwangsneurosen, Depressionszuständen, leichten Erregungszuständen und Epilepsie 
angewandt. Als Sedativum zieht er Adalin dem Kodein und narkotischen Mitteln 
vor, weil es harmloser ist und keine verstopfende oder betäubende Wirkung hat. 
Als Schlafmittel hat es sich vor allem dort bewährt, wo das Einschlafen durch 
starke Abspannung, Überreizung, Gemütserregungen erschwert war. Auch bei 
Krampfzuständen auf hysterischer und affektiver Basis wirkte das Mittel günstig, 
während es bei Epilepsie wohl die Unruhe verringerte, den Schlaf verbesserte, aber 
die Anfälle unbeeinflußt ließ. Bei Geisteskranken hat der Autor von der gleichzeitigen 
Darreichung von Adalin und Paraldehyd gute Erfolge gesehen. 

Jennicke (163) teilt mit, daß er bei leichten bis mittelschweren Erregungs¬ 
zuständen, ängstlicher Ratlosigkeit, mäßiger manischer Erregung, leichter motori¬ 
scher Unruhe Adalin mit zufriedenstellendem Erfolg angewandt hat. Bei allen 
schweren Erregungszuständen war das Mittel wirkungslos. Sinnestäuschungen, 
heftige halluzinatorische Erregungszustände blieben dadurch unbeeinflußt. 

Hirschfeld (148) hat Adalin bei 43 Fällen seiner Praxis angewandt; er lobt 
es als ein prompt wirkendes, in Dosen von 3 x täglich 0,6 g dem Bromkali über¬ 
legenes Mittel. 

Hennes (141) nennt Adalin ein Medikament, welches eine Mittelstellung 
zwischen Sedativis und Hypnotizis einnimmt. Je nach Dosierung und Art der 
Darreichung tritt bald mehr die sedative, bald mehr die hypnotische Eigenschaft 
hervor. Die Wirkung tritt schnell ein, ist genügend zuverlässig und gleichmäßig 


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und hält nach Aussetzen des Mittels nicht übermäßig lange an. Infolge seiner 
Geruch- und Geschmacklosigkeit wird es gern genommen; es ist frei von üblen 
Nebenwirkungen und kann auch bei Herzleiden und andern komplizierenden Krank - 
heiten ohne wesentliche Gefahr gegeben werden. 

Froehlich (110) hat mit Adalin ebenfalls gute Erfolge erzielt. Zur Erzielung 
hypnotischer Wirkung gibt er zwei Tabletten k 0,5 g mit warmer Flüssigkeit; handelt 
es sich um sedativen Effekt, so gibt er 2—3 mal täglich je eine Tablette mit kaltem 
Wasser. Auch Fr. bestätigt die Ungefährlichkeit des Mittels. 

Beyerhaus (29) empfiehlt das Adalin als zuverlässiges, unschädliches Hypnoti- 
kum und Sedativum; es ist dem Veronal und Medinal gleichwertig. 

Tomaschny (367) sieht im Pantopon eine willkommene Bereicherung unseres 
Arzneischatzes, er hat es als ein brauchbares Mittel zur Bekämpfung von leichten 
motorischen Erregungen und von Angstzuständen schätzen gelernt. Die Möglich¬ 
keit seiner subkutanen Anwendung ist ein großer Vorzug. 

Domblüth (84) hat Pantopon bei Morphiumentziehung gute Dienste getan. 
,,Bei Gewöhnung an große Morphiumgaben läßt sich das Morphium ohne Schwierig¬ 
keiten sofort durch große Gaben Pantopon, subkutan und innerlich angewendet, 
ersetzen, die ihrerseits leicht und in kurzer Zeit entzogen werden können, ohne daß 
wieder ein Verlangen nach Morphium auftritt. 1 * 

Haymann (137) ergänzt auf Grund neuerer Beobachtungen sein bisheriges 
Urteil über Pantopon (Münchener med. Wochenschr. 1910, Nr. 43). Er hat dabei 
gelegentlich Schwindel, Erregungszustände, Halluzinationen und einmal einen 
epileptiformen Anfall gesehen; auch war eine gewisse Angewöhnung unverkennbar. 
Der Autor will mit diesen Feststellungen die guten Eigenschaften des Pantopons 
nicht beeinträchtigen, sondern nur die Erwartungen auf das rechte Maß einstellen; 
er will das Pantopon in seinem Arzneischatz nicht missen. 

Huber (162) empfiehlt Aponal (Amylenkarbonat) als brauchbares, ziemlich 
schnell wirkendes Schlafmittel in leichteren Fällen von Agrypnie bei Nervosität, 
Übermüdung, Aufregung usw. Die schlafmachende Dosis beträgt 1,0—1,5—2,0. 
Das Präparat schmeckt angenehm und hinterläßt keinerlei Nachwirkung über 
den Schlaf hinaus. 

Faivre (98) empfiehlt „Veronidia“ (Diäthylmalonylharnstoff gelöst in ver¬ 
schiedenen sedativ und antispasmodisch wirkenden Pflanzensäften) als gutes Schlaf¬ 
mittel; auch bei einer Entziehungskur bei einem Heroinomanen hat es sich bewährt. 

(Ganter.) 

Moerchen (244) empfiehlt eine neue Tablettenform, sog. Gelonidatabletten, 
wegen ihrer leichten Zerfallbarkeit und raschen Resorption; sie belästigen niemals 
den Magen. 

Rieger (304) liefert einen Beitrag zur Ungiftigkeit des Bromurals: eine 
54jährige Frau hatte in suizidaler Absicht 12 Bromuraltabletten genommen; nach 
9 Stunden guten Schlafs erwachte sie beschwerdefrei ohne toxische Erscheinungen. 

Maier (223) beschreibt einen Fall von Paraldehydvergiftung nach 10—12 g 
Paraldehyd. Dazu bemerkt Loewenstein (212), daß in der Anstaltspraxis Einzel¬ 
dosen von 10—12—15 g Paraldehyd bei aufgeregten Patienten zu den täglichen 


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136* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


Verordnungen gehören. „Hätte man den jungen Mann ruhig ausschhfe .: 
so würde er sich darnach ebenso wohl gefühlt haben, wie nach erfolgt«'-. 1 
Behandlung.“ 

Über gute Erfahrungen mit der intravenösen oder subkutanen Irxz 
mittels Traubenzuckers berichtet Kausch (181). Es wird empfohlen, mit 2pr>Hj 
Lösung bei subkutaner und mit 6—7 prozentiger bei intravenöser Anv-u 
zu beginnen. Unangenehme Nebenwirkungen werden nicht beobachtet; j- *> 
die Ernährung damiederliegt, desto mehr Zucker wird von dem Individar 
tragen. Im Urin erscheinen stets nur wenige Prozent der eingegebenec Zu 
mengen. 

Emanuel (90) verhindert das Erbrechen bei der Sondenernährung 6-:.i 
daß er nach Einführung der Sonde durch die Nase die Lippengegend oder die 
der Nasolabialfalte mit einem mittelstarken bis starken faradischen Strom it bi 
Abständen reizt. Dadurch ko mm t es zur Kontraktion der betreffenden X.J 
der Mund wird krampfhaft geschlossen, und die Würgebewegungen hör«, j 
Verhindert starkes Würgen schon die Einführung der Sonde, so beginnt L'J 
mit der faradischen Reizung vorher. 


4. Idiotie, Imbezillität, Debilität, Psychopath 

Ref. H. Vogt-Wiesbaden und F. Schob-Dresde:- 

1. Abramowsky, Berichte über Schwachsinnigenfürsorge in :i 

land. Ztschr. f. d. Erforsch, u. BehandL d/ jugend! i 
Schwachsinns Bd. V. (S. 155*.) 

2. AUschul, Th., Geistige Ermüdung der Schuljugend. Ztsri. 

Hygiene Bd. 69. (S. 145*.) 

3. AUschul, Pädagogische Pathologie (Über Kinderfehler). 

Verlag des Vereins zur Verbreitung gemeinnütziger K 
nisse. (S. 145*.) 

4. Ändert, Beitrag zur Behandlung des Kretinismus. Inaiif.-. 

München. 

5. L’assistance des enfants anormaux en Allemagne. L’Assi?- 

6. Bahrmann, Über erfolgreiche Anwendung von Hypophysijp 

raten. Med. Klin. 1911. (S. 151*.) 

7. Barr, Some causes of the increase of feeble-mindednes?. 

alien. and neurol. vol. 32, Ref.: Ztschr. f. d. gesamte >'•- 
u. Psych. Ref. III. 


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na Vogt und F. Schob, Idiotie, Imbezillität, Debilität, Psychopathie. 137* 


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U. Ref. III. (S. 156*.) 

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Bemardi, Un caso di cretinismo sporadico. Annal. di freniatr. 
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55. Müller (Dösen), Zur Ökonomie des Lernens bei geistesschwache 

Personen. Klin. f. psych. u. nerv. Krankh. Bd. VI. (S. 14V 

56. Müller-Schürch (Zürich), Neuere Gesetze in der Schweiz ix 

ihrer Bedeutung für die Fürsorge. Ztschr. f. d. Erforsch c. 
Behandlg. des jugendl Schwachs. Bd. V. (S. 155*.) 

57. Nieuwenhuijse, Zur Kenntnis der tuberösen Sklerose. Neurokc 

Bladen. (S. 157*.) 

58. Oebbecke, X. Jahresbericht über den schulärztlichen Überwach 

ungsdienst zu Breslau. (S. 155*.) 

59. Ordahl, Conscionsness in relation to leaming. The americ. jouri 

of psychol vol. 22. 

60. Paul-Boncour, La valeur du traitement mödico-pödagogique dai- 

la eure des anomalies morales. Le progrös möd. 

61. Plaut u. Oöring, Untersuchungen an Kindern und Ehegatten vor 

Paralytikern. Münch, med. Wschr. (S. 152*.) 

62. Raecke, Über den kindlichen Schwachsinn, seine Symptomato¬ 

logie, Diagnose u. Therapie. Deutsche med. Wschr. (S. 144*. 

63. Reim, Mongoloide Idiotie. Fortschr. d. Med. (S. 149*.) 

64. Reye, Untersuchungen über die klinische Bedeutung der scapula 

scaphoidea. Ztschr. f. d. Erforsch, u. Behandlg. d. jugendL 
Schwachs. Bd. V. (S. 154*.) 

65. Rohlena, Die Schwachsinnigenfürsorge in England. Eos Jahrg. VII. 

(S. 155*.) 

66. Rosanoff, The prevention on insanity: Hygiene of the mind., 

Med. Record. Ref. Ztschr. f. d.- ges. NeuroL u. Psych. 
Ref. III. (S. 154*.) 

67. Saenger, Forme fruste des Myxödems. Med. Klin. (S. IcO*. 

68. Schenker, Die Fürsorge für die Geistesschwachen in den Ver. 

Staaten von Amerika. Eos Jahrg. VIII. (S. 154*.) 

69. Schnitzer, Die soziale Bedeutung der geistigen Schwächezustände. 


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I. Vogt und F. Schob, Idiotie, Imbezillität, Debilität, Psychopathie. 141* 


Ztschr. 1 d. Erforsch, u. BehandL d. jugendl. Schwache. 
Bd. V. (S. 144*.) 

70. Schnitzer, Bericht an den Herrn Landeshauptmann der Provinz 

Pommern über das Ergebnis der psychiatrisch-neurologischen 
Untersuchung der Fürsorgezöglinge in den Erziehungs¬ 
anstalten Züllichow, Warsow und Magdalenenstift bei 
Stettin. Ztschr. f. d. Erforsch, u. Behandl. d. jugendl. 
Schwache. Bd. V. (S. 155*.) 

71. Schlieps, Wandertrieb psychopathischer Knaben und Mädchen. 

Mtschr. f. Kinderheilk. Bd. X. (S. 151*.) 

72. Schönfeld, Ein Beitrag zum Mongolismus. Wien. med. Wschr. 

73. Scholz, Anomale Kinder. Berlin, S. Karger. (S. 143*.) 

74. Schubart, Krankhafte Charakterfehler bei Kindern. Ztschr. f. d. 

Behandlung Schwachsinniger Jahrg. XXXI. (S. 143*.) 

75. Seige, Wandertrieb bei psychopathischen Kindern. Ztschr. f. d. 

Erforsch, u. Behandlg. d. jugendl Schwachs. Bd. IV. 
(S. 152*.) 

76. Shufeldt, The need of parental enlightement in the mentality 

and physical Organization of children. Pacif. med. journ. 

77. Steward, On mental Inspection in schools. Journ. of ment. Science. 

Ref. Ztschr. f. d. ges. NeuroL u. Psych. Ref. IV. 

78. Teske, Ein Beitrag zur Kasuistik des kongenitalen Hydrozephalus 

internus. Inaug.-Diss. Kiel. 

79. Thoma, Untersuchungen an Zwangszöglingen in Baden. Allgem. 

Ztschr. f. Psych. Bd. 68. (S. 155*.) 

80. Thomsen, Boas, Hjorth u. Leschly, Eine Untersuchung der Schwach¬ 

sinnigen, Epileptiker, Blinden und Taubstummen Dänemarks 
mit Wassermanns Reaktion. (S. 153*.) 

81. Thomsen, Boas, Hjorth und Leschly, Wassermannsche Reaktion 

bei Geistesschwachen. Hospitalstid. 

82. Villiger, Sprachentwicklung und Sprachstörungen beim Kinde. 

Leipzig, W. Engelmann. (S. 151*.) 

83. Vogt , H., Die angeborenen Defekte und Entwicklungsstörungen 

des Gehirns. Handb. d. Neurol. (S. 146*.) 

84. Vogt, H., Zerebrale Kinderlähmung. Handb. d. Neurol. (S. 147*.)- 


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142 * 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


85. Vogt, H., Idiotia thymica. Ztschr. f. d. Erforsch, u. Behandlg. 

d. jugendl. Sch wachs. (S. 150*.) 

86. Vogt, H., u. Weygandt, W., Handbuch der Erforschung und Für¬ 

sorge des jugendlichen Schwachsinns unter Berücksichtigung 
der psychischen Sonderzustände im Jugendalter. H. 1. 
Jena, G. Fischer. (S. 142*.) 

87. Volland, Bericht über vier Fälle von der Kombination Epilepsie- 

Paramyoklonus multiplex. Ztschr. f. d. ges. NeuroL u. Psych. 
Bd. VII. (S. 152*.) 

88. Weygandt, Hirnveränderungen bei jugendlich Abnormen. Vortrag, 

gehalten auf dem 8. Verbandstage der Hilfsschulen Deutsch¬ 
lands in Lübeck vom 17.—20. April 1911. 

89. Weygandt, Über Hirnveränderung bei Mongolismus, Kretinismus 

und Myxödem. Ztschr. f. d. Erforsch, u. Behandl. des jugendl. 
Sch wachs. Bd. V. (S. 149*.) 

90. Weygandt, Jugendkunde und Schwachsinnigenfürsorge auf der 

internationalen Hygiene-Ausstellung Dresden 1911. Ztschr. 
f. d. Erforsch, u. Behandlg. des jugendl. Schwachs. Bd. V. 
(S. 155*.) 

91. Ziehen, Die Erkennung der psychopathischen Konstitutionen und 

die öffentliche Fürsorge für psychopathisch veranlagte 
Kinder. Berlin, S. Karger. (S. 144*.) 

I. Allgemeines. 

Noch nicht ein Jahrzehnt ist verflossen, seitdem Weygandt durch sein Referat 
auf der Jahresversammlung des Deutschen Vereins für Psychiatrie zu Dresden das 
Interesse der deutschen Psychiater für die Erforschung und Behandlung des jugend¬ 
lichen Schwachsinns, ein Gebiet, auf dem jahrzehntelang fast nur Geistliche und 
Pädagogen sich betätigt hatten, neu entfacht hat. Seitdem ist dies Interesse bei 
den deutschen Psychiatern wach geblieben; welch ungeahnten Aufschwung die 
wissenschaftliche Durchforschung des jugendlichen Schwachsinns in den letzten 
Jahren genommen hat, das zeigt die psychiatrische Literatur deutlich, die eine Fülle 
wertvoller Arbeiten gebracht hat. Gewiß, die Lösung so mancher Frage muß der 
Zukunft Vorbehalten bleiben; aber es wird doch in psychiatrischen Kreisen leb¬ 
hafte Genugtuung darüber herrschen, daß jetzt bereits zwei ärztliche Autoren. 
Vogt und Weygandt (86), es unternehmen können, in einem Handbuch der Er¬ 
forschung und Behandlung des jugendlichen Schwachsinns das zusammenzufassen, 
was in den letzten Jahren geschaffen worden ist, „einen wissenschaftlichen Quer¬ 
schnitt durch ein in lebhafter Vorwärtsbewegung begriffenes Spezialgebiet zu 
geben“. Wenn die Autoren in gerechter Würdigung dessen, was andere Kreise 


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H. Vogt und F. Schob, Idiotie, Imbezillität, Debilität, Psychopathie. 143* 


auf dem Gebiete geleistet haben, auch Nichtmediziner als Mitarbeiter an diesem 
Werk erwählt haben, so wird man dem nur beistimmen können. — Von diesem 
Handbuch liegt jetzt das erste Heft vor. Weygandi hat einen kurzen, aber reich¬ 
haltigen Abriß der Geschichte der Erforschung und Behandlung des jugendlichen 
Schwachsinns geschrieben; von H. Vogt stammen die Kapitel über „Ursachen des 
jugendlichen Schwachsinns“ und „Entwicklung des Zentralnervensystems, Prin¬ 
zipien des Himbaues, Anatomie des kindlichen Gehirns“; Klose hat den Beitrag 
„Anatomie und Psychologie des Kindes“ geliefert. Eine reizvolle Darstellung der 
Forschungsergebnisse über „Kinderpsychologie“ ist Biihkr zu verdanken. Diese 
kurze Inhaltsangabe möge genügen, zu zeigen, daß die Herausgeber sich bemüht 
haben, das Werk auf breiter Grundlage aufzubauen. 

Scholz (73) wendet sich mit seinem Werk über anomale Kinder an die Ge¬ 
bildeten aller Stände; man muß dem Autor die Anerkennung zollen, daß er den 
umfänglichen Stoff mit großer Hingabe bearbeitet und ihn so gestaltet hat, daß 
die klaren Ausführungen auch dem Laien das Verständnis der Abnormitäten im 
kindlichen Seelenleben verschaffen können. Es kann hier nur ein kurzer Über¬ 
blick über den reichen Inhalt gegeben werden. Die einleitenden Kapitel befassen 
sich mit den Grenzen geistiger Gesundheit, wobei die Kompetenz des Psychiaters 
mit Becht betont wird, mit dem Problem von Anlage, Vererbung und Entartung, 
mit den Ursachen sowie den körperlichen Grandlagen und Begleiterscheinungen 
der seelischen Anomalien des Kindesalters; in den nächsten Kapiteln werden 
Schwachsinn, Nervosität, Hysterie und Epilepsie des Kindesalters abgehandelt; 
einen breiten Raum nimmt die Darstellung der Psychopathie in ihren verschiedenen 
Erscheinungsformen ein; gerade dieses Kapitel hätte an Durchsichtigkeit noch 
gewinnen können, wenn stellenweise anstatt längerer theoretischer Auseinander¬ 
setzungen eine kurze Analyse prägnanter Beispiele gegeben worden wäre. Zwei 
kürzere Kapitel übe? die Störungen in der Pubertät und den kindlichen Selbst¬ 
mord, wobei der Verf. in trefflichen Worten auch dem sogenannten Schülerselbst¬ 
mord gerecht wird, beschließen den klinischen Teil Der Schlußteil ist den vor¬ 
beugenden Maßnahmen und der Behandlung der geistigen Abnormitäten des 
Kindesalters gewidmet. 

Das vorzügliche Buch von Hermann (35) liegt bereits in zweiter Auflage vor; 
wesentliche Änderungen hat der Autor bei der Neuauflage nicht vorgenommen, 
es kann deshalb bezüglich des Inhaltes auf den vorigen Literaturbericht verwiesen 
werden. Jn ganz ähnlichen Anschauungen bewegt sich eine andere Abhandlung (36) 
desselben Verf. im internationalen Archiv für Schulhygiene. 

Sehr klar sind die Ausführungen von Schubart (74) über das schwierige Problem 
der krankhaften Charakterfehler bei Kindern. Die psychologischen Grundlagen 
für die Verfehlungen sittlich schwacher Kinder sind in Ausfallserscheinungen 
oder in Störungen im Gebiet der Gefühls- oder Willenssphäre zu suchen. Krank¬ 
haft ist ein Charakterfehler dann, wenn er aggressiv und unbeeinflußbar ist und 
im Zusammenhang mit mangelhafter körperlicher oder geistiger Entwicklung 
oder mit Nervenkrankheiten auftritt. Er teilt die Kinder mit krankhaften Cha- 
rakterfehlern in vier Gruppen ein: Gemütsstumpfe; abnorm Erregbare; Kinder 


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144* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


mit gestörtem Triebleben und abnormer Willensschwäche; Kinder mit Verstim- 
mungszuständen. Die Krankengeschichten von 42 eigenen Beobachtungen sind 
auszugsweise wiedergegeben. Zur Behandlung ist die Errichtung heilpädago¬ 
gischer Anstalten nötig. 

Nach einem kurzen Hinweis auf die große soziale Bedeutung psychopathischer 
Zustände führt Ziehen (91) dem Leser in sehr klaren Schilderungen, die durch 
Einfügung sorgfätig ausgewählter Beispiele noch wesentlich an Anschaulichkeit 
gewinnen, die wesentlichsten Typen der psychopathischen Konstitution vor. Die bis¬ 
herige Fürsorge für die Psychopathen ist durchaus ungenügend; in warmherzigen 
Worten tritt Ziehen für die Schaffung besonderer Erziehungsanstalten für psycho¬ 
pathische Kinder ein und weist überzeugend nach, daß die Errichtung solcher 
Anstalten für die Verhütung von Verbrechen und Geisteskrankheiten erfolgreiche 
Aussichten bietet. 

Der Vortrag von Raecke (62) gibt auf engem Raum einen vorzüglichen Über¬ 
blick über das Gesamtgebiet des jugendlichen Schwachsinns. Nach kurzer Skiz- 
zierung der vielgestaltigen ätiologischen Momente, die Schwachsinn hervorrufen 
können, folgt eine knappe, übersichtliche Darstellung aller wesentlichen körper¬ 
lichen und psych'schen Symptome; auch die Vergehen und Verbrechen, zu denen 
Schwachsinnige hauptsächlich neigen, werden gestreift. Zum Schluß werden die 
diagnostischen Methoden klargelegt und die Behandlung in ihren wichtigsten Auf¬ 
gaben erörtert. 

Unter Betonung der Notwendigkeit, das Verständnis für Schwachsinns¬ 
zustände in weitere Kreise hineinzutragen, bespricht Schnitzer (69) die wesent¬ 
lichsten sozialen und gesetzlichen Maßnahmen, die für die Verhütung des Schwach¬ 
sinns nötig sind: Bekämpfung des Alkoholismus, Verbesserung der Lebenshaltung 
ärmerer yolksschichten, Verhinderung der Eheschließung unheilbar Geistes¬ 
kranker. Die Fürsorge für die Schwachsinnigen ist weiter auszugestalten: so for¬ 
dert Verf. Hilfsschulen auf dem Lande, Tagesanstalten, Fortbildungsschulen; 
psychiatrische Untersuchung aller Fürsorgezöglinge, weiteren Ausbau der Jugend¬ 
gerichte u. a. m. 

Decroly (18) zeigt, daß die bekanntesten Autoren, die sich um scharfe Ab¬ 
grenzung der Begriffe Idiotie und Demenz bemüht haben, nicht zum Ziel ge¬ 
kommen sind. Die Begriffe Demenz und Idiotie sind nicht so scharf zu definieren, 
daß eine genaue Grenzlinie zwischen beiden gefunden werden könnte. Decroly 
schlägt vor, unter Idiotie Schwachsinnszustände zusammenzufassen, die im kind¬ 
lichen Alter in Erscheinung treten, unter Demenz solche, die beim Erwachsenen 
sich entwickeln. Durch Zusätze, wie kongenital, postnatal, erworben, total, par¬ 
tiell, erethisch, apathisch, progressiv, stationär u.a. könnte der spezielle Charakter 
eines Idiotiefalles schärfer hervorgehoben werden. 

Major (52) empfiehlt, die Intelligenzprüfung nicht allein auf das Schulwissen 
zu beschränken, sondern namentlich auch auf die Ideenassoziation auszudehnen. 
Mit seinen im übrigen recht anschaulichen Darstellungen der diesbezüglichen 
Methodik und einiger krankhafter Störungen der Assoziationstätigkeit bei Kindern 
bringt Verf. dem Arzt nichts Neues. Mit Recht weist Major darauf hin, daß die 


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II. Vogt und F. Schob, Idiotie, Imbezillität, Debilität, Psychopathie. 145* 


Prüfung der Ideenassoziation geeignet ist, Anhaltspunkte dafür zu gewinnen, 
worauf sich die unterrichtliche Behandlung zu erstrecken hat. Nicht nur Vor¬ 
stellungsunterricht, mehr noch Unterricht in der Vorstellungsverknüpfung ist 
nötig. 

Kahn (42) hat an 16 Knaben und 16 Mädchen, normalen, Schwachbegabten, 
psychopathischen und psychotischen Kindern, Untersuchungen über Farben¬ 
unterscheidung angestellt und zwar sowohl mit der „stummen Methode“ oder 
,,Wiedererkennungsmethode“, wobei das Kind zu einem gegebenen Gegenstand 
gleichfarbige zusuchen muß, als mit der , Benennungsmethode“. Bei der stummen 
Methode ergab sich nur ein einziger Versager; bei der Benennungsmethodo gaben 
drei Kinder ein völlig negatives Resultat, drei weitere konnten wohl einige Farben 
nennen, verwandten sie aber ganz wahllos; im übrigen zeigten sich noch einige 
Ausfälle namentlich in der Bezeichnung der Farben rosa, orange und lila; Farben- 
nüancen (hell, dunkel) wurden nur von 6 Kindern richtig benannt. Verf. erkennt 
der Prüfung auf Farbennennung als Mittel zur Intelligenzprüfung nur relativen 
Wert zu. 

Aus den Ergebnissen der interessanten Untersuchungen, die H. Müller (66) 
im psychologischen Laboratorium der Leipziger psychiatrischen Klinik über die 
Ökonomie des Lernens bei geistesschwachen Personen angestellt hat, seien nur 
einige wichtige Resultate hervorgehoben: Geistesschwache lernen einen neuen 
Lernstoff leichter geteilt, als im ganzen; sie verhalten sich hierin umgekehrt als 
die Geistesgesunden; in ähnlicher, aber nicht mehr so ausgesprochener Weise hat 
bei Geistesschwachen das Teilverfahren beim Wiedererlernen schon gelernter 
Stoffe den Vorzug. Vergleichung der Leistungen der einzelnen Versuchspersonen 
zeigte, daß das Gedächtnis dem sonstigen intellektuellen Stand nicht immer parallel 
geht; auch bei geistesschwachen Personen zeigte sich bald ein günstiger Einfluß 
von der Übung. 

Eine sehr lesenswerte kritische Zusammenfassung des jetzigen Standes der 
Frage der geistigen Ermüdung der Schuljugend und der Ermüdungsmessungen 
gibt AUschul (2). Verf. teilt die bisher angewandten Messungsmethoden in psy¬ 
chologische, physiologische und biologische ein. Von den psychologischen Methoden 
werden vor allem folgende Verfahren besprochen: Zählen der Fehler in Diktaten 
{Likorsky u. a.), das Additions- und Multiplikationsverfahren nach Burgerstein, 
die Kombinationsmethode nach Ebbinghaus, die „akustische Methode“ nach 
Sehuyten u. a. Von den physiologischen Methoden werden hauptsächlich die Ergo- 
graphie ( Mosso ) und Ästhesiometrie ( Griesbach) kritisch beleuchtet; mit der Ästhe- 
siometrie hat der Verf. selbst zahlreiche Versuche unternommen, aus denen er 
die Überzeugung gewonnen hat, daß auch diese fein erdachte Methode nur sehr 
relativen Wert hat. Den biologischen Methoden gehört vielleicht die Zukunft 
(Feststellung der Ermüdungstoxine und -antitoxine nach Weichardt u. a.); doch 
müssen sie erst weiter ausgebaut werden. Jeder kritische Leser wird dem Verf. 
beistimmen, wenn er gegenüber dem Schlagwort der Überbürdung sich skeptisch 
verhält. 

Bayerthal (8) macht weitere Mitteilungen über seine eingehenden Unter- 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXIX. Lit. 


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146* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


Buchungen über die Beziehungen zwischen Kopf größe und Intelligenz. Diese Unter - 
sacha ngseTgebnisse bestätigen seine früheren Schlußfolgerungen, wonach sehr gute 
geistige Veranlagung verhältnismäßig häufig bei großen, selten bei kleinen und 
niemals bei ganz kleinen Sehädelumfängen von Schulkindern sich findet. 

Von den gründlichen Ausführungen KoUers (45) seien nur einige Punkte her¬ 
vorgehoben. Der Prozentsatz der geistig gebrechlichen Kinder (Schwachsinnige, 
Taubstumme, Epileptiker) erreicht für Appenzell die bedenklich hohe Zahl von 
4,3%. Die Hauptursachen sind in Schwachsinn der Erzeuger und Alkoholismus 
zu suchen. Die Degeneration der Bevölkerung zeigt sich auch in den schlechten 
Rekrutierungsergebnissen. 

Berkhan (11) stellt eine Reihe von fremden Beobachtungen über einseitige 
Begabung bei Schwachsinnigen zusammen; Verf. selbst hat bei einem Imbezillen 
eine außergewöhnliche Rechenkunst beobachten können. 

Ein gutes Sammelreferat über neuere Arbeiten über Geisteskrankheiten bei 
Kindern gibt Heymann (37). Das Referat, das zur schnellen Orientierung über den 
jetzigen Stand dieser Fragen sehr geeignet ist, umfaßt folgende Kapitel: Ätiologie, 
Klinik und pathologische Anatomie, der Dementia paralytica; Dementia praecox 
unter besonderer Berücksichtigung der Differentialdiagnose; affektive Psychosen: 
Intoxikations-, Infektions- und traumatische Psychosen; die psychopathisch* 
Konstitution; ausführlich die neueren Ergebnisse der Idiotieforschung; schließlich 
Therapie, soziale und forensische Bedeutung. 

IL Einzelne Krankheitsformen. 


Spezielle Pathologie und pathologische Anatomie. 

H. Vogt (83) hat für das Handbuch der Neurologie einen kurzen Abriß über 
die angeborenen Defekte und Entwicklungsstörungen des Gehirns geschrieben 
Nach einem gedrängten Überblick über die pathologische Anatomie und die Patho¬ 
genese der Mißbildungen folgt eine Übersicht über die wichtigsten Entwicklungs¬ 
störungen, die klinisch in Betracht kommen; Verf. teilt sie ein in agenetische Zu¬ 
stände, die primär und sekundär sein können; frühzeitige Erkrankungen des Ge¬ 
hirns durch entzündliche, traumatische Vorgänge — diese beiden ersten Gruppen 
sind nicht scharf voneinander abgrenzbar —; Erkrankungen durch Störungen 
der inneren Sekretion (Kretinismus, Mongolismus, Idiotie thymica); Erkran¬ 
kungen des Zentralnervensystems infolge endogen bedingter funktioneller 
Schwäche (z. B. amaurotische Idiotie). Die allgemeine Symptomatologie von 
Idiotie, Imbezillität und Debilität in psychischer und somatischer Hinsicht wird 
ebenfalls kurz skizziert; zum Schluß beschreibt Verf. die Krankheitsbilder der 
Mikrozephalie, tuberösen Sklerose, Mongolismus und den Infantilismus, der als 
Symptomenkomplex bei verschiedenartigen Erkrankungen (z. B. Kretinismus, 
Mongolismus) Vorkommen kann. 

Levi (49) stellt Mikrosomie, Nanismus und Infantilismus einander gegenüber: 
bei der Mikrosomie, die auch familiär auf treten kann, ist der Körper in allen seinen 
Teilen gleichmäßig im Wachstum zurückgeblieben, die gegenseitigen Proportionen 
entwickeln sich aber wie beim normalen Erwachsenen, auch psychisch verhalten 


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H. Vogt und F. Schob, Idiotie, Imbezillität, Debilität, Psychopathie. 147* 


sich solche Individuen wie Erwachsene, deren Charaktere sie auch in körperlicher 
Hinsicht bieten; der Nanismus kommt bei verschiedenen Erkrankungen vor (Rha- 
chitis, Osteomalacie, Achondroplasie u. a.), der Körper ist dabei disproportioniert; 
beim Infantilismus zeigen die befallenen Individuen in körperlicher wie geistiger 
Beziehung Eigenschaften, die einer früheren Altersstufe entsprechen, als der, auf 
welcher sich die Befallenen befinden. 

Einen interessanten Fall von halbseitiger Unterentwicklung der gesamten 
linken Seite, halbseitigen Zwergwuchs, hat Geist (30) bei einem imbezillen Knaben 
beobachtet; bemerkenswert war besonders auch der Umstand, daß ein älterer, 
von einem anderen Vater stammender, nicht schwachsinniger Bruder ebenfalls 
eine geringe, aber deutliche Unterentwicklung der linken Gesichtshälfte aufwies. 

Masuda (53) publiziert zwei Fälle von Himmißbildungen menschlicher Föten. 
Im ersten Fall, der aus dem 5. oder 6. Fötalmonat stammt, handelt es sich um 
eine unvollständige Anenzephalie (Amyelie) mit partieller Rückenspalte und Fort¬ 
setzung der Spalte nach vorn in einen teilweise zerrissenen enzephalozeleartigen 
H irnbruchsack, der als bimenförmige Ausbuchtung sich hinten am Kopf ansetzte. 
Im zweiten Fall liegt eine Enzephalozele vor, die Entwicklung entspricht dem 
4. Monat; aus der Scheitelgegend hebt sich zopfartig eine sackförmige Bildung 
heraus. Bei der mikroskopischen Untersuchung weist der solide Bruchinhalt graue 
und weiße Himmasse ohne Architektonik auf, bedeckt von Muskelfaser und 
Knochenanlage sowie von Haut. Die Bruchpforte ist durch Gewebsmassen ver¬ 
stopft, ein Zusammenhang von Bruchinhalt und den in ihrer Entwicklung ge¬ 
hemmten Gehiramassen ist nicht nachweisbar. Wesentlich für die Erklärung der 
Entstehung ist der Nachweis, daß in beiden Fällen an der Außenseite des Bruch¬ 
sackes eine Verwachsungsstelle (mit Amnion, Nabelschnur oder Placenta) vor¬ 
handen ist. Die Entstehung ist also wohl so zu erklären, daß das Schädeldach an 
der Verwachsungsstelle ausgezogen wird; der Schädelinhalt folgt; der Sack kann 
reißen, und es kann dabei zu einer Spaltung der bereits geschlossenen Neuralrohr- 
anlage kommen. Die Entwicklungshemmung der im Schädel verbliebenen Ge- 
himteile kann durch Dehnung und Zirkulationsstörungen (Stauung in der Sinus¬ 
anlage) infolge der Zerrung der im Bruchsack befindlichen Hirateile bedingt sein. 

Kryzan (47) gibt die makroskopische und mikroskopische Beschreibung 
eines Falles von reiner Mikrozephalie. Das Gehirn der 21jähr. Patientin, die übrigens 
einen mikrozephalen Bruder hatte, betrug samt Stamm und Cerebellum 407 g. 
Es fanden sich keine Residuen pathologischer Prozesse. Die Mikrozephalie betraf 
hauptsächlich das Großhirn; die großen Ganglien waren im Gegensatz zu dem Hira- 
mantel gut entwickelt. Die Windungen zeigten verschiedene Abnormitäten hin¬ 
sichtlich Verlauf und Entwicklung; die Rinde war deutlich verschmälert, die Zellen¬ 
elemente waren etwas an Zahl vermindert, zeigten aber ungefähr normale An¬ 
ordnung. Die Markstrahlung war besonders im Bereich der Stirnlappcn faserarm 
und wies hier zahlreiche Heterotopien auf. 

H. Vogt (84) hat für das Handbuch der Neurologie eine ausführliche Dar¬ 
stellung der zerebralen Kinderlähmung bearbeitet. Unter besonderer Betonung 
der Tatsache, daß die Grundlagen der zerebralen Kinderlähmung in ätiologischer 

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148* Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 

wie pathologisch -anatomischer Hinsicht durchaus nicht einheitlich sind, be¬ 
spricht der Verf. kritisch die vielgestaltigen endogenen, wie exogenen Faktoren, 
darunter besonders die entzündlichen und mechanischen, die als ätiologische 
Momente in Frage kommen, und ebenso die vielgestaltigen pathologischen Befunik 
darunter besonders die erst in neuester Zeit nicht klargestellten Fälle, wo tr«i 
ausgeprägter Hemiplegie Intaktsein der Pyramidenbahn gefunden wurde. De: 
klinische Teil umfaßt die kindlichen Hemiplegien, Paraplegien und Diplegien. di' 
posthemiplegischen Bewegungsstörungen und andere ungewöhnliche Bewegungs¬ 
typen, die Pseudobulbärparalyse, die Ath6tose double unter besonderer Berück¬ 
sichtigung der Lewandowskyschen Untersuchungen, und die Ubergangsformen ra 
anderen Erkrankungen des kindlichen Nervensystems; die letzten Kapitel sind 
der Diagnose, Prognose und Therapie gewidmet. Verf. weist darauf hin, daß t*>: 
der jetzt in Aufschwung begriffenen Krüppelfürsorge wohl auch nutzlose Opera¬ 
tionen an solchen Kindern mit zerebraler Kinderlähmung ausgeführt wurder 
bei denen eine solche Maßnahme infolge des tiefen Intelligenzdefektes nutzlos s». 

Die interessanten Befunde, die Hoestermann (41) in vier Fällen von zen- 
braler Lähmung bei intakter Pyramidenbahn gemacht hat, bestätigen die Spu 
mej/erschen Untersuchungsresultate. Die Ursache der Lähmung ist in solche 
Fällen in einer Schädigung des Aufbaues der Zentral Windungen zu suchen: die* 
besteht hauptsächlich in Störungen im Aufbau der oberen Zellschichten; d 
großen Pyramiden, die Ursprungsstelle der Pyramidenbahn, sind erhalten. In¬ 
folge der Störungen im Rindenaufbau können den motorischen Zellen nicht nnt: 
die Willensimpulse zufließen; es resultieren daraus die Lähmungserscheinune»:, 
denen die Kontrakturen folgen. Da der anatomische Zusammenhang der Pyra¬ 
miden und Pyramidenbahn aber gewahrt bleibt, tritt keine Degeneration de 
Pyramidenbahn ein. Solche Fälle sind aus entwicklungsgeschichtlichen Gründe: 
im Kindesalter am häufigsten. 

Deroubaix (20) hat sechs Fälle von infantiler Hemiplegie untersucht. AL- 
ätiologisches Moment möchte er neben halbseitiger Gehirnatrophie, Sklerose eint: 
Hemisphäre, Zystenbildung infolge von Blutung oder Erweichung, echter Pom 
zephalie im Gegensatz zu Brissand noch primäre Polioenzephalitis nach Strünrp< 
gelten lassen. Deroubaix versucht auf Grund der klinischen Symptome den Her': 
genau zu lokalisieren und auch die Art des pathologischen Prozesses zu diagnost- 
sieren. Die Atrophien und Kontrollturen können bei Herden, die außerhalb d« 
Rinde sitzen, größer sein als bei Rindenherden; bei Rindenherden wird aber fa.-; 
immer Epilepsie vorhanden sein, auch ist hier ein tieferer Grad von Idiotie zl 
erwarten. 

Die Arbeit von Glüh (32) bringt eine Zusammenstellung über Hydrocephalus 
Die Frage, ob die Lues in der Ätiologie des Hydrocephalus congenitus chronica 
eine große Rolle spielt, ist noch ungeklärt; besprochen werden die Herkunft d<: 
Hydrozephalusflüssigkeit, die Verquickung des Hydrozephalus mit hypophysäm 
Symptomen, mit Symptomen von Kleinhimtumor, die Frage der Intelligenz d-’ 
Hydrozephalen. Als diagnostisches Hilfsmittel bei unklaren Fällen wird die Prüfur: 
auf Transparenz ( Straßburger) angeführt, die nur bei Gehimschichtdicke unt ‘ 


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H. Vogt und F. Schob, Idiotie, Imbezillität, Debilität, Psychopathie. 149* 


1 cm Erfolg verspricht; weiter werden die Entwicklung und der gegenwärtige 
Stand der Therapie behandelt. Am Schluß gibt der Verf. eine tabellarische Zu¬ 
sammenstellung der Maße der interessanten Schädelsammlung, die für die inter¬ 
nationale Hygieneausstellung in Dresden zusammengebracht worden war. 

Rehm (63) gibt einen kurzen Überblick über das Krankheitsbild der mongo- 
loiden Idiotie und teilt drei Fälle eigener Beobachtung mit; in allen drei Fällen 
waren die Kinder bei der Geburt noch nicht voll entwickelt oder sehr klein; in 
zwei Fällen waren gehäufte Krampfanfälle beobachtet worden; der eine Pat. hat 
das für mongoloide Idiotie immerhin hohe Alter von 32 Jahren erreicht; ein noch 
höheres Alter, nämlich ein Alter von 68 Jahren, erreichte der eine der beiden Fälle 
von Schönfeld. Die Pat. litt außerdem an einer an Dementia praecox anklingenden 
Psychose: bemerkenswert ist, daß sie sechsmal geboren hatte. 26 Fälle von Mongo¬ 
lismus hat Bullard (16) röntgenographisch untersucht: besonders bei jungen 
Kindern zeigte sich die Knochenentwicklung oft verzögert; nur zweimal ließen 
sich vorzeitige Verknöcherungserscheinungen nachweisen. Während Schädel- und 
Gesichtsknochen meist keine Abweichungen erkennen ließen, bot das Gebiß fast 
immer Abnormitäten; die langen Röhrenknochen erschienen oft gegenüber der 
Norm verkürzt. 

Weygandi (89) hat sich mit der Frage der pathologischen Veränderungen im 
Gehirn bei Mongolismus, Kretinismus und Myxödem näher befaßt. Im ersten Fall 
von Mongolismus zeigte das Nwsl-bild einen ausgesprochen embryonalen Typus, 
etwa dem 7. Embryonalmonat entsprechend; es fanden sich sehr viele an Neuro- 
blasten erinnernde Zellelemente; im zweiten Fall war der Befund ganz ähnlich; 
Weygandi konnte hier den schon von Biach erhobenen Befund zweikerniger Ganglien¬ 
zellen bestätigen; im dritten Fall wies die Rinde neben ähnlichen Entwicklungs¬ 
hemmungen gleichzeitig Spuren destruktiver Prozesse: größere zellfreie Flächen, 
Vermehrung der Trabantenzellen, Kernreichtum um die Gefäße. Das mikrosko¬ 
pische Bild in dem Fall von Kretinismus ließ weniger Störungen in der Rinden¬ 
entwicklung erkennen als Veränderungen der Zelltypen: kömig-wabige Degene¬ 
ration des Zellkörpers, auffallend weit sichtbare geschlängelte Spitzenfortsätze; 
bei dem Myxödemfall endlich fanden sich Gefäßinfiltrate und ein wohl auf Glia¬ 
wucherung zu beziehender Kernreichtum der Rinde, wabige Degeneration vieler 
Ganglienzellen. Die mongoloiden Gehirne weisen also zweifellos eine Hemmung 
der Rindenentwicklung auf der embryonalen Stufe auf; bei dem Kretinengehirn 
handelt es sich mehr um eine degenerative, nicht entzündliche Rinden Veränderung. 

Ducosti (22) hat in ministeriellem Auftrag 1908 eine Zählung der ausge¬ 
sprochen kretinistischen Individuen des Departement Savoyen ausgeführt und 
gibt ihre Zahl auf etwa 700 an, d. i. 2,76% 0 der Gesamtbevölkerung. Bei einem 
Vergleich mit früheren statistischen Erhebungen aus den Jahren 1846, 1848 und 
1864 zeigt sich, daß der Prozentsatz an Kretinen, der von 1846—1864 von 8,1% 0 
auf 16% 0 gestiegen war, jetzt wieder ganz erheblich gesunken ist. In vier kleinen 
Publikationen beschäftigt sich Flinker (25—28) auf Grund seiner Erfahrungen 
in der Bukowina mit dem Kretinismus. Um die Unterschiede der Körperpro¬ 
portionen (25) bei Kretinen und Normalen sinnfällig zur Darstellung zu bringen. 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


photographierte er Normale und Kretinen (nach dem Vorgang von Quetelet) auf 
gleiche Bildgröße. Bei Vergleichen ergibt sich, daß der Kretin sich gegenüber 
dem Normalen auszeichnet durch relative Größe des Kopfes, Kürze des Halses, 
verhältnismäßig längeren Rumpf und sehr kurze Beine, Erscheinungen, die auf 
ein Stehenbleiben auf einer niederen Entwicklungsstufe hinweisen. Aus Beob¬ 
achtungen an kropfig und kretinisch entarteten Juden (26) geht hervor, daß der 
Kretinismus keine Rasse verschont; die Rasseneigentfimlichkeiten gehen bei 
schwereren Formen des Kretinismus ganz verloren. Der endemische Charakter 
des Kretinismus offenbart sich darin, daß sofort in der ersten Generation der ein¬ 
gewanderten Juden, deren Ahnen gesund waren, Kropf, in der zweiten Kretinismus 
auftrat. Das Vorkommen des Kretinismus unter den eingewanderten Juden, die 
mit der übrigen Bevölkerung doch nie in sehr innige Berührung kommen, spricht 
nach Flinker gegen die Kontaktinfektion, wie sie Kutschera a nn i mm t. Gegen die 
Anschaunngen Kutscheras wendet der Verf. sich in einer weiteren (27) Publikation; 
seine eigenen Beobachtungen, wo Kretinen mit ihren nächsten Angehörigen in 
einem Bett schliefen und doch nicht die Krankheit übertrugen, sprechen gegen 
die vorerwähnte Hypothese. In der vierten (28) Mitteilung bezeichnet Flinker 
den Kretinismus als ein angeborenes Leiden. Er weist auf die Tatsache hin, daß 
die Mütter von Kretinen auffallend oft an Kropf leiden; zwischen Kropf der Eltern 
und Kretinismus der Kinder muß ein ursächlicher Zusammenhang angenommen 
werden. Wenn man von direkter Vererbung absieht, so gibt es zwei Möglich¬ 
keiten: entweder die mit dem Kropf verbundene Schilddrüsenschädigung schädigt 
die Keimzelle oder die Schilddrüsenveränderung wirkt während der Schwanger¬ 
schaft ungünstig auf den Fötus ein. Im Anschluß daran teilt der Verf. die Kranken¬ 
geschichte eines Zwillingspaares mit: das intelligente Mädchen hatte einen kleinen 
Kopf, der Bruder war ein blöder Kretin. Sänger (67) berichtet über eine Reihe von 
Fällen, die er als formes frustes des Myxödems bezeichnet. An Stelle der psy¬ 
chischen Störungen fanden sich nur neurasthenische Beschwerden, Haut- und 
Schleimhautveränderungen fehlten oder waren nur angedeutet. Die Diagnose 
gründete sich gewöhnlich auf den Nachweis des Schilddrüsenmangels und den 
Erfolg der Thyreoidinmedikation. Eine entsprechende Erkrankung der. Schild¬ 
drüse kann u. a. durch Lues verursacht werden. Gigon (31) gibt einen Überblick 
über die Ergebnisse von Forschungen über den Stoffwechsel bei Myxödem. Bei 
Schilddrüsenmangel ist der Kalorienumsatz herabgesetzt; der Eiweißstoff¬ 
wechsel ist wesentlich verringert, ebenso der Wasser- und Salzstoffwechsel; der 
Fettstoffwechsel scheint nach gewissen, experimentell aber noch nicht sicher¬ 
gestellten Beobachtungen ebenfalls herabgesetzt zu sein; im Kohlehydratstoff¬ 
wechsel findet sich deutliche Erhöhung der Assimilationsgfenze für Zucker; diese 
Erscheinung ist vielleicht dadurch zu erklären, daß der hemmende Einfluß, den 
die Schilddrüse normalerweise auf das Pankreas ausübt, wegfällt; dadurch tritt 
über die Norm erhöhte Toleranz für Kohlehydrate ein. 

H. Vogt (85) hat auf experimentellem Wege im Verein mit Klose nachge¬ 
wiesen, daß den bisher bekannten Krankheitsbildern, deren Ursache wir in Störungen 
der inneren Sekretion erblicken (Kretinismus, Mongolismus), als weiteres Krank- 


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H. Vogt und F. Schob, Idiotie, Imbezillität, Debilität, Psychopathie. 151* 


heitsbild die Idiotie thymica anzureihen ist. Die Anregung zu der Arbeit ergab 
sich aus der Beobachtung, daß bei der Sektion von schwachsinnigen Kindern auf¬ 
fallend häufig Konsistenz der Thymus gefunden wurde; auch die weitere Beob¬ 
achtung, daß es eigentümliche infantilistische Zustände mit Knochenveränderungen 
gibt, die picht zum Kretinismus oder Mongolismus gerechnet werden können, 
drängten zur Annahme, daß vielleicht auch andere Drüsen mit innerer Sekretion 
für ihre Entstehung verantwortlich zu machen sind. Die Veränderungen, die bei 
jungen Hunden nach Thymusektomie auftraten, waren kurz zusammengefaßt 
folgende: Latenzstadium 1 Monat, dann 8 Monate lang zunehmende Fettleibigkeit, 
dann Eintritt von Kachexie, Tod etwa im 7.—9. Monat in komaähnlichem Zustand. 
Besonders interessieren die nervösen und psychischen Störungen: Bewegungsun¬ 
sicherheit, Abstumpfung der Sensibilität, Veränderung der elektrischen Erreg¬ 
barkeit ähnlich wie bei Tetanie; deutliche Zeichen psychischer Störung: die Tiere 
lernen nicht sich zurechtzufinden, sind stumpf, beschmutzen ihr Lager; dazu 
Skelettveränderungen infolge Mangel an ungelöstem Kalk. Die gesunde Gehirn¬ 
entwicklung ist also mit der Thymusfunktion in engstem Zusammenhang. Wesent¬ 
liche Grundlage der Störungen nach Verlust der Thymus ist wahrscheinlich Säure¬ 
überladung des Körpers (Nukleinsäure); infolgedessen ist der Anbau von Kalk 
im Knochen mangelhaft; das Gehirn zeigt Volumenvergrößerung, die auf die unter 
dem Einfluß der Säureüberladung eintretende Quellung der im Gehirn reichlich 
vorhandenen kolloiden Verbindungen zurückzuführen ist. Vogt gibt im Anschluß 
hieran noch die Krankengeschichte eines Patienten, bei dem die Krankheits¬ 
erscheinungen auf Thymuserkrankung hindeuten. 

Dr. Bahrmann (6) berichtet über erfolgreiche Anwendung von Hypophysis¬ 
präparaten bei drei Fällen von „Entwicklungshemmungen“ des Gehirns und zwei 
Fällen von funktioneller Nervenerkrankung; man wird solche Mitteilungen einzelner 
Fälle skeptisch aufnehmen. 

Der Fall von tuberöser Sklerose, den Nieuwenhuijse (67) mitteilt, ist be¬ 
merkenswert durch den langen Krankheitsverlauf, der sich vom 2.—76. Lebensjahr 
erstreckte. Neben Rinden- und Ventrikeltumoren fanden sich, wie gewöhnlich, 
Nierentumoren, außerdem multiple symmetrische Lipome im subkutanen Gewebe 
der oberen Extremitäten; aus den mikroskopischen Befunden sei hervorgehoben 
der Nachweis ungeheurer Massen von Corpora amylacea in den Hirnrindentumoren; 
an den sogenannten „großen“ Zellen, die Veränderungen der Ausläufer, Ein¬ 
lagerungen, teilweise Homogenisierung des Plasmas zeigten, konnte er deutlich den 
Charakter der Ganglienzellen feststellen; die meisten erschienen relativ hoch diffe¬ 
renziert. Der Ventrikeltumor bestand fast ausschließlich aus Konkrementen, die 
nach Ansicht des Verf. durch unregelmäßige klumpige Ablagerungen in und an 
die Gefäßwandungen entstanden sind; diese Ablagerungen zeigten keine Amy¬ 
loidreaktion. 

Higier (38) beschreibt einen im übrigen typischen Fall von Sachsscher amau¬ 
rotischer Idiotie, der gehäufte, zeitweise rechts überwiegende epileptische Krämpfe 
auf wies; die Ursache dieser Anfälle ist nach dem Verf. in einem komplizierenden 
Hydrozephalus mäßigen Grades zu suchen. Dutoit (23) bringt ein Sammelreferat 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


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über die familiäre amaurotische Idiotie; es umfaßt Kasuistik, Ätiologie, allgemein? 
Symptomatologie, ophthalmoskopische Befunde — auf dieses Kapitel sei be¬ 
sonders hingewiesen —, mikroskopische Befunde und Systematik. 

Volland (87) hat die mikroskopische Untersuchung von vier Fällen der Kom¬ 
bination von Epilepsie-Paramyoclonus multiplex ausführen können. In drei Fällt-: 
fand er wohl gewisse Störungen in der Rindenarchitektonik, z. B. Armut an Gani- 
lienzellen, gehäuftes Auftreten von embryonalen Zellen usw., aber die Veränderung 
erscheinen dem Verf. doch nicht charakteristisch genug, um in ihnen die Ursacfo- 
der myoklonischen Erscheinungen zu suchen; regelmäßig dagegen konnte er. um: 
zwar an Intensität der Schwere der klinischen Erscheinungen entsprechend, im 
Rückenmark folgende Hauptbefunde erheben: -auffallend häufig Anlagerung v<-i 
Kapillaren an Ganglienzellen (ob zur besseren Ernährung oder der Resorpti>c 
dienend, läßt Verf. dahingestellt), Austritt des Kemkörperchens in das Protoplasma, 
degenerative Erscheinungen am Kern, wie Randständigkeit, Verwaschensein d>: 
Kernmembran, stellenweise vom Kern nach der Peripherie fortschreitende Zer¬ 
störung der Tiproidkörper. Er schließt sich den Autoren an, die als Ursprung- 
stelle der myoklonischen Zuckungen das Rückenmark ansehen. 

Seige (75) gibt einen überblick über die Literatur des pathologischen Wandt: 
triebes und teilt dann sieben eigene Beobachtungen mit; wie gewöhnlich, hand-i 
es sich um Knaben. Meist kommen endogen oder exogen bedingte Verstimmung 
zustände als Ursache für das Weglaufen in Frage; die Fuguezustände sind für ko:r 
bestimmte Krankheit typisch; oft vergesellschaften sie sich mit ethischen od 
intellektuellen Defekten; in degenerierten Familien ist der Wandertrieb nici 
selten hereditär; wenn einmal schon Wanderzustände bei einem Patienten auf:: 
treten sind, so genügen zur Auslösung weiterer Fuguezustände immer klein«- 
Anlässe, schließlich erfolgt das Weglaufen gewohnheitsmäßig. Drei weitere Fä! 
von Wandertrieb teilt Schlieps (71) mit; auch in seinen Fällen bestanden keiner 
Anhaltspunkte für Epilepsie. 

MacCall (50) berichtet über zwei geistig gesunde Kinder, von denen d 
eine an Wortblindheit, das andere an Worttaubheit litt. Im Zusammenhang hi' 
mit sei kurz das Buch von Villiger (82) besprochen. Das Buch ist zunächst i 
Pädagogen bestimmt, aber auch der Arzt wird sich an der Hand dieses Werkch- 
gut über Sprachentwicklung und Sprachstörungen informieren können. Die e 
zelnen Sprachstörungen werden kurz abgehandelt. Aphasieformen, Stotte 
Stammeln, Agrammatismus, Hörstummheit und die nach Ansicht des Verf. xii« 
seltene Wortblindheit, die übrigens auch familiär auftritt. Schließlich wer« 
Taubstummheit und Schwerhörigkeit in ihrem Einfluß auf die Sprache nä 
beleuchtet. Die einzuschlagende Behandlung wird bei jeder einzelnen Stün 
näher auseinandergesetzt. 

Eine Reihe von wertvollen Arbeiten nehmen wieder Stellung zur Frage 
Zusammenhanges von Syphilis und Idiotie. Einige Autoren haben die Frage wie 
so zu lösen versucht, daß sie die Idioten auf das Vorhandensein von IVasserww 
scher Reaktion untersucht haben. KrÖber (46) fand positive Reaktion im 1 
bei 21,4% von 262 männlichen, im Alter von 6—48 Jahren stehenden Idic 


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H. Vogt und F. Schob, Idiotie, Imbezillität, Debilität, Psychopathie. 153* 


der Anstalt „Hephata“ zu München-Gladbach. Die dänischen Ärzte Thomten, 
Boas, Hjorth und Lesctdy (80, 81) erhielten dagegen bei Untersuchung von 2061 
Schwachsinnigen verschiedenster Altersklassen nur in 1,6%, bei 269 Epileptikern 
nur in 0,39%, bei 146 Blinden in 0%, bei 344 Taubstummen in nicht ganz 1% 
positiven Ausfall der Reaktion. Von 14 Idioten, die Chislett (16) untersuchte, 
zeigten 8 positive Reaktion, darunter 2 Fälle von juveniler Paralyse. Brückner 
und Clemem (13), die schon früher ähnliche Untersuchungen gemacht hatten, 
weisen in einer neuerlichen Veröffentlichung darauf hin, daß bei dem häufigen 
vorübergehenden oder dauernden Verschwinden der Wasser wannschen Reaktion 
im Blute brauchbare Resultate über die Häufigkeit der Syphilis bei Schwach¬ 
sinnigen nur durch möglichst frühzeitige und oft wiederholte serologische Unter¬ 
suchung gewonnen werden können. Die Autoren fanden bei 138 bis zu 10 Jahr 
alten Patienten der Alsterdorfer Anstalten in 4,3% positiven Wassermann. Anders 
gingen Plaut und Göring (61), sowie Hauptmann (34) vor. Die erstgenannten Au¬ 
toren stellten möglichst vielseitige Untersuchungen über die gesundheitlichen 
Verhältnisse der Kinder und Ehegatten von Paralytikern an, die in der Münchener 
Klinik aufgenommen worden waren. Untersucht wurden 146 Familienmitglieder, 
und zwar 46 Ehegatten und 100 Kinder von 64 Familien. Von den 244 Geburten 
in diesen Familien waren 20% Totgeburten oder Aborte, 26,8% der Kinder starben 
in frühem Alter, 63,2% waren noch am Leben. Bei 32 von den 100 Kindern fiel 
die Wassmnarmsche Reaktion positiv aus, ein Drittel der Kinder war also luetisch 
infiziert, davon 25 unter 10 Jahr. Von den Ehegatten reagierten 32,6% positiv; 
man muß annehmen, daß die Zahl der wirklichen Infektionen größer gewesen ist, 
denn die Reaktion schwindet ja wieder. Nur in 38% der untersuchten Familien 
reagierten sämtliche Mitglieder negativ. Die Arbeit enthält noch viele wertvolle 
Beobachtungen; es sei nur hier noch besonders erwähnt, daß von den 100 Kindern 
45 körperlich oder geistig geschädigt erschienen; da aber 62 der Kinder unter 10 Jahr 
waren, besteht noch für mehrere die Gefahr einer Lues hereditaria tarda. Wo 
beide Eltern an syphilidogenen Erkrankungen des Zentralnervensystems er¬ 
krankten, war die Nachkommenschaft besonders stark geschädigt. Die Verf. 
stellen die Forderung auf, daß der Arzt bei jedem Fall von Lues auf frühzeitige 
Untersuchung aller Familienangehörigen hinarbeiten sollte. Nicht minder inter¬ 
essant sind die Ergebnisse, die Hauptmann bei der serologischen Untersuchung 
von 43 Familien gewonnen hat. Es soll hier nur auf die Schlußfolgerungen näher 
eingegangen werden. Die serologische Untersuchung der Famlienangehorigen 
erschien zunächst sehr bedeutungsvoll für die Klärung einzelner Symptome, z. B. 
Rcflexanomalien, deren Zusammenhang mit Lues unsicher war; „sie ließ die Wege 
der Syphilis auch dahin verfolgen, wo sie durch Anamnese und objektiven Befund 
nicht aufgespürt werden konnte“. Besonders interessant ist die Untersuchung 
der Deszendenz; offenbar sind folgende Gruppen zu unterscheiden: 1. Tatsäch¬ 
liche Infektion, d. h. Übergang von Spirochaeten von der Mutter auf Ei oder Fötus, 
2. Keimschädigung durch Toxine. Zur ersten Gruppe sind offenbar zu rechnen alle 
Deszendenten mit luetischen und metaluetischen Erkrankungen des Nervensystems, 
Deszendenten mit positivem Wassermann, Deszendenten mit somatischen Zeichen 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


der Lues hereditari». Zur zweiten Gruppe sind wahrscheinlich solche Mrak 
wertige auf psychischen oder somatischem Gebiet zu zählen, die negativ reagiern: 
Besonders wichtig ist die Forderung, die Hauptmann auf Grund seiner l'cte- 
suchungsresuitate erhebt, daß man auch die Erzeuger aller Idioten, auch sokb*: 
die negativ reagieren, serologisch untersuchen muß, wenn man richtig festste^: 
will, wieweit die Lues als ätiologischer Faktor für die Entstehung von Idiotie vor 
Bedeutung ist. 

Als Degenerationszeichen bei Deszendenten von luetisch infizierten Ehen 
ist die scapula scaphoidea aufgefaßt worden. Nach den Untersuchungen v.: 
Reye (64) ist dieses Phänomen in ganz überwiegender Mehrzahl als ein Degeneratkt : - 
zeichen anzusehen, das auch oft mit anderen Degenerationszeichen vergeh - 
schaftet ist. In 60% der Fälle kam Lues der Erzeuger als ätiologisches Moral¬ 
in Frage, nächstdem auch Alkoholismus, Tuberkulose: in seltenen Fällen fcm- 
nach Ansicht von Reye vielleicht auch eine in den ersten Lebensjahren akquirier- 
Schädigung des Organismus das Auftreten der Scapula scaphoidea bewirken. 

III. Prophylaxe. Schwachsinnigenförsorge. 
Fürsorgeerziehung. 

In der Bekämpfung der Hauptursachen der Geisteskrankheiten: Herediti- 
Alkoholismus, Syphilis: sieht Rosanoff (66) die wichtigste Aufgabe der Prophytu 
Er untersucht, wieweit die bisher üblichen Methoden der Bekämpfung und c- 
gesetzgeberischen Maßnahmen von Wert sind. 

Die Arbeit von Büttner (14) gibt einen recht guten Überblick über alle d- 
Fürsorgemaßnahmen, die im Anschluß an das Hilfsschulwesen bereits getrof 
und noch weiter zu entwickeln sind. Während der Schulzeit soll ausreicheiK 
ärztliche Behandlung, Unterbringung in besonderen Ferienkolonien, unentgn: 
liehe Verabreichung von Mittagessen in der Schule. Freifahrt auf der Straßenbai 
gewährt werden; für schwachsinnige Knaben müssen Knabenhorte eingerieht 
werden, die Eltern schwachsinniger Kinder müssen auf besonderen Elternabende 
aufgeklärt werden; die Schulpflicht für schwachsinnige Kinder ist bis zum 16. Lebet 
jahr zu verlängern. Über die Schulzeit hinausgehende Fürsorgebestrebuira 
bestehen in Hilfe bei Berufswahl, Zahlung von Prämien an Lehrmeister (Sachs*::. 
Berlin. Frankfurt), Errichtung von Arbeitskolonien bzw. -lehranstahen (BresUi 
Frankfurt), von Fortbildungsschulen für Schwachsinnige, denen Haushaltung 
schulen für schwachsinnige Mädchen anzugliedem sind (Berlin, Breslau), !L- 
teilung der Namen der Hilfsschüler an die Ersatzkommission. Heranziehung £■' 
Hilfsschulpersonalakten bei Vergehen ehemaliger Hilfsschüler. Auf nahm e e- 
verminderten Zurechnungsfähigkeit in das neue Strafgesetzbuch. Es empfiei' 
sich die Gründung spezieller Fürsorgevereine (Berlin, Breslau. Königsberg u. i 
die in möglichst vielseitiger Weise sowohl schulpflichtige wie schulentlassen 
Schwachsinnige überwachen, bei schwierigen Entschlüssen beraten und in V:- 
fällen unterstützen. 

Schenk (68) hat in Amerika Anstalten für Schwachsinnige und Hilfsscfcu! 


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W. Vog t und F. Schob, Idiotie, Imbezillität, Debilität, Psychopathie. 155* 

besucht; nach den letzten amtlichen Ermittlungen gab es dort 28 staatliche An¬ 
stalten mit 17091 Zöglingen; in Privatanstalten waren etwa 1000 untergebracht. 
Der Gesamtbetrieb der Anstalten zeichnet sich durch Großzügigkeit aus; einzelne 
Anstalten haben besondere Psychologen angestellt. Weniger entwickelt fand 
Schenk das Hilfsschulwesen. Nach Rohlena (65) bestehen in England und Wales 
ohne Irland und Schottland 170 Hilfsschulen, davon 86 in London, mit 11 368 
Kindern. Die Schulpflicht erstreckt sich bis zum 16. Lebensjahr; die Hilfsschulen 
erhalten Freifahrt auf der elektrischen Bahn oder werden von Gemeindedienern 
geleitet; eine von der Stadt bezahlte Pflegerin, inspiziert die Kinder regelmäßig. 
Nach Abramowsky (1) schlägt die kgl. englische Kommission für Schwachsinnige auf 
Grund eingehender Untersuchungen über die Schicksale der Schwachsinnigen 
und ihrer Nachkommenschaft vor, eine Zentralstelle zu schaffen, die alle Schwach¬ 
sinnigen überwachen und gegen alle geistig Defekte, die außerstande sind, ihre 
Angelegenheiten zu besorgen oder die für die Allgemeinheit eine Gefahr, event. 
auch durch Fortpflanzung, zu werden drohen, Vorgehen und sie eventuell in An¬ 
stalten unterbringen sollte. Für chronische, harmlose Patienten werden folgende 
Einrichtungen zu schaffen sein: Zwischen- und Arbeitshaushospitäler, Familien¬ 
kolonien (wie Gheel, Jerichow), Unterbringung in auswärtigen Familien, Errichtung 
landwirtschaftlicher Kolonien. 

Müller-Schürch (56) stellt neuere Gesetze in der Schweiz in ihrer Bedeutung 
für die Fürsorge zusammen. Nach dem neuen Zivilgesetzbuch haben die Eltern 
auch dem geistig-gebrechlichen Kind eine angemessene Ausbildung zu verschaffen 
und bei der Berufsausbildung auf die geistigen Fähigkeiten Rücksicht zu nehmen. 
Mit Recht bemängelt Verf., daß im Kanton Zürich in Jugendschutzfällen die Zu¬ 
ziehung des Arztes nicht obligatorisch ist, sondern dem Ermessen des Vormund¬ 
schaftsgerichtes überlassen bleibt. 

Auch in diesem Jahre liegt ein ausführlicher Bericht über den schulärztlichen 
Überwachungsdienst in Breslau von Stadtarzt Oebbecke (58) vor. Den Bericht über 
die Hilfsschulen erstattet Dr. Chotzen ; die Gesamtzahl der Hilfsschülern ist von 
1006 auf 1081 gestiegen. Über den Gesundheitszustand von 252 Neuaufnahmen 
wird ein gutes Bild gegeben. Intelligenzzustand, klinische Formen, ursächliche 
Verhältnisse, krankhafte Organveränderungen werden genau erörtert. Wie ge¬ 
wöhnlich bei Hilfsschülern findet sich Häufung von Konstitutionsanomalien, Er¬ 
krankungen der Sinnesorgane, von nervösen Störungen, Entwicklungshemmungen; 
fast ein Viertel der aufgenommenen Knaben wies Störungen im Descensus testi- 
culorum auf. 

Weygandt (90) gibt einen kritischen Überblick über die Stellung der gesamten 
Jugendkunde und -fürsorge im Rahmen der internationalen Hygieneausstellung 
zu Dresden. 

Mönkemöller (54) hat im Anschluß an die früher publizierten Untersuchungen 
von Cramer die schulpflichtigen Fürsorgezöglinge der Provinz Hannover psychi¬ 
atrisch untersucht; ähnliche Untersuchungen haben Schnitzer ( 70) an drei pom- 
merschen Erziehungsanstalten, Thoma (79) an 620 badischen Zwangszöglingen 
angestellt. Bei „engster Begrenzung des Begriffes geistig defekt“ fand Mbnke- 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


möUer 37% minderwertige Kinder, Schnitzer gibt den Prosentsatz auf fi? : 
Thoma auf 51,9% an. 

Beaussart (9) teilt den Lebensgang von 14 Insassen der Spezialabteiht. 
für schwierige Geisteskranke der Anstalt Villejuif mit, die während ihrer MiHr in, 
sämtlich die Strafkompagnien in Afrika durchgemacht hatten. 

Kluge (43) gibt einen überblick über die Einrichtungen, die er an den F:<- 
damer Anstalten für die Behandlung schwer erziehbarer Fürsorgezöghnge 
schaffen hat. Die Psychopathen sind großenteils in der Epileptikeranstah. •> 
Imbezillen im Wilhelmstift untergebracht: die Gesamtzahl der aafgenomnwr~: 
Fürsorgezöglinge in der Zeit von 1901—1910 betrug in diesen beiden Anstah'i 
250; außerdem ist den Anstalten noch die Bethlehemstiftung, eine Sptzü.- 
(Zwischen-) Anstalt für 40 geistig minderwertige noch schalpflichtige Knahei 
angegliedert, die Bethlehemstiftung bringt außerdem Zöglinge in Familienp^;- 
unter. 1910 standen so im ganzen 225 Fürsorgezöglinge unter Aufsicht der Pcti- 
damer Anstalten. Vorzüglich ausgew&hlte Beispiele aus der eigenen Erfahre 
des Verf. müssen auch dem Laien die Notwendigkeit psychiatrischer Mitarbeit 
deren Methodik kurz geschildert wird, überzeugend dartun. 


5. Funktionelle Psychosen. 

Ref. Uuipfenbach-Bonn. 

1. Abhot, E. St. (Waverley), Meyers theory of the psychogenic origis 

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Rassegna di studi psich. I, fase. 4. 

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maniaco-dSpressifs. Sitzungsbericht. AnnaL m^dico-psycho!, 
annöe 69, ^ov.-Decembre, p. 429. (S. 177*.) 

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und ihre differentialdiagnostische Verwertbarkeit für die 
Dementia praecox. Allg. Ztschr. f. Psych. Bd. 68, S. 613. 

6. Ballet, G., La psychose hallucinatoire chronique. L’Encöphale 

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8. Barbk et Quichard, Dömence pröcoce ou psychosc pßriodique. 

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surajoutöe ou dömence prtcoce? Bull, de la soc. clinique 
de m6d. ment, tome 4, 269. 

10. Beaussart, P., Dölire syst6matisö de persöcution. Interpretation; 

hallucinations auditives, visuelles, psychomotrices; pseudo- 
hallucinations. Phönomdnes autoscopiques. Bull de la soc. 
clin. de möd. 4, p. 278. 

11. Becker, Werner (Weilmünster), Medikamentöse Behandlung der 

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13. Benon, Raoul (Nantes), Les dysthönies pöriodiques. (Psychose 

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Journ. de psycho! 8, p. 445. 

16. Bertschinger, H. (Breitenau), Heilungsvorgänge bei Schizophrenen. 

Allg. Ztschr. für Psych. 68, S. 207. 

17. Betz, W. A., Die Klassifikation der funktionellen Neurosen und 

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en neurol Bladen no. 15, p. 57. 

18. Begreis, Otto (Kiel), Katatonie in Schüben. Inaug.-Dis. Kiel. 

19. Birnbaum, Karl (Buch-Berlin), Krankhafte Eifersucht und 

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20. Bleuler, E. (Zürich), Dementia praecox oder Gruppe der Schizo¬ 

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Irresein. Inaug.-Diss. Heidelberg. 


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158* 


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NeuroL ZentralbL 30, S. 173. 

293. Truette, 7., et Pittet, Une mystique persdcutde. BulL de la w. 

de la clin. de mdd. ment. p. 46. 

294. Truelle, V., et Pittet (Paris), Une mystique persöcutde. Sitzung? 

bericht. Annal. möd.-psychol. 69, Mai-Juin, p. 488. 

295. Valek, Friedrich (Bukarest), Heilbarkeit und Prophylaxe de r 

funktionellen Geistesstörungen. Wien. med. Wschr. Nr. 11. 

296. Vigouroux, M. (Paris), Manie pdriodique gudrie? Sitzungsber. 

AnnaL m§d.-psychol. 69. Septembre-Octobre, p. 303. 

297. Wada (Tokio-Wien), Zur Pathologie der Dementia praecox. 

Sitzungsber. NeuroL ZentralbL 30, S. 351. 

298. WaUon, 2?., Psychose circulaire chez une fillette de douze an?. 

Sitzungsber. Annal. möd.-psychoL 69, Mai-Juin, p. 491. 

299. WaUon, H., Psychose circulaire agant ddbutde k douze ans chez 

une fillette intellectuellement döbile. L’Encöphale 6, p. 171. 

300. Watton, H., et Gautier, CI., Psychose infectieuse et confusion 

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p. 661. 

301. Weber, Heinrich, Zur Kenntnis der Katatonie jenseits des 

30. Jahres. Inaug.-Diss., Jena 1910. 

302. Wells, Q. E., Diplococcus in acute delirium. Americ. joum. of 

insanity vol. 67, p. 593. 


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Umpfenbach, Funktionelle Psychosen. 


177 * 


>3. WestphcU, Geisteskrankheiten und Jahreszeiten. Inaug.-Diss. 
Freiburg i. Br. 

04. Weisel, AJbrecht (Heidelberg), Zur Diagnose der Stuporen. 

Sitzungsber. Neurol. ZentralbL 30, S. 886. 

05. White, E. Barton (London), Pituitary and Supra-renal Growths 
in a case oi Insanity. The jouinal of ment. Science 57, p. 18. 
106. Winslow, R. (Baltimore), Partielle Thyreodektomie bei Dementia 
praecox. Wien. klin.-therap. Wschr. Nr. 9. 

307. Winter, Friedrich Wilhelm (Bannen), Ein kasuistischer Beitrag 

zu den A. Westphalschen Pupillenstörungen bei Katatonie. 
Inaug.-Diss. Bonn. 

308. Wörmcmn, Adolf, Mel? ncholie und Baptus melanchoh'cus. Inaug.- 

Diss. Kiel. 

309. Wolter, Rudolf, Zur Lehre von den menstrualen Psychosen. 

Inaug.-Diss. Kiel. 

310. ZabibS, Johannes, Die Dementia praecox in ihrer Beziehung zur 

sozialpolitischen Gesetzgebung. Inaug.-Diss. Königsberg. 

311. Ziveri, A. (Brescia), Contributo clinico allo Studio delPAmenza 

e stati affini. Bassegna di studi psich. Siena I, p. 121. 
(S. 188*.) 

312. Ziveri, A. (Brescia), Su alcune forme di Psicosi depressiva a 

carattere ipocondriaco. Bassegna di studi psich. Siena I, 
p. 370. 

313. Ziveri, A. (Brescia), Psicosi ansiosa confusa. Biv. speriir. 

di freniatria 66, fase. 4. 

a) Manisch-depressives Irresein. 

Amtnoles bringt hier (4) zehn zum Teil ausführliche Krankengeschichten, 
Fälle von manisch-depressivem Irresein, die mit ausgesprochenen gastrischen 
Störungen, mit subjektiven und objektiven gastrischen Symptomen begannen, 
welche meist schwanden, sobald die eigentliche Psychose einsetzte. An einen 
kausalen Zusammenhang zwischen beiden denkt A. dabei nicht. 

Bomslem (27) schließt: Das manisch-depressive Irresein und die sog. Dementia 
praecox bilden zwei klinische Formen, welche ihrem Wesen nach verschieden sind. 
Das erstere ist eine auf dem Boden der Degeneration entstehende und zweifellos 
funktionelle Psychose, welche im allgemeinen einen günstigen Verlauf nimmt. 
Die sogen. Dem. praecox ist zweifellos eine organische lntoxikationspsychose, 
welcher bisher noch unbekannte anatomisch-pathologische Veränderungen ent¬ 
sprechen, und welche am häufigsten zu den spezifischen Verblödungszuständen 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXIX. Lit. m 


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f 

178* Bericht Ober die psychiatrische Literatur 1911. 

führt. Trotz dieser prinzipiellen Unterschiede ist oft in vielen Fallen die I>j" : 
rialdiag nose sehr schwierig oder unmöglich. 

Dies läßt sich erstens durch die Tatsache erklären, daß die klinische ünr> 
welche die sog. Dem. praecox umfaßt, nicht einheitlich ist nnd in sieh klic-'r 
Formen einschließt, welche bisher nicht abgesondert sind und der Hebephr?-: 
der Katatonie oder der paranoiden Form entweder symptomatologisch oder £ vs. 
Ansg ang nach verwandt sind. 

Zweitens besteht eine prinzipielle Erscheinung darin, daß die 
depressiven Faktoren, als grundlegend für die menschliche Seele, sich jeder £ 
regung oder Depression beimengen, ungeachtet dessen, zu welcher klinischen Grt:: 
dieselben gehören, ln der Dem. praecox treten diese Faktoren am ausgeprägte 
und am häufigsten hervor. 

Klinische Untersuchungen, gestützt auf psychologische Analyse eure-' 
Symptome in Verbindung mit anatomisch-pathologischen und chemisch« Urr- 
Buchungen, werden in Zukunft immer festere Anhaltspunkte für die Differenz- 
diagnose schaffen, indem sie einerseits die Unterscheidung der för die Dem. pr*r< 
spezifischen Symptome von den manisch-depressiven Symptomen ermöglidv. 
andererseits aber von der uneinheitlichen Gruppe der Frühdemenz einzelne klinb: 
Formen, welche bis jetzt in ihr eingeschlossen sind, absondern werden. 

Jelliffe (120) beginnt mit einem historischen überblick über die Zyklothvn 
bespricht die Arbeiten von Kahlbaum, Hecker usw. Namentlich hebt er die Ver¬ 
dienste der beiden Falret auf diesem Gebiete hervor. Er beschreibt dann eii-: 
gastro-enterologischen, einen dipsomaniakalischen und einen sexualen Typus. 

Marshall (177) will an neun Krankengeschichten zeigen, daß Zustände v 
Depression und Exzitation periodisch und episodisch auch bei anderen Psyche: 
beobachtet werden, bei Imbezillität, sec. Demenz, organischer Demenz. Parat - 
Die Erregungs- und Depressionszustände will M. erklären durch Ernähren:- 
Störungen des Nervensystems. 

Die mathematische Form des Periodizitätsbegrifies ist nach Mugdan (lf’. 
für die Biologie nicht anwendbar. Verf. wendet sich zunächst gegen die Theon- 
von Fliess (und Swoboda), daß die Periodizität das regulative Prinzip aller bel ¬ 
gischen Vorgänge sei. Die Fließ sehe Lehre ist vom mathematischen StandpurF 
aus sofort ad absurdum zu führen. M. gibt folgende Definition der Periodizität 
Einem System von Ereignissen kommt die Eigenschaft der Periodizität zu. wen: 
in zeitlich gesetzmäßigen Intervallen logisch verwandte Ereignisse eintreten, an- 
Gründen, die lediglich in der Organisation der Betroffenen liegen, ohne daß dafä 
ein äußerer oder doch ein entsprechender äußerer Anlaß vorläge. Auf dem Gebiet» 
der Neuro-Psychologie gibt es Kategorien von Zuständen, die in diesem Sinne al- 
periodisch zu bezeichnen sind. Diese lassen sich der Qualität nach in drei Gruppe: 
sondern: die erste Gruppe gehört dem Gebiete der Zyklothymie an, die zweit! 
dem des manisch-depressiven Irreseins; die dritte Gruppe umfaßt die Fälle von 
periodischem Schwanken der Hirnfunktion. Die zweite Gruppe ist bekannt unter 
der Bezeichnung des menstruellen Irreseins. Die dritte Gruppe umfaßt die Zu¬ 
stände, welche Sterlz im 48. Bande des Archivs für Psychiatrie eingehend geschildert 


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Umpfenbach, Funktionelle Psychosen. 


179* 


kt. Die Periodizitätsbegrilfe soll man nicht erweitern, das hieße die Periodizität 
it der Multiplizität identifizieren, was als durchaus inopportun zu bezeichnen w&re. 

R(gi» hat den Verdacht ausgesprochen, ob nicht nnter den sogen. Globe- 
ottem (globetrotters) psychisch Kranke sich befinden. Nodal berichtet hier (192) 
lsführlich über einen Kranken, welcher ohne erbliche Belastung nach Variola 
nd Typhus manisch-depressiv wurde und dann jahrelang während der manischen 
hasen große Beisen zu Fuß unternahm, die ihn von Frankreich bis nach Buß- 
ind, auch in die andern Weltteile, führten. 

Rougi (262) rechnet aus, daß in 10% der Fälle nur die Manie noch nach 
0 Jahren rezidiviert. Nach der Zusammenstellung anderer französischer Irren- 
rzte, soweit sie über Fälle idiopathischer, nicht rezidivierter Manie berichtet haben, 
>bt R. seine Beobachtungen im Asyl von Limoux, und zwar ist sein Material ans 
len Jahren 1880—1899. Er benutzt nur Fälle, die er in jeder Beziehung über- 
chauen kann, auch in katamnestischer Beziehung. Es wurden in dem genannten 
Zeiträume 187 Maniakalische aufgenommen (48 M., 89 F.). Von diesen sind 
19 Fälle jetzt 10—26 Jahre ohne Bezidiv geblieben. Ihre Krankengeschichte teilt 
R. hier auszfiglich mit. 

Stransky (278): „Das manisch-depressive Irresein ist eine konstitutionelle 
und als solche im Grunde chronische Seelenstörung, die sich auf der Grundlage 
einer in der Begel angeborenen, weit seltener erworbenen Defektanlage entwickelt.“ 
Manie und Melancholie sind für den Verf. zwei verwandte Begriffe, die gerade 
deshalb, weil sie degenerativen Ursprungs sind, die Neigung zu periodischem Ver¬ 
lauf zeigen. Die Stimmungsanomalie sieht er für das Wesentliche an. 

Die Melancholie des Bückbildungsalters hält St. mit vielen anderen Autoren 
nicht ohne weiteres für einen manisch-depressiven Mischzustand. Er betont mit 
Becht, daß man von einem Mischzustand im klinischen Sinne noch nicht sprechen 
dürfe, „wenn ein expansiver Affekt in einem durchaus psychologischen Ausmaße, 
ohne dadurch seinen expansiven Charakter wesentlich eingebüßt zu haben, mit 
Unlustelementen loziert (oder vice vera) in jenem Zustandsbilde vorkommt; absolute 
reine Affekte gibt es ja nicht oft.“ Besonders interessant ist das Kapitel XIII 
des Buches: Grenz- und Streitfragen. In ihm geht der Verf. auf die meisten in 
den letzten Jahren lebhaft diskutierten Fragen nochmals ein. An erster Stelle 
erwähnt er die bei Degenierten entstehenden Verstimmungszustände, welche 
sich an ein äußeres Ereignis anschließen. Er rechnet dieselben nicht zum manisch- 
depressiven Irresein. Kurz gestreift werden ferner die DepTessionszustände des 
höheren Alters. In der Melancholiefrage (s. oben) verhält sich S. dem Dreyfusschen 
Standpunkte gegenüber ablehnend. Die Idee Spechts , der die Paranoia mehr weniger 
im manisch-depressiven Irresein aufgehen lassen möchte, akzeptiert er gleichfalls 
nicht. Auch den Querulantenwahn will er den manisch-depressiven Zustands- 
bildem nicht zurechnen. Die Existenz der akuten Paranoia leugnet er nicht ganz, 
zählt diese Psychose aber auch nicht dem zirkulären Irresein zu. „Ubergangs¬ 
fälle“ zur Epilepsie vermag er nicht anzuerkennen. Fälle, die sich unter dem aus¬ 
gesprochenen Bilde remittierender Katatonien präsentieren, gehören nicht zum 
manisch-depressiven Irresein. 


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180* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


Die sogen, kombinierten Psychosen (Krafft-Ebing, Oaupp, MönkemMa z \ 
sind Vergesellschaftongen zweier gleichberechtigter psychischer Erkrankung«. 

(fltt&a/T-Bosr. 

b) Paranoia. 

Kleist (142) sacht hier Thomsm za widerlegen, eine Krankheitsart 
Paranoia“ sei durch Thomsen nicht nachgewiesen. Abgesehen von akut paranoisch 
Zustandsbildem als Erscheinungsformen verschiedener wohl charakterista* 
Krankheitsarten (z. B. Paralyse, senile Gehimerkrankang, alkoholische und zsc-: 
Gehirnvergiftungen, Dementia praecox) werden akut paranoische Erkranknig-: 
als Äußerungen zweier verschiedener abnormer Konstitutionen beobachtet: 

1. Menschen mit reaktiv-labiler Veranlagung können in Reaktion auf affet - 
volle Erlebnisse (z. B. Verurteilung, Untersachungs- und Strafhaft, getänsct 
Hoffnungen u. a,) in akut paranoischer Form erkranken. 

2. Unter der Gruppe der autochthon-labil Veranlagten bilden die Indino: 
mit der Disposition zu akut-paranoischen, event. periodisch-paranoischen I - 
kranknngen eine besondere Abteilung. 

Partenheimer (203), welcher vier hierher gehörige Fälle kurz anfährt, st-r 
dem induzierten Irresein sehr skeptisch gegenüber. Das Bestehen indaxierv- 
Irreseins im strengen Sinne ist äußerst selten, wenn nicht überhaupt fragbc 
Induzierter Irrsinn kann nur angenommen werden, wenn ein nachweisbar erbixi 
nicht erheblich belastetes, also zu geistiger Erkrankung nicht von vomher .: 
prädisponiertes, Individuum lediglich durch den Umgang mit einem Geist- 
kranken in eine Geisteskrankheit verfällt, die im klinischen Sinne, in Inhalt m: 
Form mit der Psychose des Ersterkrankten identisch ist und nach der Trauma: 
auch wieder einen selbständigen Charakter trägt. Die Krankheitsform, die für du 
induzierte Irresein bei diesen Voraussetzungen wohl allein in Betracht komme 
könnte, wäre die Paranoia. 

c)^Dementia praecox. 

Bleuler (20): „Mit dem Namen Dementia praecox oder der Schizophren- 
bezeichnen wir eine Psychosengruppe, die bald chronisch, bald in Schüben ver- 
läuft, in jedem Stadium halt machen oder zurückgehen kann, aber wohl km- 
volle Restitutio ad integrum erlaubt. Sie wird charakterisiert durch eine sperifisd 
geartete, sonst nirgends vorkommende Alteration des Denkens und Fühlern and 
der ^Beziehungen zur Außenwelt. Die Persönlichkeit verliert ihre Einheit. Di* 
gegenseitige Beeinflussung der verschiedenen Komplexe und Strebungen ist eine 
ungenügende oder geradezu fehlende. 

B. teilt die Dementia praecox in folgende Unterabteilungen: 1. Das Paranoid. 
Halluzinationen oder Wahnideen oder beide stehen dauernd im Vordergrund. 
2. Die Katatonie. Katatone Symptome stehen dauernd oder doch längere Zeit 
im Vordergrund. 3. Die Hebephrenie. Akzessorische Symptome kommen vor. 
ohne anhaltend das Bild zu beherrschen. 4. Die einfache Schizophrenie. Während 
des ganzen Verlaufes sind nur die spezifischen Grandsymptome vorhanden. 

Bei den Grandsymptomen unterscheidet B. u. a. die alterierten (Assoziationen. 


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Umpfenbach, Funktionelle Psychosen. 


181* 


ftektivität und Ambivalenz — hierunter versteht Verl, die Neigung der schizo- 
hrenen Psyche, die verschiedensten Psychismen zugleich mit negativem und 
ositivem Vorzeichen zu versehen), und die intakten einfachen Funktionen (Empfin- 
ung, Orientierung, Gedächtnis, Bewußtsein und Motilität). 

Als akzessorische Symptome bezeichnet er Sinnestäuschungen, Wahnideen, 
kzessorische Gedächtnisstörungen, die Alteration der Persönlichkeit, der Sprache 
nd Schrift, ferner die körperlichen und die katatonen Symptome, sowie die akuten 
>yndrozne (z. B. melancholische Zustände usw.). 

Bei der psychologischen Analyse hat Verf. insbesondere die Freudsche Methode 
verangezogen. (ßübner-Boon.) 

Frankhauser (86) kommt hier auf seine frühere Einteilung der Dementia 
^raecox-Fälle zurück (Ztschr. f. d. ges. NeuroL u. Psych. Bd. 6) und ent nimm t 
der £/rsfevnschen Arbeit Krankengeschichten als Paradigma für seine eigene Arbeit. 
Ob es sich bei Urstein in allen Fällen um Dementia praecox handelt, möchte F. 
dahingestellt sein lassen. Eine subtilere Einteilung in Unterabteilungen hält F. 
für wichtig, da sie uns erlaubt, die einzelnen Komponenten besser zu erkennen 
und auseinander zu halten. 

Hoüaender (113) berichtet über sechs Fälle von Dementia praecox bei Kindern 
im Alter von 8—14 Jahren, um zu beweisen, daß es eine Dementia praecocissima 
gibt. Die Krankheit der Kinder unterscheidet sich nicht wesentlich von den Fällen 
des späteren Lebensalters. Die paranoide Form ist selten. Prognose sehr ungünstig. 
Erblichkeit und angeborene Geistesschwäche begünstigen das Vorkommen der 
Krankheit. H. plädiert für Trennung dieser Kinder von erwachsenen Geistes¬ 
kranken, sie gehören in Spezialabteilungen. 

Jelliffe (121) geht von der Annahme aus, daß wir in der Dementia praecox, 
was den einzelnen Fall anbetrifft, nur einen Ausschnitt eines chronischen Pro¬ 
zesses vor uns haben. Man muß deshalb bei jedem Kranken ganz genau das Vor¬ 
leben untersuchen, und wird dann konstatieren, daß er bereits als Kind allerlei 
Symptome zeigte, die als Vorläufer oder Beginn der späteren Erkrankung aufzu- 
lassen sind. Dahin würden allerlei Unarten gehören, Schwankungen des Gemüts- 
lebens, Menschenscheu usw. Kommen dazu noch erbliche Belastung, Degene¬ 
rationszeichen u. dgl., so hat man allen Grand, mit dem Kinde vorsichtig umzu¬ 
gdien, namentlich in den Zeiten, wo dem Gehirn größere Aufgaben gestellt werden. 

ltten (126) hat bei seinen Versuchen Heilung oder dauernde Besserung in 
keinem Falle erreicht. Er schließt: die künstliche Erregung der Hyperthermie 
und Leukozytose durch Einspritzung von Na nucleinicum-Lösung ist nicht im¬ 
stande, die Schizophrenie (Dementia praecox) zu heilen oder zu bessern. 

Kerner (138) benutzte das Material der Pflegeanstalt Rheinau, wo in den 
Jahren 1867—1909 unter 3692 Aufnahmen 1669 an Dementia praecox Leidende 
waren. Die Sterblichkeit an den verschiedenen Formen von Tuberkulose war 
ziemlich genau gleich der in der umgebenden Bevölkerung. Der Schluß lautet: 
die Mortalität der chronischen pflegeanstaltsbedürftigen Fälle der Dementia praeoox 
ist durchgehend etwas größer als die der allgemeinen Bevölkerung der gleichen 
Altersstufe. 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


Klehmet (141) bringt hier eine sehr interessante Krankengeschichte ew 
Imbezillen, der während seiner Militär zeit an Hebephrenie erkrankte, und dafe 
Linkshänder und Linksfüßer wird, übrigens eine Eigenschaft, die in seiner taufe i 
bereits wiederholt beobachtet wurde. K. möchte das Vorkommen in diesem Fall 
als Teilerscheinung des auch auf anderen Gebieten bestehenden Negatrvisi» 
erklären. 

Kiew (146) berichtet kurz, daß in der Anstalt Emmendingen in drei Jahrs 
16 Fälle von Osteomalacie beobachtet wurden, alles weibliche Kranke in fortge¬ 
schrittenem Stadium der Dementia praecox, wo die Osteomalacie erst lange nach 
Beginn der Psychose auftrat, sodaß ein Zusammenhang mit den Geneiatkm- 
vorgängen ( Curschmann ) sicher ausgeschlossen war. Kiew möchte auch an et i* 
gemeinsame Krankheitswurzel denken, so an die innere Sekretion. 

Verf. (169) berichten über ihre an 40 Dementia praecox -Krank en angestehre 
Versuche, wonach sich der Puls dieser Kranken nicht wesentlich von dan dr 
normalen Menschen unterscheidet. 

Markus (176) hat Assoziationsversuche bei Dementia praecox-Kranken n 
der Greifswalder Klinik und in der Anstalt Uckermünde gemacht. Von jedes 
Kranken wurden 100 Reaktionen aufgenommen. Der Versuchsperson wnrd-?- 
Worte eines bestimmten Reizwortschemas zugemfen. Die Zeitmessung geschah 
mit der Fünftelsekundenuhr. Der ausführliche Bericht muß im Original naefc- 
gelesen werden. Die große Mannigfaltigkeit, die einem bei den Assoziationen der 
Praecox-Kranken begegnet, rührt daher, daß wir bei der Dementia praecox nrt 
einem Konglomerat verschiedener Kvankheitszustände zu tun haben. Durch dt; 
Assoziationsexperiment erhalten wir in den meisten Fällen auch nicht mehr 
ein Abbild eines augenblicklichen Zustandes. So erkennen wir z. B. einen manisch« 
Erregungszustand oder einen Depressionszustand b *i einem Paralytiker, ein« 
Zirkulären, einem Praecox-Kranken. Hat die einze’ne Psychose spezifische Sym¬ 
ptome, so können wir erwarten, daß sie sich auch .n den Assoziationen wiedff- 
spiegeln. Die Dementia praecox hat kein spezifisches Symptom, das immer in 
jedem Fall und von Anfang bis Ende vorhanden wäre. Charakteristisch ia 
für sie die Aufmerksamkeitsstörung ohne psychomotorische Erregung. Dafür ia 
das Assoziationsexperiment ein feineres Reagenz als die klinische Beobachtung. 
Umgekehrt ist es bei den anderen Symptomen. Das Experiment leistet noch gute 
Dienste im Beginn der Sprachverwirrtheit; durch das Experiment kann man sie 
schoD früher als durch die Unterhaltung nachweisen. Das Wesen der Sprach¬ 
verwirrtheit wird durch das Experiment nicht ergründet, über das Wesen der 
Stereotypie, Iterativerscheinungen und das Auftreten der sogenannten losge¬ 
lösten Gedankenreihen gibt das Experiment keinen Aufschluß. Eine Differen¬ 
zierung der Hebephremie, Katatonie und Dem. paranoides den Assoziationen nach 
war nicht möglich. Alles in allem muß man sagen, daß der Wert des Assoziations¬ 
experimentes in diagnostischer und psychologischer Hinsicht bei seiner Anwendung 
bei der Dementia praecox ein recht bedingter ist, und daß wir unsere Erwartungen 
nach neuen Errungenschaften mit ihm auf dem Gebiete dieser Psychose nicht zu 
hoch halten dürfen. 


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Umpfenbach, Funktionelle Psychosen. 


183* 


Die Monographie von Pascal (204) gibt in gedrungener Form einen Überblick 
Lber die Dementia praecox in psychologischer, klinischer usw. Hinsicht. Gerade 
Lie Hälfte des Buches beschäftigt sich mit der Psychologie der einzelnen geistigen 
Störungen. Der klinische Teil ist etwas kurz ausgefallen, enthält aber das Wichtigste. 
?. rät zu einer Opotherapie, namentlich im Anfänge und auf der Höhe der Er¬ 
krankung. Man soll die verschiedenen Drüsen nacheinander zur Anwendung 
»ringen, natürlich unter ständiger Aufsicht. Sobald die akuten Krankheitssymptome 
;eschwunden sind, muß die Arbeit beginnen, um der Verblödung entgegen zu 
treten. P. warnt davor, erblich schwer Belastete ins Militär einzustellen. Anch 
soll man sie während der Pubertätsjahre dauernd beaufsichtigen und sie event. 
von angestrengten geistigen Arbeiten entbinden. 

Müculski (187) berichtet über einen 40jährigen Kranken, der durch seine 
Amme Lues acquirierte, schon als Kind viel mit dem Kopfe zu tun hatte, und seit 
dem 16. Lebensjahre an Dementia praecox leidet. Seit acht Jahren besteht Akro¬ 
megalie. Vergrößerung des Unterkiefers, der Nase, der Lippen und Zunge. Die 
Extremitäten sind frei geblieben. Af. möchte Bedenken tragen, ein nur zufälliges 
Zusammentreffen von Psychose und Akromegalie anzunehmen. 

Rinne (233) bietet hier eine ausführliche historisch-medizinische Übersicht 
Ober das Jugendirresein. 

Rüiershaus (234) zeigt an 60 Fällen von Dementia praecox der hebephrenen 
und katatonen Formen, wo die eigentliche Psychose nach der Pubertät zum Aus¬ 
bruch kam, — daß, wie Bleuler behauptet, in einer großen Zahl der Fälle, bei 
Rüiershaus in 75% der Fälle, schon vor der Pubertät, im Kindesalter allerlei Ab¬ 
sonderlichkeiten beobachtet werden. In 3 Fällen kam es zu einer früheren Puber¬ 
tätsentwicklung {Ziehen). Demnach würde man der Pubertät in der Ätiologie 
der Dementia praecox nur eine mehr auslösende Wirkung zuschreiben dürfen. 
Die Fälle von Dementia infantilis würden zur Dementia praecox zuzurechnen sein. 
Die sogen. Pfropfhebephrenie ist wahrscheinlich häufiger als man gewöhnlich 
anzunehmen pflegt. Das Problem der Pfropfhebephrenie kann erst gelöst werden 
nach einer gründlichen Eriorschung der Idiotie. Eine Differentialdiagnose zwischen 
den nervösen, psychopathischen Kindern und den Dementia praecox-Kandidaten 
ist oft nicht möglich. Man müßte mal festzustellen suchen, wieviel von den Be¬ 
suchern der Hilfsschulen sich später als Dementia praecox-Kranke erweisen. Nicht 
weniger interessant ist die Frage, wieviel von den vor das Jugendgericht Zitierten 
später an Dementia praecox erkranken. 

Schmid (263) benutzt das Material von Cery. der einzigen Irrenanstalt des 
Kanton Waadt. 1901—1910 waren unter den Aufnahmen 31% Dementia praecox- 
Kranke. Nach den schriftlich erhaltenen Katamnesen waren 16,2% der Entlassenen 
genesen, Heilung mit Defekt 15,5%. Schmid fand aber dann bei persönlicher münd¬ 
licher Untersuchung bei 36,7% der als geheilt Angegebenen noch deutliche Zeichen 
der Geisteskrankheit. Bei 43 Fällen konnte Schmid pathologische Symptome 
nicht mehr nachweisen. Diese Fälle teilt nun Sch. in drei Gruppen: die eine muß 
nachträglich zum manisch-depressiven Irresein gerechnet werden. Bei der zweiten 
Gruppe muß entweder eine andere oder keine sichere Diagnose gestellt werden. 


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184* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


Für die dritte Gruppe findet Sch. gemeinsame charakteristische Symptome. Es 
sind 22 Fälle. Sie will Sch. von der Dementia praecox, d. h. Katatonie, abtrennen. 
Die Krankengeschichten fügt er bei. Diese Zustandsbilder zeigen Ähnlichkeit 
mit der akuten Verwirrtheit. Sie zeigen eine plötzlich hereinbrechende Trübung 
des Bewußtseins und Unfähigkeit der Orientierung. Diese Bewußtseinstrübung 
besteht fort nach Ablauf der akuten Symptome, die Wahnideen werden lange 
nicht korrigiert. Während der Krankheit häufig lucida intervalla. Konstant finden 
die Kranken in ihrer Umgebung Verwandte oder Bekannte. Illusionen sind massen¬ 
haft, Halluzinationen seltener. 

Sch. spricht dann über die Verwirrtheit als Zustandsbild des manisch- 
depressiven Irreseins, die Abgrenzung der Verwirrtheitszustände von der Kata¬ 
tonie, Über geheilte Dementia praecox-Fälle, die zum manisch-depressiven Irre¬ 
sein gehören. Den Schluß machen geheilte Dementia praecox-Fälle mit anderer 
Diagnose. — Sch. stimmt Kraepelin bei, wenn er sagt: „Die Behauptung, daß die 
Dementia praecox in wissenschaftlichem Sinne heilbar sei, halte ich für verfrüht.“ 
Er rät dringend, alle Kranken vor ihrer Entlassung aus der Anstalt noch einer 
genauen Untersuchung zu unterziehen. 

Schroeder (264). ln einem Fall von Dementia praecox katatoner Form, der 
im Alter von 45 Jahren starb, fand Schröder einzelne Purkinjexellen außer der 
Keihe liegend und fast in jedem Präparat eine oder mehrere Purkinjezellen mit 
zwei Kernen. Dreikernige oder syncytiale Formen sab er nicht. Die gleichen Ver¬ 
änderungen, wenn auch in spärlicher Zahl, fand S. bei einem weiteren Fall von 
Dementia praecox und viel zahlreicher in einem Fall von periodischer Manie mit 
schwerer erblicher Belastung. 

S. glaubt, daß seine Befunde geeignet sind, in der Frage nach der Ätiologie 
der Dementia praecox, wie nach dem anatomischen Substrat degenerativer Ver¬ 
anlagung einen kleinen Fingerzeig zu geben, und möchte sie auffassen als Ent¬ 
wicklungsstörung im Sinne der Fixierung einer früheren Entwicklungsstufe, somit 
als ein Kennzeichen der degenerativen Disposition. {Sioli- Bonn.) 

Soukhanoff (272) knüpft große Hoffnungen an die Beobachtung von Klutscheff- 
in Petersburg, wonach in den 60 Fällen von Dementia praecox bei 40,60% Syphilis 
nachweisbar war, teils angeboren, teils erworben. Nach einer anderen Angabe 
sei in 26% bei Dementia praecox Wassermann positiv. 

Timofejew (287) teilt einige Krankengeschichten mit, in denen die akut 
entstehende Psychose alle Anzeichen des akuten initialen Stadiums der progres¬ 
siven Paralyse trug. Die Ähnlichkeit bezog sich sowohl auf die somatischen Er¬ 
scheinungen (Pupillarungleichheit, Tremor, Sprachstörungen, Steigerung der 
Reflexe), als auf die psychischen Veränderungen (Oberflächlichkeit der Urteile, 
Demenz, Größenwahn- und hypochondrische Ideen). Die auf Grand dieser Er¬ 
scheinungen gestellte Diagnose der Paralyse mußte aber geändert werden, als der 
stationäre Charakter der Erkrankung deutlich wurde, die pathologischen Er¬ 
scheinungen nicht nur nicht im Zunehmen, sondern eher im Abnehmen begriffen 
waren, und als sich durch den ganzen Verlauf der Krankheit herausstellte, daß es 
sich um Dementia praecox handelte. 


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Umpfenbach, Funktionelle Psychosen. 


185* 


T. ist anzonehmen geneigt, daß es sich in den Fällen der progressiven Paralyse, 
on denen in der Literatur berichtet wird, daß sie sehr viele Jahre dauerten oder 
;ajr mit Genesung endeten, um solche Krankheiten, wie die von ihm beschriebenen 
L&ndelt. Da diese Fälle sowohl theoretisches als praktisches Interesse bieten, 
oblägt T. vor, sie mit einem besonderen Namen „Dementia praecox pseudo* 
> aratytica‘ J zu bezeichnen. (Flewc&mann-Kie w.) 

d) Sonstiges. 

Bonutein (26) kommt zu dem Schlüsse, daß es keine selbstständige Degene¬ 
rationspsychose gibt. Bei Individuen, die erblich belastet sind, können akut und 
chronisch psychotische Zustände auftreten, welche gewisse besondere Merkmale 
acufweisen. Ihre Besonderheit besteht vor allem darin, daß sie nicht eine Ver¬ 
schlimmerung des gewöhnlichen Zustandes bei solchen Individuen darstellen, 
und in sich die in der Seele solcher Individuen präformierten Elemente enthalten. 
Bei Hysterischen treten am häufigsten Dämmerzustände auf, in der konstitutio¬ 
nellen Erregung — ein manischer Zustand, in der Pseudologia phantastica — eine 
paranoide Form mit phantastischen Wahnideen, bei Individuen mit angeborener 
Zweifelsucht andere paranoide Zustände. 

Sie besitzen ferner dieses gemeinsame Merkmal, daß sie sich häufig bei einem 
und demselben Individuum kombinieren, wobei dieser oder jener psychotische 
Zustand vorherrschen kann, je nachdem, welche psychische Eigenschaften bei 
den Individuen im gewöhnlichen Zustand prävalieren. 

Alle diese psychotischen Zustände haben meist eine Tendenz, in kürzerer 
oder längerer Zeit zu schwinden, ohne einen sekundären Schwachsinn nach sich 
zu ziehen. Einige von diesen psychotischen Zuständen, wie gewisse Typen hyste¬ 
rischer Dämmerzustände (der Gansersche Komplex) und gewisse paranoide Formen, 
zeigen eine Tendenz, besonders häufig unter dem Einfluß der Gefängnisatmosphäre, 
hervorzutreten, doch kommen sie auch in den alltäglichen Lebensumständen vor. 

Psychotische Zustände bei Degenerativen stellen im allgemeinen nur eine 
krankhafte Reaktion solcher Individuen auf ungünstige Lebensbedingungen dar, 
und sind streng von denselben abhängig. 

Auf Grund obiger Merkmale wolle man sie von anderen psychischen Störungen 
unterscheiden, und zwar von solchen, welche bei erblich nicht belasteten Menschen 
im Verlauf der organischen (wie die Dementia praecox) auftreten und sogar solcher 
funktioneller Psychosen, wie das manisch-depressive Irresein oder die Paranoia 
chronica. Diese letzteren bilden gewissermaßen die letzten Ketten der langen 
Reihe degenerativ-psychotischer Zustände. 

Damaye (44) bringt genaue Blutuntersuchungen bei einer melancholischen 
Tuberkulösen. Mit der Besserung des Zustandes erschienen auch die eosinophilen 
Zellen wieder. 

Davidenkow (50) beobachtete scharf ausgeprägte Echolalie und Perseveration 
(Haftenbleiben) bei einem mäßig dementen Manne (wohl die Alzheimersche Form 
der senilen Demenz). Spontan konnte der Kranke fast gar nichts sprechen. Er 
beantwortete aber an ihn gerichtete Fragen, wobei die Echolalie und das Haften¬ 
bleiben stets zum Vorschein kamen. Bei der Autopsie wurde neben einer Pachy- 

Zeitschrift för Psychiatrie. LXIX. Lit. n 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


meningitis cervicalis hypertroph ica scharf ausgesprochene Atrophie der Stic- •• 
lappen — namentlich des vorderen Pols — gefunden. Verf. tritt gegen die Behü¬ 
tung auf, daß die Echolalie und Perseveration dem Grade der Demenz der PatkeK 
entsprechen. In seinem Falle führt er diese Symptome auf die durch die Atrcpt- 
der Stirnlappen bedingte Störung der Assoziationstätigkeit zurück, die eine Hypr- 
reflexie der kortikalen Sprachbahn S-M (des Liehiheim-Wernidcesehen Scho» 
hervorraft. Die „akustischen Spuren“, die bei Erhaltung der spontanen Spntr- 
dnrch neue Assoziationen verdrängt werden, finden in solchen Fällen wie d-~ 
geschilderten ganz besonders günstige Bedingungen zum Haftenbleiben. Im 
F all gibt dem Verf. Veranlassung, einige Momente zusammenzustellen, die fr 
besondere psychische Funktionen der Stimlappen sprechen. {Fleischmarm -Kie* . 

Frankhauser-Stephansfeld (84) verfügt über 40 Fälle von Geschwister 
psychosen, welche er hier vorführt, nachdem er zunächst seinen diagnostische 
Standpunkt ausführlich dargelegt und eine neue Einteilung der Dementia praec 1 ; 
und des manisch-depressiven Irreseins in Unterabteilungen gemacht hat, je nach¬ 
dem der Krankheitsprozeß lokalisiert ist. Er kommt z. B. zu einem manbc:- 
depressiven Irresein des Gefühls, des Willens, des Verstandes. Das weitere el: 
im Original selsbt nachgelesen werden. Die katatonen Störungen hält F. r 
Urs'ein als entscheidend für die Diagnose Dementia praecox im Gegensatz xar 
manisch-depressiven Irresein. 

Bei jF’s Geschwisterpsychosen handelt es sich durchweg um ähnlich ver¬ 
laufende Psychosen; Geschwisterpsychosen sind gleichartig. Es kann als Ges-'tr 
gelten, daß bei der psychischen Erkrankung beider Linien der Aszendenz die «iw 
derselben den krankmachenden Einfluß der anderen eliminiert, wobei sie sei: 
auch gegenseitig unschädlich machen können. Bei den 40 Krankengeschichte 
handelt es sich in 28 Fällen um Dementia praecox. Die Ursache der Erkrankos? 
(Dem. praecox) ist in einer ererbten Disposition irgendwelcher, wie auch ium« 
lokalisierten Teile des Gehirns zu suchen. In 6 Fällen bestand manisch-depres¬ 
sives Irresein. Die erbliche Dispostion zu manisch- depressivem Irresein schließ 
die zu Dementia praecox aus und umgekehrt. —Die letzte Gruppe, die Geschwister¬ 
psychose des Rtickbildungsalters, umfaßt ebenfalls 6 Fälle, die betreffenden Kranker 
waren 45—56 Jahre alt. In dem einen Falle paarte sich eine Spätmelancho'iir 
mit einer paranoid-katatonen Spätdemenz, was für die innere Verwandtschaft 
der Rückbildungsmelancholie mit den übrigen Rückbildungspsychosen und gegen 
eine solche mit dem manisch-depressiven Irresein spricht. Spät- und Frühdemeni 
stehen sich nahe, sind aber verschiedene Krankheitsformen. Die Disposition n 
der einen Erkrankung scheint die zu der andern auBzuschließen. Unter den 40 Ge¬ 
schwisterpsychosen sind bei 17 beide Geschlechter vertreten, bei 23 nur eins, unter 
letzteren bei 4 das männliche, bei 19 das weibliche. Das weibliche Geschlecht ist 
ja überhaupt empfänglicher für die erbliche Übertragung von Krankheitsanlagen. 
In 7 Fällen waren 3 Geschwister erkrankt, und zwar immer nur ein Geschlecht. 
Bei Heredität von seiten des Vaters sind mehr die Töchter, von seiten der Mutter 
mehr die Söhne gefährdet. Der Einfluß des Vaters scheint im allgemeinen bei der 
Vererbung mächtiger zu wirken. Die jüngeren Geschwister erkranken meist früher 
als die älteren. Je älter die Eltern, desto schwerer die Belastung. 


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Umpfenbach, Funktionelle Psychosen. 


187* 


Heinidee s (107) Znchthansgefangene, jetzt 68 Jahre alt, von denen sie 
1 Jahre in Strafanstalten zubrachte, erkrankte an Halluzinationen, Verfolgung«- 
>een, Größenwahn, Begnadigungsideen. Unter Zunahme des geistigen Verfalls 
ltspricht das Bild mehr und mehr dem senilen Verfolgungswahn. Nach Heinick« 
t dies der erste Fall von Begnadigungswahn bei einer Frau. Mit Äüdw glaubt 
f-, daß der Begnadigungswahn eine senile Psychose ist und Anspruch auf beson- 
ere Klassifizierung hat. 

Jollys (123) sehr ausführliche Verarbeitung von 79 Fällen, bei denen der 
Beginn der Erkrankung über 10 Jahre zurücklag, eignet sich nicht zu einem kurzen 
Referat. 

Loewe (163) fand eine Vermehrung des Harndialysates außer bei Epilepsie 
wich in Fällen von Katatonie und Hebephrenie. Eine dieser Dialysatvermehrung 
entsprechende Steigerung in der Ausscheidung kolloidalen Phosphors fand sich 
bisher nicht. Das Hamdialysat bei Katatonie und Dementia paranoides besitzt 
eine hohe Toxizität, welche sich wesentlich von der des Epileptikerdialysats unter¬ 
scheidet. Seine Wirkung äußert sich nie in epileptiformen Erscheinungen. 

Münzer (189): Die Puerperalpsychosen bilden bisher keine selbständige 
Krankheitsgruppe; es muß noch erforscht werden, welche spezifische mit dem 
Ablauf der Generationsvorgänge verknüpfte Noxe die Entstehung der Puorperal- 
psychose bedingt. Der Erschöpfung möchte M. keinen dominierenden Einfluß 
bei der Ätiologie der Puerperalpsychosen einräumen. Daß es sich um eine Intoxi¬ 
kation des Gesamtorganismus handelt, darf man vermuten. M. weist dann auf die 
bisher allerdings nur hypothetische innere Sekretion des Uterus hin. Die toxische 
innere Sekretion (Fellner und Schickele) muß nach M. in der Gravidität gewaltig 
anwachsen und auch das Gehirn alterieren, wodurch die Schwangerschaftspsychose 
entsteht. Im Wochenbett, wo der enorm vergrößerte Uterus sich in kurzen Zeit¬ 
räumen zur Norm zurückbildet, geraten nun toxische Produkte in übergroßen 
Quantitäten in die Blutbahn, daher der Ausbruch der Puerperalpsychosen, daher 
auch die Erscheinung, daß viel mehr Puerperal- als Graviditätspsychosen beob¬ 
achtet werden. Zwischen Psychose und Generationsgeschäft muß ein spezifischer 
Zusammenhang bestehen. Dies mag vielleicht in einer verstärkten inneren öekretion 
toxischer Uterusprodukte begründet sein. 

Pelz (207) will Adalin auch bei Angstzuständen mit Erfolg angewandt haben. 

RkmondnnA Voiienel (230) erzielten im ganzen gute Resultate mit Pantopon, 
namentlich bei Angstzuständen melancholischer Art. 

Sahn und Azimar (259) empfehlen Pantopon bei akuten Geistesstörungen, 
namentlich bei ängstlichen Psychosen, Delirium tremens. Keine üblen Neben¬ 
erscheinungen. 

Sommer (271) will die meisten Krankbeitszustände mit dominierendem, 
hypochondrischem Symptomenkomplex nicht als selbständige Krankheitsform 
auflassen, — will aber einer kleinen Gruppe derartiger Fälle unter der Be¬ 
zeichnung Hypochondrie eine gewisse nosologische Selbständigkeit einräumen. 
Fälle mit sog. neurasthenischen Symptomen im jugendlichen Alter gehören nicht 
hierher. S. will unter Neurasthenie nur die erworbene Nervosität verstanden 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


wissen. Neurasthenie hat nnr selten hypochondrische Symptome. Ein ww a-r. 
Teil der Hypochondrie gehört zu den Depressionszuständen des manisc- 
depressiven Irreseins. In anderen Fällen handelt es sich um Paralyse, Dernau 
senilis, Arteriosklerose und Katatonie. 

Sommer bringt dann zwei Krankengeschichten, welche an die beiden Fi£- 
von Beiß (in „Konstitutionelle Verstimmung und manisch-depressives Irresem' 
erinnern, und sucht zu beweisen, daß sie nicht den anderen Psychosen zugereefaas 
werden können. Er schließt demnach, daß man das Recht hat, eine bestinstr 
Groppe von Krankheitsfällen unter der Bezeichung Hypochondrie als Krankbar¬ 
art zusammenzufassen und ihr eine gewisse nosologische Selbständigkeit asa- 
ränmen. Sie gehört der Gruppe der psychogenen Krankheitsform als eine woh- 
charakterisierte Unterform an. S. möchte für die jüngeren Lebensjahre die leidsst 
Unterform, in der hypochondrischen Psychose des höheren Lebensalters d* 
schwerere Unterform der Hypochondrie erkennen. 

Ziveri (311) hält es'an der Hand eines hier beigebrachten ~K~rm»>Vhi>ihrfalU 
nicht für richtig, die vier Formen von Amentia KräpeMna beizubehalten, weil nute 
Umständen derselbe Kranke mehrere Formen aufweist. 


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6. Neurosen und Schilddrüsenerkrankungen. 

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A. Epilepsie und Tetanie, Gruppierung und 

Ätiologie. 

Pappenheim (209) spricht sich allgemein über die Ausdehnung der Bezeich¬ 
nung und des Begriffes Epilepsie aus. Er wendet sich gegen die Bestrebungen, 
diesen Begriff soweit zu fassen, daß darunter alle mit endogenen periodischen 
Verstimmungen einhergehenden Zustände genommen werden. Eine derartige 
Grenzerweiterung zerstört nur die in den letzten Jahren mühsam erworbene Ein¬ 
engung der echten Epilepsie, indem man die Alkoholepilepsie, die Affektepilepsie 
davon abtrennte, und ist auch vom praktischen Gesichtspunkt bedenklich, weil 
die Bezeichnung Epilepsie in den Augen der Laien stets etwas prognostisch 
und auch sonst Ungünstiges bedeutet. Die sog. charakteristischen psychischen 
Symptome der Epilepsie haben sich bisher nicht als spezifisch für die E. er¬ 
wiesen. Den Zusammenhang der Epilepsie mit den übrigen Kinderkrämpfen 
beleuchten namentlich zwei Arbeiten der Münchener Jahresfortbildungskurse 
über die Beziehungen der Epilepsie zur Kindertetanie. 

Pfaundler (211a) gibt eine Schilderung der kindlichen Diathesen, unter die 
er auch die Spasmophilie rechnet. Die Diathesen sind nicht Krankheiten, sondern 
Krankheitsbereitschaften, die aus einer angeborenen Anlage entstehen. Jede 
einzelne Manifestation der Diathese kann auch bei den anderen Zuständen und 
aus exogenen Ursachen auftreten; nur ihr Ensemble ist für die jeweilige Diathese 
charakteristisch. Die Manifestationen treten scheinbar spontan auf, oft in Form 


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Weber, Neurosen und Schilddrüsenerkrankungen. 


211* 


von Paroxysmen; auch der Rückgang ist rasch und kritisch. Sie sind häufig von 
schweren nervösen Erscheinungen begleitet und zeigen sich vielfach gesetzmäßig. 

Kieman (140) gibt eine zusammenfassende Darstellung der Pathogenese 
der Epilepsie. Dabei betont er besonders die Rolle der subkortikalen Ganglien 
und des Himstammes als Ausgangspunkte der Konvulsionen, weil diese Teile 
überhaupt die Zentren für rythmische Bewegungen enthalten, die durch ein perio¬ 
disches An- und Abschwellen des Nerventonus zustande kommen. Die epileptische 
Konstitution ist charakterisiert durch eine allgemeine Herabsetzung des Tonus 
in Verbindung mit erhöhter Reaktionsfähigkeit und Reizbarkeit. Als Ursache 
dieser Veränderungen betrachtet Verf. autotoxische Störungen. 

French (83) nimmt in ähnlicher Weise ein medulläres Konvulsionszentrum 
an, das durch verschiedene Schädlichkeiten, häufig durch eine toxaemische Blut¬ 
beschaffenheit erregt werden könnte. Nach wiederholtem Auftreten der Anfälle 
kommt eine Dauerveränderung dieses Zentrums zustande. Er unterscheidet prä¬ 
disponierende und auslösende Ursachen der Epilepsie; unter den ersteren führt 
er Erblichkeit, Lebensalter und Geschlecht an (Alter und Geschlecht können doch 
nicht als Krankheitsursachen gelten!). 

Eine Übersicht über die Lehre von den Krämpfen des Kindesalters gibt 
Oött (99). Nicht alle eklamptischen Erscheinungen der Kinder sind Vorboten 
oder der Beginn einer genuinen Epilepsie, aber sie gehören auch nicht alle zur 
spasmophilen Diathese. Bei der letzteren treten auf tonische Krämpfe, Laryngo- 
spasmen, klonische Krämpfe als der Ausdruck der spinalen, bulbären oder zere¬ 
bralen Affektion; auch außerhalb dieser Attaken ist die Zugehörigkeit zur spasmo¬ 
philen Diathese erkennbar an den bekannten Zeichen. Die spasmophilen Kinder 
können später Neuropathen und Psychopathen werden, aber nicht Epileptiker. 
Symptomatisch treten Kinderkrämpfe auf bei Allgemeinerkrankungen, bei orga¬ 
nischen Hirnerkrankungen und als Beginn einer echten genuinen Epilepsie. Das 
kindliche Zentralnervensystem hat überhaupt die Neigung, auf viele funktionelle 
Schädigungen mit Krämpfen zu reagieren. 

Assagioli (5) berichtet von einer schlecht genährten Mehrgebärenden, die 
durch lange fortgesetztes Stillgeschäft einen starken Verlust von Kalksalzen erlitt. 
Anläßlich einer akuten Magenerkrankung wurden die bis dahin latenten Tetanie¬ 
symptome manifest. Sie wurde durch Darreichung von Kalksalzen geheilt. 

Im Gegensatz zu den Feststellungen Thietnichs, denen sich ja auch Gott an¬ 
schließt, hält es Redlich (219) für zweifellos, daß Kinder, die an Sänglingstetanie 
gelitten haben, später auch an Epilepsie erkranken können. Auch Hothsinger (116) 
hat mehrere Fälle von echter Epilepsie bei älteren Kindern beobachtet, die durch 
das noch bestehende Fazialisphänomen sich als spasmophil erwiesen oder die als 
Säuglinge an echtem Laryngospasmus gelitten hatten. 

Satz (233) macht darauf aufmerksam, daß Tetanie und Epilepsie gelegent¬ 
lich kombiniert Vorkommen können. Auch psychotische Episoden oder echte Psy¬ 
chosen können bei einer Tetanie auftreten. Ihre Pathogenese ist verschieden; 
sie sind entweder eine Teilerscheinung des tetanischen Krankheitsprozesses; über 
sinen solchen Fall berichtet Saiz. Oder es handelt sich um ein zufälliges Zu- 


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212* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


sammentreffen; dann kann häufig die Psychose die latenten Tetaniesympteo- 
hervorrufen. Oder die psychischen Störungen sind durch die gleichseitig vor¬ 
handene Epilepsie bedingt. 

Büttner (43) weist auf das von Schlesinger bei der Tetanie beschrieben 
Beinphänomen hin; bei der Bewegung des Beines im Hüftgelenk tritt ein Streck - 
krampf im Kniegelenk und ein tonischer Krampf im Sprunggelenk auf. Büttee 
hat ein ähnliches Symptom bei Hysterie gefunden und bezeichnet es als „Pseutk- 
beinphänomen“. 

Fr. Schultee (242) weist auf eine Dellenbildung der Zunge bei Beklopfe 
derselben als ein für die Tetanie der Erwachsenen charakteristisches Symptom hc 

W. Ebstein (69) beobachtete bei einem 31jährigen an Spätrachitis leidemto 
Kranken akut auftretende Tetaniesymptome in Gestalt von Pfötchenstdkmf 
Fazialisphänomen und gesteigerter Muskelerregbarkeit, sowie Laryngospasmrs. 
Auch die bei diesen Kranken auftretenden Spontanfrakturen rechnet er hier» 
und gibt die Schuld der durch Kalkarmut bedingten Osteoporose. Alle Symptom 
besserten sich, als therapeutisch Calcium lacticum gegeben wurde. 

Uber die Beziehungen zwischen Pubertät und Epilepsie spricht sich ff. 
Gerlach (94) in einer interessanten Dissertation aus der EteAenschen Klinik ab 
Grund statistischer Untersuchungen aus. ln erster Linie ist für die Ursache <fe 
Pubertätsepilepsie die hereditäre Belastung von Bedeutung; es wird also anerkanr 
daß in den meisten Fällen dieselben ätiologischen Momente vorliegen, wie bei d* 
übrigen Epilepsie. Im Zusammenhang mit hereditärer Belastung oder auch für 
sich allein kann aber auch durch Störung der inneren Sekretion der Geschlechts¬ 
drüsen während der Pubertät die Erregbarkeit des Gehirns so beeinflußt werdet 
daß epileptische Krämpfe auftreten. Besonders soll die Menstruation eine Selbst¬ 
vergiftung des Körpers darstellen und deshalb häufig den ersten epileptischer 
Anfall auslösen. 

Davenport und Weeks (59) haben Stammtafeln von Epileptikerfamiher 
studiert und finden, daß Epilepsie und Schwachsinn auf eine Entwicklungsstönm: 
des Nervensystems beruhen. Eine andere, wenn auch nicht so hochgradige Störuic 
der Keimzellen liege anderen nervösen Zuständen, wie Migräne, Chorea zugrund«’. 
Die erste Form der Entwicklungsstörung wird als Defektbildung (defektive), 
zweite als Entartung (tainted) bezeichnet. Es lassen sich eine Reihe von gesetz¬ 
mäßigen Beziehungen nachweisen bei Verbindung der Defektindividuen mit Ent¬ 
arteten. Umgekehrt weist das Auftreten epileptischer Kinder bei gesunden Elterr 
immer auf eine Keimschädigung in deren Assendenz hin und kann oft noch un 
der nächsten Verwandtschaft ermittelt werden. 

Steiner (250) hat die Untersuchungen Redliche über die Häufigkeit der Links¬ 
händigkeit bei Epileptikern nachgeprüft und erweitert. Er kann nicht der Ab¬ 
fassung Redliche zustimmen, daß es sich dabei um die Folgen einer leichton rechts¬ 
seitigen Hemiparese handelt. Er hat bei seinen Untersuchungen gefunden, d&£ 
noch häufiger als bei Epileptikern selbst in ihren Familien Linkshändigkeit ver¬ 
kommt. Die Tatsache erklärt sich so, daß bei der genuinen Epilepsie eine mangel¬ 
hafte Überordnung bestimmter Teile des rechten oder link en Hirns über das übrig« 


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Weber, Neurosen and Schilddrüsenerkrankungen. 


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Ciehira vorzuliegen scheint. Es besteht in den Epileptikerfamilien die Tendenz 
zur Vererbung von Linkshändigkeit; ist der Epileptiker selbst rechtshändig, so 
bedeutet dies einen Widerstreit zwischen Vererbungstendenz und angeborener 
Anlage des Individuums, die ihren Ausdruck findet in der Entwicklung motorischer 
Störungen vom Charakter der Epilepsie. Die Diagnose Epilepsie will Steiner dem* 
nach erst dann als gesichert betrachten, wenn in der nächsten Familie des Kranken 
oder beim Kranken selbst Linkshändigkeit vorkommt. 

Brate (38) kommt in einer ausführlichen Abhandlung auf die Fälle von 
Affektepilepsie zurück. Er bringt Material dafür bei, daß hier ein eigenes von der 
echten Epilepsie abzutrennendes klinisches Krankheitsbild vorliegt, das auf dem 
Boden degenerativer Anlage verschiedener Art entsteht und sich in Auftreten 
vereinzelter epileptischer Anfälle äußert, ohne daß es zu dauernden epileptischen 
Veränderungen kommt; die Anfälle bedürfen zu ihrem Auftreten eines äußeren 
Momentes: seelische Erregungen, Infektion, Intoxikation; sie können wieder völlig 
verschwinden. Die Anschauungen von Brate werden durch VoUanda (269) Unter¬ 
suchungen bestätigt. Voüand beschreibt eine Anzahl hierher gehöriger Fälle, 
betont vor allem auch das Auftreten vasoneurotischer Symptome als ein beson¬ 
deres Zeichen der erblichen Belastung und zeigt, wie Anfälle hier stets im An¬ 
schluß an seelische Erregungen auftreten. 

Souteo jr. (248) beschreibt als eine besondere Form der Alkoholepilepsie 
eine Erkrankung, die sich bei chronischen Alkoholikern zwischen dem 40. und 
K). Lebensjahr einstellt, in typischen epileptischen Anlällen sich äußert, die nach 
Abstinenz nicht verschwinden, und allmählich zu einer dauernden Demenz führt. 
Er stellt diese konstitutionelle Alkoholepilepsie der passageren Form gegenüber, 
die ebenfalls auf dem Boden des chronischen Alkoholismus entsteht, bei der aber 
die Anfälle unter dem Einfluß der Abstinenz wieder verschwinden; das ist bekannt¬ 
lich die Form, die Brate als Alkoholepilepsie beschreibt. Ob nun die geschilderte 
konstitutionelle Alkoholepilepsie eine eigene klinische Gruppe darstellt, geht auch 
aus den mitgeteilten Krankheitsfällen noch nicht einwandsfrei hervor. In einem 
Fall ergab die Sektion eine nur leichte Arteriosklerose, Gliawucherung und braune 
Pigmentierung der Rindenzellen. Ich möchte aber doch vermuten — nach ähnlichen 
Fällen meiner Beobachtung —, daß es sich hier um organische Hirnerkrankungen 
auf alkoholischer Basis handelt. 

Schröder (241) berichtet über elf Fälle von Dipsomanie; darunter war keiner 
mit genuiner Epilepsie. Bei einem war Epilepsie in der Familie vorgekommen, 
ein anderer litt an Hemikranic, drei waren Degenerierte, einer mit epileptoiden 
Zügen, drei waren Spätepileptiker, darunter einer nach Schädeltrauma, einer mit 
Diabetes. In der Diskussion dieses Vortrags betont Bonhöffer, daß die periodische 
Trunksucht mit echter Epilepsie wenig zu tun hat. Wenn man sie eine zeitlang 
zur Epilepsie gerechnet hat, so kommt das davon, daß man die periodischen Zu¬ 
stände, die bei allen Degenerierten in Form von Verstimmungsattaken, epilep¬ 
toiden Krämpfen usw. Vorkommen, übersah. 

Alexander (4a) beschreibt als Reflexepilepsie die Erkrankung eines 32jähr. 
Mannes, der seit einem Jahr echtepileptische Anfälle mit einer von einer Finger- 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


narbe ausgehenden sensiblen Aura und von halbseitigem Charakter bat: aafkrc-r 
gehen die Anfälle mit Bewußtseinsverlust und Urinabgang einher und es hs 
im Laufe eines Jahres eine „epileptische Veränderung“ der Psyche einsts-, 
Hysterie ist ausgeschlossen. 

Berger (22a) teilt den Fall eines bis dahin gesunden 22jährigen Mensu-■ 
mit, der beim Beginn einer gutartig verlaufenden Appendizitis zum erstreik 
bei großer Hitze und starker körperlicher Anstrengung echt epileptische At!l 
bekam, die auch nach der gut gelungenen Appendixoperation noch öfter aufm - -:. 
Der genaue Nervenstatus weist einige hysterische Symptome (Fehlen des Ganan 
reflexes, Zonenanalgesie) auf; aber die Anfälle waren von Pupillenstarre begfc ' 
Auf ähnliche Beobachtungen Bemdts wird hingewiesen. 

Gallus (90) gibt eine kritische Betrachtung der exogenen lind endocw 
Momente, welche Anfallshäufungen hervorrufen können. Aus dem Vergleiche-: 
Anfallsstatistik eines größeren Krankenmaterials mit den Kurven der roco - 
logischen Station ließ sich kein gesetzmäßiger Zusammenhang zwischen AnfiL- 
häufungen und meteorologischen Vorgängen (Besonnung und Bewölkung, Mi. 
phasen, erdmagnetische Schwankungen, Luftdruckschwankungen) nach*?;*:. 
Etwas mehr .Einfluß muß individuellen physiologischen Vorgängen 1 
nährung, Menstruation, Schlaf, Ruhe und Beschäftigung) zugcbilligt w>ro-: 
ohne daß auch hier absolut gütige Zusammenhänge zu ermitteln sind. 

Bcnon (20) beschreibt als atypische epileptische Anfälle solche bei «t-: 
19jähr. Mädchen; die Anfälle setzen plötzlich ein, beginnen gelegentlich mit em-* 
Aufschrei und sinnlosem Weglaufen, dann kommen tonische, nie klonische Krimi* 
absolute Starrheit, kein Zungenbiß, kein Urinabgang, und nach fast einst ünct: 
Dauer terminaler Schlaf; darnach totale Amnesie. Das ganze Bild des Anti - 
erinnert an Hysterie; trotzdem hält es Verf. für einen echten epileptischen. •< : 
gewöhnlichen Typus abweichenden Anfall. 

Laquer (166) sah bei einem 64jähr. arteriosklerotischen Manne im Ansrii. 
an Asphyxie durch Steckenbleiben eines Fleischbrockens im Schlund allgen*-' 
Krämpfe von echt epileptischem Charakter auftreten. Er sieht die Beduin - - 
dieser Beobachtung darin, daß sie die alte Streitfrage entscheiden kann, ob 
Krämpfe nach Strangulationsversuchen durch Kehlkopfverschluß, KarotisLr 
pression oder Vagusreizung zustande kommen. Nach der Beobachtung Latp- r ' 
genügt Kehlkopfverschluß allein. 

Dseninsky (66a) sammelte aus der Literatur 18 Fälle der Koshetmikoustk-: 
Epüepsia continua, denen er zwei eigene Beobachtungen hinzufügen konnte. i r 
der Schüderung der Symptomatologie dieser Erkrankung beschäftigt sich 
Verf. vor allem mit der Lokalisation und dem Charakter der andauernd w- 
handenen Krämpfe. Es handelt sich um schnelle Zuckungen, deren lokomotoriscb' 
Effekt nur sehr gering ist. Die Intensität ist bei verschiedenen Patienten, 
auch bei demselben Kranken zu verschiedenen Zeiten verschieden. Die Lok», 
sation ist verschieden und meist ziemlich ausgedehnt. Die eigentlichen epüeptisel*' 
Anfälle tragen einen kortikalen Charakter. Sie setzen stets in den Stellen ein. 
denen die ständigen Krämpfe lokalisiert sind. Sie hinterlassen oft transitorisd* 


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Weber, Neurosen und Schilddrüsenerkrankungen. 


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Paresen in den beteiligten Körperteilen. Es werden aber auch dauernde, von 
diesen Anfällen unabhängige Lähmungen sehr häufig beobachtet. 

Aus der Analyse des Verlaufs und der pathologischen Anatomie der eigenen 
sowie der der Literatur entnommenen Fälle kommt D. zu dem Schlüsse, dafi es 
sich bei dem Koshetmikotoschen Symptomenkomplex nicht um eine Krankheit 
sui generis, sondern um eine chronische Encephalitis oder Meningo-encephalitis 
mit bestimmter Lokalisation handelt. (Fleischmann-Kiew.) 

Bumke (42) beschreibt Intentionskrämpfe, die auftreten, wenn bestimmte 
Bewegungen oder Muskelkontraktionen mehrmals nacheinander oder besonders 
kraftvoll ausgeführt werden. Ihr familiäres Auftreten, obwohl die myotone Reak¬ 
tion dabei fehlt, rechtfertigt es, die Fälle als eine besondere Abart der Thomsen- 
schen Krankheit zu bezeichnen. 

Allere (4b) bespricht die über die postepileptische Albuminurie aufgestellten 
Theorien, die er alle für nicht einw’andsfrei hält. Auf Grund der Untersuchungen 
von M. H. Fischer über die Quellung von lebenden tierischen Geweben in Säuren, 
die durch Veränderung der Kolloide bedingt ist, erklärt sich auch die NephTitis 
und Stauungsalbuminurie als eine durch Acidose hervorgerufene. Ganz ähnlich 
erklärt Alters die Albuminurie nach dem epileptischen Anfall. Die Acidität des 
Harns ist nach dem epileptischen Anfall gesteigert und zw'ar hauptsächlich durch 
Ausscheidung von Phosphorsäure und Milchsäure. Demnach ist die postparoxys¬ 
male Albuminurie eine Folge der Säurequellung der Nieren, die ihrerseits durch 
die postepileptische Acidose bedingt wird. 

M. Meyer (192a) hat die früher von Krainski und Cent unternommenen Ver¬ 
suche über die Toxizität der Körpersäfte der Epileptiker wieder aufgenommen. 
Aseptisch entnommenes Blutserum von Epiletikern vor, während und zwischen den 
Anfällen wurde Meerschweinchen intraperitoneal eingespritzt. Dabei ergaben sich 
typische mit tonisch-klonischen Krämpfen sämtlicher Extremitäten einher¬ 
gehende Anfälle, wobei die Tiere meist in Seitenlage waren, während Kontroll- 
tiere, die mit Serutu anderer Neurosen und Psychosen gespritzt wurden, ganz 
gesund blieben oder nur vereinzelte Zuckungen aufwiesen. Auch das Serum 
genuiner Epileptiker und anderer Epilepsieformen zeigte bemerkenswerte 
qualitative Unterschiede in der Wirkung. Die krampferzeugende Wirkung ist 
an das Serum, nicht an die Blutkörperchen gebunden. 

Gamett (91) suchte auf den Weg der Komplementablenkung toxische Eigen¬ 
schaften des Blutserums und des Urins der Epileptiker aufzudecken. Das Serum 
der Epileptiker enthält einen spezifischen Antikörper für das im Urin von Epi¬ 
leptikern enthaltene Toxin; ein solcher ist im Serum nicht epileptischer Personen 
nicht enthalten. Im Urin einzelner nicht epileptischer Menschen und im Urin 
Geisteskranker findet sich eine toxische Substanz, die im Urin von Epileptikern 
eine schwächere Komplementablenkung hervorrufen kann. Gametl gibt aber selbst 
an, daß seine Resultate nur einen Vergleichswert haben und noch keine Bedeutung 
für den diagnostischen Nachweis der Epilepsie beanspruchen. 

Damatje (68) bespricht seinen ätiologischen Standpunkt in der Epilepsie- 
frage dahin, dafi er eine pathologische Konvulsibilität der Rindenzellen an- 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


nimmt, die angeboren oder durch eine Hirnerkrankung erworben sein kann (apt - 
tude convulsive). Ist diese Konvulsibilität sehr ausgesprochen, so genagt ri? 
um ohne äußere Ursache die Epilepsie zu zeitigen; in geringerem Grade bleibt s* 
latent und wird eines Tages manifest unter dem Einfluß von toxischen oder er- 
zündlichen Schädigungen. Symtomatologisch unterscheidet Damaye drei Sud:?: 
im Verlauf der Epilepsie: Die Phase der attakenweise auftretenden Anfäfle bl* 
vorübergehenden Dämmerzuständen, die Phase des dauernden chronischen Dämoff- 
zustandes, der aber noch keine Demenz ist, und die demente Phase. Auch die sein: 
dären histologischen Veränderungen im Großhirn sind verschieden bei der zwen« 
und dritten Phase. 

Benon (21) beschreibt als postparoxysmale „Astheno-Manie“ einen Zu¬ 
stand, der nach dem epileptischen Anfall einsetzt, mit einem Gefühl der körper¬ 
lichen und geistigen Schwäche, Müdigkeit und Leistungsunfähigkeit beginnt urt 
allmählich übergeht in eine manische Erregung mit gehobener Stimmung, Vor- 
Stellungsbeschleunigung, Bededrang und Bewegungsdrang; auch dieser Zusta^; 
klingt allmählich, oft durch einen Schlaf vermittelt, ab und es tritt der früher» 
Geisteszustand wieder ein. Verwirrtheit braucht dabei nicht zu sein; die Erinnemr 
an den Zustand kann erhalten bleiben. 

Ermakow (73) beschreibt als Oligophasie einen nach epileptischen Anfälle 
auftretenden Zustand, in welchem der Kranke spricht, als ob er eine fremde vor¬ 
läufige Sprache spräche. Er findet für die einzelnen Gegenstände, die ihm im übrke: 
geläufig und bekannt sind, keine Bezeichnung, kann den Ausdruck aber umschreibt 
Gelegentlich ist dabei die Fähigkeit, die Bezeichnung schriftlich wiederaxgeb« 
erhalten; in anderen Fällen ist sie auch gestört. E. hält dies Symptom nicht fc 
absolut spezifisch, aber für sehr häufig bei der Epilepsie vorkommend. 

Maeder (174) schildert einen forensisch interessanten Fall eines Arbeite 
der triebartig wiederholt schwarzen großen Frauen auf der Straße die Klexk 
mit einem Schokoladebrei übergoß und dabei eine gewisse, vielleicht sexuelle £<- 
friedigung empfand. Die Beobachtung ergab einige Anfälle ziemlich einwandsfr- 
epileptischer Natur. Nach den Angaben des Pat. befand er sich auch zurzeit de 
Tat in einem traumhaften Bewußtseinszustand, obwohl die Erinnerung an Enud- 
heiten ungestört war. Verf. versucht weiter, den Inhalt der Triebhandlung »i 
einige sexuell gefärbte Komplexe im Vorleben des Pat. zurückzu führen und sek 
in dem Ergebnis des Assoziationsexperiments die Bestätigung dieser Anschauung. 

H. Fischer (81), der Breslauer Chirurg, versucht wieder einmal zu erweiset, 
daß der Apostel Paulus an Epilepsie gelitten habe. Dabei erfahren wir, daß nebc 
anderen weltgeschichtlichen Größen nun auch Helmholz unter die Epileptiker 
gezählt wird. Und ferner verlangt Fischer , daß wir außer an Epilepsie des Apostel; 
auch daran glauben sollen, daß das Ereignis von Damaskus nun doch kein epilep¬ 
tisches Äquivalent war, sondern nach wie vor als eine direkte göttliche Einwirkung 
aufgefaßt werden müsse. 

Collins (63) berichtet über 10 plötzliche Todesfälle im Verlauf von epi¬ 
leptischen Anfällen. Bei zwei davon fanden sich Nahrungspartikel in den Luft¬ 
wegen, einer kam durch Erstickung im Anfall während der Nacht zustande, in 


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Weber, Neurosen und Schilddrüsenerkrankungen. 


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inem Fall wurden Klappenfehler, in zwei Fällen adhäsive Perikarditis, in drei 
'allen fortgeschrittene fettige Degeneration des Herzens, in einem Fall ein Him- 
umor gefunden. 

Auch Schubert (242) kommt in einer Dissertation aus der Würzburger Klinik 
.uf Grund der Statistik der dortigen Epileptikerpfründe zu dem Resultat, daß 
ler direkte epileptische Tod, d. h. der durch die Epilepsie als Himerkrankung 
»edingte Tod, selten ist, daß vielmehr die Epileptiker häufig sehr langlebig sind. 

Marchand (178) kommt zu ähnlichen Resultaten bezüglich der in der Lite- 
-atur beschriebenen epileptischen Todesfälle und berichtet über zwei eigene Beob¬ 
achtungen von Epileptikern, die nach wenigen Anfällen starben. Es fand sich 
keine weitere Todesursache als starke kongestive Hyperämie der weichen Hirn¬ 
häute und der Hirnsubstanz und in dem einen Fall stärkere Füllung der Gefäße 
im verlängerten Mark unter dem 4. Ventrikel und Blutungen aus diesen Gefäßen 
in der Gegend der Vaguskerne. 

Zappert (289a) bringt eine zahlreiche und interessante Kasuistik, ans der 
hervorgeht, daß die kindliche Epilepsie in ihrer Prognose doch nicht so ungünstig 
ist, als man gemeinhin a nnimm t. Es gibt doch eine ganze Reihe von Fällen, auch 
solche mit den immer für ungünstig gehaltenen Absenzen, bei denen teils spontan, 
teils nach verschiedenartiger Behandlung wesentliche Besserung oder Heilung 
auftritt. Freilich betont auch Z., daß man bei epileptischen Erscheinungen im 
Kindesalter die Diagnose Epilepsie immer nur mit Vorsicht stellen darf, weil sich 
darunter die verschiedenartigsten organischen und funktionellen Erkrankungen 
verbergen, wie auch aus seiner Kasuistik hervorgeht. 

Collins (53) gibt einen Überblick über therapeutische Erfolge. Für ihn 
ist das beste Mittel die koloniale Behandlung der Epileptiker mit möglichst langem 
Aufenthalt in der Luft, eine fleischarme (nicht fleischlose) Diät. Brompräparate 
will er nur bei Häufung von Anfällen angewendet wissen und glaubt, daß ein Teil 
der epileptischen Demenz durch Brom herbeigeführt sei. In einigen Fällen Bei 
durch Brom die Aura vor den Anfällen verschwunden, so daß das Zusammen¬ 
stürzen unvermutet und zum Schaden der Kranken erfolgt sei. Von Digitalis will 
er in einigen Fällen gute Erfolge gesehen haben, gibt aber keine bestimmte Indi¬ 
kation an. 

Ingerlans (126) beschreibt zur Geschichte der Epilepsietherapie die ander¬ 
weitig schon bekannte Tatsache, daß Locock die Brompräparate in die Behandlung 
einführte und erzählt die Vorgeschichte dieser Entdeckung. Veranlassung gab 
dazu eine deutsche Arbeit von Otto Graf, der die lähmende Wirkung des Broms 
auf den Geschlechtstrieb beschrieb. Locock , von Haus aus Gynäkologe, wollte 
damit Epilepsien beeinflussen, die er auf sexuelle Erregung zurückführte. 

Joedicke (128) hat die von namentlich außerdeutschen Autoren mit Borax 
gemachten Behandlungsversuche bei Epileptikern nachgeprüft. Die günstigen 
Erfolge, über die namentlich dänische Ärzte ( Oerum ) berichten, hat er nicht ge¬ 
sehen. Er gab bei 14 Epileptikern Natr. bibor. in Dosen steigend von 0,9 bis 2,0 g 
nach den Mahlzeiten. Nur in zwei Fällen wurde eine wesentliche Besserung in 
bezog aof Abnahme der Anfälle und auf Hebung des Allgemeinbefindens gesehen. 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


Bei zwei Pat. traten urtikariaartige Exantheme und Haarausfall auf, bei der w_v 
noch kompliziert durch ödem der Beine, Dyspnoe, Herzstörungen und Eisr^ 
Bei den meisten Pat. nahm das Körpergewicht ab. 

Joedicke (129) bekämpft die Anschauung, daß Bromkali Nachteile zw- 
über dem Bromnatrium habe. Er bevorzugt es sogar mit der Begründung. L. 
man durch Bromkali eine schnellere Entchlorung des Körpers erreiche als dar: 
Bromnatrium, weil bei Einverleibung von Bromkali im Körper Chlorkaliun 
bildet würde, das rasch ausgeschieden wird. Bei Dosen von unter lö g Bromla 
wird keine Herzschädigung beobachtet. 

Froehlich (88) bespricht die in der ambulanten Praxis anwendbaren b- 
handlungsmethoden der Epilepsie. Er rät zu fleischarmer und kochsahanL' 
Diät und empfiehlt als Ersatz für die Bromalkalien Sabromino Dosen von 3 1 
4 g. Er hebt besonders hervor, daß damit Bromakne vermieden wird und *ix. 
überhaupt keine unangenehmen Nebenerscheinungen auftreten. 

M. Lion (166) empfiehlt eine von ihm dargestellte Kombination von Natmi 
cacodylicum und Cerebrin Poehl, das subkutan gegeben wird. Damit sollen seh¬ 
nlich einigen Monaten weitgehende Erfolge zu erzielen sein. 

Fackenheim (78) hat auf Empfehlung amerikanischer Ärzte das Gift c 
Klapperschlange — Krotalin — in der Epilepsiebehandlung versucht, wie er ai- 
führt, auf die Beobachtung gestützt, daß das Schlangengift in seinen beiden ei*r:;- 
artigen Substanzen lähmend auf das Nervensystem und gerinnungshemmend ». 
das Blut wirke. Ein Zusammenhang mit der Pathogenese der Epilepsie ist dtru< 
allerdings nicht ohne weiteres zu erkennen. Trotzdem will er damit gute Erf«L 
gesehen haben, namentlich bei frischen Fällen von Epilepsie. Das Gift wird ■ 
kleinen Dosen subkutan eingespritzt und macht zunächst eine sehr starke k>L.- 
Reaktion, die bei steigender Dosis geringer wird. Das Allgemeinbefinden wird ca - 
nicht beeinträchtigt. 

Heinrich (112) empfiehlt die Kombination von Baldrianinfus und Brom v 
hat zu diesem Zweck unter dem Namen Spasmosan ein Präparat hergestellt, d- 
in kalt bereitetem Baldrianinfus Bromnatrium, Glyzerinphosphorsäure, CastA'» 
Sagrada und etwas Eisen enthält. Die Kombination verschiedener Nervin* > 
intensiver wirken und die Anwendung höherer schädlicher Dosen des eiazeb": 
Mittels unnötig machen. 

Müller (200) und Rieger (223) teilen Vergiftungsversuche mit Bromural n ’ 
die nur zu tiefem über 24 Stunden dauernden Schlaf ohne besondere schv-r- 
Nebenwirkungen führten. 

French (83) gibt eine zusammenfassende Darstellung der Therapie, die 
erster Linie eine kausale sein soll, sowohl in bezug auf die prädisponierenden, i- 
die auslösenden Ursachen. Von den Brompräparaten will er nicht viel wissrf 
empfiehlt aber besonders einige Drogen: Verbena (Eisenkraut) und Solanuc 
(Nachtschatten), die teils tonisierend, teils antispasmodisch wirken sollen. Aut 
bei Besserungen müssen die Medikamente durch das ganze Leben fortgep-b 
werden. Bei den diätetischen Maßregeln tritt er für fleischarme, aber nicht tc 
absolut vegetarische Kost ein. 


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Weber, Neurosen und Schilddrüsenerkrankungen. 


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In einem Bach von über 300 Seiten beschreibt Rosenberg (228) seine Epi- 
psiebehandlung, die hauptsächlich in der Anwendung des Epileptol besteht, 
as Buch tritt aber mit dem Anspruch auf, eine neue individuelle Behandlungs¬ 
iet hode zu inaugurieren, die sich auf angeblich neue Tatsachen der Pathogenese 
ützt. Die letzteren bestehen in der Aufdeckung der „epileptisch-molekularen 
der molekular-physikalischen“ Veränderungen des Gehirns, ganz unklar und 
bsolut oberflächlich aufgefaßten Beziehungen zwischen Blutdruck und Hirn- 
orgängen und falschen Anschauungen über den Stoffwechsel. Inhalt und Stil 
es Buches, das in jedem Kapitel unbewiesene Vorwürfe gegen die „schematische 
Behandlung der Schulmedizin“ bringt, sind, gelinde gesagt, marktschreierisch, 
uf die Wirkung auf ein Laienpublikum berechnet und deshalb auch am Schlüsse 
lit einem Lexikon der vom Verf. gebrauchten Fachausdrücke versehen. Der 
ible Eindruck des Buches wird verstärkt durch einige im Rcklameton gehaltene 
tezensionen, die dem Rezensionsexemplar beigegeben sind. Nicht wegen der 
»onderstellung des Verf., sondern wegen der in ihm zutage tretenden ärztlichen 
md wissenschaftlichen Ethik ist das Buch eine betrübliche Erscheinung. 

Joedicke (128) hat Versuche mit einem unter dem Namen Zebromal in den 
Iandel gebrachten Präparat, das ein Dibrom ziramtsäureäthylester ist, Heil¬ 
te r suche bei Epileptikern gemacht. Es enthält 48% Brom und soll nicht die schäd- 
ichen Nebenwirkungen der anorganischen Bromsalze haben. Bei leichteren Fällen 
wurde Besserung mit 2—3 g pro Tag erzielt, bei schwereren mit 4—7 g, bei ganz 
schweren Fällen mit häufig auftretenden Paroxysmen und psychischen Verände- 
'ungen konnte das Präparat die Bromalkalien nicht ersetzen. 

Joedicke (127) hat die Theorien v. d. Wyß und v. d. Velden über das Ver¬ 
hältnis zwischen Chlor und Bromsalzen in sehr interessanten Versuchen nach¬ 
geprüft. Nach der Annahme dieser Forscher sollte die antiepileptische Wirkung 
des Bromsalzes nur darauf beruhen, daß es das krampferzeugende Chlornatrium 
rasch aus dem Körper eliminiere; demgemäß wirke auch die kochsalzarme Diät 
ausschließlich durch die Kochsalzentziehung antispasmodisch. Joedicke hat seine 
Versuche bei 10 Epileptikern sehr sorgfältig angestellt, indem er sie erst eine vier¬ 
wöchentliche Bromkarenzzeit durchmachen ließ, bis von der früher gegebenen 
Brommedikation nichts mehr nachzuweisen war. Dann setzte er vier Wochen lang 
eine kochsalzarme Nahrung ein, die bei gemischter Kost etwa 0,8—1,5 g Koch¬ 
salz in den Körper brachte; dann gab er einige Zeit Nahrung von gewöhnlichem 
Kochsalzgehalt und schließlich vier Wochen lang Nahrung mit 30—40 g Koch¬ 
salz täglich. Das Ergebnis dieser Versuche widersprach den theoretischen An¬ 
schauungen: Die kochsalzarme Nahrung führte zu schweren physischen und 
psychischen Störungen: Gewichtsabnahme, delirante und stuporöse Zustände, 
ohne Abnahme der epileptischen Anfälle. Eine Bromakne heilte bei der kochsalz¬ 
armen Diät. Die Übersättigung des Organismus mit Kochsalz wurde viel besser 
vertragen. Daraus muß man schließen, daß bei den Epileptikern nicht das Defizit 
von Chlorionen, sondern eine spezifische Bromionenwirkung die therapeutischen 
und toxischen Veränderungen herbeiführt. 

Leuxmdowsky (165) hat bei einem Fall von traumatischer Epilepsie, bei dem 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


Jaksonsche und echt epileptische Anfälle auftraten, an der entsprechenden St* 
trepanieren lassen. Es wurde zwar ein ziemlich hoher Himdruck, aber kein kk*' 
Herd gefunden. Trotzdem war die Fat. nach der Trepanation geheilt. 

Unter der Überschrift „Die psychische Behandlung der Epilepsie“ ' 
Steckei (262) drei Fälle mit, in denen es sich gar nicht um Epilepsie, sondern es 
P sychopathen mit Zwangszuständen, hysterischen Symptomen und emzriz=- 
Bewußtseinsstörungen handelt. Auch aus seinen einleitenden Bemerkungen ä. 
hervor, daß er gar keinen wesentlichen Unterschied macht zwischen echter Epi¬ 
lepsie und solchen Zuständen, sondern die letzteren als Hysteroepilepsie, ah 
Unterabteilung der Epilepsie auffaßt. Bei solchen Fällen soll die Psyehoacai~» 
Heilung erzielen. Hier handelt es sich aber gar nicht um wirkliche Epikp* 
sondern nur um falsche Diagnosen, indem andere psychopathische Zustände .v 
Epilepsie gehalten wurden. Das weiß man schon längst, daß solche Psychopath 
suggestiv, also gelegentlich auch durch die Psychoanalyse geheilt werden körc- . 
Dann darf man aber nicht von Heilung der Epilepsie reden. 

Maier und Oberholzer (176) geben eine zusammenfassende Darstellung dr¬ 
in Nordamerika erlassenen Gesetze bezüglich Kastration und Sterilisation kns- 
neller und psychopathischer Individuen und der in der Schweiz in dieser Huts#-*' 
gemachten Erfahrungen. Darunter werden auch einige Epileptiker erwähn!. 

B. Chorea und andere motorische Neurosea 

Guizzetti und Camisa (106) haben fünf Fälle von Chorea, darunter zwei er 
tödlichem Ausgang, auch mikroskopisch untersucht und kommen zu dem Bessin: 
daß es sich dabei um eine disseminierte Enzephalitis handelt mit Beteiligung «•* 
Pia, verbunden mit ischaemischen Herden in der Himsubstanz, die durch Emb^ 
sierung kleinster Arterien hervorgerufen werden. Die Lymphscheideninfikr:'' 
und die Vermehrung der perivaskulären Glia, die von den Verf. gefunden Ent¬ 
halten sie selbst nicht für einen spezifischen Befund der Chorea. An den Gan 6 b<':- 
zellen sind geringfügige Veränderungen festzustellen. . j 

Pighini und Älzina (213) untersuchten den Stoffwechsel in einem Fall e ■: 
chronischer Chorea. Sie fanden vor allem den Stickstoffwechsel verändert, V«- 
minderung des Harnstickstoffs und Vermehrung des ammoniakalischen St:«- 
Stoffs bei ausgiebiger Muskelarbeit. Es muß daraus auf eine Vermehrung e* 
Kreatinins und des Ammoniaks während der Muskeltätigkeit geschlossen verc-i 
und die Verf. führen diese Veränderungen auf die geänderten Tonusverhätau*- 
der Muskulatur zurück. 

Marchand und Petit (180) teilen zwei Fälle von Syderihamscher Chorea nrt 
psychischen Störungen mit. Im ersten Fall trat die Psychose akut im Verla: 
der Chorea auf und ging mit dieser in Heilung über. Im zweiten Fall folgte d*: 
akut ersetzenden Chorea eine chronische Psychose vom Charakter der Dementa 
praecox. Die Verf. fassen alle diese und ähnliche psychische Störungen bei de 
Chorea auf als den Ausdruck des zugrunde liegenden Himprozesses, der Enzepha¬ 
litis, die je nach Intensität, Verlaufsform und Lokalisation akute oder chronisch*- 
motorische oder psychische Störungen machen kann; sie meinen, daß die akute 


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Weber, Neurosen und Scbilddrüsenerkrankungen. 


221* 


Enzephalitis der Sydenhamschen Chorea übergehen kann in einen Zustand chro¬ 
nischer Sklerose der Rinde, der das klinische Bild der Dementia praecox erzeugt. 
Auch die psychischen Störungen und Intelligenzdefekte der Huntingionschen Chorea 
sind nur quantitativ verschiedene, aber pathogenetisch gleiche Bilder auf der Grund¬ 
lage der Himerkrankung. Auf einen ähnlichen Standpunkt steht Mapother (177), 
der auch auf die allen Choreaformen eigenen organischen Veränderungen hinweist 
und sie für die Grundlagen der gelegentlich auftretenden psychischen Symptome 
hält. Auch die senile Chorea wird von diesen Gesichtspunkt aus aufgefaßt. Un¬ 
abhängig davon ist die hysterische Chorea, von der Verf. zwei Typen, die ryth¬ 
mische und arythmische, beschreibt. 

Ph. JoUy (131) teilt zwei Fälle von Psychosen bei akuter Chorea, die eine 
mit tödlichem Ausgang, mit und gibt eine Darstellung der Ätiologie und Klinik 
der Erkrankung. Er kann sich nicht zu der Auffassung einer einheitlichen infek¬ 
tiösen Ätiologie der Chorea bekennen; neben angeborener oder erworbener indi¬ 
vidueller Disposition kommen Infektionskrankheiten, psychische Einflüsse und 
Generationswechsel in Frage; ihre Wirkungsweise ist aber noch nicht klargestellt. 
Auch die psychischen Bilder sind nicht einheitlich und für die choreatische Grund¬ 
erkrankung nicht spezifisch. 

Schuppius (243a) hat zwei Fälle von chronischer Chorea mit den gebräuch¬ 
lichen Intelligenzprüfungsmethoden untersucht. Er fand erhebliche Störungen der 
Aufmerksamkeit, ausgesprochenen Defekt des Gedächtnisses und der Merkfähigkeit, 
daneben aber und über den durch diese Störungen bedingten Umfang hinaus¬ 
gehend auch eine Einschränkung der ganzen intellektuellen Leistungsfähigkeit, 
insbesondere auf dem Gebiet der Urteilsbildung. Es handelt sich also um eine 
wirkliche Verblödung. 

Aus der Kieler Klinik werden in Dissertationen Fälle von chronischer Chorea 
beschrieben. 

Ermen (73) schildert die Erkrankung bei Vater und Tochter, vielleicht 
bedingt durch chronischen Alkoholismus in der Ascendenz. In dem Fall von Heü 
(111) ließ sich eine neuropathische Disposition der Eltern, bei dem Pat. selbst 
(rehimhautentzündung in der Jugend feststellen; die Erkrankung kam im 26. Lebens¬ 
jahr im Anschluß an psychische Erregung zum Ausbruch und verlief typisch. 

Schilder (238) hat bei einem 4jähr. hemiplegischen Kind eine genaue Ana¬ 
lyse der in der gelähmten Extremität auftretenden athetotischen Bewegungen 
vorgenommen, indem er Kurven der einzelnen Muskelkontraktionen schreiben 
ließ. Das Kind starb später und es fand sich ein Herd in der Gegend der basalen 
Ganglien und einer am Oberwurm des Kleinhirns. Die Analyse der Kurven ergab, 
daß die scheinbar rythmischen Bewegungen in Wirklichkeit nicht gleichmäßig 
sind, daß die Kontraktionen in allen Muskelgruppen gleichzeitig sind und daß 
zwischen den einzelnen Kontraktionen keine selbständigen Spannungsänderungen 
der Muskeln Vorkommen. Verf. schildert dann die Unterschiede zwischen chorea¬ 
tischen und athetotischen Bewegungen: bei der Chorea rasche Zuckungen in 
wenig variierter Kombination, Hypotonie. Bei der Athetose: langsame Bewe¬ 
gungen, fließende Übergänge aus einer abnormen Stellung in die andere; Spas- 

Zeitschrift ftir Psychiatrie. LIIX. Lit. q 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


mus mobilis. Aber beide Störungen sind nur motorische Symptomenkomplexe, 
deren einzelne Elemente in jeder Kombination Vorkommen können. Es ist wichtig, 
den Mechanismus der einzelnen Elementarstörung zu erforschen. Beide Bewe¬ 
gungsstörungen sind Rei7symptome, die choreatischen wahrscheinlich der sub¬ 
kortikalen motorischen Zentren, die athetotischen wahrscheinlich bedingt durch 
Reizung der Großhirnrinde von den subkortikalen Zentren her durch die Pyra¬ 
midenbahn oder die anderen extrapyramidalen motorischen Bahnen. Beim Zu¬ 
standekommen spielen wahrscheinlich eine Rolle Einwirkungen reizauslösender 
Herde auf ein schon anderweitig geschädigtes motorisches System mit. 

Jacobsohn (123) beschreibt bei einem 45jähr. Manne auftretende tonische 
Krampfzustände im Bein, so daß der Pat. nur auf den Fußspitzen stehen kann, 
die Achillessehne deutlich hervortritt, der Gang ein klebender, schleppender ist. 
Da organische Erkrankungen, auch Myotonie, auszuschließen ist, bezeichnet Verf. 
den Zustand als eine funktionelle Tonusneurose. 

Burrike (42) beschreibt tonische Intentionskrämpfe, die bei schnellen, ge¬ 
wollten Bewegungen, z. B. bei Übung des Paradeschrittes, auftreten. Sie sind 
familiär, aber die elektrische und mechanische Muskelerregbarkeit ist dabei unver¬ 
ändert. Aus diesem Grunde will er auch den Zustand nicht ohne weiteres der 
Myotonie zurechnen, wenn auch ein gewisser Zusammenhang nicht auszuschließen 
ist. Gegen einen hysterischen Ursprung des Leidens führt er vor allem das familiäre 
Auftreten an. 

Heilig (110) beschreibt aus der Straßburger Klinik einen Fall von Para¬ 
myoklonus multiplex, der durch selten auftretende echte epileptische Anfälle kom¬ 
pliziert ist. Im Anschluß daran wird die nosologische Stellung des Paramyo¬ 
klonus erörtert. Abzutrennen ist der bei organischen Gehimerkrankungen gelegent¬ 
lich symptomatisch auftretende Paramyoklonus. Die eigentliche Friedreichschc 
Krankheit steht in naher Beziehung zur Epilepsie oder in anderen Fällen zur 
Hysterie. Dagegen ist das Krankheitsbild von der Chorea deutlich abzugrenzen. 
Die Mechanik des Paramyoklonus ist als eine Sejunktion der höheren motorischen 
Zentren von den subkortikalen aufzufassen. 

Vottand (268) hat vier Fälle von Paramyoklonusepilepsie histologisch unter¬ 
sucht. Er fand in der Hirnrinde geringe, nicht charakteristische Zellveränderungen, 
im Rückenmark übereinstimmend, nur entsprechend der Schwere des Krank¬ 
heitsbildes verschieden, karyolitische und tigrolytische Vorgänge an den Vorderhorn¬ 
zellen, Hinausrücken des Kernes an die Peripherie oder außerhalb der Zelle, ferner 
eigentümliche Beziehungen zwischen Ganglienzellen und Kapillaren, die als Aus¬ 
druck von Abbauvorgängen zu deuten sind. Dieselben Veränderungen finden sich 
auch in den motorischen Hirnnervenkernen. Verf. glaubt, daß diese chronischen 
Abbauprozesse das Rückenmark und die Medulla oblongata in einen erhöhten 
Erregbarkeitszustand gegenüber allen ihnen zufließenden Reizen versetzen, der 
klinisch in den myoklonischen Symptomen zum Ausdruck kommt. 

Lafora und Glueck (152) haben gleichfalls einen Fall von Paramyoklonus 
klinisch und histologisch untersucht; wegen der Kombination mit häufigen epi¬ 
leptischen Anfällen bezeichnen sie das Krankheitsbild als myoklonische Epilepsie. 


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Weber, Neurosen und Schilddrüsenerkrankungen. 


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Sie fanden im ganzen Gehirn und in allen grauen Maasen, vor allem aber in der 
zweiten und dritten Rindenschicht, zahlreiche Amyloidkörperchen im Innern der 
Ganglienzellen, perivaskuläre Blutungen, Gli&vermehrungen. Die Beteschen Zellen 
and die Vorderhornzellen des Rückenmarks waren frei von diesen Amyloid- 
körperchen. Über die Entstehung dieser Befunde äußern sie keine Vermutung, 
lassen aber die Möglichkeit, daß sie doch eine ätiologische Rolle bei dem Zustande¬ 
kommen der Krankheitserscheinungen spielen, offen. Die Befunde decken sich 
gar nicht mit den oben erwähnten Vollends ’,sie haben aber doch gewisse Beziehungen 
dazu, insofern als es sich auch um Abbauvorgänge handelt. 

Mendel (192b) gibt eine umfassende Darstellung der Paralysis agitans, unter 
Berücksichtigung der gesamten Literatur und unter Mitteilung eigener Beob¬ 
achtungen. 

Willige (283a) kommt in einer kritischen Besprechung des Literaturberichts 
zu dem Resultat, daß die meisten Fälle von jugendlicher Paralysis agitans sich 
nicht als solche erweisen; nur zwölf sind einwandsfrei; der jüngste davon im 
20. Lebensjahre. Das klinische Bild gleicht dem der präsenilcn Paralysis agitans; 
differentialdiagnostisch kommt nur multiple Sklerose in Betracht. Ätiologisch 
weist das familiäre und hereditäre Auftreten darauf hin, daß diese Fälle vielleicht 
eine eigene Gruppe bilden. Uber ähnliche Fälle berichtet Bonhöfter (34). 

Tilney (262) beobachtet bei vielen Fällen von Paralysis agitans eine abnorme 
Stellung des Kopfes und der Wirbelsäule, so daß die eine Schulter gehoben, die 
andere gesenkt ist, und daß die Längsachse des Kopfes einen Winkel mit der Längs¬ 
achse des Rumpfes bildet. 

Ziehen (290) beschreibt eigenartige funktionelle Krampfzustände von toni¬ 
schem Charakter im Bereich der Extremitäten, des Kopfes und Rumpfes. Es 
können hier infolge des fast ununterbrochen bestehenden Krampfes Verkrüm¬ 
mungen, z. B. der Wirbelsäule auftreten. Vielleicht spielt in der Ätiologie here¬ 
ditäre Belastung eine Rolle. Die Differentialdiagnose gegen andere Krampf¬ 
neurosen wird erörtert. Ziehen bezeichnet die Fälle als chronische Torsionsneurose. 

C. Neurosen. 

In Form eines größeren Lehrbuches behandelt 0. Domblülh (65) das ganze 
Gebiet der sog. Psychoneurosen. Er gruppiert diese Erkrankungen dabei in die 
Neurasthenie, worunter er sowohl die endogenen, konstitutionellen Formen, als die 
erworbenen versteht, die Hysterie und die Psychasthenie, worunter er Zwangs¬ 
zustände, Abnormitäten des Trieblebens und die chronischen Vergiftungen mit 
Arznei- und Betäubungsmitteln beschreibt. Die drei Gruppen faßt er insofern 
als nur graduell voneinander verschiedene Krankheitszustände auf, da sie alle 
drei auf einer verschiedenen persönlichen Prädisposition beruhen, deren verschiedene 
Stärke unter dem Einfluß der Lebensschädigungen entweder zur Neurasthenie, 
zur Hysterie oder zur Psychasthenie führt. Alle drei Formen sind aber im wesent¬ 
lichen Störungen psychischer Natur, und zwar hauptsächlich bedingt durch Ab¬ 
normitäten des Affektlebens. Sehr gut und ausführlich ist die Therapie besprochen; 
der erfahrene Praktiker gibt eine Darstellung aller Behandlungsmethoden unter 

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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


nüchterner kritischer Beurteilung ihrer Bedeutung. Im ganzen bringt das Buch 
nichts Neues, ist aber für jeden, der das schwierige und für den Praktiker so wich¬ 
tige Gebiet kennen lernen will, ein wertvolles Lehr- und Nachschlagebuch. 

Auf die psychische Seite in der Pathogenese und den Symptomen der ge¬ 
wöhnlichen Neurosen weisen eine ganze Reihe von Arbeiten hin. So knüpft Burme- 
mann (44) an einige Vorträge des letzten Neurologentages an, um die psychische 
Seite bei der Genese der Angstzustände und der Zwangsvorgänge mehr zu betonen. 
Auch bei der Wirkung der Suggestivbehandlung müssen die Imponderabilien der 
Persönlichkeit berücksichtigt werden. Er erwartet einen Fortschritt der Nerven¬ 
heilkunde von der Heranziehung erkenntnistheoretischer Begriffe und Auffas¬ 
sungen gegenüber der jetzt noch in der Neurologie üblichen rein somatischen Be¬ 
trachtungsweise. 

Freud (84) hat die psychoanalytische Methode in populären Vorträgen, die 
er in Amerika gehalten hat, dargestellt. Er bringt darin nichts Neues, versteht 
es, geschickt und maßvoll die historische Entwicklung und die psychologischen 
Grundlagen seiner Lehre aufzuzeigen. Auch in dieser Publikation hält Freud an 
der ausschließlich sexuellen Natur der ursächlichen Momente fest und bemerkt 
nochmal, daß auch bei scheinbar anderer Ursache die weitere Aufdeckung der 
Vorgeschichte dann mindestens kindliche Sexualtrauma ergebe. 

Frank ( 83) will die im Unterbewußtsein schlummernden affektbetonten 
Komplexe analysieren und zum Verschwinden bringen, indem er, nicht, wie Freud, 
Traumanalyse treibt oder assoziieren läßt, sondern durch die Analyse der unter¬ 
bewußten Tätigkeit im Halbschlaf zustande bei erhaltener, oberbewußter Auf¬ 
merksamkeit. 

Adler (4) will an einigen Beispielen zeigen, daß überall, wo in der Psycho¬ 
analyse ein Widerstand gegen die weitere Aufklärung auftaucht, es sich um über¬ 
triebene Sicherungsmaßregeln des Pat. gegen seine Regungen handelt. Dahin 
gehört auch der männliche Protest gegen weibliche oder weiblich erscheinende 
Regungen. 

Jones (133), der eifrigste amerikanische Schüler Freuds, weist auf die Be¬ 
deutung der Traumanalyse für die Erkennung neurotischer Symptome hin, ohne 
nach irgendeiner Richtung etwas Neues zu bringen. 

Bleuler (31) unternimmt eine warme und sachliche Verteidigung der Freud- 
schen Theorien. Dabei wendet er sich zuerst gegen die Kritiker Freuds und be¬ 
merkt, daß sie vielfach ohne persönliche Kenntnis der Freudschen Anschauungen 
und seiner Methode und überhaupt der Tiefenpsychologie Vorgehen. An der Hand 
seiner Anschauungen von der Bedeutung der Affektivität erscheinen ihm die 
Freudschen Mechanismen als selbstverständlich. Manches andere bezeichnet er 
als Hypothese, die erst noch bewiesen werden müsse. Vor allem wendet sich Bleuler 
gegen die beweislose Ablehnung aller Freudschen Anschauungen. 

Reichel (221) hat das Buch Pfisters über den Grafen Zinzendorf (vgl. Lite- 
raturber. für 1910) kritisch besprochen. Er weist ihm historische Unrichtigkeiten 
und eine falsche Auffassung nach. 

Frank (83) führt das Stottern auf eine Verdrängung der Affekte im Unter- 


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bewußtsein zurück. Bei äußeren Anlässen — Komplexreizen — wird der Affekt 
wieder manifest, kann aber nicht abreagieren und wird von neuem verdrängt. 
Psychische Behandlung im hypnoiden Zustand ermöglicht das Abreagieren. 

Rank (218a) analysiert die Lohengrinsage und die von ihr inspirierte Wagner - 
sehe Dichtung und findet in ihr Zusammenhänge mit anderen ähnlichen Volks¬ 
sagen, die alle auf sexuelle Beziehungen hinweisen, insbesondere auf die Kon¬ 
flikte der Pubertätssexualität und ihre Verdrängung; namentlich soll die Bedeu¬ 
tung der Liebe zu den Eltern in ihnen ihren Ausdruck finden, ln ähnlicher Weise 
analysiert Tausig (260) die Hamlettragödie und findet den Schlüssel für den Cha¬ 
rakter des Hamlet in seiner sexuellen Liebe zu seiner Mutter, die er zu verdrängen 
versucht hat und die dann wieder wach wird. Es besteht also bei ihm auch der 
„Oedipuskomplex“. In ähnlicher Weise sucht Abraham (0) die Bedeutung der 
Liebe zur Mutter in Segantinis Leben und Werken zu analysieren. 

Das Jahrbuch für psychoanalytische Forschungen (30) enthält in seinem 
dritten Band einige Arbeiten von Freud, namentlich eine Analyse der bekannten 
Autobiographie des Paranoikers Schreber, sowie Beiträge von Jung, L. 
Binswanger, Pfister u. a., die sich aber mehr auf das Gebiet der Psychose 
beziehen. 

Das Zentralblatt für Psychoanalyse bringt zahlreiche kleinere 
Mitteilungen aus dem Freudschen Gebiete. Besonders wichtige Einzelheiten sind 
nicht darunter. Daß auch auf anderen Gebieten der Psychotherapie Auswüchse 
Vorkommen, zeigt eine Kontroverse von Maeder gegen Moll. Der letztere empfiehlt 
zur Behandlung der sexuellen Perversionen die Wiedererweckung normaler Sexual¬ 
empfindungen durch allerlei Mittel, unter denen er bei Homosexuellen entsprechende 
Lektüre, Abbildungen und Theatervorstellungen erwähnt. Mit Recht weist Maeder 
darauf hin, daß Moll, wenn er derartige Mittel empfiehlt, jedenfalls nicht berechtigt 
ist, ethische und hygienische Bedenken gegen die Psychoanalyse zu erheben. In 
der von Moll herausgegebenen Zeitschrift für Psychotherapie macht Steckei (261) 
einige interessante Bemerkungen über die Beziehungen des Namens zur Neurose 
des Trägers. Er meint, sehr häufig fühle der Träger die Verpflichtung im Sinne 
dessen, was sein Eigenname ausdrückt, zu leben und komme dadurch in Konflikte; 
auch bei Eheschließungen spiele der Name eine Rolle. 

Im ganzen bringt die Freudsche Schule nicht allzu viel Neues. Auch die Kritik 
ist ruhiger und sachlicher geworden, ohne daß die entgegengesetzten Anschau¬ 
ungen eine wesentliche Annäherung gezeigt haben. Und trotz aller Bemühungen, 
dem wertvollen Kern der Freudschen „Tiefenpsychologie“ gerecht zu werden, 
wird man von einzelnen Behauptungen und Arbeiten seiner Schüler immer wieder 
abgestoßen; dahin rechne ich namentlich die Verallgemeinerung der kindlichen 
Sexualität und gewisse, in das literar-historische Gebiet gehörige Arbeiten, wie 
die oben erwähnten, die sich von naturwissenschaftlicher und psychologischer 
Forschung doch sehr weit entfernen. 

Unter den Freudschen (86) Arbeiten besonders zu erwähnen ist eine dritte 
Auflage seiner Traumdeutung, die im wesentlichen den vorangegangenen Auf¬ 
lagen folgt, aber namentlich zur Traumsymbolik neues Material beibringt. 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


Ein weiteres Traumbuch von Havelock Ellis (71) hat Kurelia übersetzt. 
Er betont mehr den Einfluß von Sinnesreizen auf den Inhalt und den Ablauf der 
Träume und bringt außerdem wertvolle Anhaltspunkte für die assoziativen Vor¬ 
gänge im Traumbewußtsein. 

Major (176) gibt eine zusammenfassende Darstellung der kindlichen Neur¬ 
asthenie, die er für seltener hält als die kindliche Hysterie; das Gemeinsame der 
verschiedenen Störungen ist die leichte Erregbarkeit und leichte Ermüdbarkeit 
des Nervensystems. 

Williams (282) zeigt die Bedeutung einer verständigen Erziehung für die 
Prophylaxe der Neurasthenie. Diese für Lehrer geschriebene Arbeit ist recht 
interessant, weil sie uns erkennen läßt, worin eigentlich der große Wert des eng¬ 
lischen Erziehungswesens beruht. Die Bedeutung des Spieles und Sports liegt 
nicht oder nicht ausschließlich in der Betätigung der Körperkräfte, sondern in der 
Nötigung zur Rücksichtnahme auf andere, zur Selbstbeherrschung und freiwilligen 
Unterordnung, zur Unterdrückung des körperlichen Schmerzes. Von demselben 
Gesichtspunkt wird betont die Bedeutung der Körperpflege, die Erziehung zur 
Ordnung und Reinlichkeit bei Kindern und die damit verbundene Hebung der 
Selbstachtung. In einer Beobachtung Williams (279) zeigt sich als Ursache eines 
schwer neurasthenischen Zustandes bei einem zweijährigen Kinde der Genuß von 
Kaffee. Die aufgetretenen Störungen, Unruhe, Reizbarkeit, tikartige Bewegun¬ 
gen und eine Art Koprolalie werden besprochen, aber eine Erklärung nach 
Freud abgelehnt. 

Stursberg (257) zeigt an einer Statistik an den Kranken einer Kölner Berufs¬ 
genossenschaft, daß die Unfallneurosen gar nicht so häufig sind, als man gemeinhin 
annimmt. Sie betreffen nur 1,9% der Rentenempfänger innerhalb 20 Jahren; 
bei 1000 Unfällen entstehen 1,6% traumatische Neurosen. Da diese Ergebnisse 
mit zwei Statistiken von Biß und von Merzbacher aus anderen Teilen Deutsch¬ 
lands übereinstimmen, so kann man wohl die gleichen Verhältnisse als überall 
vorliegend annehmen. Es ist also nicht so schlimm mit der oft befürchteten Demo¬ 
ralisation und nervösen Degeneration durch die Unfallgesetzgebung, zumal auch 
die Prognose der Unfallneurosen nicht so ungünstig ist, wie häufig angenommen 
wird. 

Stierlin (255) schildert noch einmal die Gesamtergebnisse der nervösen 
und psychischen Erkrankungen, die bei den großen Katastrophen (Messina, Valpa¬ 
raiso, Courrieres, Mühlheim) beobachtet wurden. Eigentliche Psychosen gab es 
nur wenige; dagegen zeigten auch sonst normale Menschen psychopathische Re¬ 
aktionen. 

Krause (148) schildert einige Fälle von Neurosen nach Blitzschlag. Sie 
sprechen für seine Auffassung, daß es sich dabei nicht lediglich um die Wirkung 
eines psychischen Traumas, um eine traumatische Suggestion im Sinne Charkois 
handelt, sondern man muß eine physikalische Einwirkung auf die nervöse Substanz 
annehmen, die dadurch zu ihrer hysterischen Reaktionsweise veranlaßt wird. 
Daß die Symptome wieder verschwinden, spricht nicht dagegen, daß ihnen eine 
materielle Veränderung zugrunde liegt. Auch die ausführliche Darstellung zahl- 


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Weber, Neurosen und Schilddrüsenerkrankungen. 


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reicher Fälle von Willige (283) geht davon aus, daß es sich um eine elektive, mate¬ 
rielle Wirkung der elektrischen Entladung auf das Nervengewebe handelt. Dabei 
kann man zwei Gruppen von Erkrankungen unterscheiden: solche von direkter 
Blitzwirkung herrührend, mit initialen Bewußtseinsstörungen, vorübergehenden 
Reizungs- und Lähmungserscheinungen und dauernden Ausfallssymptomen und 
solche bei mittelbarer Wirkung (durch eine Leitung); hier überwiegt im Krank¬ 
heitsbild, das oft auf dem Boden endogener Disposition entsteht, die funktionelle 
Komponente. 

Weiner (274) kommt in einer Münchener Dissertation zu dem Resultat, daß 
die Neurosen nach Blitzschlag sich völlig mit dem Bild der traumatischen Neu¬ 
rosen decken; denn die klinischen Ausfallserscheinungen decken sich nicht mit 
den anatomischen Veränderungen, welche durch die Einwirkung des Blitzes ge¬ 
setzt werden. 

E. Bischoff (30) zeigt an einem Fall von Starkstromverletzung die Reihen¬ 
folge, in der sich die Funktionsstörungen wieder hersteilen. Auf psychischem 
Gebiet zuerst die Auffassung, dann die Merkfähigkeit, dann die Totalerinnerung. 
Auf nervösem Gebiet: 1. die vegetativen Funktionen, 2. die Reflexe, 3. die Zweck¬ 
bewegungen, 4. die komplizierten Zielhandlungen. 

Schepelmann (237a) bespricht noch einmal an der Hand persönlicher lang¬ 
jähriger Erfahrung die Theorien und die Therapie der Seekrankheit. Es handelt 
sich zweifellos um eine erhöhte Empfindlichkeit des Nervensystems gegenüber 
Labyrinthreizungen und er empfiehlt zur Beruhigung als ziemlich prompt wirkendes 
Mittel Veronal. 

Donath (63) schildert einen Fall von zwangsmäßig auftretender Errötungs¬ 
furcht, die sich durch das ganze Leben hinzieht und als Abwehrmaßregel zu starken 
Trinkexzessen und Nächte hindurch fortgesetztem Kartenspiel geführt hat. Da¬ 
neben ist der Kranke aber noch sexuell pervers, luetisch infiziert und zeigt be¬ 
ginnende reflektorische Pupillenstarre. Krankenhausbehandlung in Verbindung 
mit Wachsuggestion schafft Besserung. 

Bonhöffer (34a) zeigt an drei sehr instruktiven Krankheitsschilderungen, 
daß das Bild der sog. Neurasthenie, besser der endogenen Nervosität, sehr häufig 
auf dem Boden einer manisch-depressiven Konstitution und als Zustandsbild 
einer solchen entstehen kann. Die Abgrenzung dieser endogenen Verstimmungs¬ 
zustände von der eigentlichen erworbenen Neurasthenie ist prognostisch wichtig. 

Adler (1) kommt auf Grund der Psychoanalyse zu dem Resultat, daß die 
Syphilidophobie häufig psychisch bedingt sei und den neurotischen Versuch dar¬ 
stelle, auf diese Weise den Sexualverkehr mit dem anderen Geschlecht zu ver¬ 
meiden. 

Porosz ('215) führt eine Anzahl der Beschwerden der Sexualneurastheniker, 
namentlich Spermatorrhoe und Impotenz, auf lokale Störungen von seiten der 
Prostata zurück, wodurch eine Atonie des Schließmuskels der Samenblase bedingt 
werde, und befürwortet eine lokale Behandlung der Prostata. 

Reis (221a) hat das Problem der elektrischen Entartungsreaktion des degene¬ 
rierenden Muskels von neuem in Angriff genommen. Er geht dabei von der Theorie 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


Nernsts aus, daß der elektrische Strom im tierischen Gewebe Zellenverschiebungeil 
hervorrufe und daß diese an der Grenze verschiedener Medien Konzentrations - 
änderungen bedingen. Er konnte experimentell durch Eintauchen eines Frosch- 
muskels in verschiedene Salzlösungen eine Umkehr der Polwirkung erhalten. Es 
handelt sich also bei der Entartungsreaktion um eine Veränderung der Muskel¬ 
substanz, wahrscheinlich ihres Salzgehaltes, vielleicht infolge einer Alteration 
der Zellmembranen. Nach Reis ist also die Umkehr der Polwirkung bei der Ent¬ 
artungsreaktion eine tatsächliche. Auch die Begleiterscheinungen, faradische 
Untererregbarkeit, träge Zuckung werden auf eine Veränderung der Muskelsubstanz 
zurückgeführt. Gegen die Darstellung von Reis polemisieren Wiener und Borutiau, 
welche daran festhalten, daß die Umkehrung der Pole bei der Entartungsreaktion 
nur eine scheinbare ist. Als neurotonische Reaktion beschreibt Jakobsohn (122) 
nach dem Vorgang von Remark eine tetanische Nachdauer der Muskelkontraktion 
bei indirekter, vom Nerv aus erfolgter Reizung, während die direkte Muskel¬ 
reizung normal ist. Klinisch scheint die Reaktion, die Jakobsohn bei Syringomyelie 
fand, ohne Bedeutung. 

Schellong (237) bespricht die Neuralgien im allgemeinen und gibt kurze 
klinische Darstellungen besonderer, in der Praxis häufig vorkommender Formen. 
Die meisten Neuralgien haben nach seiner Auffassung im Nervenstamm selbst 
ihren Sitz; dabei handelt es sich, wie er namentlich aus den traumatischen Neural¬ 
gien schließt, nicht um bloße Reizwirkung, sondern um pathologische Veränderungen 
am Nerven selbst. Im ganzen ist er geneigt, die Rolle der idiopathischen Ischias 
zugunsten der symptomatischen einzuschränken. Bei anderen Neuralgien ist der 
Sitz im Wurzelgebiet zu suchen. Mit Recht macht Verf. auf das häufige Vorkommen 
von Brachialneuralgien aufmerksam, die außer durch lokale Affektionen (Gelenke. 
Schleimhäute), namentlich rheumatisch oder durch Erkältungen bedingt werden. 
Bei der Ischias findet Gara (92-93) als fast regelmäßiges Symptom einen heftigen 
Schmerz bei senkrechtem Fingerdruck auf die Bauchdecken, etwas unterhalb 
und seitlich des Nabels und sieht in diesem Symptom einen Beweis für die Ent¬ 
stehung der Ischias im Plexus ischiadicus selbst; jede Änderung des intraabdomi¬ 
nalen Drucks macht die Schmerzen. Eine solche Änderung wird außer durch 
manuellen Druck auch hervorgerufen durch Anspannung der Bauchpresse beim 
Husten oder Niesen, weshalb auch der hierbei auftretende Beinschmerz ein dia¬ 
gnostisch wichtiges Symptom ist. Ebenso spricht nach seiner Auffassung ein 
anderes von ihm häufig gefundenes Symptom: starke Druckempfindlichkeit des 
Darmfortsatzes des letzten Lendenwirbels dafür, daß es sich bei der Ischias um 
eine Wurzelerkrankung handelt. Beide Symptome sind außerdem für die Diagnose 
der Ischias sehr charakteristisch. 

v. Breemen (39) gibt Anhaltspunkte für die physikalische Behandlung der 
Ischias, die er namentlich bei den chronischen Formen empfiehlt. Hier muß die 
Behandlung von der wahrscheinlichen Ätiologie des Leidens ausgehen. Am meisten 
lobt er die lokale Wärmeapplikation, gelegentlich verbunden mit richtig ange¬ 
wandter Massage, Fango, Lichtbäder, Diät; bei der neurasthenischen Form auch 
die Anodengalvanisation. Barth (10) gibt eine Darstellung der Behandlungs- 


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Weber, Neurosen und Schilddrüsenerkrankungen. 


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lethoden der Ischias durch Injektion und Infiltration. Das von Lange ange- 
ebene Verfahren benutzt eine Eukain-Kochsalzlösung, von der 100 ccm auf ein- 
nal unter starkem Druck an der Austrittsstelle der Nerven durch den Glutäus 
lindurch in die Nervenscheide eingespritzt werden. Barth selbst injiziert nur 
Kochsalzlösung mit Karbolwasser und nur 6 ccm auf einmal. Der Erfolg der In- 
ektion soll entweder auf der Lösung angenommener Verwachsungen zwischen 
Kervenscheide und Nerven, oder auf der Entspannung der Muskulatur beruhen, 
veshalb man auch gleich die unblutige Dehnung der Nerven ausschließen kann. 
Jedenfalls sind die Infiltrationsmethoden angebracht in hartnäckigen Fällen, 
,'ür die sonst keine kausale Therapie möglich ist. 

Brbnond und Dur geben eine Darstellung der Rekurrenslähmungen aus peri¬ 
pherischen und zentralen Ursachen, erläutern die Anatomie und bringen kasu¬ 
istisches Material. Saker (235) bespricht allerlei kongenitale Anomalien der Seh¬ 
nervenpapille, welche zur Verwechslung mit Neuritis, beginnender Stauungs¬ 
papille oder beginnender Atrophie im ophthalmoskopischen Bilde Anlaß geben 
können. Rosenbaum (226) beschreibt Herpes zoster bei eitriger Nierenentzündung 
und bei einer traumatischen Nierenzertrümmerung. Im ersten Fall hielt sich der 
Herpes genau an die von Head als charakteristisch für Nierenerkrankungen be- 
zeichnete zehnte Dorsalzone; im zweiten Fall verbreitete er sich auch über die 
Nachbarzonen, vielleicht weil die schwere Zertrümmerung der Niere auch zu 
blutiger Imbibition des Peritoneums und der Weichteile in der Nähe der Niere 
gefü Irrt hatte. 

Röper (225) zeigt an einer statistischen Bearbeitung der in der Jenenser 
Klinik in 10 Jahren behandelten Neurastheniker, daß die Heilaussichten wenigstens 
im sozialen Sinne nicht ungünstig sind; nach einer Reihe von Jahren waren noch 
85.3% der Behandelten erwerbsfähig; das ist sozial sehr bedeutsam. Tn ähnlicher 
W eise hat Römer (224) das Material eines Privatsanatoriums verarbeitet. Unter 
seinen 340 Fällen fand sich ein kleiner Teil (3,5%) echt erworbene Neurasthenie: 
diese heilten alle. Die übrigen 328 Fälle waren konstitutionelle Neuropsychosen 
verschiedener Art. Von diesen waren nach durchschnittlich 6—7 Jahren noch 
56—77% erwerbsfähig, wenn auch nicht völlig geheilt. Am schlechtesten sind 
die Heilaussichten bei der konstitutionellen Verstimmung (66,5%). am besten bei den 
leichten Formen der Zyklothymie (77,5%). 

Rudniizky (230) nimmt an, daß die Fälle, die in der Praxis als Neurasthenie 
diagnostiziert werden, nur selten als reine Neurasthenie betrachtet werden dürfen. 
Bei aufmerksamer Untersuchung lassen sich gewöhnlich Anomalien innerer Or¬ 
gane feststellen, die die Beschwerden der Patienten in ganz anderem Lichte er¬ 
scheinen lassen. Unter 242 vom Verf. untersuchten „Neurasthenikern“ kiesen 
nur 22, also etwa 9%, keinerlei physische Erkrankungen auf. 19 von ihnen litten 
an Lues, Anämie, Malaria, Arteriosklerose, Helminthiasis, gynäkologischen Affek¬ 
tionen usw. Bei 173, also 70%, dieser Patienten konnte perkutorisch eine Dämpfung 
an einer der Lungenspitzen festgestellt werden, während sonst — abgesehen von 
etwaigen Pleuraaffektionen — keine pathologischen Erscheinungen seitens der 
Lungen Vorlagen. Weitere 28 Patienten boten neben Lungen- und Pleuraerschei- 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


nungen auch Zeichen anderer Leiden (meist Malaria, aber auch Lues). R. erörtert 
eingehend die ätiologische und symptomatologische Seite seiner Fälle, betont die 
Ähnlichkeit zwischen den Symptomen der Neurasthenie und den allgemeinen 
Erscheinungen der Tuberkulose, tritt energisch gegen die Auffassung auf, nach 
der die Tuberkulose stets eine progrediente Erkrankung ist, die sich nach einiger 
Zeit in mehreren somatischen Erscheinungen manifestieren müsse, und kommt 
zu dem Schluß, daß die Neurasthenie in einer sehr bedeutenden Anzahl von Fällen 
mit Tuberkulose zusammenhängt oder richtiger als eine Äußerung der Tuber¬ 
kulose aufzufassen ist. (Fleischmann-Kiew.) 

Donath (63) schildert kurz die verschiedenen Bestrebungen der Psycho¬ 
therapie, zeigt das Wesentliche der Hypnose, der Wachsuggestion, den Kern der 
Freudschen analytischen Verfahren und bespricht eingehender die rationelle Psy¬ 
chotherapie, wie sie von Dubais gelehrt wird. 

Krone (160) schildert die Patienten, welche die Badeorte wegen körperlicher 
Beschwerden aufsuchen, bei denen aber genauere Untersuchung ergibt, daß sie 
„nur nervös“ sind. Hier ist neben der Balneotherapie und einer vorsichtig aus¬ 
geübten lokalen Behandlung vor allem psychische Beeinflussung am Platze, die 
die Patienten den Mangel ihres Anpassungsvermögens an die äußeren Verhältnisse 
erkennen und beheben lehrt. Besonders gehören dazu auch die in der Pubertät 
stehenden Kinder mit der Diagnose Anämie. 

Bergmann (22) gibt dem gebildeten Nervösen und Neurastheniker 
ein Buch in die Hand, das ihn in das Wesen und die Ursachen der nervösen Leiden 
einführt und ihm zeigt, was er aus eigener Kraft zur Unterstützung der ärztlichen 
Bemühungen tun kann. Das Buch will eine Diätetik der Seele geben. 

Joffe (130) kommt auf Grund experimenteller Untersuchungen zu dem Re¬ 
sultat, daß starker Druck bei der Nervenmassage zu vermeiden ist. Unter dem 
Namen Wasserdruckmassage bezeichnet Dreuw (66) Vorrichtungen, bei denen 
strömendes Wasser eine über eine Röhre mit vielen Öffnungen gespannte 
Gummimembrane in lebhafte Bewegung versetzt. Die verschiedenen nach diesem 
Prinzip hergestellten Apparate sollen sich hauptsächlich für die Massage von 
Körperhöhlen eignen. Wiszwianski (f86) gibt eine Darstellung nach Cornelius, 
der Theorie ihrer Wirkung und der Praxis ihrer Anwendung, ohne daß dadurch 
ihr Wesen klarer und verständlicher wird. 

Scham (i36) macht in Anknüpfung an ähnliche Anschauungen Schöns auf¬ 
merksam auf Augenmuskelstörungen, die er für die Quelle von Kopfschmerz und 
Nervosität hält. Es handelt sich namentlich um Innervationsanstrengungen bei 
der Konvergenz, wenn die Augen in der Ruhelage nicht symmetrisch stehen. Mit 
der Zeit tritt hier eine Innervationsschwäche auf, die schwere nervöse Beschwerden 
auslösen kann; bei Korrektion durch geeignete Gläser verschwinden diese Be¬ 
schwerden. 

Aswadurow (6-7) faßt die Migräne auf als Folge von Myalgien (unbekannten 
Ursprungs) in der Kopf- und Nackenmuskulatur. Dafür sprechen die begleitenden 
Sympathikussymptome, namentlich die Pupillenveränderungen; er denkt sie sich 
entstanden durch Druckwirkung des myalgischen Stemokleidomastoideus auf 


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Weber, Neurosen und Schilddrüsenerkrankungen. 


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Las Ganglion cervicale supremum. Schottin (240) geht von der Annahme aus, daß 
lie Ursachen der Migräne in einer abnormen Reizbarkeit der psychosensorischen 
ind sensiblen Rindenzentren zu suchen seien, und da die Spasmophilie der Kinder, 
lie nach seiner Ansicht auf ähnlichen Ursachen beruht, durch Phosphor gebessert 
vird, verordnet er bei Kindern Phosphorlebertran, bei Erwachsenen eine Phos- 
>horlezithinverbindung. Ad. Schmidt (i39) zeigt an mehreren Fällen, daß die 
Magenbeschwerden bei manchen Formen von Migräne ein den Kopfschmerzen 
Koordiniertes Symptom sind, das nicht als ätiologisches Moment der Migräne 
gelten kann. Der Zusammenhang scheint so zu sein, daß äußere Ursachen eine 
Magenstörung veranlassen, und daß diese dann gewissermaßen die Migräne¬ 
symptome auf den Magen ablenkt. 

D. Hysterie. 

Kohnstamm (142) bemüht sich um eine Theorie der Hysterie, die er auf den 
von ihm entwickelten Begriff des „Gesundheitsgewissens“ aufbauen will. Dar¬ 
unter versteht er das bewußte oder unbewußte Gefühl für eine richtige Regulierung 
der Funktion der einzelnen Organe, denen er ein Sonderbewußtsein, eine Spalt- 
soele zuschreibt: er versteht darunter natürlich das Eigenbewußtsein des Kranken 
für ein bestimmtes Organ. Die Hjsteric ist dann für ihn ein Defekt des Gesundheits¬ 
gewissens, der den einzelnen Organen oder ihrem Bewußtsein eine selbständige 
Rolle zu spielen erlaubt. Nicht alle psychogen entstandenen Symptome sind 
hysterisch; nur bei einem Defekt des Gesundheitsgewissens werden sie zur Teil¬ 
erscheinung einer echten Hysterie. 

Dubois (67) bezeichnet als hysterisch die funktionellen Störungen, welche 
unter dem Einfluß von Gemütsbewegungen entstehen und auch persistieren, wenn 
die Ursache weggefallen ist. Diese Fixation kommt zustande durch eine Reali¬ 
sierung der aus den Affekten entspringenden Empfindungen, was D. als sinnliche 
Impressionabilität bezeichnet. 

Maeder (173) hebt in der Kritik dieses Vortrages hervor, daß dieser bei der 
Ätiologie der hysterischen Symptome jetzt im Gegensatz zu seinen bisherigen 
Anschauungen die Bedeutung der Affektivität anerkenne, und stellt die Auf¬ 
fassung Dubois von der Hysterie in Parallele mit der Freudschen Auffassung. 

Steyerthal (-63) betont in einer populär gehaltenen Schrift gegenüber dem 
Staatsanwalt Wulflen seinen schon früher vertretenen Standpunkt, daß es keine 
Hysterie als Krankheitseinheit, sondern nur h}sterische Symptome gibt. Das 
sucht er an zahlreichen Beispielen aus der Literatur zu erweisen. In ähnlicher 
populärer Weise ist das Büchlein von Aub (8) gehalten, das aber für eine Krank¬ 
heitseinheit Hysterie eintritt und die Zeichen dieser Erkrankung auch bei männ¬ 
lichen Individuen nachweist. 

Semi Meyer (194) hält an der Hysterie als einer eigenen Krankheit fest und 
führt, wie schon in einer früheren Arbeit, aus, daß diese Krankheit charakterisiert 
ist durch die Fähigkeit, wirkliche Krankheitserscheinungen („Produkte“) ent¬ 
stehen zu lasser. Er bemüht sich, die Pathogenese und die Grenzen dieser Krank¬ 
heit zu bestimmen. Nicht durch Vorstellungen werden diese Krankheitsprodukte 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


hervorgebracht, sondern durch Störungen des normalen Assoziationsvorgangs, 
und zwar durch Heraushebung gefühlsbetonter Momente, die mit irgendwelchen 
an sich unabhängigen Vorgängen in eine abnorm feste, assoziative Verknüpfung 
treten. Es wird also den Affekten und ihren körperlichen Begleiterscheinungen 
die Hauptrolle bei der Entstehung der Hysterie zugewiesen; diese körperlichen 
Begleiterscheinungen, abnorm fixiert, sind eine Quelle der Hysteriesymptome. 
Die anderen sind wirkliche, an sich wenig wichtige Erlebnisse, die durch die Angst 
vor Krankheit fixiert werden. Sehr gut ist auch die scharfe Trennung gegen die 
gewöhnliche Suggestion und gegen die Hypochondrie durchgeführt. 

In einer anderen Arbeit gibt S. Meyer (195) für das Vorgetragene Belege, 
indem er die Gesamtheit der hysterischen Erscheinungen in fünf Gruppen teilt 
und danach unterscheidet: Monosymptomatische Hysterie, Organhysterie, Hysterie 
mit Allgemeinerscheinungen, Anfallshysterie und Hysterie mit schweren psychi¬ 
schen Störungen. 

Th. Becker (17) schildert in einem Vortrag die im Metzer Garnisonlazarett zur 
Beobachtung gekommenen Hysteriefälle, die alle Formen der hysterischen Stör¬ 
ungen zeigen. Die interessante Kasuistik bietet im übrigen nichts prinzipiell Neues. 
Die Darstellung von Booth (34b) gibt einige, auch aus der deutschen Literatur 
bekannte Methoden zur Unterscheidung organischer von hysterischen Lähmungen, 
Kontrakturen und Sensibilitätsstörungen; es werden auch einige Fingerzeige für 
die Behandlung einzelner hysterischer Symptome gegeben; dasselbe unternimmt 
ein Vortrag von Bychowski (46). 

Sträußler (266) beschreibt aus seinem militärärztlichen Material eine Gruppe 
von Fällen, die er als eine besondere Form des hysterischen Dämmerzustandes 
zusammenfassen will. Es handelt sich um erwachsene, wenn auch noch jugendliche 
Personen, die ein der Dementia praecox ähnliches Zustandsbild darbieten: kind¬ 
liches, läppisches Wesen, absonderliche manirierte Bewegungen und Haltungen. 
Es ist aber hier keine wirkliche DemeDz eingetreten, sondern die Fälle heilten 
und dann blieb nur noch ein hysterischer Charakter nachzuweisen. Verf. bezeichnet 
diese Zustände, die eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Gans ersehen Symptomen- 
komplex zeigen, als psychischen Puerilismus. Kaufmann (138) berichtet einen 
Fall von Hysterie, der zahlreiche vegetative Störungen auf rein funktioneller 
Grundlage zeigte: also starke Schwankungen des Gewichts, des Blutdrucks, der 
Urinmengen und der Temperatur. Er glaubt, daß es sich hier um funktionelle 
Störungen vegetativer Zentren des Gehirns, unabhängig und neben den psychischen, 
handelt. 

E. Schilddrüsenerkrankungen. 

über Basedow sehe Krankheit liegt ein größeres zusammenfassendes 
Referat von der Karlsruher Naturforscherversammlung vor. Dabei sprach Gott¬ 
lieb (103) über die Theorie der Basedowschen Krankheit und zeigte, daß ein großer 
Teil der Symptome darauf beruht, daß das Schilddrüsensekret das sympathische 
Nervensystem für Adrenalin überempfindlich macht, ferner, daß der Abbau ge¬ 
wisser Giftstoffe im Organismus durch das Schilddrüsensekret verhindert wird, 
was sich experimentell für das Morphin erweisen läßt. 


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Weber, Neurosen und Schildrüsenerkrankungen. 


233* 


Simmonds (246) kommt auf Grund anatomischer Untersuchungen zu dem 
Resultat, daß der Basedow ein Symptomenkomplex ist, hervorgerufen durch ana- 
omisch verschiedenartig bedingte Funktionsstörungen der Schilddrüse. Aber 
ast immer lassen sich anatomische Veränderungen in der Schilddrüse nachweisen. 

Sta ck (249) gibt Klinik und Symptomatologie der abortiven Formen, die er 
ils Thyreotoxikosen bezeichnet; bei ihnen ist die klinische Symptomentrias oft 
licht nachzuweisen, und man ist auf leichtere flüchtige Symptome, die oft das 
Bild der einfachen Neurasthenie Vortäuschen, angewiesen. Von der nicht chirur¬ 
gischen Therapie empfiehlt er in erster Linie Ruhigstellung des Nervensystems 
lurch psychische und körperliche Diät, Ausspannung, Vermeidung von Nerven- 
eizen. In manchen Fällen hat er gute Erfolge von Phosphor und von Arsen ge- 
lehen. Endlich äußert sich Rehn (220) über Indikation und Technik der Schild- 
irüsenoperation bei Basedow. 

Sänger (232) bespricht ebenfalls die verschiedenen RasedotPtheorien. Zur 
Therapie empfiehlt er zuerst innerliche Behandlung, wobei er im Gegensatz zu 
Starck gute Erfolge von Antithyreoidin und Rodagen gesehen hat. Erst wenn damit 
in längerer Zeit nichts zu erreichen ist, soll die operative Therapie versucht werden. 

Goldftam (100) warnt vor dem Gebrauch hoher Joddosen, namentlich vor 
der subkutanen Einspritzung hoher Jodipindosen, weil dadurch basedowartige 
Symptome erzeugt werden können, wie er dies nicht nur bei Kranken mit ange¬ 
deutetem Kropf, sondern bei solchen mit ganz anderen Erscheinungen, z. B. einem 
Fall von Pseudotumor cerebri und einem mit beginnender Tabes gesehen hat. 

Ohletnann (206) glaubt aber, daß kleinere Joddosen, innerhalb der von der 
Pharmakopoe gegebenen Grenzen bei Basedow unschädlich seien, und empfiehlt 
namentlich Jodtinktur tropfenweise innerlich. 

Aryagi (6) bestätigt auf Grund histologischer Untersuchungen die hypo¬ 
thetisch angenommene Schädigung des sympathischen Nervensystems beim 
Basedow. 

Nonne (206) berichtet über sein eigenes Material von Basedowkränken. Er 
glaubt, daß die Möbiussche Theorie nicht für alle Fälle gelten kann. Denn in 
39 Fällen sah er lOmal ausschließlich psychogene Ursachen und gelegentlich 
schnelle Heilung unter Suggestionswirkung. 

Krecke (149) hebt hervor, daß man durchaus nicht immer alle Symptome 
bei den Basedou>erkrankungen antrifft; sehr häufig fehlen z. B. die Augensym¬ 
ptome. Er schlägt deshalb vor, den Namen Basedow ganz fallen zu lassen und von 
Thyreosen zu sprechen, von denen er drei Grade unterscheidet. Beim 1. Grad 
liegen nervöse und Stoffwechselstörungen und subjektive Herzbeschwerden vor; beim 
2. Grade tritt neben anderen Symptomen Tachykardie auf; beim 3. Grad läßt 
sich der Komplex: Exophthalmus, Kropf, Tachykardie, nervöse Störungen und 
Stoffwechselstörungen nachweisen. 

Iuschtschenko (136a) untersucht in mehreren experimentellen Arbeiten das 
Verhältnis der Schilddrüse zu einigen Fermenten, indem er bei gesunden und 
thyreoektomierten Tieren die Organe auf Nuclease und Katalase untersuchte, 
die hämolytischen und antitryptischen Eigenschaften des Serums prüfte. Die 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


Einzelheiten der Resultate müssen im Original nachgelesen werden; sie weisen 
aber darauf hin, daß die Schilddrüse eine hohe Bedeutung für die fermentativen 
Prozesse des Gewebsstoffwechsels besitzt. 


7. Intoxikations-Psychosen. 

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95. Pighini e Ravenna, La pretesa influenza delle stagioni sulla tovi- 

cita delle culture di Aspergillus fumigatus. Riv. pellagrologh. 
Italiana anno 11. (S. 258*.) 

96. Popow, Behandlung des Alkoholismus mit Atropin. Wratsctob- 

naja Gazeta no. 37 (russ.). (S. 249*.) 

97. Rauson und Scott. Die Erfolge der medikamentösen Behandlur. 

von 1106 Fällen von Delirium tremens. The amerie. jourr. 
of the med. Sciences, Mai 1911, p. 673. 

98. Riera, Psicosis infecciosas y autotöxicas. Rev. frenopatica esp*s. 

no. 106, p. 289. 

99. Roberts, Pellagra. Journ. of americ. assoc., 10. Juli. 

100. RoMe , Zwangsweise Unterbringung von Trinkern in Heil* u 

Bewahranstalten. Mtschr. f. Kriminalpsychol. Jahrg. Y:i. 
S. 525. (S. 251*.) 

101. RoMe, Wann muß eine Trinkeranstalt und besonders eine Inv.- 

anstalt einen gegen seinen Willen festgehaltenen Trink: 
entlassen? Mtschr. f. Kriminalpsychol. Jahrg. VIII. H. 
S.l. (S. 251*.) 

102. Rollmann, Klinische Beobachtungen über den Korsakowsö 

Symptomenkomplex. Inaug.-Diss. Bonn u. Wien, k! 
Rdsch. Nr. 41. (S. 252*.) 

.103. Rosenberg, Uber Delirium tremens nach Trauma. Ztschr. f. 
ges. Neurol. u. Psych. Bd. VI, H. 2. (S. 245*.) 

104. Roullier, Korsakowsche Psychose im Verlauf einer Gravidit« 

polyneuritis. Presse m6d. 12. Juli. 

105. Sarteschi, Sopra una speciale alterazione dclla sostanza biano 


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Original fro-rri 

UNIVERS1TY OF MICHIGAN 



Peretti, Intoxikations-Psychosen. 241* 

in un caso di alcoolismo cronico. Riv. sperim. di freniatria 
vol. XXXVII, p. 115—135. (S. 252*.) 

106. Saunders, The gynecological, obstetrical and surgieal aspects 

of pellagra. A policlin. study. Americ. journ. of insan. 
vol. 67, no. 3, p. 541. (S. 258*.) 

107. Schenk, Psychologie des Trinkers. Ärztl. Sachverst.-Ztg. Nr. 24, 

S. 501. (S. 247*.) 

108. Schenk, Die Alkoholfrage. (Sammelber.) Ärztl. Sachverst.-Ztg. 

Nr. 3, S. 54; Nr. 4, S. 75, und Nr. 16, S. 335. (S. 243*.) 

109. Schenk, Kleinste Alkoholdosen. Ein Beitrag zum Streite Moll- 

Kräpelin. Deutsche Mediz. Ztg. Nr. 29. (S. 247'.) 

110. Schmidtmann, Der Einfluß des Alkohols auf den Ablauf der 

Vorstellungen.. Psychol. Arbeiten, herausg. von Kraepelin, 
Bd. VI, H. 2, S. 300. (S. 246*.) 

111. Schröder, Zur Behandlung der Morphinisten. Berl. klin Wschr. 

Nr. 7, S. 281. (S. 253*.) 

112. Siebert, Vergiftungspsychose nach dem Genuß von Radix hyos- 

cyami nigri. Petersb. med. Wschr. Nr. 35. (S. 256*.) 

113. Siemerling, Infektions- und autotoxische Psychosen (Delirium» 

Amentia). Ztschr. f. ärztl. Fortb. Nr. 21, S. 637. (S. 259*.) 
113a. Solbrig, Staatliche und städtische Maßnahmen gegen den Alko¬ 
holismus. Vjhrschr. f. gerichtl. Med. u. öffentl. Sanitätsw. 
Bd. 51, I. Suppl.-H., S. 1. (S. 250*.) 

114. Stapel, Das Verhalten der Pupillen bei der akuten Alkoholintoxi¬ 

kation. Alkoholversuche bei psychisch Gesunden und Minder¬ 
wertigen. Mtschr. f. Psych. u. Neurol. Bd. 29, II. 3, S. 216. 
(S. 245*.) 

115. Stepanoff, Beiträge zur Kenntnis des Korsakowschcn Sym- 

ptomenkomplexes bei Lues cerebri. Inaug.-Diss. Berlin. 

116. Stemberg, Alkoholische Getränke als Ilypnotica. Ther. d. Gegen¬ 

wart, Dezember. 

117. Stemberg, Die Übertreibungen der Abstinenz. 2. Aufl. Würz¬ 

burg, C. Kabitzsch. 93 S. 2,40 M. 

118. Valtorta, Mentalitä e reazioni psicologiche dell’ alcoolismo. 

Rassegna di studi psich. fase. I, 4, p. 353. 

119. Voivenel et Fontaine, Notes sur 20 cas de pellegre observes 


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Original fro-rri 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



242* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


dans les asiles d’Auch (Gers) et de Saint-Sizier (Ariegn 
Journ. de neurol 5. janv. (belgique). 

120. Wittermann. Beiträge zur Kenntnis des Alkoholismus in München. 

Münch, med. Wschr. Nr. 24. (S. 247*.) 

121. WohlwiU, Das Verhalten des Blutdrucks im Delirium tremens 

Arch. f. Psych. Bd. 48, H. 1, S. 147. (S. 245*.) 

a) Allgemeines. 

Bonhoeffer (16) besprach in dem vom Zentralkomitee für das ärztliche Fon¬ 
bildungswesen in Preußen veranstalteten Zyklus von Vorträgen über „Die Gniini- 
züge der modernen Psychologie und Psychiatrie“ die Intoxikation;- 
psychosen. Den größten Baum nehmen in dem Vortrag die AlkoholpsydxeM 
ein. Mit Kecht betont er, daß das Moment der individuellen Disposition zu d«c 
exogenen Faktor hinzukommen muß und diesen sogar bei manchen Zustand?? 
fast überwiegt. Einige Punkte aus den Ausführungen mögen besonders herrrr- 
gehoben werden. Das Wesen des chronischen Alkoholismus läßt sich nach & daLi 
resümieren, daß er eine epileptoide Veränderung darstellt. Der chronische A&- 
holist befindet sich in einem Zustande einer mehr oder weniger starken Herab¬ 
setzung des Sensoriums mit Erschwerung der Auffassung und Neigung zum 11k 
sionieren und in einer Affektrichtung, die geneigt ist, die Dinge gereizt rm 
ängetlich aufzufassen. So kommt es leicht zu epileptischen Anfällen, pathc<k- 
gischen Bauschzuständen und Beeinträchtigungsideen, insbesondere Eifersnci:-- 
ideen. Bei Delirium tremens handelt es sich nicht lediglich um eine Exazerbst . ? 
des chronischen Alkoholismus, sondern um eine Autointoxikation, indem >:?: 
auf dem Boden des Alkoholismus ein neues toxisches Agens bildet, das für d-: 
Ausbruch der akuten Psychose ein neues ätiologisches Moment ausmacht. Fr 
den Ausbruch eines Delirium ist die plötzliche Alkoholentziehung nicht be¬ 
gradig zu bewerten, aber auch nicht als ganz belanglos zu bezeichnen. Die tbm- 
peutische Verabreichung von Alkohol bei ausgebrochenem Delirium beeinihy 
dessen Ablauf nicht, wohl aber den Tremor, die Ataxie und die motorische Unmi? 
Alkohol ist in der Therapie des Delirium entbehrlich und aus sozialpädagogisch-: 
Gründen eher zu meiden. Die Verabreichung von Digitalis, wenn nötig unterstü'.' 
durch Kampfer, ist zu empfehlen. Die Selbstmordgefahr ist bei Delirium ckr 
groß, wohl aber bei der Alkoholhalluzinose, die oft mit Angst und Verfolgung^«?-: 
einhergeht. Die periodische Tranksucht ist nicht generell der Epilepsie zu su¬ 
mmieren, mitunter handelt es sich wirklich um Epilepsie, aber gerade auch •: 
Degenerierten verfallen in ihren Verstimmungen dem periodischen Tranke. 

Mehr noch wie beim Alkoholismus ist beim Morphinismus und Kokainiszr.i 
die psychopathische Anlage von Bedeutung. Vielleicht ist sogar die Charakr • 
änderang der Morphinisten im Sinne der Lügenhaftigkeit lediglich als ein ucr 
hemmtes Hervortreten der degenerativen Anlage aufzufassen. B. hält die Fum 
vor Abstinenzerscheinungen bei der Morphiumentziehung für sehr übertrieb i 


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Peretti, Intoxikations-Psychosen. 


243* 


er hat bei plötzlicher Entziehung niemals Psychosen gesehen, rechnet allerdings 
hysterische Erregungen von kurzer Dauer nicht als Abstinenzerscheinungen. 

Die praktische Bedeutung der gewerblichen Vergiftungen (Blei usw.) hat 
im letzten Jahrzehnt infolge Verbesserung der Betriebsvorschriften zweifellos 
abgenommen. Aber auch bei den Alkoholpsychosen macht sich ein Rückgang 
bemerkbar, während man bei Morphinismus und Kokainismus von einer Zunahme 
spricht. 


b) Alkoholismus. 

0. Orvber (66) hat in seinem in der Sammlung „Aus Natur und Geisteswelt 1 * 
erschienenen Grundriß „Der Alkoholismus* 1 wie Max v. Oniber in seinem Begleit¬ 
wort sagt, viel Mühe und Fleiß aufgewendet, um aus der Literatur über den Alko¬ 
holismus das wissenschaftlich am besten Begründete zusammenzutragen und 
in einer dem gebildeten Laien verständlichen Weise darzustellen. 

Cramer und Vogt (23) besprechen die Ursachen des Alkoholismus in über¬ 
sichtlicher Weise und heben u. a. hervor, daß neben der psychopathischen Veran¬ 
lagung („es gibt auch einen geborenen Trinker**) die Gewalt äußerer Umstände, 
vor allem das Bekanntwerden mit dem Alkohol in der Kindheit und Jugend, die 
Erziehung zum Alkoholismus eine Hauptrolle spielt. Die Menge der Alkohol¬ 
produktion und der als Infektionsherde anzusprechenden Produktionsstätten, 
sowie die Wohnungsnot und die mangelhafte Fähigkeit der Frau, sich im häus¬ 
lichen Leben, insbesondere derKoehkunst zu betätigen, sind weitere bedeutsame 
ursächliche Momente. 

ln seinem Sammelbericht über Arbeiten auf dem Gebiete der Alkohol¬ 
psychosen aus den Jahren 1906—1910 bringt Müller (90) alles Wichtige und er¬ 
möglicht so einen raschen Überblick über den Stand der Forschungen und Ansichten 
über Alkoholpsychosen. 

Weiter haben Holilscher (61) und, wie schon früher, Schenk (108) über die 
Alkoholfrage zusammenfassend referiert, und Brumlow (18) beginnt mit einem 
Sammelbericht „Aus der Alkoholwissenschaft“, der für Sanitätsoffiziere bestimmt ist. 

In dem Jarhesbericht der Münchener Psychiatrischen Klinik für 1908 und 
1909 berichtet Bausenwein (11) über die alkoholischen Geistesstörungen, 633 Fälle, 
darunter 71 Frauen. Auffallend ist die geringe Zahl von 46 Männern und 3 Frauen 
mit Delirium; 3 Männer starben im Delirium. Wegen Rausches, z. T. bei chro¬ 
nischem Alkoholismus, wurden der Klinik in den zwei Jahren 261 Männer und 
36 Frauen zugeführt, ein Prävalieren einzelner Monate für die Alkoholexzesse ließ 
sich nicht deutlich erkennen. 

Bemerkenswert ist in dem Münchener Bericht noch die Arbeit von Filser (42) 
über alkoholischeMischzustände und chronische Alkoholhalluzinosen. 
Eine reine Scheidung des Delirium und der Halluzinose ist in vielen Fäl'.en 
nicht möglich. F. verfügt über 28 Fälle von Mischformen und unterscheidet: 
1. Delirien, die außer dem typischen Symptomenkomplex noch Erscheinungen 
der Alkoholhalluzinose unverkennbar aufweisen (8 Fälle), 2. Besonnene Delirien, 
bei denen delirante Erlebnisse von großer sinnlicher Deutlichkeit bei völlig erhaltener 


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244* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


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Besonnenheit, speziell intaktem Bewußtsein und erhaltener Orientierac» v--- 
handen sind (5 Fälle), 3. Alkoholhalluzinosen mit deliranten Erscheinungen (*> Fälle ■ 
4. Fälle von Delir und Alkoholhalluzinose, bei denen Gefühlshalluzinationen bn* 
Sensationen im Vordergrund stehen (5 Fälle) und 5. Fälle, bei denen Delir ur 
Halluzinose in kurzen Zwischenräumen aufeinander folgen. Das Zustandekonum: 
solcher Mischformen erklärt sich am besten durch die Annahme. daß es sich t~ 
Delirium tremens und Alkoholhalluzinose wahrscheinlich um verschiedene Leb 
lisationen eines und desselben Krankheitsprozesses handelt und daß die da~: 
den Alkohol gesetzte Schädigung nicht immer elektiv diesen oder jenen Hirn¬ 
ergreift, sondern auch mitunter verschiedene Gebiete zugleich. Die Hänikk-' 
der Mischformen in Bayern erklärt sich wohl daraus daß durch den in Bayr'i 
überwiegenden Biergenuß möglicherweise die typischen Bilder des Deliriis.- 
und der Halluzinose, die man in reiner Form fast nur bei Schnapsgenuß si-rr 
verschwommen und verwischt werden. Die strittige Frage nach dem Vorkonim*-' 
chronischer Alkoholpsychosen bejaht F. auf Grund seines Materials von 31 Fili« 
von denen alle bis auf 4 dem halluzinatorischen Schwachsinn (Kräpelim n: 
hörten. 

Zum Schlüsse führt Filser noch einen Fall von Äther mißbrauch bei 
Kunstschüler und einen Fall von Benzin delir bei einem Handschuhwäsrhtf i 

Appel (3) zeigt an dem Material der Würzburger psychiatrischen Klinik, a. 
auch hinter einem scheinbar unkomplizierten chronischen Alkoholisrr.: 
sich höchst interessante Krankheitszustände verbergen können. Abgesehen von i-' 
pathologischen Rauschzuständen ließen sich nachweisen : peri 'disch-mir - 
kalische und zirkuläre Zustände, Paranoia, Dementia praecox, psychopathi-c:. 
Persönlichkeiten und Epilepsie. Bemerkenswert ist, daß in Würzburg epileptiy 
Dipsomanen nicht beobachtet wurden, die Dipsomanen vielmehr den Mar--- 
kalischen und Periodikern zugehörten. Im allgemeinen kann man nach Apt- 
Ansicht die Krankheitsfälle trennen in solche, bei denen der chronische Alkoholiss 
zweifellos psychisch motiviert ist, z. B. bei Stimmungsanomalien heiteren "0 
depressiven Charakters, hypochondrischen Wahnideen, krankhafter Will« - - 
schwäche, von solchen, bei denen eine wirkliche psychische Motivierung nicht na f 
weisbar ist, wie bei der sogen. Dipsomanie epileptischen Charakters und Fi!> 
von Diabetes insipidus. 

Ilal'e (57) bespricht einige wesentliche und wichtig erscheinende Svmpt 1 r 
der in der Würzburger psychiatrischen Klinik in den Jahren 1895 bis 1908 » 
genommenen Alkoholdeliranten, deren Prozentsatz von der Gesar 
zahl der Aufgenoramenen nur 4,58% der Männer und 0,24 % der Frauen betr^ 
Von den 72 Deliranten starben 6, d. i. 8,33%. Albuminurie war in 59,72°, 
Fälle vorhanden, Pupillenstarre in keinem der Fälle. Am eingehendsten teilt ~ 
seine Versuche mit dem leeren Blatt an 24 Kranken möglichst vrörtlich mit »:■ 
stellt insbesondere die Wortumbildungen in Parallele mit den Sprachstörun- 
im Traume und hypnagogen Halluzinationen bei Gesunden. Merkwürdig *- 
die räumliche Desorientiertheit bei mehreren Kranken, die nicht nur die Situati v 
beurteilung im Krankenzimmer, sondern vor allem auch die Beurteilung bekann 
landschaftlicher Gegenden (Würzburg vom Fenster der Klinik aus) betraf. 


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Peretti. Intoxikations-Psychosen. 


245* 


Wohlwill (121) untersuchte das Verhalten des Blutdrucks bei 30 Al¬ 
koholdeliranten während der ganzen Dauer der Krankheit. Er fand im 
Beginn des Deliriums eine Steigerung des systolischen und diastolischen Blut¬ 
drucks, des Pulsdrucks und des Amplitudenfrequenzprodukts, in den späteren 
Stadien bei schweren Delirien oft einen jähen Abfall des Pulsdrucks und in der 
Rekonvaleszenz eine starke Labilität des Pulsdrucks. Wahrscheinlich ist die Stei¬ 
gerung des Blutdrucks bedingt durch ein Zusammenwirken vasomotorischer Ein¬ 
flüsse und eines vermehrten Schlagvolumens infolge von größerem Blutbedürfnis 
der funktionierenden Muskulatur. Prognostische Bedeutung kommt der Blut¬ 
druckmessung bei Deliranten nicht zu. 

Die Fälle von Delirium tremens, in denen mit Sicherheit der Zu¬ 
sammenhang mit einem Trauma angenommen werden kann, sind selten. 
Rosenberg (103) hat einen solchen Fall beobachtet, wo ein 33jähriger Alkoholist 
am zweiten Tage nach einem Sturz aus dem Korb eines von einem anderen ge¬ 
lenkten Fahrrades, wobei er einer Kontusion des Stunde lang unter den Schutz¬ 
rahmen eines Motorwagens pingeklemmten rechten Oberschenkels davontrug, 
an Delirium erkrankte. R. schließt sich der Bonhoefferschen Ansicht an, daß es 
ein durch Abstinenz allein hervorgerufenes Delirium nicht gibt, daß vielmehr noch 
besondere Umstände hinzukommen müssen, und erblickt in der psychischen 
Wirkung des Unfalls — Angst während der Einklemmung, dann Freude, daß nichts 
passiert war und später Angst wegen Schwellung und Verfärbung des Beines — 
solche besonderen Umstände. Außer dem zuerst physiologischen, dann patho¬ 
logisch werdenden Angstaffekt wirkten auf den Stoffwechsel, dessen Störungen 
für das Auftreten eines Deliriums bedeutsam sind, auch noch die Bettruhe, der 
Kostwechsel und der Aufenthalt im geschlossenen Raume ungünstig ein. 

Stapel (114) stellte an 34 Degenerierten, Imbezillen und Hebephrenen und 
an 12 Studenten, alle im Alter um das 20. Jahr herum, Versuche über das Ver¬ 
halten der Pupillen im akuten Alkoholrausch (60—280 
ccm Alkohol) an und beobachtete folgende Wirkungen: 1. Erweiterung der Pupillen 
beiderseits in gleichem Grade vielleicht nach anfänglicher, nur selten in die Er¬ 
scheinung tretender Verengerung: Pupillendifferenz oder Formveränderungen 
wurden nicht beobachtet. 2. Die Adaptationsfähigkeit der Netzhaut an eine ver¬ 
änderte Beleuchtung wird herabgesetzt, verlangsamt. 3. Die Reaktion der Pupille 
auf Licht bzw. Akkommodation und Konvergenz erfolgt träger, Ablauf und Aus¬ 
giebigkeit sind herabgesetzt. 4. Die Reaktion auf sensible und sensorische Reize 
und die Psychoreaktion erfährt eine Veränderung im Sinne einer Herabsetzung 
bzw. Steigerung. 5. Alle diese Pupillenveränderungen treten bei psychisch minder¬ 
wertigen und invaliden Individuen schon bei geringen Alkoholdosen schneller, 
intensiver und nachhaltiger in Erscheinung als bei geistg gesunden und wider¬ 
standsfähigen. Im pathologischen Rausche kann hochgradige Pupillenträgheit 
bis zur absoluten Pupillenstarre bestehen. Bei geistig Gesunden treten, selbst 
bei hohen Alkoholdosen, im normalen Rausche keine gröberenPupillenveränderungen, 
keine starren Pupillen in Erscheinung. 

Nach den Untersuchungen von Barnes (9) sind Pupillenstörungen 


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246* 


Bericht aber die psychiatrische Literatur 1911. 


bei Trinkern nicht häufig. Echte reflektorische Pnpfllenstarre ist ule- 
ordentlich selten. Imm erhin ist das ArgyU-Rolertsortsche Symptom kein antr«- 
licher Beweis für das Bestehen einer organischen Gehirnkrankheit. 

(Geifer-Grafenberg.,) 

Ans den experimentellen Untersuchungen von Busch (19) ober den EmM 
des Alkohols auf Klarheit and Umfang des optischen Bewußtsein* 
mögen folgende Ergebnisse hervorgehoben werden. Nach einer Alkoholgabe vre 
30 ccm Alkohol, in einer Verdünnung auf 33% innerhalb 6 Minuten genomme 
fand sich eine deutliche Herabsetzung der tachistoskopischen Auffassung ein¬ 
facher visueller Reize. Der Bewußtseinsgrad des ganzen beobachteten Feldes 
war gegenüber dem Normalzustand in allen Teilen gesunken. Die Wirkung d« 
Alkohols war 10 Minuten nach dem Genuß schon deutlich und bestand noch br. 
Abschluß der etwa 50 Minuten dauernden Versuche; mehrfach zeigte sieb «k 
N achwirkung über 24 Stunden hinaus, in einer schlechten Disposition der fokrace 
Tage. Subjektiv wurde von den Untersuchten eine ausgesprochene Einengung oe 
Bewußtseins auf wenige Dinge bemerkt, begleitet von einem behaglichen, ah: 
gleichgültig-apathischen Gefühlszustand. 

Gering (51) prüfte bei 11 Potatoren das Auffassungs - und R echt a- 
vermögen sowie diemotorischeKraft nach Zufuhr von 40 ccm Alkot-i 
Alle leisteten bei der Auffassungsprüfung weniger; bei den Rechenprüfungen tan: 
er bessere Leistungen bei 3, schlechtere bei den übrigen. Auf die Kraft übte 4* 
Alkohol bei 6 eine lähmende, bei den anderen eine erregende Wirkung aus. Eh? 
starke Besserung der motorischen Kraft wird man als pathologisch bezeichn: 
müssen, und diese gesteigerte motorische Erregbarkeit hat, besonders wmv 
mit einer wesentlichen Verschlechterung der Auffassung verbunden ist, greh 
forensische Bedeutung, da auf diese Weise im Dämmerzustand eine Emguc 
also ein pathologischer Rausch auftritt. Versuche an 4 Pflegerinnen und 3 »et¬ 
lichen Psychopathen zeigten, daß bei den Frauen eine erhebliche physiologisch 
Intoleranz besteht und vor allem die Bewußtseinstrübungen im Vorderem:: 
stehen. 

Schmidimann (110) fand bei seinen an 7 Medizinern vorgenommenen Vi¬ 
suellen über den Einfluß des Alkohols (40 ccm) auf den Ablauf der Vo: 
Stellungen folgendes: Bei freier Assoziation begünstigt der Alkohol das A.:- 
treten von Klangassoziationen, die Assoziationszeiten werden verlängert, c 
Streuung der Worte wird nicht beeinflußt. Bei Subsumptionen zeigt sich n* 
leichte Zunahme der Fehler, keine Einwirkung auf die zeitlichen Verhältnis 
Das Auffinden von Reimen wird insofern erleichtert, als die hierzu nötige fe- 
kürzer wird, zugleich macht sich eine starkeNeigung zur Bildung sinnloser Reu 
geltend. Die Ausführung von Übersetzungen wird erschwert, die Reaktionszeit 
werden länger, die Fehler zahlreicher. 

Über Kräpelins Experimente mit kleinen Alkoholdosen ist ein scharfer Srr- 
entbrannt, in dem Moll (86) mehrfach das Wort ergreift, um zu beweisen. i> 
KräpeUn schon kleine Dosen Alkohol für gefährlich erklärt lud; und bei sec-: 
Experimenten die Suggestion eine Fehlerquelle darstellte, lsserhn (68) nennt c 


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Peretti, Intoxikations-Psychosen. 


247* 


..Nachweise** Molk haltlose Behauptungen. Schenk (109) stellt sich mehr auf den 
AfoUschen Standpunkt und will überhaupt den experimentell-psychologischen 
Forschungen nicht den allein ausschlaggebenden Wert beimessen, da sie die Affekte, 
die doch in hervorragendem Maße unser Handeln beeinflussen, nicht berücksichtigen. 

Gorrieri (53) untersuchte das Blut von 8 Alkoholdeliranten 
und iand Verminderung des Hämoglobingehalts und der Zahl der roten Blut¬ 
körperchen, polynukleäre Leukozytose im akuten Stadium der Krankheit, ge¬ 
steigerten Blutdruck, Herabsetzung der Widerstandsfähigkeit der Blutkörperchen, 
Vermehrung des osmotischen Drucks des Blutserums. 

Nach Schenk (107) finden sich die der T r i n k e r p s y c h e beigelegten drei 
Eigenschaften: Impulsivität, geistige Ataxie (Störung oder Aufhebung des Ab¬ 
schätzungsgefühls für geistige Distanzen, Übersehen der eigenen und der fremden 
Interessenkreise) und geistige Descquilibrationen (plötzlicher Umschlag der Geistes¬ 
lage) auch bei geistig Minderwertigen ohne Alkoholismus. Der Alkohol schafft in 
der größten Mehrzahl der Fälle keine neue Eigenschaften, sondern verstärkt bereits 
in Erscheinung getretene Charaktereigenschaften oder versetzt vorhandene Anlagen 
aus dem Latenz- in den aktiven Zustand. Denn wie sich mehr und mehr heraus¬ 
stellt. stellen die psychopathisch Minderwertigen das größte Kontingent der Trinker. 

Gegenüber Graeter und Stöcker, die den chronischen Alkoholismus vielfach 
nur als ein sekundäres Symptom anderer Psychosen, insbesondere der Dementia 
praecox betrachtet wissen wollen, betont Witiermann (120) die Bedeutung des 
Milieus für die Entstehung des chronischen Alkoholismus. Von Haus aus 
psychisch Gesunde können durch die in München herrschenden Trinksitten zu 
chronischen Alkoholisten werden. Bei dem gewöhnlichen hauptsächlich durch 
das Milieu bedingten Alkoholismus wird die Widerstandslosigkeit gegen die Trink¬ 
sitten größer, es tritt eine progressive Gleichgültigkeit gegenüber den Folgen des 
Potatoriums auf und der Schwachsinn mit seiner Unfähigkeit zur Erkenntnis 
der Notwendigkeit der Abstinenz kann rein alkoholischen Ursprungs sein und 
braucht keineswegs im Sinne einer Dementia praecox gedeutet zu werden. An 
Beispielen, die keineswegs von verkommenen Alkoholisten stammen, zeigt W., 
daß bei Münchener Arbeitern, die wegen Alkoholismus eingeliefert wurden, von 
dem täglichen Durchschnittseinkommen von 3,60 bis 4 M. annähernd 1 M. auf die 
Ausgabe für Bier fällt, also 25 bis 27,7%. 

Forel (43) erörtert die Alkoholblastophthorie, von der er 
zwei Formen annimmt, die akute durch Rausch während der Zeugung herbei- 
geführte Keimzellenvergiftung und die chronische, die durch Einwirkung täglich 
genossener Alkoholdosen die Keimdrüsen beständig alteriert und schließlich die 
Keimzellen dauernd krank macht. Statistische, anatomische und tierexperimentelle 
Untersuchungen beweisen, daß die Entartung durch Keimvergiftung unbedingt 
feststeht, aber die Frage muß noch durch weitere Erhebungen, Beobachtungen 
und Experimente immer tiefer ergründet werden. Gegen die Entartung unserer 
Kulturrassen, die auf verkehrter Zuchtwahl (Erhaltung der Schwachen und 
Entartung und Tötung im Krieg oder Überlastung der Kräftigen und Gesunden) 
und auf dem zunehmenden Alkoholkonsum beruht, kann nur mittels Abstinenz 


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248* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


und Eugenik erfolgreich gekämpft werden. In Schweden hat sich infolge der Ab¬ 
stinenzbewegung seit 1880 eine stetige Besserung des Resultates der Rekruten - 
Aushebung gezeigt, damals 29%, jetzt nur noch 19% Untaugliche. 

Holitscher (62) erörtert unter Bezugnahme auf die Forschungen von Laitinen 
und v. Bunge die Gefahren des Alkoholismus für die Nachkommenschaft 
und hält es für wichtig, daß die Zweifel an der keimschädigenden Wirkung des 
Alkohols, die bezüglich der Trunksucht, des Übermaßes kaum mehr bestehen, 
auch für den mäßigen Genuß getilgt werden. Bei der großen Zahl von Abstinenten 
hofft er, daß in frühestens 10 Jahren an der Hand von ärztlichen Fragebogen 
brauchbare Ergebnisse der Forschungen über die Gesundheitsverhältnisse der 
Nachkommenschaft von Abstinenten zu erwarten sein werden. 

Nach Fehlinger (39) berechtigt nichts zu dem Schlüsse, daß erbliche 
Entartung zu den üblen Folgen des Alkoholmißbrauchs gehört. Wenn auch 
der Alkoholgenuß häufig dazu führt, die vorhandene Entartung zum Vorschein 
zu bringen, was von anderen Umgebungseinflüssen in gleicher Weise gilt, so kann 
man doch von der Beseitigung des Alkohols ein Verschwinden der Entartung nicht 
erwarten. Die Mehrzahl der Verbrecher, ob Alkoholiker oder nicht, ist defekt 
veranlagt, und darauf sind ihre Straftaten zurückzuführen. Deshalb sind die auf 
„Besserung“ gerichteten Bestrebungen aussichtslos. 

Gegenüber Fehlinger hält Hoppe (63) nach dem heutigen Stande der Wissen¬ 
schaft nichts für sicherer, als daß der Alkohol sowohl als akute Vergiftung zur 
Zeit der Zeugung als auch als chronischer Alkoholismus und zwar selbst in Mengen, 
die man allgemein als mäßig anzusehen gewöhnt ist, eine exquisit degenerierende 
Wirkung hat. 

Donath (32) weist auf die erbliche Übertragung des Alko- 
holismus der Eltern und Vorfahren auf die Nachkommen sowohl in gleich¬ 
artiger als ungleichartiger Form hin und kommt nach der Schilderung von fünf 
Fällen dipsomanischer Kranken zu dem Schlüsse, daß die Dipsomanie in 
ihrer reinen Form endogenen Ursprungs ist, eine Erscheinung der psychischen 
Degeneration darstellt und von der symptomatischen Dipsomanie, als einer Be¬ 
gleiterscheinung von Psychosen, Epilepsie getrennt werden muß. 

Marchiafava, Bignami und Nazari (81), die schon früher über eine Alteration 
des Corpus callosum bei chronischen Alkoholisten berichtet hatten, verfügen jetzt 
über ein Material von 12 Fällen, in denen sich eine Systemdegeneration 
der Kommissurbahnen des Gehirns fand; sie glauben, daß diese Krank¬ 
heitsfälle sowohl vom klinischen als auch vom pathologisch-anatomischen Stand¬ 
punkt aus eine eigene Stellung einnehmen und daß der Alkohol in einer konstanten 
elektiven Weise hauptsähclich auf die Kommissurbahnen wirkt. 

Fahr (37) stimmt mit anderen Autoren darin überein, daß die Leber¬ 
zirrhose nur bei einzelnen Säufern vorkommt, wenn auch die Zirrhose am 
häufigsten bei Potatoren gefunden wird, und stellt als Kardinalsymptom der reinen 
chronischen Alkoholvergiftung die Verfettung der Leber hin, die von 
entzündlichen Veränderungen begleitet sein kann, aber keineswegs begleitet zu 
sein braucht. Der Alkohol ist aber nicht das einzige ursächliche Moment der Ver- 


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F ere11i, Intoxikations-Psychosen. 


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fettung, als Hilfsmoment spielt die bei fast allen chronischen Alkoholikern sich 
geltend machende Alkoholkachexie eine Rolle. 

Crothers (24—28) kämpft in seinen kleinen Aufsätzen mit großer Energie 
gegen den bisherigen therapeutischen Nihilismus in der Trinkerbehand¬ 
lung. Einfache Einsperrung und erzwungene Abstinenz erreichen nichts. Inten¬ 
sive ärztliche Tätigkeit, die jeden Kranken besonders behandelt, ist nötig. 

Verf. unterscheidet scharf den chronischen Alkoholiker und den periodischen 
Trinker. Bei dem ersteren sind die Heilungsaussichten schlecht, denn hier handelt 
es sich meist um tiefgehende irreparable Störungen, dagegen sind die therapeu¬ 
tischen Erfolge bei periodischen Trinkern recht gut. Bei ihnen ist die Trunksucht 
nur ein Symptom, nicht aber die Ursache des Leidens. Je nach der Art des Grund¬ 
leidens wird man seine therapeutischen Maßnahmen treffen. Bei einzelnen ist 
Änderung der Ernährung und energische Hautanregung mittels Bäder am Platz; 
bei anderen bedarf es vor allem reichlicher Bewegung in fri-eher Luft, bei wieder 
anderen bringt Entfernung aus der gewohnten Umgebung und verlängerter Schlaf 
Heilung. Zuweilen genügt allein eine Beschäftigungs- und Ablenkungstherapie. 
Die Hauptsache ist wohl stets die psychische Behandlung, die lange fortgesetzt 
werden muß. In ein paar Wochen kann nichts erreicht werden. Crothers verlangt 
mindestens viermonatelange Krankenhausbehandlung und mehrjährige Nach¬ 
behandlung in der Familie. Die noch viel verbreiteten Schnellkuren werden ge¬ 
bührend zurückgewiesen. Daß aber zuweilen ein einfaches Rezept bei periodischer 
Trunksucht Nutzen bringen kann, gibt Verf. zu und führt selbst einen einschlägigen 
Fall an. Einem Richter, der sonst ganz abstinent war und nur bei bestimmtem 
Anlaß, z. B. beim Liebesmahl, sinnlos trank, wurden 2 bis 3 Tage vor diesen Festen 
große Dosen von Quassia viermal täglich und außerdem geringe Mengen Strychnin 
und Atropin verordnet. Der Erfolg war glänzend, die Sucht nach Alkohol war 
mit einem Schlage verschwunden. 

Dies sind aber Ausnahmefälle; im allgemeinen bedarf es einer intensiven 
ärztlichen Behandlung. (GefZer-Grafenberg.) 

Perrot (93) empfiehlt die von Tuwim vorgeschlagene Behandlung der Alko¬ 
holiker mit Atropin. Er geht dabei von der Erwägung aus, daß falls der bei den 
Alkoholikern vorhandene Bedarf nach Nervenreizen durch Atropin — oder durch 
ähnliche Mittel — gedeckt wird, ein weiterer durch Alkohol erzeugter Reiz bereits 
als lästig empfunden wird. Es kann auf diese Weise für längere Zeit ein Wider¬ 
willen gegen Alkohol- und in manchen Fällen auch gegen Tee und Kaffee geschaffen 
werden. Die vom Autor angewandten Dosen von Atropinum sulfur. schwankten 
zwischen 0,001 und 0.01 pro die. Außer vorübergehender Akkommodations¬ 
störung wurden keine lästigen Nebenerscheinungen verzeichnet. Der Erfolg war 
in allen Fällen ein ausgezeichneter, obwohl die Beobachtungszeit eine zu kurze ist 
(nicht länger als ein Jahr), um von definitiver Heilung zu sprechen. Andererseits 
hebt der Verf. hervor, daß seine Patienten in Ostsibirien leben, wo der Alkoholismus 
furchtbar wütet und wo horrende Alkoholdosen in Gebrauch sind. 

( Fleischmann-Kxe'w .) 

Wesentlich ungünstiger lauten die Erfahrungen, die Popow (96) mit der 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


Atropinbehandlung des Alkoholismus gemacht hat. Von seinen 11 Fällen 
scheiden 8 aus, in denen die Behandlung nicht konsequent durchgeführt werden 
konnte. In 2 Fällen brach Verf. selbst die Behandlung wegen Ausbleibens der 
Wirkung ab, und nur in einem Falle wurde ein richtiger Erfolg erzielt. Verf. meint, 
daß die Wirkung eine weit größere sein würde, wenn das Mittel dem Patienten 
ohne sein Wissen, also unter die Speisen oder Getränke gemischt gereicht werden 
könnte. (Fleischmann- Kiew.) 

Zur Warnung vor Alkoholordination bei abstinent ge¬ 
wordenen früheren Alkoholisten veröffentlicht Maier (80) einen Fall, wo infolge 
der ärztlichen Verordnung von Eierkognak und Chinawein bei einem an Gelenk¬ 
rheumatismus erkrankten Abstinenten ein Rückfall in den Alkoholmißbrauch 
eintrat, wegen tobsüchtiger Erregung dann Anstaltspflege notwendig wurde 
und der von seiner Psychose Genesene dem Arzt vorwarf, daß er die Schuld am Ver¬ 
luste der Stelle und dem Ruin der Familie trage. 

Minor (84) berichtet über die echt russische Behandlungsmethode 
der Alkoholisten in Polikliniken, insbesondere in der seiner 
Leitung unterstellten in Moskau, in der von 1903 bis 1908 fast 10000 Personen 
beraten und behandelt wurden. Aus den interessanten Mitteilungen wird ent¬ 
nommen, daß die Frauen 13,5% ausmachen, daß fast 47,6% der Trinker im Alter 
von 15 bis 20 Jahren, 21,5% im Alter von 20 bis 25 Jahren und 18,6% 
im After von 10 bis 15 Jahren zu trinken begonnenhaben und daß 62,4% Ge¬ 
wohnheitstrinker, 32,5% Gelegenheitstrinker und 3,2% an Dipsomanie Leidende 
waren. Die hereditäre Belastung durch Alkoholismus der Aszendenten wird 
nach M .s Ansicht überschätzt, das Milieu spielt bei dem Massenalkoholis¬ 
mus eine bei weitem größere Rolle. Die poliklinische Behandlung, vor¬ 
wiegend durch Hypnose, hat im Sinne der völligen Heilung nur einen sehr 
fraglichen Wert, doch hat auch die temporäre Unterbrechung der chronischen 
Vergiftung große Bedeutung. Denn M. berechnet, daß selbst bei einer hinter 
der Wirklichkeit zurückbleibenden Annahme von 3 Monate relativer Heilung bei 
60% von 2000 Alkoholisten im Jahre für den Staat der Wert nützlicher Arbeit 
von 250 Menschen in einem Jahre gewonnen wird, entsprechend mehr als 150 000 M. 
Mit der Tätigkeit der Polikliniken ist M. nicht zufrieden, weil sie zu wenig spezifisch 
Ärztliches in sich birgt, und befürwortet stationäre Kliniken und Heilanstalten 
für Alkoholiker. 

Solbrig (113a) erörtert eingehend die staatlichen und städtischen 
Maßnahmen gegen den Alkoholismus und kommt zu dem Er¬ 
gebnis, daß die gesetzlichen Bestimmungen nicht ausreichen*, er fordert u. a. Be¬ 
strafung der öffentlichen selbstverschuldeten Trunkenheit, Zulässigkeit der zwangs¬ 
weisen Unterbringung Trunksüchtiger auch ohne Entmündigung in Trinkerheil- 
und Pflegeanstalten, Berechtigung des Staatsanwalts zur Stellung des Antrags auf 
Entmündigung wegen Trunksucht, Anerkennung der Trunksucht unter gewissen 
Voraussetzungen als Scheidungsgrund, Zuziehung eines ärztlichen Sachverstän¬ 
digen bei allen Trunksuchtsdelikten, bei jeder Entmündigung wegen Trunksucht 
und jeder Zwangsüberführung in Trinkerheilanstalten, Errichtung öffentlicher 


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Peretti, Intoxikations-Psychosen. 


251* 


Trinkerhett* and Pflegeanstalten, Prüfung des Bedürfnisses bei Konzessioniereng 
von Schankstätten und Flaschenbierhandlungen usw. 

Rohde (100 u. 101) wünscht, daß ein Trinker nicht nur, wie es bisher nur 
möglich ist, erst nach Entmündigung in einer Trinkeranstalt untergebracht werden 
kann, sondern daß durch einen von der Entmündigung unabhängigen Beschluß 
des Amtsgerichts auch ohne öffentliches Interesse die zwangsweise Ein¬ 
weisung eines Trinkers, wenn Aussicht auf Heilung besteht, erfolgen 
kann, ferner daß bei Einweisung im öffentlichen Interesse und dementsprechend 
auf öffentliche Kosten und unter öffentlicher Aufsicht die den Gerichtsbeschluß 
ausführende Behörde, zweckmäßig die Landespolizeibehörde über die Dauer 
der Behandlung und die Entlassung aus der Anstalt befinden soll, vielleicht im 
Einvernehmen mit der Staatsanwaltschaft oder dem beteiligten Armenverbande. 

Hotter (64) stellt die Fälle von Totschlag und Körperverletzung 
mit Todeserfolg, die in den Jahren 1900—1909 vor dem niederbayerischen Schwur¬ 
gericht abgeurteiltj^worden sind, zusammen und findet, daß unter 207 Fällen an 
3onn- und Feiertagen oder nach Biergenuß 187 = 90,3% verübt worden sind, 
ilso mit erhöhtem Alkoholgneuß Zusammenhängen; in einzelnen Jahren ent¬ 
fallen sämtliche Verbrechen, also 100%, auf Sonn- und Feiertage oder Trink- 
;elegenheiten. 

Die Frage „Haben die Kampfesmethoden der Abstinenten 
nnen einwandsfreien wissenschaftlichen und kulturellen Wert?“ beantwortet 
Dr. phil. Bauer (10), der aus seiner „Welt, wo dem Becher stark zugesprochen wird“, 
lie Abstinenten als Gesundheitsfanatiker, Humanitätsdusler usw. bezeichnet, 
natürlich mit Nein, er glaubt, daß die Krankheit „Alkohol-Idiosynkrasie“, eine 
irt Hysterie, wie die Bakterienfurcht vorübergehen wird, und sucht zu beweisen, 
laß von der behaupteten toxischen Natur des Alkohols nichts übrig bleibt und 
laß der Alkohol für den nutritiven Stoffwechsel etwa dasselbe ist, wie für den 
espiratorischen Stoffwechsel der Sauerstoff. Nicht ohne Bedenken muß der Arzt, 
luch der nicht abstinente, ferner noch die Sätze lesen, wie die über den Nutzen 
les Bieres bei stillenden Frauen, dann: daß gewisse Biere bezüglich des Nährwerts 
eden Vergleich mit der Milch aushalten könnten, daß es klug sei, Kindern vom 
.4. Jahre ab den mäßigen Genuß von Wein oder Bier zu gestatten, um sie für das 
jeben, in dem die alkoholischen Getränke eine wichtige Rolle spielen und als 
lenußmittel einen Teil der Nahrung ersetzen, zu erziehen. Es wird ihm auch 
rohl kaum ein Kriminalist zustimmen, daß bei schweren Verbrechen der Alkohol 
lur eine nebensächliche Rolle spielt und daß die „schweren Jungen“ sich vor¬ 
liegend aus Abstinenten und Mäßigen rekrutieren. Uber die Gefahren des Miß- 
irauchs geistiger Getränke, über die sozialen Schäden spricht er leider gar nicht, 
en Schnaps erwähnt er nur wenig, und mehrfach klingt das Lob des 
Lehnstuhlbehagens“ und der „Feierabendstimmung“ nach Bier- oder Wein¬ 
enuß durch. Unter den wahren Ursachen der modernen Degenerationserschei- 
ungen hat nach B.s Ansichten der Alkohol nicht viel zu bedeuten, sie sind viel- 
lehr in letzter Linie in der Mineralstoffverarmung des Bodens und damit in dem 
lalzmangel unserer Nahrung zu suchen; denn alle Stoffwechselkrankheiten hängen 


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252* Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 

mit mineralstoffarmer Ernährung zusammen. Ein Buch, das zum Trinken t 
mieren soll. 

c) Korsakowsche Psychose. Polyneuritis. 

Geier (49) will die Korsakowsche Psychose nicht als selbsuci.- 
nosologische Einheit anerkennen. Er sieht darin nur eine klinische Form der L- 
aktion des Organismus auf eine Intoxikation. Immerhin soll man narh (i. ;■* 
Bezeichnung ,.Korsakotvs che Psychose“ für die Fälle reservieren, in denen 
auf dem Boden einer Intoxikation entstandene Kombination des amnesti*t*: 
Symptomenkomplexes mit Erscheinungen der Polyneuritis vorliegt. In andsi-: 
Fällen soll man nur von einer Kombination mit dem Korsakowschen Symptome 
komplex sprechen. Die Prognose der Korsakowschen Psychose hängt ebenso »- 
deren Verlauf, Symptomatologie und pathologische Anatomie von der Äti»l>;- 
ab. Das weitere Studium muß zur Zergliederung dieser Krankheitsform in v-r- 
scheidene Gruppen führen. Vorläufig lassen sich Gruppen mit den ätiologwlr: 
Momenten der Infektion und des Alkoholismus unterscheiden. 

(Fleischmam i-Kies 

Chotzen (21) bespricht in einem Vortrag die chronisch -halluzinaton?r:< 
Krankheitsbilder in dem Defektzustande der alkoholischen Korsakowsehen 
chose: das eine Mal werden gewisse Beeinträchtigungsideen ohne W'eiterbite:- 
festgehalten, andere Male kommt es zur fortschreitenden Wahnbildung ml»: • 
bleiben massenhafte Sinnestäuschungen mit phantastischen Konfabulat:* 
und wechselnden Wahnvorstellungen. Manchmal bricht im Defektstadium 
weiter fortgesetztem Alkoholmißbrauch wieder eine halluzinatorische Psyti' 
aus, die dann chronisch wird. Bei allen diesen Fällen war degenerative Anh- 
Senium praecox oder Arteriosklerose nachzuweisen. 

Ehmsen (35) beschreibt ausführlich einen Fall von Korsakourschem Sn- 
ptomenkomplex bei einem Alkoholisten, die Erscheinungen besserten sich : 
Ausnahme der Gedächtnisstörung. 

In den 5 Fällen von Korsakow, die Rollmann (102) in der Bonner H ■ 
beobachtete, war nur dreimal chronischer Alkoholismus, ferner einmal Lues l 
einmal Senium als ätiologisches Moment nachzuweisen. Alkohol und Lues in 
Anamnese lassen die Prognose nicht immer ungünstig erscheinen. Die neuriti?r:•: 
Erscheinungen waren sehr verschieden stark ausgeprägt. RoUmatm schließt - 
der Ansicht von Meyer und Raecke an, daß der Korsakowsche Symptomenkm 
keine Krankheit sui generis ist. 

Fränkel (45) beschreibt das Auftreten des Korsakow&chen Sympter 
komplexes nach Strangulations versuch bei einer 36jährigen 1: 
die schon vorher katatonische Symptome darbot. Die amnestischen Störu:-' 
bestanden noch vier Monate nach dem Suizidversuche. Fr. nimmt an. dat 
Gedächtnisstörungen nach Strangulation ebenso wie die nach Gehimerschüttrr. - 
und Kohlenoxydvergiftung auf eine organische Schädigung des Gehirns xun. ■ 
zuführen sind. 

Sarieschi (105) beschreibt den Hirnbefund bei einem unter dem kliiuK 


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Peretti, Intoxikations-Psychosen. 


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Bilde der Korsakotcschen Psychose gestorbenen 68jährigen Alkoholisten, wobei 
iine Veränderung der weißen Hirnsubstanz auffallend war. 
Diese war charakterisiert durch rötlich bis schmutziggraue Verfärbung der beider- 
teitigen Irradiationszentren, Degeneration der Nervenfasern, progressive und 
regressive Prozesse der Neuroglia, Gefäßneubildung und Anhäufungen von Körnchen- 
sellen. 

Einsler (36) beschreibt den ungewöhnlichen Fall einer doppelseitigen Ra« 
iialislähmung auf alkoholischer Basis als Hauptsymptom 
üner Polyneuritis, die sich auch in leichten ataktischen und neuralgischen Er¬ 
scheinungen an den Beinen bemerkbar machto. 

Austregesilo (4) beobachtete bei einem 12jährigen brasilianischen Knaben 
•ine Polyneuritis scorbutica, wobei als frühzeitiges Symptom ein 
ikneförmiger Ausschlag und eine ausgesprochene Steigerung der Sehnenreflexe 
uiffielen. A. glaubt, daß manche vermeintliche Beri-Beri-Epidemien in Wirk- 
ichkeit Epidemien von Polyneuritis scorbutica seien. 

d) Morphium, Opium, Kokain. 

Dornblüih (33) wandte anstelle der von ihm mit Erfolg erprobten Opiumkur 
>ei Morphiumentziehung das neue Mittel Pantopon in 5 Fällen an 
ind empfiehlt es sehr, besonders weil es von vornherein völligen Verzicht auf 
Morphium gestattet und anfangs subkutan angewandt werden kann. Die gleich- 
leitige innerliche Darreichung von Pantopontabletten macht schon nach einigen 
Tagen die Injektionen entbehrlich, allerdings unter Umständen bei einer Stei¬ 
gerung bis zu 30 Tabletten von je 0,01 in 24 Stunden. Das Pantopon läßt sich 
•benso wie das Opium leicht und in kurzer Zeit entziehen, ohne daß wieder Ver- 
angen nach Morphium auftritt. 

Juliusburger (71) hat bei Morphiumentziehung statt des von ihm früher 
gereichten Trional in einigen Fällen A d a 1 i n gegeben und erblickt in ihm ein 
lehr zweckmäßiges Mittel zur Bekämpfung der lästigen Unruhezustände und der 
quälenden Organgefühle. Adalin in Verbindung mit Trional, Veronal oderMedinal 
•rwies sich sehr wirksam gegen die hartnäckige Schlaflosigkeit der Morphinisten. 
Vuch hält J. das Adalin für sehr geeignet, neben Bäderbehandlung die Angst- und 
Jnruhezustände, sowie die Schlaflosigkeit mancher Alkoholiker bei Entziehung 
les Alkohols günstig zu beeinflussen. 

Schröder (111) spricht sich gegen die im Laufe der Zeit hervorgetrene starke 
Überschätzung der Gefahren einer plötzlichen Ent¬ 
lieh u n g von Morphium aus und zeigt an der Hand von sechs Krankenge- 
chichten aus der Breslauer Klinik, in der in den letzten Jahren die Mehrzahl der 
Morphinisten, einschließlich der körperlich reduzierten und der gleichzeitig an 
:ürperlichen oder nervösen Erkrankungen leidenden, vom Tage ihrer Aufnahme 
in kein Morphium erhält, daß die plötzliche Entziehung erhebliche oder gar be- 
Irohliche Erscheinungen zum mindesten nicht im Gefolge zu haben braucht. Ein 
inangenehmer Zustand von Unbehaglichkeit, Schlaflosikeit, Frösteln, gelegent- 
ichem Erbrechen usw. dauerte nur 3—6 Tage und war nicht erheblich. Zur Er- 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXIX. Lit. g 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


leichterung dieser Beschwerden dienten in den ersten Tagen kleine Dosen von 
Schlafmitteln: Veronal 0,6, Trional 1,0 mehrmals täglich, einige Gramm Brom¬ 
kalium, 1 mg Hyoscin, 5 g Paraldehyd. Überwachung der Herztätigkeit und des 
Allgemeinzustandes ist das Wichtigste. 

Dupouy (34) schließt aus den Werken und Briefen des Dichters Edgar Poe , 
daß dieser nicht nur ein Alkoholist infolge periodischer Erregungen war, sondern 
auch dem Opiummißbrauch verfallen war, daß aber die Gifte keineswegs günstig 
auf Inspiration und Produktion, vielmehr zerstörend auf sein Gehirn eingewirkt 
haben. 

Eigier (69) bespricht die nicht häufig zu beobachtende chronische Ko¬ 
kainintoxikation und führt die Krankengeschichte eines 26jährigen 
Zahnarztes an, der stark nervös veranlagt, sich subkutan Kokain beibrachte und 
die Tagesdosis von 0,1 binnen zwei Monaten auf 4—6 g steigerte. Nach einem 
Vorstadium von Schlaflosigkeit, Zittern und Parästhesien bekam er innerhalb 
drei Wochen zwei Anfälle, die einer akuten halluzinatorischen Alkoholpsychose 
ähnlich sahen, als solche mit Morphium behandelt wurden und nach einigen Stunden 
vollständig geschwunden waren. Abgesehen von der später eruierten Anamnese 
wiesen auf das Bestehen einer Kokainvergiftung hin: die zahlreichen Spuren von 
Injektionsstichen mit der für Kokaininjektionen charakteristischen braunschwarzen 
Verfärbung, ferner das Magnansche Zeichen, die eigentümlichen Parästhesien 
am Rumpf, als ob Fremdkörper unter der Haut wären, und die Art des psychischen 
Anfalls, der sich vom Alkoholrausch, den der Patient kannte, dadurch unter¬ 
schied, daß dem Kokainrausch ein gehobenes Selbstgefühl vorausging, dem eine 
schwere Dyspnöe mit Angstgefühl folgte, und daß Pat. bei dem Kokainrausch, 
solange er bei Bewußtsein blieb, logisch denken konnte, während er bei erhaltenem 
Bewußtsein im Alkoholrausch ziemlich zerfahren, ideenflüchtig und kritiklos war. 
Die günstige Wirkung des Morphiums, das bekanntlich die alkoholischen Delirien 
wenig beinflußt, aber Antidot für Kokain ist, spricht auch für die Kokainätiologie. 
Schließlich betont H. noch die Gefahr des Selbstmords bei Kokainintoxikation 
infolge der angstvollen Halluzinationen. 

e) Tabak. 

Bresler (17) widmet das erste Kapitel seiner auf mehrere Hefte berechneten 
„literarischen Studie über den Tabak in medizinischer Beziehung“ den Geistes¬ 
störungen und Nervenkrankheiten nach Tabakmi߬ 
brauch und gibt die wichtigsten Fälle aus der Literatur ausführlich wieder. 
Die Ausbeute an ausgesprochenen Psychosen ist eine geringe, die Jahresberichte 
der Irrenanstalten erwähnen nur selten einen Fall von Geisteskrankheit infolge 
chronischen Tabakmißbrauchs und so erscheint es erklärlich und berechtigt, wenn 
an diesen ursächlichen Zusammenhang und das Vorkommen von Nikotinpsychosen 
überhaupt nicht recht geglaubt wird. Des weiteren bespricht Bresler die Tabaks¬ 
amblyopie, die Erkrankungen des Gehörorgans, des Herzens und Gefäßsystems, 
sowie die Verdauungsstörungen bei Tabakmißbrauch. 

v. Frankl -Hochwart (46) referiert auf der Jahresversammlung deutscher 


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Peretti, Intoxikations-Psychosen. 


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Nervenärzte an der Hand des großen Materials von 670 Rauchern (unter 
800 Männern) über die bei ihnen vorgekommenen nervösen Erkrankun¬ 
gen. Unter den zerebralen Symptomen allgemeiner Natur fand sich Kopfschmerz, 
meist in Form eines Druckes, hier und da auch echte Migräne, ferner Kopfsausen, 
Erschwerung des Einschlafens und unruhiger Schlaf, Stimmungsanomalien im 
Sinne der Depression und Ängstlichkeit, einige Male abnorme Reizbarkeit, Agora¬ 
phobie oder Zwangsvorstellungen. Etwa 60 Kranke klagten über Gedächtnis¬ 
defekte. Einige Male, bei sehr starken Rauchern, kam eine mäßige geistige Schwäche 
schon um das 60. Jahr vor und zwar Verkleinerung des geistigen Horizonts und 
deutliche Abnahme der Energie, v. Fr. sah zwei Fälle von Amentia und einen 
Fall von Paranoia bei starken Rauchern und hält die Möglichkeit eines Zusammen¬ 
hangs zwischen Nikotinismus und Psychose für gegeben, wenn sich auch ein Voll¬ 
beweis dafür nicht erbringen läßt. Vorübergehende Bewußtseinsstörungen und 
Synkopen kommen bei schweren Rauchern anerkanntermaßen vor, Frühapoplexien 
sind infolge der durch Nikotin veranlaßten Arteriosklerose nicht selten. Für Epi¬ 
lepsie ist Nikotin nur als veranlassendes Moment zu bezeichnen. In zwei Fällen, 
bei einem 67jähr. anstrengend arbeitenden Juristen, der bis 14 Havannazigarren 
am Tage rauchte, und bei einer 24jähr. Artistin, die als Trick aus einer eigens dazu 
gebauten Vorrichtung 120—200 Zigaretten auf einmal in drei Minuten ausrauchte, 
fanden sich meningitische Symptome (Kopfschmerzen, Brechreiz, Verwirrtheit). 
Man kann von einer Nikotin-Meningitis sprechen, das Krankheitsbild scheint dem 
der Meningitis serosa nahezustehen. Von Herd- und Hirnnervensymptomen sind 
am interessantesten die aphasischen Komplexe, die Meniire sehen Symptomkom- 
plexe, die Nikotinamblyopien. Ob Pupillenstarre eine Teilerscheinung des Niko¬ 
tinismus sein kann, läßt sich mit Sicherheit nicht behaupten. Neuralgien sind bei 
Rauchern nicht selten. Bezüglich der Annahme einer Nikotin-Polyneuritis drückt 
sich Verf. vorsichtig aus, er stellt sie als möglich hin. Daß der Nikotinabusus bei der 
Ätiologie des intermittierenden Hinkens von Bedeutung ist, erscheint nach den 
Untersuchungen Erbs u. a. sicher. Nach Erwähnung der nervösen Affektionen 
der inneren Organe, von denen bekanntlich das Herz früh in Mitleidenschaft ge¬ 
zogen wird, bespricht Verf. zum Schluß seines Referats die Verbindung des Niko¬ 
tinismus mit anderen Vergiftungen: Alkohol, Diabetes und Lues. Unter Neur¬ 
asthenie-Luetikern waren doppelt soviel starke und sehr starke Raucher als unter 
normalen Menschen, unter den Fällen von echter Nervenlues waren 40,6% und 
bei den Fällen von Metalues (Tabes und Paralyse) 33,6% starke Raucher gegen¬ 
über 18,6% unter normalen Menschen. 

AIb Mitreferent sprach auf der Versammlung der Pharmakologe Fröhlich 
(48),' der die körperlichen Erscheinungen der Nikotinvergiftung als das Resultat 
einer Erregung des vegetativen Nervensystems bezeichnet. 

Löwy (79) beschreibt acht Fälle von unbestimmtem Beobach¬ 
tungswahn, diffuser Eigenbeziehung; die Kranken fühlen sich allgemein 
angeschaut und beredet und suchen und finden hinter allem etwas, „was einen 
angeht“, haben unbestimmte Angst und das Gefühl erhöhter Importenz. Die 
Zustände sind zu unterscheiden von dem zirkumskripten Beziehungswahn mit dem 

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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


auf ein Thema dirigierten Gedankengang (Querulantenwahn etc.). Exzessive 
Raucher, Meteorismusträger, Dyshumorale Hysterische und andere Neuropathen 
zeigen aus dem geschilderten Gemütszustand heraus diesen diffusen Beobachtungs¬ 
wahn. Der erste Fall Lötoys betrifft einen 26jähr. neurasthenischen Lehrer, der durch 
Rauchexzesse kongestive Unruhe- und Angstanfälle mit diffusem Beob¬ 
achtungswahn bekam, aber später auch in ruhigen Zeiten die Idee hatte, die Leute 
sähen ihn an und redeten über ihn (subakute Raucherparanoia). Hach Rauch¬ 
entziehung Rückgang der Unruhe und des Beobachtungswahns in wenigen Wochen. 
Auch im zweiten Falle lag wahrscheinlich „Raucherangstneurose“ 
vor, während in den anderen Fällen Nikotin keine Rolle spielte. 

Pel (92) beschreibt den seltenen Fall einer Tabakspsychose bei 
einem dreizehnjährigen, in einer Zigarrenfabrik beschäftigten, nicht erb¬ 
lich belasteten Knaben, der täglich 10—20 Zigarren rauchte. Die Psychose 
äußerte sich in Schlaflosigkeit, Veränderung des Wesens (Ungehorsam und Launen¬ 
haftigkeit im Gegensatz zu früherer Liebenswürdigkeit), Nachlaß des Gedächt¬ 
nisses, Unorientiertheit, Sinnestäuschungen und hochgradigem Wechsel zwischen 
heiterer Erregung mit Pfeifen und Singen und Depression mit Weinkrämpfen 
und Benommenheit. Die Prognose hält Pel für günstig. 


f) Andere Gifte. 

Kanngießer (72) nahm experimenti causa zehn reife Beeren einer wild ge¬ 
wachsenen Atropastaude und studierte an sich die Giftwirkungen, die sich 
schon nach 7 Minuten zuerst durch Schwindel zeigten. Neben Pupillenerweiterung, 
Akkommodationsstörungen, Trockenheit im Halse und zunehmendem Schwindel 
traten etwa 10 Stunden nach der Giftaufnahme psychische Störungen auf: hastiges 
Sprechen, Exaltation, Somnolenz und lebhaftes Phantasieren. Am folgenden 
Tage mit beginnender Besserung machte sich auffallende Gedächtnisschwäche 
für die ailemächstliegende Vergangenheit bemerkbar in Art des Eorsa&otcschen 
Symptoms, beim Sprechen war der Hauptsatz vergessen, wenn der Nebensatz 
folgen sollte. Auf einem Spaziergang wurden Steine, Bäume usw. für Tiere und 
Menschen gehalten, die Illusion aber bald als solche erkannt. Diese Gesichts¬ 
täuschungen, die übrigens nur einige Stunden anhielten, hingen wohl ebenso wie 
das vorübergehend aufgetretene Sehen von Regenbogenfarben um die Gegenstände 
mit der Mydriasis zusammen. 

Die Vergiftungspsychose nach dem Genuß eines Infuses von 12 g Radix 
hyoscyami nigri, die Sieberl (112) bei einem 43jährigen Manne beob¬ 
achtete, glich ganz einer Atropinvergiftung und stellte sich dar als Verwirrtheits¬ 
zustand mit motorischer Unruhe, massenhaften beängstigenden Gesichtstäuschungen, 
erweiterten Pupillen, Trockenheit im Halse, beschleunigtem Puls und taumelndem 
Gang. Der Zustand blaßte innerhalb eines Tages langsam ab und ließ einen Er¬ 
innerungsdefekt für die Erregung zurück. Trockenheit im Halse, Schwindel und 
Zittern der Extremitäten blieben noch bis zum dritten Tage bestehen. 

Möller (85) stellt die Ansichten der Autoren über die Psychosen infolge 
Schwefelkohlenstoff Vergiftung zusammen, er betrachtet die 


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Peretti, Intoxikations-Psychosen. 


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’sychose entgegen dem ablehnenden Standpunkt KraepeUns in vielen Fällen als 
rahre Giftwirkung. Die Erscheinung der Schwefelkohlenstoffpsychose ist gewöhn- 
ich die einer Paranoia hallucinatoria acuta im Sinne Ziehens oder einer Demenz, 
Lie sich meistens entwickelt, wenn häufig Rauschzustände vorausgegangen sind. 

Hoffmann und Marx (60) nehmen in einem Falle, wo ein Mann einige Stunden 
tach dem Tode seiner Frau sich und seinem Pflegekinde Schnittwunden beibrachte, 
tnd den Gashahn öffnete, wodurch das Kind starb, als Grund für die bezüglich 
ler Tat bestehende Amnesie die Kohlenoxydvergiftung an, da sich 
n der Literatur Fälle von retrograder Amnesie nach Kohlenoxydvergiftung 
inden. Leppmann sprach sich im Hinblick auf Anfälle von Bewußtlosigkeit bei 
Mutter und Bruder und auf einen früher bei dem Manne beobachteten Ohnmachts- 
infall für das wahrscheinliche Bestehen eines epileptischen Dämmerzustandes zur Zeit 
der Tat aus. 

Ueydner (58) beobachtete bei einem 20 Jahre alten, an Influenza erkrankten 
Schüler nach 6—7 ccm Digalen eine Vergiftung, die nach 34 Stunden voll 
ausgebildet war und sich in heftigem Singultus, gegen den nur Morphium half, 
Verlangsamung des Pulses bis auf 30 Schläge in der Minute, Nierenreizung und 
Verwirrtheitszuständen mit motorischer Unruhe äußerte. Diese bedrohlichen 
Symptome gingen innerhalb 6 Tagen zurück und für diese Tage bestand Amnesie. 
Schwerhörigkeit und Sehstörungen, als ob die Gegenstände wie durch einen Schleier 
und in rotem Licht gesehen würden, dauerten noch einige Tage länger an und 
erst nach drei Wochen war die Pulszahl wieder normal. 

v. Hueber (66) führt einen Fall von Adalinvergiftung an. Eine 
32jähr. Frau nahm in etwa einer Stunde 18 Tabletten von je 0,6 Adalin in kaltem 
Wasser; es folgte ein SOstündiger regungsloser Schlaf, keine Puls- und Atem¬ 
störungen, kein Exzitationsstadium, keine Pupillenstörungen. Im Urin war kein 
Eiweiß und kein Zucker. Noch 3 Tage war die Muskulatur mit Ausnahme der 
Beine schmerzhaft, dann vollständiges Wohlbefinden. 

g) Pellagra, Ergotinismus. 

Flinker (41) bespricht die Pellagra als Volkskrankheit mit 
Bezug auf die österreichischen Verhältnisse. In Tirol schätzt man die Gesamt¬ 
zahl der Pellagrö3en auf 6000—6000. Die toxische Substanz, die Pellagra ver¬ 
ursacht, ist nach Tierexperimenten allem Anschein nach der normale Maisfarb¬ 
stoff. Die zum Ausbruch der Krankheit notwendige Disposition wird gegeben 
durch dürftige Nahrung, unhygienische Wohnungsverhältnisse und Alkoholmi߬ 
brauch. Als Bekämpfungsmittel dieser Volkskrankheit ist anzustreben: möglichst 
Einschränkung des Maisgenußes, Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse, 
Errichtung von Pellagrahilfsstellen. 

Babcock (6) weist nach, daß die Pellagra in den Vereinigten Staaten von 
Nordamerika seit einigen Jahren in epidemischer Form auftritt. Er schätzt 
die Zahl der Erkrankungen in den letzten fünf Jahren auf wenigstens 6000. In 
den Südstaaten, wo Mais in großen Mengen angebaut wird, finden sich natürlich 


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258* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


die meisten Erkrankungen, aber auch in den Mittel- und Nordstaaten tasse 
vereinzelte Fälle vor. 

Eine für Pellagra charakteristische Psychose gibt es nicht. Die versete« 
sten Formen werden beobachtet von der einfachen Depression bis zur tief« V*- 
blödnng. Babcock unterscheidet eine akute, fieberhafte und eine chronische Fons. 

Bemerkenswert sind die häufigen Selbstmordversuche bei Pellagraknü* 
und ihre Neigung zu kriminellen Handlungen,Mord,Kind estötung, Brandstifnus t* 

((7eC«T-Grafenbert ., 

Perry (94) schildert zwei Fälle von Pellagra aus Kansas und bringt de 
Beweis, daß die Pellagra sich nicht mehr auf den Süden der Vereinigten Saite 
beschränkt. Beide Kranke starben. Ein Fall bot monatelang das Bild eins zsü- 
tiplen Neuritis. Auch wurden hohe Temperatursteigerungen beobachtet, währ-K 
ja im allgemeinen die Pellagra ohne Fieber verläuft. 

(G eifer-Grafenber. 

Morpurgo (89) machte Assoziationsversuche an 25 pellagrösen und r 5 
gesunden ungebildeten Landleuten, Arbeitern usw. und fand, daß in dem tky**- 
siven Stadium der Pellagrapsychose ohne Verwirrtheit die Reaktionszeit« r- 
länger waren, als bei geistig Gesunden, daß bei den Pellagrösen die innn-ad» 
Assoziationen vorherrschten und daß Affekte bei den Pellagrösen einen pH« 
Einfluß auf die Assoziationsvorgänge ausübten sowohl durch Verlängerung « 
Assoziationszeiten, als auch durch Neigung zum Perseverieren. 

Die Arbeit von Saunders (106) macht auf die häufigen gynäkologische 
Befunde bei Pellagra aufmerksam. Bei weiblichen Pellagraknü^ 
wurden fast stets Menstruationsstörungen beobachtet, und zwar neigten die siet 
verheirateten zu Amenorrhoe, Frauen, die mehrmals geboren hatten, dagegen s 
Menorrhagie. Auch fanden sich häufig Vulvitis, Vulvovaginitis, Zervikalkaun 
Endometritis und Ovarialneuralgie. 

Häufig wird von Chirurgen und Gynäkologen das Grundleiden überahr. 
und in manchen Fällen, die sich für chirurgische Behandlung nicht eignen, fpr 
rativ vorgegangen. (Geüer-Grafenberz.) 

Pighini und Ravenna (95) bekämpfen auf Grund ihrer Untersuchung« i* 
von Cent vertretene Ansicht von dem Einfluß der Jahreszeiten auf die Giftigker 
der Kulturen von Aspergillus fumigatus. 

Gourewiisch (52) beschreibt 17 Fälle psychischer Erkrankungen, die auf d* 
Boden einer Ergotinvergiftung entstanden sind. Die Erkrankten er¬ 
hörten zumeist dem armen und unwissenden Volksstamm der Korelen an. I*» 
nach der Vergiftung beobachteten Krämpfe verschwanden beim Ausbruch de 
Psychose. Was den Charakter der Psychose anbetrifft, so kann — nach dem V«t - 
nicht nur von einer ätiologischen, sondern gewissermaßen auch von einer klx- 
schen Einheit gesprochen werden. Das Krankheitsbild hat manche Berührung 
punkte mit dem epileptischen Dämmerzustand, aber auch mit den durch Alkebv 
intoxikation hervorgerufenen Psychosen. Es wurden Illusionen, HaUuzinaric&s 
sowie Störungen der Gefühlssphäre beobachtet. Bei einigen Kranken trat motorisch 
Unruhe in den Vordergrund. Ferner werden Dämmerzustände, Herabsetzac 


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Peretti, Intoxikations-Psychosen. 


259* 


es Intellekts and einige psychische Symptome verzeichnet. Im Verlaufe der 
Krankheit sind mehrfache Remissionen and Exazerbationen vorgekommen, 

(Fleischmann-Kim.) 

Jdhrmaerker (69) hat über 108 Fälle aus der oberhessiscehn E r g o t i s - 
lusepidemie von 1865/56 Erhebungen angestellt, deren Resultate er des 
äheren anführt. Auch für diese Epidemie ist die von Tuczek in der Frankenberger 
Epidemie von 1879/80 nachgewiesene Hinterstrangerkrankung anzunehmen. 
)ie Mortalität betrug bei den 108 Fällen 21, darunter bei 35 Kindern unter 10 Jahren 
8. Rund die Hälfte der Überlebenden waren bestimmt nicht genesen. Idiotie 
nd zum Tode führende Epilepsie zeigte sich selten, in der Hauptsache blieb eine 
.Ergotismuskonstitution“: krampfartige Erscheinungen, migräneartiger Kopf- 
chmerz, Schwindelgefühle, Ohnmachts- und Krampfanfälle epileptischen Cha- 
akters, Reizbarkeit, Verstimmungen, Angst- und Dösigkeitszustände. Dafür, 
laß die Nachkommenschaft früherer Ergotismuskranker eine auf den Ergotismus 
;urückzuführende vererbte Minderwertigkeit gezeigt hätte, ließen sich keine 
;icheren Anhaltspunkte gewinnen. Von Erkrankung der durch ergotismuskranke 
Mütter gestillten Kinder wurde nichts bekannt. 

h. Infektionskrankheiten. 

Siemerling (113) bringt in seinem Vortrag über Infektions- und autotoxische 
Psychosen eine gute Schilderung der Fieberdelirien und der akuten halluzina¬ 
torischen Verwirrtheit, der Amentia, die den Haupttypus der Infektionsspychosen 
darstellt, und geht auch auf die neueren Beobachtungen über pathologisch- 
anatomische Befunde im Gehirn, Zellveränderungen, Wucherung der Glia, 
Bakteriensicdlungen ein. 

Köhler (76) hat sich schon verschiedene Male mit dem Thema: Tuber¬ 
kulose und Psyche befaßt und kommt zu dem Schlüsse, daß es eine gene¬ 
relle Tuberkulosepsychose nicht gibt, daß aber die Psyche des Tuberkulösen in zahl¬ 
reichen Fällen eine psychasthenische Tendenz verrät. Die psychischen Aberrationen 
"bei der Tuberkulose bestehen in auffallender Labilität der Stimmung, fehlender 
Übereinstimmung der seelischen Empfindung und Vorstellung mit dem jeweiligen 
körperlichen Zustande, mangelnder Urteilsfähigkeit bezüglich des körperlichen 
Leidens, Entwicklung einer egoistischen Gefühlsrichtung bis zur Rücksichtslosig¬ 
keit höchsten Grades. Die erhöhte libido sexualis ist keine Regel, aber ebenso¬ 
wenig eine Ausnahme; individuelle Momente, untätige Lebensweise, Mangel an 
körperlicher Übung, Verkehr mit jungen, nicht selten schwärmerischen weiblichen 
Lungenkranken in Kurorten usw. spielen dabei zweifellos eine Rolle. „Die Psy¬ 
chose der Tuberkulösen scheint im Grunde genommen durch eine Steigerung der 
Temperamente und zwar nicht selten in einem eigenartigen Wechselspiele der¬ 
selben, in einem auffallend schnellen Ablaufe der Reizreaktionen, in der 
Signatur einer Intellekt- und Gefühlsschwäche charakterisiert zu sein“. 

Damaye (30) sah bei einer 26jährigen Tuberkulösen einen Zustand ä n g s t- 
licher Verwirrtheit unter Darreichung von „aliments vivants“ (rohes 
Fleisch, Milz und Knochenmark) parallel mit der Heilung der Lungentuberkulose 


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260* Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 

in Genesung übergehen and weist darauf hin, daß auch in diesem Falle, wie be. 
anderen toxisch-infektiösen Psychosen mit der Besserung eine beträchtliehr Ver¬ 
mehrung der eosinophilen Zellen im Blute einherging. 

Damaye und Desruelles (31) folgern aus der Beobachtung und dem Obdn 1 - 
tionsbefund bei einer 32jährigen Tuberkulösen, bei der sich auf degenearr* 
Basis eine Manie, gefolgt von depressivem Stadium, entwickelt hatte, daß d» 
Tuberkelgift eine Rolle in der Genese der manischen Erregung und <k 
gefundenen beginnenden Encephalitis gespielt hat und daß bei Gehimprozessi 
toxi-tuberkulösen Ursprungs perivaskuläre Entzündung im thalamus opnnt 
die sich auch in anderen Fällen von Psychosen bei Tuberkulösen gefunden ha 
nicht selten zu sein scheint. 

Leschke (78) beobachtete bei sich selbst nach Untersuchung mit Anflösnorr 
von Tuberkelbazillen auf ihre Riechstoffe eine akute Yergütssr 
Schüttelfröste, Temperatursteigerung bis 39°, Kopf- und Gliederschmerzen, so»* 
Benommenheit, Verwirrtheit mit starker Unruhe und Erregung. Erst nach c* 
Tagen waren die Symptome verschwunden. Diese Riechstoffvergiftung 
L. als eire spezifische Überempfindlichkeitsreaktion, die aber von der eigentfr“'. 
Tuberkulinreaktion sensu strictiori als besondere Erscheinung zu trennen ist. 

Koch (74) beschreibt zwei Fälle von Psychose beiEarzinomkachci 
als gemeinsame Symptome bei diesen sowie bei den sonst in der Literatur z 
findenden Fällen hebt er hervor: den Wechsel in der Stimmung, in dem HriL 
keitsgrade des Bewußtseins und in dem motorischen Verhalten, das Anim” 
von Sinnestäuschungen und Verwirrtheit, sowie das vorgerückte Alter der hoc 
gradig kachektischen Kranken und den Beginn der Psychose, die als eine Ast - 
intoxikation aufzufassen ist, etwa zwe ; Monate vor dem Tode. 

Aus Beobachtungen Curschmanns (29) geht hervor, daß bei drohen*: 
Urämie schon vor dem Eintritt dec sensoriellen Trübung undauchvor derpn 
urämischen Sehnenreflexsteigerung das Babinski&che Phänomen zur Erscheint* 
kommen kann und daß manc hma l unter Erlöschen der Sehnenreflexe di*" 
Phänomen sogar das einzige Symptom des präurämischen und urämischen kor* 
kalen Hemmungsfortfalles bleibt. 


8. Organische Psychosen. 

Ref. M a t u s c h, Sachsenberg. 

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Hatasch, Organische Psychosen. 


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84. Jeüiffe, 8. E., Franciscus Sylvius. Proceedings of the Charaka 

club vol. III. (S. 304*.) 

85. JeUiffe,S.E., and Brill, Statistical summary of cases in department 

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The journ. of nerv, and ment, disease, July. (S. 301*.) 

86. Jentseh, E., Su alcune nuove ricerche concementi il rilievo esterno 

cranico delle circonvoluzioni cerebrali. Arch. di psichiatr. 
vol. 4, H. 5. (S. 291*.) 

87. Jones, E., Syphilis of the nervous System. Interstate raed. journ. 

vol. XVI11, no. 1. (S. 278*.) 

88. Jorgensen, A., Ein Fall tödlicher Arsenikvergiftung bei Behand¬ 

lung von Gehirnsyphilis (Dementia paretica) mit Ehrlich- 
Hata 606. Med. klin. Nr. 10. (S. 285*.) 

89. J üsgen, Ein Fall von progressiver Paralyse im Anschluß an Un¬ 

fall unter den Anfangserscheinungen der Hysterie. Neurol. 
Ztrlbl. Nr. 5. (S. 276*.) 

90. Jurmam, N. A., Über die Behandlung der progressiven Paralyse 

durch Injektionon von nukleinsaurem Natrium. Busski 
Wratsch 1911, Nr. 46-47. (S. 283*.) 

91. KircKhoff, Ist die Paralyse eine moderne Krankheit? Eine 

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92. Klieneberger, 0. L., Zur differentialdiagnostischen Bedeutung der 

Lumbalpunktion und der Serodiagnostik. Arch. f. Psych. 
Bd.48, H.l. (S. 277*.) 

93. Klieneberger, 0. L., Die Behandlung der progressiven Paralyse 

mit Natrium nucleinicum. Berl. klin. Wschr Nr. 8. (S. 283*.) 

94. Knapp, Ph. C., The early Symptoms of general paralysis. The 

journ. of nerv, and ment, disease. September 1911. (S. 276*.) 

95. Krause, F., Chirurgie de3 Gehirns und Bückenmarks nach eigenen 

Erfahrungen. Bd. II. Mit 122 Fig. im Text, 36 färb, und 
1 schwarzen Taf. 828 S. Berlin-Wien, Urban u. Schwarzen¬ 
berg. (S. 295*.) 

96. Kümmel'l, R., Zur Kenntnis der Geschwülste der Hypophysen¬ 

gegend. Münch, med. Wschr. Nr. 24. (S. 292*.) 

97. LäbbS, H., et GaUais, A., Le3 öchange3 urinaires chez quelques 

paralytiques gönöraux. Presse möd. no. 4, janvier. (S. 282*.) 

98. Ldbbe, H., et GaUais, A., Urologie des paralytiques gönöraux: 


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UNIVERSITY OF MICHIGAN 



268 * Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 

Ie3 6change3 urmaires chez quelques paralytiques genermi 
aux trois pSriodes classiques et ä la Periode pre-mort4. 
Rev. de psych. tom. 15, no. 2, fävrier. (S. 282*.) 

99. Ladame, Ch., Le tabes traumatique. L’encöphale, mar? 19i*. 

(S. 276*.) 

100. Ladame, Ch., L’aortite moyenne gomraeuse ou mßsaortite m- 

meuse. Nouv. iconogr. de la Salpetridre, novembre-decemli:. 
(S. 276*.) 

101. Ladame, Ch., Paralysie g6n6rale, Syphilis c6r6brale diffus 

psychose art6rioscl6rotique. Rev. m&L de la Suisse romanc 
no. 4, 20 avril. (S. 277*.) 

102. Ladame, Ch., Encore un mot sur la paralysie g6n6rale. syphiR 

c6r6brale, psychose art6rioscl6rotique. Rev. suisse de rafi. 
aoüt. (S. 277*.) 

103. Ladame, Ch., Seerose laterale amyotrophique post-traumatiqr 

Rev. suisse des accid. du travail. (S. 302*.) 

104. Lafora, 0. R., Beitrag zur Kenntnis der Alzheimersehen Kra߬ 

heit oder präsenilen Demenz mit Herdsymptomen. i.'l 
1 Textfig. u. 2 Taf.). Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psyer 
Bd. 6, H. 1. (S. 288*.) 

105. Loewenstein, J., Zur Behandlung der progressiven Paralyse r 

Nukleinsäureinjektionen. Berl. klin. Wschr. Nr. 16. (S. 2S3* 

106. Maas, 0., Über eine besondere Form der Encephalopatb 

saturnina. (Meningitis serosa.) Mtschr. f. Psych. u. Neur 
Bd. 30. (S. 303*.) 

107. MaUauschek, E., u. Pücz, Ä., Beitrag zur Lues-Paralyse-Fri 

(Erste Mitteilung über 4134 katamne3tisch verfolgte h 
von luetischer Infektion.) (Vorläufige Mitteilung.) Zw. 
f. d. ge3. Neurol u. Psych. Bd. 8, H. 2. (S. 275*.) 

108. May, J., The laboratory diagnosis of general paresis. A: 

of intern, med., August. (S. 279*.) 

109. Mingazzini, G., Das Linsenkemsyndrom. Klinische und a: 

tomisch-pathologische Beobachtungen. Ztschr. f. dL; 
Neurol. u. Psych. Bd. 8, H. 1. (S. 298*.) 

110. Mingazzini, G., Pathogenese und Symptomatologie der B-■ 

hirnerkrankungen. Ergehn, d. Neurol. u. Psych. R' 
H. 1 u. 2. (S. 293*.) 


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Matuscb, Organische Psychosen. 


269 * 


111. Mochi, A., Le constanti fisico-chimiche del liquido cefalo- 

rachideo paragonate a quelle del siero di sangue. Nota I-II 
liquido cefalo-rachideo normale. Rassegna di studi psichiatr. 
vol. 1, fase. 1. (S. 279*.) 

112. Mönkemöüer , Zur Geschichte der progressiven Paralyse. (Mit 

1 Textfig.) Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. Bd. 5, H. 4. 
(S. 274*.) 

113. Moleen, G. A., Facial hemiatrophy. Journ. of nerv, and ment. 

disease, march. (S. 303*.) 

114. Münzer , A., Die Zirbeldrüse. Berl. klin. Wschr. Nr. 37. (S. 291*.) 

115. Näcke, P., Die Dauer der postmortalen mechanischen Muskel¬ 

erregbarkeit bei chronischen Geisteskranken, speziell Para¬ 
lytikern. Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. Bd. 7, H. 4. 
(S. 277*.) 

116. Niessl von Mayendorf, E., Die aphasischen Symptome und ihre 

kortikale Lokalisation. Mit 51 Fig. u. 7 Taf. 454 S. 32 M. 
Leipzig, W. Engelmann. (S. 297*.) 

117. Niküin, M. P., Salvarsan bei syphilitischen und metasyphili¬ 

tischen Erkrankungen des Zentralnervensystems. ObosreDje 
(Revue) psychiatrii etc., 1911, H. 8 (russisch). (S. 285*.) 

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deutung der „vier Reaktionen“ für die Diagnose und Diffe¬ 
rentialdiagnose organischer Nervenkrankheiten. Deutsche 
Ztschr. f. Nervkrankh. Bd. 42. (S. 278*.) 

119. Oberholzer, E., Zerebrospinalmeningitis als Rezidiv nach Sal¬ 

varsan. Münch, med. Wschr. Nr. 50. (S. 285*.) 

120. Oliver et Boidard, Les 6tats de mal dans la paralysie g6n6rale. 

Rev. de psych., tome 15, no. 2, fövrier. (S. 282*.) 

121. Pach, H., Begutachtung der progressiven Paralyse als Unfalls¬ 

folge. Wien. klin. Wschr. Nr. 32. (S. 276*.) 

122. Pappenheim, M., Über die Polynukleose im Liquor cerebro¬ 

spinalis, insbesondere bei der progressiven Paralyse. (Mit 
einem Beitrag zur Kasuistik der Strangulationspsychosen.) 
Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. Bd. 4, H. 3. (S. 281*.) 

123. Patschke, F., Die Behandlung der Arteriosklerose des Zentral¬ 

nervensystems mit Tiodine. Deutsche med. Wschr. Nr. 33. 
(S. 289*.) 

Zeitschrift für Psychiatrie. LX1X. Lit. t 


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270 * 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


124. PeUizzi, G. B., u. SartescM, U., Le manifestazioni di emilate- 

ralitä, omo- ed eterolaterali nelle deficienze mentali di origine 
meningitica semplice con o senza accessi convulsivi. Annali 
di fren. e scienze affini vol. 20, no. 1. (S. 304*.) 

125. Pesker, D. J., Die Wassermannsche Reaktion in den auf dem 

Boden organischer Himaffektionen entstandenen Psychosen. 
Russki Wratsch 1911, Nr. 27 (russisch). (S. 278*.) 

126. Picz, Klinik der arteriosklerotischen Geistesstörungen. Wien. 

med. Wschr. Nr. 5—8. (S. 286*.) 

127. Redlich, E., und Bonvicvni, G., Weitere klinische und anatomische 

Mitteilungen über das Fehlen der Wahrnehmung der eigenen 
Blindheit bei Hirnkrankheiten. Neurol Ztrlbl. Nr. 5. (S.291*.) 

128. Rogge, H., Über sensorische Aphasie und Geistesstörung bei 

Arterisklerose. Inaug.-Diss. Kiel. (S. 288*.) 

129. Romagna-Manoia, A., Contributo anatomo-clinico allo Studio 

delle vie del lemnisco nell uomo. Riv. sper. di fren. vol. 
XXXVII, fase. 1. (S. 297*.) 

130. Salzer, Fr., Diagnose und Fehldiagnose von Gehirnerkrankungen 

aus der Papilla nervi optici. (Mit 29 Abb. auf 2 färb. Taf.) 
München 1911, J. F. Lehmann. 16 S. 1,50 M. (S. 293*.) 

131. Scheidemantel, E., Erfahrungen über die Spezifität der Wasser- 

maDnschen Reaktion, die Bewertung und Entstehung in¬ 
kompletter Hemmungen. Deutsche Arch. f. kl. Med. Bd. 101. 
H. 5—6. (S. 280*.) 

132. Schnitzler, J. G., Zur Abgrenzung der sog. Alzheimerschen 

Krankheit. Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. Bd. 7, H. 1. 
(S. 288*.) 

133. Schnüzler, J. G., Zur differentialdiagnostischen Bedeutung der 

isolierten Phase-l-Reaktion in der Spinaltlüssigkeit. Ztschr. 
f. d. ges. Neurol. u. Psych. Bd. 8, H. 2. (S. 280*.) 

134. Schob, Ein eigenartiger Fall von diffuser, arteriosklerotisch be¬ 

dingter Erkrankung der Groß- und Kleinhinirinde; para¬ 
lyseähnliches Krankheitsbild. (Mit 1 Schriftprobe, 10 Text¬ 
figuren u. 1 Taf.) Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. Bd. 6, 
H. 1. (S. 286*.) 

135. Schölberg, H. A., and Gooddll, E., On the Wassermann reaction in 

172 cases of mental disorder and 66 control cases, syphilitic 


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Matusch, Organische Psychosen. 


271 * 


and other, with historical survey for the years 1906-1910, 
inclusive: Comments and conclusions. Journ. of ment. 
Science, April. (S. 280*.) 

136. Schönhals, P„ Uber atypischen Ausfall der Wassermann-Reaktion 

bei einem Falle von anatomisch-pathologisch sicherer Para¬ 
lyse. Mtschr. f. Psych. u. Neurol. H. 2. (S. 280*.) 

137. Schröder, Q. E., Beitrag zur Kenntnis der Fischerschen Plaques 

im Gehirn und ihrer klinischen Bedeutung. Ztschr. f. d. 
ges. Neurol. u. Psych. Bd. 5, H. 1. (S. 287*.) 

138. Schlitze, E., Die Erkennung und Behandlung der multiplen 

Sklerose in ihren frühen Stadien. Deutsche med. Wschr. 
Nr. 8—10. (S. 301*.) 

139. Schuppvus, Zur Dienstbeschädigungsfrage bei progressiver Para¬ 

lyse. Deutsche militärärztl. Ztschr. H. 11. (S. 276*.) 

140. Schuppius, Über psychotische Erscheinungen bei Tumoren der 

Hypophyse. Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. Bd. 8, H. 4. 
(S. 293*.) 

141. Siemerlmg, E., u. Raecke, J., Zur pathologischen Anatomie und 

Pathogenese der multiplen Sklerose. (Vorl. Mitteil.) Arch. 
f. Psych. Bd. 48, H. 2. (S.301*.) 

142. Sonntag, E., Neuere Erfahrungen über die Serumdiagnostik der 

Syphilis mittels der Wassermannschen Reaktion. Med. 
Klin. H. 7. (S. 280*.) 

143. Solomin, N., Zur Frage der therapeutischen Wirkung des Sal- 

varsans und seiner Anwendung bei parasyphilitischen Er¬ 
krankungen des Nervensystems. Medizinskoje Obosrenje, 
1911, Nr. 16 (russisch). (S. 283*.) 

144. Spielmeyer, W., Paralyse, Tabes, Schlafkrankheit. Erg. d. Neurol. 

u. Psych. Bd. 1, H. 1 u. 2. (S. 274*.) 

145. Spielmeyer, W., Über die Alterserkrankungen des Zentralnerven¬ 

systems. Deutsche med. Wschr. Nr. 30 u. 31. (S. 286*.) 

146. v. Stauffenberg, Beitrag zur Lokalisation der Apraxie. (Mit 

11 Textfig.) Ztschr. f. d. ges. Neurol u. Psych. Bd. ö, H. 3. 
(S. 299*.) 

147. Stern, F., Über die spezifische Bedeutung der Hamreaktion mit 

Liquor Bellostii bei Paralyse. Münch, med. Wschr. Nr. 9. 
(S. 282*.) 

t* 

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27 2 ? 


Beriefet über die usvefeiaoweh* Lberanir 11*11. 


148. Stefter. Die Bedeutung der LaiuhalpnnktiöH fftr dW PjSOs*/).; 

.; vöö Öebirn- «ad ßack^m^k^kragikbetten, Med, Wm 
>'r. 4 . «S.ä&iM 

X4& 3)r<*mklh E\, u. :lMy y ft* Zar patht'tknmefcen ITift&cHpy k? 

und Meaiftg^veoeti. Wien* med. Wsebr. Sr, k 

" • 0.293*.) ' ■■• 

( 50 . Sf.iidni, H. M.> Über eine angeblich für progreswvi- Paniu* 
charakteristische Reaktion im Harrt (iöit Lbfin.r Beihwu 
Münch, med. Wtfchr. NY. 16. 0. 232*.) 

151. Tonmtfovy, Beitrag ; Äy ; |ffii^Xy^cbna|r«a nur Lic;; ? 
BvHi^tii. Peryth.-neiiruJ. Wsndir. Sr. 51. (S. 282*.» 

lßÖL Tmptti.A, mYIPÄY ft. Besitzt die Urinantersuehntig mit tiqw 
Bcllo-! Ii einen diagwostiscehe« Wert für die. Parilyse? F?y 
oeu'<ii, Wache. Nr. 47. (?. 282*. > 

]53. 0.. u. //er/, .4 Pie klinische Prüfung des Dioxy 

joidvaraenubertzoiv iSalyarsaa 44 genannt. Xaeh eigener, '-g- 
jiihnger Beobachtung und Kriahniag. Munch, natwi. W>; 
Nr. 6 u r\ (S.2S4*.) 

164. Twipel, il , Pie Saltarsan-Therapie bei Lue» des Zemraim : 

bei Tabes und Paralyse. Deutsche med. \W‘r 
Vr/22 fa 284*.) 

165, Tn'nmm. E..\i. Ddhavro,. E. f Über Nenrorczidivc nach Sah r 

speziell PolyneuritB. Münch, med. W T sehr. Kr. 35 ö '■% 
(S, 285*. ) ' 

156, Viilie n Jme, 1?., ttn ca>vv> de paräroy^lonus multiplex, A«i- 
5‘ uertr;»i,. pdquiamtt y fisfotcrapia'tumo 2. nun. 
dnbe. (S, 30-2*.} 

Uh, Vh. .feuUiiseher Beiim' su? Frajge. der Beziehungen zm~ 

üfid Atcb. f. Psyeb. Bd. 48. öt i 

(B. 30b*.i ’ 

tm Lt ub'iul:, AL. ti. Fufjhi Zur Emaolbebandlmjg 1.« , 

s^hiHtiseheii klin. Wsfchr. Nr 

iS: 

159. &£. ifögrbRjfven Parsiph 

.mit Baklfnviiexiet*n. Wien. kj% Wsehr. Nr. 1, (S, 

160. fägfc ft. ’./><• ijuelqties «tt&atwn* Yk iissu r^rebral dttffc 5» • 




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Matasch, Organische Psychosen. 


273 * 


prösence de tumeurs. Nouv. Iconogr. de la Salpetriere. 
(S. 298*.) 

161. Weygandt, Hirngesch wulst und Störung des hinteren Hypo¬ 

physenteils (Hypopituitarismus adiposo-genitalis). Hamb. 
Ärzte-Corresp. Nr. 3. (S. 292*.) 

162. Weü, E.y u. Kafka, V., Uber die Durchgängigkeit der Meningen, 

besonders bei der progressiven Paralyse. Wien. klin. Wschr. 
Nr. 10. (S. 275*.) 

163. Wiener, 0., Die Reaktion des Paralytikerharnes mit Liquor 

Bellostii. Prag. med. Wschr. XXXVI, Nr. 15. (S. 282*.) 

164. Williams, T. A., The clinical diagnosis of early tabes dorsalis 

with negative Wassermann reactions — a case where reaction 
became positive only after salvarsan — comments upon 
salvarsan in pretabetic States. Virginia med. Semi-Monthly, 
April. (S. 280*.) 

165. Williams, T. A., The treatment of „parasyphilis“ of the nervou? 

system in the light of recent research: Paresis and tabes 
dorsalis. Monthly cyclopaedia and med. bull., Dec. 1910. 
(S. 286*.) 

166. Williams, T. A., Poliomyelitis; new facts concerning its etiology, 

early diagnosis and treatment. Monthly cyclopaedia and 
med. bull., Nov. 1910. (S. 303*.) 

167. Willige, H., u. Landsbergen, F., Histologische Diagnose diffuser 

Hirnerkrankungen durch Hirnpunktion. Münch, med. 
Wschr. Nr. 1. (S. 294*.) 

168. Willige, H., Über Paralysis agitans im jugendlichen Alter. 

Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. Bd. 4, II. 4. (S. 304*.) 

169. Witte, F., Ein Beitrag zur Symptomatologie und pathologischen 

Anatomie der Akromegalie. Arch. f. Psych. Bd. 48, H. 1. 
(S. 292*.) 

170. Woskressenski, S., Ein Fall von eigenartiger Mißbildung des 

Kleinhirns nebst anderen Anomalien neben einer chronischen 
Erkrankung des Zentralnervensystems. (Mit 5 Textfig.) 
Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. Bd. 6, H. 1. (S. 294*.) 

171. Yawger, N. S., Indurative headache (Schwielenkopfschmerz) 

with report of three cases. The joum. of nerv, and ment, 
diseases. (S. 304*.) 


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274 * Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 

172. Yawger, N. 8., Colloid bodies in the central Dervous System: 

Their presence after severe traumatism in a case of dementu 
paretica. The journ. of nerv, and ment, diseases vol. 38. 
no. 3. (S. 276*.) 

173. Yawger, N. 8., The gross and histologic Undings in dementu 

paretica. Amer. journ. of insan. no. 4, April. (S. 276*. 

174. Yawger , N. 8., Chronic „rheumatic“ myositis (Muskelschwielen i. 

The Lancet, July 31. (S. 304*.) 

175. Zahn, Th., Über zentrale Störungen der Artikulation. Würrt 

med. Korresp.-Bl. (S. 298*.) 

176. Zipperling, Lues cerebri und Trauma. Neurol. Ztrlbl. Nr. 23 

(S. 276*) 

177. Ziveri, A., Beitrag zur Kenntnis des präsenilen Irreseins. Ztschr. 

f. d. ges. Neurol. u. Psych. Bd. 8, H. 3. (S. 287*.) 

a) Dementia paralytica. 

Zur Geschichte der progressiven Paralyse liefert Mönkemöüer (112) eina 
wertvollen Beitrag. Wenn Verf. auch dem hohen Ziele, aus der Zeitliteratnr rück¬ 
wärts das Auftreten der Paralyse festzustellen, wegen der Dürftigkeit und Uniu- 
verlässigkeit der Quellen entsagen mußte, bringt er im Suchen nach der Wahrter 
viel Interessantes und das nicht geringe Ergebnis, daß die Paralyse in den ihre 
Entdeckung voraufgehenden Jahrhunderten gegen die übrigen Psychosen per 
in den Hintergrund tritt, auch wenn die Fehlerquellen der nachträglichen Diagno* 
noch so hoch in Rechnung gestellt werden. Ein stärkeres Anschwellen scheint sc 
erst am Ende des 18. und Beginn des 19. Jahrhunderts zu zeigen. N imm t nur 
den Begriff der Zivilisation in dem weitesten Sinne neuer und stärkerer Anspruch 
an das Individuum, so kann man auch seinem Schluß zustimmen, daß das An¬ 
wachsen der Paralyse auf die zunehmende Zivilisation zurückzuführen sei. 

Spielmeyer (144) behandelt in einem Sammelreferat die für die Erforsche; 
der Paralyse, der Tabes und der ihnen verwandten Schlafkrankheit wichtig* 
Arbeiten der letzten 6—7 Jahre. Im Kapitel der Histopathologie bespricht ^ 
eingehender die Beziehungen der Psychose zur multiplen Sklerose, die sich in der 
fleckweisen Etablierung des Markschwundes und der dickfaserigen Gliawucheru; 
im Markanteil dieser Herde ausdrücken. Bei der Schlafkrankheit, deren Wes« 
an der Hand meist eigener Arbeiten ausführlicher abgehandelt wird, zeigte aeä 
fleckförmiger Faserschwund in der Rinde nicht. Die neueren Untersuchung» 
8p.s zeigen das Bemerkenswerte, daß zentrale Störungen ähnlich der Parahwl 
und Tabes zu einer Zeit einsetzen. wo Trypanosomen nicht mehr sichtbar n*o| 
zu weisen waren, und nur bei einem kleinen Prozentsatz der Trypanasomentidi 
eintreten. Sp. schließt mit der Hoffnung, daß gerade bei solchen Untersuchung« 
durch systematische chemotherapeutische Bestrebungen im Sinne Ehrhcks cm 
Grundlage für die Vorbeugung der Paralyse geschaffen werden könne. I 


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Matusch, Organische Psychosen. 


275 * 


Mattauschek und Pilcz (107) suchen durch Katanmese von 4134 Fällen 
luetischer Infektion festzustellen, in welchem Prozentsatz die Paralyse ihre Opfer 
fordert. Die Fälle betreffen nur Offiziere. Paralytiker fanden sich darunter 196 
— 4,7%, nach Abzug der in die ersten 9 Jahre nach dem Primäraffekt fallenden 
704 Fälle, unter denen sich 35 Paralytiker befanden, ergab der Best von 3430 Syphi* 
litikem 160 Paralytiker = 4,67%. Auf einer Tabelle sind die Fälle von Gesundheit, 
Paralyse, Tabes, Lues cerebrospinalis, Psychosen und Tod übersichtlich zusammen* 
gestellt, extrem ist darin das Vorkommen von 35 Paralysen innerhalb der ersten 
9 Jahre, die ersten drei im dritten Jahre, ein Fall im 39. Jahre und fünf im 46. bis 
65. Jahre. Die Luetiker mit ungenügender Behandlung stellten 23,23% Para* 
lysen, die mit genügender nur 3,47%, indessen sind in dieser Frage nur die Fälle 
verwertet, deren Behandlungsart sichergestellt werden konnte. Ebenso mußte 
das Material bezüglich des Einflusses der Rezidive auf Paralyse auf 1865 sicher 
ermittelte Fälle beschränkt werden, hier standen 42,53 Paralysen bei fehlenden 
Rezidiven einem Prozentsatz von 1,63% bei wiederholten, 3,57% bei einem 
Rezidiv gegenüber. Daraus geht der Nutzen sorgfältiger chronisch-intermittie¬ 
render Syphilisbehandlung klar hervor. Einfluß der Behandlung auf das Intervall 
zwischen Infektion und Paralyse ließ sich nicht erkennen, aber eine sehr 
bemerkenswerte Verminderung der Disposition zu späterer Paralyse scheint durch 
eine fieberhafte Infektionskrankheit während der ersten Jahre nach der Infektion 
geschaffen zu werden. 

An einem Falle, in dem sich paralytische Veränderungen mit syphilitischen 
kombinierten, erörtert Giljarowshj (60) die Beziehungen der Paralyse zur Gehim- 
syphilis. Neben dem unzweifelhaft der Paralyse angehörigen Befunde der Nerven¬ 
zellen, des Ausfalles der Tangentialfasern, Infiltration von Lymphozyten und 
Plasmazellen bestanden Läsionen syphilitischer Natur: Rarefikation des Gewebes 
um die Gefäße, Verdickung der Gefäßwände und ausgedehnte Verwachsungen 
der Windungen besonders in der rechten Hemisphäre. Da diese Veränderungen 
eine langsamere Entwicklung voraussetzen lassen als die paralytischen, ist zu 
schließen, daß sie den letzteren vorangegangen sind, wie es auch im klinischen 
Bilde erkennbar war, in dem sich zu den anfänglich tabischen Symptomen zunächst 
nur ein auf Himlues deutender Komplex gesellte. Deutlicher Parallelismus des 
Grades beider Befunde sprechen für die innige Verwandtschaft und vielleicht auch 
für den Kausalzusammenhang, das beweise, wo die anatomische Forschung ver¬ 
sagt, die Serologie. 

Weil und Kafka (162) konstatieren mit einer beschriebenen Technik des 
Nachweises der Antikörper in der Zerebrospinalflüssigkeit (und im Serum) daß 
die Permeabilität der Mennigen in der Paralyse erhöht ist, ungefähr auf das Zehn¬ 
fache des Normalen, trotzdem aber finden sich im Liquor noch ungefähr hundert¬ 
mal weniger Hämolysine als im Blute. Das spricht dafür, daß es sich bei der 
Wassermannreaktion im Liquor nicht um bloßen Durchtritt von Antikörpern 
aus dem Blute handelt, sondern auch von Antigenen, durch die sich in dem somit 
von der Säftezirkulation ausgeschlossenen Liquor Antikörper bilden. Da anch bei 
akuter Meningitis die Durchgängigkeit erhöht wird, ist die Methode auch für die 
Diagnose dieser verwendbar. 


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276 * 


Bericht Ober die psychiatrische Literatur 1911. 


Ladame (100) bringt neues Material zu der von ihm beschriebenen Mr<- 
aortitis gummosa, die sich bei Paralytikern in allen Stadien ihm Ent¬ 
wicklung finde. 

Yawger (178) stellt die groben und histologischen Befunde an den Orprrc. 
Paralytischer nach den neueren und eigenen Untersuchungen zusammen. 

Eine andere Arbeit Yawgers (172) behandelt die zuerst von Zenker in kt 
Retina beobachteten Kolloidkörper des Zentralnervensystems, deren Herkunft ta-i 
Bedeutung seither sehr verschieden beurteilt worden ist. Anscheinend stanm«* 
sie vom Myelin markhaltiger Nervenfasern, seltener von Zertrümmerung der Acht¬ 
zylinder und sind durch traumatische oder entzündliche Vorgänge bedingt ft? 
Auffassung als Artefakte ist nicht berechtigt. Bei einem 32jährigen geisteskranbr 
Neger, der nach Kopfverletzungstarb, fanden sie sich sehr zahlreich überall im fohlt 
bis zum Pons, nicht im Kleinhirn und der Medulla, am dichtesten im Chiana. 
Sie hatten einen Durchmesser von 16—25 p, polarisierten nicht, färbten ätä 
am besten mit Toluidinblau oder Thionin, schwach mit Hämatoxylin, nicht nu; 
Jodin und Acid. sulf. Y. meint, dafi ihr Nachweis in mediko-legalen Fragen vo: 
Wert sei 

Zur Frage: Unfall und Paralyse berichtet Pach (121) zwei Fälle; in «ne.-, 
wurde der Zusammenhang mit starker Feuerhitze im Gewerbe abgelehnt, im zweite 
der Zusammenhang einer „im Mai“ konstatierten Paralyse mit einem Sturz As 
Kranken ins Wasser am 2. Mai angenommen: „ohne dieses Trauma wäre höds- 
wahrscheinlich die Syphilis des X. noch lange, vielleicht noch Jahre hindurch 
stationär geblieben.“ (!) 

Schuppius (139) spricht sich vorsichtig über den Einfluß der Dienst b«cfci 
digung auf die Paralyse von Militärpersonen aus. Die Tendenz, einen Zusammen¬ 
hang zu betonen, bestehe deutlich, im Dienst an sich liege keine Ursache, höchste 
die Ursache einer Beschleunigung oder Verschlimmerung. 

In einem von Jüsgen (89) mitgeteilten Falle stellte sich wenige Wochen n*i 
Kopfverletzung ein Symptomenkomplex ein, wie er bei l’nfallsneurasthenik^ 
nicht selten ist: Charakterveränderung bald in Gleichgültigkeit, bald in mri- 
selnden Affekten sich äußernd, nervöse Klagen, hysterische Stigmata, auslösbar 
hysterische Krampfanfälle. W-M im Blute, positive Phase I mit Pleozytose imd 
Luesreaktion im Liquor wiesen auf Paralyse, deren klinische Erscheinungen spät« 
ziemlich plötzlich die hysterischen ablösten. 

In Zipperlings (176) Fall traten eine Woche nach schwerem Kopftnuca 
Symptome einer Hirnlues auf, Infektion vor etwa 3 Jahren, W-M im Blute - 
im Liquor-f, Pleozytose, Nonne-Apelt -f. Nach Traitement mixte verschwand 
W-M im Liquor, die Pleozytose nahm ab, Pat. wurde gebessert entlassen. 

Ladame (99) führt aus, daß vom anatomisch-pathologischen Standpuni* 
eine traumatische Entstehung der Tabes zwar möglich, aber wenig wahrscheinlich 
und noch weniger bewiesen ist. Die Theorie Edingers führt uns darin nicht weiter, 
und auch die klinische Beobachtung hat noch keinen sicheren Fall rein trauma¬ 
tischer Herkunft geliefert. 

Knapp (94) stellt die ersten Symptome fest, die in 100 Fällen von Paraljv 


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Matusch, Organische Psychosen. 


277 * 


aufgetreten sind, indem er anamnestische Angaben dem klinischen Befunde gegen« 
überstellt. Im ganzen ist das Ergebnis dürftig, die Angaben sind unsicher und 
die ersten Störungen zu wenig signifikant An erster Stelle scheinen Änderung der 
Patellarreflexe, Pupillenanomalien, Sprachstörung und Änderung der Schrift zu 
stehen. 

Näcke (115) untersuchte das Verhalten der mechanischen Muskelerregbar¬ 
keit bei Geisteskranken, insbesondere Paralytikern nach dem Tode. Die Ergebnisse 
sind in Tabellen und in Schlußsätzen niedergelegt. In etwa 3—4 Stunden nach 
dem Tode ist die Erregbarkeit sicher völlig verschwunden, was für die Zeitbestimmung 
des Todes sicherer verwertbar ist als die viel variablere nach Eintritt und Ans¬ 
breitung der Totenstarre oder gar der Totenflecke. 

Zwei Arbeiten Ladame s (101, 102) polemisieren gegen die Auffassung eines 
von Preissig als luetische Meningitis der Konvexität beschriebenen Falles und 
weisen nach, daß es sich um arteriosklerotische Psychose handelt. 

Bisgaard und Bertelsen (18) berichten über Untersuchungen der „vier Reak¬ 
tionen“ mit dem Ziele qualitativer Bestimmungen der Eiweißstoffe. Die Ver¬ 
dünnungsmethode Zalozickis ist der Nissl-Essbachschen vorzuziehen, weil sie 
schneller ist, weniger Liquor erfordert und eine geringere Fehlergrenze hat. Phase I 
wird durch sie sehr genau bestimmt. Diese zeigt einen normalen Wert von 0—2 
und ist hiernach wahrscheinlich nicht spezifisch, indem sie nur bei gewissen, nament¬ 
lich metaluetischen Erkrankungen erhöht wird. Die Untersuchungen geben keine 
Stützpunkte für die Theorien über Abhängigkeitsverhältnisse zwischen einer der 
vier Reaktionen im Liquor, aber deutlichen Parallelismus zwischen meningealer 
Infiltration in med. spinalis und Zellgehalt des Liquors. Wiederholte Punktionen 
deuten auf Konstanz der Eiweißwengen im einzelnen Fall und auf Abhängigkeit 
derselben vom klinischen Verlauf einer Paralyse mit etwas Tendenz zum Fallen 
nach dem Tode hin. Im Liquor kommen wenigstens drei Eiweißarten vor, wovon 
zwei in Phase I gefunden werden können. Zum Schluß wird eine Reaktion mit 
Formalinlösung beschrieben, die vielleicht nicht spezifisch ist, aber sich noch zeigt, 
wo andere Reaktionen nach Wassermann versagen. 

Durch weitere Untersuchungen kommt Bisgaard (21) zu dem Resultat, daß 
bei Paralyse die Hauptmenge des Eiweißes mit Ammoniumsulfat gefällt wird, 
bei anderen organischen Krankheiten, auch der Lues cerebri, dagegen nur ein 
kleinerer Bruchteil. Biologisch und chemisch lassen sich im Liquor bei Paralyse 
andere Stoffe als bei gewöhnlichen luetischen Erkrankungen feststellen, die zum 
Ausdruck bringen, daß sich ein „Etwas“ in der Zeit zwischen Infektion und Para¬ 
lyse vollzieht. 

Dembowski (32) erklärt entgegen Nonne den positiven WM im Liquor für 
die Differentialdiagnose zwischen Tabes und Paralyse nicht für verwendbar, bei 
anderen Erkrankungen auf luetischer Basis kann WM im Blute im akuten Stadium 
negativ, im Liquor positiv sein, und zwar nicht selten. Die verwendeten Antigenen 
A, G und B erwiesen sich in abnehmender Staffel zuverlässig. 

Klieneberger (92) berichtet neue Untersuchungsreihen aus der Breslauer 
Klinik. Die Wassermann-Reaktion hat sich für die Diagnose der untersuchten 61 


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278 * Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 

zunächst als sicher, 66 als fraglich bezeichnten Paralysen als außerordnuiri 
wertvoll erwiesen. Sie hat im Serum nie, im Liquor nur einmal versagt ntd ™ 
allen auf Paralyse verdächtigen, aber durch den klinischen Verlauf als Xd- 
Paralysen erwiesenen Fällen die Diagnose Paralyse stark in Zweifel gestellt oo? 
hinfällig gemacht. Bei Tabes war WM im Serum immer positiv, im Liquor; 
10 Fällen negativ, in 12 Fällen positiv, von denen zwei paralyseverdächtig w. 
und einer wahrscheinlich Lues cerebrospinalis. Bei Lues cerebrospinalis spririr 
positive Liquorreaktion angesichts stürmischer und wechselnder Symptome & 
diese Diagnose, während sie sich bei metaluetischen Erkrankungen findet, tan 
wenn subjektive und grob objektive Störungen fehlen. Aber niemals sollte c- 
Untersuchung des Zell* und Eiweißgehaltes unterlassen Werden. Den Schloß bilk 
Angaben über 140 Fälle anderer Erkrankungen und über die Beeinflussung er 
Reaktionen durch nukleinsaures Natron. 

Nonne (118) legt in seinem Vortrag den heutigen Stand der diagnostische. 
Bedeutung der .,vier Reaktionen“ dar, wie er sich aus Beinern umfangr eichen. mr 
Teil katamnestisch verfolgten Material von 663 Fällen ergab (Tabes.- Pmh- 
verschiedene Formen von Zerebrospinallues, multiple Sklerose und Tumor» *» 
Gehirns und Rückenmarkes). Das Verhalten, der Reaktionen wird an elf Gropp-: 
diagnostischer Komplexe erläutert. Es bestehen, wie N. ausführt, noch 
Lücken, die in erster Linie die Methode der Katamnese ausfüllen kann, aber tue 
nach Klärung mancher noch unentschiedenen Fragen wird die Methode der v-' 
Reaktionen nur die Rolle einer Dienerin, nicht die einer Führerin in der Dncv 
spielen dürfen. 

Boas und Lind (23) prüfen das Verhalten bei Syphilis ohne Symptome se ; >i 
des Nervensystems. WM fand sich im Blute bei allen unbehandelten Fäl-: 
auch wo sie stark war, fehlte sie überall im Liquor. Pleozytose fand sich nur srim 
vertreten in 4 von den 12 zur Untersuchung gezogenen Fällen, Nonne-Apeh h 
nur in einem Falle über die von Bisgaard als physiologisch angesehene G-~t- 
(1—2) hinaus. Die gesamte Eiweißmenge ergab in 6 Fällen keine Anmehrnr. 

PesTcer (126) stellte bei 160 Geisteskranken die Wasserrwannsche Probt 
Bei 13 Pat. mit Dementia praecox fiel die Probe negativ und nur bei einem hr-- 
ditär schwer belasteten positiv aus. In 15 Fällen genuiner Epilepsie war die Reai*>: 
nur einmal ausgesprochen positiv, und zwar handelte es sich hierbei um etr-: 
Kranken, bei dem hereditäre Syphilis sehr wahrscheinlich war. Von 16 Krank 
mit anorganischen Psychosen reagierten 14 negativ. Von den 60 untersuche 
Paralytikern bot nur einer eine negative Reaktion, und zwar geschah das ex 
A nwendung von Salvarsan (bis dahin war die Reaktion schwach positiv). 13 Fi 
tienten mit Lues cerebri reagierten sämtlich positiv. Überhaupt fehlte nur in ccx 
einzigen Falle die Erklärung für den positiven Ausfall der Reaktion. Nach den w 
ihm erhaltenen Resultaten schätzt YerL die diagnostische Bedeutung der Fao-* 
mannschen Reaktion sehr hoch ein. (Fleischmann-Kk* 

E. Jones (87) gibt einen Überblick über Sitz, Wesen und Form syphilitisch" 
Erkrankungen des Zentralnervensystems, oft in zu sicherar Bewertung noch nie 
gesicherter Annahmen: Paralyse und Tabes sind der gleiche, nur anders loci 


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Matasch, Organische Psychosen. 


279 * 


ierte Krankheitsprozeß, positive WM-Reaktion beweist aktive Syphilis, nega- 
ive WM-Reaktion im Serum schließt Paralyse ans. 

Zar Kasuistik der Himsyphilis liefert Brandt (26) einen Beitrag mit einem 
asch letal endigenden Fall, der klinisch einen auf Paralyse verdächtigen, aber doch 
insicheren Befund ergeben hatte und sich als luetische Myelomeningitis erwies: 
Infiltration der konvexen Pia mit Lymphozyten, in die Lymphscheiden der Hirn« 
*efäße übergreifend mit Wucherungs- und Rückbildungserscheinungen an den 
jefäßwänden nebst einem anscheinend frischen Erweichungsherd in der Rinde 
ler Insel, der auf Gefäßverschluß zurückzuführen ist. 

A. Hauptmann (68) gibt neue Untersuchungsreihen mit der auf Verwendung 
größerer Liquormengen (bis 5 ccm) beruhenden Auswertungsmethode. Sie be¬ 
fähige, syphilogene Prozesse am Nervensystem zu trennen von anderweitigen 
organischen und funktionellen zerebrospinalen Erkrankungen ohne Rücksicht 
darauf, ob der Pat. spezifisch infiziert war oder nicht. So ergab die Methode bei 
44 nach der Originalmethode negativ reagierenden Fällen von Zerebrospinallues 
in 42 positive Reaktion, in den negativen 2 Fällen war auch klinisch Heilung einge- 
treten. Bei Arteriosklerose mit früherer Lues bedeutet positive Reaktion echt- 
luetische Endarteritis, negative nur Arteriosklerose bei Lues; bei Tabes ergab die 
Methode in 87% positive Reaktion, in allen Fällen nicht luetischer Erkrankungen 
negative. Im Gegensatz zu der Originalmethode ist demnach der negative Aus¬ 
fall mindestens ebenso diagnostisch wichtig wie der positive und liefert eine Hand¬ 
habe, inzipiente Paralytiker von syphilitischen Neurasthenikern zu scheiden. 

Mochi (111) stellt an 20 normalen Liquores fest, daß das spezifische 
Gewicht zwischen 1,0086 und 1,0067 schwankt, die Viskosität etwa halb so 
groß ist als die des Serums und der osmotische Druck etwas höher als im Serum 
ist. Zwischen der elektrischen Leitungsfähigkeit des Blutes und des Liquors 
scheint ein gewisser Parallelismus zu bestehen. Gewicht und Viskosität gehen im 
Blute parallel, im Liquor anscheinend nicht 

May (108) vergleicht den nach verschiedenen Methoden gewonnenen Nach¬ 
weis der Eiweißstoffe und des Zellgehaltes im Liquor und der Reaktion im Serum 
bei 67 Paralytikern und 29 anderen Psychosen. Er findet Vermehrung des Globulin¬ 
gehaltes auch in vielen nicht-paralytischen Psychosen. Die Original-WM-Methode 
ist der Noguchis vorzuziehen, doch kann die Methode Noguchis: Antigen und 
Ambozytos auf Papier mit Vorteil verwendet werden. 

Nach Heilig* (70) Untersuchungen an sieben kurz geschilderten Fällen findet 
sich Pigmenterythrozytose ausschließlich bei chronisch-entzündlichen und Neu¬ 
bildungsprozessen, die ihren Ausgang von den Meningen nehmen. Sie beruht auf 
Gefäßstauung und reaktiv-entzündlichen Vorgängen in der Umgebung des 
Herdes, die zu Blutaustritt in den Liquor führt; unterbricht die Neubildung 
die Kommunikation innerhalb des Rückenmarkskanals, so kommt es unterhalb 
der Unterbrechung zu Xanthochromie und erhöhter Gerinnbarkeit. Bei 
syphilitischen und metasyphilitischen Erkrankungen spricht Kombination 
von Lymphozytose mit Pigmenterythrozytose für besonders ausgeprägte me- 
ningeale Prozesse. Die drei Stadien: Erythrozytose—Pigmenterythrozytose— 


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280 * 


Bericht aber die psychiatrische Literatur 1911. 


Pigmentliquor können bedingungsweise als Maßstab für Alter, Stadium und Irre 
sität des Prozesses verwendet werden. 

Nach Schnitzler (133) ist die isolierte positive Phase I-Reaktion für die Bia- 
rentialdiagnose zwischen Tumor und Spondylitis nicht zu verwenden, sie ft. 
sich in 4 Fällen von Spondylitis mit Querschnittsläsion und war zweifelhaft 
fehlend in 3 Fällen von Spondylitis ohne Querschnittsläsion und in einem FiL 
von Spondylitis mit leichteren Rückenmarkssymptomen. Ob sie Kompresse 
anzeigt, ist noch zu prüfen, die klinischen Merkmale sind jedenfalls darin ein besser' 
Führer. Iht Vorkommen sowohl bei Tumor wie bei spondylitischer Quersekah • 
läsion spricht dafür, daß die Eiweißvermehrung durch mechanische Behindern 
der Zirkulation von Blut, Lymphe und Liquor mit bedingt ist. 

Ein Fortbildungsvortrag von Frankel (48) behandelt in klarer DarsfeLz: 
Geschichte, Methoden, Wesen und Wert der Wassermann-Reaktion und beriet*-: 
über 3000 eigene Untersuchungen. 

Schölberg und Goodäll (135) erläutern ihre Befunde an 172 Fallen nnd v 
Kontrolfällen an zahlreichen Tabellen. Auffällig niedrig ist ihr positiver 
im Serum bei Paralyse: 75,5%, und im Liquor: 41,46%. Die Ansicht, daß p-: 
tiver Ausfall in späteren Stadien der Paralyse häufiger ist, als in frühen, wird nrir 
bestätigt, mehr das Verschwinden in Remissionen. Sie fanden WM -f- im liq: * 
in 16,6 % bei Epilepsie, in 11,8% bei Idiotie mit Epilepsie, in 7 %bei Idiotie, r »■?.■ 
tive Reaktion im Serum und Liquor in einigen klinisch und autoptisch skir-t 
Paralysefällen. Nonne-Apelt erwies sich ebenso zuverlässig wie WM. 

Schörihals (136) veröffentlicht einen durch die Sektion bestätigten Parah- 
fall mit negativem WM im Serum und Liquor, positiver Phase I und Pleor 
Williams (164) einen Fall von Tabes incipiens, in dem die anfangs negative Sem 
reaktion nach Quecksilberbehandlung schwach und nach Salvarsan stark pes 
wurde. W. knüpft an den Fall Bemerkungen über klinische Frühdiagnose r. 
den Nutzen früher spezifischer Behandlung. 

Scheidemantel (131) nimmt die Serumreaktion in nahezu sämtlichen v 
kommenden Krankheiten zum Gegenstand seiner Betrachtungen, von d«n L- 
untersuchten Fällen zeigten nur 6 starke WM-Reaktion, die nicht durch 1.- 
oder Eigenhemmung zu erklären war, sie betrafen Tuberkulose, Diabetes, Var ^ 
Lupus und Karzinom. Zwei positive Fälle von Nephritis erwiesen sich bei i 
Sektion als spezifisch. Fehlerquellen liefern außer der Methode auch Komplexe 
Extrakt und Eigenhemmung. Gleiche Sera zu gleicher Zeit mit gleichen, ir< 
entnommenen oder verschiedenen Komplementen mit ersucht, gaben mm 
widersprechende Resultate. Stark ikterische Sera sind wegen Eigenheime, 
unbrauchbar. Über die Durchführbarkeit und die Zweckmäßigkeit des Ra r 
daß alle Institute nach einheitlicher Methode und mit Benutzung eines „Stan&v 
antigens“ arbeiten sollten, kann man wohl anderer Meinung sein. 

Auch Sonntag (142) hält amtliche Kontrolle der Antigene für wünschensT” 
und Beschränkung der Untersuchungen auf serologische Laboratorien. 
Arbeit behandelt Mechanismus, Methodik und Technik, Beurteilung und Vf 
Wertung der WM-Reaktion nach den neueren und eigenen Studien und faßt c 
Leitsätze in bündigen Schlußforderungen zusammen. 


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M ata sch, Organische Psychosen. 


281 * 


Farnell (40) fand mit der „Drei Tropfen-Methode“ (Zentrifugieren des Liquors, 
Intnahme von 3 Tropfen des Sedimentes) in 76 Fällen von Paralyse Lymphozytose, 
i einem nicht, 93 % der Paralytiker hatten vermehrtes Globulin, ein Fall von 
’abes und einer von Zerebrallues nicht, 3 Fälle von Tabes waren zytologisch positiv, 
wei Fälle von Zerebrallues schwach positiv. In Korsakoff- Psychosen war beides 
egativ. 98 % Epileptiker hatten vermehrte Lymphozyten, keiner vermehrtes 
llobulin, ebenso 2 von 3 traumatischen Psychosen und Fälle von Morphinismus 
nd Azetonilismus. 2 von 4 Arteriosklerosen nicht syphilitischer Herkunft ergaben 
chwache Lymphozytose ohne Globulinreaktion. 

Gümour (61) redet der von Browning, Cruikshank und McKenzie beschriebenen 
lethode das Wort, die auf Verwendung einer mit Cholestearin gesättigten Lezithin- 
mulsion beruht. 

Sterte (148) gibt in seinem Vortrag einen kritischen Überblick Ober die klinis che 
Jedeutung der Lumbalpunktionen und der vier Reaktionen. 

Pappenheim (122) verteidigt seine Anschauungen über die Polynukleose 
»ei Paralyse gegen Kafka und betont in Schlußsätzen, daß sich im Liquor Para- 
ytischer nur selten eine Steigerung des Leukozytengehaltes über 10—16% hinaus 
indet, die häufiger bei Anfällen oder Exazerbationen sei als in Zwischenzeiten, 
hr Zus amm entreffen mit Temperatursteigerung und polynukleären Leukozyten 
m Blute spräche für eine plötzliche Verstärkung des Paralysegiftes als Ursache. 
Sin Fall wird mitgeteilt, in dem bei Psychose, wahrscheinlich Dem. praecox, nach 
linem Erhängungsversuch vorübergehend Liquorpolynukleose eintrat, gleichzeitig 
nit einem deliranten Zustand, Sehstörungen und ataktischen Symptomen, der einem 
lauernden Korsakoff-Komplex Platz machte. Die Polynukleose sei in diesem Falle 
licht auf lokale meningeale Veränderungen zurückzuführen, sondern auf eine 
illgemeine Vergiftung, wie dies auch bei anderen allgemeinen Ursachen, wie Sonnen- 
tich, Urämie usw. verbreitet sei. 

Hauptmann (67) führt 63 Familien (Eltern und Kinder) auf, in denen bei 
uindestens einem Mitgliede WM positiv war. Der Befund bei jeder Familie ist 
nirz und übersichtlich skizziert. Die Untersuchungen liefern recht wertvolle Er¬ 
lebnisse, nicht nur, daß sie unsichere nervöse Befunde ätiologisch aufklären und 
lie Wege der Syphilis auch da hinverfolgen ließen, wo Anamnese und Befund 
r ersagten, sie wiesen auch nach, daß bei der infizierten Ehehälfte die Syphilis in 
ast 100% latent verlief, wenn der infizierende Teil an einem syphilitischen Zerebro- 
pinalleiden erkrankt war. Bei der Vermutung, daß die Spirochäten infolge der 
’assage durch das Zentralnervensystem an Virulenz verlieren, wäre wohl 
ichtiger gesagt: durch die Beteiligung des Zentralnervensystems, denn 
»assieren wird es doch nur ein Bruchteil. In der Deszendenz sind zwei Gruppen 
charf zu trennen: die tatsächliche Infektion durch die Eltern und die Keim- 
chädigung durch das syphilitische Virus, in der letzteren ist negative Reaktion 
u erwarten. Gerade hier kann die weitere Forschung, zumal wenn sie sich auf 
Sltern und Geschwister erstreckt, viel zur Klärung der Epilepsie, Idiotie, Dege- 
teration und Psychopathie beitragen. Ob positiv reagierende, sonst Gesunde, 
pezifisch zu behandeln sind, hängt von der weiteren Beobachtung ab, was aus 
olchen Personen in ihrem späteren Leben zu werden pflegt. 


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282 * Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 

Labb4 und Gaüait (97,98) studierten an 16 paralytischen Fraurainr 
schiedenen Krankheitsstadien und bei verschiedener Di&t (Milch oder vegetans? 
mit und ohne Milch oder gemischt) die Eigenschaften des Urins. Sie fando fc ? 
Vermehrung der Stickstoffverbindungen bei Verminderung des Harnstoffe, z.' 
Ausscheidung von Chlorverbindungen und im Auftreten von Glykosorie and!:.- 
minurie Parallelvorgänge mit den Stadien der Krankheit und meinen dark i 
prämortale Periode feststellen zu können, die den Tod vorherzusagen erlaubt 
Die von Buienko beschriebene, angeblich für Paralyse charakteristische Kamt 
des Harns mit Liquor Belostii ist verschiedentlich nachgeprüft. Stueta 'j 
der auch den chemischen Vorgang eingehend erörtert, spricht ihr jeden diagwot^ 
Wert ab, sie komme in manchen Hamen körperlich schwer Kranker wie körpw- 
Gesunder vor. Trapet und Wolter (162) haben sie zwar bei Paralyse häufig :■ 
funden als bei nicht-paralytischen Geistesstörungen und Gesunden, messe * 
aber als diagnostisches Hilfsmittel ablehnen. Wiener (163) scheint sie 1- 
gleiterscheinung marantischer Prozesse zu sein, nach Stern (147) tritt serai- 
auf, allerdings häufiger bei Paralyse und Tumor cerebri, ebenso urteilen fre ¬ 
und Tomaschny (161). 

Die Ausführungen Oliviers und Boidards (120) über paralytische AnfiBt i 
drei umständlichen Krankheitsgeschichten enthalten nichts Bemerkens»«!* 

Berum (13) widmet der Gedächtnisschwäche der Paralytiker einen lß?'- 
Aufsatz, der er zusammen mit anderen psychischen Störungen mehr diign«® 1 ' 
Bedeutung zuweist als den körperlichen Symptomen. 

Hermann (73) beobachtete anhaltende präagonale linksseitige 
krämpfe mit Singultus bei einem Paralytiker, die sich zu allgemeinen linkssat^- 
Konvulsionen gesellt hatten. Sektion konnte nicht stattfinden. 

Sdnz (41) hält den in seinem Fall von Tabes aufgetretenen doppd**? 
Herpes Zoster für akzidentell und ohne Kausalnexus mi t der Tabes. 

Gazielu (63) beschreibt Skoliose im oberen Teil der Lendenwirbelsiak in 
Falle von Tabes von vierjähriger Dauer als eine Form tabischer Artropitk* 
Enge (37) stellt in seiner zusammenfassenden Literaturstudie die bei^ 
therapeutischen Maßnahmen gegen Paralyse in zweckmäßiger Gruppi«®? • 
sammen. „Man wird sich unbedenklich dahin äußern können, daß wir 
von einer rationellen Therapie noch nicht sprechen können.“ £ ^ 
jeden Syphiliker zur Verhütung der Paralyse möglichst früh und so lang* ß r 
handeln, bis die positive WM-Reaktion dauernd geschwunden ist. 

Anton (3) resümiert das Wichtigste der Paralyse nach den Geskhtspnnt'« 
wer erkrankt an Paralyse, welche Symptome gestatten ihre frühe Erk®'“ 
welche Teile des Zentralnervensystems erkranken am meisten, welch® Syopk- 
charakterisieren die fertige Krankheit, wie ist ihr vorzubeugen und wie ist sr - 
behandeln. Für die Bevorzugung des Stir nhir ns hält A. die Erklärung durch *- 
ungünstigeren Zirkulationsbedingungen für beachtenswert. Grundaäg* dff 
hütung sind: Rezidiven vorzubeugen und den Gesamtorganismus widerstand**“ 
zu erhalten. Bezüglich der Behandlung mit Sälvarsan vertritt A die V® 
aufgestellten Grundsätze. -- 


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Matasch, Organische Psychosen. 


283 * 


Klieneberger (93) unterzieht die Behandlung mit Na. nueleinicum einer 
itischen Nachprüfung mit dem Ergebnis, daß die Erfahrungen nicht ermutigen 
innen, das schmerzhafte Verfahren weiter anzuwenden. 

Donath (33) wendet dagegen ein, daß die Behandlung in diesen Fällen in 
i vorgeschrittenen Stadien angewendet sei 

Auch Lötoenstein (105) hat unter 13 sicheren Paralysefällen, zum Teil im 
itialen Stadium, nur in zwei Fällen zweifelhafte Besserung durch Nuklein- 
ehandlung gesehen und verwirft die Methode. 

Hassels (82) dagegen hat in einem von fünf sonst ungebesserten Fällen, in 
em der Kranke bereits dem terminalen Stadium nahe war, Veränderung im Krank- 
eitsbilde konstatiert, die sich als Entlastung des Körpers von toxischen Produkten 
euten lassen. 

O. Fischer (46) hat jeden zweiten der aufgenommenen Paralytiker mit Nuklein 
ehandelt und sah in einer großen Zahl von Fällen an Heilung grenzende Remis- 
ionen, die sich aber nicht dauerhaft erwiesen, von den nicht behandelten Fällen 
eigte nur einer Remission. Die Resultate waren denen mit Tuberkulin ähnlich, 
edenfalls beruht die Wirkung beider neben der Hyperthermie auf Blutleukozytose, 
lenen wohl auch die günstige Wirkung von Kochsalzinfusionen zuzuschreiben 
st. In dem erwähnten Fall von Remission ohne Nuklein waren 19 Enesolinjektionen 
gemacht worden. 

Von Enesol haben Vorbrodt und Kafka (158) in 10 Fällen von Paralyse (8), 
Tabes und Encephalitis luetica keine Beeinflussung des klinischen Bildes und des 
biologischen Verhaltens des Blutes und des Liquors gesehen. 

Jurmann (90) hat 17 Paralytiker mit Injektionen von nukleinsaurem Natrium 
nach Donath behandelt. Er fing mit Dosen von 1,0 an und stieg bis zu 2,0—2,6. 
Die Steigerung der Dosis machte er von der Temperaturreaktion abhängig. Zwischen 
iiner Injektion und der folgenden lag eine Pause von mindestens 8 Tagen. 

Von den behandelten 17 Pat. starben vier während der Behandlung (der Tod 
stand aber in keinem Zusammenhang mit den Injektionen, es handelte sich um 
sehr vorgeschrittene Fälle), sechs Fälle blieben unbeeinflußt, während bei sieben 
Besserung festgestellt wurde. 

Die Besserung zeigte sich zunächst in Gewichtszunahme (in einem Falle bis 
23 kg), aber auch in seelischer Beziehung war die Besserung in einem Falle z. B. 
so bedeutend, daß der Kranke seiner Beschäftigung nachgehen konnte, und nur 
die Kürze der verflossenen Zeit hält den Verf. davon ab, von einer Genesung zu 
sprechen. Auch in zwei anderen Fällen konnten nach der Behandlung in psychischer 
Beziehung keine Abweichungen von der Norm bemerkt werden. In weiteren Fällen 
waren wohl psychische Defekte vorhanden, doch war die Besserung „frappant“. 
In drei Fällen verschwand die vorhanden gewesene Sprachstörung, einmal ver¬ 
schwand das Rombergache Symptom, in einem Falle konnten die Patellarreflexe, 
die verschwunden waren, wieder ausgelöst werden. Überhaupt waren die Besse¬ 
rungen vorzugsweise in den Fällen von Taboparalyse zu verzeichen. 

(Ftewcfttmmn-Kiew.) 

Aus der Arbeit von Solomin (143) über die Wirkung von Salvarean heben 


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284 * 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


wir nur seine Beobachtungen an Paralytikern hervor. Eine günstig» T;iq 
dieses Mittels hat 8. bei keinem dieser Pat. gesehen. Im Gegenteil boictei 
über eine Verschlimmerung des Zustandes unter dem Einfluß von 60& Es nfc 
danach Gewichtsabnahme, schwere motorische Unruhe, sexuelle Erngsogs« 
andere ungünstige Erscheinungen beobachtet. (FZctseÄinaim-foii 

Wagner v. Jauregg (159) verwendete abgetötete Staphylokokkenknhra i 
steigender Konzentration und schreibt ihnen namentlich in manischen Fonttii 
Paralyse den Eintritt von Besserungen zu, die übrigens erheblich später ah u 
Tuberkulininjektionen beginnen. In einem Falle, wo sich nach Salvarsaneüepna 
langwierige Staphylokokkeneiterung einstellte mit überraschender Besang« 
Paralyse, sei der Erfolg auf Rechnung der Staphylokokken und nicht des Siiws 
zu setzen. 

An die Mitteilung, daß Salvarsan in zwei von fünf Fällen von Erbrr^ 
vollkommen versagte, knüpft Hochsinger (76) Bemerkungen über die Eriob i 
Jod-Quecksilber an seinem reichen Material (40% Dauerheilungen) and <fe Ei 
Ziehungen der so behandelten Erbsyphilis zu späteren Erkrankungen des Ze:n 
nervensystems. Von 208 länger als 4 Jahre beobachteten Säuglingen vorder t 
später nervenkrank, 34 hatten schwere Kopfschmerzen, 2 HerderknnfcuH 
6 Epilepsie, 3 Tabes, 2 Paralyse, 6 Migräne mit Pupillenstarre, 10 waren imt-- 
An Rezidiven in der Säuglingsperiode kamen Rindenenzephalitis, Meningitis a 
lömal Hydrozephalus vor, von denen 4 später unter dem Bilde der Kobr- 
Kinderlähmung erkrankten. Indessen traten die schweren Erkrankung« 
Zentralnervensystems nur bei nicht lange und ausgibig genug behandelten Käs-' 
aut Im ganzen hatten 131 von den 208 Säuglingen Rezidive, und zwar mfb' - 1 
nach dem ersten Vierteljahr ihres Lebens behandelten, 85 der Rezidive fk'.-: J 
das erste Lebensjahr. Bemerkenswert ist auch das häufige Vorkommen ntr 
Erkrankungen, u. a. Moral insanity bei luesfrei gebliebenen Deszendenten. 

Aasmann (5) berichtet über den Erfolg der Salvarsanbehandlung be - ; 
pienter Paralyse, Tabes und Lues cerobrospinalis. Bei der ersteren blieb 
im Blut und Liquor unbeeinflußt, Paralyse wurde klinisch nicht, Tabes in eins*-- 
Symptomen gebessert, bei Lues cerebrosp. war günstige Wirkung, auch im !>•> 
befand, deutlich. Drei Fällen von Neurorezidiv nach Salvarsan lag Mraor 
luetica zugrunde. Zwei Fälle von isolierter Pupillenstarre, von denen einet: 
malen, einer positiven Liquor hatte, blieben bisher, 2—3 Jahre, ohne *'■' 
nervöse Störungen. 

Treupel und Levi (153) und Treupel (164) teilen ihre während eines h' 
mit Salvarsan gemachten Erfahrungen mit unter besonderer Berückskh:-. 
der angewandten Methoden und ihrer Nebenwirkungen. Subkutane und r" 
muskuläre Injektionen seien nur ausnahmsweise zu empfehlen, intraven** *‘ 
zwar mehrmalig, bieten die meisten Aussichten auf Dauererfolg und Sterile 
des Organismus, sie seien aber bei Herz- und Gefäßkrankheiten gefährlich, h 
refraktärsten Fällen empfehle sich Kombination mit Hg.-Kur. Bei metaluftf 
Erkrankungen sei dieAnWendung erlaubt, sie schaffe durch die roborierende 
des Arsens subjektive Besserung, wenn auch keine dauerhafte. 


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Matusch, Organische Psychosen. 


285* 


Freidberg (49) berichtet über 40 behandelte Fälle, die Therapia magna steri- 
ins werde durch Salvarsan nicht erreicht, wohl aber mit chronisch-intermittierender 
handlung, event. mit Zuhilfenahme von Hg. Luetische Herzkrankheiten bilden 
ne Kontraindikation. Dem. paralytica blieb unbeeinflußt. 

Jörgensen (88) veröffentlicht einen Fall von Paralyse, in dem nach intra- 
skulärer Injektion von 0,5 Salvarsan der Tod an Arsenvergiftung eintrat, ob- 
ich die Sektion einen beträchtlichen Teil des Mittels im Injektionsort unre- 
biert nachwies. 

Etnanuel (36) stellt fest, daß die in der Regel positive W-M-Reaktion des 
-ninchenserums durch intravenöse Salvarsaninjektion vorübergehend negativ 
nacht werden kann, was den Schluß erlaubt, daß diese WM-Reaktion von der 
i syphilitischen oder metasyphilitischen Menschenserums grundsätzlich nicht 
■schieden sei und daß ihr Verschwinden beim Menschen durch Salvarsan nicht 
ne weiteres als therapeutischer Effekt anzusehen sei. 

Nikitin (117) berichtet über seine Erfahrungen über die Wirkung von Sal- 
rsan bei syphilitischen und metasyphilitischen Erkrankungen des Zentralnerven¬ 
items. Er kommt dabei zu folgenden Schlüssen: Bei syphilitischen Affektionen 
i Zentralnervensystems, die innerhalb des ersten Jahres nach der Infektion 
tstanden sind und erst relativ kurze Zeit bestehen, übt das Salvarsan eine günstige 
irkung aus, die sich nicht allein in einer Besserung des subjektiven Befindens, 
idem auch in verschiedenen objektiven Symptomen äußert. Der Umfang der 
sserung war nicht besonders groß. Dagegen ist der Yerf. geneigt, die subjek- 
en Besserungen, die er bei den meisten Tabetikern mit Salvarsan erzielt hat, 
tu psychotherapeutischen Einfluß der Injektionen zuzuschreiben. 

(Fleischmann-Kiew .) 

Im Falle von Oberholzer (119) handelte es sich um ein etwa fünf Monate 
ch intramuskulärer Salvarsaninjektion mit nachfolgender Schmierkur ?ufge- 
stenes rein syphilitisches Rezidiv (Zerebrospinalminingitis mit Affizierung des 
tl.—XII. Nerven und der Wurzeln des unteren Dorsalmarkes). 

Trömner und Delbanco (165) erörtern die Frage der Neurorezidive nach Sal- 
rsan. Trömner vertritt die Anschauung, daß das Salvarsan mehrere Gruppen 
rschieden zu deutender Wirkungen entfalten kann, unmittelbar toxische (auch 
i Nichtsyphilitischen) und mittelbar spezifische, die in frühe entzündlich-reaktive 
jrgänge und in etwa zwei Monate später auftretende Neuaktivierung syphilitischer 
ozesse zu trennen sind. Die Bevorzugung der zerebralen oder seltener peripheren 
;rven beruhe zum Teil auf einer Neuroaffinität des Mittels, und direkte neuro¬ 
tische Wirkungen seien nur in einzelnen malignen Fällen anzunehmen. Delbanco 
igt mehr der Fingerschen Auffassung zu mit der Modifikation, daß der vom 
dvarsan primär toxisch geschädigte Nerv den Locus minoris resistentiae für das 
ezidiv darstellt. Entscheidend für die Frage ist, ob die WM-Reaktion die An- 
ssenheit von Spirochäten im Organismus anzeigt, oder, wie für Delbanco, nur 
sagt, daß er mit dem syphilitischen Gift in Berührung gewesen ist. 

Benario (12) stellt in seinem Buche, das der Verteidigung der Ehr&Aschen 
uffassung der Neurorezidive gewidmet ist, die Rezidive nach Salvarsan denen 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXIX. Lit. U 


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286 * 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


nach Quecksilber gegenüber und faßt in Schlußsätzen die Beweise gegen die tun-- 
Natur der Rezidive zusammen. 

In einer scharfen Entgegnung zerpflückt Finger (42) die Beweistüti- 
Benarios. Er schließt damit, daß das gehäufte und frühzeitige Auftreten von L 
cerebri bei mit Salvarsan behandelten Kranken ein Novum in der Patholog* 
Syphilis ist, das unbedingt mit dem Salvarsan zusammenhängt. 

William (165) plädiert für die Behandlung auch der spätsyphilitK 
Erkr ankung en mit Quecksilberinjektionen, insbesondere Kalomel, die ab* 
Serien von 20—80 mit anfangs zweiwöchiger Pause, später viermal im Jahr- ; 
geben werden sollen., 


b) Präsenile und senile Psychosen. 

Schob (184) schildert einen Fall arteriosklerotischer Rindenerkranknr?. J 
sich bei einem 26jähr. Arbeiter aus einem kurzen Prodromalstadium zu «i-l 
paralyseähnlichen Krankheitsbilde entwickelte und nach 15jähriger Dauer r.i 
Tode führte. Entsprach schon im klinischen Bilde manches nicht einer P&raij 
so ergab die Sektion keinen paralytischen Befund, sondern annähernd symmeT- i 
über beide Hemisphären verteilte Atrophie zahlreicher G.oß- und Kkkt;~ 
Windungen und ausgedehnte Arteriosklerose der großen Gefäße, namentlich i 
Piaarterien. Mikroskopisch fanden sich viel keilförmige, von gliösem >W 
gewebe umgebene Zysten, gliöse Narbenzüge, von der Randschicht nach der TV 
ziehend, und kleine Verödungsherde. Der Befund erinnerte stark an 6tat vmtx. 
wenn er ihn nicht ganz erreicht hat, so ist dies wahrscheinlich in der Widersur 
fähigkeit des noch jugendlichen Gehirns zu suchen. Jedenfalls handelt * 
bei dem Befunde um das Endprodukt arteriosklerotischer Erweichungs- und V 
ödungsherde. Die Gefäßveränderungen waren im allgemeinen die gewöhnt 
arteriosklerotischen, vielfach aber von denen der luetischen Endarteriiris nkc' 
unterscheiden. Wegen der ungewöhnlichen Hyalinisierung der Adventitia und :• 
Fehlens aller syphilitischen Anzeichen möchte Sch. Lues in diesem F- 
ausschließen und ihn als ein seltenes Vorkommnis früher arteriosklerotcc: 
Demenz auf fassen, demnach als einen Beweis, daß arteriosklerotische und at 
Geistesstörung nicht identisch sind. 

In seiner „Klinik der arteriosklerotischen Geistesstörungen“ führt Piic 
dem praktischen Arzte alles Wissenswerte darüber mit reicher eigener Erfahr 
vor. 

Herz (74) sieht in der Arteriosklerose eine Abnutzungskrankheit und in 
zerebralen die Folge einer übermäßigen Betonung des Pflichtbewußtseiss. . 
Therapie muß deshalb in erster Linie eine psychische sein. Interessant ist zu hi" 
daß 10% aller Wiener Ärzte von der Sorge um ihre Blutgefäße zu ihm geuvt- 
wurden, woraus zu berechnen ist, daß mindestens die Hälfte aller Ärzte ihr 
Gefäßsystem hypochondrisch mißtraut 

Spielmeyer (146) legt in seinem kritischen Referat die Alterserkranku&r 
des Zentralnervensystems nach dem Stande der neueren Forschung und zt 
eigenen Beobachtungen dar. Im Vordergründe des histologischen Befundes sttt - 


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Matusch, Organische Psychosen. 


287 * 


e Redlich-Fischerschea Plaques und die Fibrillenveränderung Alzheimers in den 
anglienzellen. Während aber jene nie zu fehlen scheinen, findet sich diese nur 
i einem Teil der Fälle. Man muß die Plaques, die wahrscheinlich ein Stoffwechsel- 
'odukt von kristallinischer Art sind, als eine Begleiterscheinung der senilen In- 
»lution auffassen, welche sich klinisch als senile Demenz äußert, wenn sie be- 
»nders intensiv und rasch verläuft. Der Fibrillenveränderung scheint dagegen 
ne spezifische Bedeutung für die senile Demenz und einiger ihr verwandten Pro- 
isse zuzukommen. Gegenüber diesen beiden Befunden treten die Veränderungen 
n den Ganglienzellen, den Markscheiden und der Glia an pathognomonischer Be¬ 
eidung zurück, alle Veränderungen aber haben Prädilektionsstellen ähnlich der 
aralyse, die bei ungewöhnlicher Lokalisierung zur Grundlage atypischer seniler 
lemenz führen kann, vielleicht aber auch von lokal stärkerer Atherose bedingt ist. 
>ie auf Atherosklerose beruhende Himerkrankung ist ein prinzipiell anderer anato- 
»ischer Prozeß als die senile Demenz, richtet sich diese nach gewissen Anordnungen 
«*r Rinde, so befällt die Atherose aus unbekannten Gründen bald dieses, bald jenes 
refäßgebiet. Ihre wichtigsten Folgen sind die senile Rindenverödung, die also besser 
1s atherosklerotische Rinden Verödung zu bezeichnen ist, und die mehr diffusen 
'cränderungen, die sich in Ganglienzellenerkrankung, Gliawucherung um die 
icfäße, mehr fibrotische als arteriosklerotische Gefäßerkrankung und das Vor- 
omnien amöboider Gliazellen meist an gequollenen Marksfasem kundgeben, 
fit den Frühformen der Atherosklerose wäre die „Abheimersche Krankheit“ in 
»arallele zu stellen. Neben mannigfachen Übergangs- und Kombinationsformen 
:ommen auch andere zentrale Prozesse im Senium vor. Sp. beschreibt zwei Formen, 
leren eine sich durch massige Gliawucherung in bestimmten Rindenpartien charak- 
irisierte, während der zweiten mit Korsakoff- und Herderscheinungen vorhandenen 
nehr diffuse Schrumpfung der Rindenzellen und gewisser Kemabschnitte in den 
ieferen Teilen des Gehirns und auch des Rückenmarks zugrunde lag. Die Histo- 
»athologie der Paralysis agitans läßt 1 isher nur soviel erkennen, daß hier Abbau- 
orgänge eine Rolle spielen, die denen des amöboiden Typus nahestehen. Auch 
venn die Theorie der innersekretorischen Ursachen richtig ist, bleibt doch die 
Vufgabe, die durch sie bedingten zentralen Veränderungen festzustellen. 

Einen Versuch zur weiteren Abgrenzung präseniler Psychosen liefert Ziver* 
177) mit der Schilderung des Falles einer 57jähr. Frau, bei der toxische, urämische 
icllagröse und arteriosklerotische und manisch-depressive Form auszuschließen 
var und wo die beschriebenen histologischen Veränderungen im allgemeinen denen 
_>ei seniler Demenz entsprechen, ohne einem bestimmten Typus anzugehören. 

G. E. Schröder (137) weist am Befunde bei zwei nicht dementen alten lauten 
[78 und 85 Jahre), die sehr zahlreiche über die ganze Rinde verstreute Plaques 
jufwiesen, nach, daß diese das anatomische Substrat der presbyophrenen Demenz 
nicht bilden können. 

Betts (19) stellte das Vorkommen von Plaques in einer Reihe von alten Geistes¬ 
kranken verschiedenster Form und Dauer ihrer Psychose fest und vermißte sie 
in einer anderen Reihe. Allerdings war in allen positiven Fällen Demenz und 
Atherose vorhanden, aber auch in einigen negativen. 

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288 * 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


Nach Fuüers (61) Untersuchungen an 93 Fällen kommen die Plaque 
häufiger bei alten Dementen vor als bei alten Gesunden, fehlen aber auch in Fil- 
seniler Demenz und finden sich ausnahmsweise schon bei jüngeren. Sie sind öt 
nicht charakteristisch für eine bestimmte Form von Psychose. Mit ArteriaAk • 
waren sie in 62% der positiven Fälle verbunden, doch war auch in negativ® #u:; 
Atherose vorhanden. Wo sich die stärksten pathologischen Veränderungen £n» 
waren auch die Plaques am häufigsten, das gilt auch für die Hirnteile, von er- 
Frontal- und Hippokampalregion am meisten befallen waren. Im allgeDr?- 
scheinen die Fälle ohne Plaques der arteriosklerotischen Demenz. File 
Plaques der senilen Involution anzugehören. 

Schnitzler (132) knüpft an die Mitteilung eines Falles von apathischer Dee*':. 
bei einer 36jähr. Frau mit verwaschenen und teils passageren Herdsympton- 
Bemerkungen über die Abgrenzung der Alzheimerschea Krankheit. So sekr 
Fall nosologisch mit den beschriebenen Fällen zusammengehört, so unterscbr> 
ihn doch davon das Fehlen von Drusen, von Arteriosklerose, von manchen sru* 
Zügen, in erster Linie das Erkrankungsalter von 31 Jahren. Andererseits steb ■: 
ihn, wenn auch spärliche, Plasmazellen in der Nähe der Paralyse, die indesseo : 
histologische Befund im übrigen und auch negativer WM ausschloß, uno 
bestimmten Symptomen war ein primärer thyreogener Komplex außer Zre. 
Es handelt sich also um einen Fall von künstlichem Senium, der unter den Berr 
der Alzheimerschcn Krankheit fällt, wenn man die Hauptsache des Atypisch-: 
dieser Gruppe in dem Nichtvorhandensein eines natürlichen, in engerem 
senilen Zustandes erblickt, für die atypischen tatsächlich senilen oder hinrrir.v 
präsenilen Fälle ist die Bezeichnung nicht wünschenswert. 

Lafora (104) berichtet den Fall eines im 62. Jahre gestorbenen - 
dem 68. Jahre kranken Mannes, in dem klinsich und histologisch alle Merki- 
der Alzheimerschon Krankheit nachgewiesen werden. 

Halberstadt und Arsimoles (63) erörtern die mit Diabetes einhergeb?:* 
senilen und präsenilen Zustände. Sie unterscheiden drei Gruppen: 1. die Fi. 
reiner Koinzidenz von Diabetes und Psychose, 2. die Psychosen autointoxsdr 
Ursprungs infolge von Diabetes und 3. die eigentlichen als Diabet espsyds x 
geltenden, die aber nach ihrer Ansicht die Bezeichnung nicht verdienen, w*i! s- 
Folge von Arteriosklerose und Seneszenz sind, denen Diabetes neben an«?' 
Momenten zugrunde liegt 

Die Dissertation von Hegge (128) behandelt einen Fall, in dem nach «• 
plektischem Insult bei einem arteriosklerotischen Trinker vorübergehender v - 
wirrtheitszustand auftrat, von dem dauernde sensorische Aphasie und arterisAk 
tische Neurasthenie zurückblieb. 

Dausend (31) schildert einen Fall von eigenartigen Störungen im Sprachln • 
und Optisch-Räumlichen im Sinne einer Zügellosigkeit und Unbeeinflußbari 
der betreffenden Himgegenden. Der Fall betraf einen 76jährigen, mit sat 
Arteriosklerose und zahlreichen kleinen Erweichungsherden in Rinde und & 
beider Hemisphären. 

Hamiltons (66) Arbeit beschäftigt sich mit den senilen spinalen Verändern!-' 


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Matnsch, Organische Psychosen. 


289 * 


ei verschiedenen Formen geistiger Störung, im Todesalter von 71 bis 94 Jahren, 
tas Material bilden 64 Fälle, in denen gröbere Gehirnerkrankungen, Epilepsie 
. a. aaszuschließen waren. Namentlich in Fällen, in denen unsicherer Gang, 
luskelsch wache, Störung der tiefen und oberflächlichen Reflexe, Tremor und 
msible Störungen bestanden hatten, erinnerte der Befund im Rückenmark an 
en bei perniziöser Anämie und Seiten-, auch Hinterstränge und hintere Wurzeln 
raren Sitz der stärksten Veränderungen. Corpora amylacea fanden sich am häu- 
igsten neben den Hinterhömem und in der Nachbarschaft der Substantia gelati- 
iosa, Gefäßerkrankungen waren weniger sichtbar, als zu erwarten war, schon aus 
Liesem Grunde ist der Befund an Zellen und Fasern nicht auf Arteriosklerose zu 
»eziehen. 

Hamei (65) begründet etwas umständlich an der Hand von vier Krank- 
lcitsgeschichten, daß Presbyophrenie und senile Demenz sich klinisch nur gra- 
luell voneinander unterscheiden. Ätiologisch kommen für beide die gleichen Ur- 
lachen in Betracht: Arteriosklerose und senile Involution, bei beiden besteht der 
Reiche Komplex: Verworrenheit mit Zutritt oder Steigerung von Gedächtnis- 
chwache, Unorientiertheit, Confabulation und falsche Erinnerungsbilder. Die 
•jolyneuritische Amnesie unterscheidet sich von der presbyophrenischen durch 
Fehlen oder Heilbarkeit histologischer Veränderungen. Presbyophrenie kann als 
vorübergehendes Syndrom im Verlauf einfacher seniler Demenz auftreten. 

Mit Chorea senilis beschäftigt sich ein klinischer Vortrag Eichhorste (34). 
Bei einem 80jährigen Mann hatte sich nach Gemütsbewegungen und einem mehr¬ 
wöchigen Prodromalstadium von Kopfschmerz, Schwindel und brennenden Empfin¬ 
dungen im rechten Bein und Arm rechtsseitige Chorea in schwerer Form ent¬ 
wickelt ohne besondere somatische oder zentrale Störungen. Einige Wochen nach 
ihrem Beginne erfolgte der Tod. Die sogen. Choreakörperchen, eine Bezeichnung, 
die als unberechtigt besser durch Kolloidkörperchen zu ersetzen ist, fanden sich 
nicht, überhaupt auch mikroskopisch nichts, was als der Chorea eigentümlich an- 
znsehen wäre. Anwes nheit von Bakterien ergab sich ebenfalls nicht. 
E. macht auf die ätiologische Bedeutung von Gemütsaufregung, auf die 
schlechte Prognose, die Beteiligung der Psyche in den meisten Fällen und 
die Bevorzugung der linken Körperhälfte aufmerksam. Wesensverschiedenheit 
der juvenilen und der senilen Chorea möchte er verneinen. 

Patsehke (123) empfiehlt Tiodineinjektionen bei zerebraler Arteriosklerose, 
besonders wo interne Jodtherapie versagte. 

Alzheimer (1) erweitert seine Untersuchungen nach der Richtung, ob die 
Fälle noch charakteristische Merkmale in klinischer und histologischer Beziehung 
aufweisen, die sie von der senilen Demenz unterscheiden, mit Bericht über den 
Fall eines 64jährigen Mannes, in dem sich langsam tiefe Verblödung mit agnosti- 
schen, aphasischen und apraktischen Störungen einstellte. Die Fibrillenentartung 
der Ganglienzellen fand sich in diesem Falle nicht, aber starke Anhäufung lipoider 
Stoffe in den Ganglienzellen, den Gliazellen und den Zellen der Gefäßwände und 
zahlreiche faserbildende Gliazellen im ganzen Zentralnervensystem, Veränderungen, 
die auch hier unter dem Durchschnitt der bei Dementia senilis gefundenen hinaus- 


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290 * Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 

gehen und sich durch stärkere Lokalisation in beide nScheitel- und Schluck 
auszeichneten, während sonst das Stimhim bevorzugt zu sein pflegt. In dcr 
midenseitensträngen ließ sich Untergang von Markscheiden nach weisen. > 
zahlreich und zum Teil von ganz ungewöhnlicher Größe fanden sich die F • 
sehen Plaques. Sie werden eingehend beschrieben und ihre Bedeutung txspr «\ 
Abweichend von dem sonst gesehenen Bilde war, daß der Kern der Dres«. 
lipoiden Körnchen besetzt war, die sich mit Scharlach färbten und mit der: 
«cÄouwky-Methode schwärzten, der Kern erinnert mit ihr in seiner Stmkr: 
drüsige feine Kristallnadeln. Der Hof der Druse zeigt mit der 3/annschen Fi±r_ 
allerlei amorphe ineinandergefügte Schollen und Brocken und einen sehr kr' 
zierten Bau, in dem gliöse Bildungen wie Körnchenzellen, Gliafäserchen mc 
bildungen des Protaplasmas anderer Gliazellen nicht für die Annahme ft- •- 
sprechen, daß ein Zusammenhang zwischen Drusen und Neuroglia nicht t*>H 
Ist der Kern der Druse offenbar durch Ablagerung eines pathologischen A 
weiebungsprodukts gebildet, so ist der Hof Sitz von Veränderungen, die ab E * 
tionserscheinungen zu deuten sind. Die Drusen sind nicht al° die Urach 
senilen Demenz anzusehen, sondern nur als eine Begleiterscheinung der s*ck 
Involution, mit Hilfe der senilen Plaques ist noch sicherer bewiesen, daß Ar* 
Sklerose des Gehirns und senile Demenz prinzipiell verschiedene Krankheitspr : - 
sind. Anders verhält es sich bei einer Gruppe seniler Erkrankung, den Fall«: 
umgrenzten Atrophien. Hier ist wider Erwarten weder Drusenbildung noch £•■ 
läre Erkrankung der Ganglienzellen in den Herden gefunden, aber «getri.- 
Veränderungen an Ganglienzellen, die beschrieben und abgebildet werden 
diese auf Arteriosklerose oder auf Dementia senilis zu beziehen sind, bleibt uz-: 
schieden. 


c) Psychosen bei Herderkrankungen. 

Der Aufgabe, ein als kompliziert verrufenes Gebiet möglichst einfach - 
übersichtlich darzustellen, hat das Kompendium der topischen Hirn- und Kode 
marksdiagnostik von Bing (20) in so vortrefflicher Weise entsprochen, k; 
schon jetzt in zweiter Auflage erschienen ist, in der die wichtigen neueren Art*.' 1 
und manche eigenen Erfahrungen Aufnahme gefunden haben. 

Cole (30) findet aus dem Vergleich mit niederen und höheren Affen, kt >" 
Präfrontalregion des Menschen auf Grundlinien entwickelt ist, die schon in ni*^ 
Affen festgelegt sind, sie ist also nicht so jung wie die untere Frontalregk» - 
ihre Bevorzugung durch atrophierende Prozesse in Fällen von Verblödra: 'o* 
sich nicht ohne weiteres im Jacksonschen Sinne erklären, daß die entwicklet 
geschichtlich jüngsten Hirnteile auch zuerst der Rückbildung unterliegen. I 

Die Beschreibung eines Anenzephalen ohne Amyehe von D'Hoüani* 
eignet sich nicht zur auszüglichen Wiedergabe, ebenso die Arbeit von C*/ - 
über den äußeren Habitus eines Mikrozephalengehirns, dessen Ähnlichkeit r 
dem Gehirn des Gorillas bzw. mit den niederen Affen beschrieben und dnreb 
bildungen erläutert wird. Das Gehirn gehörte einer 49jährigen, geistig sehr 
stehenden Idiotin an und wog 888 g. 


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Matasch, Organische Psychosen. 


291* 


In einem klinisch besprochenen Fall lieferte die Autopsie die Bestätigung 
er von Redlich und Bomicini (127) vertretenen Ansicht, daß es sich um totale 
Kindheit aus einer Summation einer linksseitigen und rechtsseitigen Hemianopsie 
andelt, wobei das makuläre Feld nicht freigeblieben war. Es fand sich allgemeine 
.trophie des Gehirns (1080 g), Thrombose beider Art. cer. post, und Erweichung 
ei der Hinterhauptslappen in ihren medialen und basalen Teilen. Der Fall bestätigt 
uch die Behauptung v. Monakows , daß es an der medialenHinterhauptrinde eine reine 
Undenerweichung nicht geben kann, denn die Erweichung unterbrach die darunter 
iegende Markfaserung bis zum Ventrikel und griff auf die lateral vom Hinterhorn 
:elegene Markfaserung des Okzipitallappens über nebst Corp. genicul. ext. 
Ist damit die totale Blindheit erklärt, so ist die Erscheinung der fehlenden Wahr- 
tehmung der eigenen Blindheit in der allgemeinen und hochgradigen Störung 
ler Himtätigkeit, wie er aus dem anatomischen Befunde hervorgeht, begründet. 
Die Kombination des Versuches optischer Wahrnehmungen mit relativ gut er- 
laltenem optischen Gedächtnis in diesem Falle kann in Verbindung mit der In- 
aktheit der konvexen Anteile des Hinterhauptlappens für die Annahme Wilbrandts 
von der getrennten Lokalisation beider sprechen, läßt sich aber auch ohne diese 
Annahme damit erklären, daß der intakte Rindenabschnitt durch die Trennung 
der Projektionsfasem außer Kurs gesetzt ist, aber noch assoziativer Funktion 
dient. Die Verf. fügen noch einen zweiten ganz ähnlichen Fall hinzu, in dem aber 
das optische Gedächtnis schwer geschädigt ist und lediglich durch Konfabulation 
ersetzt wird. Gewisse erhaltene Reaktionen auf Lichtreize legen den Vergleich 
mit dem Verhalten des großhimlosen Hundes gegenüber Lichtreizen in den Ver¬ 
suchen von Goltz u. a. nahe. 

Jentsch (86) stellt die neueren Untersuchungen über die Beziehungen des 
Schädelreliefs zu den Hirnwindungen zusammen. 

Dem kritischen Referat über die Hypophysis läßt Münzer (114) das über 
die Zirbeldrüse folgen. Er macht mit Recht darauf aufmerksam, daß durch die 
innere Sekretion allein nicht alle Bestimmungen der Tätigkeit der Stoffwechsel - 
drüsen zu erklären sind, vielmehr eine Anteilnahme des Nervensystems voraus¬ 
setzen läßt, die noch gründlicher Klärung bedarf. Die Ergebnisse werden in zwölf 
Schlußsätzen zusammengefaßt, aus denen hervorzuheben ist, daß die Zirbeldrüse 
ihre bedeutungsvollste Wirksamkeit in der Kindheit entfaltet und mit einsetzender 
Pubertät einer deutlichen Involution unterliegt, die sich durch Zunahme der Binde¬ 
ge webssubstanzen, Verminderung des Drüsengewebes und Ablagerung von 
Hirnsand kennzeichnet. Es kommen Zysten und Tumoren vor, die meist den 
Teratomen zugehören; von den durch sie bewirkten Himerscheinungen sindHydro- 
cephalus int. und Augenmuskellähmungen hervorzuheben, die Beeinträchtigung 
ihrer inneren Sekretion bedingt trophische und Wachstumsstörungen, und zwar 
anscheinend als Hyperpinealismus: zerebrale Adipositas, als Hypopinealismus; 
übermäßige Sexualentwicklung, als Apinealismus: allgemeine Kachexie. Er¬ 
fahrungsgemäß scheint die Sekretion den Eintritt der Pubertät zu hemmen/ Die 
Drüse steht in Korrelation mit den Keimdrüsen und der Hypophysis. Über ihre 
Beziehungen zu anderen Drüsen ist nichts Sicheres bekannt. 


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292 * 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


Bailey und JeUiffe (6) beschreiben einen Fall von Teratom der Zetir 
von Vfc Zoll Durchmesser. Der 12jährige Knabe war zuletzt sehr schnell gew- 
und fett geworden, seit einem halben Jahresbestand in rascher Entwicklung Api. . 
Gang- und Blasenstörung, Abnahme der Ichfähigkeit, aber wenig Kopfetfc- 
und keine Augenmuskellähmung. Im September 1910 Stauungspapille, Lik_ 
der Reet sup. und der ObL sup., träge reagierende, unregelmäßige Pupillen, 
seits Herabsetzung des Hörvermögens, spastischer, ataktischer Gang, keine Ts> 
Im Oktober-November dreizeitige Trepanation mit Ventilbildung. Tod k - 
zember im Marasmus. 69 gesammelte Fälle von Tumoren der Pine&lis sind j 
züglich beigefügt. 

Wittes, (169) Fall betraf einen schwach beanlagten Mann, der mit oö J-' 
an Symptomen eines Hypophysistumors erkrankte und ihm mit 69 Jahns ta| 
Die akromegalischen Veränderungen sind abgebildet. Polyurie und Zucker w 
nicht aufgetreten, es bestand aber eine durch Sinnestäuschungen aller Sinne. u 
des erloschenen Gesichtssinnes, und Wahnvorstellungen gekennzeichnete Psyt ’ 
Die Hypophyse war in einen pflaumengroßen Tumor umgewandelt (Ads -J 
in dem Vakuolenbildung und exzessive Vergrößerung mancher Kerne mge*-! 
lieh war. 

In Kümmels (96) erstem Falle hatte ein pflaumengroßes Aneurysma, i 
offenbar vom Circul. Willis, ausging, die Umgebung der Hypophysis durch DrrJ 
atrophie ausgedehnt geschädigt und diese selbst zu einem kleinen, nur mikrodtftf 
als Drüsengewebe erkennbaren Rest erdrückt. Der Zustand hatte sich in cif. 
vier Jahren entwickelt und bitemporale Hemianopsie, später fast Erblindiuu >-< 
ursacht neben anderen Tumorsymptomen. In einem zweiten Falle ohne Ser .i 
ging bei dem 23jährigen mit altem Gesicht aber allgemein wie genital infantil 
Typus Hemichromalanopsie der Hemianopsie für Weiß vorauf, in einem dir- 1 
14jähriges Mädchen, waren die Menses im 12. Jahre aufgetreten und nti 
Wicklung von Tumorsymptomen ausgeblieben, es hatte sich starke Adip*- J 
eingestellt mit Zucker im Urin. Die Darreichung von Hypophysistabletten tii 
keinen, von Schilddrüsentabletten vorübergehenden Erfolg. 

Einen extrazerebralen Hypophysistumor beschreibt FameU (38). Ke ti i 
logische Struktur des Tumors und der Sitz deuteten auf Ursprung vom blüh i 
bzw. mandibularen Epithel und rechtfertigte die Bezeichnung als Adomu ’ 
Es machte die ersten Symptome im 35. Jahre der Kranken und führte sns; $ 
im 43. Von den Erscheinungen, soweit sie nicht allgemeine Tumorsymptome «m 
ist der anfangs remittierende Charakter, Gehörshalluzinationen und Lihr^ 
des III. und VI. Nerven zu erwähnen. 

Weygandt (161) demonstrierte einen Fall von Himgeschwulst mit Stti- 
des hinteren Hypophysenteils bei einer Achtzehnjährigen. Die seit zwei Jst-' 1 
entwickelten Symptome deuteten auf eine tumorartige Läsion in der G*r : 
des rechten Pedunkulus mit Druckwirkung auf die Hinterwand des Türken»:' 1 
hinteren Teil der Hypophysis und Chiasma oder Traktus. Mit Besseren? - 1 
Wiederkehr der zu Anfang ausgebliebenen Periode trat in kurzer Zeit ec» 
Fettsucht auf, dies weist darauf hin, daß die funktionelle Bedeutung der Hy? 


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Matasch, Organische Psychosen. 293* 

»hysen teile weit komplizierter and differenzierter ist, als man schon jetzt annehmen 
nuß. 

Schuppius (140) hat in einem Falle von Hypophysistromo (etwa kiebitzei- 
;roßes Sarkom) bei einem 30jährigen Manne Psychose vom Typus des katatonischen 
Erregungszustandes mit paranoiden Vorstellungen und Sinnestäuschungen beob- 
chtet. Diese nicht häufige Erscheinung in Hinsicht darauf, daß stärkere Druck¬ 
wirkung des Tumors jedenfalls auszuschließen war, gibt Verl Anlaß, zur Theorie 
ler psychischen Erscheinungen bei Tumoren Stellung zu nehmen. 

1 ln einer vorläufigen Mitteilung äußern sich E. Stransky und Lötoy ( 149) 
iber die pathologischen Befunde an Hirn- und Meningealvenen, sie reichen an 
lie Befunde an den Arterien bei weitem nicht heran und gehen auch nicht mit 
hnen parallel. Die Elastika, die in der Kindheit sich durch große Zartheit aus- 
unch.net, nimmt im mittleren Alter zu und scheint sich im vorgerückten Alter 
fortschreitend zu reduzieren, bei Paralyse und besonders in einem Falle von eitriger 
Meningitis fand sich Degeneration in den Endothelzellen. 

R. Weber (160) teilt in einer Anzahl von fortlaufenden Aufsätzen aus den 
Jahren 1904—11 vierzehn Fälle von Hirntumoren mit, an die er Untersuchungen 
über den Einfluß der Neubildungen auf das Hirngewebe und Bemerkungen über 
manche Punkte der Kontroverse knüpft. Die Fülle des Stoffes macht ihn zum 
Referat nicht geeignet. 

Von der berufenen Feder Hennebergs (72) ist der Abschnitt: Tierische 
Parasiten des Zentralnervensystems im Handbuch der Neurologie bearbeitet. 
Wir besitzen in der Arbeit eine klare Zusammenfassung und Sichtung der in zahl¬ 
loser Kasuistik und Einzelaufsätzen verstreuten Ergebnisse, unter denen eigene 
Beobachtungen des Verf. keinen geringen Platz einnehmen. So werden der Cysti¬ 
cercus cellulosae, der Echinokokkus, der Paragonismus Westermanni und das 
Schistosomum japonicum abgehandelt und durch eine Anzahl von Abbildungen 
erläutert. 

Salzers (130) Schriftchen, das einen Anhan g zu Weygandts Atlas der Psych¬ 
iatrie, IL Auflage, bilden soll, enthält mit erläuterndem Text instruktive farbige 
Abbildungen des Augenhintergrundes, Tafel 1 illustriert die große Variabilität 
des normalen ophthalmoskopischen Bildes, Tafel II die pathologischen und zweifel¬ 
haften Befunde, die für den Psychiater von Interesse sind. 

Mingazzini (110) stellt sich in seiner gründlichen und umfangreichen Arbeit 
die Aufgaben, die Symptomatologie und die Pathogenese der Kleinhimerkran¬ 
kungen aus den bisherigen Veröffentlichungen zusammenzustellen. Das Material 
ist eingeteilt in 1. Erweichungen und Blutungen, 2. Tumoren verschiedener Art: 
a) Kleinhirntumoren in sensu strictiori, b) Tumoren des Kleinhimbrückenwinkels, 
3 . Abszesse, 4. Atrophien und Agenesien, a) einseitige primäre, b) doppelseitige, 
c) assoziierte Atrophien des Kleinhirns und des Rückenmarks, d) assoziierte 
Atrophien des Groß- und Kleinhirns und des Rückenmarkes. Den einzelnen Ab¬ 
schnitten ist ein Literaturverzeichnis beigefügt. 

Flore (43) behandelt an 14 Fällen die Symptomatologie der Kleinhirntumoren 
bei Kindern und die Meningitissymptome im Endstadium des zerebellaren Tuberkels. 


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294 * 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


Woskressenslci (170): Bei einem im deliranten Zustande ohne Asr_ 
aufgenommenen und nach einer Woche verstorbenen 42jährigen Bauet r- 
Sektion zwei Gruppen von Veränderungen nach, eine Entwicklungsstörei; . 
die Asymmetrie der beiden Hälften des Zentralnervensystems, am stärk*: i 
Kleinhirn und Lendenmark, zurückzuführen war, nebst Mißbildung des Kkni.’ 
das aus drei völlig getrennten Stücken bestand, und Mikrogyrie der linkt 1 ■ i 
himhemisphäre. Als zweite Gruppe eine chronische Erkrankung des ganm-i 
tralnervensystems, die im ganzen der Paralyse entsprach, aber doch keine •. 1 
Unterscheidung zwischen syphilitischer oder metaluetischer Erkrankung ge?r 
Auf Lues — wahrscheinlich hereditäre — wiesen gummöse Narben an den Bn! 
hin. Jedenfalls hat sich der spätere spezifische Prozeß vorzugsweise an der. h 
tien des Zentralnervensystems etabliert, die im fötalen Leben durch die her*.-i 
Lues in ihrer Entwicklung geschädigt waren. Ob die letzteren so weit aosgp|t 
waren, daß sie keine deutlichen Erscheinungen gemacht haben, ist bei dem Maj 
an Nachrichten nicht zu beantworten, wirklich ataktische Störungen wir« i 
der Aufnahme noch nicht vorhanden, so braucht die abnorme Kleinheit dts Km 
himes nicht notwendig zur hereditären zerebellaren Ataxie zu führen. 

Willige und Landsbergen (167) empfehlen eine Methode, mit der Kanüi i 
Punktionsnadel durch vorsichtiges Aspirieren einen Zylinder von Gehimab-n 
zu entnehmen, der somit die histologische Untersuchung am Lebenden gen 
Zwei Fälle sind vorläufig mitgebeilt, in denen die Diagnose auf diese Weise p~| 

Anton (2) schildert vier Fälle von Tumoren des IV. Ventrikels als Gnu:*j 
für einen Vorschlag für die Behandlung. Aus der Erfahrung eines der Fälle :•: 
daß bei Kleinhimpunktionen die sehr variable Lage des Sinus transversus fo 
Röntgenaufnahme festzustellen ist. Sie hat auch in einem (6.) Falle von .4rrri 
des Kleinhirnes die klinische Diagnose dieses Befundes instruktiv ergänzt. Hjf 
Vorschläge faßt A. dahin zusammen: 1. den Druck auf die Organe der hin” 
Schädelhöhle und im IV. Ventrikel durch Balkenstich oder durch Ventrikelpuiiir i 
zu entlasten, 2. durch das Verfahren des Balkenstiches auch den IILVec"« 1 
zu punktieren, zu dessen Erweiterung Verlegung des IV. Ventrikels führen wn 

3. die Gegend des IV. Ventrikels freizulegen und durch das Foramen 
aber auch vom Oberwurm des Kleinhirns aus in den Ventrikel vorzudra.*" 

4. vor jeder Kleinhimpunktion ein Röntgenbild im Profil anzulegen, das bIkt 1 
Lage des Sinus transversus aufklärt, Agenesie oder Atrophie des Kleinhirns S-H 
die kompensatorische Verdickung der Schädelknochen nachweist und durch De - ' 
heit der Knochen Anhaltspunkte für die Annahme einer relativen Hypcrtr*- 1 
des Großhirns gewinnen läßt. 

Anton und v. Bramann (4) berichten über Methode und Resultate des B*ü 
stiches in 50 Fällen von Tumoren verschiedenen Sitzes, Hydrozephalus m>’ - 
ohne Stauungspapille, Epilepsie, luetische Meningitis, Zystizerken und 
schädel und fassen die Indikationen der Operation in Schlußsätzen znsaair 

v. Eiseisberg (35) desgleichen über das Operationsergebnis in 100 Fällra r 
Hirntumoren. Von 13 Hypophysistumoren wurde bei 9 gutes Resultat rf*- 
4 starben durch die Operation. Werden 10 Fälle von einfacher Ventilanhf- - 


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Matusch, Organische Psychosen. 


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usgeschieden, so bleiben 77 Operierte, von denen 32 durch die Operation starben, 
6 in weiterem Verlaufe, das Schicksal von 4 ist unbekannt, das mehr oder minder 
ute Dauerresultat betraf 12 Fülle von entfernten Großhimtumoren, 8 mit Auf¬ 
lappung ohne Tumorentfemung, 4 Akustikustumoren und 1 Kleinhiratumor. 
’ür den hohen Prozentsatz der Mortalität ist anzurechnen, daß hier alle Fälle 
ufgeführfc sind, während Mißerfolge sonst nicht immer publiziert werden. Zum 
Schluß gibt v. E. Beschreibung der Technik und Vorschläge für die Ausführung. 

Borihoeffer (22) erläutert an drei Fällen von Tumoren des IV. Ventrikels, 
vie diese symptomatisch unter sich wesentlich gleichen Fälle von der „Lehrbuchs¬ 
ymptomatologie“ abwichen. Hinterkopfschmerzen bestanden in allen nicht, in 
zweien Stimkopfschmerzen, in einem Schmerzen in der Schläfe, das für charakte- 
istisch gehaltene Vornübertragen des Kopfes bestand nur in einem Falle, im dritten 
. ielmehr Neigung des Kopfes nach hinten. Stauungspapille trat früher oder später 
n allen Fällen auf, ihr Fehlen kann demnach nicht für die Lokalisation des Tumors 
n den IV. Ventrikel verwertet werden. Auch halbseitige Symptome, wie einseitige 
Herabsetzung des Kornealreflexes, dürfen nur vorsichtig lokalisatorisch benutzt 
werden, weil ein anscheinend gleichmäßiger Druck die einzelnen Himteile sehr 
s'erscbieden stark alterieren kann. Pastöswerden des Gesichtes in einem Falle, 
das Goldstein auf hypophysären Einfluß zurückführt, bestand in einem Falle, in 
dem sich die Hypophyse stark platt gedrückt erwies. Zwei Fälle von idiopathischem 
Hydrozephalus zeigten mit den vorigen viel Übereinstimmung. Die plötzliche 
Erblindung in beiden Fällen ist von praktischem Interesse für die Behandlung. 
Eine der Kranken zeigte das Brunssche Symptom des Schwindels bei Kopfschmerzen 
angedeutet, das in den Fällen von Tumor gerade fehlte. Bei dieser Pat. war auch 
starke Gewichtszunahme aufgetreten und erklärbar durch die nach dem Tode 
beobachtete Vorwölbung des Infundibulums in Kirschgroße. Die Erfolge der 
Ventrikelpunktion in diesen Fällen schildert B. als nicht günstig, er möchte sie 
auf die Diagnostik unklarer Fälle beschränken. In einem Nachtrag führt B. einen 
Fall von Hydrocephalus idiopathicus auf, der nach seinen Symptomen einen Tumor 
ira Kleinhirn oder der hinteren Schädelgrube hatte vermuten lassen. 

Von dem groß angelegten Werke von Krause (95), Chirurgie des Gehirns und 
Rückenmarkes, liegt der zweite mit vorzüglichen Zeichnungen und farbigen Bildern 
ausgestattete Band vor. Er betrifft die chirurgische Behandlung der Epilepsie 
von genuinem und Jackson&chem Typus, die Neubildungen nach ihrem Sitze, die 
intrakraniellen Eiterungen und die metastatischen Prozesse, die Gehimverletzungen 
und die Chirurgie des Rückenmarks, so weit vollständige oder teilweise Leitungs¬ 
unterbrechung infolge von Verletzungen oder Kompression den chirurgischen 
Eingriff indiziert. Was die hohe Bedeutung des Werkes ausmacht, ist nicht allein 
die Fülle eigener Beobachtungen und Kasuistik, sondern die Symptomatologie 
und die Beherrschung der lokalisatorischen Momente und die Objektivität, mit 
der sich Vert seinen Erfolgen und Mißerfolgen gegenüberstellt. Daß im eigentlichen 
chirurgischen Verfahren vielfach neue Gesichtspunkte und Methoden geschaffen 
werden, bedarf bei der anerkannten Meisterschaft des Verf. auf dem Gebiete der 
Hirnchirurgie kaum der Erwähnung. Ist doch sein Ruf in der operativen Behänd- 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


lang der Epilepsie so weit in das Pub likum gedrungen, daß dem Arzte aft r-1 
die Frage vorgelegt wird, ob sich der Fall dazu eigne. Wer nicht den Aixr 
über Epilepsie in dem vorliegenden Werke gelesen hat, wird die Frage nicht b* 
Worten können, und auch wer sich nicht mit Himchirurgie befaßt, wird »p:-: 
Abschnitte Anregung und Belehrung schöpfen. Das wird ihm um so leicht« va- 
als K. in der Darlegung des Stoffes zeigt, daß er die Sprache nicht minder (kr. 
handhabt wie das Messer. 

Marie Charogorofcky (27) beschreibt die Ausdehnung und den Gur: 
sekundären Degeneration des unteren Längsbündels in einem Falle von Emkta: 
herd im Kuneus und der Bahnen um das Hinterhorn. Herd und recht* . 
Hemianopsie waren in dem Falle von 21 jährigem Bestände. 

Bbnon (14) fügt der Entdeckung Tastevins eine neue Variation hinn 
Asthenomania postapoplectica. Unseres Erachtens ist die Entdeckung m' 
neuer Name für Zustände, die sich teils mit dem Erschöpfungsirresein, tat i 
periodischer bzw. epileptischer Verwirrtheit decken. Einige Krankheitsfihe ti- 
die Grundlage der Ausführungen. 

Hoppe (79) läßt aus den mitgeteilten Fällen von Tumoren der Corp. quadri-- 
des Pons, des Kleinhimbrückenwinkels und des Kleinhirns sowie aus Fiite' 
Basilarmeningitis und Stirnhirntumor, die zerebellare Symptome TortjKir 
die Symptomatologie der Kleinhirntumoren als nach der Reihenfolge da ws’- 
sten Symptome der Ataxie, der hemilateraien Erscheinungen, des Schrie, 
der Auganmuskelstörungen, Atonie, Adiadokokinesis Bonhoeffers , Konm!*: 
und Kopfhaltung. 

Barmiß Arbeiten (7—11) behandeln in der Hauptsache die von ihmentdtü 
diagnostische Bedeutung des Zeigeversuchs für den Sitz zerebellarer Erkrantaf - 
Beim Gesunden tritt bei Reizung des Vestibularapparates Nystagmus auf■: 
er fällt nach rechts, bei Drehung des Kopfes nach rechts oder links fällt e m 
wärts oder nach vom. Dies auch bei Labyrinthkranken zu beobachtend* 
halten ändert sich bei zerebellarer Ataxie mit Nystagmus dahin, d*c - 
Beziehungen des Nystagmus zur Richtung des Schwankens aufgeb* 
sind. Ein Normaler mit Nystagmus nach links zeigt beim 
sehen Tastversuch rechts vorbei. B. schloß, daß wenn bei Erkrankung« ‘ 
Wurms spontanes Fallen besteht, so müßte bei Erkr ankung en der HemispL' - 
spontanes Vorbei zeigen auf treten und wenn die Fallreaktion fehlt, so auch' 
Erkrankungen der Hemisphären die Reaktion des Vorbeizeigens ausfallen 
So hat sich ihm bestätigt, daß in Fällen linksseitiger Hemisphäreneita^ 
die Zeigereaktion nach links am linken Arm fehlte, wenn Nystagmus nach r« 
erzeugt wurde. In einem Felle, in dem wegen Sinusthrombose operiert war, i'- 
Pat. mit dem rechten Arme rechts vorbei, wurde das linke Ohr kalt ausgesp rf: 
so trat Nystagmus nach rechts auf mit Vorbeizeigen des linken Armes und te 
Füße nach links, während der rechte Arm nur wenig schwächer nach rechts vai> 
zeigte, Ausspritzen des rechten Ohres dagegen bewirkte stärkeres Vorbei* 1 ^ 
des rechten Armes und der anderen Extremitäten. Nach Eröffnung ein» ßs 
himabszesses rechts ließ sich Ausfall der Zeigereaktion nach links am recht« 


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Matusch, Organische Psychosen. 


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anstatieren. B. weist im weiteren nach, daß es hier zu herabgesetzter Erreg- 
arkeit des Zerebellums gekommen ist, und daß Verschiedenheit im Verhalten 
?r Zeigereaktion durch die verschiedene Lokalisation der Extremitäten und ihrer 
nzelnen Gelenke im Kleinhirn zu erklären sind. Experimentell konnte er dies 
ti einem Fall nachweisen, wo die Kleinhimdura nur von Haut bedeckt war. 

Fiore (44, 46) teilt einen Fall von Tuberkel in der Regio Roland bei einem 
Jnde mit, der klinisch durch Anfälle Jacksonscher Epilepsie diagnostiziert, wahr- 
:heinlich durch Tuberkulin geheilt war. Das Kind blieb 17 Monate von Hirn- 
ymptomen frei, erlag dann allgemeiner Tuberkulose, und die Sektion wies an der 
ermuteten Stelle amorphe und bazillenfreie Reste des Tuberkels nach. Der zweite 
'all betrifft die klinische Schilderung eines nach geringfügigem Schlag entstandenen 
ibszesses im rechten Hinterhauptlappen bei einem Kinde. Es erlag 10 Tage nach 
ier Operation einer eitrigen Meningoenzephalitis. 

Gianelli (67) beschreibt einen der nicht häufigen Fälle von Erweichungsherd 
;n Balken und stellt aus ihm und den bisher veröffentlichten Fällen das anatomisch 
ind symptomatologisch Wichtige in Schlußsätzen zusammen. Eine andere Arbeit 
lianeüis (58) schildert den Symptomenkomplex in einem Falle von Erweichung, 
ler sich auf das Tegumentum des peduncul. cerebr. beschränkte. 

An dem Befunde an einem 30 Tage alt gewordener Mikrozephalen mit Agenesie 
Jler Stimrindenelemente und imvollkommener Anlage des Thalamus und des 
jinsenkems verfolgt Romagna-Manoia (129) die Markbekleidung der Lemniskus» 
asera und schließt aus dem Gange derselben, daß die myelinisierten Fasern ein 
‘inheitliches System von aufsteigendem Verlauf bilden und aus den Göllschen 
ind Burdachschen Kernen hervorgehen. 

Niessl v. Mayendorf (116) gibt seinem Buche über die aphasischen Störungen 
ind ihre kortikale Lokalisation ein Vorwort, in dem er als wichtigste Aufgabe 
:les Buches den Nachweis funktioneller Gesetzmäßigkeit der Großhimmechanik 
bezeichnet, sein Glaubensbekenntnis in diesen vielumstrittenen Fragen darlegt 
und den vielfach recht polemischen Ton des Buches aus der Notwendigkeit der 
.,Sichgeltendmachung des positiv Hingcstellten“ ableitet.' Es ist aufgebaut 
auf dem Plane, außer der Begründung der Eigenschaften der Wortbildphänomene 
die Rindenörtlichkeiten, welche den Mechanismus ihrer Entstehung und Wieder¬ 
belebung enthalten, festzustellen, und zwar auf drei getrennten Wegen: 1. durch 
die Häufung der Prädilektionsgebiete von prägnante Symptome bietenden Herd¬ 
erkrankungen, 2. durch die anatomische Verfolgung der Leitungsbahnen, welche 
von der Peripherie zu diesen Rindengegenden führen, 3. durch die Betrachtung 
der Rindenstrukturen und ihrer Zusammensetzungsverhältnisse. Der Aufstellung 
dreier Wortbildkategorien, akustisches Wortbild (primäres -einer Entwicklung 
nach) kinästhetisches (sekundäres) und optisches (tertiäres) Wortbild entspricht 
die von N. v. M. benutzte Terminologie ihres Erlöschens als Amnesia verbalis 
acustica, kinaesthetica und optica, und als dominierendes Ergebnis der Unter¬ 
suchungen stellt er den Satz an die Spitze: daß die Bildungsstätten des kortikalen 
Wortbildes zusammenfallen mit den Rindenfeldem, in denen die zentralen l^i- 
tungsbahnen des Gehör-, Muskel- und Gesichtssinnes ihr Ende finden. 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


Ein Such, das sich die Aufgabe stellt, die aphasischen Störungen oste 
heitlichen und vielfach neuen Gesichtspunkten zu betrachten und dies a . 
umfänglichen Material zu begründen, kann nicht im Auszug besprochen, s.w 
muß gelesen werden. Die Hervorhebung der präzis formulierten Schlösse ii: 
nur ein unvollständiges und leicht mißverstandenes Bild seiner Gedankte 
geben. Sieht doch Verf. in Zuständen, die als vollständige Krankheitsbilder r. - 
ziert zu werden pflegen, klinische .Phasen, physiologisch notwendige B-d- 
erscheinungen der eigentlichen Störung und Einfluß der in ihrer Bedeutui» 
den Sprachmechanismus unterschätzten rechten Hemisphäre. Verf nenn: ■* 
Buch einen ersten Vorstoß mit neuen Waffen. Auch seine Gegner werden j- 
kennen, daß er sich ausgezeichnet gerüstet hat und daß sein Buch die bedew«; 
Erscheinung der letzter Jahre auf diesem viel bearbeiteten Felde ist. 

Heilbronner (69) beleuchtet in interessanter Darstellung, welchen Gar- •. 
Lokalisationsproblem unter dem Gesichtspunkt der Aphasielehre in den ktr 
50 Jahren genommen hat, in der Fragestellung, ob und wieweit bestimmte 
ptome oder Komplexe den Schluß auf eine Läsion bestimmter Gehirntermn 
zulassen und welche Schlüsse aus dem gesetzmäßigen Parallelgehen bestks 
Symptome mit bestimmten Schädigungen des Großhirns etwa auf die Leistr_> 
dieser Partien und von da aus auf die Funktionen des Großhirns überhaap? 
zogen werden können. Hinsichtlich der ersten Frage ergibt sich, daß die grz 
legenden Feststellungen Brocaa und Wemicke s aller Nachprüfung Stande 
haben und die Fortschritte klinischen Ausbaus der Sprachstörungen und dem 
tomischen Detailbetrachtung hoffen lassen, sie immer detaiUierter lokalisiert^. 
können, die Lösung der zweiten Frage wird die Beschäftigung mit den apbasivt' 
Erscheinungen nicht viel fördern, insofern sie wirklichen Einblick in das Verh; 
zwischen Physischem und Psychischem nicht verschaffen wird. 

Mvngazzmi (109) w'eist nach, daß ein bestimmter Symptoraenkompk-i. 
Linsenkernsyn drom, bei Läsionen des Linsenkems emtritt, imd welche Funki c: 
den einzelnen Teilen des Linsenkems zukommen. Die Zerstörung des Linseni'' 1 
veranlaßt folgenden Komplex: leichte auf den Fazialis und die Glieder der 
Seite beschränkte Parese, geringe Steigerung der Patellar-, Achilles- und «• ' 
Reflexe derselben Seite, leichte Anisokorie und Störungen der objektiver >■ 
sibilität und bisweilen leichte Atrophie der Extremitäten. Läsion der vier hir'? - ' 
Fünftel des linken Ganglions bewirkt Dysarthrie bis Anartbrie, Läsion des Pu:ir^ 
besonders des äußersten Drittels, kann auch pseudomyelitische Parästhesien ra- 
Glieder der anderen Seite bewirken. 

Nach Gutzmann (62) fehlt es noch an einheitlicher Auffassung über dk 
trennung der kortikalen Anarthrie von der motorischen Aphasie, es kommt i&< 
an, die dysarthrische Komponente von der dysphasiseben zu trennen und 
Methoden, die Verf. bespricht und verbessert, nachzuweisen. 

Zahn (175) erörtert die auf organischen zentralen Läsionen und auf 
tionellerGrundlage entstehenden Artikulationsstörungen und widmet den Hiw' 
seiner Arbeit dem zur letzteren Gruppe gehörenden Stammeln und Stottern. £' 
Stottern handelt es sich tun Störung einer bestimmten Bewegung, vergleich!»! c- 


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Matusch, Organische Psychosen. 


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chreibkrampf,der sich gerade nur bei der Schreibbewegung einstellt, ihre Erklärung 
urch rein psychische Vorgänge reicht nicht aus, Verl nimmt erhöhte Erregbarkeit 
n zentralen Nervensystem an, soweit es für die Sprache in Betracht kommt, 
eren Ursache angeboren oder durch Infektionskrankheiten, Kopfverletzung, 
emütsbewegungen, psychische Ansteckung und anderes erworben sein kann, 
de Ursachen des Stotteranfalls, die in der Regel in zu hastigem Sprechen, unrich- 
igem Atmen und in der Steigerung der normal vor schweren Wortanfängen und 
Vortreihen vorhandenen Spannung, „Bremsung 11 , liegen, und ihre genaue Be- 
bachtung geben die Richtwege für die Behandlung. 

ln einem von d? Holländer (77) mitgeteilten Falle hatte jahrelang totale 
Iphasie bestanden (die Kranke hatte außer Ja und Nein keine Worte und keinerlei 
VortVerständnis) und Asymbolie, die auf Herderkrankung deuteten, während 
lie Sektion nur allgemeine Atrophie und Hydrozephalus ergab. 

Förster (4?) bespricht einen Fall von isolierter Agraphie. Bei allgemeinen 
Tumorsymptomen bestanden rechtsseitige Hemiparese und aphasische Störungen 
olgenden Charakters: Sprachverständnis und Nachsprechen intakt, Spontan¬ 
er echen etwas unbeholfen, Wortfindung vom optischen, akustischen und aktiven 
Jebot her intakt, Lesen, Musikverständnis und Singen gut. Ferner beiderseits 
leichte motorische Apraxie, Spontanschreiben, Diktatschreiben schlecht, Kopieren 
besser, Zeichnen gut, Buchstabieren, Silbennennen und Lesen in einzelnen Buch¬ 
staben leidlich gut. F. weist nach, dafi es sich um eine transkortikale apraktische 
Störung handelt, ein Herd, der die zuleitenden Bahnen vom optischen Zentrum 
links, Eupraxiezentrum ( Liepmanns ) durchbricht und außerdem Bahnen vom 
Felde des sog. Wortbegriffs zu diesem Zentrum schädigt, würde den Symptomen- 
komplex erklären. Operation über dem Lob. parietal, entdeckte den Tumor nicht, 
er wird also weiter nach vorn oder, unwahrscheinlicher, nach hinten zu suchen 
sein. Weitere Operation wurde abgelehnt. 

In Bergers (16) Fall einer 60jährigen, schon länger geistig abnormen Frau 
wurde beim Befunde nach leichtem Schlaganfall festgestellt, daß die rechte Hand 
leicht ataktisch war, stereognostisches Erkennen mit der rechten Hand erschwert 
war und folgende Schreibstörung bestand: einzelne Buchstaben des Alphabets 
wurden unkenntlich geschrieben oder durch andere ersetzt, Diktatschreiben lieferte 
noch größere Fehler, die aber von ihr richtig kritisiert wurden, ihren Namen schrieb 
sie stets richtig, Kopieren und Nachzeichnen war richtig, das Lesen, Sprache und 
Sprachverständnis war ungestört. Es fanden sich außer einem frischen Herde 
im linken Thalamus, welchem Insult die Frau erlegen war, zahlreiche Herde in 
beiden Hemisphären, aber nirgends in der Rinde. Da die Frau Rechtshänderin 
war, kommen diese Herde in der linken Hemisphäre für die Annahme von Faser¬ 
unterbrechungen zwischen Sehsphäre und dem Zentrum für die feineren Bewegungen 
der rechten Hand in Betracht und der Fall lehrt jedenfalls, daß es durch Faser¬ 
unterbrechungen auch bei völlig intakten Rindenzentren zu Schreibstörungen 
kommen kann. 

In einem Falle von Stauffenbergs (146) lag einer 3 Jahre unveränderten doppel¬ 
seitigen motorischen Apraxie ohne Agnosie und ohne Intelligenzstörung, mit leichter 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


sensorischer Aphasie, totaler Agraphie und Alexie ein Erweichungsherd roert 
der Mark und Rinde des ganzen linken Gyr. supramarginaL zerstört hatte. I- 
andere kleinere Herde kommen für den Symptomenkomplex nicht in Betr»- 
Verf. schließt aus diesem und den Fällen der Literatur, daß Läsionen des Sr? 
des Gyr. supramarg., die groß genug sind, die motorische Zone von den hä'-' 
Sinnesfeldem abzuschneiden, das dem Handeln dienende System an ein» - 
scheidenden Stelle treffen. Die Alexie ohne Aphasie läßt sich dadurch erkü- 
daß der Herd die Verbindung an den optischen Sprachzentren zu den motori^i 
völlig unterbrochen und das motorische Wortzentrum vom optischen von 1* 
Seiten her nahezu abgeschnitten hatte, die direkte Verbindung vom Wortkhi. 
Zentrum zum Motorium und die vom übrigen optischen Erinnerungsfeki 
III. Stimwindung aber erhalten war. 

Giannelli (56) behandelt in einem kritischen Referat die Beziehunsec 
Apraxie zu Läsionen des Corp. caUosum. 

Fix (157) schildert einen Fall von rechtsseitiger Lähmung mit links-eru- 
Apraxie, der durch das gute Schreibvermögen der linken Hand auffiel udö 
geringfügige litterale Paragraphie aufwies. Die apraktische Störung bestand dr: 
daß gewisse Bewegungen ungeschickt, unzweckmäßig oder ungenügend ausgeför 
wurden, wenn sie aus dem Gedächtnis gemacht wurden, nicht aber, wenn sr 
Gegenstände in der Hand hatte. Zuerst bot sie das Bild reiner WortsnmiF> 
bei intactem Wortverständnis, in der Phase der Rückbildung zeigte sich gen.- 
Erschwerung der Wortfindung und eine Zeit lang agrammatische Störung, i 
Leseverständnis war stets intakt. Die fehlenden „vergessenen“ Buchstaben sehr.- 
sie mit der Schreibkugel auch nicht mit der rechten Hand, mit beiden aber rid- 
wenn sie ihr unter anderen vorgelegt wurden. Es zeigten sich in diesem Falle v 
Dyspraxie und agraphische Störung voneinander unabhängig. 

Bomsieins (25) Fall von ideatorischer Apraxie zeigte paraphasische Störu. 
vom Charakter der amnestischen Aphasie, Agnosie und Apraxie, deren ideatoriscer 
Ursprung B. schildert, und die er im Gegensatz zu der motorischen, auf einen i i: 
k umskripten Herd zu beziehenden Apraxie auf eine diffuse Hirnfffcn 
kung zurückführt. Der anatomische Befund, der übrigens noch nicht abgeschkey- 
ist, entsprach dem der Paralyse. 

Ein kurz von <THolländer (76) beschriebener Fall ließ trotz Blindheit, Taubfe* 
und Verlust der Sprache aus Logorrhoe, Jargonaphasie, einige erhaltene Vor 
und Stereotypien der Rede die Wernicke sehe Aphasie feststellen, dem entsprach- 
ausgedehnte ein- und beiderseitige Erweichungsherde, Zerstörung der Ja 
lenticularis“ bei intakter III. Stimwindung. 

Borchers (24) berichtet einen Fall von motorischer Aphasie durch ein Ein¬ 
seitiges subdurales Hämatom nach Schußverletzung, das die Gegend der IIL Snn 
windungkomprimierte. Nach, operativer Beseitigung trat fastvollkommeneHeütmgg. 

Im Falle Bergers (15) gesellte sich zu einer sensorischen Aphasie durch Sdk 
anfall nach viermonatigem Bestehen durch neuen Insult motorische Aphasie, i 
bis zum Tode nach weiteren zwei Monaten fortbestand. Eine Anzahl Erweirhm. 
herde wird abgebildet und ihre Beziehungen zu den Symptomen besprochen: 


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Matasch, Organische Psychosen. 


301 * 


•rtikaier Herd im linken Temporallappen der bis auf die Okzipitalwindungen 
»ergriff und die Wemieke sehe Stelle entschloß, bedingte die sensorische Aphasie, 
n relativ frischerer Herd in der 3. Stirn Windung bedingte die motorische; hier 
ir von besonderem Interesse, daß er nicht die äußerlich intakte Rinde betraf, 
ndem den hinteren Teil der Front. III ihres ganzen Marklagers beraubte und auch 
if Front. II Übergriff. DerLinsenkem und seine Umgebung war frei bis auf eine 
^grenzte Degeneration der oberen Insel Windungen, ein Beweis, daß totale Aphasie 
öglich ist auch ohne Beteiligung der Zona lenticularis. 

Die verschiedentlich vertretene Behauptung, daß Gail der eigentliche Ent- 
“cker des Sprachzentrums sei, entkräftet Froriep (50) durch den Nachweis, daß 
er Sprachsinn Gail s etwas ganz anderes ist als das BouiUaud-Broca&che Sprach- 
L^rmögen und daß das Brocosche Zentrum recht weit von der Gegend liegt, in die 
all sein Sprachorgan verlegte. 


) Psychosen bei diffusen Gehirnkrankheiten. 

Aus der Statistik von JeUiffe und Briü (85) über die Aufnahmen von Nerven- 
iilen in die Vanderbilt-K’inik in den Jahren 1900—1909 sind folgende Zahlen von 
ateresse. Von 10007 Männern und 11283 Frauen waren 1676 Epileptische (831 
nd 846), ungewöhnlich hoch waren die Zahlen für Chorea minor: 1589 (666 + 
033) mit starker Bevorzugung des weiblichen Geschlechts, Chorea major fand 
ich nur einmal. Paralysis agitans 182 (114 + 68), spastischer Torticollis 138 
30 + 88). amyotrophisebe Lateralsklerose 17 (11 + 6), Lateralsklerose 63 (43 
- 10), multilpe Sklerose 112 (68 + 44), Tabes 383 (336 + 47), Syringomyelie 26 
17 + 9), Caissonmyelitis 2maL Hemiplegien waren rechtsseitig annähernd gleich 
äufig wie linksseitig. Hirntumoren 43 (21 + 22), Kleinhirntumoren 13 (10 + 3), 
Jasedow 118 (13 + 106). Die Verschiedenheit der Beteiligung der Geschlechter 
n einzelnen Formen ist bemerkenswert 

Siemerling und Raecke (141) revidieren an den Befunden von 7 Fällen chro- 
lischer multipler Sklerose die bisherigen Ansichten über Anatomie und Patho- 
;enese dieser Krankheit Da dieser vorläufigen Mitteilung ausführliche Bearbeitung 
olgen soll, kann eingehendere Besprechung dieser Vorbehalten bleiben. Das vor- 
äufige Ergebnis, zu dem die VerfL gelangen, ist, daß wir in der Herdbildung der 
nultiplen Sklerose einen sicher entzündlichen Prozeß vor uns haben, der sich in 
ler Ausbreitung an die Blutgefäße hält und zuerst zu kapillaren Blutungen führt 
nit geringem, aber zweifellosem Ausfall von Fibrillen, stärkerem der Markscheiden, 
röhrend die Gliawucherung teils als Reaktion auf den gesetzten Reiz, teils als 
rörbenbildung anzusehen ist Für die Frage des Zusammenhanges zwischen mul* 
ipler Sklerose und Trauma ist die Bedeutung der Blutungen für die erste Ent- 
tehung der Herde von hoher Wichtigkeit. 

E. Schulte (138) behandelt in einem klinischen Vortrage die Symptoma¬ 
tologie der multiplen Sklerose, insbesondere in Hinsicht auf die frühzeitige Diagnose 
rnd Wert und Häufigkeit der Einzelsymptome, wobei Verf..vielfache eigene Er¬ 
fahrungen mitsprechen läßt. 

FameU (39) berichtet einen Fall von progressiver Muskelatrophie vom Typus 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXIX. Lit. V 


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302* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


Charcot-MaHe-Tooth, der insofern vom typischen ab wich, als er isoliert u 
Familie auftrat, im 4. Dezennium des Lebens begann und sich zuerst in des 
Extremitäten äußerte. 

Ein Fall Ladame s (108) von posttraumatischer amyotrophischer Lateralis i 
bestätigt die Aufbrauchstheorie dadurch, daß die Atroohie nach und mü. -i 
G lied in der Reihenfolge ergriff, wie es infolge der Lähmung der übrigen ui 
mäßig in Anspruch genommen wurde. Die Erkrankung des 40jährigen Sa; 
hatte nach Rückwärtsfallen über eine' Kiste mit Schmerzen in der Hüfte und Fn 
der Peroneusmuskulatur begonnen. 

Oianneüi (65) beschreibt eine anfangs auf die VIL hintere Wurzel beschiß 
später auf die V. und VI. übergreifende Radikolalgie. Die Diagnose auf Sjpti 
wurde ex juvantibus bestätigt 

Gaztelu (52) erklärt einen Fall von Herpes Zoster im Verlauf amyotrophwj 
Lähmung der rechten Schultermuskulatur für eine besondere klinische Fern 
Zoster, die mit Lähmung oder Amyotrophie einhergeht 

Der Fall Volle y Joves (156) von Paramyoclonus multiplex bei einem Z«tj 
jährigen bietet nichts Besonderes. 

Giannelli (54) bespricht die Krankengeschichte und den anatomische 1 
fund eines mit hereditärer Syphilis geborenen Mädchens, bei dem sich von Kir'j 
an das Bild der Friedreichsch&n Krankheit entwickelt hatte und das im 22. .'n 
starb. Es war körperlich, auch sexuell infantil geblieben und schwachsinnig ; 
Diagnose auf Chorea electo, an welche der Charakter der Zuckungen und Grisli 
denken ließ, auf juvenile Tabes und multiple Sklerose lehnt G. ab, der anato^n 
Befund, der eingehend geschildert wird, entsprach nicht ganz dem typi-i 
bei Friedreichs Krankheit, er bestand hauptsächlich in Meningo -Enk«; a 
Myelitis von sklerosierendem Charakter mit Entwicklungshemmungen im Ze;~ 
nervensystem. Gefäßveränderungen syphilitischer Natur und Strangerkrankorj 
die in ihrer elektiven Verteilung an inzipiente Tabes erinnerten, eine Ähü 
keit, die auch durch Rarefizierung der aufsteigenden Trigeminuswurzel mi i 
Solitärbündels gesteigert wurde. Der Fall scheint dafür zu sprechen, daß die T~ 
reicftsche Krankheit in einigen Fällen mehr als Syndrom bei hereditärer Lues ri 
sehen werden muß und nicht als nosographische Einheit. 

M. Bernhards (17) Fall von atypischer Syringomyelie betrifft einen <5 j 
21 Jahre beobachteten Mann, bei dem sich die ersten Erscheinungen nach Bri 
fellentzündung eingestellt hatten. Disposition des erblich belasteten Krvi 
zu spinaler Erkrankung war aus Sklerose, spastischen Symptomen und Sphincm 
schwäche anzunehmen. Die Ausbreitung der Syringomyelie auf die Hinteren 
des Zervikal- und oberen Dorsalmarkes begründete Erscheinungen von Tü 
die sich ja zu Syringomyelie gesellen kann, hier aber nicht vorliegt. Bemerk 
wert war in dem Falle das Auftreten eines kurzen halluzinatorischen Anr- 
Standes etwa 10 Jahre nach Beginn, der dauernde, aber nicht affektiv bet- 
Gehörstäuschungen und paranoide Vorstellungen zurückließ. 

EaXbey (64) beobachtete bei einem Paralytiker (Infektion 1900, UnfaS i 
wahrscheinlicher Basisfraktur 1895) zirkumskripte Hyperidrosis vor dem rw: 
Ohre beim Kauen und Ageusie des vorderen Zungenteils rechts, die auf dk 7| 


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Matasch, Organische Psychosen. 


303* 


etzung der Chorda tympani durch den Unfall zu beziehen sind und auf deren 
sekretorische Fasern im zweiten Ast des Fazialis. 

Moleen (113) legt in seinem Fall von Hemiatrophia faciaL Gewicht darauf, 
laß der Beginn in das 6. Lebensjahr fiel, vielleicht im Anschluß an Trauma. Bei 
iem Kranken bestanden außerdem Reste von Poliomyelitis ant in den ersten 
Lebensjahren. 

Hough und Lafora (80,81) geben einen statistischen Bericht über die Polio- 
nyelitisepidemie v. J. 1910 im Columbiadistrikt nach Verbreitung, Wittcrungs- 
rerhältni'sen, Alter, Geschlecht, Symptomatologie, Verlauf und Behandlung, 
llire Ergebnisse der anatomischen Untersuchung sind in der Hauptsache: der 
Liquor ist in der Regel klar, gibt aber meist positiven Nonne-ApeU und Nogucki, 
Druckerhöhung ist im Beginn häufig, ebenso Pleozytose. Die anfangs vorhandene 
Vermehrung der polymorphonuklären Zellen macht einige läge später Lympho¬ 
zytose mit wenigen Plasmazellen und Mastzellen Platz, ihr Verschwinden beruht 
auf der lebhaften Phagozytentätigkeit der Macrophagen Veränderte rote Blut¬ 
körperchen im Liquor deuten auf kapilläre Hämorrhagien. Bakterien wurden 
nicht gefunden, obgleich alles für die bazilläre Natur der Krankheit spricht 
JeUifte (83) führt an einem Beispiel die meningeale Form der Poliomyelitis 
vor, in die sich nicht wenige Fälle der Epidemie gekleidet haben 

Williams (166) weist darauf hin, daß die P. a. eine konstitutionelle Er¬ 
krankung ist und Beweisen ihrer Kontagiosität gegenteilige Beweise gegenüber¬ 
stehen. Er hält die Verbreitung durch Insekten als Träger oder Zwischenwirte 
für möglich, damit ständen gute Erfolge mit Queckrilber in Einkiang und diese 
Behandlung wäre weiter zu prüfen. 

Maas (106) teilt sechs Fälle mit, in denen die Diagnose auf Meningitis serosa 
teils klinisch berechtigt war, teils durch die Sektion bestätigt wurde. Als Ursache 
war in fünf Fällen Bleiintoxikation erwiesen oder wahrscheinlich, im sechsten 
Falle, einer 29jährigen Schwachsinnigen, mit Krämpfen im 2. Lebensjahr, meint 
Verf. den Hydrozephalus auf den Einfluß des mit Blei arbeitenden Vaters beziehen 
zu dürfen. Der Befund an einem anatomisch durchsuchten Fall bestand in leichter 
Verdickung der Pia und der Gefäße im Hirn und Rückenmark, Pigmentsklerose 
der Ganglienzellen und Wucherung der Glia mit Bildung amöboider Gliazeilen. 
Zusammenfassend bemerkt M., daß auf dem Boden der Bleiintoxikation Menin¬ 
gitis serosa auftreten kann mit Symptomen wie das Babinskischs Zeichen, deren 
Beziehung auf die Meningitis oder auf direkte Bleiwirkung noch nicht gesichert 
ist, und daß dabei sonst Lr Blei charakteristische Symptome vermißt werden können. 

In dem Kapitel: Myelitis und myelitische Strangerkrankungen des Hand¬ 
buches der Neurologie entwirft Hermelerg (71) nach einleitendem histologischen 
Überblick und Definierung der hierher gehörigen Prozesse das anatomisch« Bild 
der einzelnen Formen und stellt nach diesem folgende (schematische) Gruppierung 
auf: I. Myelomalazie, IL genuine akute Myelitis, 1. infiltrative Myelitis nach den 
Untergruppen a) Poliomyelitis acuta, b) diffuse Formen mit besonderer Betei¬ 
ligung der grauen Substanz, c) transversale und disseminierte inf. M., d) akute 
hämorrhagische inf. M. e) akute Meningomyelitis, f) purulente M., Meningomyelitis 
und Rückenmarksabzeß. 2. Degenerative genuine Myelitis mit den Untergruppen, 

v* 

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304* Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 

a) akute bzw. subakute Degeneration der nervösen Elemente, tian°versaks c- 
miniertes funikul&res Lückenfeld, b) totale transversale und disseminiene N«kr * 
In der überaus gründlich behandelten Ätiologie läßt E. die Schreckmydin» > 
nicht gelten, für die Seltenheit bakterieller Befunde bestehen zwei Erküre, 
möglichkeiten: es können lediglich ihre Toxine die Gewebsveränderung beciar. 
oder die Bakterien gehen im Rückenmark rasch zugrunde. Positiver Befund 
überdies unzuverlässig, weil das Siechtum bei Myelitis der Bakterieninvi» 
viele Tore öffnet. Der Tierversuch hat gezeigt, daß zur Bakterienein schwemm 
■noch andere Faktoren treten müssen und die Toxine die gleichen Verändticr: 
hervOrrufen wie die Bakterien selbst, die Pathogenese ist somit noch imrm 
Dunkel gehüllt, und die Anwendung eines bestimmten Entzündungsbegriib ■* 
sich wie auch sonst, so auch für die Beurteilung und Klassifikation der myehüc- 
Prozesse wenig fruchtbar erwiesen. Es folgen dann Darstellung der Symptonu 
logie, Prognose. Diagnose und Therapie, wobei die aus praktischen Gründm : 
disseminierten Myelitis gerechneten Befunde zusammenfassend bespre:. 
werden. Den Schluß der Arbeit bilden die kombinierte pseudosystematische Stoe. 
degeneration und die anämische fokale Leukomyelitis, die Yerf. als einbeiriic 
Erkrankung auffaßt. 

Pellizzi und Sarteschi (124) untersuchen die halbseitigen Sympton* : 
Krankheitsbilde der Idiotie auf meningitischer Grundlage, das sie als Idiotiaa r: 
gitica pura simplex in früheren Arbeiten beschrieben haben. An einer Rah* . 
Tabellen werden die Beziehungen der Reflexe, der dynamischen Leistuur 
myasthenischen Reaktion (auf Faradischen Strom) und die Art der Konvub»t 
wo sie die Erkrankung begleiten, zu einander erörtert. In letzteren Fällen »v- 
halbseitige Erscheinungen häufiger, fast in 90%, während sie sich in nicht i 
vulsiven Fällen in 76% zeigten, myasthenische Symptome finden sich nat-' 
konstant in allen Fällen 

Gxannelli (69) hält Fehlen des Patellarreflexes bei Jugendlichen für ein 
volles Zeichen der Heredolues. 

Yawger (174, 171) führt aus daß wie bei bestimmten Kopfschmerzen N*r 
algien von verschiedener Art und Sitz auf rheumatischen Myitiden (Muskelschmtk 
beruhen. Außer den durch das Grundleiden indizierten Maßnahmen ist Mas»: 
in erster Linie anzuwenden. 

Willige (168) sichtet die bisher beschriebenen Fälle von Paralyas as'J- 
in jugendlichem Alter und teilt eine eigene Beobachtung mit, in der die Erbr 
kung im 22. Jahre begann. Yon im ganzen 47 Fällen bleiben 12—14 einwandt:' 
Fälle übrig, als unterste Altersgrenze ergibt sich das 20., vielleicht das 18. Jac: 
Das klinische Bild unterscheidet sich nicht wesentlich von dem der präsent 
doch scheint sie sich häufiger mit multipler Sklerose zu komplizieren und «iseb- 
viel öfter als diese familiär, so daß die familiären Fälle in eine nosologisch >- 
sondere und einheitliche Gruppe zu weisen sind. Ätiologisch kommen akut« 
fektionskrankheiten, namentlich Typhus, in Betracht, weniger geistige und kör» 
liehe Traumen. 

JeUiffe (84) liefert eine hübsch ausgestattete Darstellung des Lebens und 
Arbeiten des Francisctts Sylvins. 


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Grütter, Anstaltswesen and Statistik. 


305* 


9. Anstaltswesen und Statistik; 

Ref. E. Grütter-Lüneburg. 

I. Allgemeines. 

1. Alter (Lindenhaus), Die FürstL Lippische Heil- u. Pflege-Anstalt 

Lindenhaus. Psych.-neuroL Wschr. 13. Jahrg., Nr. 25, S. 237. 
(S. 325*.) 

2. Alzheimer, A., Ist die Einrichtung einer psychiatrischen Abteilung 

im Reichsgesundheitsamt erstrebenswert? Ztschr. f. d. ges. 
Neurol. u. Psychiatrie. Bd. 6, H. 2, S. 242. (S. 329*.) 

3 . Ast (Eglfing), Der Typhus in der Heil- u. Pflege-Anstalt Eglfing. 

Münch, med. Wschr. Nr.4ö, S. 2389. (S. 324*.) 

4. Auerbach, S., Die Errichtung einer besonderen Abteilung im 

Reichsgesundheitsamt zur Bekämpfung der Nerven- und 
Geisteskrankheiten. Psych.-neuroL Wschr. XIIL Jahrg. 
Nr. 43. (S. 330*.) 

5. Autengruber, M. (Mauer-Öhling), Die Stellung des Anstaltsarztes 

der Öffentlichkeit und den Behörden gegenüber. Psych.- 
neuroL Wschr. XIII. Jahrg., Nr. 37, S. 371. (S. 328*.) 

0. Becker, TV. H., Ketzergedanken eines Psychiaters. Psych.-neuroL 
Wschr. XIIL Jahrg., Nr. 8, S. 69. (S. 327*.) 

7. Belletrud et Froissard, Essai de placement familial autour de 

l’asile de Pierrefeu. L’Informateur Nr. 3. (S. 323*.) 

8 . Beyer, E., Die Nervenheilstätte im Dienste der Kranken-, Unfall- 

u. Invalidenversicherung. Psych.-neuroL Wschr. XIIL Jg., 
Nr. 44, S. 411. (S. 325*.) 

9 . Boehnke, K. E., Beitrag zur Frage der Bedeutung der Ruhr- 

Dauerausscheider. Münch, mcd. Wschr. Nr. 22, S. 1187. 
(S. 325*.) 

10. Bötticher, E. (Gießen), Verbreitung und Bekämpfung des Typhus 

in Irrenanstalten. Ztschr. f. Hyg. Bd. 67, H. 2. 

11. Bonhomme, J., Les d6s6quilibres insociables ä internements dis- 

continus et la section des aliönes difficiles ä l’asile de Ville- 
juif. Paris, G. Steinheil. 146 S., 6 Fr. 

12. Bresler, J. (Lüben), Zur Entlastung der öffentlichen Irren- etc. 


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UNIVERSI7Y OF MICHIGAN 



Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


306* 

Anstalten. Psych.-neuroL Wschr. XIL Jahrg., Nr. 46. $.*:• 
(S. 321*.) ‘ 

13. Briggs, L. V. (Boston), What can be done for the preventM 

insanity by the treatment of incipient cases in general h<s 
tals, and what has been done in the past. Americ. Jom 
insanity vol 67, Nr. 4, p. 637. 

14. Capgras, «7. (Ville-Evrard), Note sur une application partiell: 

de la loi de 1838. Revue de psych. et de psychoL experz 
No. 5, p. 179. 

15. Comu, Alitement en plein air. Ann. m6d.-psych. Jahrg. 69. >'r 

16. Gullere, L’hopital d’öpileptiques de l’6tat d’Ohio. Ann. mW 

psychol. 69 ann., Nr. 1, S. 52. 

17. Damaye, H. (Bailleul), L’assistance aux troubles mentaux an 

et curables. Revue de psych. Nr. 9, p. 377. (S. 323* 

18. Damaye, H., L’höpitalisation des aliinäs aigus et curables. i 

revue philanthropique. (S. 323*.) 

19. van Deventer (Amsterdam), Pflege der gefährlichen und schädlich 

Geisteskranken. Psych.-neuroL Wschr. XIIL Jahrg.. X. 
S. 5. (S. 329*.) 

20. Döbrick, G. (Kosten), Die Not der Psychiatrie. 18 S. Lissa L! 

Oskar Eulitz’ Verlag. (S. 327*.) 

21. Döbrick, G. (Kosten), Ketzergedanken eines Psychiaters. Psyd 

neurol. Wschr. XIL Jahrg., Nr. 41—42. (S. 327.) 

22. Döbrick (Kosten), Videant consules.! Psych.-neurol. '\Sv 

XIII. Jahrg., Nr. 27, S. 265. (S. 327.) 

23. Döbrick (Kosten), Odium psychiatricum. Psych.-neurol. W?fl 

XIII. Jahrg., Nr. 38, S. 381. (S. 327*.) 

24. Döbrick, G. (Kosten), Zur Bedeutung der Anstaltspsychian 

Erwiderung auf den Artikel des Herrn Prof. TVe&er-Göttin? 
Psych.-neurol. Wschr. XII. Jahrg., Nr. 50, S. 466. (S. 32*' 

25. Dölair, /., Soci6t6 de patronage des malades sortis des asiles d- 

Seine et de quartiers d’hospices. L’assistance, mars-avru 

26. Drapes, Th., The personal Equation in Alienism. Joum. of Med 

Science, October 1911, p. 598. 

27. Drevcry, F., The state care of the insane. The old dominion joura 

of medecine and surgery. Bd. 9, Nr. 1. (S. 331*.) 

28. Erlaß, betr. Vorschriften über Anlage, Bau und Einrichm 


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Grütter, Anstaltswesen and Statistik. 


307* 


von Kranken-Heil- u. Pflege-Anstalten sowie von Entbin¬ 
dungsanstalten und Säuglingsheimen vom 8. August 1911. 
D. med. Wschr. Nr. 30, S. 3—4. 

0. Erskine, W. I. A. (Nottingham), Asylum dysentery. The journ. 

of mental scienee voL 57, Nr. 238, p. 492. (S. 325*.) 

0. Fischer, M. (Wiesloch), Die Entwicklung des badischen Irren¬ 
wesens. Klin.-therap. Wschr. Nr. 28, S. 778. (S. 320*.) 

1. Fischer, AI. (Wiesloch), Statistisches aus dem badischen Irren- 

wesen. Psych.-neurol. Wschr. XIII. Jahrg., Nr. 6, S. 47. 
(S. 320*.) 

2. Fürsorgeamt für entlassene Geisteskranke in Berlin. D. 

med. Wschr. Nr. 37, S. 1707. 

3. Gallus (Potsdam), Helenenhof, ein Haus für psychopathische 

weibliche Fürsorgezöglinge. Psych.-neurol. Wschr. XIII. 
Jahrg., Nr. 28, S. 277. (S. 326*.) 

4. Glauning (Waldheim), Die ersten Anfänge staatlicher Fürsorge 

für Geisteskranke in Sachsen. Mtschr. f. Kriminalpsych. u. 
Strafrechtsreform, 8. Jahrg., 2. H., S. 97. (S. 320*.) 

6. Glüh (Hamburg), Was bot die Internationale Hygiene-Ausstellung 
Dresden 1911 dem Psychiater? Mitt. a. d. Hamburg. Staats- 
krankenanstalten Bd. XIII, H. 14. (S. 326*.) 

16. Grober, G., Das deutsche Krankenhaus. Handbuch für Bau, Ein¬ 

richtung und Betrieb der Krankenanstalten. Unter Mit¬ 
wirkung von Prof. Dr. E. Dietrich, herausgegeben von Prof. 
Dr. G. Grober. 30 M. Jena, Gustav Fischer. 

17. Günther und Böttcher, W. (Hubertusburg), Der Typhus in den 

Kgl sächsischen Landesanstalten zu Hubertusburg und seine 
Bekämpfung. Ztschr. f. Hyg. u. Infektionskrankh. 68. Bd. 
3. H. (S. 324*.) 

18. Haardt, K. (Emmendingen), Die Durchführung der Dauerwache 

in der Großh. Bad. Heil- u. Pflege-Anstalt Emmendingen. 
Psych.-neurol. Wschr. 1911, XII. Jahrg. Nr. 44, S. 414. 
(S. 321*.) 

19. Hagemann, Die Ruhr in Staedtel-Leubus und allgemeine Betrach¬ 

tungen über die Pseudodysenterie der Irren. Klin. Jahr¬ 
buch Bd. 25, H 3. 

10. Heck (Rheydt), Die elektrischen Anlagen in der Walderholungs- 


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308* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


stätte im Stadtwalde zu Rheydt. Die Heilanstalt. VLJär. 
Nr. 4, S. 53. (S. 321*.) 

41. Hindhede, Mein Ernährungssystem. Eine Umwälzung und V> 

billigung unserer Ernährung. Mit einem Musterkochbsn 
Deutsch von Marie DieUs. 194 S. 2,60 M. Leipzig, Vnhsr 
u. Co. 

42. Hrase, J., Zur Eröffnung der Kgl böhmischen Landesirrenm-u 

in Bohnitz bei Prag. Psych.-neuroL Wschr. XIL Jah 
Nr. 61, S. 471. (S. 326*.) . 

43. Hurd, H. Af., A history of institutionell care of the insane in 

United States and Canada. Americ. journ. of insan. v«L' 
Nr. 3, january, p. 587. 

44. Jones, Edith Kathleen (Waverley), Librairies for the patient- 

hospitals for the insane. The americ. journ. of insan. vul r - 
p. 95. (S. 331*.) 

45. Kasan (Rußland), Bezirksanstalt für Geisteskranke. DrrsK 

Hygiene-Ausstellung. (S. 330*.) 

46. Keay, J. (Uphall), Bangour village. Journ. of mental 

Nr. 237, voL 57, p. 408. 

47. Kerns, E. (Galkhausen), Zur Behandlung der Unruhe der Gei>> 

kranken. Psych.-neuroL Wschr. XIL Jahrg., Nr. 42, $.$* 
(S. 329*.) 

48. Klinke (Lublinitz), Hausindustrie. Psych.-neurol. Wschr. XI. 

. Jahrg., Nr. 20, S. 189. 

49. Kolb, G. (Kutzenberg), Die Familienpflege unter besonderer b 

rücksichtigung der bayrischen Verhältnisse. Ztschr. L 
ges. Neurol. u. Psych. Bd. 6, H. 3, p. 273. (S. 323 *.) 

50. Koller, A., Die Zählung der geistig gebrechlichen Kinder des sefci 

pflichtigen Alters im Kanton Appenzell a.Rh. vom Hm- 
1907 nebst einer Nachzählung der im Jahre 1897 gezählt 
geistig gebrechlichen Schulkinder. Ztschr. f. d. Erforsch 
Behandl. des jugendl Schwachsinns (Prof. Dr. Vogt ttr 
Prof. Dr. Weygandt). 4. Bd., 1911. (S. 330*.) 

51. Kümer, Rieh. (Tübingen), Über die Verbreitung der Sypküt J 

den Schwachsinnigenanstalten Württembergs auf Grund < j 
Blutuntersuchungen mittels der Wewsemunnschen Metb «: 
Inaug.-Diss., Tübingen. 


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Grütter, Anstaltswesen und Statistik. 309* 

2. Ladame , Ch. (Gendve), Une visite h la colonie agricole d’Ucht- 

springe. Ann. medico-psychologiques, 69° annöe, Nr. 2, 
p. 230. (S. 326*.) 

3. L’assistance familiale dans le Var. L’assistance 20° annäe, 11 sdrie, 

mai, p. 65. 

1. Lechner, K. (Klausenburg), Klinik für Nerven- und Geisteskranke 
zu Klausenburg (Ungarn). Psych.-neuroL Wschr. XIII. 
Jahrg., Nr. 12, p. 107, Nr. 13, p. 117. (S. 326*.) 

). Leppmann (Berlin), Irrenärztliche Tagesfragen. Bert klin. Wschr. 
Nr. 46—47. (S. 328*.) 

3. Levison. L’assistance des enfants anormaux en Norvege. L’as¬ 
sistance, avriL 

7. Lohr, Die künftige Heil- und Pflege-Anstalt Lohr. Psych.-neurol. 

Wschr. XIII. Jahrg., Nr. 20, S. 194. (S. 326.*) 

3. Lugiato, Luigi (Sondrio), II manicomio della provincia di Utopia. 

Sondrio. Soc. tipogr. Valtellinese. 66 p. (S. 320*.) 

9. Lwoff et Serieux, Les aliönfo au' Maroc. Paris, Masson, 12 p. 
(S. 331*.) 

1 Marie, A., et Delair,J., Soci6t6 de patronage des malades sortis 
des asiles de la Seine et des qüartiers d’hospices. L’assistance, 
mars-avril. 

I. Mignot, R., Pratique psychiatrique. La procödure de l’interne- 
ment. La clinique, 6® annle, Nr. 6. 

I. Mönkemöller, 0. (Hildesheim), Die Praxis psychiatrica im 18. Jahr¬ 
hundert. Psych.-neurol. Wschr. XIIL Jahrg., Nr. 22, S. 211. 
(S. 320*.) 

3. Moukhlis, A., Statistique de l’asile des aliänäs de Top-tachi pendant 

l’annöe 1326. 1910—1911 (Constantinople-Scutari). L’as- 
sistancc aoüt, 20* ann6e, 11« s6rie. 

4. Nücke, P. (Hubertusburg), Die Notwendigkeit ärztlicher Leitung 

an Defekten-Anstalten. II. Groß ’ Archiv Bd. 41, H. 1 u. 2, 

S. 88—95. (S. 328*.) 

). Noske, Karl, Zerkleinerungsvorrichtungen. Heft der Gemischten 
Technologie von Prof. F. Fischer-Göttingen. Leipzig, Otto 
Spamer. 

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11* s6rie. 


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100. Strassner, H. (Homburg v. d. H.), Diätküche in der mediiinixt- 

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Bd. 15, H. 4. (S. 322*.) 

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jahrsschr. f. gerichtl. Med. u. öffentl. Sanitätswesen Bd 
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102. Tödter, Walther, Eine Typhusepidemie in der Landesirrenaiw 

Gehlsheim. Inaug.-Diss. Rostock 1911. (S. 324*.) 

103. Topp, R. (Berlin-Weißensee), Zur Ernährung bei Schwi-' 

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Wschr. XIII. Jahrg., Nr. 21. S. 205. (S. 325*.) 

104. Typhusepidemie in der Prov.-Irrenanstalt Conrad-; 

Psych.-neurol. Wschr. XIII. Jahrg., Nr. 26, S. 257. (S. £- 

105. Weber, L. W. (Göttingen), Zur Bedeutung der Anstaltspsychu: 

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(S. 327*.) 

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J. Grober. Jena 1911, Gustav Fischer. (S. 319*.) 


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Grütter, Anstaltswesen und Statistik. 


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für 1910. Dir.: San.-Bat Dr. Dubbers. (S. 332*.) 

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1910. Oberarzt: Dr. Kellner. (S. 348*.) 

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richte für 1909 u. 1910, mitgeteilt vom Großh. Badischen 
Ministerium des Innern. Karlsruhe, Macklotsche Buch¬ 
handlung. (S. 363*.) 

>. Bamberg, Städt. Heil- u. Pflegeanstalt St. Getreu. Bericht 
für 1908, 1909, 1910. Dir.: Dr. A. Bott. (S. 357*.) 

I Bayreuth, oberfränkische Heil- und Pflege-Anstalt. Be¬ 
richt für 1910. Dir.: Dr. Hock. (S. 357*.) 

I. Brandenburgischer Provinzialausschuß, Aus¬ 
zug aus dem Verwaltungsbericht vom 17. Februar 1911. 
(S. 334*.) 

i. Brandenburgischer Hilfsverein für Geisteskranke 
zu Eberswalde. 37. Jahresbericht für 1910. Eberswalde 1911. 
C. Kemnitz. (S. 377*.) 

i. Breslau, Städtische Heilanstalt für Nerven- und Gemüts¬ 
kranke. Bericht für 1910. Dir.: San.-Rat Dr. Hohn. (S.339*.) 
. B r i e g, Prov.-Heil- und Pflege-Anstalt. Bericht für 1910. 
Dir.: San.-Rat Dr. Petersen. (S. 339*.) 


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UNIVERSITY OF MICHIGAN 



314* 


Bericht Aber die psychiatrische Literatur 1911. 


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Dir.: Dr. A. Heilung. (S. 368*.) 

123. Buch, Irrenanstalt der Stadt Berlin. Bericht für 1910. 

San.-Bat Dr. Richter. (S. 336*.) 

124. B u n z 1 a u, Prov.-Heil- und Pflege-Anstalt. Bericht für !■'. 

Dir.: San.-Bat Dr. Neisscr. (S. 339*.) 

125. Burghölzli, Zürcherische kantonale Irrenheilanstalt. :• 

rieht für 1910. (S. 370*.) 

126. Cery, Bapport annuel de l’asile deCery pro 1910. (SX 

127. Conradstein, WestpreußischeProvinzial-IrrenanstaliI 

rieht für 1910. Dir.: Geh. Med.-BatDr. Kroemer. (S. 3£ 

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Dir.: Geh. Med.-Bat Dr. Sander. (S. 335*.) 

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Dir.: Ober-Med.-Bat Dr. Lehmann. (S. 356*.) 

131. Dziekanka, Provinzial-Irrenanstalt. Bericht für H 

Dir.: San.-Bat Dr. Kaiser. (S. 337*.) 

132. Eglfing bei München, Oberbayerische Heil- und Pf- 

Anstalt. Bericht für 1910. Dir.: Dr. VocJce. (S. 3V 

133. Eichberg, Landes-Heil- und Pflege-Anstalt im Bhe;rJ 

Bericht für 1910. Dir.: Dr. Wachsmuth. (S. 350*.) 

134. Ellen bei Bremen, St. Jürgen-Asyl für Geistes- und Er¬ 

kranke. Bericht für 1910. Dir.: Dr. Delbrück. (S. & 

135. Ellikon a. d. Thur, Trinkerheilstätte. Jahresbericht für: 

(S. 374*.) 

136. Feldhof zu Graz, Steiermärkische Landes-Irren- Heii- 

Pflege-Anstalt. Bericht für 1910. Dir.: Dr. Sterz. (S. 3d 

137. Freiburg i. Schl., Provinzial-Heil- und Pflege-Anstalt 

rieht für 1910. Dir.: San.-Bat Dr. Buttenberg. (S. 34 1 

138. Friedmatt, Kantonale Heil- und Pflege-Anstalt. Pr' 

für 1910. Dir.: Prof. Dr. Wolff. (S. 371*.) 

139. Friedrichsberg, Irren-Heil- und Pflege-Anstalt des: 

burgischen Staates. Bericht für 1910. Dir.: Prof 
Weygandt. (S. 348*.) i 


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UMiVERSlTY OF MICH! GA INJ 



Grfitter, Anstaltswesen und Statistik. 


315* 


10. Gabersee, Oberbayer. Heil- und Pflege-Anstalt. Bericht 
für 1910. Dir.: Dr. Drees. (S. 359*.) 

U. Gehlsheim, Großh. Mecklenbg. Irren-Heil- und Pflege- 
Anstalt bei Rostock i. M. Bericht für 1910. Dir.: Geh. Med. - 
Rat Dr. iSchuchardt. (S. 347*.) 

12. Güttingen, Provinzial-Heil- und Pflege-Anstalt. Bericht 

für 1910. Dir.: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Cramer. (S.344*.) 

13. G r a 8 s i, Resoconto statistico-clinico del manicomio di Siena 

nel triennio 1908—1910. Rassegna di studi psychiatrici Bd. 1. 
H. 2. (S. 375*.) 

14. Haus Schönow, Heilstätte für Nervenkranke in Zehlen¬ 

dorf bei Berlin. Bericht für 1910. Dir.: Prof. Dr. M. Laehr. 
(S. 337*.) 

5. Herzberge, Irrenanstalt der Stadt Berlin. Bericht für 1910. 

Dir.: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Moeli. (S. 335*.) 
fl. Hessischer Hilfsverein für die Geisteskranken in 
Hessen. Bericht für 1910. (S. 377*.) 

7. Hildesheim, Provinzial-Heil- und Pflege-Anstalt. Bericht 

für 1910. Dir.: Geh. San.-Rat Dr. Oerstenberg. (S.344*.) 

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years 1900—1909. Journal of nervous and mental disease 
Bd. 38, Nr. 7. (S. 377*.) 

9. Kaufbeuren, Bayrische Heil- und Pflege-Anstalt. Bericht 

für 1910. Dir.: Dr. Prinzing. (S. 359*.) 

0. Königsfelden (Aargau), Kantonale Heil- und Pflege- 
Anstalt. Bericht für 1910. Dir.: Dr. Fröhlich. (S.373*.) 

1. Kor tau (Ostpr.), Provinzial-Heil- und Pflege-Anstalt. Be¬ 

richt für 1910. Dir.: San.-Rat Dr. StoUenhoff. (S.332*.) 

2. Kosten (Posen), Provinzial-Irren- und Idioten-Anstalt. Be¬ 

richt für 1910. Dir.: Dr. Scholz. (S. 337*.) 

3. Kremsier, Mährische Kaiser Franz Josef I.-Heilanstalt. 

Bericht für 1910. Dir.: Dr. V. Navrat. (S. 368*.) 

4. Kreuzburg (Schlesien), Provinzial-Heil- und Pflege-Anstalt. 

Bericht für 1910. Dir.: Dr. Schubert. (S. 340*.) 

5. Kutzenberg, Oberfränkische Heil- und Pflege-Anstalt. 

Bericht für 1910. Dir.: Dr. Kolb. (S. 360*.) 


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316* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


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Dir.: Dr. Riebeth. (S. 355*.) 

167. Langenhagen, Provinzial-Heil- und Pflege-Anstalt l 
rieht für 1910. Dir.: Dr. Völker. (S. 345*.) 

158. Langenhorn, Irren- Heil- undPflege-Anst&lt des hambr: 

sehen Staates. Bericht für 1910. Dir.: Prof. Dr. Sevkr. 
(S. 348*.) 

159. L e u b u s (Schlesien), Provinzial-Heil- und Pflege-Anstalt. ; 

rieht für 1910. Dir.: Geh. San.-Rat Dr. Alter. (S. 3k 

160. Lewenberg (Schwerin i.M.), Großh. Heil- und Pf< 

Anstalt für geisteskranke Kinder. Bericht für 1910. k 
Med.-Rat Dr. Jenz. (S. 348*.) 

161. Lindenhaus bei Lemgo, FürstL lippische Heil- und Pik 

Anstalt. * Bericht für 1910. Dir.: Dr. W. Alter. (S. £> 

162. L u b 1 i n i t z , Prov.nzial-Heil- und Pflege-Anstalt. Anri; 

Chronik 1893—1910. Dir.: Dr. Klinke. (S. 342*.) 

163. Lübeck, Staatsirrenanstalt. Bericht für 1910. Dir.:. 

Watteriberg. (S. 346*.) 

164. Lüben (Schlesien), Provinzial-Heil- und Pflege-Anstalt. 1' 

rieht für 1910. Dir.: Geh. San.-Rat Dr. Simon. (S. V-- 

165. Lüneburg, Provinzial-Heil- und Pflege-Anstalt. Ber 

für 1910. Dir.: San.-Rat Dr. 0. Snell. (S. 345*.) 

166. Mariaberg (Württemberg), Heil- und Pflege-Anstalt I 

Schwachsinnige. Bericht für 1910/11. (S. 362*.) 

167. Meerenberg, Verslag betreffende het Gesticht Meeren 

over het jaar 1910. Dir.: Dr. van Walsem. (S. 375*.. 

168. München, Königliche psychiatr. Klinik. Bericht für 

und 1909. Dir.: Hofrat Prof. Dr. KraepeUn. (S. 360* 

169. Münsterlingen (Thurgau), Kantonale Irrenheilanr 

Bericht für 1910. Dir.: Dr. BrauehU. (S. 372*.) 

170. Neustadt in Holstein, Provinzial-Irrenanstalt. Berich: 

1910. Dir.: Dr. Däbdstein. (S. 343*.) 

171. Neustadt iWestpr., Provinzial-Irrenanstalt. Berich: 

1910. Dir.: San.-Rat Dr. Rabbas. (S. 333*.) 

172. Niedernhart, österreichische Landes-Irrenanstalt 

rieht für 1910. Dir.: Dr. Sehnopßagen. (S. 368*.) 


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Grütter, Anstaltswesen and Statistik. 


317* 


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San.-Rat Dr. Dluhosch. (S. 338*.) 

<4. Osnabrück, Provinzial-Heil- und Pflege-Anstalt. Bericht 
für 1910. Dir.: San.-Rat Dr. Schneider. (S. 346*.) 

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San.-Rat Dr. Werner. (S. 338*.) 

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9. Rheinprovinz, Hilfsverein für Geisteskranke. 10. Jahres¬ 

bericht für 1910. (S. 378*.) 

0. Rockwinkel, Heilanstalt bei Bremen. Bericht für 1910. 
Besitzer und Leiter: Dr. W. Benning. (S. 349*.) 

1. Roda, Herzogliches Genesungshaus, Irren-Heil- und Pflege- 

Anstalt für Sachsen-Altenburg. Bericht für 1910. Dir.: 
Med.-Rat Dr. Schäfer. (S. 357*.) 

2. Roda, Herzoglich sächsisches Martinshaus, Idiotenanstalt für 

Knaben von 6—16 Jahren. Bericht für 1910. Dir.: Med.-Rat 
Dr. Schäfer. (S. 357*.) 

3. Rosegg (Solothurn), Kantonale Heil- und Pflege-Anstalt. 

Bericht für 1910. Dir.; Dr. L. Greppin. (S. 371*.) . 

1. R y b n i c k , Provinzial-Heil- und Pflege-Anstalt. Bericht für 

1910. Dir.: Dr. Zander. (S. 341*.) 

3. Saargemünd, Lothringische Bezirks-Heil- und Pflege-Anstalt 
Bericht für 1910. Dir.: Geh. San.-Rat Dr. Dittmar. (S. 366*.) 
5. Sachsen, Königreich, Das Irrenwesen im Jahre 1909. Leipzig 

1911. Verlag von J. C. Vogel. (S. 353*.) 

7. Sachsenberg, Großh. Mecklbg. Irren-Heil- lind Pflege- 
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richt für 1910. Dir.: Prof. Dr. Kirchhoff. (S. 344*.) 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXIX. Lit. w 


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UNIVERSITY OF MICHIGAN 



318* 


Bericht ü&er die psychiatrische. Literatur 1911. 


19C l &chmnMm 8t,ekkwm } Yodoopig algemeen oeemdit k 
wegmg in de jVederlandsche krankzinpigetigLv^ 
liefe jaar Psyteliinferispchi^ en netirologtech».' 

1911, Sf, 3. (S. 375».} 

191. Schff e li,,;: Wesipreußische Provinzial-Irrenanstalt. £> 

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192. 8 c o 11 and , 53. annuel repnrt m t he general board Ü 

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193. S > g m a r i ri g e n , Fürst*(>ri-Landeir?pitaL Berich; ?■ 

Dir.: San.-Rat Dr, Jjingard. {ß, 366*.) 

194. SnnnenJi aldo bei Eieheti (Kgntidi Basel), ' ' 

Heilanstalt für weiblielir Geniütßkraake. 11. Beruht l 
Dir : Dr, Bark (S. 372*.) 

195. 8 t & e k • ) fi, Uvlätidische Land es-Heil- und Pfleg,-Ai 

Oebteskranke, Berichte von 1907—1910. Dir.: Ln i 

1$HL 8 1 1 p h a n %f e .1 d - II5 x d f, FMsshwhe Bezirk=-Tn = 
Beneid für 1910. Dir. : San.-Bat Dr. 7 immtioft, i: 


W/ß 

t e t t tn i. -fteti 

aatal (WürHeniberg), Heil- und Pf!; - 


für Schwache« 

migfi und Epileptische. Bericht für I?r 


Oberarzt: Dr. 

SeWtißym*.) 

193. K 

f. P i r ra i n e h 

c r .JCttittiÄte Heil- und Pflegv-A, 


Bericht für 19 

P Dir.: Dr. iUSerlik (S. 373“ . 

199. f 

aiDiö-nliö fey 

Ev&rigtübche Heil- und Pflege-A j 


Lültmighanser 
Dr, Beeliti. (! 

» (Bhemiand). Bericht für 1910/11. 

. kky.:- 

200. T 

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"ußbehc LandespflegeanstaH. Bericht lar:{ 

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Dir.: Dt llnv 

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e h üs pifeal, M assach useit &. (8 8 


202. Tftttpi t g. Bfeafideidxürgißiihe LahdesirrenköstaU. Ber?n 
mx Vit.- Dt Knorr. (8. 334*.) 

V Oii-rsehle^teni). Provinzial-Heil- und Pflege-Ac-’ • 
it für 1910. Dir.; San.-Rat Dr. Schuir. (S. « 

im. Jahre,1910. Yei&ffwuhdi^ 
Ungar. M»nr?terium des .Innern. (8. 309».) 

2(0. V ; a 1 0 •:? K f M Ä'n. s.lu.g e n , B e 11 e ]. a y , Bvmiecii* 







GrUtter, Anstaltswesen and Statistik. 319* 

nale Irrenanstalten. Bericht für 1910. Dir.: Prof. Dr. 
v. Speyer, Dr. Glaser , Dr. Hiss. (S. 370*.) 

6. W a 1 d h a u 8, Kantonale Irren- und Krankenanstalt. Bericht 
für 1910. Dir.: Dr. Järger. (S. 373*.) 

•7. Wehnen, Großh. Oldenburgische Heil- und Pflege-Anstalt. 

Bericht für 1910. Dir.: Med.-Rat Dr. Brümmer. (S.349*.) 
3. Weilmünster, Landes-Heil- und Pflege-Anstalt. Bericht 
für 1910. Dir.: San.-Rat Dr. Lantzius-Beninga. (S. 350*.) 
9. Wiesloch, Großh. Badische Heil- und Pflege-Anstalt. Be¬ 
richt für 1909 und 1910. Dir.: Med.-Rat Dr. Fischer. (S. 365*.) 
0. Wil, Kantonales Asyl (St. Gallen). Bericht für 1910. Dir.: 
Dr. Schiller. (S. 371*.) 

1. Württemberg, Bericht über die im Königreich bestehen¬ 

den Staats- und Privatanstalten für Geisteskranke, Schwach¬ 
sinnige und Epileptische für 1909. Herausgegeben vom KgL 
Medizinalkollegium. Stuttgart 1911. W. Kohlhammer. 
(S. 361*.) 

2. Wuhlgarten, Berliner st&dt. Anstalt für Epileptische. 

Bericht für 1910. Dir.: Dr. üebold. (S. 336*.) 

3. Zürich, Schweizerische Anstalt für Epileptische. Bericht für 

1910. (S. 374*.) 

In dem Handbuch für Bau, Einrichtungen und Betrieb der Krankenanstalten 
as deutsche Krankenhaus“ hat Weygandt (107) den Abschnitt Irrenanstalten bear- 
tet. Die Abhandlung bringt einen zusammenlassenden Überblick über die Ge- 
ltspunkte, die bei dem Bau einer modernen Irrenanstalt maßgebend sind und 
l sollen, und behandelt in besonderen Abschnitten die Anlage und Einrichtung 
einzelnen Teile derselben. Als Optimum der Krankenzahl werden 600 Plätze 
eichnet. Lage am besten in der Nähe einer Mittelstadt. Etwa 50 % der Kranken 
•en in der geschlossenen Abteilung unterzubringen, 25—30 % der vorwiegenden 
:tbehandlung bedürftig. Pavillonsystem ist am Platze, am besten mit je 30 
höchstens 60 Plätzen. .Die Wachsäle seien möglichst klein, in jedem 4—6, 
hstens bis zu 8 Betten. Gitter sind abzulehnen. Als Umfriedigung der Gärten 
den versenkte Mauern empfohlen. Die wichtigste Behandlungsmethode ist die 
tbehandlung (Freiliegekuren) und das Dauerbad, event. feuchte Einwicklungen, 
lerbäder mit nicht mehr als 3 Wannen in einem Raum, empfohlen wird Ein- 
itung zweier Räume nebeneinander mit je 3 Wannen, Trennung durch Schiebetür 
Fenstern. Isolieren und die Anwendung schlafmachender Arzneien sind auf 
Minimum zu reduzieren. Schottisches Wachsystem empfohlen. Beschäftigungs- 
rapie wird besonders gewürdigt. „Die Familienpflege bedeutet einen der erfreu- 

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320* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


lichsten Fortschritte in der Irrenfürsorge. 41 Zahlreiche Abbildungen aus alten und 
neuen Anstalten sind der Abhandlung beigegeben, in Plänen, Grundrissen usw. 
finden die Anleitungen zum Bau der einzelnen Abteilungen ihre Ergänzung und 
Erklärung. 

LugicUo (69), Direktor der Irrenanstalt zu Sondrio, die unter seiner Leitung 
entstand, gibt unter Benutzung der Atlanten von Bresler und Kolb seine Erfahrungen 
über den Bau von Anstalten wieder und errichtet eine neue im Pavillonsystem 
erbaute Anstalt — in „Utopien“. Hervorgehoben mag werden, daß Verf. die Isolier¬ 
räume für gefährliche und gewalttätige Kranke nicht entbehren kann. Jeder Pavillon 
enthält einen Baderaum (Dauerbäder). Kosten etwa 3 Millionen Lire (für 650 Kr.), 
auf das Bett etwa 5000 Lire. {Ganter.) 

Nach den Akten des alten Zucht- und Tollhauses zu Celle erzählt Mönkemöller 
(62) von der Handhabung der Psychiatrie durch die Ärzte des 18. Jahrhunderts. 
Auch damals schon deckte sich die praktische Handhabung der Psychiatrie mit der 
theoretischen Lehre keineswegs. Als Ätiologie spielte auch in jener Zeit bereits 
die Heredität eine große Rolle, ebenso der Alkohol, ferner auch die Witterung 
sowie mancherlei moralische Ursachen, Hochmut, Eifersucht usw. Auch über 
Diagnostik, Symptomatologie, Behandlung mit medikamentösen Mitteln, aber auch 
mit Beschäftigung, geben die Ausführungen interessante Aufschlüsse. 

Glauning (34) gibt einen kurzen Überblick über die Entwicklung der staat¬ 
lichen Fürsorge für Geisteskranke in Sachsen, die sich im Anfang, wie damals üblich, 
auf die Unterbringung der Kranken zusammen mit Sträflingen in gemeinsamen 
Zucht-, Armen- und Waisenhäusern beschränkte, und zwar zunächst in Waldheim 
(Eröffnung 1716) und Torgau (1730), bis vor 100 Jahren die Anstalt Sonnenstein 
zur Aufnahme von Geisteskranken bestimmt wurde. 

Die Entwicklung des badischen Irrenwesens von der Zeit der Gründung des 
Pforzheimer Spitals für elende und arme Sieche im Jahre 1322 bis auf die heutige 
Zeit schildert kurz Fischer (30). 1842 war die Eröffnung von Illenau, 1878 die 
der Irrenklinik zu Heidelberg, 1886 derjenigen zu Freiburg, 1889 wurde Emmen¬ 
dingen, 1905 Wiesloch in Betrieb genommen. Zurzeit wird an der Fertigstellung 
der neuesten badischen Anstalt in Konstanz gearbeitet. Außerdem wird noch ein 
weiteres großes Projekt für das Mittelland geplant. Uberfüllung der badischen 
Anstalten zurzeit 27,4 % gegenüber der Normalbelegung. 64,2 % aller Geistes¬ 
kranken des Landes sind in staatlichen Heil- und Pflegeanstalten, 35,8 % in den 
nicht staatlichen Anstalten ohne eigentliche irrenärztliche Organisation. Auf 1000 
Einwohner in Baden 1,84 Anstaltpfleglinge. 

Zu seiner Denkschrift über den Stand der Irrenfürsorge in Baden vom Jahre 
1909 bringt Fischer (31) noch einige Ergänzungen. Danach hat sich die Zahl der 
Geisteskranken in Irrenanstalten in den 80 Jahren seit 1830 um 17,9 mal stärker 
bzw. rascher vermehrt als die Landesbovölkerung. Der Jahresindex — der Zuwachs 
aller Anstalten pro Jahr — betrug 1872 noch 9, 1910 schon 149, zeigt also steigende 
Tendenz trotz aller Anstrengungen des Staates in der Bereitstellung neuer Anstalts¬ 
plätze. Die Ausgaben wuchsen von 132 700 M. im Jahre 1870 auf 2 346 800 M. 


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Grütter, Anstaltswesen und Statistik. 


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n Jahre 1908 , das ist das 17,7 lache. Diese Verhältnisse sind in einer Anzahl von 
Curven auch graphisch anschaulich dargestellt. 

Wilmanns (111) lenkt die Aufmerksamkeit auf die Fischen che Denkschrift 
ber den Stand der Irrenfürsorge in Baden. Die Überfüllung der Anstalten herrscht 
ach wie vor. Es ist jedoch außerdem noch ein beträchtliches Mehr von Kranken 
ußerhalb der Anstalten vorhanden, das wegen Platzmangels in den Anstalten keine 
Aufnahme findet und deshalb in der Bevölkerung zurückgehalten wird. Es ist 
nzunehmen, daß nicht die absolute Zahl der Geisteskranken, sondern besonders 
hre Anstaltsbedürftigkeit in so starkem Wachstum begriffen ist. Ein zahlenmäßiger 
beweis für die Behauptung einer fortschreitenden Degeneration der Rasse ist 
loch nicht erbracht. Wahrscheinlich ist es, daß mit dem Anwachsen der großen 
Städte auch die Gefahr der luetischen Infektion und mit ihr auch die Paralyse 
in Verbreitung gewonnen haben. Ebenso sind vielleicht auch die sogenannten 
üntartungszustände, Neurasthenien, traumatische Neurosen, Zwangsirresein, die 
Phobien, die leichten Depressionszustände im absoluten Wachstum begriffen. 

Bresler (12) weist darauf hin, daß eine gewisse Entlastung der öffentlichen 
Irrenanstalten dadurch erreicht werden kann, daß die Frage der Entlassungs- 
nöglichkeit bei den einzelnen Krankep möglichst individualistisch geprüft wird 
ind dabei auch die äußeren Umstände berücksichtigt werden, die seinerzeit die 
Unterbringung des Pfleglings veranlaßten und mit deren Wegfall vielleicht der 
V 7 ersuch einer Verpflegung außerhalb der Anstalt in Frage kommt. 

In seinem, mit zahlreichen Abbildungen und Skizzen versehenen „Beitrag 
zur Abwässerbeseitigungsfrage“ verbreitet sich Thumm (101) eingehend über die 
wichtige Frage der Beseitigung von Abwässern in öffentlichen Krankenhäusern, 
Genesungs- und Erholungsheimen usw. Die Arbeit enthält wichtige Gesichts¬ 
punkte für alle, die sich mit dem Bau und der Einrichtung von Krankenanstalten 
und dergleichen zu befassen haben. Es werden darin die zur Reinigung der Ab¬ 
wässer gebräuchlichen Verfahren, die mechanischen, mechanisch-chemischen auf 
der einen Seite und die biologischen Abwässerreinigungsverfahren auf der andern 
Seite besprochen. „Die hinsichtlich der einzelnen Reinigungsverfahren gemachten 
Angaben, bei denen, wo es notwendig schien, auch auf größere Verhältnisse Bezug 
genommen wurde, geben die wichtigsten Anhaltspunkte wieder, die bei der Ein¬ 
richtung und dem Betriebe von Abwasseranlagen der in Rede stehenden Art Be¬ 
achtung zu finden haben, falls Mißerfolge nach Möglichkeit vermieden werden sollen.“ 

Heck (40) beschreibt die elektrischen Anlagen in der Walderholungsstätte 
im Stadtwalde zu Rheydt, die insofern ganz besonders interessant sind, als nicht 
nur die Beleuchtung, sondern auch die Heizung und die Kochapparate auf elektri¬ 
schem Wege betrieben werden. Die Einrichtung ist sehr leicht zu bedienen und 
hat sich bisher gut bewährt. 

Haardt (38) berichtet über die guten Erfahrungen, die man in Emmendingen 
mit der Durchführung der Dauerwache gemacht hat. Es besteht zweiwöchentlicher 
Turnus; der Dienst beginnt um 9 und dauert bis 7 bzw. 8 Uhr. Tagsüber sind die 
Nachtwachen dienstfrei, sie schlafen bis 1 Uhr nachmittags, gehen von 2—6 Uhr 


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322* Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 

spazieren und schlafen dann wieder bis kurz vor Beginn der Wache. Bear * 
Verpflegung. 

Zweig (112) empfiehlt zur Verhütung des Decubitus das in Dailder - 
langem geübte Verfahren: Lagerung in Holzwolle, Waschungen mit Essige»' 
in therapeutischer Hinsicht Kamillenbäder im Verein mit Zinksalbe, in sdnr^ 
Fällen mit Höllensteinperubalsamsalbe, event. Exstirpation alles Nekrotische;: 
radikale Spaltung von Gängen. — Es wird viele geben, die der Lagerung in E j 
wolle die Behandlung mit Dauerbädern vorziehen. 

Bein (77) beschreibt eine Vorrichtung zur Erhaltung konstanter W*»- 
temperaturen im Dauerbad, die in einem um die Wanne herumgeführten. voh«>t 
M antel umgebenen, an die Niederdruckdampfheizung angeschlossenen Rät-«' 
System besteht, durch welches eine gleichmäßige Temperatur des in der Wn_ 
befindlichen Badewassers erreicht wird. 

Siemberg (98) beschreibt kurz die durch Umbau modernisierte Kocht/: 
des städtischen Krankenhauses zu Darmstadt, in der Hauptköche und Bratter 
getrennt sind und die daher zum Teil der Forderung der Dezentralisation entspnrr 
die Sternberg seit langem für die Krankenhausküchen aufgestellt hat. 

ln seiner „Diät und Küche“ will Stemberg (97) eine Einführung in die at. 
wandte Ernährungstherapie geben. Er behandelt im ersten, kleineren Afcsck 
die menschliche Nahrung und die menschliche Ernährung in der Tiermedku: :: 
in der Humanmedizin, sowie Bezeichnung und Begriff von Diät und Küche, wik- 
der zweite Abschnitt über Diät und Küche, der dritte über Diät und Küche in - 
Therapie handeln. Eine ausgedehnte Polemik mit Exkursionen auf das hisroiw: 
Gebiet von Sokrates bis Goethe und philosophisch-ästhetische Betrachrcnr 
manchmal nur lockeren Zusammenhangs mit dem Thema, zeichnen die Ausfühnii: 
aus. Wer mit der hohen Erwartung an die Lektüre geht, die das „manninr 
Selbstbewußtsein“, ja die „kühne Unerschrockenheit“ des Vorwortes in ihm - 
wecken und wer glaubt, für rein praktische Zwecke reiche Anregung und Belehn . 
zu finden, wird vielleicht enttäuscht sein. 

Schmidts (86) Ausführungen beleuchten die Schwierigkeiten, die dem Kuck: 
betrieb heute in den großen Krankenanstalten erwachsen. Die Lösung des P 
blems findet er in der Errichtung einer besonderen Diätküche, wie sie Ster** 
fordert, neben der allgemeinen Zentralküche. Eine solche in der Halleschen 
zinischen Klinik hat sich bisher gut bewährt. 

Strassner (100) gibt eine ausführliche Beschreibung der neuen Diätfcx ; 
in der medizinischen Universitätsklinik zu Halle. Einer Besprechung der £. 
richtungen und des Betriebes in der Kochküche, Spiilküche und kalten Kwe- 
die getrennt sind, schließen sich Anweisungen und Tabellen über Zusammensenu:. 
und Art einzelner Speisen noch Gewicht, Preis, Eiweiß-, Fett-, Kohlehydr»:- 
Kochsalzgehalt und Kalorienzahl an. 

Specht (93) untersucht die Frage, weshalb die Familienpflege in Bayera • 
schlecht gegen die in andern Ländern, z. B. in einzelnen Provinzen Preußens. » 
schneidet. Die Hemmnisse für eine günstige Entwicklung der bayerischen Fi 
milienpflege liegen nach ihm besonders in dem bayrischen Armenrecht, für I 


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Grütter, Anstaltswesen and Statistik. 


323* 


ich das Heimatsprinzip gilt and durch welches besonders kleine Gemeinden schwer 
dastet werden. Infolgedessen werden Kranke, die für die Familienpflege besonders 
^eignet sind, deü Anstalten entzogen and anderweitig billiger untergebracht, 
ährend von den in den Anstalten verbliebenen Pfleglingen sich nur ein ganz ge- 
nger Prozentsatz zur Familienpflege eignet. Mehrfache Versuche verschiedener 
syrischer Anstalten zur Einrichtung der familiären Verpflegung von Geisteskranken 
nd deshalb wenig erfolgreich gewesen. In einigen Kreisen verhält sich auch die 
Bevölkerung ablehnend oder eignet sich nicht besonders zur Aufnahme von 
ieisteskranken. Eine erhebliche Ersparnis durch Einrichtung einer ausgedehnten 
'amilienpflege wäre für Bayern kaum zu erwarten. Besserung der jetzigen mangel- 
i&ften Verhältnisse hofft Verf. von der neuen bayrischen Heimat- und Armen- 
esetzgebung. 

Nach Kolb (49) ist die Familienpflege das natürliche Schlußglied der fort- 
chreitenden freiheitlichen Entwicklung der Anstalten. Diejenigen Heil- und Pflege- 
mstalten, die die Familienpflege nicht entwickeln, bieten das Zeichen einer relativen 
Rückständigkeit. Er führt eine Anzahl Gegengründe gegen die am meisten ge¬ 
äußerten Bedenken gegen die Familienpflege an und plaidiert eifrig für dieEinrich- 
:ung einer möglichst ausgedehnten Familienpflege an möglichst allen Anstalten 
n Verbindung mit auch im übrigen freier Behandlung. Quantitativ bedeutender 
st die Familienpflege der Imbezillen und Idioten, therapeutisch wichtiger die 
familiäre Verpflegung der Geisteskranken, besonders für die residuären Defekt¬ 
zustände der Dementia praecox. Die Verhältnisse in Bayern liegen für die Ent¬ 
wicklung der Familienpflege der Geisteskranken ungünstig, weil dort große Gruppen 
von Geisteskranken, und zwar gerade die für die Familienpflege am meisten ge¬ 
eigneten Formen, außerhalb des Kreises der einheitlichen Irrenfürsorge und der 
spezialärztlichen Behandlung stehen (nämlich die in den Pflegeanstalten unter¬ 
gebrachten). Auch die durchschnittlich geringe Entwicklung der offenen Ver- 
pflegungsformen und des agrikolen Betriebes ist hinderlich. In Kutzenberg wird 
ausgiebig die Verpflegung in der eigenen Familie des Kranken mit Erfolg geübt, 
unter dauernder Kontrolle seitens der Anstalt. Die Hebung der bayrischen Fa¬ 
milienpflege wird von der Änderung des bayrischen Heimatgesetzes erhofft. 

Belletrud et Froissari (7): Da der Präfekt dem Direktor das Recht gegeben 
hat, den Termin für beurlaubte Kranke immer wieder zu verlängern, wird der Fa¬ 
milienpflege durch Wegfall von allerlei Formalitäten leichter der Weg geebnet. 

{Ganler.) 

Rodiet (80) möchte auch die Pensionäre und die schwachsinnigen Kinder 
in der Familienpflege unterbringen. Er ist für kleinere Kolonien mit etwa 300 
Kranken unter Aufsicht eines Arztes. Mehrere Departements könnten eine gemein¬ 
same Kolonie schaffen. (Ganter.) 

Damaye (17, 18) möchte die heilbaren und unheilbaren Fälle voneinander 
getrennt sehen, damit den ersteren der gesamte therapeutische Apparat der allge¬ 
meinen Medizin zugute käme. Die Irrenanstalten sollten ein besonderes Haus 
haben für frische und heilbare Fälle. Die Kranken sollten da ebenso aufgenommen 
und entlassen werden können wie in einem Krankenhaus, also ohne alle juristischen 


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324* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


Formalitäten. Vor allem käme hier die Behandlung der Intoxikation*- ins.. 
fektionspsychosen und der Psychoneurosen in Betracht, ln Paris hat O- 
von der Salp&triöre eine derartige Einrichtung zur Behandlung der Psychaas:^ 
getroffen. (Ga!r 

Tödter (102) schildert eine Typhusepidemie in der Landesirrenanstalt (*£.•■ 
heim, die im September 1909 ausbrach. Im Anschluß an einen Typhusfall b?i 
Küchenangestellten erkrankten trotz aller Vorsichtsmaßregeln im ganzen 41: 
sonen, wahrscheinlich aber nicht in ursächlichem Zusammenhang mit dm Fa¬ 
der Küche, sondern ausgehend von 3 Bazillenträgern. Eine große Zahl von Knri- 
zeigte außer positivem Widal überhaupt keine Krankheitserscheinungra. i 
Bazillenträger werden dauernd isoliert gehalten und wöchentlich einmal auf Bai - 
untersucht. Es zeigen sich öfter 4 bis 5 negative Proben hintereinander, um <j. 
wieder mit einer reichlich Bazillen enthaltenden abzuwechseln. 

Über 4 kleine Typhusepidemien in der Heil- und Pflegeanstalt Egtön:: 
richtet Ast (3). Die dortigen Epidemien sind typische Beispiele für die Entstein 
durch Kontakt, verursacht durch je einen Bazillenträger. Sie gehen auf fcc 
gemeinsame Ursache zurück und stehen untereinander in keinem ursätifc- 
Zusammenhang. Es werden jetzt in Eglfing sämtliche weibliche Zugänge aaf «■ 
Agglutiningehalt des Blutes untersucht, ebenso werden Stuhl und Urin deT 
einmal untersucht. Auch Agglutinationswerte von 1 : 40 haben Bedeutung. Bin '*: 
träger werden isoliert. Interessant ist die Geschichte eines Falles, bei dem - 
große, wahrscheinlich typhöse Geschwüre im Darm gefunden wurden, wie¬ 
der Widal und Stuhl- und Urinproben stets ein negatives Resultat gegeben har-' 

Die große Typhusepidemie in Hubertusburg vom Jahre 1908 besehrer- 
ausführlich Günther und Böttcher (37). Seit Jahren besteht in Huberte!« 
Typhus mit einer Mortalität von fast 40 %. Der fortwährende Wiederaasbr. 
des Typhus erfolgte nie durch Einschleppung von außen, sondern stets so« f- 
Anstalt selbst heraus. Bis Ende Februar 1911 hat man nun 21 weibliche But¬ 
triger und 33 verdächtige Agglutinanten festgestellt, davon die Mehrzahl io 
sogenannten „Versorghäusem“, in denen seit Jahren die schwersten TyphuslL- 
vorgekommen waren. Alle Neuaufnahmen und das eintretende Personal w- 
bakteriologisch untersucht. Wasserspülung mit biologischer Kläranlage ist be¬ 
tragt, da die Verbreitung des Typhus auf der sonst ganz typhusfreien Mühk 
abteilung durch die mit Reinigung und Abfuhr der Tonnen beschäftigten Jfc- | 
erwiesen ist. Die Sektion einer Bazillenträgerin ergab Reinkulturen von Typhi 
bazillen in Milz, Gallenblaseninhalt und Knochenmark. Die Isolierung der 
ausscheider und Bazillenträger und die sorgfältige Desinfektion der Extrem^ 
Wäsche usw. wird nach wie vor bei der Bekämpfung des Typhus in Anstalt™ 
das einzig Richtige gehalten. 

Die Typhusepidemie in Conradstein (104) ist wahr¬ 
lich durch Einschleppung von außen entstanden. Es erkrankten im ganws' 
Männer und 66 Frauen, davon 12 bzw. 18 Personen des Pflegepersonals und M h- 
amte und sonstige Angestellte. Von den 19 Verstorbenen wurden bei 5 <fo’ r 
die Sektion andere Krankheiten als Todesursache festgestellt. Die Untersuch- 


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Griitter, Anstaltswesen und Statistik. 


325* 


' sämtlichen Anstaltsinsassen und des Personals samt Angehörigen ergab 21 Ba¬ 
ienträger, von denen 2 Frauen jetzt noch Ausscheiderinnen sind. Isolierung 
r Kranken, Verdächtigen und Bazillenträger. Die Ausbreitung der Krankheit 
olgte trotz sorgfältigster Desinfektion. Bei der Bekämpfung der Epidemie 
t ein von den Höchster Farbwerken bezogenes Serum gute Dienste. . 

Boehncke (9) berichtet von einer Ruhrepidemie, bei der ein Dauerausscheider 
n ^Atgra-Äruse-Bazillen eine große Anzahl von Mannschaften eines Pionier- 
.taillons infizierte. Es erhellt daraus wohl die Berechtigung der Forderung, 
lhrrekonvaleszenten auch nach völliger klinischer Genesung bakteriologisch ebenso 
i beobachten, wie das bei Typhusrekonvaleszenten geschieht. 

Perdrau (68) berichtet über eine Dysenterieepidemie in dem Devon County 
sylum. Im Winter nahmen die Erkrankungsfälle zu. Besonders wurden die 
ementen ergriffen, 71 % aller Fälle. Beginn der Erkrankung mit Erbrechen 
nd plötzlicher Temperatursteigerung, noch vor der Diarrhöe. Im Stuhl Blut 
nd Schleim. Hypostatische Pneumonie war die häufigste Komplikation, ln 
nem Falle Perforation. Behandlung mit Abführmitteln (Magnesium und Natrium - 
llphat), dann Adstringentien (Catechu). Diät: Milch und Arrowroot. Gegen 
’enesmus mehrmals im Tage Kaltwassereinläufe. Von den Erkrankten starben 
7,6 %. Rückfälle 8 :117 Genesene. {Ganter.) 

Erskine (29) will beobachtet haben, daß Nierenkrankheiten und Influenza 
len Ausbruch der Dysenterie begünstigen. {Ganter.) 

Topp (103) lobt die guten Dienste, die ihm bei der Ernährung in Schwäche- 
:uständen von Nerven- und Gemütskranken der verschiedensten Art, sowohl bei 
)rganischen wie bei funktionellen Leiden, das Nährpräparat „Kufeke“ geleistet hat. 

Beyer (8) betont den großen Wert der Nervenheilstätten für die Kranken-, 
Unfall- und Invalidenversicherungen und sieht im Zusammenarbeiten der Ver¬ 
sicherungen mit den Nervenheilstätten mit Recht große Vorteile für beide Teile. 

Alter (1) hat aus Anlaß des 100 jährigen Bestehens der Fürstl. Lippischen 
Heil- und Pflege-Anstalt Lindenhaus einen kurzen Abriß der Geschichte dieser 
Anstalt geschrieben, der in interessanter Weise die Entwicklung der ganzen Psychia¬ 
trie überhaupt während des letzten Jahrhunderts widerspiegelt. Lindenhaus ist 
1811 von der weitblickenden Fürstin Pauline von Lippe gegründet und ist heute 
trotz des hohen Alters eine moderne Anstalt. 

Petersen-Borstel (69) beschreibt die Entstehung und die jetzigen Einrichtun¬ 
gen der Anstalt Plagwitz a. Bober. Die Anstalt setzt sich zusammen aus dem alten, 
aus dem 16. Jahrhundert stammenden Schlosse, das nach Möglichkeit modernen 
hygienischen Anforderungen angepaßt ist, und dem neueren Teil, dessen Bauten 
von 1898 ab entstanden sind. 

StoÜenhoff (99) gibt eine kurze Geschichte und Beschreibung der Anstalt 
Kortau, die 1911 auf ein 25 jähriges Bestehen zurückblicken konnte, und berührt 
zugleich einige das Irrenwesen in der Provinz Ostpreußen betreffende Fragen. 
Der große Zugang zu den Heil- und Pflegeanstalten erklärt er mit den Folgen des 
Gesetzes vom Jahre 1891 und mit dem allmählichen Schwinden des Mißtrauens 


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326* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


gegen die Anstalten. Im Jahre 1877 betrug der Provinzialzu schu ß für ABk j 
182 600 M., jetzt dagegen für die ostpreußischen Anstalten 1 558 300 AL | 

Bei den Potsdamer Provinzialanstalten wurde im Juni 1911, wie Gool ' 
berichtet, ein Haus für psychopathische weibhche Fürsorgezöglinge, Heieta: . 
eingeweiht.. Es ist für 20 schulentlassene und 30 schulpflichtige Zöglinge bestr; 
die durch ihr ganzes Wesen, besonders durch ihre antisozialen Eigenschaft« s-^ 
die erzieherische Tätigkeit an den Erziehungsanstalten als auch die nachr^ 
Behandlung an den Krankenanstalten stören. Die kleine Anstalt wird seihst*!, 
wirtschaften. Geplant werden in der Provinz Brandenburg noch ein Haus 
50 männliche psychopathische Zöglinge und eine Anstalt für schulentlassene bz 
liehe Zöglinge. 

Lechner (64) gibt eine Beschreibung der Klinik für Nerven- und Gr.*:- 
kranke zu Kolozsvär (Klausenburg) in Ungarn. Die Klinik ist 1900—1901 
endet, 1902—1903 durch Zubau des Nervenpavillons und der Direkt onroti 
ergänzt. Sie umfaßt zurzeit 10 Pavillons mit ursprünglich 160, jetzt 260 B-"- 
Die Baukosten betrugen 1042000 M., die Gesamtkosten für jedes Bett 1 
Abbildungen und Grundrisse vervollständigen die Beschreibung. 

Quensel (75) bringt eine ausführliche, mit Abbildungen ausgestatretr :■ 
Schreibung der neuen Unfallnervenheilanstalt Bergmannswohl bei Schkra-. 
Die Anstalt ist von der Knappschaftsberufsgenossenschaft erbaut und Ende 1“ 
eröffnet. Sie ist mit allen modernen Einrichtungen versehen, um ihren 
Untersuchung, Beobachtung und Begutachtung Unfallnervenkranker, aasgi^. 
zu erfüllen. Der Raum reicht zurzeit für 100 Kranke, kann aber ohne Schwirr, 
keiten auf 200 Plätze erweitert werden. 

Hrase (42) schildert die neue böhmische Landes-Irrenanstalt Bohnitz. <ir 
Bau 1906 begonnen ist und die Anfang 1911 ihrer Benutzung zugeführt vir:- 
Sie ist im Pavillonsystem gebaut und zerfällt in die Zentralanstalt für unftfL 
1600 Kranke, die Kolonie mit 300 und das Pensionat mit 200 Plätzen. Es brsr: 
außer einem Pavillon für infektiöse Krankheiten je 1 Pavillon zu 60 Betten für. 
Behandlung der an Tuberkulose leidenden Kranken mit Liegehallen. In der Ztnn 
anstatt sind 38 Wachabteilungen. Es bestehen besondere Wohn- und Schiafrür 
für das Wartepersonal. Sämtliche Einrichtungen stehen auf der Höhe der m<- 
zinischen und technischen Errungenschaften. 

Die neue Heil- und Pflege-Anstalt für Unterfranken zu Lohr (57) ist ' 
Bau begriffen. Die Stadt hat 6000 Einwohner und ist Schnellzugstation. !’• 
Belegstärke ist auf 800 Kranke, davon 100 in Familienpflege, festgesetzt. I 
Eröffnung ist für Herbst 1912 in Aussicht genommen, zunächst für 500 Kraiu 
Die Mehrzahl der Krankenhäuser ist im Rohbau fertig. Der Gutshof ist benr 
von Kranken aus Werneck bezogen. Die Kosten belaufen sich auf 4 6900001- 
davon 377 616 M. für Grunderwerb. 

Glüh (36) berichtet über seinen Besuch der Hygieneausstellung in Dr«<k 
Er erkennt das großartige Gelingen der Ausstellung an; auch für den Psychii:- 
enthielt sie viel gutes Anschauungsmaterial, das neue Anregung zu geben imstande« 

Ladame (52) hat die Anstalt Uchtspringe besucht und berichtet der V*v 


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Grütter, Anstaltswesen and Statistik. 


327* 


Agaitg der Schweizer Irrenärzte za Bern am 27. November über die günstigen 
ndrücke, die er bei diesem Besuch von der Entwicklung deutscher Irrenpflege 
kommen hat. 

Sattermann (84) hat im Sommer 1909 sieben englische offene Irrenanstalten 
sucht, und zwar Bethlem, Royal Hospital in London, Littlemore, (Mörder 
ezirksanstalt, die Londoner Bezirksanstalten Claybary, Hanwell, Long Grove, 
rner die Kriminal-Irrenanstalt Broadmoor und Prestvich, Lancashirer Bezirks* 
istalt. Claybury, Hanwell und Prestvich haben bei einer Krankenzahl von über 
>00 nur 7 Arzte, mit Ausnahme des Londoner Bethlem auch verhältnismäßig 
eiliger Pflegepersonal als die deutschen Anstalten. In den meisten Anstalten 
iichlich Gummizellen (padded rooms), zum Teil mit mangelhaften, wasser durch- 
ussigen Polsterungen. Spärliche Bettbehandlung, viel Spiele, wenig Unruhe, 
«o-restraint herrscht überall im vollsten Maße. 

Döbrick (20—24) beschäftigt sich mit dem Problem, wie der ständigen Zu - 
lahme der Geisteskrankheiten und damit der drängenden Anstalts- und Platznot 
b zuhelfen sei. Um zugleich das lebhafte Mißtrauen der Masse gegen die Psychiatrie 
:u vermindern und die Leistungen der Psychiatrie als Erfahrungswissenschaft 
iu zeigen, schlägt er vor, statt der symptomatischen Behandlung in den Anstalten 
das übel an der Wurzel zu fassen und die Entstehung der Geisteskrankheiten 
mit Hilfe der Gesetzgebung nach Möglichkeit zu verhindern. Besonders kommen 
nach ihm in der Beziehung die Abstinenz und die Frage der Eheschließung in 
Betracht, um den Alkohol und die Lues mit ihren Folgen für die Nachkommen¬ 
schaft auszuschließen und damit eine ,,psychiatrische Hygiene“ zu schaffen. 
Der Verfasser verkennt nicht, daß der Verwirklichung seiner Ansichten und 
Vorschläge besonders praktische Bedenken entgegenstehen. 

An andern Orten kommt Döbrick ebenfalls zu dem Ergebnis, daß 
an dem Mißtrauen des Volkes gegen die Psychiatrie ihre therapeutische Ohn¬ 
macht schuld ist. Das Radikalmittel dagegen ist der therapeutische Erfolg. 
Diesen erhofft Verfasser von der Gründung eines „großzügigen Forschungs¬ 
institutes für die Psychiatrie“, das mit der ausgesprochenen Tendenz zu gründen 
wäre, vor allem praktische Erfolge zu schaffen. Darin wäre die „psychiatrische 
Elite“ zu zentralisieren und ihr die notwendigen materiellen Forschungsbedingungen 
zu schaffen. Alle übrigen Vorschläge, Aufklärung des Publikums usw., gehören 
nach ihm zu den kleinen, rein symptomatischen Mitteln. 

Becker (6) ist mit den Ausführungen Dobricks im ganzen einverstanden, 
weist aber auf die Schwierigkeiten hin, denen das Projekt eines Zentralinstitutes 
für irrenärztliche Forschung, besonders in pekuniärer Hinsicht, begegnen wird. 
Die Ausbildung der Irrenärzte ist heutzutage nach ihm doch nicht so mangelhaft, 
wie Döbrick meint. Um dieselbe noch wÄter zu vervollkommnen, empfiehlt Becker 
Austausch der Assistenten an den psychiatrischen Kliniken mit den Anstaltsärzten 
lür 1 Jahr. 

Auch Weber (106) äußert sich zu den Vorschlägen Döbrick s. Mit Recht weist er 
zunächst darauf hin, daß die Provinzialanstalten in mancher Beziehung Ähnlich¬ 
keit mit den großen Krankenhäusern haben und sehr wohl imstande sind, wichtige 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


praktische, auch therapeutische Aufgaben zu erledigen und für die wissenschaftliche 
Erforschung der Endzustände, Prognosestellung usw. wertvolles Material zu liefern. 
Dazu genügen auch die wissenschaftlich technischen Hilfsmittel der meisten An¬ 
stalten und auch die jetzige Ausbildung ihrer Ärzte. Bedeutsam ist dabei die Tätig¬ 
keit des Direktors, der sich den Blick für die großen Gesichtspunkte bewahren muß, 
um seinen Ärzten stets neue Anregung zu geben uiid damit sich und seine Anstalt 
ärztlich und wissenschaftlich auf einer gewissen vorbildlichen Höhe zu halten. 

Leppmann (66) untersucht die Frage, auf welche besonderen Eigenarten der 
seelischen Erkrankungen und auf welche Mängel der Gesetzeslage sowie auf welche 
Eigenarten der Volksanschauung die Beunruhigung der öffentlichen Meinung 
zurückzuführen ist, die sich in der letzten Zeit gehäuft in den Angriffen der Tages - 
presse auf die Psychiatrie, zurzeit besonders auf die Privatanstalten, Luft macht. 
Seine beachtenswerten Ausführungen gipfeln in folgenden Vorschlägen: „Wir 
brauchen ein Irrengesetz, welches die Anstaltsunterbringung Kranker bis ins 
kleinste regelt. Wir brauchen eine Ergänzung unserer bürgerlichen Gesetzgebung 
über die Beschränkung der Geschäftsfähigkeit Erkrankter in der Weise, daß die 
jetzt noch möglichen Schädigungen Kranker und Belästigungen Gesunder ver¬ 
mieden werden.“ 

Schloß (86) unterzieht die einzelnen Abschnitte vom Entwurf des neuen 
österreichischen Irrenfürsorgegesetzes einer eingehenden Besprechung und kommt 
zu dem Schluß, daß derselbe nicht einfach abgelehnt werden soll, da er neben man¬ 
chen Mängeln und Lücken auch manchen Fortschritt in sich birgt und in veränderter 
Fassung eine allgemein befriedigende Form annehmen könnte. Einzelne Abände¬ 
rungsvorschläge werden gemacht. Nach Schloß wird die Reaktion gegen das neue 
Irrengesetz erst verstummen, wenn in ihm folgenden drei Faktoren Gerechtigkeit 
widerfährt: Schutz für die Geisteskranken innerhalb und außerhalb der Anstalten, 
Schutz für die große Masse der geistig Gesunden vor den Geisteskranken, und 
endlich auch Schutz und Recht für den Irrenarzt gegen unberechtigtes Mißtrauen 
und die Angriffe auf seine Person. 

Die Stellung des Anstaltsarztes der Öffentlichkeit und den Behörden gegen¬ 
über untersucht Aulengruber (6). Nach ihm sind die mit dem Psychiater und den 
Anstalten Unzufriedenen die Imbezillen, in specie die moralisch Minderwertigen 
innerhalb und außerhalb der Anstalt, die die Anstalt gerade so als sicherheitspoli¬ 
zeiliche Haft empfinden und fürchten wie die Gefängnisse. Zur Abstellung dieses 
Mißtrauens soll man sich die Mitarbeit der anständigen Presse sichern, außerdem 
aber schlägt Auiengruber die Anstellung besonderer Vertrauensmänner in jeder 
Gemeinde vor, welche die Anstalt in allen Angelegenheiten zu unterstützen hätten, 
die die Interessen der in den Anstalten untergebrachten Geisteskranken berühren, 
z. B. anamnestische Daten zu liefern, fi# die Entlassenen zu sorgen usw. — Die 
beiden österreichischen Gesetzentwürfee über die Entmündigung und die Fürsorge 
für Geisteskranke werden sehr abfällig kritisiert. 

Näcke (64) betont die Notwendigkeit ärztlicher Leitung an den Defekten- 
anstalten und fordert dieselbe besonders für Idioten- und Schwachsinnigen-, Epi¬ 
leptiker- und Taubstummenanstalten sowie für Fürsorgezöglinge und auch für Ge- 


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Grütter, Anstaltswesen nnd Statistik. 


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igenenanst&lten. Für alle diese Anstalten ist der Arzt die geeignete Persönlich- 
t, die in den meisten Fällen besser imstande sein wird, für geistig Defekte zu 
gen, ihre Entwicklung und Erziehung zu überwachen, als die meisten Laien- 
ektoren. Damit würde nicht nur den Insassen der betreffenden Anstalten am 
sten gedient sein, sondern vor allem dem großen Ganzen. 

Schob (87) hält die jetzige Versorgung der chronisch Kranken (Siechen) 
cht für ausreichend und empfiehlt zur Abhilfe Umänderung der Siechenanstalten 
reine Krankenanstalten, Zentralisierung der Siechen in größeren Anstalten, 
nsteilung von Ärzten im Hauptamt, Vermehrung und Hebung des Personals, 
erbesserung der Einrichtungen für Krankenbehandlung und Krankenpflege. 

Für die Pflege der gefährlichen und schädlichen Geisteskranken ist nach van 
teventer (19) eine mit einer kompletten Irrenanstalt verbundene Sonderabteilung 
m Platze, die er näher beschreibt. Diese Sonderabteilung ist eine Durchgangs* 
tation, die der gefährliche Geisteskranke zu durchlaufen hat, damit er lerne, sich 
lern Anstaltsleben anzupassen. Eine systematische Untersuchung und Beobachtung 
ier Insassen der Strafgefängnisse ist dienlich, die rechte Anstalt für diesen Zweck wäre 
in Gefängnis-Annex. Für die geistig Minderwertigen ist die Pflege in einer 
iwischenanstalt, welche den Charakter eines Arbeitssanatoriums trägt, zweck¬ 
mäßig. Methodische Untersuchung der heranwachsenden Jugend ist notwendig. 

Kerns (47) glaubt, daß entsprechende Erziehung und Ausbildung des Pflege¬ 
personals schließlich jede Art von Zwang, auch Narkotika, feuchte Einpackungen, 
Dauerbäder, übermäßig lange Bettruhe usw. überflüssig machen wird. Er hält es 
für zweckmässig, wenn jede Provinzverwaltung an einer ihrer Anstalten eine 
Zentrale für den Pflegeunterricht errichtet und hier das Leinpllegepersonal die 
erste entsprechende Ausbildung erhält. 

Sommer (91) verbreitet sich über die Gründe, die für die Ablehnung seines 
Vorschlages, eine besondere psychiatrische Abteilung bei dem Reichsgesundheits 
amt zu errichten, maßgebend gewesen sind. Nach ihm sind bei der Behandlung 
der Frage in der Petitionskommission des Reichstages nur Bedenken gegen die 
Einrichtung einer klinischen Abteilung erhoben worden, die er zu zerstreuen sucht. 
Er ist nach wie vor von dem großen Nutzen überzeugt, den eine derartige Ein¬ 
richtung beim Reichsgesundheitsamt — im Notfälle event. ohne die geforderte 
kleine Klinik — bringen würde, und glaubt, daß dieselbe nicht nur theoretisch not¬ 
wendig, sondern auch praktisch möglich ist. 

Zu dem Hommerschen Vorschläge nimmt Alzheimer (2) Stellung. Wenn von 
dem Projekt einzelne Teile, wie die Abteilung für forensische Psychiatrie, die Ein¬ 
richtung einer klinischen Abteilung, abgetrennt und ausgeschieden würden, wären 
die übrigen Ziele, die Sommer mit dieser Einrichtung erreichen möchte, ganz im 
Rahmen der Aufgaben des Reichsgesundheitsamtes, so besonders eine groß ange¬ 
legte Statistik, eine ausgedehnte Ursachenforschung mit besonderer Berücksichti¬ 
gung der Vererbung, systematischer Familienuntersuchungen usw. Es ist deshalb 
zu wünschen, daß Sommers zunächst abgelehnter Vorschlag mit einigen Änderungen 
später doch im Prinzip zur Annahme gelangen möge, besonders da auch in andern 
Staaten, wie in Amerika, ähnliche Institute für Rassenhygiene bereits bestehen. 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


Auch Auerbach (4) hält die Einrichtung einer neurologisch-psychiatrischen 
Sektion am Reichsgesundheitsamt für wünschenswert, die ihr Augenmerk auf die 
Prophylaxe der Nervenkrankheiten, die Erforschung und Beseitigung ihrer äußeren 
und inneren Ursachen zu richten hätte in ähnlicher Weise, wie es bei den Infektions¬ 
krankheiten bereits geschieht. 

Priming (74) weist auf die Schwierigkeiten hin, die eine Zählung der Geistes¬ 
kranken bietet. Die Frage der Möglichkeit einer wissenschaftlichen Zählung der 
Geisteskranken muß bejaht werden, aber nur unter der Voraussetzung, daß eine 
genügende Anzahl psychiatrisch vorgebildeter Ärzte zu dieser Zählung heran¬ 
gezogen werde. Die bisherigen Statistiken haben in der Beziehung keine sicheren 
Ergebnisse geliefert, auch die Anstaltsstatistiken nicht, die dagegen über die Krank¬ 
heitsursachen gute Anhaltspunkte gegeben haben. Auch die Statistik des ange¬ 
borenen Blödsinns ist verbesserungsbedürftig. 

Im Jahre 1907 hat eine Zählung der im schulpflichtigen Alter befindlichen 
schwachsinnigen, taubstummen und epileptischen Kinder des Kantons Appenzell 
A. Rh. stattgefunden, über deren Ergebnis Koller (50) berichtet. Im einzelnen 
werden zunächst die schwachsinnigen und weiterhin die taubstummen und epi¬ 
leptischen Kinder in bezug auf ihre mannigfachen körperlichen und psychischen 
Besonderheiten durchgenommen, insbesondere sowohl mit Rücksicht auf Spraeh- 
und Gehfähigkeit, Seh- und Hörvermögen, Kopf- und Gesichtsbildung, Charakter 
usw., als auch auf Gedächtnis, Begriffs- und Urteilsvermögen, Erblichkeit. Die 
Resultate einer Nachzählung der im Jahre 1897 gezählten geistig gebrechlichen 
Schulkinder sind angeschlossen. Zahlreiche Tabellen und einige Schemata von 
Zählkarten sind beigegeben. 

Die Bezirksanstalt für Geisteskranke zu Kasan in Rußland (45) ist 
im Jahre 1869 für 200 heilbare Kranke des Bezirkes Kasan eröffnet. Ihre Leitung 
war anfangs verbunden mit der Professur für Psychiatrie an der Universität Kasan, 
so daß sie längere Zeit den Charakter einer Universitätsklinik trug. Später wurde 
sie ihrer eigentlichen Bestimmung als Bezirksanstalt wieder zugeführt und mehr 
und mehr vergrößert. Zurzeit zählt sie rund 1000 Kranke und verfügt über einen 
modernen Betrieb. „Irgendwelche besonderen Couchetten des früheren Typos 
oder besondere spezielle Zimmer für unruhige Kranke gibt es nicht, ebensowenig 
Gegenstände des restraint.“ Reichliche, individualisierende Beschäftigungstherapie. 
Eine besondere gerichtlich-psychiatrische Abteilung für 80 Personen, die ebenso 
wie die übrige Heilanstalt auch für Lehrzwecke an der Universität dient, ist 9 eit 
einiger Zeit in einem eigenen Gebäude untergebracht. 

Pilgrim (71) gibt einen geschichtlichen Überblick über die Entwicklung des 
Irrenwesens im Staate New York. Die erste öffentliche Irrenanstalt wurde 1839 
eröffnet, während seit 1797 bis dahin Geisteskranke in einem Teil des New Yorker 
Krankenhauses aufgenommen worden waren. Außerdem gab es zu Anfang des 
19. Jahrhunderts noch 3 Privatanstalten, 1843 Eröffnung einer neuen Staatsanstalt. 
Man rechneto damals einen verpflegten Geisteskranken auf 3413 Einwohner, 1910 
war das Verhältnis 1 : 278. 1855 verpflegte diese Anstalt 294 Kranke, 1352 dagegen 
fielen auf die 53 Armenhäuser. 1859 Gründung des Auburn Asyhun für geistes- 


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Grutter, Anstaltswesen und Statistik. 


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kranke Verbrecher. Weitere Anstalten errichtet 1866,1871,1874 (dieses homöo¬ 
pathisch), 1880, 1890, 1891 (städtisch), 1896 (städtisch), 1898 (homöopathisch, 
staatlich), 1900 (für männliche geisteskranke Verbrecher), 1910. Zahl der Geistes¬ 
kranken in den öffentlichen Anstalten am 1. Oktober 1910: 32 657. In 20 Jahren 
hatte sich die Zahl der Geisteskranken um 104 %, die der Bevölkerung um 62 % 
vermehrt. 46 % der Geisteskranken waren im Ausland geboren, nur 36 % im 
Staate selbst. Verfasser verlangt daher schärfere Überwachung der Einwanderung. 
— In 16 % war der Alkohol die direkte, in 40 % die indirekte Ursache der Geistes¬ 
krankheit. Verfasser wünscht ein Gesetz betr. Sterilisierung der Defekten. Fast 
26% aller Aufnahmen wurden entweder geheilt oder so weit gebessert, daß sie wieder 
ihren Unterhalt verdienten. 15—20 % konnten als harmlos nach Hause entlassen 
werden. 70 % der dauernd Anstaltsbedürftigen machen sich nützlich. {Ganter.) 

Drerory (27) berichtet über den Stand des Irrenwesens im Staate Virginia. 
4 öffentliche Anstalten, 3 für die Weißen, 1 für die Schwarzen. In jenen werden 
zurzeit 2600, in dieser 1480 Kranke verpflegt. Staatsaufwand 425 000, pro Kopf 
etwa 119 Dollar. Verfasser stellt 14 Forderungen zur Hebung des Irrenwesens auf, 
darunter: Errichtung von Laboratorien (nur eines vorhanden), Schaffung von Poli¬ 
kliniken für die Grenzfälle, Gründung eines Irrenhilfsvereins. Heiratsverbot für 
Epileptische, Schwachsinnige usw., Besserstellung des Personals. (Ganter.) 

Edith Jones (44), Bibliothekarin an dem Mc Lean-Hospital in Massachusetts, 
richtete einen Fragebogen an 120 Irrenanstalten in den Vereinigten Staaten und 
Kanada, um sich über den Stand der Unterhaltungsbibliotheken für die Kranken 
zu unterrichten. 96 antworteten. Von diesen besaßen 15 keine Bibliothek, 60 
unterhielten eine Zentralbibliothek, 21 hatten kleinere Abteilungsbibliotheken. 
Die Bibliothek des Mc Lean-Hospitals besteht seit 75 Jahren und verfügt über 
6700 Bände. Zum Schlüsse handelt Verfasser von den Aufgaben der Anstalts¬ 
bibliothekarin, die sich auch sonst noch nützlich zu machen weiß. (Ganter.) 

Lunff et Sirieux (59) legen ihren Bericht über das Irrenwesen in Marokko 
vor, das sie im Aufträge des Ministers an Ort und Stelle studiert hatten. Die 
meisten Geisteskranken treiben sich bettelnd herum. Soweit ihre Geisteskrankheit 
religiöse Färbung trägt, sind sie für die Menge ein Gegenstand der Verehrung. 
Andere Geisteskranke werden in der Familie in irgendeinem Winkel abgesondert 
gehalten. Gefährliche Geisteskranke sind mit Verbrechern zusammen in Kerkern 
eingeschlossen und angekettet. Einige wenige finden sich neben körperlich Kranken 
und Krüppeln und Bettlern in den ,.Moristans“, einer Art Siechenhäuser, die aus 
milden Gaben neben einer Moschee oder dem Grabe eines Heiligen erbaut wurden 
und wahrscheinlich aus ehemaligen Pilgerherbergen hervorgegangen sind. Kein 
Arzt kommt dahin, die Behandlung besteht neben der Anlegung von Hals- und Fu߬ 
ketten in Exorzismus usw. Solche Siechenhäuser gibt es in den größeren Städten, 
das von Fez stammt aus dem 16. Jahrhundert. Die Verfasser schlagen vor, diese 
Häuser der Leitung französischer Ärzte zu unterstellen. Da aber auch für die Geistes¬ 
kranken der europäischen Bevölkerung Marokkos (etwa 20 000) keine Vorsorge 
getroffen ist, verlangen die Verfasser die Errichtung besonderer Abteilungen an 
den allgemeinen Krankenhäusern (in Tanger, Fez, Casablanca). (Ganter.) 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


Ende 1910 befanden sich in den Heil- und Pflege-Anstalten Ostpreußens 
Allenberg, Kortau und der Landespflegeanstalt zu Tapiau insgesamt 3085 Krankt 
(1500 M. 1585 Fr.), Zuwachs gegen das Vorjahr 123. Als Ursache des ständiger 
Anwachsens wird die vollständige Änderung in der Behandlung der Kranken an¬ 
gegeben, wie solche in dem Gesetze vom 11. Juli 1891 begründet ist, und fern« das 
allmähliche Schwinden der Vorurteile gegen Anstaltsbehandlung. 

Allenberg (113) begann das Berichtsjahr mit einem Kranken bestand? 
von910 (457 M. 453 Fr.). Zugang 383 (196 M. 187 Fr.). Abgang 360 (187 AL 163 Fr. i 
In Familienpflege 77 (42 M. 36 Fr.). Geheilt entlassen 19 = 6 %. Verstorben sind 
5,66 % der Verpflegten. Regelmäßig beschäftigt waren 64 % der Kranken. 

In Kortau (151) betrug der Krankenbestand am Anfang des Berichtsjahres 
1032 (444 M. 588 Fr.). Zugang 448 (212 M. 236 Fr.). Abgang 524 (235 M. 289 FrA 
In Familienpflege 49 (27 M. 22 Fr.). Entlassen als geheilt 36 = 7,78 %. Verstorben 
sind 8,11 % der Verpflegten. Häufige Erkrankungen, besonders des weiblichen 
Pflegepersonals infolge Überanstrengung durch Pflege unruhiger und pflegebedürfti¬ 
ger Kranker. Ein Pfleger erhängte sich in einem Anfalle von Geistesstörung, eine 
Pflegerin ist an Melancholie verstorben. Ein Kranker starb infolge Vergiftung 
mit Zahnpasta. 

Tapiau (200) begann das Berichtsjahr mit einem Bestände von 952 
Kranken (484 M. 468 Fr.). Zugang 240 (99 M. 141 Fr.). Abgang 74 (38 M. 36 Fr. l 
D ie Zugänge erfolgten im wesentlichen durch Überführung von voraussichtlich 
unheilbaren Geisteskranken aus Allenberg und Kortau. Von den Entlassenen sind 
geheilt 3 (1 M. 2 Fr.), gebessert 7 (6 M. 2 Fr.), ungeheilt 3 (1 M. 2 Fr.). Gestorben 
58 (28 M. 30 Fr.). In Familienpflege befinden sich 9 Kranke (7 M. 2 Fr.). 

Einer Typhusepidemie fielen 1 Pflegerin und 2 geisteskranke Frauen zum 
Opfer. Die Epidemie beschränkte sich auf die Frauenseite, Ursache Bazillenträger. 
Scharfe Absonderung aller Erkrankten, Verdächtigen und Keimträger, sorgfältige 
Desinfektion, systematische bakteriologische Untersuchung. Außerdem Massen¬ 
erkrankungen an Durchfall unbekannter Ursache. Das 1909 begonnene Werk¬ 
stättengebäude wurde fertiggestellt, ebenso der dritte Block der Pflegerhäuser, die 
von 16 Pflegerfamilien bezogen wurden. Ein Krankenwohngebäude für 198 weib¬ 
liche Kranke wurde im Rohbau fertiggestellt. Bestand in der Pfiegeanstalt für 
gewalttätige geisteskranke Männer am Anfang des Berichtsjahres 68 Kranke. 
Zugang 5, Abgang 5. Beschäftigt 60—65 % der Kranken. 

Conradstein (127): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 1447 (774 M. 
673 Fr.). Zugang 320 (167 M. 153 Fr.). Abgang 294 (167 M. 127 Fr.). Bleibt 
Bestand 1473 (774 M. 699 Fr.), davon 163 in Familienpflege. Von den Aufgenomme¬ 
nen litten an einfacher Seelenstörung 218 (98 M. 120 Fr.), an paralytischer Seelen¬ 
störung 36 (24 M. 12 Fr.), Seelenstörung mit Epilepsie, Hystero-Epilepsie 30 (14 M. 
16 Fr.), Idiotie (angeborener Schwachsinn, Blödsinn) 18 (16 M. 3 Fr.), Alkoholismus 
13 Männer, nicht geisteskrank waren 6 (4 M. 1 Fr.). Die Krankheitsdauer vor der 
Aufnahme betrug bis zu 1 Monat bei 65. bis zu 2 Monaten bei 22, bis zu 3 Monaten 
bei 9, bis zu 6 Monaten bei 27, bis zu 1 Jahr bei 100, bis zu 2 Jahren und darüber 
bei 97. Unfall und Kopfverletzung waren 14 mal (6 M. 8 Fr.), Syphilis 20 mal 


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Grütter, Anstaltswesen and Statistik. 


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(16 M. 4 Fr.), Trunksucht 23 mal (17 M. 6 Fr.), Einzelhaft 4 mal (4 M.), Wochen¬ 
bett 13 mal Krankheitsursache. Mit dem Strafgesetz in Konflikt geraten sind von 
den Aufgenommenen 67 (49 M. 18 Fr.). Heredität bei 94 (63 M. 41 Fr.). Beob¬ 
achtet wurden 10 Personen (7 M. 3 Fr.). Entlassen wurden 192 (108 M. 84 Fr.), 
davon als geheilt 62 (26 M. 26 Fr.), als gebessert 73 (46 M. 27 Fr.), ungeheilt 62 
(31 M. 31 Fr.), nicht geisteskrank 6 M. Behandlung von 9 Fällen mit Salvarsan, 
darunter bei 7 Paralytikern, blieb ohne Erfolg. Gestorben 102 (69 M. 43 Fr.) = 
5,8% aller verpflegten Kranken; Todesursache 22 mal Lungenschwindsucht. Ein 
neues Pflegerhaus wurde bezogen. 

Neustadt (Westpreußen) (171): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 
546 (284 M. 262.Fr.). Zugang 136 (81 M. 64 Fr.). Abgang 112 (66 M. 46 Fr.). 
Bleibt Bestand 669 (299 M. 270 Fr.), davon 49 in Familienpflege. Von den Auf- 
genommenen litten an einfacher Seelenstörung 88 (43 M. 46 Fr.), an paralytischer 
Seelenstörung 13 (12 M. 1 Fr.), an Epilepsie und Hysteroepilepsie 6 (2 M. 3 Fr.), 
Imbezillität, Idiotie 12 (8 M. 4 Fr.), Alkoholismus, Delirium 9 M., nicht geistes¬ 
krank waren 8 (7 M. 1 Fr.). Krankheitsdauer vor der Aufnahme betrug bei 23 
bis zu 1 Monat, bei 16 bis zu 2 Monaten, bei 18 bis zu 6 Monaten, bei 20 bis zu 

1 Jahr, 2 Jahre und darüber bei 60. Psychische Ursache waren 4 mal (2 M. 2 Fr.), 
Wochenbett, Schwangerschaft 6 mal, Syphilis 6 mal (6 M.), Trunksucht 14 mal 
(13 M. 1 Fr.), Greisenalter 3 mal (3 Fr.) Krankheitsursache. Heredität bei 46 = 
33,3 %, und zwar bei 27 Männern (33,3 %) und 18 Frauen (33,3 %). Mit dem 
Strafgesetz in Konflikt geraten 20 M., davon 10 an einfacher Seelenstörung, 1 an 
Epilepsie, 6 an Imbezillität und 3 an Alkoholismus leidend. Entlassen sind 73 
Kranke (46 M. 28 Fr.), davon geheilt 14 (8 M. 6 Fr.) = 19,2 %, gebessert 36 (21 M. 
14 Fr. )= 47,9 %, ungeheilt 18 (11 M. 7 Fr.) = 24,7 %, als nicht geisteskrank 6 
(6 M. 1 Fr.). Der Aufenthalt in der Anstalt betrug bei keinem der Geheilten mehr 
als 1 Jahr. Die Krankheitsdauer vor der Aufnahme bei den geheilt Entlassenen 
waren bei 6 Personen je 1 Monat, bei 2 je 2 Monate, bei 1 3 Monate, bei 2 je 
6 Monate, bei 4 je 2 und mehr als 2 Jahre. Eine Kranke, die seit Monaten freien 
Ausgang hatte, vergiftete sich mit Kleesalz, das sie sich aus der Stadt mitgebracht 
hatte. Gestorben sind 39 Kranke (21 M. 18 Fr.) = 6,7 % aller Verpflegten, davon 
an Lungentuberkulose, Herzlähmung, Lungenentzündung und allgemeiner Er¬ 
schöpfung infolge Paralyse je 6 Kranke. 3 an Himlähmung, je 2 an Darm- und 
Lungentuberkulose. Gesamtausgabe 376 886 M. 29 Pf. 

Sch wetz (191): Bestand am Anfang des Berichtsjahres 716 (369 M. 
347 Fr.). Zugang 200 (108 M. 92 Fr.). Abgang 149 (67 M. 82 Fr.). Bleibt 
Bestand 767 (410 M. 367 Fr.), davon 43 in Familienpflege. Von den Aufgenomme¬ 
nen litten an einfacher Seelenstörung 101 (46 M. 66 Fr.), paralytischer Seelen - 
Störung 12 (11 M. 1 Fr.), Imbezillität 12 (7 M. 6 Fr.), Idiotie 42 (26 M. 17 Fr.), 
Epilepsie mit Seelenstörung 13 (6 M. 7 Fr.), Hysterie 3 Fr., Alkoholismus 6 (3 M. 

2 Fr.). Von den 101 mit einfacher Seelenstörung behafteten Kranken litten 38 
an Dementia praecox (23 M. 16 Fr.), halluzinatorischer Verrücktheit 23 ( 9 M. 
14 Fr.), 12 (7 M. 6 Fr.) an manisch-depressivem Irresein. Heredität bei 68 (41 M. 
27 Fr.). Krankheitsdauer vor der Aufnahme bei 23 (8 M. 16 Fr.) bis zu 1 Monat, 

Zeitschrift flir Psychiatrie. LXIX. Lit. X 


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334* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


bei 32 (20 M. 12 Fr.) über 1 bis 6 Monate, bei 13 (7 M. 6 Fr.) 6 bis 12 Monate, 
bei 11 (3 M. 8 Fr.) 1 bis 2 Jahre, bei 39 (29 M. 10 Fr.) 2 bis 6 Jahre, sonst 
5 bis 45 Jahre. Ursächliche Einwirkungen wurden bei 138 Kranken (72 M. 66 Fr.) 
festgestellt, Alkoholmißbrauch war 15 mal, Lues 10 mal, Kopfverletzung 4 mal, 
psychische Erregung 9 mal Krankheitsursache. Mit dem Strafgesetz waren in 
Konflikt gekommen 23 (18 M. 6 Fr.). Zur Beobachtung aufgenommen 9 (8 M. 
1 Fr.). Entlassen 149 (67 M. 82 Fr.), davon geheilt 16 (9 M. 7 Fr.), gebessert 28 
(11 M. 17 Fr.), ungeheilt 22 (11 M. 11 Fr.). Die 16 geheilt Entlassenen waren 
bis zur Höchstdauer von 2 Jahren in der Anstalt behandelt. Gestorben 72 = 
7,68 % aller verpflegten Kranken. Tuberkulose war 8 mal Todesursache, Alters¬ 
schwäche 9 mal und Hirnlähmung 13 mal. 

Die Zahl der Geisteskranken, Idioten und Epileptischen ist in der Provinz 
Brandenburg (118) um 482 angewachsen. Am 31. Dezember 1909 betrug 
der Krankenbestand in den 9 Provinzial-Anstalten (Eber'swalde, Sorau, 
Landsberg, Neuruppin, Teupitz, Wittstock, Lübben, 
Wilhelmstift, Anstalt für Epileptische) 7763 (4028 M. 
3726 Fr.), davon in Familienpflege 323 (161 M. 162 Fr.) und in Privat-Anstalten 
193 (139 M. 54 Fr.). Zugang 2462 (1406 M. 1046 Fr.). Abgang 1977 (1135 M. 
842 Fr.). Bleibt Bestand 8260 (4319 M. 3941 Fr.), davon in Familienpflege 340 
(166 M. 174 Fr.). Nach § 81 St.-P.-O. wurden aufgenommen 22, davon waren 
7 für ihre Handlungen verantwortlich und wurden bestraft. Zahlreiche Verlegungen 
von Kranken von einer Anstalt in eine andere waren erforderlich. Da die Anstalt 
Teupitz die Normalbelegung bereits erreicht hat, werden die Anstalten bis zur 
Errichtung von Neubauten wieder stärker belegt sein, als wünschenswert ist. Die 
Gesamtdurchschnittsdauer der Anstaltspflege eines entlassenen Kranken betrug 
356 bzw. 502 Tage. Von den Entlassenen zeigen die epileptischen Frauen die längste 
durchschnittliche Dauer der Anstaltspflege, die geisteskranken Epileptiker weisen 
eine etwas kürzere Durchschnittsdauer der Anstaltspflege auf als im Vorjahre, 
bedürfen aber doch eines verhältnismäßig langen Anstaltsaufenthaltes. Sie werden 
in der Beziehung nur übertroffen von den Idioten und Imbezillen. Mit die kürzeste 
Dauer der Anstaltspflege fällt der Paralyse zu, meistens wenig über 1 Jahr. Ent¬ 
lassen sind im ganzen als geheilt bzw. gebessert 677 (393 M. 284 Fr.), ungeheilt 
154 (78 M. 76 Fr.), andern Anstalten überwiesen 346 (235 M. 111 Fr.), in Fa¬ 
milienpflege gegeben 140 (66 M. 84 Fr.). Gestorben 660 (373 M. 287 Fr.). 

Teupitz (202): Bestand am 31. Dezember 1909: 1020 (612 M. 508 Fr.). 
Zugang 661 (375 M. 286 Fr.). Abgang 481 (281 M. 200 Fr.). Bleibt Bestand 
1200 (606 M. 694 Fr.). Von den Aufgenommenen litten an einfacher Seelenstörung 
341 (130 M. 211 Fr.), an Paralyse 152 (107 M. 46 Fr.), Idiotie und Imbezillität 47 
(31 M. 16 Fr.), Seelenstörung mit Epilepsie 27 (20 M. 7 Fr.), Alkoholismus 92 
(85 M. 7 Fr.). Nicht geisteskrank waren 2 Männer. 22 % der männlichen Auf¬ 
nahmen waren Trinker. Heredität bei 20 % der Aufnahmen, und zwar 22,5 % 
bei einfacher Seelenstörung, 9 % bei Paralyse, 30 % bei Idiotie und Imbezillität. 
22 % bei Epilepsie und 23 % bei Alkoholismus. Es wurden entlassen als geheilt 
bzw. gebessert 224 (127 M. 97 Fr.), ungeheilt 20 (9 M. 11 Fr.). In andere An- 


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Grütter, Anstal tswesen and Statistik. 


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st&lten überführt worden 98 (63 M. 36 Fr.). Gestorben 139 (82 M. 57 Fr.). 
Paralyse war 64 mal (40 M. 14 Fr.), Tuberkulose 13 mal (7 M. 6 Fr.) Todes¬ 
ursache. Ein Haus für 50 unruhige Kranke ist begonnen und im Rohbau fertig. 
Die fortlaufende Untersuchung der Strausberger Korrigenden auf ihren Geistes¬ 
zustand führte 49 derselben als Kranke der Anstalt zu. Von diesen waren 20 
chron. Alkoholisten, 11 Idioten oder Imbecille, 11 litten an Jugendirresein, 
2 an Epilepsie mit Schwachsinn, einer an Paralyse, 4 an Altersblödsinn. Bei über 
der Hälfte der Kranken bestand erbliche Belastung. Ein Rückblick über die 
bisherige Entwicklung der Anstalt ist dem Jahresberichte beigegeben. Die Ein¬ 
richtungen der Anstalt haben sich im ganzen bisher gut bewährt. Schottische 
Nachtwache mit y 4 jähriger Dauer. Die einsame Lage der Anstalt, 4 km von der 
Eisenbahn, hat den Bau sehr verteuert und ist ungünstig für die Beamten, aber 
günstig für die Kranken. Die vorzeitige Belegung der Anstalt mit Kranken hat 
sich bewährt. Eigene Schlächterei. Im Wärterdorf 62 Wohnungen. 

Landsberg a. W. (156): Bestand am 31. Dezember 1909 : 991 (627 M. 
464 Fr.). Zugang 311 (188 M. 123 Fr.). Abgang 243 (138 M. 106 Fr.). Bleibt 
Bestand 1069 (677 M. 482 Fr.). In Familienpflege am 31. Dezember 1910: 47 
(27 M. 20 Fr.). Ein Fall von Typhus bei einer 37 jährigen Kranken, die seit 
13 Jahren in der Anstalt war. Bakteriologische Untersuchung der Umgebung 
blieb erfolglos. Im Bau begriffen sind ein Haus für 60 unruhige Kranke und ein 
Haus für Bäder und Laboratorium. Entlassen sind als geheilt bzw. gebessert 71 
(38 M. 33 Fr.), ungeheilt 13 (7 M. 6 Fr.); andern Anstalten überwiesen 30 
(24 M. 6 Fr.), in Familienpflege gegeben 22 (12 M. 10 Fr.), gestorben 107 
(67 M. 60 Fr.). 

Dalldorf (128): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 3168 (1770 M. 
1398 Fr.). Zugang 1289 (841 M. 448 Fr.). Abgang 1266 (871 M. 395 Fr.). 
Bleibt Bestand 3191 (1740 M. 1451 Fr.), davon in der Hauptanstalt 1136 (645 M. 
491 Fr.), in der Idiotenanstalt 169 (118 M. 51 Fr.), in Privatanstalten 1487 (760 M. 
737 Fr.). Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 678 (268 M. 310 Fr.), 
an paralytischer Seelenstörung 157 (119 M. 38 Fr.), an Seelenstörung mit Epi¬ 
lepsie und Hysterie 46 (35 M. 10 Fr.), an Idiotie und Imbezillität 166 (96 M. 
70 Fr.), an chronischem Alkoholismus 310 (295 M. 16 Fr.). Von den neu aufge¬ 
nommenen Kranken waren mit dem Strafgesetz in Konflikt geraten 237 (226 M. 
11 Fr.), gewohnheitsmäßig dem Alkoholmiflbrauch ergeben 381 (366 M. 16 Fr.). 
Zur Beobachtung des Geisteszustandes 33 (28 M. 5 Fr.). Entlassen wurden als 
geheilt oder gebessert 620 (461 M. 169 Fr.), ungeheilt 287 (197 M. 90 Fr.). Ge¬ 
storben 326 (186 M. 141 Fr.), davon an Tuberkulose 19 (9 M. 10 Fr.), an Him- 
krankheiten 68 (48 M. 20 Fr.), an Herzschlag 123 (74 M. 49 Fr.), Suizid be¬ 
gingen 4 Kranke (1 M. 3 Fr.). Beschäftigt durchschnittlich 263 Kranke. Die 
Selbstkosten für den Tag und Kopf eines Kranken 2,73 M. 

Herzberge (415): Bestand am 1. April 1910: 1747 (1042 M. 706 Fr.). 
Zugang 2247 (1793 M. 464 Fr.). Abgang 2245 (1832 M. 413 Fr.). Bleibt Bestand 
1749 (1003 M. 746 Fr.), davon in der Hauptanstalt 1233 (732 M. 601 Fr.), in 
Privatanstalten 392 (193 M. 199 Fr.), in Familienpflege 124 (78 M. 46 Fr.). Vom 

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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


Zugang litten an einfacher Seelenstörung 1662 (1316 M. 346 Fr.), an paralytischer 
Seelenstörung 165 (116 M. 40 Fr.), an Seelenstörung mit Epilepsie und Hysterie 199 
(167 M. 32 Fr.), an Idiotie und Imbezillität 147 (118 M. 29 Fr.), zur Beobachtung 
kamen 23 (22 M. 1 Fr.). Mit dem Strafgesetz in Konflikt geraten waren von den 
neu aufgenommenen Kranken 843 (810 M. 33 Fr.), gewohnheitsmäßig dem Al- 
koholmißbrauch ergeben 1182 (1166 M. 27 Fr.). Geheilt und gebessert 1412 
(1261 M. 161 Fr.), ungeheilt 472 (340 M. 132 Fr.). Gestorben 261 (107 M. 
144 Fr.), davon an Herzschwäche 102 (84 M. 18 Fr.), Tuberkulose 26 (8 M. 17 Fr.) 
Hirnkrankheiten 13 (6 M. 7 Fr.), im paralytischen Anfall 6 Frauen. Durchschnitt¬ 
lich beschäftigt täglich 688 (417 M. 171 Fr.). Mit Bettruhe wurden — abgesehen 
von 187 wegen Störungen auf körperlichem Gebiet Bettlägerigen — täglich durch¬ 
schnittlich 167 Kranke (49 M. 108 Fr.) behandelt. Eine praktische Ausbildung 
eines Teiles des älteren Pflegepersonals in der Pflege chirurgisch oder infektiöser 
Kranken findet in einem andern städtischen Krankenhause statt, wodurch eine 
erhebliche Verbesserung der Leistungsfähigkeit bei dem Personal erwartet wird. 

Buch (123): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 1816 (901 M. 914 Fr.). 
Zugang 1692 (979 M. 613 Fr.), Abgang 1212 (764 M. 448 Fr.). Bleibt Bestand 
2196 (1116 M. 1079 Fr.), davon in der Hauptanstalt 1719 (866 M. 863 Fr.), in 
Privatanstalten 396 (213 M. 182 Fr.), in Familienpflege 81 (37 M. 44 Fr.). Vom 
Zugang litten an einfacher Seelenstörung 407 (197 M. 210 Fr.), an paralytischer 
Seelenstörung 306 (137 M. 168 Fr.), an Seelenstörung mit Epilepsie und Hysterie 
70 (32 M. 38 Fr.), Imbezillität und Idiotie 136 (97 M. 39 Fr.), chronischem Al¬ 
koholismus 266 (269 M. 6 Fr.). Zur Beobachtung kamen 13 Männer. Mit dem 
Strafgesetz in Konflikt geraten waren 363 (343 M. 20 Fr.), gewohnheits¬ 
mäßig dem Alkoholmißbrauch ergeben 266 (269 M. 6 Fr.). Geheilt oder gebessert 
640 (368 M. 172 Fr.), ungeheilt 199 (113 M. 86 Fr.). Gestorben 264 (166 M. 
99 Fr.), davon an Herzkrankheiten 76 (46 M. 31 Fr.), an Hirnkrankheiten 30 
(17 M. 13 Fr.), an Tuberkulose 29 (16 M. 13 Fr.), im paralytischen Anfall 37 
(34 M. 3 Fr.). Das 2. Verwahrungshaus für 78 kriminelle Männer und das dazu 
gehörige Familien- und Pflegerhaus wurde im Berichtsjahre eröffnet. Das Haus 
ist der erweiterte Typ des alten Verwahrungshauses. Im Obergeschoß 40 Betten, 
im Untergeschoß 38, neben Lazarettzimmer eine größere Zahl fester Einzelräume 
(Zellen). 24 Pfleger inklusive 1 Oberpfleger und 1 Stellvertreter. In den 28 Einzel¬ 
räumen werden die Patienten beschäftigt; auch haben sie darin Bett, Stuhl, Nacht¬ 
tisch. 

W u h 1 g a r t e n (212): Bestand am 1. April 1910: 1652 (991 M. 661 Fr.). 
Zugang 828 (649 M. 179 Fr.). Abgang 866 (683 M. 182 Fr.). Bleibt Bestand 
1516 (957 M. 668 Fr.), davon in der Hauptanstalt 1177 (667 M. 610 Fr.), in der 
Idiotenanstalt 80 (48 M. 32 Fr.), in Privatanstalten 242 (227 M. 16 Fr.), in 
Familienpflege 16 (16 M. 1 Fr.). Von den Aufgenommenen litten an einfacher 
Seelenstörung 11 (8 M. 3 Fr.), an paralytischer Seelenstörung 4 Männer, an 
Seelenstörung mit Epilepsie 688 (622 M. 166 Fr.), an hysterischer Seelenstörung 
47 (39 M. 8 Fr.), an Idiotie und Imbezillität 19 (18 M. 1 Fr.), an chronischem 
Alkoholismus 43 Männer. Zur Beobachtung kamen 13 (12 M. 1 Fr.). Mit dem 


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Grütter, Anstaltswesen und Statistik. 


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Strafgesetz in Konflikt geraten waren 409 (402 M. 7 Fr.), gewohnheitsmäßig dem 
Alkoholmißbrauch ergeben 420 (413 M. 7 Fr.). Geheilt oder gebessert 731 (679 M. 
162 Fr.), ungeheilt 34 Männer. Gestorben 87 (68 M. 29 Fr.), davon an Tuber¬ 
kulose 17 (9 M. 8 Fr.), im epileptischen Anfall 16 (12 M. 3 Fr.). Durchschnitt¬ 
lich beschäftigt 436. Typhus bei 2 Kranken und 2 Pflegerinnen mit leichtem 
Verlauf. Diphtherieepidemie, bei der eine Pflegerin als Bazillenträgerin entdeckt 
wurde. Lugol sehe Lösung wurde mit Erfolg zur Entfernung der Bazillen gebraucht. 
Das am Schluß des Vorjahres im Bau angefangene Vierfamilienhaus für Ober¬ 
pfleger und Diener ist fertiggestellt und bezogen. 

Haus Schönow (144): Bestand am 1. Januar 1910:110 (64 M. 46 Fr.). 
Zugang 762 (471 M. 291 Fr.). Abgang 772 (476 M. 296 Fr.). Bleibt Bestand 100 
(69 M. 41 Fr.). Geheilt bzw. gebessert entlassen 76,2 % (76,7 % Männer und 
76,3 % Frauen), ungebessert bzw. gestorben 23,8 % (23,3 % Männer und 24,7 % 
Frauen). Gestorben 3 (1 M. 2 Fr.). Durchschnittliche Verpflegungsdauer für 
den einzelnen Kranken 61 Tage. Zur Behandlung kamen 1,8 % peripherische 
Nerven- und Muskelkrankheiten, 9,6 % organische Erkrankungen des Zentral¬ 
nervensystems, 77,2 % Neurosen, 10,1 % Psychosen, 1,4 % innere Krankheiten. 
Die Poliklinik wurde von 110 Kranken besucht. 

Dziekanka (131): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 678 (364 M 
314 Fr.). Zugang 167 (83 M. 84 Fr.). Abgang 137 (67 M. 70 Fr.). Bleibt 
Bestand 708 (380 M. 328 Fr.). Von den Aufgenommenen litten an Manie 6 (1 M. 
4 Fr.), Melancholie 8 (1 M. 7 Fr.), manisch-depressivem Irresein 5 (2 M. 3 Fr.), 
Paranoia acuta 1 M., Alkoholismus 7 M., Psychosis period. 8 (2 M. 6 Fr.), De¬ 
mentia praecox 62 (27 M. 36 Fr.), Amentia acuta 8 (2 M. 6 Fr.), Dementia et 
Paranoia chronica 10 (4 M. 6 Fr.), Dementia paralytica 16 (14 M. 1 Fr.), Geistes¬ 
krankheit nach Kopfverletzung 7 Männer, Idiotie und Imbezillität 12 (8 M. 4 Fr.), 
Epilepsie mit Seelenstörung 3 (1 M. 2 Fr.), hysterischer Seelenstörung 6 Frauen. 
Nicht geisteskrank waren 2 Männer. Krankheitsdauer vor der Aufnahme bei 39 
(9 M. 30 Fr.) bis zu 1 Monat, bei 16 (6 M. 10 Fr.) bis zu 2 Monaten, bei 6(2 E 
4 Fr.) bis zu 3 Monaten, bei den übrigen Aufnahmen 6 Monate und darüber. Heredi¬ 
tät bei 64 (30 M. 24 Fr.) = 32 %. Mit dem Strafgesetz in Konflikt geraten waren 
19 (16 M. 3 Fr.). Zur Beobachtung 6 Männer. Entlassen als geheilt 23 (12 M. 
11 Fr.), als gebessert 40 (18 M. 22 Fr.), ungeheilt 33 (12 M. 21 Fr.), nicht geistes¬ 
krank 2 Männer. Gestorben sind 39 (23 M. 16 Fr.). Es starben an Tuberkulose 
8 (4 M. 4 Fr.), an Paralyse 12 (10 M. 2 Fr.), Suizid 1 Mann. Durchschnittlich 
beschäftigt 40 % der Kranken. Gesamtausgabe 386 083,11 M., pro Kopf und Jahr 
666,64 M. 

Kosten (162): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 763 (396 M. 368 
Fr.). Zugang 82 (63 M. 29 Fr.). Abgang 86 (61 M. 34 Fr.). Bleibt 
Bestand 760 (397 M. 363 Fr.), darunter jugendliche (minderjährige Idioten 
und Epileptiker) 208 (129 M. 79 Fr.). Vom Zugang litten an ein¬ 
facher Seelenstörung 11 (6 m. 6 w.), an Epilepsie und Hysteroepilepsie 
22 (16 m. 6 w.), Idiotie und Imbezillität 40 (26 m. 14 ,w.), Idiotie und 
Imbezillität mit Epilepsie 6 (2 M. 3 Fr.). Heredität bei 24 der Aufgenomme- 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


nen. Krankheitsdauer vor der Aufnahme bei 3 (1 m. 2 w.) bis 1 Monat, be i 
(3 m. 3 w.) 1 bis 6 Monate, bei 4 (3 m. 1 w.) 1 bis 2 Jahre, bei 63 (41 m. 22 *. 
mehr als 2 Jahre. Mit dem Strafgesetz in Konflikt geraten 16 (13 m. 2 w.). Trank- 
Sucht als Krankheitsursache bei 2 (1 m. 1 w.). Entlassen geheilt 8 (5 m. 3 v«. 
gebessert 19 (10 m. 9 w.), ungeheQt 22 (16 m. 7 w.), nicht geisteskrank 4 (4 5L. 
Gestorben 32 (17 m. 16 Fr.). Tuberkulose war in 34 % der Todesfälle Ted«- 
ursache. Die Gesamtausgaben haben betragen 366 179,92 M. Die Unterhaltungs¬ 
kosten betrugen pro Kopf und Jahr 463,77 M. 

Obrawalde (173): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 862 (436 M. 
426 Fr.). Zugang 147 (85 M. 62 Fr.). Abgang 127 (67 M. 60 Fr.). Ble's 
Bestand 882 (464 M. 428 Fr.). Es litten an einfacher Seelenstörung 110 (57 M. 
63 Fr.), an paralytischer Seelenstörung 12 (11 M. 1 Fr.), an alkoholischer Seekt- 
störung 3 Männer, an epileptischer Seelenstörung 8 (7 M. 1 Fr.), an hysterisch« 
Seelenstörung 5 Fr., an Imbezillität und Idiotie 4(2 E 2 Fr.). Nicht geisteskrank 
waren 5 Männer. Krankheitsdauer vor der Aufnahme bei 33 (19 M. 14 Fr.) bis 
1 Monat, bei 18 (8 M. 10 Fr.) bis 2 Monate, bei 4 (1 M. 3 Fr.) bis 3 Monat» 
bei 11 (6 M. 6 Fr.) bis 6 Monate, bei 3 (1 M. 2 Fr.) bis 8 Monate, bei 14 (9 M. 
6 Fr.) bis 12 Monate, bei den übrigen 2 Jahre und darüber. Angeboren war d> 
Krankheit bei 6 (3 M. 3 Fr.). Heredität bei 56 (30 M. 26 Fr.). Mit dem Straf¬ 
gesetz waren in Konflikt gekommen 30 (26 M. 4 Fr.). Zur Beobachtung gemäi 
§ 81 Str.-Pr.-O. kamen 6 Männer, davon waren 3 nicht geisteskrank. Entlass« 
wurden als geheilt 23 (10 M. 13 Fr.), gebessert 24 (16 M. 8 Fr.), ungeheih 21 
(14 M. 7 Fr.). Gestorben sind 64 (22 M. 32 Fr.), davon an Tuberkulose l s 
(7 M. 11 Fr.), an Paralyse 6 (4 M. 1 Fr.), Der Prozentsatz der Todesfälle betrar 
6,3 % der Verpflegten, davon 30 % Tuberkulose. Der erste Erweiterungsbau t* 
im Berichtsjahre weiter gefördert worden, der zweite Erweiterungsbau wurdr 
begonnen. Gesamtausgabe 444 888,60 M., pro Kopf und Jahr 608,34 M. 

Owinsk (175): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 699 (326 1L 
373 Fr.). Zugang 233 (130 M. 103 Fr.). Abgang 182 (110 M. 72 Fr.). Bleib: 
Bestand 760 (346 M. 404 Fr.). Von den Aufgenommenen litten an Melanchoii« 
13 (3 M. 10 Fr.), Dementia paralytica 16 (13 M. 2 Fr.), Paranoia 53 (30 1L 
23 Fr.), Dementia praecox 66 (31 M. 26 Fr.), Manie 20 (9 M. 11 Fr.), Alkohobs- 
mus 10 (9 M. 1 Fr.), Epilepsie mit Seelenstörung 11 (6 M. 6 Fr.), Hysterie mit 
Seelenstörung und Hysteroepilepsie 6 (1 M. 6 Fr.), an Imbezillität und Idiotie 13 
(12 M. 3 Fr.). Es waren nicht geisteskrank 3 Männer. Krankheitsdauer vor <kr 
Aufnahme bei 65 (30 M. 25 Fr.) 1 Monat, bei 24 (14 M. 10 Fr.) 2 Monate, fc» 
16 (6 M. 9 Fr.) 3 Monate, bei 21 (10 M. 11 Fr.) 3—6 Monate, bei 25 (10 V. 
15 Fr.) 6—12 Monate, bei den übrigen 2 Jahre und darüber. Heredität bei 3f 
(17 M. 19 Fr.) = 16,6%. Mit dem Strafgesetz in Konflikt geraten waren 2' 
(25 M. 2 Fr.). Zur Beobachtung nach § 81 Str.-Pr.-O. kamen 4 Männer. Ent¬ 
lassen sind als geheilt 39 (28 M. 11 Fr.), als gebessert 67 (33 M. 24 Fr.), unge- 
heilt 30 (21 M. 9 Fr.). Gestorben sind 63 (25 M. 28 Fr.), davon an Tuber¬ 
kulose 13 (6 M. 7 Fr.). Ein Typhusfall unbekannter Genese. Gesamtausgabe 
384 482,56 M., pro Kopf und Jahr 629,25 M. 


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Grütter, Anstaltswesen und Statistik. 


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Breslau (120): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 194 (109 M. 
85 Fr.). Zugang 874 (689 M. 286 Fr.). Abgang 877 (697 M. 280 Fr.). Bleibt 
Bestand 191 (101 M. 90 Fr.). Vom Zugang litten an einfach erworbenen Psy¬ 
chosen 211 (104 M. 107 Fr.), an konstitutionellen Psychosen 60 (34 M. 26 Fr.), 
an epileptischen Formen 127 (87 M. 40 Fr.), an alkoholischen und andern Intoxika¬ 
tionspsychosen 283 (249 M. 34 Fr.), an paralytischen, senilen und sonstigen 
organischen Geisteskrankheiten 196 (120 M. 76 Fr.). Vermindert waren die Auf¬ 
nahmen von alkoholischen und andern Intoxikationspsychosen, sowie die Zahl 
der Paralytiker. Eine Zunahme zeigen die geisteskranken Verbrecher, die wieder¬ 
holt komplottierten und ausbrachen, so daß vor 6 Einzelzimmern komplizierte 
Verschlüsse angebracht werden mußten. Vom Abgang wurden geheilt 216 (= 20%), 
gebessert 308 (= 28,8 %), ungeheilt 258 (= 24,1 %). Gestorben sind 81 (= 7,6 %). 
Nicht geisteskrank 1,3 %. Die Familienpflege hat keine Zunahme erfahren. Der 
Wechsel des Wartepersonals hat sich ganz erheblich vermindert. 4 Pflegerwohnun¬ 
gen wurden eingerichtet und bezogen. 

B r i e g (121): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 643 (278 M. 266 Fr.). 
Zugang 110 (36 M. 75 Fr.). Abgang 81 (33 M. 48 Fr.). Bleibt Bestand 672 
(280 M. 292 Fr.), davon in FamiJienpflege 44 (24 M. 20 Fr.). Vom Zugang litten 
an einfacher Seelenstörung 79 (20 M. 59 Fr.) = 74,63 %, an paralytischer Seelen¬ 
störung 12 (8 M. 4 Fr.) = 11,32 %, an Epilepsie mit Seelenstörung 8 (4 M. 4 Fr.) 
= 7.65%, an Imbezillität, Idiotie 7 (1 M. 6 Fr.) = 6.6%. Nicht geisteskrank 
waren 4 (2 M. 2 Fr.). Krankheitsdauer vor der Aufnahme bis zu 1 Monat bei 14 
(3 M. 11 Fr.), 1—8 Monate bei 19 (6 M. 13 Fr.), 6—12 Monate bei 13 (4 M. 
9 Fr.), 1—2 Jahre bei 15 (4 M. 11 Fr.), 2—5 Jahre bei 13 (4 M. 9 Fr.), 6—10 
Jahre bei 10 (6 M. b Fr.), über 10 Jahre bei 11 (4 M. 7 Fr.), von Jugend auf bei 
7 (1 M. 6 Fr.). Heredität war bei 45,28 % der Aufnahmen Krankheitsursache, 
Trunksucht 4 mal (1 M. 3 Fr.), Lues 4 mal (3 M. 1 Fr.). Mit dem Strafgesetz 
in Konflikt geraten 14,54 % der Aufnahmen. Entlassen geheilt 4 (2 M. 2 Fr.), 
gebessert 22 (10 M. 12 Fr.), ungeheilt 26 (7 M. 19 Fr.). Gestorben 24 (11 M. 
13 Fr.). Paralyse war 4 mal (4 M.), Tuberkulose 5 mal (1 M. 4 Fr.), Krebs 
2 mal (1 M. 1 Fr.) Todesursache. 

Bunzlau (124): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 660 (366 M. 
305 Fr.). Zugang 173 (93 M. 80 Fr.). Abgang. 171 (80 M. 91 Fr.). Bleibt 
Bestand 662 (368 M. 294 Fr.). 13 der aufgenommenen Männer (=13,9%) 

litten an paralytischer Seelenstörung. 6 (= 6,4 %) an Epilepsie mit Seelenstörung. 
Von den aufgenommenen Frauen waren 6 (= 6,3 %) paralytisch. Zur Beobachtung 
7(4 M. 3 Fr.). Entlassen geheilt 12 (4 M. 8 Fr.), gebessert 21 (10 M. 11 Fr.), un¬ 
geheilt 6 (2 M. 4 Fr.). Gestorben sind 66 = 7,8% der Gesamtzahl der Ver¬ 
pflegten, darunter 14 über 70, 4 über 80 Jahre alt. Tuberkulose war 7 mal, Magen¬ 
karzinom 4 mal, Suizid 1 mal Todesursache. Dysenterie 3 mal. 12 Erkrankungen 
an Dysenterie, der Ansteckungsweg wurde nicht aufgedeckt. 3 Typhusfälle (2 Pflege¬ 
rinnen, 1 Kranker). Der Bestand der 6 Bazillenträgerinnen unverändert. Die 
weibliche Familienpflege wurde um 20 Plätze erweitert. Bezogen wurde das neue 
Direktorwohnhaus und ein neues Arzthaus. — Gesamtausgabe 395 493,49 M. 


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340 * 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


F r e i b u r g (Schlesien) (137): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres Ti 
(347 M. 376 Fr.). Zugang 127 (66 M. 72 Fr.). Abgang 85. Bestand am En* 
des Berichtsjahres 731 (341 M. 390 Fr.). Vom Zugang litten an einfacher Seeles¬ 
störung 63 (27 M. 36 Fr.), an Idiotie 11 (4 M. 7 Fr.), an Idiotie mit Epilepsie! 1 
(4 M. 6 Fr.), an Imbezillität 8 (4 M. 4 Fr.), Imbezillität mit Epilepsie 1 (1 Fr., 
an Epilepsie 27 (14 M. 13 Fr.), an Dementia paralytica 3 Fr. Nicht geistestraii 
waren 4 (2 M. 2 Fr.). Krankheitsdauer vor der Aufnahme bei der einfachn 
Seelenstörung und der Paralyse bis zu 6 Monaten bei 20 (5 M. 15 Fr.), 3—6 Monat* 
bei 9 (1 M. 8 Fr.), 6—12 Monate bei 8 (7 M. 1 Fr.), 1—2 Jahre bei 6 (3 ä 
3 Fr.), über 2 Jahre bei 18 (8 M. 10 Fr,.) unbekannt bei 6 (3 M. 2 Fr.). Krank- 
heitsdauer bei der Epilepsie 1—3 Jahre bei 8 (6 M. 3 Fr.), 3—10 Jahre bei 7 
(4 M. 3 Fr.), 10—20 Jahre bei 12 (8 M. 4 Fr.), über 20 Jahre bei 3 (11L 2 Fr.i 
unbekannt bei 1 M. Gehirnentzündung war lmai, Apoplexie 2 mal. Kopfver¬ 
letzung 7 mal, Potus 1 mal, Lues 1 mal, Haft 2 mal, Laktation, Klimakterium und 
Senium je 1 mal Krankheitsursache. Heredität bei 44 (22 M. 22 Fr.). Mit dem 
Strafgesetz in Konflikt geraten 22 (19 M. 3 Fr.). Zur Beobachtung 7 (6 M. 
1 Fr.). Entlassen 51, davon geheilt 10 (3 M. 7 Fr.), gebessert 23 (18 M. 10 Fr.i. 
ungeheilt 18 (9 M. 9 Fr.). Beurlaubt 34 (17 M. 17 Fr.). Gestorben sind 34 (17 51 
17 Fr.). Tuberkulose war 4 mal Todesursache. Neu bezogen ein Haus für 45 
unruhige Frauen, außerdem 4 Pflegerhäuser, die zum Teil für Familienpfleglüe* 
eingerichtet sind. 

Kreuzburg (154): Bestand am Anfang des Berichtsjahres 643 (380 51 
263 Fr.). Zugang 132 (76 M. 56 Fr.). Abgang 110 (68 M. 42 Fr.). Bleibt 
Bestand 665 (388 M. 277 Fr.), davon 13 (10 M. 3 Fr.) in Familienpflege. Von 
Zugang litten an einfacher Seelenstörung 91 (44 M. 47 Fr.), an Paralyse 24 (18 JL 
6 Fr.), an epileptischer Seelenstörung 6 (5 M. 1 Fr.), an Imbezillität 2 Fr., in 
alkoholischer Seelenstörung 3 M. Nicht geisteskrank waren 6 M. Auf Grund d« 
§ 81 Str.-Pr.-O. wurden 10 (9 M. 1 Fr.) aufgenommen. Krankheitsdauer vor 
der Aufnahme bis zu 1 Monat bei 9 (4 M. 5 Fr.), bis zu 3 Monaten bei 23 (1351 
10 Fr.), bis zu 6 Monaten bei 16 (7 M. 9 Fr.), bis zu 1 Jahre bei 16 (12 M. 3 Fr.), 
bis zu 2 Jahren bei 34 (17 M. 17 Fr.), bis zu 6 Jahren bei 12 (9 M. 3 Fr.), länger 
als 10 Jahre bei 16 (11 M. 5 Fr.), von Kindheit an bei 2 Fr. Von den Entlassene 
waren geheilt 13 (8 M. 5 Fr.), gebessert 14 (9 M. 5 Fr.), ungeheilt 18 (12 51 
6 Fr.), nicht geisteskrank 6 M. Gestorben 59 (33 M. 26 Fr.), darunter 12 (9 51 
3 Fr.) an Paralyse, 10 (3 M. 7 Fr.) an Tuberkulose. Beschäftigung bei den 
Männern 33,9 %, bei den Frauen 56 %. Ein Ärztewohnhaus neu bezogen. - 
Gesamtausgabe 405 976,98 M. 

Leubus (159): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 765 (403 M. 362 Fr.l 
Zugang 145 (89 M. 56Fr.). Abgang 167 (84M. 73 Fr.). Bleibt Bestand 763 (408 M. 
345 Fr.). An einfacher Seelenstörung litten 100 (60 M. 60 Fr.), an paralytischer Seelen- 
störung 22 (20 M. 2 Fr.), an Seelenstörung mit Epilepsie 13 (10 M. 3 Fr.), u 
Idiotie und Imbezillität 9 (8 M. 1 Fr.). Krankheitsdauer vor der Aufnahme bis 
zu 1 Monat bei 2 Fr., 1—3 Monate bei 16 (7 M. 9 Fr.), 3—6 Monate bei 9 (4 51 
5 Fr.), 6—12 Monate bei 20 (11 M. 9 Fr.),über 12 Monate bei 82 (55 M. 27 Fr.i. 


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Grütter, Anstaltswesen and Statistik. 


341 * 


von Kindheit an 8 (7 M. 1 Fr.), unbekannt bei 10 (4 M. 6 Fr.). Nicht geistes¬ 
krank war 1 (1 M.). Heredität bei 59 (41 M. 18 Fr.) = 40,7 % aller Angenomme¬ 
nen. Krankheitsursache chronischer Alkoholmißbrauch 10 mal (9 M. 1 Fr.), 
Lues 11 mal (10 M. 1 Fr.), Haft 2 mal (2 M.). Mit dem Strafgesetz in Konflikt 
geraten 24 (21 M. 3 Fr.) = 16,5 %. Zur Beobachtung 8 (7 M. 1 Fr.). Von den 
Entlassenen waren geheilt 0, gebessert 52 (23 M. 29 Fr.),ungeheilt29 (21 M. 8 Fr.). 
Gestorben sind 75 (39 M. 36 Fr.) = 8,24 % Mortalität. Tuberkulose war 11 mal 
(3 M. 8 Fr.), Typhus 1 mal (1 Fr.), Ruhr 13 mal (6 M. 7 Fr.), Paralyse 24 mal 
(18 M. 6 Fr.), Suizid 1 mal (1 Fr.) Todesursache. 

Die neue Anstalt war vom April bis Dezember für Aufnahmen gesperrt wegen 
einer heftigen Ruhrepidemie. 17,3 %, also fast der 6. Teil der Gestorbenen, sind 
an der Ruhr zugrunde gegangen. Erkrankt an Ruhr waren im ganzen 110 Per¬ 
sonen (39 M. 66 Fr., 5 Pflegerinnen). Ursache 16 Bazillenträger. Alle seit dem 
ersten Auftreten der Ruhr erkrankt gewesenen Kranken und Pflegerinnen wurden 
in besonderen Häusern isoliert. — 1 Suizid bei einer Kranken, die aus einem Dreh¬ 
fenster sprang. 

In der Pensionsanstalt waren zu Beginn des Berichtsjahres 51 Kranke (24 M. 
27 Fr.). Zugang 24 (18 M. 6 Fr.). Abgang 18 (16 M. 2 Fr.). Bleibt Bestand 
67. Heredität bei 2 Kranken (1 M. 1 Fr.). Chronischer Alkoholmißbrauch 1 mal, 
Lues 2 mal Krankheitsursache. Einfache Seelenstörung bei 18 (12 M. 6 Fr.), 
paralytische Seelenstörung bei 6 (6 M.). Entlassen geheilt 1 (1 M.), gebessert 6 
(3 M. 2 Fr.), ungeheilt 4 (4 M.), gestorben 8 (8 M.). Paralyse war 5 mal (6 M.). 
Suizid 1 mal (1 M.) Todesursache. Gesamtausgabe 527 182,13 M. 

Rybnik (184): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 800 (439 M. 361 
Fr.). Zugang 226 (79 M. 146 Fr.). Abgang 144 (72 M. 72 Fr.). Bleibt Bestand 
881 (446 M. 435 Fr.), davon in Familienpflege 15 Frauen^ Von den Aufgenomme¬ 
nen litten an Manie, periodischer Manie, zirkulärem Irresein 12 (2 M. 10 Fr.), an 
Dementia praecox 18 (6 M. 13 Fr.), Paranoia 36 (17 M. 19 Fr.), Imbezillität, 
Degenerationspsychosen 18 (4 M. 14 Fr.), Paralyse 20 (16 M. 4 Fr.), Epilepsie 
mit Seelenstörung 23 (7 M. 16 Fr.), Alkoholpsychosen 13 (7 M. 6 Fr.), Amentia 
15 (6 M. 9 Fr.), seniler Demenz 15 (3 M. 12 Fr.), Melancholia 22 (3 M. 19 Fr.), 
Puerperal- und Laktationspsychosen 14 Fr., traumatischer Neurose5M., hysterisch¬ 
neu rasthenischer Psychose 4 (1 M. 3 Fr.), nicht geisteskrank waren 3 (2 M. 1 Fr.). 
Krankheitsursache waren Schwangerschaft, Entbindung und Stillen 20 mal, Kopf¬ 
verletzung 6 mal (6 M.), Strafhaft 7 mal (5 M. 2 Fr.), Syphilis 16 mal (12 M. 
4 Fr.), Alkoholmißbrauch 21 mal (14 M. 7 Fr.), Überanstrengung 13 mal (7 M. 
6 Fr.). Sichere Heredität bei 47 (11 M. 36 Fr.). Mit dem Strafgesetz waren 
in schwerere Konflikte gekommen 28 (22 M. 6 Fr.). Von den Entlassenen sind 
geheüt 16 (5 M. 11 Fr.), gebessert 40 (20 M. 20 Fr.), ungeheilt 38 (20 M. 18Fr.), 
nicht geisteskrank 2 (1 M. 1 Fr.). Gestorben 48 (26 M. 22 Fr.), ungefähr = 5% 
der Verpflegten. 8 starben an Paralyse, 4 an Tuberkulose. 12 Paralytiker wurden 
mitEhrlich-Hata behandelt, 2 mit sehr günstigem Erfolge. Der Bau eines Männer¬ 
hauses für 65 Kranke und eines Frauenhauses mit 45 Plätzen wurde erheblich ge¬ 
fördert, so daß im Laufe des nächsten Jahres Platz für rund 1100 Kranke sein wird. 


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342 * 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


Vollendet und bezogen sind ein dreistöckiges Haus für 85 Frauen sowie 4 Hk*: 
für zusammen 18 Pflegerwohnungen. Die Pflegerwohnungen sind gleichzeitig ri- 
je 2 oder 3 Familienpfleglinge eingerichtet. Gesamtausgabe 500 218,14 M. 

Tost (203): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 592 (271 M. 321 F: 
Zugang 142 (87 M. 55 Fr.). Abgang 146 (74 M. 72 Fr.). Bleibt Bestand ra- 
schließlich der Beurlaubten 588 (284 M. 304 Fr.). Vom Zugang litten an einfach:: 
Seelenstörung 100 (52 M. 48 Fr.), an paralytischer Seelenstörung 22 (19 M. 3 Fr. , 
an Epilepsie mit Seelenstörung 4 (4 M.), an Hysterie mit Seelenstörung 1 (1 JL 
an Imbezillität und Idiotie 2 (2 Fr.), nicht geisteskrank waren 14 (12 M. 2 Fr 
Krankheitsdauer vor der Aufnahme bei 11 (7 M. 4 Fr.) bis zu 1 Monat, bei 
(11 M. 9 Fr.) 1—3 Monate, bei 18 (10 M. 8 Fr.) 3—6 Monate, bei 22 (13)1 

9 Fr.) 6—12 Monate, bei 16 (11 M. 5 Fr.) 1—2 Jahre, bei 14 (8 M. 6 Fr.) 2-; 
Jahre, bei 10 (5 M. 5 Fr.) 6—10 Jahre, bei 13 (8 M. 5 Fr.) über 10 Jahre, bei: 
(2 Fr.) von Jugend auf. Heredität bei 31 (16 M. 15 Fr.). Trunksucht wird bei 1' 
(12 M. 3 Fr.), Syphilis bei 10 (7 M. 3 Fr.), Unfall 5 mal, Kopfverletzung 2na : 
Strafhaft 3 mal, Wochenbett und Stillen 4 mal als Krankheitsursache amgegebe:. 
Mit dem Strafgesetz in Konflikt geraten 26 (24 M. 2 Fr.). Zur Beobachtung K 
(12 M. 2 Fr.), davon 10 (10 M.) nach § 81 Str.-Pr.-O. Entlassen geheilt IS 
(8 M. 4 Fr.), gebessert 21 (8 M. 13 Fr.), ungeheilt. 3 (2 M. 1 Fr.), nicht geistev 
krank 1 (1 M.), nach abgeschlossener Beobachtung 16 (13 M. 3 Fr.), in and-T- 
Anstalten 63 (25 M. 38 Fr.). Gestorben sind 30 (17 M. 13 Fr.)= 6% al> 
Verpflegten. Paralyse war 13 mal (11 M. 2 Fr.), Tuberkulose 7 mal Todesunatii- 
In Familienpflege 7 (2 M. 5 Fr.). — Gesamtausgabe 338 713.69 M. 

Lüben (164): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 905 (44*) 1t 
465 Fr.). Zugang 350 (196 M. 154 Fr.). Abgang 281 (168 M. 113 Fr.). BM 
Bestand 974 (468 M. 506 Fr.). Vom Zugang litten an einfacher Seelenstönis: 
272 (130 M. 142 Fr.), an paralytischer Seelenstörung 32 (29 M. 3 Fr.), an Im¬ 
bezillität 10 (7 M. 3 Fr.), an Idiotie 3 (2 M. 1 Fr.), an Epilepsie mit Seele:- 
Störung 23 (22 M. 1 Fr.). Hysterie 4 (1 M. 3 Fr.), Alkoholismus 3 (3 M.). Sit-' 
geisteskrank 2. Krankheitsdauer vor der Aufnahme bis zu 1 Woche bei 4 (4 M. 
bis zu 1 Monat bei 45 (12 M. 33 Fr.), bis zu 3 Monaten bei 44 (25 M. 19 Fr 
bis zu 6 Monaten bei 35 (13 M. 22 Fr.), bis zu 1 Jahr bei 39 (18 M. 21 Fr.), bis - 
5 Jahren bei 90 (56 M. 34 Fr.), bis zu 10 Jahren bei 28 (20 M. 8 Fr.). iik 

10 Jahre bei 30 (20 M. 10 Fr.), von Jugend auf bei 16 (13 M. 3 Fr.), unbekair 
bei 17 (13 M. 4 Fr.). Heredität bei 132 (82 M. 50 Fr.) = 37,7 %. Andere 1' 
Sachen: Trunksucht bei 33, Syphilis bei 17, Greisenalter bei 16, Apoplexiec ’ 
Überanstrengung bei 6, Entbindung und Wochenbett bei 5, Arteriosklerose be: t 
Gerichtlich vorbestraft 54 (43 M. 11 Fr.). Zur Beobachtung 6. Entlassen gehe.* 
61 (40 M. 21 Fr.), gebessert 87 (57 M. 30 Fr.), ungeheilt 24 (19 M. 5 Fr.). t'*- 
storben 108 (51 M. 57 Fr.) = 8,6 % des Gesamtbestandes. Tuberkulose 

9 mal (4 M. 5 Fr.) Todesursache. — Gesamtausgabe 459 963 M., pro Kopf w 
Jahr 512,69 M. 

L u b 1 i n i t z (162): Der Bericht umfaßt die Zeit von 1893 bis 1910 und gif 
eine Anstaltschronik über diese Jahre. Der Krankenbestand war im Anfang » 


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Griltter, Anstaltswesen und Statistik. 


343 * 


gering, um 300 herum. Zu* und Abgang etwa 60—80. Ende 1904 stieg der 
Bestand auf 431, Ende 1906 auf 673, Ende 1909 auf 681, Ende März 1911 auf 841, 
und er wird 1912 wohl 1000 erreicht haben. Abgang in den letzten Jahren 360—400 
Personen. (Jnter den Aufnahmen viele Unfallverletzte, Kentenempfänger und 
invaliden. Zahl der Todesfälle im Durchschnitt 26 bis zum Jahre 1906, von da ab 
etwa 40. Tuberkulose seltene Todesursache, meistens Paralyse, Lungenentzündung, 
Schlaganfall. Zur Beobachtung gemäß § 81 Str.-Pr.-O. seit 1902 83 Personen. 
Zahl der Beschäftigten bei den Männern etwa 60 %, bei den Frauen etwa 46 %. — 
Von den in den letzten Jahren entstandenen neuen Gebäuden ist ein neues Männer* 
haus (für 180 Kranke) zum Teil mit Gittern versehen, ebenso ein neues Frauenhaus. 
Zur Entlastung der Wachsäle sind im Bodenraum des Männerhauses 6 Einzelräume 
vorgesehen, „in denen Nachts störende oder fluchtverdächtige Elemente wegge¬ 
schlossen werden.“ Auf je 10 Kranke 1 Badewanne. Wachplätze und Plätze auf 
Bettstationen etwa 60 %. Preis des Bettes sowohl auf der alten wie der neuen 
Station 1800 M. Die Familienpflege in Lublinitz ist zurzeit mit 77 Pfleglingen die 
umfangreichste in Schlesien. In Schlesien sind im ganzen in Familienpflege 266 
Kranke. Nach den Erfahrungen in Lublinitz eignen sich am besten zur Familien¬ 
pflege Idioten, sekundär Demente, Schwachsinnige, ruhige Paranoiker, chronische 
Halluzinanten und Alkoholiker. Unter den Familienpfleglingen eine Schwängerung. 

Neustadt in Holstein (170): Bestand am Anfang des Berichtsjahre: 
960 (617 M. 433 Fr.). Zugang 179 (76 M. 103 Fr.). Abgang 193 (96 M. 97 Fr.). 
Bleibt Bestand 936 (497 M. 439 Fr.), davon in Familienpflege 81 (23 M. 68 Fr.). 
Von den Aufgenommenen litten an einfacher Seelenstörung 104 (36 M. 69 Fr.), 
an paralytischer Seelenstörung 14 (7 M. 7 Fr.), Imbezillität, Idiotie und Kretinis¬ 
mus 24 (14 M. 10 Fr.), Epilepsie mit und ohne Seelenstörung 18 (7 M. 11 Fr.), 
Hysterie 6 (2 M. 4 Fr.), Chorea 1 Fr., Alkoholismus 5 (4 M. 1 Fr.), nicht geistes¬ 
krank 7 M. 64 (24 M. 40 Fr.) standen im Alter von 10—20 Jahren, 37 (22 M. 
16 Fr.) in dem von 20 bis 30 Jahren, 36 (18 M. 18 Fr.) waren 30—40 Jahre, 19 
(11 M. 8 Fr.) 40 bis 50 Jahre, 13 (1 M. 12 Fr.) 60—60 Jahre, 9 Fr. 60—70 Jahre 
und 1 Frau zwischen 70 und 80 Jahren alt. Die Qualität der aufgenommenen 
Kranken war in dem Berichtsjahr recht ungünstig, von den 70 Männern waren 
allein 46 Kriminelle = 69,2 %. von denen 36 dem Festen Hause überwiesen werden 
mußten. Es ist deshalb bei der Überfüllung desselben der beschleunigte Neubau 
eines weiteren Männerhauses bewilligt. Die Fürsorgezöglinge machen durch ihre 
Keizbarkeit, Widersetzlichkeit, Neigung zu Hetzereien und ihren Hang zu Dieb¬ 
stählen und sexuellen Delikten große Schwierigkeiten. Zur Beobachtung wurden 
aufgenommen 11 Männer, davon waren 1 nicht geisteskrank, 4 geistig minder¬ 
wertig, 1 geisteskrank, die übrigen wurden auf ihre Strafvollzugsfähigkeit beob¬ 
achtet. Die Zahl der Familienpfleglinge ist von 64 auf 81 (23 M. 68 Fr.) gestiegen. 
Entlassen 132 (66 M. 66 Fr.), davon waren geheilt 10 (5 M. 6 Fr.), gebessert 62 
(39 M. 23 Fr.), ungeheilt 60 (22 M. 38 Fr.). Gestorben 61 (30 M. 31 Fr.). 
Lungenschwindsucht war 11 mal (3 M. 8 Fr.), Gehirnerweichung 6 mal (3 M. 
2 Fr.), Darmkatarrh 6 mal (3 M. 2 Fr.) und Darmgeschwüre 4 mal (4 M.) Todes¬ 
ursache. Gesamtausgabe 568 463.33 M. 


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344 * Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 

Schleswig (189): Bestand am 1. April 1910: 1054 (567 M. 487 Fr.. 
Zugang 427 (249 M. 178 Fr.). Abgang 374 (192 M. 182 Fr.). Bleibt Bestaai 
1107 (624 M. 483 Fr.). Von den Aufgenommenen litten an einfacher Seefe¬ 
st örung 341 (184 M. 157 Fr.), paralytischer Seelenstörung 29 (26 M. 3 Fr. 
Seelenstörung mit Epilepsie 20 (18 M. 2 Fr.), Imbezillität und Idiotie 37 (21 1L 
16 Fr.). Heredität bei 148 (80 M. 68 Fr.). Deprimierende Gemütsaffekte wan* 
bei 32 (13 M. 19 Fr.), Trauma bei 6 (5 M. 1 Fr.), Senium bei 9 (7 M. 2 Fr.). 
Lues bei 8 (7 M. 1 Fr.), Alkoholismus bei 28 (25 M. 3 Fr.), überanstrengme 
bei 6 (5 M. 1 Fr.), Wochenbett und Schwangerschaft bei 4 Fr., Klimakteriaa 
bei 3 Frauen Krankheitsursache. Zur Beobachtung kamen 22 (19 M. 3 Fr.:. 
Von den Entlassenen waren geheüt 47 (24 M. 23 Fr.), gebessert 122 (67 M. 55 Fr.', 
ungeheilt 114 (50 M. 64 Fr.). Gestorben 91 (61 M. 40 Fr.), davon an Lungen¬ 
tuberkulose 11 (7 M. 4 Fr.), an Paralyse 15 (11 M. 4 Fr.). Durch Suizid endet« 
2 M. und 1 Fr. Die Wachsäle zurzeit überfällt, ein neuer Wachsaal eingerichtet. 
Besondere Schwierigkeiten machen die weiblichen Fürsorgezöglinge. Gesamt¬ 
ausgabe 777 016,83 M. 

Göttingen (142): Bestand am Anfang des Berichtsjahres 509 (327 5L 
182 Fr.). Zugang 342 (218 M. 124 Fr.). Abgang 307 (185 M. 122 Fr.. 
Bleibt Bestand 544 (360 M. 184 Fr.). Von den Aufgenommenen litten a- 
einfacher Seelenstörung 247 (142 M. 106 Fr.), an paralytischer Seefei 
Störung 21 (20 M. 1 Fr.), an Epilepsie 15 (14 M. 1 Fr.)* Idiotie 1 M. 
Imbezillität 13 (6 M. 7 Fr.), Delirium potat. 1 M., nicht geisteskrank war«: 44 
(34 M. 10 Fr.). Die Krankheitsdauer vor der Aufnahme betrug bei 102 (64 M. 
38 Fr.) 1—6 Wochen, bei 38 (27 M. 11 Fr.) 3 Monate, bei 29 (19 X 
10 Fr.) 3—6 Monate, bei 31 (21 M. 10 Fr.) 1—2 Jahre, bei 47 (26 M. 21 Fr.. 
2—5 Jahre, bei 52 (34 M. 18 Fr.) über 5 Jahre. Heredität war 162 mal (88 M. 
74 Fr.), Lues 21 mal (20 M. 1 Fr.), Alkohol 18 mal (16 M. 3 Fr.), Schlaganfiü 
5 mal (3 M. 2 Fr.), Geburt und Schwangerschaft 6 mal, Kopfverletzung bei 3 
Männern Krankheitsursache. Zur Beobachtung 23 (22 M. 1 Fr.). Geheilt wurdes 
10 (8 M. 2 Fr.), gebessert 136 (76 M. 60 Fr.), ungeheilt 103 (69 M. 44 Fr.l 
Gestorben sind 38 (29 M. 9 Fr.), darunter 2 an Lungentuberkulose, 6 an Hm- 
schwäche, 1 an Herzruptur. Seit 5 Jahren eine Typhusbazillenträgerin. bei dr 
wiederholt der Stuhl frei von Bazillen gefunden wurde, während später vorzt-- 
nommene Kontrolluntersuchungen immer wieder das erneute Auftreten von Typhus¬ 
bazillen ergeben. In Familienpflege 69. 

II i 1 d e s h e i m (147): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 683 (380 M. 
303 Fr.), Zugang 286 (144 M. 142 Fr.). Abgang 283 (166 M. 127 Ft.). Bleibr 
Bestand 686 (368 M. 318 Fr.). Von den Aufgenommenen litten an einfach« 
Seelenstörung 204 (83 M. 121 Fr.), an Paralyse 31 (26 M. 5 Fr.), an Hyster* 
oder Epilepsie mit Seelenstörung 16 (8 M. 8 Fr.), Imbezillität, Idiotie 16 (10 1L 
5 Fr.), zur Beobachtung 20 (17 M. 3 Fr.). Krankheitsdauer vor der Aufnahme 
bei 78 (18 M. 60 Fr.) unter 3 Monaten, bei 28 (13 M. 16 Fr.) 3—6 Monate, bei £ 
(18 M. 15 Fr.) 6—12 Monate, bei 61 (31 M. 20 Fr.) 1—2 Jahre, bei 70 (44 1! 
26 Fr.) über 2 Jahre, angeboren 16 (10 M. 6 Fr.), nicht geisteskrank 11 (10 M. 


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Grötter, Anstaltswesen und Statistik. 


345 * 


1 Fr.). Als Krankheitsursache ist angegeben Heredität bei 38 (14 M. 24 Fr.), 
Haft bei 6 (3 M. 3 Fr.), Trunksucht bei 15 (12 M. 3 Fr.), Syphilis bei 19 M., 
Senium bei 26 (12 M. 14 Fr.), Wochenbett und Laktation bei 8 Fr. Entlassen 
wurden als geheilt 17 (4 M. 13 Fr.), gebessert 76 (42 M. 34 Fr.), ungeheilt 38 
(20 M. 18 Fr.). Gestorben sind 64 (44 M. 20 Fr.), davon an Paralyse 25 (21 M. 

4 Fr.), an Lungentuberkulose 6 Männer = 9,37 % aller Todesfälle, von denen 
1 bereits vor der Aufnahme erkrankt war. 

Lüneburg (165): Bestand am Anfang des Berichtsjahres 949 (486 M. 
463 Fr.). Zugang 365 (191 M. 164 Fr.). Abgang 340 (171 M. 169 Fr.). Bleibt 
Bestand 964 (506 M. 458 Fr.). Von den Aufgenommenen litten an einfacher 
Seelenstörung 219 (104 M. 115 Fr.), an paralytischer Seelenstörung 19 (12 M. 
7 Fr.), an Epilepsie mit Seelenstörung 29 (13 M. 16 Fr.), an Imbezillität und Idiotie 
29 (20 M. 9 Fr.), an Alkoholismus 13 (12 M. 1 Fr.), zur Beobachtung 34 (27 M. 

7 Fr.). Krankheitsdauer vor der Aufnahme bei 95 (51 M. 44 Fr.) unter 3 Monaten, 
bei 44 (23 M. 21 Fr.) 3—6 Monate, bei 31 (14 M. 17 Fr.) 6—12 Monate, bei 62 
(34 M. 18 Fr.) 1—2 Jahre, bei 89 (40 M. 49 Fr.) über 2 Jahre, bei 27 (19 M. 

8 Fr.) angeboren. Rückfällig waren 60 (32 M. 18 Fr.). Heredität war 99 mal 
(53 M. 46 Fr.), Alkoholmißbrauch 32 mal (27 M. 6 Fr.), Syphilis 18 mal (15 M. 
3 Fr.), Trauma 6 mal (6 M.), Schwangerschaft und Wochenbett 4 mal Krankheits¬ 
ursache. Entlassen sind 248 (133 M. 116 Fr.), davon als geheilt 14 (10 M. 4 Fr.), 
gebessert 109 (49 M. 60 Fr.), ungeheilt 113 (63 M. 60 Fr.), nicht geisteskrank 13 
(12 M. 1 Fr.). Gestorben sind 90 (37 M. 63 Fr.), davon an Paralyse 17 (12 M. 

5 Fr.), an Tuberkulose 11 (6 M. 6 Fr.), an Altersschwäche 11 (2 M. 9 Fr.). 
Gesamtausgabe 1 389 768,70 M. Die Rittergüter Brockwinkel und Reppenstedt 
wurden in Pacht genommen, so daß das Gelände der Anstalt, das bisher 1044 
Morgen betrug, auf das Doppelte angewachsen ist. Davon stehen zum eigentlichen 
Ackerbau der Anstalt nunmehr 1370 Morgen zur Verfügung. 3 große Fischteiche 
wurden neu angelegt. 

Langenhagen (167): Gesamtbestand 841 (499 m. 342 w.). Zugang 
640 (330 m. 210 w.). Abgang 600 (312 m. 188 w.). Bleibt Bestand 881 (617 m. 
364 w.). 

In der Provinzial-Heil- und Pflege-Anstalt für Geistesschwache war der Be¬ 
stand am Beginn des Berichtsjahres 763 (434 m. 329 w.). Zugang 111 (58 m. 
53 w.). Abgang 96 (72 m. 24 w.). Bleibt Bestand 778 (420 m. 368 w.). Epi¬ 
leptiker waren am Beginn des Berichtsjahres 112 (63 m. 49 w.) in der Anstalt. 
Zugang 6, Abgang 14, bleibt Bestand 104 (66 m. 48 w.). Von den Aufgenomme- 
nen litten an Idiotie 66 (42 m. 24 w.) = 69,5 %, an Imbezillität 46 (16 m. 29 w.) 
= 40,5 %. Epilepsie war bei 7 (4 m. 3 w.), Lues hered. bei 1 (w.), Kretinismus 
bei 1 (w.), Hydrocephalus bei 9 (4 m. 5 w.), Mikrocephalie bei 8 (w.) vorhanden. 
Die Sprache war nur in einzelnen Lauten oder gar nicht vorhanden bei 21 (13 m. 
8 w.) = 19 %. Hereditäre Belastung war nachgewiesen bei 69 (28 m. 31 w.) = 
53.1 %. Potus des Vaters wird in 14 Fällen (9 m. 6 w.), Potus des Großvaters 
in 14 Fällen (8 m. 6 w.), Tuberkulose in der Familie in 8 (3 m. 6 w.), Blutsver¬ 
wandtschaft der Eltern in 4 (1 m. 3 w.), Trauma in 3 (2 m. 1 w.), Lues der 


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346 * 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


Eltern bei 1 (w.) angegeben. Entlassen wurden 96 (72 m. 24 w.), davon gebess«! 7 
(4 m. 3 w.), nicht gebessert 61 (50 m. 11 w.). Jeder der während des Beriekts- 
jahres Abgegangenen ist im Durchschnitt 5 Jahre verpflegt worden. Gestorb« 
sind 28 = 3,6 % der Verpflegten. In 6 Fällen war Tuberkulose Todesunad* 

In der Filial-Anstalt zu Himmelsthür war der Anfangsbestand 48. Zugang 37. 
Abgang durch Tod 3. Bleibt Bestand 82. 

Zugang in der Beobachtungsstation 428 (271 M. 157 Fr.). Es litten « 
einfacher Seelenstörung 221 (110 M. 111 Fr.), Paralyse 40 (32 M. 8 Fr.). Epi¬ 
lepsie 32 (27 M. 5 Fr.), Imbezillität 22 (12 M. 10 Fr.), Alkoholdelirium 87 (78 M. 

9 Fr.), Morphinismus 1 M., Hysterie 18 (6 M. 13 Fr.), nicht geisteskrank tram 

6 M. Heredität in 166 Fällen (102 M. 54 Fr.), Lues in 20 (17 M. 3 Fr.i. Al¬ 
kohol in 108 (98 M. 10 Fr.), Trauma in 14 (11 M. 3 Fr.), Haft in 13 (10 M. 3 Fr. l 
A lter in 44 (19 M. 25 Fr.), Puerperium in 11 Fällen Krankheitsursache. Von d« 
Aufgenommenen kamen 151 in eine Anstalt. 

Gestorben 28 (21 M. 7 Fr.). Lungentuberkulose war lmal, Paralyse anu 
(5 M.) Todesursache. Gesamtausgabe 643 794,15 M. Die Beköstigung kost«» 
pro Tag und Kopf 48,61. Ein Neubau für 64 weibliche Pfleglinge wurde voll¬ 
endet und in Benutzung genommen. Für das Personal der Beobachtungsstatin j 
wurden 1 Haus für den Oberwärter und einen Wärter und ein zweites Haus fr 
3 Wärter erbaut. 

Osnabrück (174): Bestand am Anfang des Berichtsjahres 423 (181 >L 
242 Fr.). Zugang 185 (96 M. 90 Fr.). Abgang 184 (83 M. 101 Fr.). Biest- 
Bestand 424 (193 M. 231 Fr.). Von den Aufgenommenen litten an einfach 
Seelenstörung 129 (67 M. 62 Fr.), an paralytischer Seelenstörung 11 (8 M. 3 Fr. 
an epileptischer Seelenstörung 9 (6 M. 4 Fr.), an hysterischer Seelenstörn n: 

2 Fr., an Idiotie, Imbezillität 16 (7 M. 9 Fr.), Alkoholismus, Kokainismus 6 X. 
nicht geisteskrank waren 2 M. Krankheitsdauer vor der Aufnahme bei 52 (29 M. 
23 Fr.) weniger als 3 Monate, bei 16 (11 M. 6 Fr.) 3—6 Monate, bei 14 (7 M 

7 Fr.) 6—12 Monate, bei 17 (7 M. 10 Fr.) 1—2 Jahre, bei 69 (32 M. 37 Fr 

länger als 2 Jahre, angeboren bei 15 (7 M. 8 Fr.). Alkoholismus war 15mi 
(12 M. 3 Fr.), Lues 9mal (8 M. 1 Fr.), Unfall 6mal (5 M. 1 Fr.). Wochenbett 
5 mal, Epilepsie 8mal (4 M. 4 Fr.) Krankheitsursache. Erbliche Belastung ohw 
sonstige Ursache wird bei 49 (26 M. 23 Fr.) angegeben, Gesamtheredität 67 (36 M 
31 Fr.). Entlassen sind als geheilt 21 (9 M. 12 Fr.), gebessert 55 (26 M. 29 Fr. 
nicht gebessert 82 (37 M. 45 Fr.). Von den Geheilten waren 16 (7 M. 9 Fr 
weniger als 6 Monate in der Anstalt, 6 (2 M. 3 Fr.) 6—12 Monate, keiner linr^ 
als 1 Jahr. Zur Beobachtung 6 (4 M. 2 Fr.), davon 2 Männer nicht geisteskrank 
Es starben 24 (9 M. 15 Fr.), davon an Gehirnerweichung 3 (2 M. 1 Fr.), ai 
Lungentuberkulose 1 Fr., an Herzschwäche 4(1 E 3 Fr.). Der drohenden über- 
füllung der Männerseite soll dadurch abgeholfen werden, daß 2 neue Franenvilk 
gebaut werden und das bisher von Frauen bewohnte Gertrudenkloster mit Mann«: 
belegt wird. , 

Lübeck (163): Bestand am Beginn des Berichtsjahres 264 (134 k I 
130 Fr.), Zugang 89 (52 M. 37 Fr.), Abgang 64 (34 M. 20 Fr.), bleibt Bestas-l I 


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Grütter, Anstaltswesen and Statistik. 


347 * 


299 (162 BL 147 Fr.). Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörang 73 (43 M. 
30 Fr.), an paralytischer Seelenstörang 4 (1 M. 3 Fr.), an Seelenstörang mit 
Epilepsie und Hystero-Epilepsie 6 (5M. 1 Fr.), Imbezillität, Idiotie und Kretinis¬ 
mus 3 (3 Fr.), nicht geisteskrank waren 3 (3 M.). Heredität bei 40, 46 % vom 
Zugang, 60 % vom Bestand. Vom Abgang sind geheilt 18 (12 BL 6 Fr.), ge¬ 
bessert 13 (6 BL 7 Fr.), ungeheilt 19 (12 BL 7 Fr.), nicht geisteskrank 4 (4 BL). 
Gestorben 20 (9 BL 11 Fr.). Der Bau der Heilanstalt Strecknitz ist programm¬ 
mäßig fortgeschritten. Im Rohbau fertiggestellt das Verwaltungsgebäude und 
die Wohnungen des 2. Arztes und des Inspektors, das Wohnhaus des leitenden Arztes, 
Kochküchen- und Waschküchengebäude, die beiden Pensionärhäuser und das 
Maschinenhaus. 

Gehlsheim (141): Bestand am Beginn des Berichtsjahres 348 (176 M. 
173 Fr.). Zugang 234 (122 BL 112 Fr.). Abgang 236 (113 M. 122 Fr.). Bleibt 
Bestand 347 (184 BL 163 Fr.). Von den Aufgenommenen litten an einfacher 
Seelenstörung 168 (70 M. 88 Fr.), an paralytischer Seelenstörung 14 (11 M. 
3 Fr.), an Seelenstörung mit Epilepsie 17 (11 Bf. 6 Fr.), an Idiotismus und Kreti¬ 
nismus 14 (12 BL 2 Fr.), an Delirium potat. 3 Bf., nicht geisteskrank waren 28 
(16 M. 13 Fr.). Vor der Aufnahme waren krank bis zu einem Bfonat 62 (24 M. 
28 Fr.), 2-3 Monate 11 (6 M. 6 Fr.), 4—6 Monate 26 (14 M. 11 Fr.), 7—12 
Monate 16 (8 BL 7 Fr.), im 2. Jahre 13 (7 M. 6 Fr.), über 2 Jahre 83 (43 M. 
40 Fr.), unbestimmt war die Krankheitsdauer bei 4 (3 M. 1 Fr.). Heredität bei 
66 (28 M. 28 Fr.) der Aufgenommenen. Entlassen wurden 160 (72 M. 88 Fr.), 
davon 33 (13 M. 20 Fr.) als genesen, 75 (35 M. 40 Fr.) als gebessert, 62 (24 M. 
28 Fr.) ungeheilt. Von den als genesen Entlassenen waren 15 (7 BL 8 Fr.) bis 
zu 1 Monat, 3 (1 BL 2 Fr.) 2—3 Monate, 6 (2 BL 4 Fr.) 4—6 Monate, 2 Fr. 7—12 
Monate, 1 Fr. im 2. Jahre, 1 M. über 2 Jahre vor seiner Aufnahme krank gewesen. 
Gestorben 42 Kranke (24 BL 18 Fr.) — 17,4 % des Gesamtabganges und 12,9 % 
des Durchschnittsbestandes. Die Todesfälle an Tuberkulose betrugen 4,8 % aller 
Sterbefälle. 

Sachsenberg (187): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 561 (278 M. 
283 Fr.). Zugang 151 (82 BL 69 Fr.). Abgang 139 (80 BL 69 Fr.). Bleibt 
Bestand 673 (280 M. 293 Fr.). Von den Aufgenommenen litten an einfacher 
Seelenstörung 123 (59 M. 64 Fr.), an paralytischer Seelenstörung 7 (6 M. 1 Fr.), 
an Seelenstörung mit Epilepsie 14 (12 M. 2 Fr.), Delirium potat. 1 M., Idiotismus 
und Kretinismus 5 (3 M. 2 Fr.), nicht geisteskrank war 1 M. Vor der Aufnahme 
waren krank bis zu 1 Monat 26 (13 Bf. 13 Fr.), 2—3 Monate 12 (6 M. 7 Fr.), 
4—6 Monate 9 (5 M. 4 Fr.), 7—12 Monate 12 (5 M. 7 Fr.), im 2. Jahre 14 (6 M. 
8 Fr.), über 2 Jahre 59 (35 BL 24 Fr.), unbestimmt 18 (12 BL 6 Fr.). Heredität 
bei 34 (20 M. 14 Fr.). Zur Beobachtung aufgenommen 3 M., von denen 1 nicht 
geisteskrank. 1 Suizid durch Erhängen bei einer Frau im Klimakterium. Von 
den Entlassenen waren genesen 19 (11 BL 8 Fr.), gebessert 34 (22 BL 12 Fr.), 
ungeheilt 41 (23 M. 18 Fr.). Gestorben 45 (24 Bf. 21 Fr.) = 32,37 % des Ge¬ 
samtabganges und 7,87 % des Durchschnittsbestandes. Die Todesfälle an Tuber¬ 
kulose sind 2,22 % aller Sterbefälle oder 0,18 % des Durchschnittsbestandes. 


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348 * 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


Lewenberg (160): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 223 (113 m. 
110 w.). Zugang 30(16 m. 14 w.). Entlassen 16(8 m. 7 w.), gestorben 7 (3 m. 
4 w.). Bleibt Bestand 231 (118 m. 113 w.). Von den 30 Aufgenommenen sind 
20 als.besserungsfähig, 7 als wenig besserungsfähig und 3 als nicht besserungsfähig 
zu bezeichnen. Bei 16 war Skrofulöse, bei 10 Rachitis, bei 9 Wucherungen der 
Rachentonsillen, bei 6 Epilepsie, bei 3 Mongolentypus, bei 3Mikrocephalus vorhanden. 
Heredität vom Vater bei 6 (3 m. 2 w.), von der Mutter bei 4(lm. 3w.), von beiden 
Eltern bei 1 m., weitere familiäre Anlage bei 6 (4 m. 2 w.). Schwere Geburt des Kindes 
ist 5 mal (4 m. 1 w.), Erkrankungen des Gehirns, der Hirnhäute und des Rücken¬ 
marks im späteren Lebensalter in 6 Fällen (2 m. 4 w.) angegeben. Erkrankung 
oder ungünstige Beeinflussung der Mutter während der Gravidität durch Schreck 
usw. wird 2 mal (1 m. 1 w.) angegeben. Entlassen wurden gebessert 11 (6 m. 
6 w.) = 60 % des Abganges, 4,31 % der Verpflegten, nicht gebessert 4 (2 m. 
2 w.) = 18,18 % des Abganges, 1,67 % der Verpflegten. Es starben 7 (3 m. 4 w.) = 
31,82 % des Abgangs, 2,76 % der Verpflegten. Im Durchschnitt wurde für die 
Beköstigung pro Kopf und Tag 48,76 Pf. aufgewendet. 

Alsterdorfer Anstalten (114): Bestand Anfang 1910 847 (493 m. 
364 w.). Zugang 116 (63 m. 62 w.). Abgang 82 (47 m. 36 w.). Bestand am 
Ende des Berichtsjahres 880 (609 m. 371 w.). Gestorben 27 Zöglinge. Von 
den Aufgenommenen litten an Imbezillität, Idiotie und Kretinismus 74 (42 m. 
32 w.), an Epilepsie mit und ohne Seelenstörung 33 (17 m. 16 w.). 

Friedrichsberg (139): Bestand am Beginn des Berichtsjahres 1411 
(732 M. 679 Fr.). Zugang 1213 (696 M. 618 Fr.). Abgang 1140 (660 M. 490 Fr.). 
Bleibt Bestand 1480 (777 M. 703 Fr.). Vom Zugang litten an einfacher Seelen¬ 
störung 669 (302 M. 367 Fr.), an paralytischer Seelenstörung 177 (129 M. 48 Fr.), 
an Imbezillität, Idiotie, Kretinismus 96 (67 M. 29 Fr.), an Epilepsie 67 (47 M. 
20 Fr.), an Hysterie 38 (10 M. 28 Fr.), an Neurasthenie 6 (6 M.), Chorea 3 (1 M. 
2 Fr.), Tabes 3 (2 M. 1 Fr.), anderen Krankheiten des Nervensystems 64 (36 M. 
18 Fr.), Alkoholismus 103 (91 M. 12 Fr.), nicht geisteskrank waren 19 (17 M. 
2 Fr.). Zur Beobachtung gemäß § 81 Str.-Pr.-O. 36 (32 M. 3 Fr.). Heredität 
bei 139 (41 M. 98 Fr.). Entlassen geheilt 103 (46 M. 67 Fr.), gebessert 429 
(236 M. 193 Fr.), ungebessert 434 (266 M. 168 Fr.). Ungeheilt nach Langenhorn 
überführt 264 (163 M. 101 Fr.). Die Heilung erfolgte bei den Entlassenen in 
weniger als 1 Monat bei 46 (29 M. 16 Fr.), in 1 Monat bis y 4 Jahr bei 31 (11 M. 
20 Fr.), in y 4 —y 2 Jahr bei 17 (3 M. 14 Fr.), in »4—1 Jahr bei 10 (3 M. 7 Fr.) 
Gestorben 178 (102 M. 76 Fr.), davon an Parayse 60 (40 M. 10 Fr.). — Auch 
weiterhin drückende Uberfüllung. 

Langenhorn (168): Krankenbestand am Beginn des Berichtsjahres 
1192 (667 M. 635 Fr.). Zugang 289 (186 M 103 Fr.). Abgang 197 (147 M. 
50 Fr.), davon gestorben 63 (42 M. 21 Fr.). Bleibt Bestand 1284 (696 M. 688 Fr.). 
Von den Aufgenommenen kamen 264 (163 M. 101 Fr.) aus Friedrichsberg, 23 
(22 M. 1 Fr.) aus den Gefängnissen in Fuhlsbüttel. 12 Kranke (11 M. 1 Fr.) 
kamen zur Beobachtung ihres Geisteszustandes. 

Von den Erweiterungsbauten Langenhorns, die im Juni und Juli 1909 durch 


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Griitter, Anstaltswesen und Statistik. 


349 * 


Senat und Bürgerschaft beschlossen waren, wurden im Jahre 1910 fertiggestellt und 
»•zogen: die Anbauten an 2 Pflegerhäuser und an ein Landhaus sowie 2 Doppel* 
Wohnhäuser für Beamte. Die 2 neuen Überwachungshäuser werden in den ersten 
donaten des Jahres 1911 betriebsfertig sein. Mit der Ausführung der großen 
[ > flegehäu8er ä 160 Betten wurde begonnen. Ein Doppelwohnhaus für verheiratete 
)berwärter wurde mit Hilfe von geeigneten Kranken hergestellt. 

Ellen (134): Bestand am Anfang des Berichtsjahres 648 (306 M. 242 Fr.). 
Zugang 468 (268 M. 200 Fr.). Entlassen 391 (236 M. 166 Fr.). Gestorben 71 
39 M. 32 Fr.). Bleibt Bestand 664 (300 M. 264 Fr.). Die durchschnittliche 
ährliche Bestandszunahme beträgt 41,61. Von den Aufgenommenen litten an 
Dementia praecox 104 (48 M. 66 Fr.), Paranoia 10 (6 M. 6 Fr.), manisch-depres¬ 
sivem Irresein 69 (18 M. 61 Fr.), Imbezillität 14 (10 M. 4 Fr.), Dementia senilis 
26 (16 M. 11 Fr.), Paralyse 60 (44 M. 6 Fr.), Hysterie 64 (23 M. 31 Fr.), Epi¬ 
lepsie 29 (20 M. 9 Fr.), chronischem Alkoholismus 24 (21 M. 3 Fr.). Nicht geistes¬ 
krank war 1 M. Zur Beobachtung kamen 20 Fälle = 4,33 %. Entlassen wurden 
ils geheilt 78 = 16,88 %, als gebessert 192 (= 41,66 %), ungeheilt 101 (= 21,86 %). 
(iestorben sind 71 (= 16,37 % des Gesamtabganges). 

In Familienpflege befanden sich am Beginn des Berichtsjahres 168 Kranke 
(73 M. 86 Fr.), am Ende desselben 166 (77 M. 78 Fr.). Die Fertigstellung der 
im Bau befindlichen großen Pflegehäuser hat sich verzögert, so daß die Überfüllung 
der Anstalt wieder erheblich zugenommen hat. 

Rockwinkel bei Bremen (180): Die Anstalt ging am 1. September 
1910 in anderen Besitz über, nachdem sie sich seit 1764 in der Familie des Dr. 
Engelken stets vom Vater auf den Sohn vererbt hatte. Es soll in Zukunft auf die 
Ausgestaltung der offenen Abteilung besonderes Gewicht gelegt werden, außerdem 
ist der Bau von 2 Pavillons für Unruhige in Aussicht genommen. Ein Wachsaal 
und ein Dauerbad für unruhige Damen wurden eingerichtet. In Zukunft besteht 
nur noch eine Verpflegungsklasse. 

Bestand am Anfänge des Jahres 16 (6 M. 9 Fr.). Zugang 17 (6 M. 12 Fr.). 
Abgang 16 (4 M. 12 Fr.), davon geheilt 4, gebessert 4, ungeheilt 5, gestorben 3. 
Hereditäre Belastung in 13 von 32 Fällen. 

Wehnen (207): Bestand Anfang 1910 284 Kranke (166 M. 128 Fr.). 
Zugang 126 (62 M. 74 Fr.), Abgang 103 (60 M. 63 Fr.). Bleibt Bestand 307 
(158 M* 149 Fr.). Von den Aufgenommenen litten an angeborenem Schwachsinn 
6 (1 M. 6 Fr.), an Dementia paralytica 4 M., an Geistesstörung bei Himerkran- 
kung 6 M., an Dementia senilis 13 (6 M. 8 Fr.), an epileptischem Irresein 3 (2 M. 
1 Fr.), an alkoholischen Formen 4 (2 M. 2 Fr.), an Dementia praecox 27 (11 M. 
16 Fr.), an manisch-depressivem Irresein 60 (13 M. 37 Fr.), an Paranoia 3 (2 M. 
1 Fr.). Nicht geisteskrank waren 2 M. Entlassen wurden als geheilt 21 (7 M. 
14 Fr.), gebessert 35 (16 M. 19 Fr.), ungeheilt 21 (9 M. 12 Fr.). Gestorben sind 
24, darunter 13 an Herzlähmung, 5 an Tuberkulose. Gesamtausgabe 311886,92 M. 
Zur Beobachtung aufgenommen wurden 4 M., von denen 3 geisteskrank waren. 
Ein neues Aufnahme- und überwachungshaus für weibliche Kranke wurde fertig- 
gestellt und in Gebrauch genommen. 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXIX. Lit. y 


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350 * 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


Lindenhaus (161): Bestand am Beginn des Berichtsjahres 393 (199 M. 
194 Fr.). Zugang 100 (63 M. 47 Fr.). Abgang 113 (64 M. 49 Fr.). Bleibt 
Bestand 380 (188 M. 192 Fr.). Von den Verpflegten litten an einfacher Seelen - 
Störung 382 (181 M. 201 Fr.), an paralytischer Seelenstörung 8 (7 M. 1 Fr.), 
an Imbezillität und Idiotie 30 (11 M. 19 Fr.), an Epilepsie 44 (30 M. 14 Fr.), 
an Alkoholismus 18 M., an Hysterie 16 Fr. Nicht geisteskrank waren 3M. Bei 
der Aufnahme waren'geisteskrank seit weniger als 1 Jahr 90 (=20,4%), 1—2 
Jahre 33 (= 7,6 %), 2—4 Jahre 67 (= 13,2 %), 4—6 Jahre 69 (= 13,4 %), 6—8 
Jahre 62 (= 11,8 %), 8—10 Jahre 31 (= 7,1 %), mehr als 10 Jahre 117 (= 26,6 %). 
Mit dem Strafgesetze in Konflikt geraten waren 78 (66 M. 13 Fr.) = 16,82 %. 
Es waren tuberkulös 66 (36 M. 31 Fr.) = 13,4 %. Zur Beobachtung 6 Männer. 
Es wurden entlassen 76, davon als erwerbsfähig 41 (27 M. 14 Fr.), als gebessert, 
nicht erwerbsfähig 21 (12 M. 9 Fr.), als ungeheilt 14 (9 M. 6 Fr.). Gestorben 
28 = 6,7 %. Tuberkulose war 7 mal, Paralyse 1 mal Todesursache. 

Eichberg (133): Bestand am 31. März 1910: 760 (426 M. 326 Fr.). 
Zugang 226 (132 M. 94 Fr.). Abgang 226 (163 M. 72 Fr.). Bleibt Bestand 761 
(404 M. 347 Fr.). Krankheitsdauer vor der Aufnahme bis zu 3 Monaten bei 36 
(16 M. 20 Fr.), 3—6 Monate bei 41 (16 M. 26 Fr.), mehr als 6 Monate bei 136 
(90 M. 46 Fr.). Es litten vom Zugang an einfacher Seelenstörung 143 (69 M. 
74 Fr.), an paralytischer Seelenstörung 15 (10 M. 6 Fr.), Imbezillität, Idiotie 28 
(22 M. 6 Fr.), Seelenstörung mit Epilepsie 19 (16 M. 4 Fr.), Alkoholismus 9 M., 
Neurasthenie 3 (1 M. 2 Fr.), hysterischer Seelenstörung 2 Fr., Dementia senilis 

1 Fr. Heredität bei 67 (34 M. 23 Fr.). Alkoholmiflbrauch war bei 33 (31 M. 

2 Fr.), Syphilis bei 11 (9 M. 2 Fr.), Erschöpfung (Haft) bei 12 (10 M. 2 Fr.), 
Kopfverletzung bei 7 Männern, Epilepsie bei 13 (11M. 2 Fr.) Krankheitsursache. Mit 
dem Strafgesetz waren in Konflikt gekommen 73 (66 M. 7 Fr.). Zur Beobachtung 
12 Personen. 19 Fürsorgezöglinge wurden aufgenommen, bei den meisten lag 
einfacher Schwachsinn vor. Entlassen wurden als geheilt 4 Kranke (4 M.), ge¬ 
bessert 78 (49 M. 29 Fr.), ungebessert 69 (66 M. 14 Fr.). Gestorben 66, davon 
an Paralyse 18 (11 M. 7 Fr.), an Tuberkulose 6 (4 M. 1 Fr.), ln Familienpflege 
am Jahresschluß 79 (21 M. 68 Fr.). Ein leichter Typhusfall. Gesamtausgabe 
636 390,66 M. 

Weilmünster (208): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 960 
(477 M. 483 Fr.). Zugang 229 (120 M. 109 Fr.). Vom Urlaub zurück 2 M. 
Abgang 211 (106 M. 106 Fr.). Bleibt Bestand 980 (493 M. 487 Fr.). Bei den 
Aufgenommenen betrug die Krankheitsdauer vor der Aufnahme unter 3 Monaten 
bei 60 (30 M. 20 Fr.), 3—6 Monate bei 21 (10 M. 11 Fr.), über 6 Monate bei 
168 (80 M. 78 Fr.). Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 129 (60 M. 
69 Fr.), an paralytischer Seelenstörung 25 (15 M. 10 ft.), an Epilepsie mit Seelen¬ 
störung 14 (9 M. 6 Fr.), an Hysterie 6 (1 M. 4 Fr.), Imbezillität, Idiotie 28 
(9 M. 19 Fr.), Alkoholismus 28 (26 M. 2 Fr.), nicht geisteskrank waren 2 M. 
Von den aufgenommenen Männern waren belastet 46 %, von den Frauen 42 %. 
Alkoholmißbrauch war bei 46 (40 M. 6 Fr.), Lues bei 21 (14 M. 7 Fr.), Arterio¬ 
sklerose bei 6 (4M. 2 Fr.), Verletzungen, besonders solche des Kopfes bei 14 


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Urütter, Anstaltswesen und Statistik. 


351 * 


(10 M. 4 Fr.), Haft bei 11 (9 Bl 2 Fr.), Klimakterium bei 4 Frauen, Wochen¬ 
bett, Laktation bei 16 Frauen, Senium bei 23 (7 M. 16 Fr.) Krankheitsursache. 
Mit dem Strafgesetz in Konflikt gekommen waren 67 (66 M. 11 Fr.). Zur Beob¬ 
achtung 2 M. Entlassen als geheilt 14 (7 M. 7 Fr.), gebessert 66 (33 M. 23 Fr.), 
ungeheilt 60 (22 M. 28 Fr.). Gestorben 87 (40 M. 47 Fr.), davon an Tuberkulose 
17 (8 M. 9 Fr.), Typhus abdom. 2 Fr. Ungewöhnliche Schwierigkeit des Kranken¬ 
materials und immer größere Anhäufung verbrecherischer Elemente. Schwere 
Influenzaepidemie, später Typhusepidemie, 9 Fälle mit 2 Todesfällen. Sämtliche 
Erkrankte wurden in der Baracke für Infektionskrankheiten streng isoliert. Ge¬ 
samtausgabe 610 308,26 M. 

Rheinprovinz (178): In den Provinzial-Heil- und Pflege-Anstalten 
befanden sich am 1. April 1910: 6979 (3302 M. 2677 Fr.). Zugang 3373 (1912 M. 
1461 Fr.). Abgang 3171 (1790 M. 1381 Fr.). Bleibt Bestand 6181 (3424 M. 
2757 Fr.). 

Andernach : Bestand am 1. April 1910: 668 (299 M. 269 Fr.). Zugang 
273 (141 M. 132 Fr.). Abgang 263 (138 M. 116 Fr.). Bleibt Bestand 578 
(302 M. 276 Fr.). 

Bonn : Bestand am 1. April 1910 : 828 (404 M. 424 Fr.). Zugang 582 
(327 M. 266 Fr.). Abgang 488 (276 M. 212 Fr.). Bleibt Bestand 922 (466 M. 
467 Fr.). 

Düren : Bestand am 1. April 1910: 711 (413 M. 298 Fr.). Zugang 273 
(154 M. 119 Fr.). Abgang 248 (162 M. 96 Fr.). Bleibt Bestand 736 (416 M. 
321 Fr.). 

Galkhausen : Bestand am 1. April 1910: 887 (442 M. 446 Fr.). Zu¬ 
gang 608 (271 M. 237 Fr.). Abgang 523 (266 M. 268 Fr.). Bleibt Bestand 872 
(448 M. 424 Fr.). 

Grafenberg : Bestand am 1. April 1910: 942 (621 M. 421 Fr.). Zu¬ 
gang 766 (442 M. 324 Fr.). Abgang 766 (423 M. 342 Fr.). Bleibt Bestand 943 
(540 M. 403 Fr.). 

Johannistal: Bestand am 1. April 1910: 1008 (560 M. 448 Fr.). 
Zugang 577 (326 M. 251 Fr.). Abgang 615 (294 M. 221 Fr.). Bleibt Bestand 
1070 (592 M. 478 Fr.). 

M e r z i g : Bestand am 1. April 1910: 793 (411 M. 382 Fr.). Zugang 344 
(201 M. 143 Fr.). Abgang 333 (196 M. 137 Fr.). Bleibt Bestand 804 (416 M. 
388 Fr.). 

Köln-Lindenthal : Bestand am 1. April 1910: 193 M. Zugang 20. 
Abgang 20. Bleibt Bestand 193. 

Brauweiler: Bestand am 1. April 1910: 59 Männer. Zugang 30. Ab¬ 
gang 26. Bleibt Bestand 63. 

Vom Gesamtzugang litten an einfacher Seelenstörung 2237 (1098 M. 1139 Fr.), 
an paralytischer Seelenstörung 273 (198 M. 76 Fr.), an Seelenstörung mit Epi¬ 
lepsie 338 (222 M. 116 Fr.), an Epilepsie 106 (80 M. 25 Fr.), an Imbezillität. 
Idiotie und Kretinismus 186 (114 M. 72 Fr.), an Delirium potat. 155 (137 M. 
18 Fr.), nicht geisteskrank waren 79 (63 M. 16 Fr.). Heredität bei 1061 (620 M. 

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352* Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 

441 Fr.) = 31,4 % der Angenommenen, Alkoholmißbrauch bei 462 (414 V 
48 Fr.) = 13,4 %. Von den Anfgenommenen hatten sich 169 (124 M. 45 Fr 
6% eine syphilitische Ansteckung zugezogen, von den 273 Paralytikern r^- 
Infektion mit Lues bei 122 (97 M. 26 Fr.) = 44,2 % festgestellt. Vor ihrer Ar 
nähme mit dem Strafgesetz in Konflikt geraten waren 646 Kranke (482 SL 64:: 

= 16,1 %. Unmittelbar aus der Strafhaft kamen 1910: 191 Personen (im V 
jahre 247). Von den Abgegangenen sind genesen 460 (266 M. 205 Fr.), gebest' 
1021(602 M. 419 Fr.),ungeheilt905 (482 M. 423 Fr.), davon 560 (296 M. 2MF- 
in andere Anstalten, nicht geisteskrank 77 (64 M. 13 Fr.). Gestorben sind** 
(387 M. 321 Fr.) = 7,5 % der Verpflegten, nnd zwar in Andernach 6.25'; 
Bonn 7,6 %, in Düren 8,6 %, Galkhausen 10,7 %, Grafenberg 7,8 %. Johanni' 

6.4 %, Merzig 6,9 %, Brauweiler 1,1 %, Köln-Lindenthal 6,6 %. 0,7 % der V- 

pflegten sind an Tuberkulose gestorben. Tuberkulose war Todesursache in An* 
nach bei 7,7 %, in Bonn bei 8,6 %, in Düren bei 12,94 %, in Galkhausen bei 7.4 
in Grafenberg bei 6,7 %, in ‘Johannistal bei 7,9 %, in Merzig bei 22.4 
in Lindenthal bei 41,6% der Verstorbenen. 162 (118 M. 34 34 Fr.> = 

21.4 % der Gestorbenen hatten an Paralyse gelitten. Krankheiten des Gehr¬ 
und seiner Häute waren 83 mal (39 M. 44 Fr.), Krankheiten der Lunge 144c. 
(73 M. 71 Fr.), Herzleiden 87 mal (61 M. 36 Fr.), Unglücksfälle 5 mal (5 'i 
Suizid 3 mal (3 M.) Todesursache. In Düren trat die Ruhr epidemisch auf. 
Erkrankten wurden isoliert und erst nach dreimaligem negativen Ergebni' 
bakteriologischen Untersuchung aus der Isolierstation entlassen. 

1 Typhusfall in Andernach, wo außerdem noch 2 Typhusbazillenträgeniii- 
sind, die nach Merzig übergeführt werden sollen. In Merzig sollen in Zukunft - 
Typhusbazillenträger der Provinzial-Heil- und Pflege-Anstalten isoliert wer*:. 
Die Absonderung soll so lange durchgeführt werden, bis die Dejektionen M 
mindestens ein halbes Jahr frei von Bazillen erwiesen haben. Dort werden km 
alle Neuaufnahmen und alle neu eintretenden Pflegepersonen auf das Aussch«.-i 
von Typhusbazillen untersucht. 2 neue Ausscheiderinnen auf der Frauen>- 
kamen hinzu. In Johannistal erlitt ein Epileptischer im Anfall eine Fraktur ü 
Schädelbasis mit tödlichem Ausgang. 1 Kranker in Düren erhängte sich. -:i 
Kranke in Merzig vergiftete sich mit Opiumtinktur, ein anderer durchschnitt -1 
MWr Zertrümmern einer Fensterscheibe mit dem Kopf die großen Halsgefüi 
Ifr Andernach wurde ein Kranker, der freien Ausgang hatte, räuberisch überfai 
und erlag seinen Verletzungen. 

1 Der Neubau der Anstalt Bedburg-Cleve ist so weit gefördert, daß im Li¬ 
des Monats Oktober 1911 die ersten Kranken dahin überführt werden könc 

t 

Bit dahin werden 15 Krankengebäude, Koch- und Waschküche, Werkstä** i 
gebäude, Bäckerei, Kessel-, und Maschinenhaus und der Hauptgutshof fertigte--• 
seih. 1 Der Ausbau der übrigen Gebäude ist so weit vorgeschritten, daß mit « 
vollständigen Fertigstellung der Anstalt zum Frühjahr 1912 gerechnet werden tu 
Tannenh’of (199): Im ganzen wurden verpflegt 638 (320 M. 318 : 
Auf genommen' l62fJ Heredität bei 72 (36 M. 37 Fr.). Alkoholbelastung t* 
(4 M. 4 Fr.), 'eigener Alkoholismus bei 9 (8 M. 1 Fr.). Krankheitsdauer vor I 


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Grütter, Anstaltswesen und Statistik. 


353 * 


Aufnahme im 1. Monat bei 24 (6 M. 19 Fr.), im 2. Monat 6 (3 M. 3 Fr.), im 
3. Monat 11 (6 M. 6 Fr.), vom 4.—6. Monat 20 (11 M. 9 Fr.), vom 6.—12. Monat 
34 (21 M. 13 Fr.), im 2.—6. Jahre 42 (28 M. 14 Fr.), länger als 5 Jahre bei 16 
(4 M. 11 Fr.). Abgang 162 (82 M. 70 Fr.), davon nicht geisteskrank 8 (6 M. 
3 Fr.), genesen 14 (6 M. 8 Fr.), gebessert 46 (21 M. 26 Fr.), ungeheilt 44 (23 M. 
21 Fr.). Gestorben 40 (27 M. 13 Fr.). Allgemeine Tuberkulose war 1 mal (1 M.), 
..allgemeine Gehirn- und Herzlähmung“ 12 mal (11 M. 1 Fr.) Todesursache. 
8 leichte Typhusfälle unbekannter Herkunft. 

Der Gesamtbestand in den Landes-Heil- und Pflege-Anstalten des König¬ 
reichs Sachsen (186) betrug bei Beginn des Jahres 1909:6004 Kranke (2332 M. 
2672 Fr.), — 36 (1 M. 34 Fr.) mehr als im Vorjahre. Zugang 831 Personen 
(452 M. 379 Fr.). Gesamtabgang 698 (367 M. 331 Fr.). 

Sonnenstein : Anfangsbestand 620 (330 M. 290 Fr.). Zugang 138 
(68 M. 70 Fr.). Abgang 111 (63 M. 48 Fr.). Bleibt Bestand 647 (336 M. 312Fr.). 

Untergöltzsch : Anfangsbestand 527 (243 M. 284 Fr.). Zugang 143 
(78 M. 65 Fr.). Abgang 102 (69 M. 43 Fr.). Bleibt Bestand 568 (262 M. 306 Fr.). 

Großschweidnitz : Anfangsbestand 479 (206 M. 273 Fr.). Zugang 
127 (62 M. 66 Fr.). Abgang 104 (41 M. 63 Fr.). Bleibt Bestand 602 (227 M. 
275 Fr.). 

Zschadraß: Anfangsbestand 662 (276 M. 276 Fr.). Zugang 100 (66 M. 
45 Fr.). Abgang 96 (60 M. 46 Fr.). Bleibt Bestand 667 (281 M. 276 Fr.). 

Hubertusburg : Anfangsbestand 1481 (667 M. 924 Fr.). Zugang 205 
(113 M. 92 Fr.). Abgang 169 (80 M. 89 Fr.). Bleibt Bestand 1517 (690 M. 
927 Fr.). 

Colditz : Anfangsbestand 592 (302 M. 290 Fr.). Zugang 29 (16 M. 
13 Fr.). Abgang 30 (17 M. 13 Fr.). Bleibt Bestand 591 (301 M. 290 Fr.). 

Hochweitzschen : Anfangsbestand 763 (418 M. 336 Fr.). Zugang 
89 (60 M. 29 Fr.). Abgang 87 (57 M. 30 Fr.). Bleibt Bestand 766 (421 M. 
334 Fr.). 

Vom Gesamtzugang litten an einfacher Seelenstörung 668 (247 M. 311 Fr.), 
an paralytischer Seelenstörung 109 (96 M. 14 Fr.), an Seelenstörung mit Epi¬ 
lepsie und Hvsteroepilepsie 8 (6 M. 2 Fr.), an Imbezillität 18 (9 M. 9 Fr.), an 
Idiotie 34 (20 M. 14 Fr.). Es litten an manisch-depressivem Irresein 138 (39 M. 

• 99 Fr.), an Amentia 63 (24 M. 29 Fr.), an Dementia praecox 231 (122 M. 109 Fr.), 
an Paranoia 47 (27 M. 20 Fr.), chronischem Alkoholismus 11 Männer. Krank¬ 
heitsdauer vor der Aufnahme bis zu 3 Monaten bei 181 (— 26,7 %), bis zu 6 Monaten 
bei 77 (= 11,5 %), bis zu 12 Monaten bei 66 (= 9,9 %), bis zu 2 Jahren bei 67 
(= 10,0 %), bis zu 3 Jahren bei 69 (= 8,7 %), bis zu 4 Jahren bei 21 (= 3,1 %), 
bis zu 5 Jahren bei 24 (= 3,5 %), über 6 Jahre bei 89 (= 13,2 %), von Kindheit 
auf bei 48 (= 7,1 %). Der Prozentsatz der an Dementia praecox Leidenden ist 
in den letzten Jahren ziemlich gleich geblieben (30—32 % der Gesamtursachen); 

- auch die Zahl der Paralytiker ist annähernd die gleiche wie früher. Heredität 

• seitens der Aszendenz oder der nächsten Kollaterale bei 367 der nichtpaTalytischen 
Aufnahmen (= 51,1 %). Bei den Paralytikern fanden sich 41 % Heredität. Al- 


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354 * Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 

koholmißbrauch wird bei 8,7 % der Männer, bei 1,4 % der Frauen als Krani/*r 
Ursache angeführt. Die Zahl der Männer, deren Seelenstörung 1 allein oder hur 
sächlich auf den Alkoholabusus zurückzuführen war, hat im Laufe des ktr< 
Jahrzehnts allmählich abgenommen. Von den in Hochweitschen aufgenommcar 
Epileptikern erschienen nur knapp 6 % psychisch intakt. Lues im Vorleben mi’ 
bei den aufgenommenen Paralytikern nur in 50 % festgestellt. Trauma wir b* 
8,2 % der Männer und bei 3 % der Frauen als Ursache der Erkrankung angefüir 
Bei dem Zugang an Epileptikern lag erbliche Belastung in 46 % der Filk r* 
Alkoholmißbrauch bei 6 %, bei 50 % psychische Debilität, Imbezillität, Icttir 
Als genesen und relativ genesen bzw. wesentlich gebessert entlassen sind aus dr. 
Heil- und Pflege-Anstalten für Geisteskranke im ganzen 253 (109 M. 144 F:.. 
Bei 76 % der Fälle ist der überhaupt erreichbare Kurerfolg im ersten Behandlung 
jahr erzielt. Als ungebessert sind entlassen 106 (53 M. 53 Fr.). Gestorben sin-: 
eines natürlichen Todes im ganzen 217 (126 M. 92 Fr.) = 5 % des durchschnirr- 
lichen Krankenbestandes (bei den Männern 6,3%, bei den Frauen 3,9%). 

An Paralyse starben 30,4 %, an Tuberkulose 12.4 % aller Verstorbener 
3 Kranke endeten durch Suizid. In der Anstalt Sonnenstein ist die Mortalität v« 
14 % in den Jahren 1866 bis 1875 auf 4,6 % herabgesunken. Beschäftigung 
Ziffer bei den Männern 40—74 % bei den Frauen 28—62 %. In mehreren An¬ 
stalten Auftreten einzelner Typhusfälle, bei einer größeren Anzahl von Kranke 
wurde positiver Widal gefunden. 

Die Landesanstalt für Geisteskranke zu W a 1 d h e i m hatte einen Anfan>v 
bestand von 191 Köpfen. Zugang 57. Abgang 50. Bleibt Bestand 198. Es kam* 
aus Strafanstalten 40. Nicht vorbestraft waren von den Aufgenommenen nur 4 
Es litten an einfacher Seelenstörung 40 = 75,5 %, an paralytischer Seelenstöruit: 

1 = 1,9 %, an Seelenstörung mit Epilepsie 6 = 11,3 %, an Imbezillität 6 = 11.3 > 
Erbliche Belastung war in 20, angeborene Anlage in 18 Fällen, Alkoholmißbnueh 
in 18, Lues in 6, Haft in 17, Trauma in 4 Fällen Krankheitsursache. Von den Ent¬ 
lassenen waren genesen 6, vom Anfall genesen 3, gebessert 6. Kein Todesfall 

In der Abteilung für Geisteskranke in der Strafanstalt zu Bautzen be¬ 
fanden sich am Beginn des Berichtsjahres 68, der Zugang betrug 12, Abgang IS 
Endbestand 62. 

Die Psychiatrische und Nervenklinik zu Leipzig — 170 Betten — w 
von 1036 Kranken (667 M. 369 Fr.) besucht. Durchschnittliche Verpflegungv 
dauer bei den Männern 44,9, bei den Frauen 74 Tage. Von den Verpflegten warn 
623 geisteskrank, 213 nervenkrank und 177 Alkoholiker. Bei 166 bestand erblich* 
Belastung, bei 205 Alkoholmißbrauch. Abgang 833, darunter 38 Todesfälle. 

Die städtische Heil- und Pflege-Anstalt zy Dresden verpflegte: 1. in d* 
Heil-Anstalt mit 120 Betten: 1230 Kranke (743 M. 487 Fr.). Geisteskrank war« 
817, Alkoholiker 290, nervenkrank 121 Personen. Zugang 1115 (676 M. 439 Fr. 1 . 
Abgang 692 Männer (33 Todesfälle) und 428 Frauen (19 Todesfälle). Die Errich¬ 
tung eines Neubaues für Geisteskranke infolge Uberfüllung der Räume ist in Vor¬ 
bereitung. 2. in der Pflegeabteilung (1200 Betten) 1832 Kranke (832 M. 1000 Fm 


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Grütter, Anstaltswesen und Statistik. 


355 * 


’on den Pfleglingen waren 1236 geisteskrank, 101 Alkoholiker und 227 nerven¬ 
krank. Abgang 669, 282 Todesfälle. 

In der Zweiganstalt Luisenhaus in Dresden-Löbtau mit 189 Betten 
wurden 203 Kranke (127 M. 76 Fr.) verpflegt. Von den Verpflegten waren 181 
reisteskrank, 9 nervenkrank und 2 Alkoholiker. Bei 3 von 17 Neuaufgenommenen 
gestand erbliche Belastung, bei 9 Alkoholmißbrauch. Abgang 17, gestorben 6. 

In der ebenfalls von der Stadt Dresden unterhaltenen Heilanstalt für Trunk¬ 
süchtige zu Klingenberg mit 23 Betten wurden 63 Männer behandelt, von 
denen 29 als geisteskrank zu bezeichnen waren. Anfangsbestand 22, Zugang 31, 
Abgang 30. 

Die Irren- und Siechen-Anstalt der Stadt Leipzig zu Dösen hatte im 
Beginn des Jahres 1909 einen Bestand von 1072 (668 M. 604 Fr.). Zugang 635 
(383 M. 162 Fr.). Abgang 471 (336 M. 136 Fr.). Vom Zugang kamen 404 
(313 M. 91 Fr.) aus der psychiatrischen Klinik, aus anderen Anstalten 46 (21 M. 
25 Fr.). Von den neu eingetretenen Kranken litten an einfacher Scelenstörung 226 
(132 M. 94 Fr.), an paralytischer Seelenstörung 112 (88 M. 24 Fr.). Imbezillität 
Idiotie 33 (26 M. 7 Fr.), Epilepsie 61 (41 M. 10 Fr.), Hysterie 10 (3 M. 7 Fr.), 
Alkoholismus 86 (83 M. 3 Fr.). An Dementia praecox (Hebephrenie, Katatonie, 
Dementia paranoides) litten 104 (64 M. 40 Fr.), an periodischer Seelenstörung 36 
(14 M. 21 Fr.), an Paranoia 20 (6 M. 14 Fr.). Es wurden verhältnismäßig mehr 
paralytische Frauen als Männer aufgenommen, nämlich 21,4 % des männlichen 
und 28,9 % des weiblichen Gesamtzuganges. 16 % der Aufnahmen waren Alko¬ 
holiker. Heredität bei 199 Kranken (= 37,2 %). Krankheitsdauer bis zu 2 Monaten 
bei 80 (61 M. 19 Fr.), 3—6 Monate bei 36 (21 M. 14 Fr.), 1 Jahr 69 (39 M. 

20 Fr.), 1 bis 2 Jahre bei 67 (41 M. 16 Fr.), mehr als 2 Jahre bei 281 (211 M. 
70 Fr.). Entlassen wurden als geheilt 28 (21 M. 7 Fr.), gebessert 226 (179 M. 
46 Fr.), ungeheilt 93 (61 M. 32 Fr.). Gestorben 126 (76 M. 60 Fr.), davon an 
Paralyse 67 (46 M. 11 Fr.) = 46,6% aller Todesfälle. Lungentuberkulose war 
13 mal (5 M. 8 Fr.) Todesursache = 10%. 1 Suizid. Die Familienpflege hat 

nur eine geringe Erweiterung erfahren, von 61 auf 73 Kranke (41 M. 32 Fr.). 
Wegen zunehmender Schwierigkeit des Krankenmaterials mußte eine Erhöhung 
der Zahl der Pflegepersonen in Aussicht genommen werden.- 

Die Irrenheil-Anstalt zu Leipzig-Thonberg mit 66 Betten be¬ 
handelte 71 Kranke (32 M. 39 Fr.), von denen 64 Geisteskranke, 4 Nerven- und 
3 Alkoholkranke waren. Heredität bei 7 Kranken. Abgang 26, 4 Todesfälle. 

ln der Nervenheil-Anstalt zu Chemnitz (124 Betten) wurden 437 Kranke 
(243 M. 194 Fr.) verpflegt.. 362 waren geisteskrank, 37 nervenkrank und 43 Al¬ 
koholiker. 

Die Privatirren- und Nervenheil-Anstalten zu Neucoswig , Tharandt. 
Möckern, Prödel und Elsterberg mit zusammen 225 Betten wurde* 
von 470 Kranken (236 M. 234 Fr.) besucht, unter denen sich 226 Geisteskranke. 
135 Nervenkranke und 32 Alkoholiker befanden. 

In der Unfallnervenklinik Hermann-Haus zu Stötterit* l .4w 
Betten) kamen insgesamt 1173 männli che Kranke zur Behandlung. Davut wa 


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356 * 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


61 geisteskrank, 978 nervenkrank und 10 Alkoholiker. 118 waren erblich belastet, 
bei 128 Alkoholmiflbrauch. 

Die Abteilung für Schwachsinnige der Landeserziehungs-Anstalt für Blinde 
und Schwachsinnige zu Chemnitz hatte am Beginn des Jahres 1909 einen 
Bestand von 616 Kindern. Zugang 127, Abgang 116. Der Schwachsinn wird zurück - 
geführt auf englische Krankheit in 36 Fällen, Erblichkeit in 23 Fällen, Alkoholismus 
der Aszendenz in 16, Hirnhaut- und Gehirnentzündung in 13, angeborene Syphilis 
in 8 Fällen, 4 Zöglinge litten an Epilepsie, 3 an Myxidiotie, 11 an Geisteskrankheit. 

In den bei der Landesheil- und Pflege-Anstalt zu Hubertusburg be¬ 
stehenden Abteilungen für bildungsunfähige schwachsinnige Kinder waren am 
Jahresbeginn 92 (46 m. 47 w.). Zugang 32 (18 m. 14 w.), Abgang 33 (18 m. 
16 w.), davon 3 gestorben (2 m. 1 w.). 

In der Blödenanstalt Martinsstift zu Sohland am Rotstein sind 
88 Kinder (66 m. 33 w.) untergebracht gewesen. Zugang 7, Abgang 6 (sämtlich 
durch Tod). 

Dösen (130): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 1136 (616 M. 621 Fr.). 
Zugang 621 (422 M. 199 Fr.). Abgang 660 (381 M. 169 Fr.). Bleibt Bestand 
1207 (666 M. 661 Fr.). Vom Zugang kamen 491 (361 M. 140 Fr.) aus der psy¬ 
chiatrischen Klinik in Leipzig, aus andern Anstalten 42 (22 M. 20 Fr.), unmittel¬ 
bar aufgenommen wurden 88 (49 M. 39 Fr.). Es litten an einfacher Seelen¬ 
störung 270 (146 M. 124 Fr.), an paralytischer Seelenstörung 113 (91 M. 22 Fr.), 
an Imbezillität, Idiotie 49 (34 M. 16 Fr.), Epilepsie 74 (69 M. 16 Fr.), Hysterie 
20 (9 M. 11 Fr.), Alkoholismus 84 (79 M. 6 Fr.). An den verschiedenen Formen 
der Dementia praecox litten 99 (67 M. 42 Fr.), an periodischer Seelenstörung 61 
(34 M. 17 Fr.), an Manie 3 (1 M. 2 Fr.), Melancholie 20 Frauen, Paranoia 17 
(4 M. 13 Fr.), Dementia senilis 31 (13 M. 18 Fr.), Dementia arterioscler. 18 
(17 M. 1 Fr.), an psychischer Degeneration 21 (16 M. 6 Fr.). An Paralyse 
litten 113 (91 M. 22 Fr.) der Aufgenommenen, d. i. 18% des Gesamtzu¬ 
gangs, 21,6% der Männer und 11,6% der Frauen. Alkoholkranke waren 
84 (79 M. 6 Fr.) = 13,6 %. Heredität bei 240 (172 M. 68 Fr.) = 38,6 % 
aller Aufgenommenen, 40,8 % der Männer und 34,2 % der Frauen. Unter 
den an einfacher Seelenstörung Leidenden waren 37,4% erblich belastet, 
unter den Paralytikern 21,8 %, unter den Imbezillen und Idioten 34,7 %, unter 
den Epileptischen 62,7 %, unter den Hysterischen 66 %, unter den Alkoholisten 
63,6 %. Die Krankheitsdauer vor der Aufnahme betrug bis zu 3 Monaten bei 117 
(71 M. 46 Fr.), 3—6 Monate bei 34 (23 M. 11 Fr.), y t — 1 Jahr bei 49 (30 M. 
19 Fr.), 1—2 Jahre bei 60 (37 M. 13 Fr.), über 2 Jahre bei 337 (260 M. 87 Fr.). 
Es wurden entlassen als geheilt 20 (17 M. 3 Fr.) = 3,6 %, gebessert 261 (187 M. 
74 Fr.) = 47,4 %, ungeheilt 126 (87 M. 38 Fr.). Gestorben sind 144 (90 M. 
54 Fr.), davon 67 (62 M. 16 Fr.) an Paralyse = 46,6 % aller Todesfälle. An 
Lungentuberkulose starben 10,4 % der Verstorbenen. In Familienpflege bei 
Beginn des Berichtsjahres 73 (41 M. 32 Fr.), am Ende des Berichtsjahres 66 
(34 M. 31 Fr.). Neuerdings wurde der Versuch gemacht, Trinker zu Familien, 
die einem Knthaltsamkeitsvereine angehören, in Pflege zu geben, indem man auch 


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Grütter, Anstaltswesen und Statistik. 


357 * 

ie Trinker dem Verein beitreten läßt. Die Zahl des Pflegepersonals wurde um je 
2 Pfleger und Pflegerinnen vermehrt Mit der Errichtung zweier neuer großer 
Jebäu de für 220 Patienten wurde begonnen. 

Roda, Martinshaus (182): Bestand am Anfang des Berichtsjahres 
6 (51 m. 35 w.). Zugang 16 (10 m. 6 w.). Abgang 17 (8 m. 9 w.). Bleibt 
Jestand 85 (53 m. 32 w.). Vom Bestände waren behaftet mit Epilepsie 24 (16 m. 
w.), Chorea 8 (6 m. 3 w.), Lähmung der Himnerven 7 (3 m. 4w.). der Glied* 
aßen 9 (2 m. 7 w.). Unehelich geboren waren 12 (8 m. 4 w.). Bei den Eltern, 
sw. nächsten Verwandten, der 102 Idioten fanden sich Geistes* und Nervenkrank¬ 
sten bei 51 (30 m. 21 w.), Alkoholismus bei 13 (7 m. 6 w.), Syphilis bei 6 
: m. 2 w.), Tuberkulose bei 9 (4 m. 6 w.). Entlassen 16 (7 m. 8 w.). Ver- 
orben 2 (1 m. 1 w.), beide im Status epilepticus. 

Roda, Genesungshaus (181): Bestand in der Heil- und Pflege- 
istalt für Geisteskranke am Anfang des Berichtsjahres 393 (209 M. 184 Fr.). 
\gang 189 (108 AL 81 Fr.). Abgang 140 (83 AL 67 Fr.). Bleibt Bestand 442 
34 M. 208 Fr.). In Familienpflege am Schluß des Jahres 40 (18 M. 22 Fr.), 
»m Zugang litten an einfacher Seelenstörung 128 (67 M. 61 Fr.), an paralytischer 
elenstörung 21 (18 M. 3 Fr.), Imbezillität, Idiotie und Kretinismus 11 (6 M. 
Fr.), Epilepsie 9 (6 M. 4 Fr.), Hysterie 10 (6 M. 6 Fr.), Alkoholismus 6 (6 M. 
/ Fr.). Heredität bei 36 (16 M. 20 Fr.), Alkoholmißbrauch bei 19 (18 M. 1 Fr.), 
tlassen als geheilt 34 (20 M. 14 Fr.), gebessert 60 (34 M. 16 Fr.), ungeheilt 18 
. \ M. 5 Fr.). Gestorben 38, davon an Lungentuberkulose 2 (1 M. 1 Fr.), 
" phus abdomin. 3 Frauen. 

Bayreuth (117): Bestand am 1. Januar 1908: 624 (362 AL 272 Fr.). 
£ ' gang 163 (86 AL 77 Fr.). Abgang 160 (80 M. 70 Fr.). Bleibt Bestand 637 
- 7 >8 M. 279 Fr.). Von den Aufgenommenen litten an einfacher Seelenstörung 
' 5 (50 M. 56 Fr.), an hvstero-epileptischer Seelenstörung 21 (9 M. 12 Fr.), Im- 

• ' illität 16 (12 AL 4 Fr.), Delirium potator. (Alkoholismus chron.) 9 (8 M. 1 Fr.). 
- inkheitsdauer vor der Aufnahme bei 41 (20 AL 21 Fr.) bis zu 1 Monat, bei 12 

- M. 8 Fr.) 2—3 Monate, bei 10 (2 AL 8 Fr.) 4-6 Monate, bei 10 (3 M. 7 Fr.) 
. i 12 Monate, bei 7 (4 M. 3 Fr.) im 2. Jahre, bei 42 (30 M. 12 Fr.) über 2 Jahre, 

s '-lestimmt 2. Heredität bei 77 (40 M. 37 Fr.) = 49 % (48). Alkoholmißbrauch 

- ti’- 16 (16 M. 1 Fr.) = 9 % der Aufnahmen. Zur Beobachtung nach § 81 6 
r/t-M. 1 Fr.), davon 2 nicht geisteskrank. Entlassen wurden als genesen 19 (8 M. 

Ft.) = 13,1 %, gebessert 63 (36 M. 17 Fr.) = 37,2 %, ungebessert 29 (16 M, 

- yr- Fr.) = 19,2 %, 6 als nicht geisteskrank. Gestorben 44 (15 M. 29 Fr.) = 30,3%. 

- starben an Paralyse 6, im Status epilepticus 3, an Lungentuberkulose 10 (5 M. 

= 22,7 %, der Mortalität. Gesamtausgabe 480 328,99 M. 

Bamberg (116): Der Bericht umfaßt die Jahre 1908—1910. Zu Beginn 
.Jahres 1908 betrug der Krankenbestand 110 Personen (46 M. 66 Fr.). Zugang 
(39 AL 20 Fr.). Abgang 68 (39 AL 19 Fr.). Bleibt Bestand 111 (46 AL 
-ylä- *•)• Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 46 (29 AL 17 Fr.), an 
_ g iv »lytischer Seelenstörung 1 M., an Seelenstörung mit Epilepsie, Hystero-Epi- 
^ ^ e 2 M., Imbezillität, Idiotie, Kretinismus 5 (2 AL 3 Fr.), Delirium potat. 


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358 * Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 

5 M. Heredität war in 24 Fällen, Alkoholmißbrauch in 14 Fällen Krankheits¬ 
ursache. Von den 59 Aufnahmen haben 28,8 % ihre geistige Erkrankung dem 
Alkoholmißbrauch zu verdanken. Von den Entlassenen waren geheilt 17 (15 M. 
2 Fr.), gebessert 17 (14 M. 3 Fr.), ungeheilt 12 Fr., davon 7 in andere Anstalten. 
Gestorben sind 12 (Mortalität = 7,1 %), davon 6 an Altersschwäche. Bestand bei 
Beginn des Jahres 1909: 111 Kranke (45 M. 66 Fr.). Zugang 91 (62 M. 39 Fr.). 
Abgang 64 (37 M. 27 Fr.). Schlußbestand 138 (60 M. 78 Fr.). Vom Zugang 
litten an einfacher Seelenstörung 72 (36 M. 36 Fr.), an paralytischer Seelenstörung 
1 M., an Seelenstörung mit Epilepsie, Hvstero-Epilepsie 5 (4 M. 1 Fr.), an Im¬ 
bezillität, Idiotie, Kretinismus 6 (4 M. 2 Fr.), Delirium potat. 7 M. Heredität 
war in 25 Fällen, Alkoholmißbrauch in 17 Fällen Krankheitsursache. Entlassen 
geheilt 16 (9 M. 7 Fr.), gebessert 22 (12 M. 10 Fr.), ungeheilt 14 (9 M. 6 Fr.), 
davon 8 in andere Anstalten. Gestorben sind 12 (7 M. 5 Fr.). Tuberkulose war 
4 mal, Paralyse 1 mal Todesursache. Am Beginn des Jahres 1910 betrug der 
Krankenbestand 138 (60 M. 78 Fr.). Zugang 95 (61 M. 44 Ff.). Abgang 95 
(52 M. 43 Fr.). Schlußbestand 138 (59 M. 79 Fr.). Von den Aufgenommenen 
litten an einfacher Seelenstörung 80 (38 M. 42 Fr.), an paralytischer Seelenstörung 
4 (3 M. 1 Fr.), an Seelenstörung mit Epilepsie, Hystero-Epilepsie 3 M., an Im¬ 
bezillität, Idiotie, Kretinismus 4 (3 M. 1 Fr.), an Delirium potat. 3 M., nicht 
geisteskrank war 1 M. Heredität war 31 mal (16 M. 15 Fr.), Syphilis 4 mal (3 M. 
1 Fr.), Alkoholmißbrauch 11 mal (10 M. 1 Fr.) Krankheitsursache. Zur Beob¬ 
achtung 1 M. Von den Entlassenen waren genesen 19 (12 M. 7 Fr.), gebessert 30 
(16 M. 14 Fr.), ungeheilt 32 (19 M. 13 Fr.), davon 24 in andere Anstalten. 
Gestorben sind 13 (4 M. 9 Fr.). Tuberkulose war 2 mal, Paralyse 1 mal Todes¬ 
ursache. Mortalität = 6,57 %. Im Jahre 1908 wurde der neue Doppelpavillon 
für Männer vollendet, ebenso der Festsaalbau nebst dem Wäschereigebäude. 1909 
wurde dann der (alte) Probsteibau gründlich renoviert. Als Oberpflegerinnen auf 
jeder Geschlechtsseite wurden barmherzige Schwestern angestellt. Der frühere 
Name der Anstalt „Lokal-Irrenanstalt St. Getreu in Bamberg“ wurde ersetzt, 
durch die Bezeichnung „Heil- und Pflege-Anstalt St. Getreu in Bamberg“. 

Eglfing (132): Bestand am 1. Januar 1910: 1226 (616 M. 611 Fr.). 
Zugang 592 (345 M. 247 Fr.). Abgang 618 (306 M. 212 Fr.). Bleibt Bestand 
1300 (664 M. 646 Fr.). Vom Gesamtzugang litten an einfacher Seelenstörung 
349 (168 M. 191 Fr.), an paralytischer Seelenstörung 108 (72 M. 36 Fr.), an 
Seelenstörung mit Epilepsie, mit Hystero-Epilepsie 31 (21 M. 10 Fr.), an Im¬ 
bezillität, Idiotie, Kretinismus 26 (23 M. 3 Fr.), Delirium potat. 54 (49 M. 6 Fr.), 
nicht geisteskrank waren 14 (12 M. 2 Fr.). Die Krankheitsdauer betrug (die ohne 
vorherige Genesung wieder Aufgenommenen sind ausgenommen) bei 69 (16 M. 
44 Fr.) bis zu 1 Monat, bei 86 (31 M. 64 Fr.) 2—3 Monate, bei 60 (38 M. 
22 Fr.) 4—6 Monate, bei 95 (69 M. 26 Fr.) 7—12 Monate, bei 46 (34 M. 
12 Fr.) im 2. Jahre, bei 180 (112 M. 68 Fr.) über 2 Jahre. Heredität 
bei 184 (96 M. 88 Fr.). Mit dem Strafgesetz in Konflikt gekommen 
waren 120 (96 M. 24 Fr.) der Aufgenommenen. Zur Beobachtung 32 (25 M. 
7 Fr.), davon 14 (12 M. 2 Fr.) nicht geisteskrank. Von den Entlassenen sind 


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Grütter, Anstaltswesen und Statistik. 


359 * 


«renesen 11,6 %, gebessert 31,7%, ungeheilt 9,0%, in andere Anstalten 17,6%. 
Gestorben sind 161 Kranke = 8,4 % aller Verpflegten. Auf Tuberkulose treffen 
17,9 % der Sterbefälle. Im Berichtsjahre 3 kleine Typhusepidemien, als Ursache 
wurden Bazillenträger festgestellt, die isoliert wurden. Ein kleines bakteriologi¬ 
sches Laboratorium wurde eingerichtet. Die Überfüllung in der Anstalt beträgt 
12,4 %. Die neue Anstalt Haar ist im Bau und wird voraussichtlich Ende 1912 
eröffnet werden. 

Gabersee (140): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 770 (398 M. 
372 Fr.). Zugang 260 (121 M. 129 Fr.). Abgang 211 (186 M. 105 Fr.). Bleibt 
Bestand 809 (413 M. 3% Fr.). Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 
165 (= 79,7 %), an paralytischer Seelenstörung 21 (= 10,1 %), an Epilepsie mit 
Seelenstörung 8 (=3,9%), an Imbezillität 6 (=2,4%), an Alkoholismus 8 
(3,9 %). Im 1. Monat der Erkrankung standen 16,4 %, im 2.—3. Monat 19,3 %, 
im 4.—6. 11,1 %, im 7. bis 12. 15 %, im 2. Jahre 8,2 %, über 2 Jahre waren krank 
22,2 %. Heredität bei 44,4 %. Von den Entlassenen waren genesen 36 = 16,6 %, 
gebessert 76 = 36,0 %, ungeheilt 36 = 16,6 %. Gestorben 66 = 8,2 % des durch¬ 
schnittlichen Bestandes oder 6,4 % des Gesamt bestandes. An Paralyse starben 16, 
an Lungentuberkulose 12. Im Bau befindet sich ein viergliedriger Pavillon für 
72 pflegebedürftige Frauen. Die Erbauung eines dritten Ärzte- und Beamten¬ 
wohnhauses wurde beschlossen. Die neue Licht- und Kraftanlage konnte Mitte 
September in Betrieb gesetzt werden. — Gesamtausgabe 863 082,56 M. 

Kaufbeuren (149): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 641 (312 M. 
329 Fr.). Zugang 361 (204 M. 157 Fr.). Abgang 360 (191 M. 159 Fr.). Bleibt 
Bestand 662 (326 M. 327 Fr.). Von den Aufgenommenen litten an einfacher 
Seelenstörung 244 (119 M. 126 Fr.), an paralytischer Seelenstörung 28 (21 M. 
7 Ft.), an Seelenstörung mit Epilepsie, mit Hystero-Epilepsie 32 (11 M. 21 Fr.), 
Imbezillität 16 (11 M. 4 Fr.), Delirium potat. 32 M.; nicht geisteskrank waren 
10 M. Zur Beobachtung 14 M., von denen 4 geisteskrank waren. Wegen Gemein¬ 
gefährlichkeit waren vom Zugang 69 = 19,1 % polizeilich in der Anstalt gewiesen. 
Unter den 270 Erstaufnahmen und wiederholten Aufnahmen nach vorheriger 
Genesung standen 63 = 23,3 % im 1. Monat der Erkrankung. Heredität in 45 %. 
Entlassen wurden als genesen 62 (26 M. 36 Fr.) = 18,2 %, gebessert 137 (76 M. 
61 Fr.) = 40,2%, ungeheilt 93 (60 M. 43 Fr.) = 27,3% des Abgangs. Ge¬ 
storben sind 48 (29 M. 19 Fr.) = 7.2 % des Durchschnittsbestandes. Tuberkulose 
war 6 mal Todesursache = 10,4 %, 12 (10 M. 2 Fr.) waren paralytisch. Durch¬ 
schnittsgewicht der männlichen nicht paralytischen Gehirne 1289 g., der weiblichen 
1136 g., der männlichen paralytischen Gehirne 1269,8 g. Ein Selbstmord durch 
Erhängen. Beschäftigt waren bei den Männern durchschnittlich 130, bei den 
Frauen 115. Gesamtausgabe 670 347,87 M. 

Pflegeanstalt Irrsee: Bestand am 1. Januar 1910 : 271 (126 M. 
146 Fr.). Zugang (sämtlich aus Kaufbeuren) 31 (14 M. 17 Fr.). Abgang 32 
(16 M. 17 Fr.). Bleibt Bestand 270 (125 M. 145 Fr.). Heredität bei 61 % der 
Aufgenommenen. Es litten an einfacher Seelenstörung 19 (8 M. 11 Fr.), an para- 
ivtischer Seelenstörung 6 (4 M. 2 Fr.), an Seelenstörung mit Epilepsie 2 (1 M. 


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360 * 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


1 Fr.), Imbezillität 3 Fr., Alkoholismus chron. 1 M. Genesene sind nicht zu ver¬ 
zeichnen, 1 Fr. ist gebessert entlassen. Gestorben 31 (16 M. 16 Fr.) = 97 % des 
Gesamtabganges. 32 % der Verstorbenen waren paralytisch, 9,6 % tuberkulös. 
Die beiden neuen offenen Pavillons in Kaufbeuren wurden fertiggestellt und be¬ 
zogen, der Männerpavillon faßt 46, der Frauenpavillon 36 Kranke. In Irrsee wurde 
die Beleuchtung, Warmwasserbereitung, Koch- und Waschküche modernisiert. 
Der schwäbische Landrat hat beschlossen, von einer Erweiterung Kaufbeurens 
abzusehen und dagegen sofort zur Erbauung einer neuen Anstalt für Geisteskranke 
zunächst für 300 Kranke zu schreiten. 

Kutzenberg (166): Bestand am 1. Januar 1910: 273 (163 m. 120 Fr.). 
Zugang 139 (78 M. 61 Fr.). Abgang 110 (67 M. 43 Fr.). Bleibt Bestand 302 
(164 M. 138 Fr.). Von den Aufgenommenen litten an einfacher Seelenstörung 116 
(67 M. 69 Fr.), an paralytischer Seelenstörung 6 M., an Seelenstörung mit Epi¬ 
lepsie, Hystero-Epilepsie 2 M., an Imbezillität 6 (4 M. 2 Fr.), an Delirium potat. 
10 M. Im 1. Monat der Erkrankung befanden sich 23 (10 M. 13 Fr.), im 2.—3. 
Monat 13 (8 M. 6 Fr.), im 4.—6. Monat 11 (6 M. 6 Fr.), im 7.—12. Monat 11 
(9 M. 2 Fr.), im 2. Jahre 10 (6 M. 4 Fr.), über 2 Jahre waren krank 46 (27 M. 
19 Fr.). Von den 139 Auf genommenen waren 88 (46 M. 43 Fr.) erblich belastet. 
Mit dem Strafgesetze in Konflikt geraten waren 19 (18 M. 1 Fr.). Entlassen als 
gebessert 71 Kranke (43 M. 28 Fr.), ungebessert 16 (11 M. 4 Fr.). Gestorben 
sind 24 (13 M. 11 Fr.). Ständig beschäftigt von den Männern 39,2 %, bei den 
Frauen 33,6 %, in Bett- oder Badbehandlung ständig 2 % bei den Männern, 0 % 
bei den Frauen. Eine Summe von 2160 000 M. wurde für den Ausbau auf 600 
Kranke bewilligt. Gesamtausgabe 219 633,28 M. 

München (168): Der Bericht über die Kgl. psychiatrische Klinik in 
München umfaßt die Jahre 1908 und 1909. Zugang 1908:1882 (1189 M. 693 Fr.). 
Zugang 1909: 1939 (1180 M. 769 Fr.). Das Jahr 1909 zeigt die seit Bestehen 
der Klinik höchste Aufnahmeziffer. Durchschnittliche Belegzahl 1909:120 Betten. 
Die alkoholischen Geistesstörungen nehmen auch in den Berichtsjahren bezüglich 
ihrer Häufigkeit eine hervorragende Stellung ein, sie sind jedoch überflügelt von 
den manisch-depressiven Erkrankungen. Die Zahl der Dementia praecox-Fälle 
ist weiter zurückgegangen, von 223 Fällen im Jahre 1906 fiel sie auf 96 im Jahre 
1909. Umgekehrt stieg die Zahl der manisch-depressiven Erkrankungen von 
96 Fällen 1905 auf 262 Fälle 1909. Diese Verschiebung der Häufigkeitsziffer beider 
Erkrankungen ist eine Folge der katamnestisch gewonnenen Erfahrung der Heilung 
zahlreicher Fälle, denen früher ein ungünstiges Prognostikon gestellt wurde. Im 
einzelnen litten in den Jahren 1908 und 1909 an Dementia praecox 98 (67 M. 
41 Fr.) und 96 (61 M. 36 Fr.), an Paralyse 160 (106 M. 46 Fr.) und 164 (103 M. 
61 Fr.), an Hiralues 17 (10 M. 7 Fr.) und 10 (8 M. 2 Fr.), Arteriosklerose 27 
(22 M. 6 Fr.) und 27 (21 M. 6 Fr.), seniler Demenz 32 fl6 M. 17 Fr.) und 60 
(25 M. 26 Fr.), manisch-depressivem Irresein 267 (82 M. 176 Fr.) und 262 (76 M. 
186 f r.), Alkoholismus 248 (206 M. 42 Fr.) und 234 (206 M. 28 Fr.), Epilepsie 
147 (123 M. 24 Fr.) und 116 (82 M. 33 Fr.), Hysterie 133 (49 M. 84 Fr.) und 
149 (70 M. 79 Fr.), traumatischer Geistesstörung 33 (29 M. 4 Fr.) und 64 (49 M. 


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Grütter, Anstaltswesen und Statistik. 


361 * 


6 Fr.), Psychopathie 163 (86 M. 67 Fr.) und 204 (122 M. 82 Fr.), Imbezillität 
21 (17 M. 4 Fr.) und 39 (21 M. 18 Fr.), Idiotie 6 (4 M. 1 Fr.) und 11 (8 M. 
3 Fr.). Die einzelnen Krankheitsformen werden im weiteren Bericht ausführlich 
besprochen, den Beschluß der sehr interessanten Abhandlungen bilden die Ergeb¬ 
nisse der mikroskopischen Untersuchung und die Arbeiten des chemischen La¬ 
boratoriums. 

Bestand der in staatlichen Anstalten und mit Staatsunterstützung in Privat¬ 
anstalten untergebrachten Geisteskranken Württembergs (211) zu Beginn 
des Jahres 1909 : 3328, am Schlüsse 3390. 

Winnen tal : Bestand am 1. Januar 1909: 406 (190 M. 216 Fr.). Zu¬ 
gang 130 (86 M. 45 Fr.). Abgang 111 (70 M. 41 Fr.). 

Schussenried: Bestand am 1. Januar 1909 : 497 (271 M. 226 Fr.). 
Zugang 163 (86 M. 67 Fr.). Abgang 141 (76 M. 65 Fr.). 

Zwiefalten : Bestand am 1. Januar 1909: 571 (328 M. 243 Fr.). Zu¬ 
gang 101 (43 M. 58 Fr.). Abgang 90 (40 M. 60 Fr.). 

Weißenau: Anfangsbestand 649 (276 M. 273 Fr.). Zugang 101 

(66 M. 36 Fr.). Abgang 110 (66 M. 44 Fr.). 

Weinsberg : Anfangsbestand 649 (276 M. 274 Fr.). Zugang 124 (62 M. 
62 Fr.). Abgang 121 (61 M. 60 Fr.). 

Von den 366 erstmals aufgenommenen oder nach erfolgter Genesung rück¬ 
fällig gewordenen Kranken standen im 1. Monat der Erkrankung 18,6 %, im 2. 
und 3. Monat 16,7 %, im 4.—6. Monat 13,7 %, im 7.—12. Monat 12,3 %, die 
übrigen (38,7 %) waren länger als 1 Jahr vor der Aufnahme krank. Vom Gesamt¬ 
zugang waren angeborene Störungen (Idiotie, Kretinismus, Imbezillität) 3,6 %, 
konstitutionelles Entartungsirresein (neurasthenisches, hysterisches Irresein) 3,6 %, 
depressives Irresein 9,3 %, manisches Irresein 1,8 %, periodisches und zirkuläres 
Irresein 12,3 %, akute halluzinatorische Verwirrtheit und akuter halluzinatorischer 
Wahnsinn 4,9 %, primäre Demenzformen (Dement, praecox, Hebephrenie, Kata¬ 
tonie) 27,3 %, chronische Verrücktheit 9,2 %, sekundäre Verblödungsprozesse 0,2 %, 
Geistesstörungen mit anatomischem Befund 12,3 %, darunter Dementia paralytica 
4,7 %, epileptische Geistesstörungen 6,4 %, Intoxikationspsychosen 4,9 %. Zur 
Beobachtung kamen 6,3 %. Die primären Demenzformen stehen wie bisher mit 
5 4 aller Aufnahmen an der Spitze. Hinsichtlich des Alters der Erkrankung bei 
männlichen und weiblichen Kranken ergibt sich, daß die Männer vor dem 26. Lebens¬ 
jahre mehr gefährdet sind als die Frauen. In dem Lebensalter zwischen 30 und 
60 Jahren tritt ein Ausgleich ein. Nach dem 60. Lebensjahre überwiegen die 
Frauen in der Häufigkeit der Erkrankung. Mit dem Strafgesetz kamen in Kon¬ 
flikt 13 7 %, davon vor der Erkrankung 7,7 %, nach der Erkrankung 6,0 %. He¬ 
redität fand sich bei den erstmals oder nach erfolgter Genesung rückfällig ange¬ 
nommenen Kranken in 180 Fällen = 49,3% der Aufnahmen. Als anderweitige 
Krankheitsursachen werden angegeben Alkoholismus in 7,1 %, psychische Ein¬ 
flüsse in 3,0 %, Lues in 2,6 %, akute Infektionskrankheiten in 0,8 %, Verletzungen 
in 2,8 %, Puerperium in 0,6 %, chronische Krankheiten in 0,6 %, sonstige bekannte 
Ursachen in 3,4 % der Fälle. 


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362 * 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


Entlassen 673 (318 M. 260 Fr.), davon geheilt 49 = 9,2 %, gebessert 249 = 
46,9%, ungeheilt 100 = 18,4% der Entlassenen. Die meisten Heilungen ent¬ 
fielen auf akute halluzinatorische Verwirrtheit mit 63,9 %, akuten halluzinatorischen 
Wahnsinn mit 46,7 %, manisch-depressives Irresein mit 36,4 %. Gestorben sind 
144 = 26,1 % des Gesamtabganges, davon 76 M. und 69 Fr. An Lungen- und 
Darmtuberkulose starben 24,3 %. — In Winnental wurde der für Verwaltungs¬ 
zwecke bestimmte Neubau bezogen, die neuen Krankenbauten wurden im Rohbau 
fertiggestellt. 

Die Gesamtzahl der in den Privat-Irrenanstalten des Landes behan¬ 
delten Geisteskranken betrug 1704 Kranke, von diesen Privatpfleglinge 781 = 
46,8 %, Staatspfleglinge 923 = 64,2 %. Auf die Gesamtzahl der Verpflegten 
beträgt der Zugang 26,6 %, der Abgang 24,7 %, in Behandlung blieben 76,3 %. 
Der Staatsaufwand für die in den Privat-Irrenanstalten untergebrachten Staats¬ 
pfleglinge betrug 126 811,60 M. 

Von den 369 Aufnahmen litten an depressivem Irresein 11,0 %, periodischem 
und zirkulärem Irresein 16,8 %, primären Demenzformen 32,1 %, Geistesstörungen 
mit anatomischem Befund 8,9 % (darunter Dement, paralyt. 3,9 %). Vom 
Zugang mit dem Strafgesetz in Konflikt geraten 34, Heredität bei 171; Alkohol 
war bei 8 %, Lues bei 2 % der Aufnahmen Krankheitsursache. Vom Gesamtabgang 
(421 = 33 % des Anfangsbestandes) wurden geheilt 9 %, gebessert 46 %. ungeheilt 
13 %, in eine andere Anstalt versetzt 7 %, gestorben sind 26 %. Lungen- und 
Darmtuberkulose war in 20 % der Todesfälle Todesursache. 

In der Heil- und Pflege-Anstalt für Schwachsinnige und Epileptiker Stetten 
im Remstal (197) betrug die Zahl der 1910 verpflegten Kranken 639 (336 m. 
204 w.). Der Bestand am 1. Januar 1910 betrug 473, am 31. Dezember 1910: 483. 
Gesamtzugang 66 (40 m. 26 w.), Gesamtabgang 66 (40 m. 16 w.). Aus der Abteilung 
für Schwachsinnige (Anfangsbestand 249, Schlufibestand 264) wurden gebessert 
entlassen 16 (14 m. 2 w.), ungebessert 4 (2 m. 2 w.), in eine andere Anstalt 2 
(1 m. 1 w.), gestorben 6 männliche. Von den gebessert Entlassenen leiden 14 an 
angeborenem Schwachsinn, erbliche Belastung bei 9 = 60,6 %. 1 mal war Gehirn¬ 
entzündung, 1 mal Kopfverletzung Ursache des Schwachsinns. Von den unge¬ 
bessert Entlassenen litten sämtliche 4 an angeborenem Schwachsinn mittleren 
Grades. Sämtliche 6 Gestorbene waren erblich belastet. Von den in der Abteilung 
für Schwachsinnige Eingetretenen zeigten 20 = 62,6 % erbliche Belastung, 3 haben 
Lähmungserscheinungen. Sonstige Krankheitsursache bei den aufgenommenen 
Schwachsinnigen: Himcntzündung in 3 Fällen, englische Krankheit in 9, Kopf¬ 
verletzung in 4, Scharlach und Diphtherie in je 2 Fällen. In der Abteilung für 
Epileptische war der Bestand beim Beginn des Berichtsjahres 224 (124 m. 100 w.), 
beim Schlüsse des Jahres 229 (126 m. 104 w.). Aufgenommen wurden 34 (19 m. 
16 w.). Heredität bei 68 %. Andere Ursachen: Himentzündung 7 mal, Zahn¬ 
krämpfe 13 mal, 6 mal englische Krankheit. Bei 6 der Aufgenommenen bestanden 
Lähmungserscheinungen. Entlassen gebessert 7 (6 m. 2 w.), ungebessert 7 (6 m. 
1 w.), in eine andere Anstalt 6 (2 ra. 4 w.). gestorben 9 (6 m. 4 w.). 

Mariaberg (166) verpflegte im Berichtsjahre 176 (130 m. 46 w.) Zog- 


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linge, davon neu eingetreten 13 (10 m. 3 w.). Abgang 8 (6 m. 2 w.), davon ge¬ 
storben 3 (3 m.), so daß am Jahresschluß ein Bestand von 167 verblieb. 

Heidelberg (116): Der Bericht umfaßt, wie bei allen badischen An¬ 
stalten, die Jahre 1909 und 1910. Bestand Anfang 1909: 139 (78 M. 61 Fr.). 
Zugang 662 (373 M. 289 Fr.), Abgang 686 (390 M. 296 Fr.). Bestand am 1. Ja¬ 
nuar 1910: 116 (61 M. 64 Fr.). Zugang 1910 : 701 (423 M. 278 Fr.), Abgang 711 
(423 M. 288 Fr.). Bleibt Bestand am 1. Januar 1911: 105 (61 M. 44 Fr.). Von 
den 1909 Aufgenommenen litten an Idiotie und Imbezillität 17, an Paralyse 64, 
Arteriosklerose 11, seniler Demenz 20, Epilepsie 32, Dementia praecox 176, Al¬ 
koholismus und seinen Psychosen 41, manisch-depressivem Irresein 151, Hysterie 
34, Psychopathie 49, Paranoia 1, nicht geisteskrank waren 11. Von den Aufnahmen 
im Jahre 1910 litten an Idiotie und Imbezillität 27, Paralyse 44, Hirnlues und 
Tumor cerebri je 2, Arteriosklerose 21, seniler Demenz 18, Epilepsie 27, Dementia 
praecox 182, Alkoholismus und seinen Psychosen 37, manisch-depressivem Irresein 
143, Hysterie 43, Psychopathie 62, nicht geisteskrank wen 18. 

Zur Beobachtung gemäß § 81 Str.-Pr.-O. wurden im Jalire 1909 = 24 Per¬ 
sonen (18 M. 6 Fr.), im Jahre 1910 = 19 Personen (19 M.) aufgenommen. 

Definitive Entlassungen 1909 = 36, 1910 = 173, versuchsweise Entlassungen 
1909 = 323, 1910 = 193. Geheilt entlassen wurden 1909 = 99, 1910 = 94, ge¬ 
bessert 1909 = 162, 1910 = 139, ungebesscrt 96 — 126. Entlassen in Familien¬ 
pflege 368 •— 366, in eine andere Anstalt 290 — 309. Todesfälle 1909 = 38 
(18 M. 20 Fr.), 1910 = 36 (22 M. 14 Fr.). Es starben an Paralyse 11 (9 M. 

2 Fr.). Gesamtausgabe 1909 201 684,16 M., 1910 197 668,65 M. 

Freiburg i. B. (115): Krankenstand am 1. Januar 1909: 151 (78 M. 
73 Fr.), Zugang 540 (301 M. 239 Fr.), Abgang 647 (302 M. 246 Fr.). Bestand 
Ende 1909: 144 (77 M. 67 Fr.). Vom Bestand am 31. Dezember 1909 litten an 
einfacher Seelenstörung 88 (39 M. 49 Fr.), paralytischer Seelenstörung 19 (16 M. 
4 Fr.), an Imbezillität, Idiotie, Kretinismus 5 (3 M. 2 Fr.), Epilepsie 8 (4 M. 
4 Fr.), Hysterie 7 (3 M. 4 Fr.), Alkoholismus 7 (6 M. 2 Fr.), an anderen Krank¬ 
heiten des Nervensystems 10 (8 M. 2 Fr.). Zur Beobachtung kamen im Jahre 

1909 27 Personen. Unter den 1908 Entlassenen waren geheilt 49, gebessert 180, 
ungcbessert 67, in andere Anstalten wurden versetzt 206. Gestorben sind 48 
(17 M. 31 Fr.). Paralyse war 6 mal Todesursache. Gesamtausgabe 1909: 
244 831,73 M. In der Abteilung für Nervenkranke betrug der Bestand am Anfang 
des Jahres 1909. 18 (8 M. 10 Fr.). Zugang 329 (197 M. 132 Fr.). Abgang 326 
(193 M. 133 Fr.). Bestand am Ende des Berichtsjahres: 21 (12 M. 9 Fr.). 
219 Fälle waren zur Begutachtung im Unfall- und Invaliditätsverfahren einge¬ 
wiesen. Krankenbestand am 1. Januar 1910: 144 (77 AL 67 Fr.). Zugang im 
Jahre 1910 = 626 (280 M. 246 Fr.). Abgang 636 (286 M. 261 Fr.). Bleibt 
Bestand am Ende des Jahres 1910: 134 (72 M. 62 Fr.). Zur Beobachtung kamen 

1910 = 20 Personen. Vom Bestand am 31. Dezember 1910 litten an einfacher 
Seelenstörung 102 (47 M. 66 Fr.), an paralytischer Seelenstörung 7 M., an Im¬ 
bezillität, Idiotie, Kretinismus 4 (2 M. 2 Fr.), Epilepsie 6 (4 M. 2 Fr.), Hysterie 

3 Frauen, Alkoholismus 11 Männer, anderen Krankheiten des Nervensystems 1 M. 


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364 * 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


Im Jahre 1910 sind gestorben 66 (31 M. 25 Fr.), davon an Paralyse 16. Gesamt¬ 
ausgabe 1910 = 263 949,51 M. In der Abteilung für Nervenkranke Bestand am 
Beginn des Jahres 1910: 21 (12 M. 9 Fr.), Zugang 379 (207 M. 172 Fr.). Ab¬ 
gang 374 (205 M. 169 Fr.). Bleibt Bestand 26 (14 M. 12 Fr.). Unter den 373 
Aufnahmen waren 188 Fälle, die zur Begutachtung im Unfall- und Invaliditäts- 
Verfahren eingewiesen waren. 

Emmendingen (115): Bestand am Anfang des Jahres 1909: 1411 
(756 M. 686 Fr.). Zugang im Jahre 1909: 293 (150 M. 143 Fr.) Abgang 314 
(164 M. 160 Fr.). Bestand am Ende 1909: 1420 (741 M. 679 Fr.). Unter den 
Aufnahmen waren 208 erste, 85 wiederholte Aufnahmen. Von den Kranken litten 
an einfacher Seelenstörung 1342, Paralyse 100, Imbezillität, Idiotie 154, Epilepsie 
mit Seelenstörung 186, Hysterie 9, Alkoholismus 30, Morphinismus 1. Mit dem 
Strafgesetz in Konflikt geraten waren vom Krankenbestande am Schlüsse des 
Jahres 249 M. und 55 Fr. In Entmündigungsangelegenheiten waren 26 Gut¬ 
achten, in Ehescheidungssachen 6 Gutachten abgegeben. Von den Entlassenen 
waren gebessert 142, ungebessert 69. Gestorben sind im Jahre 1909: 85 (39 M. 
46 Fr.). Tuberkulose war in 30 Fällen, Paralyse in 6 Fällen, Epilepsie in 8 Fällen 
Todesursache. Es herrscht weiterhin starke Überfüllung, Normalbelegzahl 925! 
Die schlimmeren nnd schwieriger zu behandelnden Patienten nehmen von Jahr 
zu Jahr zu, die Ruhigeren werden der Überfüllung wegen so früh wie möglich 
wieder entlassen. Regelmäßig beschäftigt waren 36,62 % der Kranken. Das 
Dauerbad in der Männer-Zentralanstalt ist fertiggestellt. In Familienpflege 9 
Kranke (1 M. 8 Fr.). Das neueintretende Personal wird auf Bazillenträger unter¬ 
sucht, die Untersuchung ergab bei 6 positiven Paratyphusbefund, bei 3 
paratyphusartige Bazillen. Krankenbestand Anfang 1910: 1420 (741 M. 679 Fr.). 
Zugang 330 (185 M. 146 Fr.). Abgang 380 (174 M. 206 Fr.). Bleibt Bestand 
1370 (752 M. 618 Fr.). Vom Krankenbestand litten an einfacher Seelenstörung 
1370, an Paralyse 6, an Imbezillität, Idiotie 164, an Epilepsie mit Seelenstörung 
169, an Hysterie 14, Alkoholismus 34. Mit dem Strafgesetz in Konflikt geraten 
waren vom Bestände am Schlüsse des Jahres 260 (210 M. 50 Fr.). In 2 straf¬ 
rechtlichen Fällen, in 16 Entmündigungssachen und 7 Ehescheidungssachen wurden 
Gutachten abgegeben. Von den Entlassenen waren gebessert 144, ungebessert 167. 
entlassen in Familien 132, in eine andere Anstalt 179. Gestorben 69 (33 M. 36 Fr.), 
davon an Tuberkulose 27, Paralyse 1, Epilepsie 4. Gesamtausgabe 1910: im 
ordentlichen Etat 1522 680,12 M., im außerordentlichen Etat 16001,85 M. 

Illenau (116): Der Bestand am Anfang des Jahres 1909 betrug 654 
(333 M. 321 Fr.). Zugang im Laufe des Jahres 1909: 580 (282 M. 298 Fr.). 
Abgang 662 (266 M. 296 Fr.). Stand am Ende 1909 : 672 (349 M. 323 Fr.). 
Von den Aufnahmen waren erblich belastet 328; es litten an einfacher Seelen¬ 
störung 454 (197 M. 257 Fr.), an paralytischer Seelenstörung 31 (24 M. 7 Fr.), 
an Imbezillität, Idiotie, Kretinismus 13 (8 M. 6 Fr.), Epilepsie 6 M., Hysterie 28 
(6 M. 22 Fr.), Alkoholismus 23 (21 M. 2 Fr.). Gemäß § 81 Str.-P.-O. wurden 
aufgenommen 7 M., wegen Entmündigung 24 (18 M. 6 Fr.). In Privatpflege ent¬ 
lassen wurden im Jahre 1909 als genesen 48 (30 M. 18 Fr.), gebessert 321 (145 M. 


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Grütter, Anstaltswesen und Statistik. 


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176 Fr.), ungebessert 16 (5 M. 11 Fr.); die übrigen wurden in andere Anstalten 
versetzt. Gestorben sind 66 (32 M. 33 Fr.), davon an Tuberkulose 7 (3 M. 4 Fr.), 
an Paralyse 13 (11 M. 2 Fr.), an Suicid 1 M. Im Jahre 1910 betrug der Anfangs¬ 
bestand 672 (349 M. 323 Fr.). Zugang für 1910 = 606 (311 M. 294 Ir.). Ab¬ 
gang 622 (346 M. 276 Fr.). Bleibt Bestand 665 (314 M. 341 Fr.). Von den 1910 
Aufgenommenen litten an einfacher Seelenstörung 445 (195 M. 260 Fr.), an para¬ 
lytischer Seelenstörung 32 (26 M. 7 Fr.), an Imbezillität, Idiotie, Kretinismus 
21 (13 M. 8 Fr.), Epilepsie 6 Männer, Hysterie 32 (10 M. 22 Fr.), Alkoholismus 
43 (41 M. 2 Fr.). Heredität bei 236. Zur Beobachtung gemäß § 81 St.-I'.-O. 14 
Männer, wegen Entmündigung 20 (14 M. 6 Fr.). Entlassen wurden 1910 in 
Privatpflege als geheilt 101 (68 M. 43 F r .), gebessert 276 (134 M. 141 Fr.), un¬ 
gebessert 30 (18 M. 12 Fr.). Gestorben sind 66 (38 M. 27 Fr.). Tuberkulose 
war 8 mal (3 M. 6 Fr.), Paralyse 10 mal (9 M. 1 Fr.), Suicid 1 mal (1 M.) Todes¬ 
ursache. — Gesamtausgabe 1909 : 893 947 M., im Jahre 1910 : 880 133,46 M. Die 
Überfiillung der Anstalt hält an. 

Pforzheim (115): Anfangsbestand des Jahres 1909:616 (305 M. 311 Fr.). 
Zugang 78 (60 M. 28 Fr.). Abgang 86 (44 M. 42 Fr.). Schlußbestand 1909: 
608 (311 M. 297 Fr.). Zugang 1910 : 62 (33 M. 29 Fr.). Abgang 78 (47 M. 
31 Fr.). Bleibt Bestand 692 (297 M. 295 Fr.). Erblich belastet waren vom 
Zugang 1909: 30 (18 M. 12 Fr.), vom Zugang 1910: 23 (11 M. 12 Fr.). Von den 
Aufnahmen 1909 waren erste Aufnahmen 76, wiederholte Aufnahmen 2, vom 
Zugang 1910 waren 60 erste, 2 wiederholte Aufnahmen. Von den 1909 verpflegten 
Kranken litten an einfacher Seelenstörung 606 (232 M. 274 F'r.), an paralytischer 
Seelenstörung 88 (60 M. 28 Fr.), an Epilepsie mit Seelenstörung 16 (12 M. 4 Fr.), 
Imbezillität, Idiotie, Kretinismus 81 (49 M. 32 Fr.), Hysterie 1 M. Von den 1910 
Verpflegten litten an einfacher Seelenstörun? 482 (227 M. 266 Fr.), an paralytischer 
Seelenstörung 83 (64 M. 29 Fr.), an Epile. sie 17 (12 Al. 5 Fr.), an Imbezillität 
Idiotie, Kretinismus 84 (49 M. 36 Fr.), Hysterie 1 M. Begutachtet 1909 : 4 (1 M. 
3 Fr.), 1910: 8 (3 M. 6 Fr.). Entlassen wurden 1909 als gebessert 13, ungebessert 
6, in Familienpflege 10, in andere Anstalten 9. Im Jahre 1910: gebessert 7, 
ungebessert 8, entlassen in Familienpflege 7, in andere Anstalten 8. 
Gestorben sind 1909 : 67 Kranke (36 M. 32 Fr.). Todesursache war Paralyse 
18 mal (10 M. 8 Fr.), Tuberkulose 10 mal (4 M. 6 Fr.). 1910 starben 63 (36 M. 
27 Fr.), davon an Paralyse 14 (9 M. 6 Fr.), an Tuberkulose 12 (5 M. 7 Fr.). 
Gesamtausgabe 1909 : 381166,96 M. Ausgabe 1910 : 383105,28 M. Die Ver¬ 
mehrung der Zahl der unreinlichen Kranken erschwert den Anstaltsdienst trotz der 
Verminderung der Krankenzahl wesentlich. 3 Erkrankungen an Erysipel, 3 Er¬ 
krankungen an Typhus (1 Kranker, 2 Wärterinnen). 

Wiesloch (115 u. 209): Bestand Anfang 1909: 629 (339 Al. 290 Fr.). 
Zugang 367 (181 M. 186 Fr.). Abgang 164 (60 M. 94 Fr.). Bestand Ende 1909: 
798. Von den Aufgenommenen litten an einfacher Seelenstörung 310 (133 M. 

177 Fr.), an paralytischer Seelenstörang 7 M., an Imbezillität, Idiotie, Kretinis¬ 
mus 14 (11 M. 3 Fr.), Epilepsie 18 (16 M. 3 Fr.), Hysteiie 3 (1 M. 2 Fr.), Al¬ 
koholismus 14 M. Heredität bei 122 (90 Al. 32 F'r.), Alkoholmißbrauch bei 61 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXIX. Lit. Z 


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366* Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 

(66 M. 6 Fr.). Entlassen in Privatpflege wurden als gebessert 109 (41 M. 68 Fr. i. 
ungebessert 6 M. Gestorben 31 (9 M. 22 Fr.), davon an Paralyse 2 (1 M 1 Fr i. 
an Tuberkulose 17 (6 M 12 Fr), durch Verbrühen 1 M., durch Suicid 1 Fr. 

Anfangsbestand 1910 : 842 (460 M. 382 Fr.). Zugang 548 (274 M. 274 Fr.). 
Abgang 296 (163 M. 133 Fr.). Bleibt Bestand 1094 (671 M. 523 Fr.). Von den 
Aufgenommenen litten an einfacher Seelenstörung 422 (176 M. 246 Fr.), an para¬ 
lytischer Seelenstörung 16 M., an Imbezillität, Idiotie, Kretinismus 29 (21 34. 
8 Fr.), an Epilepsie 69 (44 M. 16 Fr.), an Hysterie 2 (1 M. 1 Fr.), an Alkoholis¬ 
mus 14 (13 M. 1 Fr.). Heredität bei 242 (151 M. 91 Fr.), Alkoholmißbrauch 
bei 80 (73 M. 7 Fr.) der Aufgenommenen. Entlassen in Privatpflege wiirden als 
gebessert 208 (104 M. 104 Fr.), ungebessert 14 M. Gestorben sind 47 (27 M. 
20 Fr.). Paralyse war 6 mal (4 M. 2 Fr.), Tuberkulose 19 mal (12 M. 7 Fr.) 
Todesursache. Zur Beobachtung nach § 81 St.-P.-0. kamen 7 Fälle. 

6 neue Pavillons für Männer und 5 für Frauen sind fertiggestellt, ebenso 1 
Ärztewohnhaus (Doppelhaus für 2 Familien) und 1 Wärterwohnhaus (für 4 Fa¬ 
milien). Für 1910/11 sind projektiert: Anbau eines Operationssaales an einen 
Pavillon, ein neues Landhaus für 35 ruhige Männer, ein Lazarett für Infektions¬ 
krankheiten, ein gesichertes Haus für 46 gefährliche und verbrecherische Geistes¬ 
kranke, ein Landhaus für 36 ruhige Frauen, 2 Wohnhäuser für je 2 Familien des 
Oberwartepersonals und 2 Wohnhäuser für je 2 Familien (Wärter und Werkmeister ,l 
D ie 4 letzten sind bereits 1910 im Rohbau fertiggestellt. 

Die Einrichtungen der Anstalt haben sich im ganzen bewährt. Dauerwache 
(1—2 Monate) wird empfohlen. Beschäftigt waren im Jahre 1909 bei den Männern 
39 %, 1910 45 %, bei den Frauen 38 % und 36 %. ln Familienpflege 12 M. Im 
Jahre 1910 Typhusepidemie auf der Frauenseite, wahrscheinlich durch eine beur¬ 
laubte Pflegerin eingeschleppt. 7 Fälle, die sämtlich genasen. 

In die Berichtszeit fällt die Bekanntgabe des neuen Irrenfürsorgegesetzcs 
für Baden, das die Befugnisse der Anstalt bei der Aufnahme Geisteskranker wesent¬ 
lich erweitert und das Vorrecht der beiden Universitätskliniken und der Anstalt 
lllenau, fast sämtliche Neuaufnahmen zu bekommen, einschränkt. 

Gesamtausgabe 1909 : 837 373,27 M. Gesamtausgabe 1910 : 996 570,26 II. 

Die Abteilung für Geisteskranke des Fürst-Karl-Landesspitals zu 
Sigma; ingen (193) hatte einen Anfangsbestand von 147 (73 M. 74 F'-.). 
Zugang 60 (25 M. 25 Fr.). Abgang 36 (16 M. 20 Fr.). Bleibt Bestand 16? 
(83 M. 79 Fr.). Vom Gesamtbestande litten an einfacher Seelenstörung 138 
(62 M. 76 Fr.), an paralytischer Seelenstörung 2 M., Imbezillität, Idiotie, Kreti¬ 
nismus 30 (16 M. 14 Fr.), Epilepsie mit Geistesstörung 18 (12 M. 6 Fr.), Hysterie 
6 (3 M. 3 Fr.), Alkoholismus 3 M. Entlassen als geheilt 11 (6 M. 5 Fr.), ge¬ 
bessert 6 (3 M. 3 Fr.), ungeheilt 3 (2 M. 1 Fr.), gestorben 16 (4 M. 11 Fr.). 

Saargemünd (186): Bestand am 1. Januar 1910: 624 (322 M. 302 Fr.). 
Zugang 193 (114 M. 79 Fr.). Abgang 2ß0 (164 M. 76 Fr.). Bleibt Bestand 587 
(282 M. 305 Fr.). Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 109 (49 M. 
60 Fr.), an paralytischer Seelenstörung 34 (23 M. 11 Fr.), Seelenstörung mit 
Epilepsie und Hysterie 20 (17 M. 3 Fr.), Idiotie und Imbezillität 16 (11 M. 4 Fr.), 


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Grütter, Anstaltswesen und Statistik. 


867* 

alkoholischer Seelenstörung 7 ML, nicht geisteskrank waren 8 (7 M. 1 Fr.). Zur 
Beobachtung nach § 81 St.-P.-O. wurden 9 (8 M. 1 Fr.) aufgenommen. Außer 
diesen waren mit dem Strafgesetz in Konflikt gekommen 27 (18 M. 9 Fr.). He¬ 
redität bei 69 (36 M. 33 Fr.), Alkoholmißbrauch bei 26 (24 M. 2 Pr.), Trunk¬ 
sucht der Aszendenz außerdem bei 21 (17 M. 4 Fr.). Entlassen als genesen 23, 
gebessert 53, ungeheilt 107, davon 95 in andere Anstalten. Gestorben 47. Todes¬ 
ursache war 2 mal Dysenterie, je 1 mal Erysipel und Typhus, 10 mal Tuberkulose 
(6 M. 4 Fr.), 7 mal Dementia paralytica (6 M. 1 Fr.). Gesamtsterblichkeit 
7.48% (9% Männei, 5,96% Frauen). 3 Fälle von Suicid (1 M. 2 Fr.). Es 
traten 8 Fälle von Typhus auf, zum Teil von einer Bazillenträgerin herrührend, 
die als nicht mehr verdächtig von der Isolierstation entlassen war, später aber 
von neuem ausschied. 3 neu eingetretene Pflegerinnen wurden als Bazillenträger 
erkannt und sind aus dem Dienst entlassen. Außerdem wurden 4 weibl. und 1 männl. 
Kranker &ls Bazillenträger erkannt. Zahl der weiblichen Bazillenträger ist zeit¬ 
weise auf 13 gestiegen, auf der Männerseite ist nur einei. Alle Veisuche, die Ba¬ 
zillen der Typhusträger zum Schwinden zu biingen (Darminjektion von 01. Olivar. 
und Chloroform 3 :1 mit nachfolgender Milchinjektion, subkutane Irjektion von 
sogenanntem Typhusserum, endlich innerlich Borovertin) blieben erfolglos. Ge¬ 
samtausgabe 430 472,37 M. 

Stephansfeld-Hördt (196): Bestand in Stephansfeld bei Beginn 
des Berichtsjahres 900 (412 M. 488 Fr.). Zugang 260 (133 M. 117 Fr.). Ab¬ 
gang 225 (124 M. 101 Fr.). Bleibt Bestand 925 (421 M. 604 FY). Vom Zugang 
litten an einfacher Seelenstörung 176 (80 M. % FY), an paralytischer Seelcn- 
störung 22 (17 M. 6 Fr.), sonstigen organischen Psychosen 8 (6 M. 2 Fr.), Epi¬ 
lepsie und Hysterie 16 (11 M. 5 FY), Idiotie und Imbezillität 12 (6 M. 6 Fr.), 
Alkoholismus (Morfinismus) 11 M., nicht geisteskrank waren 5 (2 M. 3 FY). 
An Paralyse litten 16,5 % der aufgenommenen Männer, 4,3 % der F'rauen. Zur 
Beobachtung kamen 4 l’ntersuchungsgefangene. Entlassen als genesen 31 (11 M. 
20 Fr.), gebessert 86 (49 M. 37 Fr.), ungeheilt in die Familie 14 (8 M. 6 PT.), in 
andere Anstalten 23 (16 M. 7 Fr.), nach Ablauf der Beobachtung und nicht geistes¬ 
krank 4 (3 M. 1 PT.). Die Zahl der Genesenen beträgt 12,4 %, der Genesenen und 
Gebesserten 46,8 % aller Aufnahmen. In Familienpflege am Schluß des Jahres 6 
Kranke. Gestorben 67 Kranke = 5,8 % aller Verpflegten. Karzinom war 2 mal 
(1 M. 1 Fr.). Tuberkulose 10 mal (2 M. 8 PT.), organische Nervenleiden 23 mal 
(18 M. 5 PT.), davon 17 mal Paralyse, Todesursache. 2 Typhusfälle. 1 Bazillen¬ 
trägerin wurde ermittelt. Gesamtausgaben 620 698,24 M. 

Die Pflegeanstalt Hördt hatte einen Anfangsbestand von 363 (177 M. 
176 Fr.). Zugang 42 (32 M. 10 Fr.). Abgang 38 (22 M. 16 Fr.). Bleibt Bestand 
367 (187 M. 170 Fr.). Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 30. Seelen¬ 
störung mit Epilepsie und Hysterie 2, Imbezillität 6, Paralyse 1, alkoholischer Geistes¬ 
störung 3. An Dementia praecox litten vom Zugang 27. Vorbestraft von den Auf¬ 
genommenen 6 (6 M. 1 FY). Entlassen als geheilt 1 M., ungeheilt 2 (1 M. 1 Fr.). 
Gestorben 35 (20 M. 15 PT.). Tuberkulose war 14 mal (8 M. 6 Fr.), Dysenterie 

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368* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


1 mal (1 M.) Todesursache. Das Verwahrungshaus wurde im Rohbau fertiggestellt. 
Die Gesamtkosten für 1 Kranken beliefen sich auf 1,62 M. täglich. 

' Am 22. September 1910 wurde die Bezirks-Pflege-Anstalt Lörchingen 
eröffnet, am 14. Dezember 1910 wurde mit der Überführung von Kranken begonnen. 
Es sind bis zum Schlüsse des Berichtsjahres 1910 aufgenommen aus anderen An¬ 
stalten (Saargemünd, Gorze) 190 Kranke (129 M. 61 Fr.). Davon schieden aus 
durch Überführung 10 (6 M. 6 Fr.), durch Tod 6 (2 M. 3 Fr.). Bleibt Bestand 
am 1. April 1911:176 (123 M. 63 Fr.). Davon litten an Idiotismus und Imbezillität 
40 (32 M. 8 Fr.), an einfacher Seelenstörung 167 (106 M. 61 Fr.), an para¬ 
lytischen Formen 8 (6 M. 3 Fr.), an Epilepsie und Hysterie 21 (16 M. 6 Fr.), 
an Alkoholismus 6 (4 M. 1 Fr.). Alkoholmißbrauch war nachgewiesen bei 25 
(22 .M. 3 Fr.). Gestorben 6, davon an Tuberkulose 2. Gesamtsterblichkeit 3,2 % 
(1,6 % M. 4,9 % Fr.). Gesamtausgabe 65 466,98 M. Die Beköstigung kostete 
pro Kopf und Tag 0,696 M. * 

Niedernhart (172): Bestand am Beginn des Berichtsjahres 758 (354 M. 
404 Fr.). Zugang 353 (184 M. 169 Fr.). Abgang 321 (168 M. 163 Fr.). Bleibt 
Bestand 790 (370 M. 420 Fr.). Vom Zugang litten an Imbezillität, Idiotie 36 
(21 M. 14 Fr.), an einfacher Geistesstörung 189 (80 M. 109 Fr.), an Paralyse 49 
(32 M. 17 Fr.), an epilept. 28 (19 M. 9 Fr.), an hysterischer 15 (2 M. 
13 Fr.), an neurasthenischer Geistesstörung 14 (9 M. 6 fr.), an Geistesstörung 
mit Herderkrankung 2 Männer, Alkoholismus 17 (15 M. 2 Fr.), nicht geisteskrank 
4 (4 M.) Heredität bei 136 (64 M. 82 Fr.), Alkoholismus war 25 mal (23 M. 

2 Fr.), Puerperium 2 mal, Klimakterium 11 mal Krankheitsursache. Krankheits¬ 
dauer vor der Aufnahme bis zu 14 Tagen bei 27 (11 M. 16 Fr.), bis 1 Monat bei 
21 (8 M. 13 Fr.), bis 2 Monate bei 21 (9 M. 12 Fr.), bis 3 Monate bei 11 (3 M. 

8 Fr.), bis 6 Monate bei 33 (10 M. 23 Fr.), bis zu 1 Jahr bei 27 (23 M. 4 Fr.), 
bis zu 2 Jahien bei 37 (16 M. 21 Fr.), mehr als 2 Jahre bei 172 (100 M. 72 Fr.). 
Geheilt 31 (16 M. 16 Fr.), in andere Anstalten 13 (5 M. 8 Fr.), sonstiger Abgang 
199 (102 M. 97 Fr.). Gestorben 78 (46 M. 32 Fr.). Paralyse war 26 mal (17 M., 

9 Fr.), Tuberkulose 14 mal (8 M. 6 Fr.) Todesursache. Gesamtausgabe 528 100 
Kronen21 Heller. Gesamtkosten pro Kopf und Tag.l Krone 87 Heller. Bekösti¬ 
gung pro Kopf und Tag 95.43 Heller. 

Brünn (122): Bestand am Beginn des Berichtsjahres 699 (394 M. 306 Fr.). 
Zugang 671 (320 M. 261 Fr.), Abgang 683 (339 M. 244 Fr.). Bleibt Bestand 
687 (376 M. 312 Fr.). Vom Zugang litten an Idiotie und Imbezillität 36 (24 M. 
11 Fr.), an Paralyse 63 (50 M. 13 Fr.), an epileptischer 49 (31 M. 18 Fr.), an 
hysterischer 11 (11 Fr.), an neurasthenischer Geistesstörung 2 (2M.), an Geistes¬ 
störung mit Herderkrankung 3 (1 M. 2 Fr.), an Intoxikationspsychosen (exkL AI; 
koholismus) 100 (90 M. 10 Fr.), nicht geisteskrank 1 (1 M.). Geheilt entlassen 
29 (13 M. 16 Fr.), in andere Anstalten 182 (100 M. 82 Fr.), sonstiger Abgang 
231 (144 M. 87 Fr.). Gestorben 141 (82 M. 69 Fr.) = 11,10% des Gesamt- 
Bestandes, 24,18 % des Abgangs. Tuberkulose war 15 mal Todesursache. 

Kremsier (163): Bestand bei Beginn des Rechnungsjahres 998 (575 M. 
423 Fr.). Zugang 612 (352 M. 260 Fr.). Abgang 406 (240 M. 166 Fr.). Bleibt 


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Grütter, Anstaltswesen und Statistik- 


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Bestand 1206 (687 M. 518 Fr.). Vom Zugang litten An Paralyse 116 (94 K. 
21 Fr.), epileptischer Seclenstörung 172 (103 M. 69 Fr.), hysterischer Seelen¬ 
störung 18 (3 M. 15 Fr.), Alkoholismus 149 (129 M- 20 Fr.). Zur Beobachtung 

6 (4 M. 2 Fr.). Heredität bei 266 (182 M. 174 Fr.). Lues war 40 mal (36 M. 
4 Fr.), Rhachitis 20 mal (16 M. 4 Fr.), Kopfverletzungen 23 mal (17 M. 6 Fr.), 
Alkoholmißbrauch 111 mal (93 M. 18 Fr.) Krankheitsursache. Geheilt 120 (88 M. 

32 Fr.) = 7,46 % des Gesamtbestandes und 19,20 % des Zuganges. Die Mehrzahl 
der geheilt Entlassenen (47) wurde zwischen 1—3 Monaten in der Anstalt behandelt. 
Gestorben 169 (96 M. 73 Fr.) = 41,72 % des Gesamtabganges. Lungentuber¬ 
kulose war 60 mal (41 M. 9 Fr.), Marasmus senilis 30 mal (16 M. 16 Fr.) Todes¬ 
ursache. 5 Typhusfälle, zum größten Teil von außen eingeschleppt. Es sind jetzt 
sämtliche 21 Krankenpavillons mit 38 selbständigen Abteilungen (22 für Männer, 
16 für Frauen) belegt. 

Feldhof (136): Gesamtbestand bei Beginn des Berichtsjahres 1633 
(803 M. 830 Fr.), davon in der Zentrale Feldhof 1281 (692 M. 689 Fr.), in 
den Filialen Lankowitz 137 Fr., Kainbach 207 M., Hartberg 8 
(4 M. 4 Fr.). Zugang 809 (409 M. 400 Fr.). Abgang 749 (391 M. 35S Fr.). 
Bleibt Bestand 1693 (821 M. 872 Fr.), und zwar F e 1 d h o f 1332 (608 M. 
724 Fr.), in Lankowitz 144 Fr., in K a i n b a ch 210 M., in H a r t b e r g. 

7 (3 M. 4 Fr.). Geheilt 95 (39 M. 66 Fr.) = 12,68 % des Abganges. Gestorben 
243 (129 M. 114 Fr.). In der Zentrale waren Tuberkulose 46 mal (19 M. 27 Fr.), 
Marasmus paralyticus 20 mal (13 M. 7 Fr.), Meningitis chronica 12 mal (11 M. 
1 Fr.), Atrophia cerebri 16 mal (8 M. 8 Fr.), in den Filialen Tuberkulose 18 mal 
(9 M. 9 Fr.), Suicid 1 mal Todesursache. Erysipel bei 18 Kranken; Trachom¬ 
kranke am Ende des Berichtsjahres 12 (9 M. 3 Fr.). Gesamtausgabe: 1047 806 
Kronen 30 Heller, pro Kopf und Tag 2 Kr. 19 Heller. 

In der Landes-Irren-Siechenanstalt Schwanberg waren bei Beginn des 
Berichtsjahres 206 Kranke (103 M. 102 Fr.). Zugang 26 (7 M. 18 Fr.), Abgang 
26 (6 M. 20 Fr.). Bleibt Bestand 204 (104 M. 100 Fr.). Gestorben 22. Tuber¬ 
kulose war 7 mal Todesursache. 

Das Irrenwesen Ungarns (204) hat im Berichtsjahre keinerlei neue Er¬ 
gebnisse zu verzeichnen. Weder die Zahl noch die Organisation und Verwaltung 
der bestehenden Anstalten und Institutionen haben erwähnenswerte Veränderungen 
erfahren. Gesamtbestand in den 4 Anstalten Budapest (Lipotmczö, Augyalföld), 
Nagyszeben. Nagykällö am Anfang des Berichtsjahres 2294 (1334 M. 960 Fr.). 
Zugang 1420 (907 M. 613 Fr.). Abgang 1383 (887 M. 496 Fr.). Bleibt Bestand 
2331 (1354 M. 977 Fr.). Vom Zugang litten an Paralyse 395 (322 M. 73 Fr.), 
an epileptischer, hysterischer Geistesstörung 132 (86 M. 46 Fr.), an alkoholischer 
Geistesstörung 127 (117 M. 10 Fr.), an Imbezillität und Idiotie 126 (88 M. 38 Fr.). 
Zur Beobachtung 17 (9 M. 8 Fr.). Heredität bei 490 (296 M. 194 Fr.). Sonstige 
Krankheitsursachen: Entwicklungsfehler und angeborene Anlage 187 mal (121 M. 
66 Fr.), Schwangerschaft und Puerperium 17 mal, Klimakterium 55, Senium 65 
(9 M. 46 Fr.), Syphilis 199 mal (192 M. 7 Fr.), AJkoholismus 393 mal (360 M. 

33 Fr.). Nicht geisteskrank 11 (7 M. 4 Fr.). Geheilt 157 (96 M. 61 Fr.), ge- 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


bessert 437 (296 M. 142 Fr.), ungeheilt 397 (216 M. 181 Fr.). Gestorben 375 
(271 M. 104 Fr.). Paralyse war 10 mal (6 M. 4 Fr.), Erschöpfung des Nerven¬ 
systems 231 mal (192 M. 39 Fr.), Tuberkulose 21 mal (16 M. 6 Fr.) Todesursache. 
Summe sämtlicher Ausgaben 1821616 Kr., Ausgabe, pro Kopf und Tag 2,1849 Kr. 
In den übrigen größeren, zum Teil nicht staatlichen Krariken-Anstalten betrug der 
Gesamtbestand an Geisteskranken im Anfang des Berichtsjahres 6863 (3212 M. 
2661 Fr.). Zugang 4829 (2972 M. 1867 Fr.). Abgang 4636 (2810 M. 1726 Fr.). 
Bleibt Bestand 6166 (3374 M. 2782 Fr.). Vom Zugang litten an Paralyse 849 
(686 M. 164 Fr.), an Alkoholismus 819 (616 M. 204 Fr.), an Imbezillität und 
Idiotie 306 (192 M. 114 Fr.), zur Beobachtung 143 (91 M. 62 Fr.). Geheilt 661 
(364 M. 197 Fr.), gebessert 2019 (1182 M. 837 Fr.), ungeheilt 671 (418 M. 253 
Fr.). Nicht geisteskrank 69 (44 M. 16 Fr.). Gestorben 1226 (802 M. 424 Fr.). 
Der Bericht enthält außerdem noch Zusammenstellungen über die Familienpflege 
einzelner Anstalten sowie von Krankenziffem einiger kleineren, zum Teil privater 
Anstalten. In Familienpflege gegeben waren am Schlüsse des Berichtsjahres vom 
allgemeinen Krankenhause zu Diesösceutmärtou 603 Kranke (336 M. 267 Fr.). 

B u r g h ö 1 z 1 i (125): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 374 (186 M. 
188 Fr.). Zugang 606 (288 M. 217 Fr.). Abgang 477 (275 M. 202 Fr.). Bleibt 
Bestand 402 (199 M. 203 Fr.). Vom Zugang waren sogenannte frische Aufnahmen 
413 (234 M. 179 Fr.), von ihnen litten an angeborenen Psychosen 21 (9 M. 12 Fr.), 
an konstitutionellen 20 (9 M. 11 Fr.), an erworbenen idiopathischen Psychosen 
182 (84 M. 98 Fr.) — darunter 16 (6 M. 9 Fr.) an manisch-depressiven Formen, 
172 (77 M. 95 Fr.) an den verschiedenen Formen der Dementia praecox — an 
organischen Störungen 66 (47 M. 19 Fr.), darunter 20 (17 M. 3 Fr.) an Para¬ 
lyse, an epileptischen Störungen 15 (6 M. 9 Fr.), und endlich an Intoxikations¬ 
psychosen 90 (73 M. 17 Fr.), darunter Alkoholismus chron. 46 (36 M. 11 Fr.) 
und Delirium tremens 24 (24 M.). Nicht geisteskrank waren 9 (7 M. 2 Fr.), 
davon 5 zur Beobachtung. Vom Abgang geheilt 32 (27 M. 5 Fr.), gebessert 191 
(112 M. 79 Fr.), ungebessert 199 (99 M. 100 Fr.), gestorben 46 (30 M. 16 Fr.). 
Tuberkulose, Typhus abdom. und Suicid waren je lmal Todesursache. Regel¬ 
mäßig oder teilweise beschäftigt vom Schlußbestand 73 % der Männer und 88,7 % 
der Frauen. „Bettgurt“ bei 3 Kranken, die Maillotjacke bei 1 Manne. Zu 
einer großen Kalamität werden die Verbrecher, die die besseren Elemente 
verderben. 

Waldau (206): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 661 (322 M. 
339 Fr.). Zugang 144 (65 M. 79 Fi.). Abgang 136 (64 M. 72 Fr.). Bleibt 
Bestand 669 (323 M. 346 Fr.). Vom Zugang litten an angeborenen Störungen 6 
(4 M. 2 Fr.), an konstitutionellen 7 (1 M. 6 Fr.), erworbenen einfachen 89 (35 M. 
64 Fr.), an paralytischen, senilen, organischen Störungen 24 (10 M. 14 Fr.), an 
Epilepsie 4 (2 M. 2 Fr.), an Intoxikationspsychosen 14 (13 M. 1 Fr.). Zur Begut¬ 
achtung 7 Untersuchungsgefangene. Entlassen genesen 18 (7 M. 11 Fr.) = 13,24 ° 0 
der Entlassungen und 2,24 % des Gesamtbestandes, gebessert 46 (21 M. 25 Fr.), 
ungebessert 26 (16 M. 10 Fr.), gestorben 47 (21 M. 26 Fr.).= 34,66% der Ent¬ 
lassungen, 6,86% des Gesamtbestandes. Tuberkulose war 9 mal (2 M. 7 Fr.), 


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Grütter, Anstaltswesen und Statistik. 


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Typhus abdom. 1 mal (1 M.), Ertrinken 1 mal (1 M.), Karzinom 3 mal (3 Fr.) 
Todesursache. 

4 Typhuserkrankungen bei Wärterinnen, die sich zum Teil an einer Kranken 
(Bazillenträgerin) infiziert hatten. 1 Kranker starb an Typhus. Große Platznot. 

Münsingen (206): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 793 (376 M. 
417 Fr.). Zugang 128 (74 M. 64 Fr.). Abgang 114 (61 M. 63 Fr.). Bleibt 
Bestand 807 (389 M. 418 Fr.). Vom Zugang litten an angeborenen Störungen 6 
(4 M. 1 Fr.), an konstitutionellen 27 (17 M. 10 Fr.), an erworbenen einfachen 
68 (32 M. 36 Fr.), an organischen 10 (9 M. 1 Fr.), an epileptischen 5 (2 M. 3 Fr.), 
an alkoholischen Störungen 6 (4 M. 2 Fr.). Nicht geisteskrank 7. Heredität 
bei 67 (31 M. 26 Fr.) = 46 % (42 M. 48 Fr.) der Aufgenommenen. In Familien¬ 
pflege am Jahresschluß 37 (13 M. 24 Fr.). Entlassen genesen oder wesentlich 
gebessert 47 (19 M. 28 Fr.). Gestorben 22 (19 M. 3 Fr.). Lungentuberkulose 
war 3 mal (3 M.), Typhus 1 mal (1 Fr.), Paralyse 3 mal (3 Fr.) Todesursache. 

Bellelay (206): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 321 (134 M. 
187 Fr.). Zugang 24 (14 M. 10 Fr.). Abgang 20 (14 M. 6 Fr.). Bleibt Bestand 
326 (134 M. 191 Fr.). Vom Zugang litten an angeborenen Stöningen 10 (7 M. 
3 Fr.), an konstitutionellen 6 (3 M. 3 Fr.), an erworbenen 4 (1 M. 3 Fr.), an 
organischen 2(1 M. 1 Fr.), an epileptischen Störungen 2 (2 M.). Entlassen geheilt 

1 (1 Fr.), gebessert 1 (1 M.), ungebessert 3 (1 M. 2 Fr.), nicht geisteskrank 1 
(IM.). Gestorben 14 (11 M. 3 Fr.) = 4,06 %'der Verpflegten. Tuberkulose war 
6 mal (4 M. 2 Fr.) Todesursache. 

Friedmatt (138): Bestand am Anfang des Berichtsjahres 284 (138 M. 
146 Fr.). Zugang 227 (124 M. 103 Fr.). Abgang 196 (101 M. 96 Fr.). Ge¬ 
storben 30 (18 M. 12 Fr.). Bleibt Bestand 286 (143 M. 142 Fr.). Vom Zugang litten 
an angeborenen Psychosen 7 (4 M. 3 Fr.), an einfachen Formen 99 (36 M. 63 Fr.), 
an organischen 4 (2 M. 2 Fr.), an konstitutionellen 13 (7 M. 6 Fr.), an Epilepsie 

9 (6 M. 3 Fr.), an paralytischen 17 (12 M. 6 Fr.), an alkoholischen Formen 48 
(44 M. 4 Fr.). Nicht geisteskrank 6 (6 M. 1 Fr.). Heredität bei 86 (39 M. 
46 Fr.). Krankheitsdauer vor der Aufnahme bei den sogenannten frischen Auf¬ 
nahmen bis 1 Monat bei 63 (36 M. 27 Fr.), 2—3 Monate bei 15 (7 M. 8 Fr.), 
4—6 Monate bei 9 (6 M. 4 Fr.). 7—12 Monate bei 7 (2 M. 6 Fr.), 1—2 Jahre bei 
12 (6 M. 6 Fr.), 3—6 Jahre bei 6 (2 M. 3 Fr.), über 6 Jahre bei 20 (9 M. 11 Fr.), 
unbekannt bei 60 (32 M. 18 Fr.). Entlassen geheilt 37 (21 M. 16 Fr.), gebessert 
66 (26 M. 30 Fr.), ungebessert 98 (50 M. 48 Fr.). 

Rosegg (183): Bestand am Beginn des Berichtsjahres 349 (194 M. 155 
Fr.). Zugang 31 (14 M. 17 Fr.). Abgang 42 (23 M. 19 Fr.). Bleibt Bestand 
338 (186 M. 163 Fr.). Vom Zugang litten an angeborener Geistesstörung 4 (2 M. 

2 Fr.), an erworbener einfacher 14 (4 M. 10 Fr.), an epileptischer 4 (2 M. 2 Ir.), 
an paralytischer 3 (3 M.), an seniler 5 (2 M. 3 Fr.), an alkoholischer Geistes¬ 
störung 1 (1 M.). Zur Beobachtung 7 (4 M. 3 Fr.). Heredität bei 18 (8 M. 

10 Fr.). Krankheitsdauer vor der Aufnahme bis 4 Wochen bei 2 (1 M. 1 Fr.), 
2—3 Monate bei 1 (1 Fr.), 4—6 Monate bei 1 (1 Fr.), 1—2 Jahre bei 7 (2 M. 
5 Fr.). 3—6 Jahre bei 3 (1 M. 2 Fr.), über 5 Jahre bei 10 (5 M. 5 Fr.). Ent- 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


lassen geheilt 7 (3 M. 4 Fr.), gebessert 10 (6 M. 5 Fr.), ungeheilt 6(2 M. 3 Fr.), 
gestorben 20 (13 M. 7 Fr.). Lungentuberkulose war 3 mal (2 M. 1 Fr.), Karzi- 
\ nom 1 mal (1 M.) Todesursache. Starke Uberfüllung, Neubauten, besonders für 
die Aufnahmeabteilung, sind dringend erforderlich. 

Sonnenhalde (194): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 46 Fr. 
Zugang 112. Abgang 130. Bleibt Bestand 34. Vom Abgang litten an allgemeiner 
Psychopathie 11, an manisch-depressiven Formen 61, an Dementia praecox 26, 
Paranoia 6, seniler Demenz 4, epileptischen Formen 3, Intoxikations- und Infek¬ 
tionspsychosen je 3. Genesen 36, gebessert 63, ungebessert 26. Gestorben 6. 

W il (210): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres: 783 (386 M. 397 Fr.). 
Zugang 347 (186 M. 161 Fr.). Abgang 390 (219 M. 171 Fi.). Bleibt Bestand 
740 (353 M. 387 Fr.). Vom Zugang litten an angeborenen Störungen 26 (16 M. 
11 Fr.), an konstitutionellen 18 (9 M. 9 Fr.), einfachen erworbenen 146 (62 M. 
84 Fr.), an Störungen der organischen (senilen, paralytischen) Gruppe 63 (37 M. 
26 Fr.), Epilepsie 17 (9 M. 8 Fr.), Intoxikationspsychosen 24 (23 M. 1 Fr.). 
Heredität bei 57 % M. und 60 % Fr. Alkoholismus war bei 39 (38 M. 1 Fr.), 
Lues bei 8 (7 M. 1 Fr.), Unfall bei 6 (6 MI 1 Fr.), Kopftrauma bei 2 (2 M.), 
Puerperium und Klimakterium bei je 1 Fr., Haft bei 3 (2 M. 1 Fr.) Krankheits¬ 
ursache. Geheilt 36 (24 M. 12 Fr.), gebessert 142 (80 M. 62 Fr.), ungebessert 74 
(40 M. 34 Fr.). Gestorben 137 (74 M. 63 Fr.) = 11,8 % der Verpflegten, von 
den Geisteskranken starben 95 (68 M. 37 Fr.) = 10 % des Gesamtbestandes der 
Geisteskranken. 53 (36 M. 17 Fr.) der Todesfälle fallen auf die Gruppe der 
organischen Erkrankungen. 10% der aufgenommenen Männer waren mit dem 
Strafgesetz in Konflikt gekommen, 20 waren schon bei Begehung der Tat geistes¬ 
krank, 2 noch nicht. Bei den Männern regelmäßig beschäftigt 83 % des Bestandes, 
durchschnittlich zu Bett 7,3 %, im Dauerbade 1,6 %, isoliert 1,5 %. Bei den 
Frauen beschäftigt 64 %, durchschnittlich zu Bett 8,71 %, im Dauerbad 4,1 %, 
isoliert 1,7 % des Bestandes. 1 Krankentag kostet 1 Fr. 88 Cts. 

Münsterlingen (169): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 401 
(166 M. 235 Fr.). Zugang 132 (63 M. 79 Fr.). Abgang 122 (49 M. 73 Fr.). 
Bleibt Bestand 411 (170 M. 241 Fr.). Vom Zugang litten an angeborenen Störun¬ 
gen 2 (1 M. 1 Fr.), an konstitutionellen Psychosen 11 (5 M. 6 Fr.), an erworbenen 
Psychosen 87 (29 M. 58 Fr.) manisch-depressivem Irresein 17 (6 M. 12 Fr.), 
Dementia praecox 62 (19 M. 33 Fr.), Paranoia 1 (1 M.), Amentia 2 (2 Fr.), an 
organischen Psychosen 13 (9 M. 4 Fr.), Epilepsie 5 (2 M. 3 Fr.), Intoxikations¬ 
psychosen 14 (7 M. 7 Fr.), nicht geisteskrank 1 (1 Fr.). Geheilt 18 (6 M. 12 Fr.), 
gebessert 38 (15 M. 23 Fr.), ungebessert 38 (20 M. 18 Fr.). Gestorben 27 (8 M 
19 Fr.) = 5,06 % der Gesamtzahl der Verpflegten. Lungentuberkulose war 3 mal 
(3 Fr.). Paralyse 2 mal (1 M. 1 Fr.), Karzinom bei 3 Fr. Todesursache. Krank¬ 
heitsdauer vor der Aufnahme bis 3 Monate bei 37 (12 M. 25 Fr.), bis 6 Monate 
bei 8 Fr., bis 1 Jahr bei 10 (4 M. 6 Fr.), bis 2 Jahre bei 8 (4 M. 4 Fr.), bis 3 Jahre 
bei 6 (3 M. 3 Fr.), bis 4 Jahre bei 6 (2 M. 3 Fr.), bis 6 Jahre bei 2 (1 M. 1 Fr.), 
über 5 Jahre bei 36 (17 M. 19 Fi.), angeboren bei 9 (6 M. 3 Fr.). Die Uber- 
füllung besonders der Männerseite ist so stark, daß seit 1 Jahr frische männli che 


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G riitte r, Anstaltswesen und Statistik. 


373* 


Aufnahmen nur ausnahmsweise Platz finden können. Bei einer operierten Kranken 
kam zu ihrem eigenen Schutz für 3 Wochen die Zwangsjacke in Anwendung. Dauer¬ 
bäder, auch für die Nacht, haben sich bewährt. 

St. Pirminsberg (198): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 239 
(121 M. 118 Fr.), Zugang 89 (60 M. 39 Fr.). Abgang 74 (46 M. 29 Fr.). Bleibt 
Bestand 264 (126 M. 128 Fr.). Vom Zugang litten an angeborenen Psychosen 
3 (1 M. 2 Fr.), an konstitutionellen 4 (2 M. 2 Fr.), an erworbenen einfachen 68 
(34 M. 34 Fr.) — davon an manisch-depressivem Irresein 19 (8 M. 11 Fr.), an 
Dementia praecox 42 (23 M. 19 Fr.) — an Epilepsie 3 (3 M.), an organischen 
Psychosen 6 (6 M.), darunter Paralyse 2, Intoxikationspsychosen 6 (6 M. 1 Fr.). 
Heredität bei 74 % der erstmals Aufgenommenen. Krankheitsdauer vor der Auf¬ 
nahme bis 1 Monat bei 22 (13 M 9 Fr.), 1—3 Monate bei 21 (9 M. 12 Fr.), 3—6 
Monate bei 9 (8 M. 1 Fr.), 6—12 Monate bei 4 (1 M. 3 Fr.), 1—2 Jahre bei 4 
(1 M. 3 Fr.), 2—5 Jahre bei 7 (4 M. 3 Fr.), über 5 Jahre bei 8 (6 M. 2 Fr.). 
Genesen 22 (9 M. 13 Fr.), gebessert 32 (21 M. 11 Fr.), ungebessert 13 (10 M. 
3 Fr.). Gestorben 7 (5 M. 2 Fr.) = 9 % der Abgegangenen und 2 % der Ver¬ 
pflegten. Das Verhältnis der Genesenen zum Gesamtabgang ist 30 %, zur Gesamt¬ 
zahl der Verpflegten 6,7 %. Die durchschnittliche Behandlungsdauer der Ge¬ 
nesenen beläuft sich auf 6 Monate. Tuberkulose war 1 mal Todesursache. Der 
durchschnittliche Anstaltsaufenthalt der Gestorbenen betrug 6 y, Jah>e. Zwangs¬ 
jacke vorübergehend bei 1 Patienten. Dauerbäder bewähren sich. Umbau der 
alten Männerabteilung zu einer neuen Wachabteilung. 

Königsfelden (150): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 776 
(364 M. 422 Fr.). Zugang 271 (137 M. 134 Fr.). Abgang 230 (126 M. 104 hr.). 
Bleibt Bestand 817 (365 M. 462 Fr.). Vom Zugang litten an angeborenen Störun¬ 
gen 9 (7 M. 2 Fr.), konstitutionellen und originären Formen 9 (3 M. 6 Fr.), ein¬ 
fachen erworbenen Störungen 148 (66 M. 92 Fr.), organischen Störungen 36 
(19 M. 16 Fr.), epileptischen Störungen 21 (10 M. 11 Fr.), Intoxikationspsy¬ 
chosen 45 (40 M. 5 Fr.). Nicht geisteskrank 4 (2 M. 2 Fr.). An manisch-depres¬ 
sivem Irresein litten 29 (9 M. 20 Fr.), an Dementia praecox 119 (47 M. 72 Fr.). 
Krankheitsdauer vor der Aufnahme bei 32 % 1—3 Monate, bei 6% 4—6 Monate, 
bei 6 % 7—12 Monate, bei 27% 1—5 Jahre und bei 26 % über 6 Jahre. Ungefähr 
ein Diittel sämtlicher Männeraufnahmen waren Alkoholisten. Heredität bei 64 %. 
Geheilt 73, gebessert 85, unverändert 40. Gestorben 61, davon an Tuberkulose 7 
(3 M. 4 Fr.), an Karzinose und Sarkomatose 6 (3 M. 2 Fr.), an Suicid 2 (2 M.). 
1 Typhusbazillenträgerin starb an Lungentuberkulose. Beschäftigt bei den Männern 
31, 6%, bei den Frauen 34, 7 %. 

Waldhaus (206): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 299 (163 M. 
136 Fr.). Zugang 129 (75 M. 64 Fr.). Abgang 120 (70 M. 60 Fr.). Bleibt 
Bestand 308 (168 M. 140 Fr.). Vom Zugang litten an angeborenen Störungen 10 
(7 M. 3 Fr.), an manisch-depressivem Irresein 11 (5 M. 6 Fr.), an Katatonie 7 
(4 M. 3 hr.), Hebephrenie 6 (3 M. 3 Fr.), Dementia paranoides 22 (10 M. 12J< 'y* 
an Paralyse 2 (2 M.), an Intoxikationspsychosen 13 (12 M. 1 Fr.). Nich^r" 
krank 3 (2 M. 1 Fr.). Genesen 20 (11*M. 9 Fr.), gebessert 42 (25 ^ 


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374* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 


Genesen 17 % des Abganges, 4,7 % der Verpflegten. Tuberkulose war 6 mal (3 M. 
3 Fr.), Karzinom 3 mal (3 Fr.) Todesursache. 

Zürich (213): Anfangsbestand 234 (133 M. 101 Fr.). Zugang 117 (79 M. 
38 Fr.). Abgang 111 (72 M. 39 Fr.). Bleibt Bestand 240 (140 M. 100 Fr.). 
Genesen 15 (8 M. 7 Fr.), gebessert 22 (13 M. 9 Fi.), ungebessert 10 (6 M. 6 Fr.). 
Gestorben 12 (1 M. 11 Fr.). Zur Beobachtung 62 (45 M. 7 Fr.). Heredität bei 
48 von 6ö zum ersten Male aufgenommenen Epileptikern, bei 23 (= 36,3 %) Trunk¬ 
sucht der Eltern, bei 7 (= 10,7 %) Epilepsie und bei 18 (=- 27,6 %) Geistes- oder 
Nervenkrankheiten. Gute Erfolge bei salzarmer Diät. 

Ellikon (135): Bestand am 1. Januar 1910 34 Pfleglinge, der Zugang 
betrug 60, der Abgang 59, bleibt 36. Es litten an chronischem Alkoholismus 36, 
mit Delirium tremens 13, mit Psychopathie 3, mit Imbezillität 5, mit moralischem 
Defekt und mit Verdacht auf Paralyse je 1, an einfacher Trunksucht 1, an Trunk¬ 
sucht mit Psychopathie 8, mit Tabes 1, an periodischer Trunksucht 1. Zahl der 
Verpflegungstage 12 771. Von den 60, die ihre Kurzeit ganz durchgemacht haben, 
sind abstinent geblieben 28, rückfällig 12, unsicher 10. 

Die Livländische Landes-Heil- nnd Pflege-Anstalt 
in Stackein (195) wurde am 20. Februar 1907 eröffnet. Krankenbestand am 
1. Januar 1908: 119 Kranke (55 M. 64 Fr.). Bestand am 1. Januar 1910: 178 
(97 M. 81 Fr.). Zugang 188 (116 M. 73 Fr.). Abgang 156 (97 M. 69 Fr.). 
Bleibt Bestand 210 (115 M. 95 Fr.) Die Krankheitsdauer vom Zugang 1910 
betrug bis zu 1 Monat bei 29 (18 M. 11 Fr.), bis zu 3 Monaten bei 28 (21 M. 7 Fr.), 
bis zu 6 Monaten bei 21 (12 M. 9 Fr.), bis zu 1 Jahre bei 26 (16 M. 10 Fr.), bis 
zu 5 Jahren bei 44 (24 M. 20 Fr.), bis zu 10 Jahren bei 12 (6 M. 6 Fr.), über 10 
Jahre bei 21 (13 M. 8 Fr.), von Jugend auf bei 4 (4 M.). Es litten an einfacher 
Seelenstörung 140 (76 M. 64 Fr.), organischer Seelenstörung 16 (11 M. 4 Fr.). 
Seelenstörung mit Epilepsie 6 (4 M. 1 Fi.), alkoholischer Seelenstörung 9 (9 M.), 
Imbezillität und Idiotie 3 (3 M.), nicht geisteskrank waren 16 (12 M. 4 Fr.). 

Entlassen als genesen 25 (17 M. 8 Fr.), gebessert 61 (41 M. 20 Fr.), ungeheilt 

48 (27 M. 21 Fr.). Gestorben 22 (12 M. 10 Fr.). Tuberkulose war 2 mal 
(2 Fr.) Todesursache. Große Schwierigkeiten, besonders bald nach Eröffnung der 
Anstalt, in der Beschaffung von Pflegepersonal, weiter durch das gehäufte Vor¬ 
kommen von Schwamm in den Krankenhäusern. 

Asile de Cery (126): Bestand am 31. Dezember 1909: 523 (263 M. 
260 Fr.), aufgenommen 343 (197 M. 146 Fr.), entlassen 363 (215 M. 138 Fr.), 
und zwar als geheilt 60 (37 M. 23 Fr.), gebessert 81 (68 M. 23 Fr.), ungeheilt 139 
(84 M. 66 Fr.), gestorben 74 (37 M. 37 Fr.). Gesamtzahl der verpflegten Kran¬ 
ken 866 (460 M. 406 Fr.). Bestand am 31. Dezember 1910: 513 (246 M. 268 Fr.). 

Ganter. 

Maison de S a n 16 de PrGfargier (177): Bestand am 31. De¬ 
zember 1909: 145 (63 M. 82 Fr.), aufgenommen 105 (53 M. 62 Fr.), entlassen 

107 (62 M. 55 Fr.), und zwar als geheilt 34 (19 M. 15 Fr.), gebessert 30 (17 M. 
13 Fr.), ungeheilt 32 (14 M. 18 Fr.), gestorben 11 (2 M. 9 Fr.). Gesamtzahl der 
Verpflegten 250 (116 M. 134 Fr.). Bestand am 31. Dezember 1910: 143 (64 M. 
79 Fr.). Ganter. 


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Grütter, Anstaltswesen and Statistik. 


375* 


Schnurmans Stskhoven (190): Krankenbewegung in den niederländischen 
Irrenanstalten: Bestand am 1. Januar 1910: 11746 (5931 M. 6815 Fr.), davon 
in Pflegerfamilien 148 (60 M. 88 Fr.). Aufgenommen 3630 (1889 M. 

1741 Bt.), wovon aus andern Anstalten 870 (625 M. 346 B'r.). Von den Aufnahmen 
kamen 123 (110 M. 13 Fr.) aus Gefangenenanstalten. Entlassen wurden als 
nicht geisteskrank 16 (13 M. 3 Fr.), als geheilt 862 (395 M. 467 Fr.), als ungeheilt 
293 (146 M. 147 B'r.), in andere Anstalten übergeführt 869 (526 M. 334 Fr.), 
gestorben 964 (636 M. 428 Fr.). Bestand am 31. Dezember 1910:12 392 (6206 M. 
6187 Fr.). Ganter. 

Meerenberg (167): Bestand am 1. Januar 1910:1340 (666 M. 674 Fr.), 
aufgenommen 261 (116 M. 146 Fr.), entlassen 235 (115 M. 120 Fr.), und zwar 
als geheilt 68 (25 M. 43 Fr.), gebessert 30 (13 M. 17 Br.), ungeheilt 28 (11 M. 
17 Fr.), gestorben 109 (66 M. 43 Fr.). Bestand am 31. Dezember 1910: 1366 
(667 M. 699 Fr.). 6 Kranke, die entflohen waren, wurden wieder zurückgebracht. 

Ganter. 

Siena (143): Bestand am 31. Dezember 1907: 1172 (627 M. 646 Fr.), 
aufgenommen 420 (259 M. 161 Fr.), entlassen 251 (162 M. 99 Fr.), gestorben 
203 (129 M. 74 Fr.), Bestand am 31. Dezember 1908: 1139 (606 M. 633 Fr.). 
Aufgenommen 384 (239 M. 146 Fr.), entlassen 206 (140 M. 66 Br.), gestorben 
182 (103 M. 79 Fr.), Bestand am 31. Dezember 1909: 1136 (602 M. 633 Fr.). 
Aufgenommen 386 (186 M. 199 Fr.), entlassen 321 (183 M. 138 B'r.), gestorben 
112 (59 M. 63 Fr.), Bestand am 31. Dezember 1910: 1087 (646 M. 641 Fr.). 
Verhältnis der Geheilten, Gebesserten, Versetzten zur Gesamtzahl: 1908: 16,7%, 
1909: 13,6%, 1910: 21,1%. Verhältnis der Gestorbenen zur Gesamtzahl: 1908: 
12,7 %, 1911:11,9 %, 1910: 7,3 %. Verhältnis der in dem Triennium Geheilten und 
Gebesserten zur Aufnahmezahl: 42,3% (45,0% M. 38,4% Fr.). Die Tuberku- 
losesterblichkeit ist infolge hygienischer Verbesserungen fortdauernd im Abnehmen. 

Ganter. 

Royal hospital, Perth (176): Bestand am 1. Januar 1910: 130 
(64 M. 66 Fr.), aufgenommen 27 (10 M. 17 Fr.), Gesamtzahl der Verpflegten 167 
(74 M. 83 Fr.), entlassen 38 (13 M. 26 B'r.), und zwar als geheilt 13 (5 M. 8 Fr.), 
gebessert 14 (4 M. 10 Fr.), ungeheilt 2 (1 M. 1 Fr.), gestorben 9 (3 M. 6 B'r.). 
Bestand am 31. Dezember 1910: 119 (61 M. 68 B'r.). Im Verhältnis zu den Auf¬ 
nahmen wurden 41,94 % geheilt (30 % M. 47,62 % Fr.). Im Verhältnis zur 
Durchschnittszahl der Verpflegten starben 8,66 %. Ganter. 


Scotland (152): Zahl der Geisteskranken am 1. Januar 1911: 


Ort der Anstalt: 

M. 

B. 

S. 

M. 

F. 

S. 

M. 

F. 

S. 






Privatkranke 

Arme Kranke 

in 

Kgl. Anstalten 

1688 

1940 

3628 

861 

1041 

1902 

827 

899 

1726 

in 

Distriktsanstalten 5267 

6044 

10311 

117 

193 

310 

6160 

4861 

10001 

in 

Privatanstalten 

36 

64 

90 

36 

54 

90 

— 

— 

— 

in 

Gemeindeanstalter 

113 

89 

202 

— 

1 

1 

113 

88 

201 

in 

Armenhäusern 

417 

417 

834 

— 

— 

— 

417 

417 

834 

in 

Privatwohnungen 1277 

1717 

2994 

38 

78 

116 

1239 

1639 

2878 


Summe 

8798 

9261 

18069 

1062 

1367 

4219 

7746 

7894 

15640 


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Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 




m* 


Bericht über die psychiatrische LiteFä&ai !3ll- 


ln djer fttjvinzial- 
Irieiwuistalt zu 

Perth.. 49 

in den Aiist&Uea für 
Seiie^etöiaiügt». 839 


182 


m 


521 122 8,1 303 21? 2Ö3 fr 


'.Summ« 91% mi> 18636 1174 1448 2822 79Ö3 78® U'35t 

Im Ja bi« 1910 wurden aufgranmunm 506 (221 'Bl. 2&ö Fr./ Privat Kran*:- 
Fr*) arme Kranke, zusammen 3312 (liSÖS M. 1?07 Fr.t 
363- Kjanfee wurden in andere Anstalten Äbeigofttlirt. .308 Kranke traten Irvtv2% 
riß. Katbt^l^'riirdfiji 8077 (490 priyatkranke, 258? arme Kcattke^rmd «rar setnik 

anuc . Kranke. : un$eH«Ut •, H%. 3fti?,a*Sc&nke und 375 
artri«. mm " Kirben 163 Privatkrank« und 1181 Anco Kranke. 

. VariiHltiiis tter 

’• . $4ijfoi#i3bjai.•*» 

' Aufhnhriten 


% 


Yferlüütmiit dw 
Tttdrrsiriiif* zur 
Sahi der V«r- 
{üJegt nn rn 




,; i ? .'' : 

'; &. ; c 3 U; 

F. 

. 3 . 

in den Kgl. und Bistrikts-ilustalton . . 

31,0 

S? 7.6 

■■ 34,3 ' #•- 

IM 


in den 'PriHD'Aldlt&iiaia"»i i>‘.. » 

30,0 - 

: M$§ 

26 y ; . 8 '.T, 

lÄ-'i 

a 

in den 6 «m<indnat) 5 taitKn 

58.1 

46,4 . 

50 , 0 . i':; 4 ,4 



in den Arojerthausef/i _ ,, . 

\-'U 

$Ä ;5 

6.0 -l.t* 

5,1 

,iä; 


121 Kranke wurden berirjteu.bb, wny(iti 28 als gfeh<&K 2u$$j9K*;se tdfcÜiberi könnten. 
15,0 Krank« entwichen, wovon 16 rächt mettr zarnokkehrton 
y. 121 Unfälle fit$gneteh >sic3i4 weriin ii «ut t^riicfaem Aa«ra«g. Doran t er & 
S'.'ibsiniotdfatSe: ein Krankt**' Sprang sraai Fenster hinaus, ein eutwichi-yrr Krank, -• 
erscholl sich. In öS Philen handelte«! sieh um Pritftiuren und Luimbnnm. f 

. Dicy Unt erlmküng Ges* tesln unken erfordert* cUitai ^ekamiÄUfntthd w 

406286 £■ Der aride 'Krank« ^t*l tliarthsefettijetii*ch täglich 1#5. d. 

Der Abgang' dey'l^tig^ersnhds belief sich ayl 3178. wovon <^?rviwijlii! ‘ik* 

Angab^?, 

24 wurdttu wgge». schlechter Aaltiiitriüjig 11 ; 

entWhThrlL/,*’ 4/ >•’. y*.y; .f3nM«r, % ’ 

t) ä» yilVe ; FefiesyKantÄ (129)-.. Bestand aqi,30* HVpttHidwr 1908: LSfif 
( 7 'ib. M. 660 tv.;, : Ul ;^i, ft onu!»-n &08 $ää$ k v: ^ • :. 

p»)l:»84 * 1071 M. FJ3 Fr.). ,iUl;v, ; : )• '• - 

gekyiK!lÖ4.(&5 ; JL 49 Ff.).ge.bewert84ii6 Ai. ^Psvi, niferelreUt^O(8 AL 15* ty -., 
gv&rtrheu 199 (129 M. 70 Ke.) s '».tcht 5SL fto^Aitd ntn l.. 



2 •'•■•",, i, 1010: :3.04-%. (2,6? jja>f 3,48 % 6 lhy)yy|BUit)ts <5Uf (;i‘i t aiiU5ÄJ:* •■• • 




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(Jriitter, ^Asinii&vmßn: unfixStötictik:; 


377* 


Jtihtjt and BMI .(148);..\ Statistik. dr-t V'arM^ifefrt V*>lik.J4 nik für. 
^<>rv‘«ikrajtkhmen. tu 10 »UUrw» it'vudi«’» «lut FtiUUMk. 21 290 PaüeutftD 
llO'H*: !•.( lim Ft.). Bävvu y^tt ppn ab, •!» st? »icbt-iranli '*dtT 

aJibestimaubä/ tt&Ö ttp die$'38$• 

(8524 >1 976f '.1'fJÖU fäll* y!«ft : t isfcer^^i: ä/iH bt* t tferi^ rfT«» 

dvw Alateml?,, iumI twM Idüwtiin und . 701 , i.suV Xitirfjüka^l»>i»s- 

psvßh(»s<!D 24,’ DenifiKia pra(?B'*® f.lfX^ : JC G8 Fr,};'. : nin«jftch'*dtfprif.wjv.« J\v- 
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I«|äw : 1676 0%.M - Pix’t "t.'KwjVtt -’f^ nuc 1 Fall) 

1580 (£66 5f. ^ I'VjjvFiTifyss:* agu*«*182 .$i4.>J& UriJSk..istohfer Todi- 

külfis 58 (39 M, 29 Ff..), T1W138 

.17? Fbi. fViptero Tftr/vVoikTatikiiftif^ö jSywi i* 

fctdftn, 1072,' pmphtriöMa,*? L&tmp?»£m 1040.. .'tyujeSföir -3&> (jfti At. 

196 Ff,')'. roaliipi« : 3&*e«rt: 3Ji' v j»EUrraftkongwn d*« 

^«cfk-if/mark 5 . CM. tlsmm»'*- '•Täjsfcft 'Al. 47 r •.. Oaö^ rnln ?id< <0,: 

T'i.-iU!- *!>•! i»ji^£w)'öi K ;t.u[,ii'-iui;,)>uün dt- S.t-rvea *>:«*•<«;.• (Janfcr. 

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ri.'-l )' -M, Fr.Y l>.-;i3Ȋ im 81- $t!i>.-.n}hw -1000: J671 (707, 8,1. 

3*)$' fX i Öei */i); ^ «?$& So ^X) <iw .^Ufuiölitnfen war 4 m Alk oKt d 

;#p'V».f t£ »icfb 330 vn<01*d tmiUetvh &W geeilt 3)2 
1)77 31. gfe^vsw»)rl 61 (.34 M. 27 Fr.), .’ifi'J’ -.(83 •$7 jl.ifl?' ffy, >,'• 

. *#} eu.lwjolim 35 . v)52 5L 3 Ff ), ius KraukeolKtiift 

^;-^t^:^)^ : v^sk<»skvÄOk ö (4 $. 5 Fr.), 4(*f 6)i)»2^Wl.' 

dt.iJ 41 d*?r <’*# 1 !«ti‘rbwTdl -aMr 

.(fO .27 ■'*,. i-. 8 l X >'■': Vi>u dt-r» T".Mnfk'»( : dun.-fi ],<ing>mkrank*; 

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(67 51. 70 Fr.;. ^firwu-.K-r; ;* .U (,;tui.»tib( 84 (40 U •b l '.; '!'• v "t hält ; n.s 

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378 * Bericht über die psychiatrische Literatur 1911. 

\ 

An Unterstützungen sind im Berichtsjahr 33 233,77 M. ausgegeben, und zwar an 
Anstaltspfleglinge bei der Entlassung und nach der Entlassung, sowie an Angehörige 
von Kranken. 

Die Zahl der Mitglieder des Hilfsvereins für Geisteskranke 
in der Rheinprovinz (179) ist im Berichtsjahr auf 15 856 gestiegen. 
Die Ausgaben für Unterstützungen betrugen 24 898,99 M. Beschlossen wurde auf 
der Hauptversammlung die Errichtung einer Fürsorgestelle für Geisteskranke in 
Essen, die erste ihrer Art, wo die Kranken die Genesenen, die Gefährdeten und auch 
ihre Angehörigen sich Rat und Unterstützung holen können. Bericht über die 
4. Hauptversammlung zu Köln, Mitgliederverzeichnis. 


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Alphabetisches Inhaltsverzeichnis des Literatur¬ 
berichtes. 

(Die Zahlen mit einem Sternchen (*) bedeuten die Seiten des Literatur¬ 
berichtes, die Zahlen ohne Stern die Nummern der angeführten Veröffent¬ 
lichungen.) 


Abbot 156*. ' 

Abraham 189*. ; 

Abraham, K. 1*. j 

Abramowskv, 136* 234*. i 
Abramowskv, E. 1*. 

Ach 1*. 

Acker 1*. 

Adler. A. 189*. | 

Adler, 0. 189*. 
Ärztekammer Branden- : 

bürg 34*. 

Agostini 234*. 

Alexander, (i. 1*. 
Alexander. W. 189*. 

Allers 189*. 

D’Allones 1*. 

Alter 305* 316* 59. j 
Alter, W. 316* 161. 
Alschul 136*. 

Alvarez v Gomez-Salazar 
156*. ' 

Alvasi e Volpi-Ghirar- 1 
dini 156*. ' 

Alzheimer 260* 305*. 1 

Anderl 136*. 1 

Anschütz 1*. | 

Anton 260* 261*. ! 

Anton und v. Bramann I 
261*. 

Appel 234*. i 

Arango y de la Luz 58*. i 
Arsimoles 156*. i 

Aschaffenburg 26*. ! 

Ascher 62* 63*. | 

Assagioli 189*. 

Assmann 261*. 


1. Antorenregister. 

Ast 305*. 

Aswadurow 189*. 

Aub 189*. 

Auerbach 306*. j 

Austregesilo 234** i 

Autengruber 305*. 

Babcock 234*. 

Babcock und Tutting 
234*. j 

Babinski 189*. I 

Bach 318* 194. 

Bahrmann 136*. 

Bailev und Jelliffe 261*. | 
Bajenoff und Ossipoff 1*. : 
Baller 156*. 

Ballet 156*. ! 

Bdrany 261*. I 

Barasch 157*. 

Barb6 und Benoist 234*. 
Barb6 und Guichard 157*. 
Bardin 234*. 

Barnes 234*. 

Barnholt und Bentlev 1*. : 
Barr 136*. * J 

Barth 190*. 

Bauer 190* 234*. I 

Baugh 190*. I 

Bausenwein 234*. l 

Bayerthal 137*. I 

Beaussart 137* 234*. 
Beaussart, P. 157* 190*. 
von Bechterew 1* 137* 
190*. 

Becker, E. 190*. 

Becker, L. 63*. 


Becker, Th. 190*. 
Becker, W. 157*. 

Becker, W. H. 305*. 
Beelitz 318* 199. 

Begreis 157*. 

Behr 318* 195. 

Behrend 42*. 

Bell 42*. 

Belletrud et Froissard 
235* 306*. 

Bellini 190*. 

Benario 261*. 

Benning 317* 180. 
Benon, R. 157*. 261*. 
262*. 

Benon, M. R. 190*. 
Bentlev 2*. 

Benussi 2*. 

Berger, F. 191*. 

Berger, H. 262*. 
Bergmann 190*. 
Berkhahn 137*. 

Bernardi 137* 235*. 
Berndt 191*. 

Bernhardt 191* 262*. 
Bernheim 2* 191*. 
Bertelsen und Bisgaard 
262*. 

Bertschinger 157*. 

Berze 2*. 

Beschoren 27*. 

Betts 262*. 

Betz 2* 157*. 

Beyer 305*. 
v. Bialy 191*. 

Bianchi 191*. 


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Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 




380* 


Inhaltsverzeichnis. 


Bianchini 191*. - j 

Bing 262*. ! 

Birnbaum 2* 34* 42* ' 
157*. 

Bischof! 63*. 

Bisgaard 262*. 

Bleuler 157* 191*. I 
Bleuler und Freud 191*. : 
Bloch 34*. 

Blumenfeld 157*. ! 

Boas und Lind 262*. 
Bobertag 2*. 

’Boehnke 305*. j 

Bötticher 305*. I 

Boidard 158*. 

Boitard et Olivier 235*. 
v. Bökay 191*. 

Boldt 63*. 

Bolte 54* 158*. 

Bolten 63* 158*. 
Bonhoeffer 191* 235* 
262*. 

Bonhomme 158* 305*. 
Booth 192*. 

Borchers 262*. 

Bornstein 158* 262*. 
Boruttau 2*. 

Bossi 158* 192*. 

Bott 313* 116. I 

Boulenger 2*. J 

Bourilhct et Manceau 
192*. 

Brandt 262*. 

Bratz 192*. 

Brauchli 316* 169. 
Bregman 192*. < 
von Bremen 192*. 

Bresler 235* 305*. 

Briand et Brissot 158*. 1 
Briggs 306*. 

Bruch 63*. 

Brückner und Clemenz 
137*. 

Brümmer 319* 207. 
Brunzlow 235*. 

Buch 173*. 

Buchbinder 42*. 

Buckley 158*. 

Bührer 58*. 

Büttner 137*. 

Buettner 192*. 

Bullard 137*. 

Bumke 158* 192*. 
Bunnemann 192*. 

Busch 235*. 

Butler 192*. ; 


Buttenberg 314* 137. 
Butts 168*. 

Buvat 158*. 

Buyse 2*. 

Bychowski 192*. 

Capelle u. Bayer 193*. 
Capgras 158* 306*. 
Carras 158*. 

Cascella 159*. 

Cecikas 193*. 
Charogorodsky 262*. 
Charpentier et Jabouille 
193*. 

Chartier 193* 235*. 
Chaslin et d. Seglas 159*. 
Chatelain 2*. 

Chislett 137*. 

Chinaglia 2*. 

Chotzen 235*. 

Clark Goodell and Wash- 
bum 2*. 

Clarke 2*. 

Claude 193*. 

Claude et Lejoune 193*. 
Claude et Lövy-Valesi 
159*. 

Cohn, H. 263*. 

Cohn und Dieffenbacher 

2 *. 

Cole 263*. 

Colin 235*. 

Collins 2* 193*. 
Constantini 159*. 
Cornelius 193*. 

Cornu 306*. 

Couchoud 193*. 

Cramer 137* 315* 142. 
Cramer und Vogt 235*. 
Crasemann 64*. 

Crawford and Washbum 
3*. 

Crile 193*. 

Crothers 235*. 

Cullere 306*. 

Curschmann 235*. 
von Cyon 193*. 

Dabeistein 316* 170. 
Damaye 159* 193* 236* 
306*. 

Damaye et Desruelles 
159* 236*. 

Dardel 317* 177. 

Dauber 3*. 

Dausend 263*. 


Dautheville 159*. 
Davidenkow 159* 193*. 
Davenport and Weeks 
193*. 

Decroly 137*. 

DGjerine 194*. 

Dejerine et Gauckler 194*. 
Delage 3*. 

Delbrück 314* 134. 

Del Greco 42*. 

Delmas 160*. 

Delvaux et Logre 160*. 
Dembowski 263*. 
Deroubaix 42* 137*. 
Dessoir 3*. 
van Deventer 306*. 
Devine 160*. 

Devoux et Logre 3*. 
Dexler, Fröschl 3*. 

Dide 160*. 

Dieffenbach 3*. 

Dittmar 317* 185. 
Dluhosch 317* 173. 
Dobrick 306*. 

Dolair 306*. 

DoUe 3*. 

Donath 194* 236* 263*. 
Donlev 194*. 

Dornblüth 194* 236*. 
Dosai-Revesz 3*. 

Downey 3*. 

Drapes 306*. 

Drees 315* 140. 

Dreher 3*. 

Dreuw 194*. 

Drewry 306*. 

Dreyfus 160*. 

Dröder 160*. 

Dromard 160*. 

Dromard et Senges 160* 
Drozynski 3*. 

Dserzinskv 194*. 

Dubbers 313* 113. 
Dubois 194*. 

Dubuisson et Vigouroux 
27*. 

Ducoste 137* 194* 
Dumas 160*. 

Dumas et Delmas 160*. 
Dunlup 3*. 

Dupouy 160* 236*. 

Dupr6 et Delvaux 160*. 
Dupre et Favrius 161*. 
Dupre et Fouqu6 160*. 
Dupr6 et Gelma 160*. 
Duprd et Kahn 161*. 


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Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Inhaltsverzeichnis. 


381* 


Dupr6 et Logre 161. 
Dupr6 et Nathan 4*. 
Dupr6 et Tarrias 161* 
Dopuis 4*. 

Dutois 138* 

Ebbinghaus 4*. 

Ebstein 194*. 

Edinger, Vogt 194*. 
Ehmsen 236*. 

Eichhorst 263*. 

Eichler 138*. 

Einsler 236*. 
v. Eiseisberg 263*. 

Ellis 4* 194*. 

Ellison 4*. 

Elsenhans 4*. 

Emanuel 263*. 

Enge 263*. 

Engelen 63*. 

Engelhorn 194*. 
Eppelbaum 161*. 
Ermakow 161* 194* 195* 
Erben 63*. 

van Erp Taalman Kip 
54*. 

Erskine 307*. 

Esmonet 195*. 

Ewens 196*. 

Eulenburg 4* 195*. 

Fackenheim 195*. 

Fahr 236*. 

Famenne 161* 236*. 
Famenne et Hartenberg 
161*. 

Farnell 263*. 

Farrar 161*. 

Fehlinger 42* 236*. 
Felicine-Gurwitsch 196*. 
Felzmann 236*. 

Ferenzi 161*. 

Fernandez 263*. 

Ferree and Collins 4*. 
Feuchtwanger 4*. 

Fiedler 195*. 

Filassier 42* 161* 208*. 
Filser 236*. 

Finger 264*. 

Fiore 264*. 

Fischer 319* 209. 

Fischer, H. 195*. 

Fischer, 0. 264*. 

Fischer, M. 307*. 

Flinker 138*, 236*. 
Flournoy 4*. 

Zeitschrift für Psychintric. 


Fomenko 42*. 

Forbes 4*. 

Forel 236*. 

Förster 161*. 264*. 
Fortunid 161*. 

Fouqu6 161* 196* 236*. 
Fraenkel 237* 264*. 
Frank 196*. 

Frankhauser 161* 162*. 
Frankl-Hochwart 237*. 
Fransen 237*. 

Frati 138*. 

Freidberg 264*. 

Freud 4* 196*. 
Freudenthal 68*. 
Freymuth 58*. 
Friedländer 196*. 
Friedmann 4*. 

! Friedrich 195*. 

Fröhlich 4*237*315*150. 
Fröschl 4*. 

Froriep 264*. 

Fuchs. A. 196*. 

Fuchs, W. 162*. 
Fürstenheim 34* 59*. 
Füller 264*. 

Fursac 4* 42*. 

Gaedeken 6*. 

Galasso 5*. 
i Gallus 196* 307*. 

' Ganser 162*. 

Ganter 162*. 

Gara 196*. 
i Gardi 162*. 

Garnett 196*. 

Gaztelu 264*. 

Geier 237*. 

. Geiger 5*. 

I Geist 138*. 

Genil-Perrin 162*. 
Gerlach 196*. 

I Gerstenberg 315* 147. 

I Geyerstam 196*. 

! Ghcdini 196*. 

: Ghilarducci 196*. 

' Giannelli 264* 265*. 
Giese 237*. 

Gigon 138*. 

; Giljarowskv 265*. 

■ Gilmour 265*. 

Glaser 196* 318* 205. 
Glaser, M. H. 27*. 

I Glauning 34* 307*. 

! Glueck 63*. 

1 Glüh 138* 307*. 

LXIX. Lit. 


Goanza 5*. 

Goebel 6*. 

Göcke 5*. 

Göransson 162*. 

Göring, H. 6* 34* 237*. 
Gött 196*. 

Goldflam 196*. 
Goldscheider 196*. 

! Gönnet 162*. 

' Goodell 5*. 

Gom 197*. 

Gorrieri 237*. 

, Gottlieb 197* 

I Gottschalk 197*. 

1 Graf 6*. 

Grafe 162*. 

J Graham 197*. 

Grassi 6*. 

Gregor 237*. 

Greppin 317* 183. 

Grober 307*. 

Grooss 5*. 
i Gruber 237*. 

I von Gruber und Rüdin 
; 42*. 

I Gruhle 42*. 

Gudden 43*. 

Günther 5*. 

Günther und Böttcher 
i 307*. 

■ Guidi 162*. 

i Guillain und Laroche 237* 
Guiraud 138*. 

Guizzetti e Camisa 197*. 
Gurewitsch 237*. 
Guttmann 5*. 

Gutzmann 265*. 

Haardt 307*. 

Hacker 5*. 

Haeberlin 318* 198. 
Haenlein 197*. 

1 Hagemann 307*. 

Hahn 313* 120. 

Hahn, B. 197*. 

Hahn, R. 34* 43*. 
Hainiss 197*. 

Halberstadt 162*. 
Halberstadt et Arsimoles 
265*. 

Halbev 265*. 

Halle '237*. 

Hamburger 162*. 
llamel 162* 163* 265*. 
Hamei et Couehoud 163*. 
Hamilton 265*. 

aa 


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Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



382* 


Inhaltsverzeichnis. 


Hannand 163*. 

Hannand et Sergeant 
163*. 

Harper-Smith 163*. 
Hartenberg 163*. 
v. Hartungen 6*. 
Hauptmann 138* 266*. 
Haury 43*. 

Havemann 318* 200. 
Haves 6*. 

Haymann 34* 163*. 
Hebold 319* 212. 

Heck 307*. 

Heilbronner 27* 163* 
265*. 

Heilig 197* 266*. 

Heine 43*. 

Heinicke 34* 43* 163*. 
Heinrich 197*. 

Hell 197*. 

Heller, Fr. 197*. 

Heller. Th. 6*. 

Hellpach 6*. 

Hellwig 34* 43* 314* 

122 . 

Henneberg 266*. 

Hennon 6*. 

Henry 6*. 

Hermann 138* 266*. 
Herz 266*. 

Herzog 163*. 

Hesnard 163* 197*. 
Hessel 198*. 

Heveroch 163*. 

Heydner 237*. 

Heymann 138*. 

Higier 138* 237*. 
Hildebrand—v. Renauld 
6*. 

Hiller 34*. 

Hindhede 308*. 
Hinrichsen 6*. 

Hintzc 138*. 

Hirschfeld 36*. 

Hirschlaff 6*. 

Hiss 318* 205. 
Hitschmann 198*. 

Hoche 164*. 

Hochsinger 138* 266*. 
Hock 313* 117. 

Höfler 6*. 

Hoestermann 139*. 
lloffmann und Marx 35* 
237*. 

Holitscher 238*. 
Hollaender 164*. 


d’HoUander 266*. 
Homburger 164*. 

Hoppe 43* 238* 266*. 
Horstmann 69*. 

Hotter 43* 238*. 

Hough 266*. 

Hrase 308*. 

Huber 6*. 

Hudovemig 238*. 
Hudovemig, C. 69*. 

| Hudovemig, K. 164*. 

v. Hueber 238*. 
i Hübner 164*. 

I Huerta 198*. 

Hughes 27* 164* 198*. 
Hunt 198*. 

Hurd 308*. 

Hussels 266*. 

Hutinel 198*. 

Huwald 43*. 

Ibrahim 198*. 

Icard 43*. 

Inccarini 6*. 

Ingerlans 198*. 

Isserlin 6* 238*. 

Itten 164*. 

Jacobsohn, L. 198*. 

] Jacobson, E. 7* 6*. 

| Jaensch 7*. 

I v. Jagemann 35*. 

! Jahrmaerker 238*. 

Janet 43* 164*. 
Janowski 198*. 

Jaquelier et Filassier 59* 
Jaspers 7*. 

Jassny 44*. 

Jelliffe 164* 266* 267*. 
i Jelliffe und Brill 267* 
! 315* 148. 

I Jentsch 267*. 

I Jenz 316* 160. 
i Jesinghaus 7*. 

I Jeske 238*. 

! Jödicke 198*. 

Jörger 319* 206. 

Joffe 198*. 

Jolly 63* 164* 199*. 

, Jones, Edith 308*. 

I Jones. Ernest 7* 199* 
i 267*. 

Jorgensen 267*. 

Jotevko 7*. 

Jüsgen 267*. 
Juliusburger 36* 63* 238* 


Junod 164*. 

Juquelier 166*. 

Juquelier et Vinchon 166* 
Jurmann 267*. 
Juschtschenko 199*. 

Kahl, W. 35*. 

Kahl, Lilienthal. Liszt, 
Goldschmidt 35*. 

' Kahn 139*. 
i Kahn, Pierre 165*. 

| Kaiser 314* 131. 

! Kalischer 165*. 

Kallen 7*. 

Kannabich 165*. 
Kanngieüer 238*. 

Käppis 199*. 

Karpas und Poate 165*. 
Kastschenko 139*. 

Katz 7*. 

Kaufmann 199*. 

Keay 308*. 

Keferstein 35* 54*. 
Keller 7* 139*. 

| Kellner 313* 114. 

; Kempner 165*. 

] Keniston 165*. 

1 Kerner 165*. 
i Kerris 308*. 

Kirchhoff 317* 189. 
Kiernan 63* 199*. 
Kiesow 7*. 

I Kilian 165*. 
i Kinberg 27*. 

! Kirbv 238*. 
j Kirchhoff 267*. 

| Klages 7*. 
i Klehmet 165*. 

I Kleist 166*. 

Klemm 7*. 
i Klepper 166*. 
Klewe-Nebenius 166*. 
Klieneberger 267*. 
Klinke 308* 316* 162. 

' Kluge 139*. 

Knapp 267*. 

I Knörr 318* 202. 

I Knopf 199*. 

Koch 166* 238*. 

Köhler 238*. 

. Köhler. W. 8*. 

1 Köhne 59*. 

; Koenigstein 139*. 
Koppen 63*. 

Kohl 7*. 

Kohlrausch 35*. 


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Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Inhaltsverzeichnis. 


383* 


Kohnstamm 199*. 

Kolb 306* 316* 156. 
Kolisko 27*. 

Koller 139* 306*. 

Koppe 238*. 

Kostic 199*. 

Kostyleff 200*. 

Kottmann 200*. 
Kozowsky 166*. 

Kramer 8*. 

Kraepelin 8* 316* 168. 
Kraus 200*. 

Krause, F. 267* 

Krause, K. 200*. 

Krecke 200*. 

Kröber 139*. 

Kroemer 314* 127. 

Krone 200*. 

Krön fehl 8*. 

Kryzan 139*. 

Kümmel! 267*. 

Kümer 308*. 

Kure 200*. 

Kurthen 63*. 

Kutschers 139*. 

Labbe 267*. 
du Lac 42*. 

Ladame, Ch. 166* 268*' 
309*. 

Ladame, P. L. 8*. 

Laehr, M. 316* 144. 
Laeassagne 44*. 

Lafora 268*. 

Lafora u. Glueck 200*. 
Lagriffe 69* 166*. 

Laignel - Lavastine 63* 
200 *. 

Lambranzi 56*. 

Langelaan 200*. 
Lantzius-Beninga 319* 
208. 

Lapinsky 166*. 

Laquer 44* 200*. 

Laurent 166*. 

Laurds 166*. 

Laysmann 166* 238*. 
Leale 44*. 

Leclmer 309*. 

LeclSre 201*. 

Ledermann 27*. 

Lehmann 314* 130. 
Leiber 166*. 

Lentz 27* 44*. 

Lepin 201*. 


L6pine 8*. 

Leppmann 36* 63* 309*. 
Leroy 166*. 

Leroy et Capgras 167*. 
Leroy et Trtnel 167*. 
Leschke 8* 239*. 

Leva 201*. 

Levi 139*. 

| Levison 309*. 

I L4vy 201*. 
j Levy-Suhl 8*. 

! L6vy-Valensi 167*. 

I Lewandowsky 201*. 

Ley et Menzerath 9*. 

! Liebermann von Sonnen¬ 
berg 44*. 

von Liebermann u. Marx 
9*. 

Linke 44* 167*. 

Lion 201*. 
j Lipmann 9*. 

' Lobedank 9*. 

, Lochte, Th. 27*. 
j Lochte, Wollenberg und 
| Loeb, Fr. 201*. 
i Loeb, S. 9*. 

; Loewe 167* 201*. 

I Loewenstein 268*. 

, Löwy 167* 201* 239*. 

| Lohmann 44*. 

Logre 9*. 

' Longard 318* 193. 
Lorenz 167* 202*. 
Louveaux et Claus 44*. 
) Lucangeli 167*. 

, Lüders 201*. 

Lückerath 44* 168*. 

I Luger 201*. 
i Lugiato 309*. 

Lugiato e Lavizzari 167* 
168*. 

i de la Luz 59*. 

' Lwoff et Serieux 309*. 

i 

I Maas 268*. 

, Mac Call 139*. 

' Mac Donald 27*. 

Mac Gaffin 168* 169*. 

■ Mach 66*. 
i Mackenzie Wallis 9*. 

. Mac Phail 44*. 
j Maeder 168* 202*. 

( Maier 66* 202* 239*. 
j Major 59* 139* 202*. 

1 Makino 44*. 

1 Mapother 202*. 


Marchand 202*. 

Marchand et Petit 202*. 
Marchiafava 202*. 
Machiafava, Bignami und 
Nazari 239*. 

Mar gar ia 202*. 

Margis 9*. 

Margulies 202*. 

Marie, A. 202*. 

Marie, A., et Delair 309*. 
Marie, D. A. 9*. 

Marie, P. 202.* 

Markus 168*. 
Marmetschke 64*. 
Marshall 168*. 

Martin, Rousset et Laf- 
forgue 168*. 

Marx 9*. 

Marx, E., u. Trendelen¬ 
burg 9*. 

Marx, H. 36*. 

Marx, K. 203*. 

Masuda 139*. 

Matsubara 168*. 
Mattauschek 203*. 
Mattauschek u. Pilcz 
1 268*. 

i Matusch 317* 187. 
j Maxwell 44*. 

May 268*. 

Maybardjack 168*. 
i Maver 168*. 
j Mayerhofer 203*. 

Mayr 239*. 
von Mayr, G. 44*. 

' Mayr, R. 168*. 

Mechan 169*. 

■ Meige 203*. 

: Meisl 203*. 

. Mendel 203*. 
i Menzerath 10*. 
i Messer 10*. 

Metcalfe 203*. 

Meumann 10*. 

Meyer 10*. 

Meyer, B. 35*. 

Meyer, E. 169*. 

Meyer, E., u. Puppe 46*. 
! Meyer, M. 203*. 

1 Meyer, R. 203*. 

| Meyer, S. 203*. 

Middlemiss 203*. 

I Mignot 239* 309*. 

1 Mikulski 169*. 

' Mingazzini 268*. 
Minkowski 10*. 

aa* 


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Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



384* 


Inhaltsverzeichnis. 


Minnemann 10*. 1 

Minor 239*. 

Mittenzwey 10*. 

Mochi 169* 269*. 

Moeli 36* 316* 146. 

Möller 27* 239*. 
Mönkemöller 45* 69* 

140* 269* 309*. 
Mörchen 203*. 

Molde 10*. 

Moleen 269*. 

Moll 239*. 

Monnet 10*. 

Moorhead 203*. 

Moravcsik 9*. 
Morel-Lavallöe 239*. 
Morpurgo 239*. 

Moukhlis 309*. 

Möller 140* 239*. I 

Müller, A. 204*. 1 

Möller, G. E. 10*. I 

Möller, J. 204*. I 

Möller-Schürch 140*204*. 
Münsterberg 11* i 

Münzer. A. 269*. 

Münzer, G. 169*. j 

Mugdan 169*. ; 


Nadal 169*. 

Näcke 46* 69* 240* 269* I 
309*. ! 

Nathan 11*. 

Navarre 204*. 

Navrat 316* 163. 

Neisser 314* 124. 

Nelken 169*. 

Neuberger 316* 168. 
Newmark 204*. 

Niessl von Mayendorf 
269*. 

Nieuwenhuijse 140*. 
Nikitin 269*. 

Nitsche 169*. 

Noble 169*. 

Nonne 204* 269*. 

Norman 169*. 

North 46*. 

Noske 309*. 


Oberholzer 269*. 
Obersteiner 59*. 
Oebbecke 140*. 
Oeconomakis 136*. 
Ohlemann 204*. 
Olinto 169*. 


Olivier et Boidard 169* 
269*. 

Ordahl 140*. • 

Ossipoff 11*. 

Overbeck 170*. 

Pach 269*. 

Pacheu 11*. 

Pactet 204*. 

Page 309*. 

Pandy 310*. 

Papadaki 46*. 
Pappenheim 170* 204* 
269*. 

Paravicini 170*. 

Parhon u. Urechic 170*. 
Parkes Weber 204*. 
Partenheimer 170*. 
Pascal 170*. 

Pasturel 170*. 

Patschke 269*. 

Paul, W. E. 204*. 
Paul-Boncour 140*. 

Pauli 11*. 

Paulsen 11*. 

Pel 240*. 

Pellizzi 270*. 

Pelz 170*. 

Perdrau 310*. 

Perrin 170*. 

Perrot 240*. 

Perry 240*. 

Pesker 270*. 

Peters 11*. 

Petersen 313* 121. 
Petersen-Borstel 310*. 
Petit 310*. 

Petro 170*. 

Pettow 11*. 

Pfaundler 204*. 

Pfeiffer 56*. 

Pfersdorff 170*. 
Pförringer 170*. 

Pic u. Bonnamour 204*. 
Pick 11*. 

Picquö 170* 171*. 
Picquö et Capgras 171*. 
Picz 270*. 

Pi6ron 11*. 

Pighini 171*. 

Pighini e Alzina Y Melis 
204*. 

Pighini e Ravenna 240*. 
Pilcz 171*. 

Pilgrim 310*. 

Pinero 310*. 


Pitsch 27* 

Placzek 27* 64* 171*. 
Plaut u. Göring 140*. 
Plönies 171*. 

Poensgen 171*. 

Pötzl 171*. 

Polonskv 206*. 

Ponzo 11*. 

Popow 240*. 

Poppelreuter 12*. 

Porocz 206*. 

Porot 310*. 

Porter 205*. 

Poulalion 206*. 

Prandtl 12*. 

Presslich 206*. 

Prinzing 310* 315* 149. 

Quensel 310*. 

Rabbas 316* 171. 
Radbruch 12*. 

Räuber 64*. 

Raecke28*55* 140* 171*. 
Rakiö 12*. 

Ramadier 310*. 

Rank 206*. 

Ranschburg 12*. 
Rauschoff 318* 196. 

, Rauson u. Scott 240*. 
Raw 171*. 

Read 171*. 

Redlich 205*. 

Redlich u. Bonvicini27o*. 
R6gis 46* 171*. 

I Rehm 140* 171* 172*. 

I Rehn 205*. 

Rehwoldt 12*. 
j Reichel 206*. 

| Rein 310*. 

1 Reinhard 64*. 

Reis 205*. 

R£mond et Voivenel 45* 
172*. 

i Renauld 12*. 
v. Renesse 172*. 

Rennie 205*. 

Reuter 172*. 

Reye 140*. 

Richter 45* 314* 123. 
Riebeth 316* 156. 
Rieffert 12*. 

Rieger 206*. 

Riera 240*. 

Rigmano 12*. 
i Rinne 172*. 

1 Rittershaus 28* 172*. 


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Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 




Inhaltsverzeichnis. 


385* 


Ritti 310*. 

Riva 172*. 

Rixen 28*. 

Roberts 240*. 

Robertson 45* 172*. 
Roderbirken 310*. 

Rodiet 310*. 

Rodiet et Masseion 172*. 
Roehrich 173*. 

Rönner 173* 205*. 

Röper 205*. 

Kogge 270*. 

Rogues de Fursac 46*. 
Rohde 12*59* 173*240*. 
Rohlena 140*. 

Rollmann 173* 240*. 
Romagna—Manoia 270*. 
von Roojen 206*. 

Rosanoff 140*. ■ 

Rose 173*. 

Rosenbanm 206*. 
Rosenberg, J. 206*. , 

Rosenberg, M. 173* 240*. ! 
Rosenfeld 36*. 

Rosental 173*. 

Rossi 173*. 

Rossolimo 12*. 
Roubinowitsch 173* 311*. 
Roug6 173*. 

Roullier 240*. 

Rubeschka 206*. 
Rudnitzky 206*. 

Runge 173*. 

Runta 173*. J 

Rupprecht 45*. I 

I 

Sachs 206*. ! 

Saenger 140* 206*. 
Saforcade 311*. 

Saiz 174* 206*. 

Salg6 ti. Obersteiner 46*. 
Salin 174*. 

Salomonski 206*. 

Salow 12*. 

Salzer 206* 270*. 

Samana 311*. 

Sander 314* 128. ! 

Sarteschi 240*. j 

Sauermann 311*. j 

Saunders 241*. i 

Schäfer 317* 181, 182. i 
Schanoff 12*. J 

Schanz 206*. I 

Schauen 318* 191. 
van der Scheer 174*. 
Scheidemantel 270*. 


Scheler 12*. 

Schellong 206*. 

Schenk 241*. 

Schenker 140*. 
Schepelmann 206*. 
SchUder 206*. 

SchiUer 319* 210. 
Schilling 46*. 

Schlesinger 12*. 

Schlieps 141*. 

Schloss 311*. 

Schmid 174*. 

Schmidt 206* 311*. 
Schmidtmann 13* 241*. 
Schneidemühl 13*. 
Schneider 13* 317* 174 
Schnitzer 60* 64* 140* 
141*. 

Schnitzler 270*. 
Schnopfhagen 316* 172. 
Schob 270* 311*. 
Schölberg 270*. 
Schönberg 13*. 

Schönfeld 141*. 
Schönhals 271*. 

Scholz 141* 316* 152. 
Schott 318* 197. 
Schottin 206*. 

Schouten 66*. 
von Schrenck—Notzing 
46*. 

Schröder 206* 241*. 
Schroeder, E. 174*. 
Schröder, G. E. 271*. 
Schröder, P. 46* 60*. 
Schubart 141*. 

Schubert 207* 315* 154. 
Schubotz 13*. 
Schuchardt 315* 141. 
Schütze 46* 318* 203. 
Schugam 207*. 

Schultze 28* 36* 271*. 
Schuppius 207* 271*. 
Segard 311*. 

Seelig 36*. 

Seidel 36* 55*. 

Seige 141.* 

S6glas et Collin 174*. 
S6glas et Logre 174*. 
Sello 28*. 

Selz 13*. 

Senf 46*. 

S£rieux et Libert 46*. 
S6rieux et Lwoff 311*. 
Serog 13*. 

Shufeldt 141*. 


Sidia 207*. 

Siebert 241*. 

Siebrand 13*. 

Siemerling 174* 241*. 
Siemerling u. Raecke 
271*. 

Sikorski 13*. 

Sikowsky 174*. 
Simmonds 207*. 

Simon 36* 311* 316* 
164. 

Simons 28*. 

Singer 207*. 

Snell, 0. 316* 165. 
Sokolowsky 13*. 

Solbrig 241*. 

Solomin 271*. 
de Somer 174*. 

Sommer, M. 174*. 
Sommer, R. 13* 46* 311*. 
Sonnenstein 311*. 
Sonntag 271*. 

Soukhanoff 176*. 
Southard 175*. 

Soutzo 207*. 

Specht, G. 311*. 

Specht, W. 13*. 

Speyer 318* 206. 
Spielmeyer 271*. 
Spielrein 176*. 

Stammer 46*. 

Stapel 241*. 

Starck 207*. 

Stauffenberg 271*. 
Steckei 207*. 
Stefanescu-Goanga 14*. 
Steiner 207*. 

Stekel 14*. 46*. 
Stepanoff 241*. 

Stern, F. 271*. 

Stern, V. 14*. 

Stern, W. 14*. 

Sternberg 14* 241* 311* 
312*. 

Stertz 272*. 

Sterz 314* 136. 

Steward 141*. 

Steyerthal 207*. 
Stheemann 207*. 

Stierlin 207*. 

Stoffels 14*. 

Stoltenhoff 312* 315* 

161. 

Stooß 60*. 

Storfer 46*. 

Sträußler 207*. 


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Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



386* 


Inhaltsverzeichnis. 


Stransky 36* 46* 176*. 
Stransky u. LöWy 272*. 
Straßmann 28* 46* 176*. 
Straßner 312*. 

Stroehlin et Fouquß 175*. 
Stucken 272*. 

Stumpf, C. 14*. 

Stumpf, P. 14*. 

Sturm 55*. 

Stursberg 208*. 

Sudeck 208*. 

Swoboda 15*. 

TaUlens 176*. 

Talmey 175*. 

Tamburini 65* 176*. 
Tastevin 175*. 

Teske 141*. 

Tevssien 176*. 

Thoma 141*. 

Thomalla 66*. 

Thomas 208*. 

Thomsen 36*. 

Thomson, Boas u. Leschlv 
141*. 

Thumm 312*. 

Tilney 208*. 

Timofejew 176*. 

Tissot 176*. 

Titchener 16*. 

Tödter 312*. 

Tomaschny 176* 272*. 
Topp 312*. 
van der Torren 176*. 
Toulouse et Piiron 16*. 
Trapet u. Wolter 272*. 
Travaglino 176*. 
Trendelenburg 16*. 
Treupel 272*. 

Treupel u. Levi 272*. 
Trömner 15*. 

Trömner u. Delbanco 
272*. 

Troschin 176*. 

Truelle et Pillet 176*. 
Tschikste 208*. 

Türkei 47*. 

Turro 16*. 

Urban 15*. 


Valek 176*. 

Valle y Jove 272*. 
Vallon 208*. 

Valtorta 241*. 
Varendonck 56*. 

Veit 47*. 

Veraguth 208*. 

Victorio 60*. 

Viernstein 47*. 
Vigouroux, A. 47*. 
Vigouroux, M. 176*. 
Villiger 141*. 

Viollette 47*. 

Vix 272*. 

Vladoff 47*. 

Vocke 314* 132. 

Vogt 141* 142* 208*. 
Vogt u. Weygandt 142*. 
Voivenel et Fontaine 
241*. 

Völker 316* 167. 

Volpi—Ghirardini 209*. 
Volland 142* 208*. 
Vorbrodt u. Kafka 272*. 
Vorkastner 28*. 

Voß 28* 47*. 

Vries Schaub 16*. 

Wachsmuth 314* 133. 
Wada 176*. 

Wagner u. Jauregg 36* 
272*. 

Walion 176*. 

Walion et Gautier 176*. 
Wamek 209*. 

Walsem, van 316* 167. 
Washburn 16*. 
Wassermann 47*. 

Wassermeyer 209*. 
Wattenberg 316* 163. 
Weber, E. 16*. 

Weber, H. 176*. 

Weber, L. W. 60*. 312*. 
Weber, R. 272*. 

Weil, E., u. Kafka 273*. 
Weil, S. 209*. 

Weiner 209*. 

Weiß 16*. 

WeUer 36*. 

Wells 15* 16*. 

Wells, Q. E. 176*. 


Wells and Forbes 15*. 
Wellstein 36*. 

Werelius u. Rydin 209*. 
Werner 312* 317* 175. 
Werther 209*. 

Westphal 16* 177*. 
Wetzel 177*. 

Weygandt 28* 142* 273* 
312* 314* 139. 

Wiehl 213*. 

Wiener 273*. 

Wilhelm 47*. 

Williams 16* 209* 273*. 
Wülige 209* 273*. 
Willige u. Landsbergen 
273*. 

Willis u. Urban 16*. 
Wilmanns 60* 213*. 
Wingfield 209. 

Winslow 177*. 

Winter 177*. 

Wiszwianski 210*. 

Witte 273*. 

I Wittels 16*. 

Wittermann 242*. 

! White, E. 177*. 

I White, W. A. 213*. 
Wohlwill 242*. 

Wolff 314* 138. 
Wolffenstein 210*. 
Wollenberg 36*. 

Wolter 177*. 

Wörmann 177*. 
Woskressenski 273*. 
Wundt 16*. 

Wyrubow 60*. 
v. Wyss 210*. 

Yawger 273* 274*. 

ZabbS 177*. 

Zahn 274*. 

Zalla 210*. 

Zander 210* 317* 184. 
Zappert 210*. 

Ziehen 16* 142* 210*. 
Ziemke 29* 36*. 

Zingerle 64*. 

Zipperling 274*. 

Ziveri 177* 274*. 

Zweig 213*. 


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Inhaltsverzeichnis. 


387* 


2. Sachregister. 


Ahdominal-Dmcksymptom 196* 92. 
Abstammungslehre 72* 1. 

Abstinenz 234* 1, 10. 241* 117. 
Abwässer 312* 101. 

Achillessehnenreflex 73* 4. 
Ackerbaukolonie 309* 52. 

Adalin 74* 29. 77* 64. 80* 106. 110. 
82* 141. 83* 148. 84* 163. 85* 180. 
183, 190. 87* 217. 91* 274. 93* 299. 
96* 340. 98* 371. 165* 132, 136. 170* 
207. 206* 234. 

Adalinvergiftung 238* 66. 

Adrenalin 171* 221. 

Ärztekammer für Brandenburg 33* 1. 
34* 2. 

Ärztliche Atteste 27* 12. 

Ärztliche Seelenkunde 86* 192. 
Ätiologie 78* 79, 85. 97* 357. 
Affektdelikt 36* 32. 46* 70. 

Affekte 2* 15. 

Affektepileptische Anfälle 192* 38. 
Affektpsychosen 12* 163. 

Agilität 84* 165. 

Agoraphobie 201* 161, 162. 

Agraphie 264* 47. 272* 157. 
Akromegalie 169* 187. 273* 169. 
Akustische Untersuchungen 8* 106. 
Akute Demenz 166* 151. 

Akute Paranoia 166* 142. 

Albuminurie 161* 82.189* 4. b, 236* 44. 
Alcoholismus chronicus 210* 288. 234* 
3, 12. 236* 37. 239* 81. 240* 106. 
Alkaloidpsvchosen 235* 16. 

Alkohol 13* 174. 81* 130. 191* 29. 
235* 19. 236* 36, 43. 238* 67, 68. 
239* 86. 241* 108, 109, 110. 
Alkoholische Getränke als Hypnotika 
241* 116. 

Alkoholismus 42* 9. 43* 22. 166* 149. 
204* 201. 234* 2. 236* 23. 24, 26, 27, 
28. 236* 39. 237* 53, 65. 238* 61, 62, 
<13. 239* 83, 84. 240* 93, 96. 241* 
113a, 118. 242* 120. 

Alkoholismns und Epilepsie 207 * 248. 
208* 261. 

Alkoholist 65* 10. 

Alkoholmißbrauch und Geisteskrank¬ 
heit 235* 13. 

Alkoholordination 239* 80. 
Alkoholpsvchosen 235* 16, 22. 236* 42. 
238* 73. 239* 90. 

Alkohol und Homosexualität 240* 91. 


j Alkohol und Verbrechen 43* 23. 98* 

1 375. 238* 64. 

i Alkoholwirkung 6* 68. 237* 61. 

| Alkoholwissenschaft 235* 18, 25. 
j Allenberg 313* 113. 

1 Alltagsleben 7* 96. 84* 171. 

| Alopecia totalis neurotica 204* 202. 

; Alsterdorfer Anstalten 313* 114. 
j Alterserkrankungen des Zentralnerven - 
I Systems 271* 145. 

1 Alterspsychosen 260* 1. 265* 63, 65. 
Altruismus 80* 114. 

! Alzheimersche Krankheit 260* 1. 268* 
1 104. 270* 132. 

! Amaurotische Idiotie 138* 23, 38. 

| Amentia 177* 311. 241* 113. 

' Amerika 46* 67. 

I Amnesie 3* 34. 35* 16. 43* 19. 160* 52. 
1 165* 130, 131. 

i Amnesie bei Paralyse 261* 13. 

Amylenkarbonat 83* 152. 

! Amvotrophische Lateralsklerose 268* 
, 103. 

1 Analyse der Empfindungen 9* 123. 

; Anarthrie 265* 62. 
i Anatomie des Basedow 207 * 246. 
Anenzephalie 266* 78. 

Anfallhäufungen 196* 90. 

I Angst 161* 76. 

, Angstzustände 84* 170. 163* 104. 207* 
| 246. 

Anisokoric 189* 7. 

Anomale Kinder 141* 73, 74. 

■ Anstaltsarzt 305* 6. 

| Aastaltspsychiatrie 306* 24. 312* 105. 
j Anthropologie 88* 230. 
i Antipyretica 87* 215. 

I Antistreptokokkensemm 93* 292. 171* 
I 224. 

! Antonius 14* 194. 
i Anurie bei Hysterie 198* 115. 

' Aortitis gummosa 268* 100. 

Aphasie 139* 50. 262* 15. 265* 62. 266* 
77. 269* 116. 270* 128. 
Aphasieforschung 265* 69. 

Appendizitis 171* 215. 191* 22 a. 23. 
Appenzell 139* 46. 308* 50. 

Appetit 14* 190. 

Apraxie 262* 25. 265* 56. 271* 146. 
272* 157. 

Arbeitssoldaten 69* 9. 

Argentinien 311* 88. 


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Original fro-m 

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3.88* 


Inhaltsverzeichnis. 


Armee 69* 1, 2, 6, 8,10,11,12, 13,14. 

70* 16. 72* 2. 80* 111. 166* 149. 
Arsenhämatose 81* 128. 
Arsenikvergiftung 267* 88. 
Arsenozerebrin 201* 166. 
Arteriosklerose 209* 278. 266* 74. 

268* 101. 269* 123. 270* 128, 134. 
Arteriosklerotische Geistesstörungen 
171* 217. 270* 126, 134. 
Artikulation 274* 176. 

Arzneigemische 76* 63, 64. 
Arzneimittel 73* 12. 78* 81. 
Aspergillus fumigatus 240* 96. 
Assoziation 16* 216. 216. 16* 217. 
Assoziationen 3* 30. 4* 68. 77* 71. 
86*. 189. 166* 143, 144. 168* 176, 
176. 

Assoziationen bei Manischen 86* 187. 
166* 140. 

Assoziationsexperimente 8* 116, 116. 
9* 117. 

Assoziationsstörung; 202* 177. 
Assoziationstherapie 89* 246. 
Assoziationsuntersuchungen 9* 126. 
Assoziationsversuche 6* 87. 
Assoziationsvorgänge 94* 307. 173* 

244. 

Assoziationsvorgänge bei Affektpsy¬ 
chosen 12* 164. 

Assoziativmotorische Reflexe 1* 11. 
Asthenia universalis 200* 166. 

Asthenie 193* 66. 

Asthenomanie 190* 21. 262* 14. 

Asymmetrie des Schädels 73* 9. 
Aszetismus 86* 186. 

Ataxie 88* 228. 

Atemzentrum 76* 42. 

Athetose 206* 238. 

Atmungsgymnastik 199* 141. 

Atropa Belladonna 238* 72. 

Atropin gegen Alkoholismus 240* 93, 
96. 

Atteste 27* 12. 

Auffassungsapparat 77* 62. 
Aufmerksamkeit 1* 7. 6* 71. 12* 163. 
Aufmerksamkeitsstörungen 88* 227. 
Augenbewegungen 16* 213. 
Augenmuskellähmung und Basedow 
191* 24. 

Ausdrucksstörungen 11* 160. 

Aussage vor Gericht 65* 7. 
Auswertungsmethode 266* 68. 
Autoerotismus 85* 185, 186. 
Autointoxikationspsychose 238* 65. 
Autonome Verstimmungen 163* 106. 
Autopathographie 161* 77. 


Autopsychische. Bewußtseinsstörung 35* 
17. 

Azetonitrylreaktion 196* 96. 

Autotoxische Psychose 174* 268. 

Babinskisches Phänomen 81* 130. 86* 
193. 97* 364. 98* 373. 236* 29. 

Baden 141* 79. 307*30,31. 313* 111, 
116. 

Bäder 80* 116. 

Bakterientoxine gegen Paralyse 272* 
159. 

Balkenstich 261* 4. 

Bamberg 313* 116. 

Basedowsche Krankheit 160* 61. 190* 
11. 191* 24, 27. 193* 47, 48, 56. 
196* 87. 196* 96, 100. 197* 103. 
199* 137. 200* 147,164. 204* 205, 
206, 212. 206* 216, 220. 206* 232. 
207* 243, 246, 247, 249. 208* 269, 
264. 

Bastille 46* 60, 61. 

Bayern 68* 2. 308* 49. 311* 93. 

Bayreuth 313* 117. 

Begabungsunterschiede 2* 27. 

Begleiterscheinungen seelischer Vor¬ 
gänge 8* 113, 114. 16* 212. 

Beginnende Geisteskrankheit 98* 369. 

Begriffe 2* 16. 

Begriffsanalyse 12* 169. 

Behandlung der progressiven Paralyse 
261* 3. 263* 33, 37. 

Behandlung Geisteskranker 93* 294. 

Behandlung heilbarer Psychosen 77 * 74. 

Behandlung psychopathischer Indivi¬ 
duen 91* 269. 

Behandlung unruhiger Geisteskranker 
162* 87. 

Beinphänomen 192* 43. 

Bekanntheitsqualität 10* 133. 

Bellelay 318* 206. 

Berlin 314* 123, 128. 316* 145. 319* 

212 . 

Bergmannswohl 310* 75. 

Bern 318* 206. 

Berufsvormundschaft 64* 2. 

Berufswahl und Kriminalität 46* 68. 

Besessene 9* 97. 

Besessenheit 164* 126. 

Besudelung 44* 34. 

Bettbehandlung 78* 78. 306* 15. 

Betzsche Zellen 86* 198. 

Bewegungsstörungen bei Geisteskrank¬ 
heiten 83* 166. 

Bewegungsvorgänge ,91* 277. 

Bewußtseinsstörungen 82* 146. 


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Inhaltsverzeichnis. 


389 * 


Bewußtsein von Gefühlen 6* 64. 
Beziehungswahn 173* 249. 
Bibliographie der Psychologie 8* 106 a. 
Bibliothek 308* 44. 

Blastophthorische Entartung 236* 43. 
Bleivergiftung 268* 106. 

Blitzschlag 86* 191. 99* 388. 200* 

148. 209* 283. 

Blutdruck 86* 201. 96* 346. 
Blutdruck bei Delirium tremens 242* 
121 . 

Blutdrüsen 190* 12. 

Blutkreislauf 78* 78. 167* 168, 169. 
168* 170. 

Blutuntersuchung 81* 126. 96* 326. 

101* 126. 

Blutuntersuchungen 84* 167. 92* 282, 
283. 96* 329. 162* 89. 171* 216. 
173* 247. 237* 63. 266* 67. 269* 
111 . 

Blutverschiebung 77* 63. 

Bohnitz 308* 42. 

Bologna 12* 162. 

Borax gegen Epilepsie 198* 128. 
Bourdonsche Probe 88* 227. 
Bradykardie 193* 60. 

Brandenburg 33* 1. 34* 2. 313* 119. 
Brautmord 28* 27. 

Bremen 314* 134. 

Breslau 140* 68. 313* 120. 

Brieg 313* 121. 

Brom 210* 287. 

Bromintoleranz 76* 60. 

Bromismus 236* 40. 

Bromkalium 198* 126, 129. 
Bromnatrium 198* 129. 

Bromovose 192* 37. 

Bromural 93* 304. 204* 200. 206* 

223. 

Brünn 314* 122. 

Buch 314* 123. 

Bunzlau 314* 124. 

Butenkoreaktion 73* 5. 166* 3. 

Burghölzli 314* 125. 

Cabanis 80* 115. 

Cafard 78* 76. 169* 47. 

Cery 314* 126. 

Charakterkunde 7* 103. 

Chirurgie des Gehirns 267* 96. 
Chirurgische Behandlung der Basedow¬ 
schen Krankheit 190* 11. 206* 220. 
207* 243. 208* 269. 

Chlorretention 201* 158. 

Cholämie 163* 102. 

Cholesterin 92* 283. 171* 216. 


Chorda tympani 266* 64. 

Chorea 197* 106, 108, 109, 111, 114. 
198* 121. 202* 172, 177, 180. 203* 
189,190. 204*213. 206* 238. 207* 
243 a, 264. 

Chorea genitalen Ursprungs 192* 36. 
Chorea minor 164* 122. 191* 32, 33. 

192* 41. 199* 131. 

Choreapsychosen 199* 131. 

Chorea senilis 263* 34. 

Christentum 87* 214. 

Columbia 266* 80. 

Conradstein 312* 104. 314* 127. 
Crotalin 201* 169. 

Dämmerzustand 200* 161. 207* 266. 
Dänemark 141* 80. 

Dalldorf 314* 128. 

Danville 314* 129. 

Darmstadt 312* 98. 

Dauerbad 310* 77. 

Dauerschwindel 91* 271. 

Dauerwache 307* 38. 

Daumenlutschen 86* 186. 
Defektenanstalten 69* 16. 309* 64. 
Defektpsychosen 94* 307. 139* 62. 

173* 244. 

Degeneration 80* 113,. 163* 100. 
Degenerationslehre 79* 96. 
Degenerationsproblem 167* 17. 
Degenerationspsychose 44* 38.168* 171. 
Degenerative 76* 40. 

Degenerierte 34* 4. 88* 226. 158* 26. 
Delirium acutum 166* 147, 148. 176* 
302. 

Delirium tremens 64* 24. 237* 67. 

238* 70. 240* 97, 103. 242* 121. 
Depressionszustände 78* 86. 160* 66. 
Depressive Psychosen 168* 179. 
Depressive Zustände 173* 242. 
Dementia praecocissima 169* 41. 162* 
94. 164* 113. 

Dementia praecox 27* 6. 166* 1, 6. 

167* 8, 9, 16, 20. 158* 22, 27, 31, 
32, 34, 36. 159* 38, 39, 40. 161* 
72, 73, 74. 162* 85, 86, 96. 163* 
103, 109, 110. 164* 113, 114, 121, 
125. 165* 136, 139. 166* 146, 149, 
162, 156. 167* 167, 168, 169. 168* 
170, 172, 173, 176, 176, 178. 169* 
187, 193, 197. 170* 204, 205, 206, 
210, 211, 171* 222. 172* 231, 233, 
234, 236, 236. 173* 247, 261. 174* 
268, 263, 264, 266. 175* 272, 275, 
276. 176* 287, 297. 177 * 306, 310. 
210* 288. 


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Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



390 * 


Inhaltsverzeichnis. 


Demenz 137* 18, 19. 

Dercuifische Krankheit 64* 1. 168* 

23. 

Dermolokalimeter 11* 163. 
Deszendenztheorie 14* 187. 72* 1. 
Deutschland 136* 6. 

Diabetes 266* 63. 

Diät bei Epilepsie 197* 104. 

Diätküche 312* 100. 

Diagnostik der Nervenkrankheiten 192* 
40. 196* 101. 

Diarrhö 198* 124. 

Diathesen 204* 211 a. 

Diebstahl 43* 16. 44* 33. 
Dienstbeschädigungsfrage bei Paralyse 
271* 139. 

Differentielle Psychologie 14* 188. 
Differenztöne 14* 196. 

DigalenVergiftung 237* 68. 

Dipsomanie 236* 32. 
Dimethylaraidobenzaldehyd - Reaktion 
76* 67. 

Diplokokkus 176* 302. 

Dipsomanie 206* 241. 

Dösen 314* 130. 

Dresden 72* 3. 81* 127. 142* 91. 

307* 36. 

Dritte Dimension 10* 139. 
Druckmassage 198* 130. 

Drusen 262* 19. 

Duraplastik 199* 143. 

Durchgängigkeit der Meningen 273* 
162. 

Durchgangsbeobachtungen 5* 73. 
Dziekanka 314* 131. 

Eberswalde 313* 119. 

Echolalie 159* 60. 208* 265. 

Eglfing 306* 3. 314* 132. 

Ehereform 56* 8. 92* 279. 
Ehescheidung 46* 48. 47* 78. 65* 

6, 6. 69* 9. 

Ehe und Geistesstörung 94* 321. 
Eichberg 314* 133. 

Eifersucht 4* 64. 

Eifersuchtswahn 42* 7. 157* 19. 
Einfache Seelenstörungen 164* 112. 
Einschlafen 16* 203. 

Einseitige Halluzinationen 88* 229. 
Einstellung des Auges 9* 130. 
Einwanderung 81* 131. 

Elektrische Anlagen 307* 40. 
Elektrische Entartungsreaktion 205* 
221 a. 

Elektrische Vorgänge im Körper 15* 
214. 


Elektrischer Unfall 209* 274. 
Elektrizität 75* 43. 

Elektrizität bei Neurasthenie 203* 196. 
Ellen 314* 134. 

EUikon 314* 136. 

Emanuel Quint 87* 213. 

Emmendingen 307* 38. 
Encephalopathie satumina 268* 106. 
Endogene Depression 191* 34 a. 
Enesolbehandlung 172* 158. 

England 42* 1. 89* 239. 136* 1. 

140* 66. 311* 84. 

Entartung 42* 9. 43* 22. 
Entartungsreaktion 93* 298. 
Entlastung der Irrenanstalten 306* 12. 
Entmündigung 64* 3. 65* 9, 15. 
Entscheidungen 28* 26, 26. 
Entweichungen 310* 67. 
Entwickelungsstörungen des Gehirns 
141* 83. 

Entziehung von Morphium 238* 71. 
Enuresis nocturna 98* 374. 

Epilepsie 27* 6. 42* 7, 10. 47* 74. 
86* 189. 87* 210. 137* 20. 142* 

87. 166* 143, 144. 190* 13, 19, 20, 

21. 191* 22 a, 23, 28, 29. 193* 50, 
51, 62, 63, 68, 69. 194* 66 a, 68, 

69, 73. 195* 78, 82. 196* 90, 91, 
94,98. 197*102.104,112,113. 198* 
117, 119, 120, 126, 127, 128. 199* 
140, 143. 201* 169, 166, 167, 168, 
169, 170. 202* 174, 178, 179, 182, 
186. 203* 192 a, 198. 204*201,207, 
208, 209. 206* 219. 206* 227, 228. 
229. 207* 242, 248, 252. 208* 265, 
268,269. 209* 273. 210* 288, 289 a. 

Epilepsie der Pubertätszeit 210* 286. 
Epilepsie im Kindesalter 210* 289 a. 
Epilepsie und Alkoholismus 208* 261. 
Epilepsie und Linkshändigkeit 207* 
260. 

Epilepsie und Unfall 210* 289. 
Epileptische Krampfanfälle 42* 5. 
Epileptischer Dämmerzustand 35* 15. 
237* 60. 

Epileptiker 4* 68. 76* 42. 
Epileptikeranstalt 306* 16. 
Epileptikerfürsorge 310* 76. 
Epileptoide Erstickungsanfälle 200* 156. 
Erblichkeit 74* 19, 27. 76* 59. 78* 

88. 86* 204. 205. 94* 310. 96* 
361. 99* 390. 166* 160. 168* 174. 

Erblichkeit der Trunksucht 236* 32. 
Erbsyphilis 266* 75. 

Erdbeben 89* 248. 

Ererbte Sechsfingerigkeit 95* 332. 


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Inhaltsverzeichnis. 


391 * 


Ergebnisse der Neurologie und Psy¬ 
chiatrie 99* 379. 

Ergotinvergiftung 237* 52. 238* 69. 
Erkenntnismöglichkeiten 96* 346. 
Ermüdung 73* 6. 136* 2. 91* 267. 
Ernährungssystem 306* 41. 
Ernährungstherapie 312* 97. 
Erschöpfungspsychosen 173* 253. 
Erweichungsherd im Hinterhauptlappen 
262* 27. 

Erwerbsunfähigkeit 63* 3. 

Erziehung 74* 19, 20, 31. 

Erziehung durch Spiel und Kunst 12* 
158. 

Erysipelas 87* 218. 

Esterase 92* 282. 
Experimentalpsychologie 15* 202. 

Familiäre Krankheiten 82* 146. 
Familienähnlichkeit 43* 24, 25. 
Familienforschung 94* 316. 
Familienpflege 305* 7. 308* 49. 309* 
53. 310* 72, 80. 311* 93. 

Farben 7* 99. 

Farbenblindheit 6* 77. 
Farbenempfindung 6* 77. 
Farbenerscheinung 11* 145. 
Farbengedächtnis 9* 121. 

Farbenkörper 6* 86. 

Farbenton 9* 118. 

Farbentonänderung 3* 40. 
Farbenunterscheidung bei Kindern 139* 
42. 

Fazialis-Phänomen 83* 150. 138* 40. 
Feldhof 314* 136. 

Fermentative Prozesse bei Geistes¬ 
kranken 85* 178. 

Fetischhaß 83* 147. 

Feuchtersieben 86* 192. 

Fiehi-Extrakt 99* 378. 

Fieber 95* 328. 

Fischersche Plaques 271* 137. 

Fixieren 9* 130. 16* 200. 

Fliegende Holländer 5* 70. 

Folklore 76* 55. 

Formosa 86* 196. 95* 326. 

Fortlaufen der Kinder 46* 63. 
Fortpflanzung 42* 13. 72* 3. 81* 127 
Fortschritte des Irrenwesens 312* 106. 
Fortschritte in der Psychiatrie 100* 394. 
Frankreich 44* 30. 

Freiburg i. Schl. 314* 137. 

Freie Willensbestimmung 27* 2. 
Freiluftbehandlung 306* 16. 

Friedmatt 314* 138. 

Friedreichsches Syndrom 264* 54. 


j Friedrichsberg 314* 139. 

Freudsche Neurosenlehre 10* 137. 

| Freuds Theorien 8* 109. 

Frontallappen 263* 29. 

Frühsymptome der. Paralyse 267* 94. 
Fürsorge 140* 56. 

Fürsorgeamt 307* 32. 
Fürsorgeerziehung 58* 2. 69* 6, 10. 

13, 14. 60* 18, 19, 20. 70* 16. 

I Fürsorge im Kriege 70* 17. 

Fürsorgevereine 306* 25. 
i Fürsorgezöglinge 139* 43 a, 140* 54. 
i 141* 70, 79. 

Fugues 168* 178. 

Funktionen der Nervenzentra 74* 22. 
Fußrückenreflex 86* 195. - 
; Fußsohlenreflex 77* 66. 

i 

I Gabersee 316* 140. 

| Gail 264* 50. 

] Gattenmord 47 * 80. 

Geburt 82* 134. 135. 

| Gedächtnis 6* 81. 7* 95. 8* 112. 10* 

; 138. 12* 169. 

i Gedächtnistätigkeit 10* 140. 

! Gedankenecho 97* 358. 

1 Gedankenleser 13* 183. 
i Gefängnispsychose 82*138,139.163* 107. 

1 Gefühlsbetonung der Farben 14* 185. 
! Gefühlsleben 13* 178. 

; Gefühl und Erinnerung 11* 147. 
Gehirnblutung nach Lumbalpunktion 
96* 335. 

' Gehimbrüche 139* 53. 

; Gehimdruckentlastung durch Balken - 
stich 261* 4. 

| Gehirnentzündung 63* 7. 
i Gehirngewicht 99* 382. 

, Gehimnervenlähmungen bei Basedow 
199* 137. 

I Gehimprobleme 99* 382. 

! Gehlsheim 312* 102. 316* 141. 

I Gemeingefährliche Geisteskranke 36* 
' 28. 60* 23. 

Geminderte Zurechnungsfähigkeit 36* 
31. 

Genealogie 95* 331. 

! Generationspsvchosen 94* 317. 173* 

| -256. 257. 

I Genialitätslehre Lombrosos 84* 164. 
i Gonorrhöe 161* 75. 

' Geisteskranke Verbrecher 60* 26. 

I Geisteskrankheiten 9t»* 261. 

' Geisteskrankheiten bei Kindern 138* 37. 
j Geisteskrankheiten und Jahreszeiten 99* 
384. 


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392* 


Inhaltsverzeichnis. 


Geisteskrankheit nach Entziehung der 
Invalidenrente 64* 22. 
Geistesschwache 140* 65. 

Geistige Arbeit 73* 6. 94* 319. 

Geistige Epidemien 160* 60. 

Geiz 4* 61. 

Gelonide 89* 244. 

Geopsychische Erscheinungen 6* 79. 
Gerichtliche Medizin 27* 8. 43* 18. 
Gerichtliche Psychiatrie 28* 26, 26, 28. 
Geschichte der Hirnlehre 78* 82. 
Geschichte der Paralyse 269* 112. 
Geschichte der Psychiatrie 84* 161. 

87* 207, 208. 86* 197. 309* 62. 
Geschichte der Psychologie 3* 33. 7* 
104. 

Geschwisterpsychose 167* 169, 160. 
Geschwisterpsychosen 80* 107. 161* 

83, 84. 

Geschwülste der Hypophysengegend 
267* 96. 

Geschwülste des vierten Ventrikels 260* 
2. 261* 11. 

Gesellschaftsbiologie 96* 349. 
Gesichtstäuschungen 76* 68. 
Gewichtsempfindung 16* 220. 
Gewohnheitsverbrecher 42* 1. 43* 26. 
Gewohnheitsverbrecherin 163* 107. 
Gifte und Nervensystem 237* 66. 
Giftmörderin 43* 21. 

Gigantismus 94* 320. 

Gliose des Gehirns 64* 26. 

Glykosurie 176* 291. 

Glykosurie bei Geisteskrankheit 98* 
372. 

Göttingen 316* 142. 
Gonokokkeninfektion 236* 38. 
Graviditätspolyneuritis 240* 104. 

Graz 314* 136. 

Grenzzustände 75* 34. 

Grundschema der Geisteskrankheit 97* 
352. 

Gutachtliche Seltsamkeiten 64* 21. 
Gynäkologie und Psychiatrie 75* 44, 
45. 77* 67. 96* 347. 

Gynäkologie und Selbstmord 158* 28. 


Haftpsychosen 90* 262. 169* 194. 
Halbseitige Symptome bei Idiotie 270* 
124. 

Halbseitige Unterentwicklung 138* 30. 
Halle a. S. 312* 100. 

Halleyscher Komet 158* 29. 
Halluzinationen 82* 143. 98* 376. 

163* 111. 


Halluzinatorische Psychose 156* 6- 
168* 33. 

Halluzinose 160* 66, 67. 

Hamburg 313* 114. 314* 139. 

Hamlet 199* 134. 

Handbuch der Neurologie 201* 164. 
Handschrift 46* 46. 

Handschrift und Charakter 13* 170. 
Hannover 140* 64. 

Harnkolloide 87* 210. 167* 163. 201 • 
170. 

Hauptmann 87* 213. 

Hautreflexe 96* 344. 

Hausindustrie 308* 48. 

Haus Schönow 316* 144. 

Hebephrenie 172* 231. 

Heer 69* 1, 2, 6, 8, 10, 11, 12, 13, 14. 

70* 16. 72* 2. 80* 111. 166* 149. 
Heilpädagogik 59* 13. 

Heilungsaussichten der Psychoneurosen 
173* 241. 

Helenenhof 307* 33. 

Helligkeitsadaption 13* 171. 

Hemianopsie 76* 58. 

Hemiatrophie 269* 113. 
Hemihyperhidrosis 206* 218. 

Hemiplegie 137* 20. 

Hessen 316* 146. 

Hereditäre Belastung 46* 60. 

Hereditäre Krankheiten 82* 146. 
Hereditäre Lues 264* 54. 

Heredität 166* 160. 168* 174. 
Hermaphrodit 86* 202. 

Heroinismus 234* 7. 

Herpes zoster 206* 226. 263* 41. 264* 
62. 

Hertzka 47* 73. 

Herzberge 316* 146. 

Herzkrankheit und Psychose 77* 68. 
Heuer 99* 389. 

Hexerei 90* 264. 169* 196. 

Hüdesheim 316* 147. 

Hilfsschule 137* 14. 139* 42 a. 140* 
60. 

Hirnabszeß 264* 44. 

Hirngeschwülste 262* 22. 263* 35. 3b. 

266* 79. 272* 160. 273* 16L 
Hirngewicht bei Geisteskrankheiten 84* 
162. 

Himgewicht der Tiere 80* 112. 
Himmißbildungen 139* 63. 

Himpunktion 262* 22. 273* 167. 
Hirnrinde 97* 362. 

Himschwellung 93* 297. 

Himsyphilis 262* 26. 266* 60. 267* 

88 . 


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Inhaltsverzeichnis. 


393* 


Hirntuberkel 264* 46. 

Hirntumoren 261* 6, 10, 11. 

Himvenen 272* 149. 

Hirnwindungen 267* 86. 

Himzirkulation 80* 116. 

Historisch-völkerpsychologische Be¬ 
griffsanalyse 12* 169. 

Hörzentrum 74* 28. 

Homosexualität 34* 12, 13. 35* 14, 

26. 240* 91. 

Horror sexualis parrialis 83* 147. 

Hubertusburg 307* 37. 

Hilfsvereine 309* 60. 313* 110. 316* 
146. 

Hunger 16* 204, 205. 

Hungergefühl 14* 193. 

Huntingtonsche Chorea 196* 80. 197* 
111. 202* 172. 204* 213. 

Hydrocephalus internus 141* 78. 261* 

11 . 

Hydrozephalie 138* 32. 

Hydrozephalus 266* 77. 

Hygieneausstellung 73* 3. 81* 127. 

142* 90. 307* 36. 

Hygiene des Denkens 6* 86. 

Hyoscyamus 241* 112. 

Hyoszin 81* 130. 

Hyperbydrosis 190* 19. 

Hyperthermie 190* 19. 

Hypertismus 2* 14. 16* 222. 79* 106. 

Hypnagoge Phänomene 15* 208. 

Hypnose 46* 62. 

Hypnotismus 196* 96. 203* 191. 

Hypnoval 78* 83. 

Hypochondrie 168* 26. 160* 69. 174* 
266, 271. 177* 312. 

Hypophyse 74* 18. 99* 386. 177* 

306. 271* 140. 

Hypophysengeschwulst 267 * 96. 273* 
161. 

Hypophysispräparate 136*. 6. 

Hypopituitarismus 273* 161. 

Hypothyreoidismus 202* 181. 

Hysterie 163* 108. 168* 172. 189* 9. 
190* 16, 17. 18. 192* 34 b, 36, 43, 
46, 46. 194* 67. 196* 77, 79. 196* 
88. 198* 115. 199* 139, 142. 200* 
146,153. 201* 158. 202*173. 203* 
193, 194, 195, 197. 204* 210. 207* 
253, 266. 209* 270, 280, 281. 

Hysterie des Mannes 189* 8. 

Hysteriforme Symptome 164* 116. 

Hysterische Hautnekrose 209* 276. 

Hysterische Lähmung 63* 6. 

Hysterische Ohrenerkrankungen 197 * 
107. 


Hysterischer Erregungszustand 70* 15. 
Hysterischer Ileus 208* 187. 
Hysterisches Fieber 198* 115. 199* 

138 

Hysteroepilepsie 202* 183, 184. 


Ideenassoziation 139* 62. 
Idiopathischer Hydrozephalus 262* 22. 
Idiotenfürsorge 310* 76. 

Idiotia thymica 142* 86. 

Idiotie 137* 18, 20. 138* 29. 263* 30. 
Idiotie und Syphilis 137* 13, 16. 139* 
46. 

Illusionen 98* 376. 

Imbezillität 27* 6. 66* 9. 69* 3, 8. 
Immunität 79* 102. 

Indigo 96* 350. 

Individualanalyse 9* 127. 

Indoxyl 190* 13. 

Induziertes Irresein 91* 273. 160* 65. 
170* 203. 

Infantilismus 94* 320. 
Infektionspsychose 174* 268. 
Infektionspsychosen 240* 98. 241* 113. 
Influenzaneurasthenie 191* 26. 
Injektionstherapie der Ischias 190* 1<*. 
Intelligenzprüfung 2* 19. 8* 108. 14* 
189. 89* 238. 

Intelligenzstörung bei Chorea 207* 
243 a. 

Intelligenz und Kopfgröße 137* 8. 
Intentionskrampf 192* 42. 

Intonation 8* 112. 

Intravenöse Ernährung mit Trauben¬ 
zucker 85* 181, 182. 
Invalidenversicherung 63* 3. 

Irland 78* 76. 

Irrenärztliche Tagesfragen 309* 55. 
Irrenanstalt 309* 58. 

Irrenanstalten 312* 107. 

Irrenanstalten und Strafrecht 58* 3. 
Irrenfürsorge 311* 81, 83. 313* 110. 
Irrenfürsorgegesetz 311* 85. 

Irrengesetz 59* 8, 11. 60* 22. 98* 

377. 310* 70. 311* 82. 

Ischias 192* 39. 196* 92, 93. 


Jackson-Epilepsie 199* 143. 
Jahreszeiten 177* 303. 

Japan 44* 40. 90* 260. 

Jodbasedow 196* 100. 

Jodbehandlung des Basedow 204* 206. 
Juden 47 * 82. 

Jugendirresein 172* 233. 

Jugendkunde 142* 90. 


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394* 


Inhaltsverzeichnis. 


Jugendliche 36* 29. 42* 14. 43* 16. 

45* 46, 49, 64, 66, 66. 69* 7. 
Jugendliche Angeklagte 34* 6. 
Jugendliche Neuropathie 83* 160. 
Jugendliche Paralysis agitans 191* 34. 


Kältereize 96* 344. 

Kältesinn 13* 179. 

Kaffee 209* 279. 

Kaisheim 47* 76. 

Kalorischer Nystagmus 94* 311, 312. 
Kanada 308* 43. 

Karzinomkachexie 166* 146. 238* 74. 
Kasan 308* 46. 

Kastration 91* 265. 202* 176. 
Katastrophen als Ursache von Psy¬ 
chosen 207* 266. 

Katatonie 69* 3. 86* 189. 157* 18. 
168* 30, 32. 169* 48, 49. 160* 67. 
166* 141, 143, 144. 166* 166. 167* 
167. 170* 199, 201, 212. 171* 218, 
222, 223. 174* 261, 262, 284. 176* 
301. 193* 60. 

Kaufbeuren 316* 149. 

Kentomanie 239* 87. 

Kinder als Zeugen 65* 12, 16. 
Kinderfehler 136* 3. 

Kinderpsychose 168* 181. 
Kinderpsychosen 82* 136. 172* 232. 
Kinder von Paralytikern 140* 61. 
Kindlicher Schwachsinn 46* 64. 
Kinematograph 44* 31. 
Kirchenemeuerung 87* 214. j 

Kitzelgefühl 14* 192. I 

Klassifikation der funktionellen Psy- j 
chosen 167* 17. 

Klassifikation der Geistesstörungen 89* 
249. 

Klausenburg 309* 54. 

Kleinhirn 261* 8. | 

Kleinhimabszeß 261* 9. 
Kleinhimerkrankungen 268* 110. I 

Kleinhirnfunktionen 73* 7. 
Kleinhirnmißbildungen 273* 170. 
Kleinhimrinde 261* 7. 

Kleinhimtumoren 264* 43. 

Kleist 199* 136. 

Kleptomanie 43* 27. 164* 119. 
Klimakterische Melancholie 171* 221. 
Klimakterium 93* 300. 

Kobrareaktion 85* 179. 94* 313. 
Kochsalzarme Nahrung bei Epilepsie 
198* 127. 

Kochsalzarme Ernährung 201* 160. 
Königsfelden 315* 150. 


Kohlenoxydvergiftung 36* 15. 237* 50, 
60. 

Kokainismus 234* 7, 237* 59. 
Kolloidkörper 274* 172. 

Kombinationen von Arzneimitteln 82* 
142. 

Kompendium der Psychiatrie 88* 233. 
Komplexforschung 28* 19. 

Kongreß zur Fürsorge für Geisteskranke 
76* 36. 

Kongreß für Philosophie 12* 162. 
Kongenitale Aphasie 139* 50. 
Konsonanz 14* 195. 

Konsonanz und Konkordanz 14* 197. 
Konstantinopel 309* 63. 

Kosten 315* 162. 

Konstitutionell - psychopathische Per¬ 
sonen 42* 4. 

Konträre Sexualempfindungen 79* 1U3. 
81* 123. 

Kopfgröße und Intelligenz 137* 8. 
Kopfschmerzen und Augenmuskelstö¬ 
rung 206* 236. 

Korsakoffsche Krankheit 168* 182. 173* 
246. 235* 14, 21. '236* 35. 237* 

46, 49. 239* 82. 240* 102, 104. 
241* 115. 

Korrelation 2* 17. 

Kortau 312* 99. 315* 151. 

Krämpfe im Kindesalter 196* 99. 
Krampfneurose 210* 290. 
Krankenanstalten 306* 28. 

Krankenhaus 307* 36. 

Krankenhausbau 312* 95. 

Krankhafte Willensschwäche 42* 3. 
Krankheitsdauer 162* 88. 

Krebsleiden 78* 79. 

Kremsier 315* 163. 

Kretinismus 136* 4. 137* 12, 21. 22. 
138* 25, 26, 27, 28. 139* 48. 142* 
89. 

Kreuzburg 315* 164. 

Krieg 161* 74. 

Kriminalätiologie 44* 42. 
Kriminalistische Studien 46* 64. 
Kriminalität der Epileptiker 47* 74. 
Kriminalität des Kindesalters 45* 44. 
49. 

Kriminalität und Psychose 63* 12. 
Kriminalpsychologie 46* 66. 
Kriminalstatistik 44* 42. 

Kriminelle Geisteskranke 168* 171. 
Kritische Tage 6* 76. 

Kuba 58* 1. 59* 12. 87* 216. 

Küche im Krankenhaus 311* 86. 14. 
312* 96, 97, 98, 100. 


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Inhaltsverzeichnis. 


395* 


Kunst 82* 140. 
Kutzenberg 316* 165. 


Lastmörder 46* 69. 
Lymphozytose 170* 202. 


Landsberg a. W. 316* 166. 

Läsion der Chorda tympani 266* 64. 
Langenhagen 316* 167. 

Langenhorn 316* 158. 

I>ehensdauer bei Geisteskranken 162* 

88 . 

Lebensdauer bei Epilepsie 207* 242. 
Lecithinämie 75* 41. 

Lehrbuch der Psychiatrie 74* 32. 84* 
160. 

Leib und Seele 2* 20. 

Leichlingen 310* 79. 

Leipzig 314* 130. 

Lektüre 47* 72. 

Lemgo 316* 161. 

Lenau 92* 289. 

Lettres de cachet 95* 324. 

Leubus 307* 39. 316* 159. 

Lewenberg 316* 160. 

Lichtreaktion 73* 15. 

Lidbewegungen 15* 213. 

Lindenhaus 305* 1. 316* 161. 
Linkshändigkeit 73* 17. 97* 355. 

165* 141. 207* 250. 

Linkskultur 86* 206. 
Linsenkernsyndrom 268* 109. 

Liquor Bellostii 263* 28. 271* 147. 

272* 150, 151, 162, 273* 163. 
Liquor cerebrospinalis 96* 338, 339. 
170* 200. 265* 68. 269* 122. 270* 
133. 

Lohengrinsage 93* 291. 205* 218 a. 
Lohr 3<>9* 57. 

Loir et Cher 310* 76. 

Lokalisation im Gehirn 90* 256. 
Lokalisation im Großhirn 89* 247. 
Lokalisation in der Kleinhimrinde 261* 
7. 

Lokalisierung von Hautemptindungen 
11* 153, 154. 

Lombroso 84* 164. 

Lubünitz 316* 162. 

Ludwig II. von Bayern 81* 121. 
Lübeck 316* 163. 

Lüben 316* 164. 

Lüneburg 316* 165. 

Lues cerebri 241* 115. 

Lues des Zentralnervensystems 262* 21. 
Luesparalysefrage 268* 107. 
Lumbalpunktion 77* 70. 94* 314. 95* 
335. 96* 338, 339. 261* 6. 267* 
92. 272* 148. 

Lungentuberkulose 83* 151. 


Magendarmneurosen 203* 192. 
Magenerkrankungen 92* 285. 171* 

219. 

Magensymptome bei Migräne 206* 239. 
Magnetisches Gesetz 3* 37. 
i Maler 3* 31. 

| Mandschurische Taschinen 42* 11. 
Manie 169* 46. 169* 196. 170* 202. 
172* 229, 231. 173* 252, 296. 176* 
286. 

) Mangelhafte Geschlechtsempfindung 
! 189* 2. 

I Manisch-depressives Irresein 166* 4. 

167* 13, 21. 158* 27. 160* 56, 63. 
i 161* 80. 162* 90. 163* 100, 106. 

■ 164* 115, 120. 166* 142. 167* 165. 

! 168* 174, 177. 169* 183, 197. 170* 

201, 208. 171* 220, 227. 172* 228, 
229, 236, 237, 238. 173* 252. 174* 

1 263. 175* 277, 278, 279, 283, 284. 

285. 

Mariaberg 316* 166. 

Marine 69* 3. 158* 32. 

Marokko 309* 69. 311* 89. 
Masochismus 79* 94. 

Masochist 47* 77. 

Mechanismus geistiger Vorgänge 84* 
159. 

Medikamentöse Behandlung der Geistes- 
! krankheiten 157* 11. 
Medizinisch-psychologische Arbeiten 5* 
74. 

! Medizin und Strafrecht 28* 24. 

! Meerenberg 316* 167. 

I Meiostagminreaktion 76* 49. 
i Melancholie 45* 51. 78* 86. 169* 44. 
160* 04. 162* 90. 163* 102. 165* 
129. 170*202,208. 171*221. 172* 
i 229, 237, 238, 239, 240. 173* 254. 
174* 260. 175* 282. 177* 308. 

236* 30. 

Mendel-Bechterewscher Fußrücken- 
| reflex 86* 195. 

Mendels Vererbungsgesetze 76* 59. 

81* 132. 94* 310. 

, Meningitis 86* 199. 269* 119. 

■ Menopause 165* 130, 131. 

1 Menstruale Epilepsie 191* 28. 

1 Menstruale Psychosen 177* 309. 

I Messina 89* 248. 

■ Migräne 189* 7. 206* 239, 240. 

1 Mikroskopische Untersuchung des Ner¬ 
vensystems 96* 334. 


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Original fro-m 

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396* 


Inhaltsverzeichnis. 


Mikrosomie 139* 49. 

Mikrozephale Idiotie 262* 30. 
Militärdienst 190* 14. 

Militärgefangene 69* 9. 

Minderwertige 29* 30. 36* 24, 26. 

Mißbildung der Hände 78* 89. 
Mißbildungen des Ohres 79* 101. 
Mitbewegungen bei Hemiplegischen 97* 
369. 

Mörder 28* 29. 

Mongolismus 137* 16. 138* 39. 140* 
63. 141* 72. 142* 89. 

Monistische Ethik 14* 187. 

Moral insanity 44* 39. 
Moralisch-verkommene Kinder 3* 38. 
Mord 46* 66. 47* 81. 

Mordversuch 42* 7. 44* 37. 196* 82. 
Morel 80* 113. 

Morphinismus 234* 7. 236* 20. 238* 
71. 239* 87, 88. 241* 111. 
Morphiumentziehung 78* 84. 236* 33. 
Mortalität der Dementia praecox 166* 
139. 

München 242* 120. 316* 168. 
Münsingen 318* 206. 

Münsterlingen 316* 169. 

Multiple Sklerose 271* 138, 141. 

Musik und Nerven 84* 166. 
Muskelschwielen 274* 174. 

Myasthenia gravis 203* 199. 208* 262. 
Myelitis 266* 71. 

Myoklonische Epilepsie 200* 162. 
Myoklonusepilepsie 138* 24. 
Mythomanie 42* 12. 46* 62. 

Myxödem 138* 31. 140* 67. 142* 89. 
193* 49. 


Nachröten 206* 214. 

Nährmittel 96* 323. 
Nahrungsverweigerung 174* 260. 
Nanismus 193* 49. 

Narkotische Medikamente 87* 216. 
Natrium nucleinicum 263* 33. 266* 83, 
90, 93. 266* 106. 

Nebenniere 177* 306. 

Nebennieren 99* 386. 

Negativismus 176* 292. 

Neger 94* 306. 

Nekrophilie 83* 163. 

Neovitalismus 80* 118. 

Nervenheilstätte 306* 8. 
Nervenkrankheiten 194* 70. 196* 89. 
Nervenmassage 210* 286. 
Nervenpunktlehre 193* 54. 

Nervöse Diarrhöe 198* 124. 


Nervosität und Erziehung 194* 72. 

209* 282. 

Netzhaut 14* 196. 

Neuere Arzneimittel 73* 12. 

Neuralgien 206* 237. 

Neurasthenie 191* 34 a. 196* 76. 201* 
163. 205* 226. 

Neurasthenie der Jugendlichen 202* 
176. 

Neurasthenischer Dämmerzustand 46* 
71. 176* 280. 

Neurochemismus der Hypophyse 74* 18. 
Neurologie 202* 186. 

Neuropathen 192* 38. 

Neurorezidive 264* 42. 

Neurorezidive nach Salvarsan 272* 155. 
Neurorezidive nach Syphilisbehandlung 
261* 12. 

Neurosen 198* 118. 

Neurosenlehre 196* 86. 

Neurosenlehre Freuds 198* 116. 
Neurotisches Temperament 84* 173. 
Neurotonische Reaktion 198* 122. 
Neustadt i. Holstein 316* 170. 

Neustadt i. Westpreußen 316* 171. 
New York 310* 71. 

Niederbayern 43* 23. 238* 64. 
Niederlande 318* 190. 

Niederhart 316* 172. 

Niereninsuffizienz 201* 158. 
Noguchireaktion 79* 95. 

Nordamerika 43* 16. 69* 14. 81* 131. 

88* 224. 140* 68. 202* 175. 
Norwegen 309* 66. 

Nuklease 92* 282. 

Nukleasegehalt 199* 136 a. 
Nukleininjektion 164* 126. 
Nukleoproteid 208* 264. 

Nystagmus 94* 311, 312. 


Oberhessen 238* 69. 

Obrawalde 317* 173. 

Obsession 167* 168. 

Obsessionen 82* 143. 

Obstipation 174* 260. 

Odium psychiatricum 306* 23. 

Ödipus 199* 134. 

Österreich 46* 57. 59* 16. 

Ohio 306* 16. 

Ohrlabyrinth 1* 6. 

Oligophasie 194* 73. 

Operationsresultate bei Hirntumoren 
263* 35. 

Operative Behandlung der Epilepsie 
198* 117. 209* 273. 


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Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Inhaltsverzeichnis. 


397* 


Opium 78* 84. 

Opiumsucht 236* 34. 
Oppenheim-Reflex 98* 373. 
Opsonischer Index 73* 10, 11. 

Optische Reize 11* 145. 

Osnabrück 317* 174. 

Osteomalacie 166* 145. 

Othämatom 76* 46. 

Owinsk 317* 175. 
üxycholesterin 92* 283. 171* 216. 

Pachymeningitis ossificans 206* 227. 
Pädagogische Pathologie 136* 3. 
Pantopon 78* 84. 82* 137. 89* 243. 
98* 367. 172* 230. 174* 259. 176* 
289. 236* 33. 

Papilla nervi optici 270* 130. 
Paraldehydvergiftimg 87* 212. 88* 

223. 

Paralyse als Unfallsfolge 269* 121. 
Paralysis agitans 190* 16. 191* 34. 

203* 192 b. 208* 263. 209* 283 a. 
273* 168. 

Paralytischer Anfall 269* 120. 
Paramyoclonus multiplex 142* 87. 197* 
110. 208* 268. 272* 156. 

Paranoia 81* 133. 157* 7, 10. 160* 
54. 161* 78, 81. 162* 92, 98. 163* 
99. 165* 134. 166* 142. 167* 164. 
168* 180. 173* 250. 174* 258. 

175* 281. 236* 38. 

Paranoide Symptome bei einem Kinde 
172* 232. 

Parasyphilitische Erkrankungen im Kin¬ 
desalter 139* 44. 
Patellarreflektometer 85* 188. 
Patellarreflex 89* 237. 94* 318. 266* 
59. 

Pathologie des Gedächtnisses 12* 159. 
Pathologisches in der Kunst 82* 140. 
Pathologische Methode in der Psycho¬ 
logie 13* 184. 

Pathologischer Rausch 35* 20. 69* 3. 
Pathopsychologie 13* 184. 

Paulus 196* 81. 

Pellagra 234* 5, 6, 8. 236* 41. 237* 
54. 239* 89. 240* 94, 95, 99. 241* 
106, 119. 

Pennsylvania 314* 129. 

Perzeption 1* 2. 

Periodische Depression 165* 133. 
Periodische Geistesstörungen 90* 258. 

158* 36. 166* 149. 

Periodisches Irresein 167* 158. 
Periodisches Schwanken der Himfunk- 
tion 97* 353. 

Zeitachrift für Psychiatrie. LXLX. 


| Periodizität 169* T 190, 191. 
i Periodizität und Psyche 93* 295. 

! Perseveration 173* 248. 

| Perth 317* 176. 

' Pfropfhebephrenie 165* 141. 

I Phänomenologie 10* 132. 

Phantasie 4* 49. 

Phosphorarmut 206* 240. 
Phosphorstoffwechsel 87* 209. 
Physiologie der Kitzelgefühlc 14* 192. 
Physiologische Psychologie 16* 224, 228. 
Pigmenterythrozytose 266* 70. 
Plagwitz 310* 69. 

Poe 236* 34. 

Poesie 2* 21. 76* 47. 

I Polioenzephalomeningitis 266* 83. 
j Poliomyelitis 266* 80, 81. 273* 166. 
Polyneuritis 236* 36. 272* 165. 
Polynukleose 170* 200. 269* 122. 
Polyurie 190* 19. 

, Pommern 141* 70. 

Poriomanie 169* 192. 

Positive Schule 28* 23. 
Postapoplektische Geistesstörung 157* 
, 12 . 

Posteklamptisch« Psychosen 166* 164. 
‘238* 77. 

Postepileptische Albuminurie 189* 4 b. 
Postmortale Muskelerregbarkeit 269* 
115. 

, Postoperative Psychosen 89* 242. 97* 
360. 

Posttraumatische Psychose 157* 14. 
Postzentrale Hirnwindungen 80* 108. 
Präsenile Demenz 268* *104. 

| Präsenile Manie 176* 286. 

I Präurämischer Zustand 235* 29. 

1 Prag 308* 42. 
j Prefargier 317* 177. 

Presbyophrenie 168* 24. 265* 66. 

! Progressive Muskelatrophie 63* 2. 263* 
39. 

Progressive Paralyse 55* 14. 140* 6L 
169* 42. 166* 135. 167* 166. 170* 
200. 261* 3, 13. 262* 18, 21. 263* 
28. 264* 46. 265* 60. 266* 73, 82. 
267* 89, 90, 91, 93, 94, 97, 98. 268* 
101, 102, 105, 107, 108. 269* 112, 
115, 120, 121, 122. 270* 134. 271* 
136, 139, 144, 147. 272* 160, 159. 
273* 162, 163, 165. 274* 172, 173. 
Prophylaxe 76* 52. 176* 296. 306* 

13. " 

Pseudoaphasie 190* 17. 
Pseudodysenterie 307* 39. 

Pseudo-Hermaphrodit 88* 222. 

bb 


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UNIVERSITY OF MICHIGAN 




398* 


Inhaltsverzeichnis. 


Pseudoneuritis des Sehnervenkopfes 
206* 236. 

Pseudotetania hysterica 192* 43. 

Psychasthenie 139* 61. 209* 279. 

Psychasthenische Epilepsie 201* 159. 

Psychiatrie 100* 392. 

Psychiatrie und Neurologie 209* 272. 

Psychiatrische Abteilung des Reichs¬ 
gesundheitsamtes 306* 2, 4. 311* 91. 

Psychiatrische Aufgaben des prakti¬ 
schen Arztes 100* 393. 

Psychische Epidemien 90* 256. 

Psychisches Trauma 63* 7. 171* 218. 

Psychische Vorgänge beim Schießen 
10* 133 a, 134. 

Psychoanalyse 1* 1, 5. 195* 76, 84. 
196* 88. 199* 132. 209* 284. 

Psychoanalytische Forschung 191* 30, 
31. 

Psychoasthenische Krämpfe 208* 269. 

Psychogalvanisches Reflexphänomen 9* 
126. 

Psychogene Krankheitsformen 74* 33. 

Psychologie 1* 8. 2* 20. 3* 33, 36, 
38. 4* 44, 46, 50. 6* 84*, 86. 16* 
226. 227. 

Psychologie der Aussage 161* 72. 

Psychologie der Gefangenschaft 12* 
157. 

Psychologie des Kindes 6* 78. 

Psychologie des Rechnens 12* 167. 

Psychologie des Trinkers 241* 107. . 

Psychologie der Verbrecherin 44* 28. 

Psychologie und Pathologie 11* 141. 

Psychologische Profile 12* 166. 

Psychologische Untersuchungsmethoden 
8* 107. 13* 182. 

Psvchoneurosen 173* 241. 191* 26. 

i94* 61, 66. 205* 224. 207* *244. 

Psychopathische Konstitution 74* 31. 
88* 226. 

Psychopathische Minderwertigkeit 46* 
56. 138* 36. 

Psychopathologie 9* 128. 

Psychophysik 13* 180. 

Psychophysiologische Blutverschiebung 
77* 63. 

Psychophysiologische Erkenntnistheorie 
11* 146. 

Psychotherapie 4* 60. 6* 90. 76* 39. 
79* 106. 84* 172. 165* 133. 173* 
264. 194* 61. 63. 195* 76. 197* 
106. 199* 135. 200* 150. 201* 

167. 208* 260. 

Pubertätsepilepsie 196* 94. 

Pubertät und Sexualität 7* 105. 


Pubertät und Schule 137* 17. 
Puerilismus 161* 70, 71. 207* 266. 
Puerperalpsychose 90* 260. 254. 91* 
272. 170* 213. 171* 224. 
Puerperalpsychosen 84* 168, 169. 88* 
234. 93* 292. 164* 123, 124. 169* 
186, 189. 173* 255, 256, 257. 
Pupillen bei Alkoholintoxikation 241* 
114. 

Pupillenmessung 99* 387. 
Pupillenreaktion 82* 144. 91* 270. 

96* 348. 

Pupillenstarre 158* 31. 
Pupillenstörungen 76* 56. 162* 86. 

177* 307. 

Pupillenstörungen bei Alkoholpsychosen 
234* 9. 

Pupillenverengung 96* 343. 
Pyramidenbahn 139* 41. 

Pyromanie 44* 39. 

Quecksilberbehandlung 261* 12. 
Querulanten 164* 117. 

Radialislähmung 236* 36. 

Raptus melancholicus 177* 308. 
Rassenbiologie 96* 349. 

Rassenhygiene 42* 13. 72* 3. 81* 127. 
Rassenpsychiatrie 93* 301. 94* 306. 
Raucherparanoia 167* 164. 239* 79. 
Raumpsychologie 12* 166. 

Poncp|i 2 

Realitätsurteil 11* 149. 83* 158. 
Reaktionsversuche 12* 166. 16* 218. 

Reaktionszeit 5* 71. 

Rechnen 12* 167. 

Reflexe 1* 11. 77* 66. 91* 267. 198* 
125. - 

Reflexepilepsie 189* 4 a. 
Reflexerregbarkeit 1* 6. 
Reichsgesundheitsamt 305* 2, 4. 311* 
91. 

Reiz und Empfindung 13* 175. 

Religion 8* 110. 

Religionspsychologie 4* 60. 
Rheinprovinz 317* 178, 179. 
Rheumatismus 161* 68. 

Rheydt 307* 40. 

Rentenkampfhysterie 64* 23. 
Respiratorische Affektsymptome 12* 
160. 

Restkohlenstoff 87* 220. 

Retrograde Amnesie 36* 15. 
Rockwinkel 317* 180. 

Roda 317* 181, 182. 

Röntgenlehre 76* 43. 


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Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Inhaltsverzeichnis. 


399* 


Rosegg 317* 183. 

Rostock 316* 141. 

Rückenmark 266* 66. 

Ruhehallen 95* 333. 

Ruhr 305* 9. 307* 29, 39. 310* 68. 
Russische Psychiatrie 86* 197. 

Russisch-japanischer Krieg 69* 4. 
Rußland 5* 74. 238* 76. 

Rybnick 317* 184. 

Saargemünd 317* 185. 

Sachsen 307 * 34. 317* 186. 
Sachsenberg 317* 187. 

Sachverständige 28* 22. 
Sachverständigen-Erlebnisse 26* 1. 
Sadismus 79* 94. 83* 154. 

Salome 83* 163. 

Salvarsan 191* 32. 197* 108, 109. 

203* 188. 189, 190. 208* 267. 261* 
5, 12. 263* 36. 264* 49. 269* 117, 
119. 271* 143. 272* 153, 154, 155. 

*>73* IfU 

Santiago 317* 188. 

Scapula scaphoidea 81* 124. 93* 302. 
140* 64. 

Schädelbrüche 209* 271. 
Schädelkapazität 94* 309. 
Schädeltrauma 86* 194. 
Scheinkörperlichkeit 2* 13. 

Schilddrüse 193* 57. 200* 144, 149. 
Schilddrüsenkolloid 208* 264. 
Schkeuditz 310* 76. 

Schlaf 8* 111. 15* 203. 
Schlafkrankheit 271* 144. 
Schlafmittel-Kombinationen 74* 24. 
Schlafstörungen 98* 374. 

Schlaganfall 27* 14. 

Schleswig 317* 189. 
Schlundsondenernährung 98* 368. 
Schmerz 2* 23. 

Schottland 318* 192. 

Schreibstörungen 262* 16. 
Schüler-Untersuchungen 2* 27. 
Schularzt 140* 68. 141* 77. 

Schuld und Strafe 35* 23. 

Schuljugend 136* 2. 

Schulkinder 308* 60. 

Schwachsinn 27* 17. 64* 25. 70* 18. 

138* 36. 140* 62. 
Schwachsinnigenanstalten 308* 61. 
Schwachsinnigenfürsorge 136* 1, 6. 

140* 65, 68. 142* 90, 91. 
Schwangerschaft und Epilepsie 206* 
229, 231. 

Schwefelkohlenstoff-Vergiftung 239* 86. 
Schweißsekretion 206* 218. 


Schweiz 69* 11. 90* 265. 140* 56- 

166* 149. 202* 175. 318* 191. 
Schwereempfindung 73* 16, 17. 
Schwere Körperverletzung 36* 35. 
Schwielenkopfschmerz 273* 171. 
Schwindel 83* 149. 195* 74. 
Sechsfingerigkeit 95* 332. 

Seekrankheit 206* 237 a. 

Seele 16* 223. 
i Seelenkunde 86* 192. 

Segantini 1* 1. 189* 0. 
j Sehnenreflexe 80* 119. 92* 290. 
i Sehnenreflexe bei Chorea minor 192* 41. 
1 Sehnervenkopf 206* 235. 

! Sehraum 13* 176. 

Sekundäre Degeneration 262* 27. 
Selbstanzeigen 34* 10. 
Selbstbeschuldigung 35* 22. 
Sclbstbewußtsein 15* 199. 

I Selbstmord 46* 68. 62* 1. 63* 11, 14. 

I 64* 19. 76* 46. 95* 322, 327. 158* 
28. 199* 136. 

! Selbstmordversuch 86* 203. 93* 304. 

I 162* 98. 163* 99. 
i Selbstmordversuch mit Bromural 206* 
223. 

I Selbsttäuschungen 12* 168. 

• Selbstverstümmelung 69* 6. 176* 288. 
i Sensibilitätsstörungen 234* 7. 

: Sensorische Aphasie 266* 76. 

; Serbien 36* 30. 

Serodiagnostik 267* 92. 

Serologische Untersuchungen 138* 34. 
Serumreaktion 27* 9. 

Sexualität 161* 78. 

Sexualpathologie 92* 289. 
Sexualverbrecher 45* 65. 46* 62. 

Sexualproblem 87* 211. 

Sexuelle Anomalie 91* 276. 

Sexuelle Delikte 27* 17. 28* 18. 
Sexuelle Inversion 81* 123. 88* 222. 
Sexuelle Neurasthenie 205* 215. 
Sexuelle Perversion 89* 246. 

Sexuelle Träume 90* 259. 

Sichernde Maßnahmen 60* 21. 
Siechenfürsorge 311* 87. 

Siena 315* 143. 

Sigmaringep 318* 193. 

Simulant 47* 76. 

Simulation 63* 8. 64* 20. 69* 6. 
91* 276. 167* 9. 162* 97. 196* 77. 
204* 210. 

Skorbut 234* 4. 

Somnambulismus 98* 374. 
Sondenernährung 78* 90. 

Sonnenhalde 318* 194. 


Difitized 


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Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



400* 


Inhaltsverzeichnis. 


Digitized by 


Sonnenstein 311* 92. 

Sonnenstich 62* 1. 

Soziale Bedeutung der Psychiatrie 85* 
177. 

Sozialpolitische Gesetzgebung 177* 310. 
Soziologie 87* 221. 

Späte Rezidive 160* 63. 

Spaltbildungen am Hirn und Schädel 
139* 53. 

Spanisch 69* 6. 

Spannungserscheinungen am Gefä߬ 
system 156* 5. 

Spezifische Sinnesenergie 10* 136. 
Sprache der Geisteskranken 92* 286. 
Sprache des Traumes 14* 186. 
Sprachentwicklung beim Kinde 141* 
82. 

Sprachstörungen 263* 31. 
Sprachstörungen beim Kinde 141* 82. 
Sprachzentren 262* 24. « 

Sprachzentrum 264* 50. 

Springende Mydriasis 89* 240. 
Stackein 318* 195. 

Staphylokokkhämie 175* 274. 
Starkstromverletzung 63* 4. 75* 35. 

Statistik der Gebrechen 310* 74. 
Stephansfeld-Hördt 318* 196. 
Sterilisation 79* 100. 90* 265. 202* 
176. 

Sterilisierung der Untauglichen 75* 37. 
Stetten 318* 197. 

Störungen der Artikulation 274* 175. 
Stoffwechselverlangsamnng 81* 122. 
162* 93. 

St. Pirminsberg 318* 198. 
Strafgefangene 43* 20. 82* 139. 
Strafrechtspflege 34* 3. 
Strangulationspsychose 170* 200. 269* 
122 . 

Strichjungen 46* 53. 

Struma und Geisteskrankheit 209* 276. 
Strumektomie 159* 48, 49. 193* 60. 
Stupor 81* 122. 162* 93. 170* 199. 
177* 304. 

Subkutane Ernährung mit Trauben¬ 
zucker 85* 181, 182. 

Suggestion 1* 9. 16* 222. 79* 106. 

84* 172. 203* 197. 

Sulfonal 93* 305. 

Sydenhamsche Chorea 198* 121. 
Sylvius 267* 84. 

Symbolik im Traum 168* 173. 
Symbolismus 167* 157. 

Symbolismus in Träumen 4* 47. 
Sympathikussymptom bei Migräne 189* 


| Syphilidophobie 189* 1. 
i Syphilis 27* 9. 167* 165. 267* 87. 
268* 100, 101, 102. 306* 51. 
Syringomyelie 262* 17. 

Tabak 236* 17. 237 * 46, 48. 239* 79. 
240* 92. 

Tabes 165* 136. 167* 165. 268* 99. 
271* 144. 

Tabes dorsalis 263* 41. 264* 53. 273* 
164, 166. 

Tätowierung 97 * 354. 

Taiwan 86* 196. 95* 326. 

Talentierte Schwachsinnige 137* 11. 
Tannenhof 318* 199. 

Tapiau 318* 200. 

Tatbestandsdiagnostik 9* 119. 

■ Temperament 13* 177. 

I Temperamente 84* 173. 

: Temperenz 234* 1. 

1 Tetanie 205* 219. 206* 233. 

1 Tetanieepilepsie 201* 168. 

I Teupitz 318* 202. 

| Therapie der Geisteskrankheiten 74* 
23, 25. 92* 284. 

I Thermoästhesiometer 89* 241. 

| Thymus persistens 191* 27. 
j Thyrektomie 193* 47. 

Thyreoidea 210* 288. 

Thyreoidektomie 160* 61. 174* 261, 

262. 177* 306. 

Thyreotoxikosen 207* 249. 

Tierische Parasiten des Zentralnerven¬ 
systems 266* 72. 

Tierpsychologie 3* 32, 35. 13* 172, 

181. 

i Tierseele 16* 223. 
i Tiodine 269* 123. 

: Todesursachen bei Gehirnkrankheiten 
93* 296. 

Tod im epileptischen Anfall 202* 178. 
Tonempfindung 6* 67. 

Totalaphasie 262* 16. 

Totschlag 42* 2. 47* 79. 

Tonische Krampfzustände 198* 123. 
Topische Gehirn- und Räckenmarks- 
. diagnostik 262* 20. 

! Torus palatinus 88* 231. 

Tost 318* 203. 

Träumt! 4* 46, 47, 56, 57. 6* 76. 194* 
71. 199* 133. 

Tragische Motive 16* 221. 

Traasvestie 11* 148. 

Traum 5* 63. 14* 186. 168* 173. 
Traumatische Epilepsie 196* 98. 
Traumatische Neurose 63* 6. 209* 271 


Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 


Google 



Inhaltsverzeichnis. 


401* 


Traumatische Psychosen 63* 10, 17. 

93* 293. 95* 330. 

Traumatischer Himabszeß 264* 44. 
Traumatische Tabes 268* 99. 
Traumbeobachtungen 5* 75. 
Traumdeutung 195* 86. 

Tremor 190* 16. 

Trepanation 201* 165. 

Triebhandlung 202* 174. 

Trinker 69* 17. 

Trinkeranstalt 59* 17. 

Trinkeranstalten 240* 100, 101. 
Tropen-Psychosen 78* 76. 
Trugwahrnehmungen 7* 94. 83* 168. 
Trunksucht 36* 31. 236* 32. 237* 47. 
238* 71, 76. 

Tuberkelbazillen 239* 78. 

Tuberkulöse Meningitis 166* 156. 
Tuberkulose 77* 72. 83*151. 99* 380. 
159*- 43, 44. 46. 238* 75. 239* 30, 
31. 309* 66. 

Tuberkulose und Neurasthenie 206* 230. 
Tuberöse Sklerose 140* 67. 

Tumoren der Hypophyse 271* 140. 
Tumoren des vierten Ventrikels 262* 
22 . 

Tunis 310* 73. 

Typhus 91* 268. 169* 198. 235* 16. 
306* 3,10. 307* 37. 312* 102,104. 


Uchtspringe 309* 62. 

Übertreibungen der Abstinenz 241* 117. 
Überwertige Ideen 176* 290. 

Umbrien 234* 2. 
Unbekanntheitsqualität 10* 133. 
Unfallneurosen 63* 9. 64* 26. 208* 
268. 

Unfallpsychosen 63* 15, 16, 17. 64* 

18, 19, 24. 96* 342. 

Ungarn 69* 8. 309* 54. 318* 204. 
Unilaterale Reaktion 12* 166. 
Unilaterales Gedankenecho 97* 358. 
Unruhe 308* 47. 

Unterbewußtsein 11* 114. 195* 83. 
Unterhaltungsbibliothek 308* 44. 
Untersuchung Nervenkranker 208* 266. 
Untersuchungsmethode 74* 21. 
Untersuchungsmethode, psychologische 
8* 107. 13* 182. 
Unzurechnungsfähigkeit 36* 31. 

Urämie 99* 383. 

Urologie der Paralyse 267* 97, 98. 
Ursachen des Alkoholismus 236* 23. 
Ursprünge der Erkenntnis 15* 204, 206. 


Zeitschrift filr Psychiatrie. LXIX. Lit. 


1 Vagabundentum 46* 67. 88* 225. 

| 166* 129. 

j Vanderbilt clinic 315* 148. 

1 Var 235* 13. 309* 53. 

1 Vasomotorisches Nachröten 205* 214. 
, Vasomotorische Störungen 163* 109. 

Vatermord 46* 69. 

| Venen 272* 149. 

Verbrecher 44* 36. 167* 162. 

[ Verdauungsstörungen 176* 282. 
i Vererbung 42* 13. 72* 3. 81* 127. 

88* 224. 90* 262. 92* 280. 93* 303. 
’ Vererbungslehre 81* 129. 95* 331, 

j 332. 

I Vererbungswissenschaft 81* 120. 

1 Vergiftung mit Bromural 204* 200. 

Vergiftungspsychose durch Hyoszya- 
| mus 241* 112. 

Vergiftungspsychosen 235* 16. 
Verfolgungswahn 159* 37. 176* 293, 
294. 

Verhütung von Geisteskrankheiten 140* 

66 . 

Verletzung des Corpus callosum 265* 
66, 57. 

Verminderte Zurechnungsfähigkeit 35* 
19 fin* 94. 

Vernunft 7* 100. 

Veronal 81* 126. 206* 237 a. 
Veronidia 76* 48. 79* 98. 
Verständigungsmittel der Tiere 13* 181. 
Vertigo permanens 91* 271. 
Verwahrungshaus 306* 11. 

Verwahrung verbrecherischer Alkoho- 
listen 98* 376. 

Verwirrtheit 169* 45. 166* 153. 169* 
184, 185. 174* 267, 269. 
Verwimmgszustände 201* 167. 
Vestibularapparat 261* 8. 

' Vierter Gehirnventrikel 260* 2. 261* 

11 . 

Villejuif 305* 11. 

Visuelle Bewegungsempfindungen 14* 
196. 

Vitiligo 201* 171. 

, Vorentwurf des Strafgesetzbuches 27* 
11. 34* 7,8,11,13. 36* 16,18,21. 
36* 27, 28, 29, 30, 31, 33, 34, 36, 37. 

! 58* 3, 4. 60* 24. 

Vorstellungstypen 4* 52. 
i Vorstellungsverlauf 8* 115, 116. 10* 

140. 

Wachstum des Menschen 99* 381. 
Wadenphänomen 98* 373. 
Wärmeempfindung 204* 204. 

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402* 


Inhaltsverzeichnis. 


Wagner, Richard 5* 70. 

Wahnideen 82* 143. 

Wahrnehmung der eigenen Blindheit 
270* 127. 

Wahrnehmung des Raumes 7* 93. 
Wahmehmungsgeschwindigkeit 10* 136. 
Waldau 318* 205. 

Waldhaus 819* 206. 

Wandertrieb 141* 71, 75. 173* 249. 
Wehnen 319* 207. 

Weibliche Neurotiker 189* 3. 
Weilmünster 319* 208. 

Weininger 16* 198. 

Wemicke 87* 207, 208. 

Wesen des Seins 7* 101. 

Wetterfühlen 79* 99. 

Widernatürliche Unzucht 34* 5. 
Widerstand 189* 4. 

Wien 91* 266. 

Wiesloch 319* 209. 

Wil 319* 210. 

Willensakt 1* 3, 4. 

Willensakt und Temperament 13* 177. 
Willensfreiheit 9* 120. 

Willensschwäche 2* 18. 42* 3. 
Washington 313* 108. 
Wasserdruckmassage 194* 66. 
Wassermannsche Reaktion 27* 9, 17. 
90* 263. 96* 337,341. 141* 80,81, 
263* 32, 36. 264* 48. 266* 61, 

68. 269* 118. 270* 125, 131, 136. 
271* 136, 142. 273* 164. 306* 61. 
Württemberg 308* 61. 319* 211. 
Wuhlgarten 319* 212. 


| Zehenreflex 87* 219. 

1 Zeichnungen 166* 156. 

| Zerebrale Kinderlähmung 141* 84. 
j Zerebrale TÄhmnng 139* 41. 

Zerebrale Neurasthenie 199* 141. 
Zerebraler Marasmus 90* 257. 
Zerebrospinalflüssigkeit 74* 30. 79* 95. 
90* 251. 97* 361. 262* 18, 23. 
263* 40. 266* 70, 81. 269* 111. 270* 
133. 

Zerkleinerungsvorrichtungen 309* 65. 

Zeugungsfähigkeit 47* 83. 

Zirbeldrüse 269* 114. 

Zirkuläres Irresein 27* 4. 156* 2. 

157* 16. 176* 298, 299. 
Zitterbewegungen 92* 278. 

Zivilisation und Geisteskrankheiten 97* 
363. 

Zinzendorf 205* 221. 

Zoophilie 161* 79. 

Zuckerausscheidung 97* 365. 
Züchtigungsfolge 63* 5. 

Zürich 314* 125. 319* 213. 

Zunahme der Anstaltsbedürftigkeit 313* 

111 . 

Zunahme der Schwachsinnigen 136* 7. 
Zurechnungsfähigkeit 27* 3, 7. 29* 30. 

36* 34 44* 29. 

Zwangsmittel 311* 89. 
Zwangsvorstellung 43* 16. 
Zwerchfellkrampt 266* 73. 

Zwergwuchs 139* 49. 

Zwillingspsychose 95* 336. 162* 9L 

170* 209. 

Zyklothymie 164* 120. 175* 273. 


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und Lecithin), sowie die nicht minder bedeutenden Eiweißstoffe des Serums, weht*' 
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Zeitschrift för die ge^athfe Nv»r«I«glt und Psychlatilp: 

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ari Anatomie för Studierende und Ar^e^,': 


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&*n beirbcih;fe UM *efme>trte A'iU^c r ^t>pfp^iev 1470 Seiten. 


























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der Geisteskranken *C5r das Pflegepersonal,. 

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