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UNIVERSSTY OF MICHfGAN
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UNIVERSETY OF Ml'
ALLGEMEINE ZEITSCHRIFT
FÜR
PSYCHIATRIE
UND
PSYCHISCH-GERICHTLICHE MEDIZIN
HERAUSGEGEBEN VON
DEUTSCHLANDS IRRENÄRZTEN
UNTER DER MITREDAKTION VON
BONHOEFFER GRAMER v.GRASHEY KREUSER PELMAN SCHULE
BERLIN GOTTIXGEX MÜNCHEN WINXEXTAL BOXX ILLENAD
DURCH
HANS IAEHR
SCHWEIZERHOF
NEUNUNDSECHZIGSTER BAND
LITERATURBERICHT
BERLIN
W. 35. GENTHINEBSTRASSK 38
DRUCK UND VERLAG VON GEORG REIMER
BERICHT
ÜBER DIE
PSYCHIATRISCHE LITERATUR
IM JAHRE 1911
REDIGIERT
VON
OTTO SNELL
DIREKTOR DER HEIL- l’. PFLEGEANSTALT LÜNEBCRG
ZUM 69. BANDE
DER ALLGEMEINEN ZEITSCHRIFT FÜR PSYCHIATRIE
BERLIN
W. 35. GENTHINER8TRASSE 38
DRUCK UND VERLAG VON GEORG REIMER
19 10
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m
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
ALL GEMEINE ZEITSCHRIFT
FÜR
PSYCHIATRIE
UND
PSYCHISCH-GERICHTLICHE MEDIZIN
HERAUSGEGEBEN VON
DEUTSCHLANDS IRRENÄRZTEN
UNTER DER MITREDAKTION VON
mOEFFER CRAMER v. GRASHEY KREUSER PELMAN SCHÜLE
BERLIN GÖTTINGEN MÜNCHEN WINNENTAL BONN ILLENAÜ
DURCH
HANS LAEHR
SCHWEIZERHOF
NEUNUNDSECHZIGSTER BAND
NEBST EINEM BERICHT
UBER DIE PSYCHIATRISCHE LITERATUR IM JAHRE 1911
REDIGIERT VON
0. SNELL
LÜNEBÜRG
BERLIN
DRUCK UND VERLAG VON GEORG REIMER
1912
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UNIVERSETY OF MICHIGAN
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Inhalt
Erstes Heft.
Originalien. Seite
Bericht an das Landes-Direktoriat der Provinz Schleswig-Holstein über
die psychiatrische Untersuchung der schulentlassenen Fürsorgezöglinge
im Burschenheim zu Rickling, im Frauenheim zu Innien und im Asyl
Neoendeich. Von Oberarzt Dr. Hinrichs -Schleswig. 1
Neue Aufgaben der Psychiatrie in Baden. Von Medizinalrat Dr. Max
Fischer, Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Wiesloch. 34
Tber den Status epilepticus und seine Bekämpfung mit hohen Dosen
von Atropinnm sulf. Von Dr. med. Dorner, Maria Lindenhof bei
Dorsten i. W. 69
Zur Anwendung des Salvars&ns in der Psychiatrie. Von Dr. A. Pfunder 89
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
i.\. Jahresversammlung des Vereins bayrischer Psychiater in München
am 6. und 7. Juni 1911.
/Toß>-Kutzenberg und SpccAf-Erlangen: Einführung der Familienpflege
in Bayern.103
Fischer- Prag: Über den spongiösen Rindenschwund (mit Demonstration) 107
Stransky- Wien: Rückwirkungen der forensischen auf die klinische
Psychiatrie.108
■Beist-Erlangen: Die klinische Stellung der Motilitätspsychosen . . . 109
Kraepelin: Krankenvorstellungen.113
con Hösslin - Eglfing: Klinischer und anatomischer Beitrag zur Lehre
von der Westphal- Strümpellschen Pseudosklerose.115
ßiMin-München: Zur Frage der gleichartigen Vererbung bei Dementia
praecox (mit Projektionen).115
4. .Knauer-München: Psychologische Untersuchungen über den Meskalin¬
rausch .115
Deutscher Verein für Psychiatrie. Sitzung der Kommission für Idioten¬
forschung und -fürsorge am 5. Oktober 1911 in Frankfurt am Main 119
l'lti. Sitzung des psychiatrischen Vereins zu Berlin am 16. Dezember 1911 121
Otto Jidiusburger- Steglitz -Berlin: Psychiatrische Tagesfragen . . . . 121
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Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
V
JY Inhalt.
Seite
Kleinere Mitteilungen.
Korsos and Kongreß für Familienforschung,Vererbungs- and Regenerations¬
lehre vom 9. bis 1&. April in Gießen.149
Kongreß für experimentelle Psychologie in Berlin.149
Fortbildongskors für Psychiater in Berlin .149
Nekrolog Krämer .• . . . 149
Personalnachrichten.152
Zweites Heft.
Originalien.
Befreiong von Kranken aas Irrenanstalten. Von Oberarzt Dr. Mönke-
möller, Hildesheim.153
Ein Fall von GehirnverletzoDg im epileptischen Anfall. Von Dr. Fr. Sioli.
Mit 2 Textfigoren.177
Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezöglingen im Festungsgefängnis.
Von Stabsarzt Dr. Weyert, Posen. Mit 7 Textfiguren.180
Über eine einfache klinisch-psychologische Methode zur Prüfung der Auf¬
fassung, der Merkfähigkeit, des Gedächtnisses and der Ablenkbarkeit.
Von Dr. Ernst Bischoff, Langenhorn. Mit 4 Textfiguren.249
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
87. ordentliche Generalversammlung des Psychiatrischen Vereins der
Rheinprovinz am 11. November 1911 in Bonn. Mit 3 Textfiguren.
TFiffe-Grafenberg: Demonstrationen. 1. Gefäßveränderungen bei Gehirn¬
tumoren. 2. Lues cerebri mit Diabetes insipidus. 3. Angeborene
Veränderungen des Zentralnervensystems bei Paralytikern .... 268
Werner -Bedburg: Demonstration zweier Patente. 1. Tragbahre.
2. Temperatursinnprüfer.269
Raether - Andernach: Klinische Mitteilungen. 1. Encephalomalacia nach
Schußverletzung. 2. Multiple Gehirnabszesse mit Rindenepilepsie.
3. Endotheliom der Dura.272
Wassermeyer-Yionn : Über Selbstmord.275
Hühner- Bonn: Kriminalpsychologisches über das weibliche Geschlecht 276
Kleinere Mitteilungen.
Jahresversammlung des Deutschen Vereins für Psychiatrie in Kiel am
30. und 31. Mai.280
37. Wanderversammlung der südwestdeutschen Neurologen und Irren¬
ärzte am 8. und 9. Juni zu Baden-Baden.280
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Inhalt-
V
Seite
Nekrolog D. W. Beye .281
Verein zum Austausch der Anstaltsberichte.•.283
Personalnachrichten.283
Drittes Heft.
Originalien.
Gehörstäuschnngen bei Ohrerkrankungen. Von Priv.-Doz. Dr. Otto Kliene-
berger, jetzt Königsberg.285
Über die Mechanik der Wahnbildung. Von Dr. med. et. phil. Envin v. Niessl-
Mayendorf, Priv.-Doz. in Leipzig.294
Nahrungsverweigerung bei Geisteskranken. Von Dr. Hermann Krueger,
jetzt Königslutter (Braunschweig).326
Phantastik und Schwachsinn. (Gerichtliches Gutachten.) Von Dr. Gustav
Blume in Dalldorf.344
Königliche Landesanstalt für bildungunfähige Kinder zu Groß-Henners-
dorf i. Sa. Von Anstaltsvorstand Oberarzt Dr. Meitzer .362
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
3. Jahresversammlung der Pommerschen Vereinigung für Neurologie und
Psychiatrie am 17. Februar in Stettin.
Haeckel- Stettin: Über die Foerstersche Operation .379
Halbey- ückermünde: Über die Kombination narkotischer und Schlaf¬
mittel und ihre Anwendung in der Behandlung der Geisteskrankheiten 381
Aeumcisfer-Stettin: Zur Kasuistik der Epilepsie.383
7oiwascÄny-Treptow: Über Gehörshalluzinationen bei progress. Paralyse 386
137. Sitzung des Psychiatrischen Vereins zu Berlin am 16. März :912.
Weiler -Westend und Dr. jur. Werthauer (a.G.): Die Rechte der Anstalt¬
leiter gegenüber internierten Geisteskranken, insbesondere bei ein¬
geleitetem Entmündigungsverfahren.387
Ziehen- Berlin: Fall von Atrophie olivo-ponto-cerebelleuse.405
Kutzinski - Berlin: Fall von Dämmerzustand während der Entbindung . 410
Kleinere Mitteilungen.
Nekrolog Jastroicitz .412
Nekrolog Taubert .415
Zulassung von Rechtsanwälten zu Besuchen bei Pfleglingen der Heil- und
Pflegeanstalten.416
Jahresversammlung Bayerischer Psychiater am 29. und 30. Juni 1912 in
Regensburg und Wöllershof bei Neustadt a. d. Waldnaab.417
Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in Münster.417
Personalnachrichten.418
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VT Inhalt
Seit«
Viertes Heft.
Originalien.
Die Bedeutung der Anstalt Zwiefalten für das Irrenwesen Württembergs.
Von Oberarzt Dr. A. Schott , leitender Arzt der Heil- und Pflegeanstalt
Stetten i. R.419
Die Lungenheilstätte der Kgl. Heilanstalt Zwiefalten. Von Medizinalrat
Dr. Kritnmel, Direktor der Anstalt.. 426
Die Entwickelung der familialen Verpflegung der Königl. Heilanstalt Zwie¬
falten. Von Oberarzt Dr. Outekunst, Zwiefalten. (Mit 7 Kurven) . . 430
Drei Fälle von Spätgenesung. Mitgeteilt von Medizinalrat Dr. Kreuser
in Winnental . ..448
Die Behandlung psychopathisch minderwertiger Strafgefangener jetzt und
nach dem Vorentwurf zu einem deutschen Strafgesetzbuch. VonSanitäts-
rat Dr. Stetiger, Hohenasperg.458
Psychiatrie und Fürsorgeerziehung inWürtteinberg. Von Oberarzt Dr. Schott,
leit. Arzt der Heil- und Pflegeanstalt Stetten i. R.473
Beitrag zu der Lehre vom Querulantenwahnsinn. Von Oberarzt Dr. Buder
in Winnental.492
Statistische und klinische Beobachtungen über Veränderungen im Vor¬
kommen und Verlauf der progressiven Paralyse in ElsaB-Lothringen.
Von Oberarzt Dr. Hans Joachim in Stephansfeld. (Mit 7 Kurven) . 500
Ein Fall von akuter Psychose nach chronischem Veronalgebrauch. Von
Dr. Hans Laehr in Schweizerhof.529
Kleinere Mitteilungen.
Vereinigung katholischer Seelsorger an deutschen Heil- und Pflegeanstalten 668
Internationaler Verein für medizinische Psychologie und Psychotherapie 568
Pflegeanstalt Hördt im Elsaß.569
Reichsverband der deutschen Presse.569
Verein zum Austausch der Anstaltberichte.569
Personalnachrichten.569
Fünftes Heft.
Originalien.
Dementia paralytica bei den Eingeborenen von Java und Madura. Von
P. C. J. van Brero, vorm. Direktor der Staatsirrenanstalt zu Lawang
(Java).571
Über Gelegenheitsursachen gewisser Neurosen und Psychosen. Von
Dr. H. Bertschingcr, Kant. Heilanstalt Schaffhausen.588
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Original fro-m
UNIVERSETY OF MICHIGAN
Inhalt.
vn
Seite
Die Bedeutung Schopenhauers für die Psychiatrie. Von Oberarzt Dr.
Otto Juliusburger , Steglitz.618
über das neue Irrenfürsorgegesetz und die Neuordnung des Irrenwesens
im Königreich Sachsen vom Jahr 1912. Von Direktor Obermedizinal-
rat Dr. flosei-Zschadraß b. Colditz.639
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
47. Versammlung des Vereins der Irrenärzte Niedersachsen und West¬
falens am 4. Mai 1912 in Hannover.
Hriow-Hannover: Diagnose des Kleinhirnabszesses.689
Ders., Intradurales Fibrosarkom des Rückenmarks.690
Cramcr-Göttingen: Rückversicherung im Zentralnervensystem . . . 691
SneU-Lüneburg: Die Ausbildung des weiblichen Oberwartpersonales 692
BiiMc-Uchtspringe: Gefäßveränderungen und Abbauvorgänge im Zen¬
tralnervensystem nach experimenteller Methylalkoholvergiftung . . 693
Grütter-Lüneburg: Uber die bisherigen Ergebnisse der Wassermann-
schen Reaktion an der Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg 694
Eichelberg- Göttingen: Organische Geistes- und Nervenkrankheiten nach
Unfall.696
Jahresversammlung des Deutschen Vereins für Psychiatrie zu Kiel am
30. und 31. Mai 1912.
1. Referat. Hocke- Freiburg i. B. u. Alzheimer-München: Die Be¬
deutung der Symptom enkomplexe in der Psychiatrie, besonders im
Hinblick auf das manisch-depressive Irresein. 699
Ä'Jewf-Erlangen: Ober chronische, wahnbildende Psychosen des Rück¬
bildungsalters, besonders im Hinblick auf deren Beziehungen zum
manisch-depressiven Irresein.705
Urstein -Warschau: Manisch-depressives und periodisches Irresein als
Erscheinungsform der Katatonie .707
L. W. Weber-Chemnitz: Die Praxis bei der Durchführung der Pfleg¬
schaft nach dem BGB.713
Süuena-Lauenburg i. P.: Die Errichtung eines biologischen Forschungs¬
instituts über die körperlichen Grundlagen der Geisteskrankheiten 725
Birtershatis-Hamburg: Zur Psychologie der weiblichen Ausnahmezu¬
stände .731
Pßrringer-H&mbuTg: Tierversuche über den erblichen Einfluß des
Alkohols.734
Zd/ka-Hambnrg: Ober. Entstehung, Zirkulation und Funktion des
Liquor cerebrospinalis.735
Stargardt-Kie\: Ober die Ursachen des Sebnervenschwundes bei Tabes
und progressiver Paralyse.735
0. Behm-Bremen: Zytologie der Zerebrospinalflüssigkeit und ihre dia¬
gnostische Verwertbarkeit.736
HdAle-Uchtspringe: Zur pathologischen Anatomie der tuberösen Sklerose 737
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
VIII Inhalt.
Seite
2. Referat. Spielmeyer -Freiburg u. E. Meyer - Königsberg: Über die
Behandlung der Paralyse.739
P. Schröder- Breslau: Remissionen bei progressiver Paralyse .... 746
Eichelberg-Göttingen: Die Bedeutung der Untersuchung der Spinal¬
flüssigkeit ..747
FriedUinder-Uöhe Mark: Uber die Einwirkung fieberhafter Prozesse
auf metaluische Erkrankungen des Zentralnervensystems .... 749
Klemens Bergl- Prag: Über das Verhalten des Liquor cerebrospinalis
bei Luikern.751
Sterfz-Bonn: Über subkortikale sensorische Aphasie nebst allgemeinen
Bemerkungen zur Auffassung aphasischer Symptome.759
IPey^andt-Hamburg: Erweiterungen und Reorganisationen in der
Hamburger Irrenpflege.760
Fischer- Prag: Ein Beitrag zur Presbyophreniefrage.762
Stier- Berlin: Die funktionellen Differenzen der Hirnhälften und ihre
Beziehungen zur geistigen Weiterentwicklung der Menschheit . . 763
F. Stern-Kiel: Uber die akuten Situationspsychosen der Kriminellen 764
Bischoff'-H&mbnrg: Untersuchungen über das mittelbare und unmittel¬
bare Zahlengedächtnis.765
Goldstein : Über die zentrale Aphasie.766
Wanke-F riedrichsroda: Psychiatrie und Pädagogik in Beziehung zur
geschlechtlichen Enthaltsamkeit.767
GluA-Hamburg: Demonstration mikrozephaler Schädel.768
97. Sitzung des Ostdeutschen Vereins für Psychiatrie in der Provinzial-
Heil- und Pflegeanstalt zu Bunzlau am 24. Juli 1911.769
98. Sitzung des Ostdeutschen Vereins für Psychiatrie im Hörsaal der
Kgl. Psychiatrischen und Nervenklinik zu Breslau 9. Dezember 1911.
Plathner- Liegnitz: Typhus und Ruhr in der Liegnitzer Idiotenanstalt . 770
von Aunowsftt-Leubus: Willensfreiheit und Verantwortlichkeit.... 774
P. Schröder: Uber PseudoparaJyse. 774
O. Foerster: Demonstration zur Differentialdiagnose der Paralyse und
Pseudoparalyse.776
Kramer- Breslau: Anatomischer Befund bei kortikaler Tastlähmung . 780
Bonhöff'er-llre$\&u : Gehirn eines Kranken mit Agnosie.780
99. Sitzung des Ostdeutschen Vereins für Psychiatrie zu Freiburg am
29. Juni 1912.781
138. Sitzung des Psychiatrischen Vereins zu Berlin am 29. Juni 1912.
Äctnc-DaUdorf: Ein Fall von Idiotie mit starker Adipositas .... 782
Juliusburger-StegMtz: Zur Lehre von den Fremdheitsgefühlen . . . 784
19. Versammlung des Norddeutschen Vereins für Psychiatrie und Neu¬
rologie zu Danzig am 8. Juli 1912.
Semi Meyer- Danzig: Die Lehre von den Bewegungsvorstellungen . . 787
Klieneberger-KönigsbeTg i. Pr.: Uber Intelligenzprüfungen.788
E. .Meyer-Königsberg: a) Unfall durch Blitzwirkung.789
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Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Inhalt.
IX
Seite
b) Spinale Erkrankungen and psychotische Erscheinungen bei schwerer
Anämie nebst anatomischem Befund .790
Zuther-Lauenburg: Zur Verhütung und Behandlung von Furunkulosen
und Dermatitiden bei Geisteskranken.791
Boldt- Graudenz: Schutzmaß regeln gegen geisteskranke und minder¬
wertige Verbrecher .791
JEetz-Schwetz: Über Anstaltabwässer .792
Wallenberg- Danzig: Endotheliom der Dura.793
Kleinere Mitteilungen.
Die 18. Versammlung mitteldeutscher Psychiater und Neurologen am
27. Oktober in Halle.794
Eröffnung der Heilanstalt Strecknitz.794
Lombrosopreis.794
Nekrolog P. W. Jessen.795
Nekrolog Böhme.796
Personalnachrichten.797
Sechstes Heft.
Originalien.
über den Einfluß des Abdominaltyphus auf bestehende geistige Erkran¬
kung. Von Dr. Wem. H. Becker, Oberarzt an der Landesirrenanstalt
Weilmünster in Nassau.799
Über die Sterblichkeit, die Todesursachen und die Sektionsbefunde bei
Epileptikern. Von Dr. B. Hahn in Hochweitzschen.811
Beitrag zur Frage der Fähigkeit seinen Aufenthaltsort selbst zu be¬
stimmen. Von Oberarzt Dr. Schott, leitendem Arzt der Heil- und
Pflegeanstalt Stetten i. R.860
Eine Hysterie-Analyse und ihre Lehren. Von Oberarzt Dr. Bruno Saaler 866
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
88. ordentliche Generalversammlung des Psychiatrischen Vereins der
Rheinprovinz am 16. Juni 1912 in Bonn
Westphal-Bonn: Krankenvorstellungen. 1. Tetanie mit Hysterie? 2. Hy¬
sterische Pseudotetanie. 3. Akromegalie. 4. Tabes bei einer Zwergin . 912
Äfraamann-Godesberg: Atrophie beider Vorderarme und der Hand¬
muskulatur . 916
flcrtin^-Galkhausen: Über Hausindustrie in den Anstalten.916
Dr. Pollitz: Zur Psychologie des Strafvollzuges.918
Hübner-Bonn : Über Trugwahrnehmungen ohne Wahnvorstellungen bei
erhaltener Krankheiteinsicht (Demonstration).920
Zeitschrift für Psychiatrie. LXIX. 6. b
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
X
Inhalt.
Seite
Ennen- Merzig: Bemerkungen zu Bosai: Die gynäkologische Prophy¬
laxe bei Wahnsinn.922
F. Sioli-Bonn: Ober amyloidähnliche Degeneration im Gehirn . . . 923
Kleinere Mitteilungen.
Jahresversammlung des Deutschen Vereins für Psychiatrie.924
17. Internationaler medizinischer Kongreß in London.924
Nekrolog Gutsch.925
Nekrolog August Cramer.929
Die frühere Irrenanstalt in Neuruppin.931
Verein zum Austausch der Anstaltberichte.933
Personalnachrichten...933
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Bericht
an das Landes • Direktorat der Proyinz Schleswig ■ Holstein
Aber die psychiatrische Untersuchung der schulentlassenen
Ffirsorgezöglinge im Burschenheim zu Rickling, im Frauen-
heim zu Innien und im Asyl Neuendeich.
Von
Oberarzt Dr. Hinrichs- Schleswig.
Nach dem Beispiele anderer Provinzen, insonderheit dem ziel¬
bewußten Vorgehen der Nachbarprovinz Hannover, beschloß der
Provinzialausschuß von Schleswig-Holstein im vorigen Jahre die
psychiatrische Untersuchung der schulentlassenen, in Anstalten
untergebrachten Fürsorgezöglinge. Leider mußte sich die Unter¬
suchung bisher beschränken auf die Zöglinge im Burschenheim zu
Rickling, im Frauenheim zu Innien und im Asyl Neuendeich. Zwei
Anstalten baten, mit der Untersuchung aus bestimmten lokalen
Gründen noch kurze Zeit zu warten, mehrere andere, überhaupt
davon abzusehen, weil sie die psychiatrische Untersuchung aus erzieh¬
lichen Gründen nicht für erwünscht hielten. Mir wollen diese Gründe
nicht einleuchten, und nach den Verhandlungen des vorjährigen
Fürsorge -Erziehungs-Tages in Rostock zu urteilen und nach den dort
fast einstimmig angenommenen Resolutionen scheint diese Ansicht
auch unter den Pädagogen nur noch vereinzelt dazustehen. Auf
jeden Fall haben die Untersuchungen in den drei erwähnten Anstalten
in keiner Hinsicht irgendwelche nachteilige Folgen zutage treten
lassen. Das haben mir die Vorsteher sofort und später noch einmal
auf besondere Anfrage der Direktor des Landesvereins für innere
Mission ausdrücklich bestätigt. Hier sind auch sie gerade es gewesen,
die eine psychiatrische Untersuchung herbeisehnten, sie brachten ihr
demgemäß nicht nur das weitgehendste Interesse, sondern auch
ZtiUchrift tttr Ptychiitrir LXIX, 1 . 1
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Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
2
Hinrich s,
vollstes Verständnis entgegen. In allen drei Anstalten hat man mir
denn auch meine Arbeit durch die freundlichste Hilfe und beständige
Unterstützung derart erleichtert, daß ich es mir nicht versagen kann,
allen Beteiligten auch an dieser Stelle meinen wärmsten Dank aus¬
zusprechen.
Vor der Untersuchung wurde über das Vorleben der Zöglinge zum
Teil von mir, zum größern Teil nach meiner Anleitung von einem Beamten
der Zentralverwaltung ein Auszug aus den Fürsorgeakten genommen
nach dem Formular 1, das sich anlehnt an das von Professor Cramer
benutzte Formular und an einen Fragebogen für Rechercheure von Dr. Cim-
bal, wie solcher beim Jugendgericht in Altona in Anwendung kommt und
sich bewährt hat. Dabei hatte ich gehofft, bei der großen Kriminalität der
Zöglinge in dem einen oder andern Fall bereits einen Fragebogen in den
Akten ausgefüllt vorzufinden. Doch erfüllte sich diese Hoffnung nicht.
Kurze Nachtragungen wurden dann noch von den Anstaltsleitern gemacht,
und außerdem erstatteten die Erzieher bei jedem Zögling eine kurze Cha¬
rakteristik auf einem besonderen Bogen. Von weiteren Erhebungen über
das Vorleben (bei den Eltern oder der Polizeibehörde) wurde abgesehen,
auch in den Fällen, wo die Akten wenig oder gar keine Auskunft gaben.
Der Zeitpunkt der Untersuchung hätte sonst noch länger hinausgeschoben
werden müssen, was vor allem die Anstaltsleiter nicht wünschten.
Die Untersuchung selbst wurde vorgenommen im Vorsommer 1910
in Rickling, im Herbst in Innien und Anfang 1911 in Neuendeich. Sie bot
im ganzen keine erheblicheren Schwierigkeiten. Die männlichen Zöglinge
ließen sie durchweg gleichgültig über sich ergehen, wie überhaupt bei ihnen
im Durchschnitt eine große gemütliche Stumpfheit zutage trat. Nur
einige wenige von ihnen benahmen sich ihrem Schwachsinn entsprechend
albern und läppisch, und einer mit ausgesprochen moralischem Defekt
versuchte sich durch Frechheit hervorzutun. Daß dann gerade ihr Be¬
nehmen zur Beurteilung herangezogen werden konnte und mit verwandt
wurde, braucht wohl nicht besonders hervorgehoben zu werden. Bei den
weiblichen Zöglingen war die Untersuchung anfangs mit etwas mehr
Schwierigkeit verbunden. Bei zu leichter Fragestellung fühlten sie sich
verletzt und beleidigt, bei zu schweren Fragen verstummten sie leicht aus
Schüchternheit und Scham. Einige zeigten auch mehr oder weniger
Angst. Mit Vorsicht und Geduld gelangte man aber auch hier überall
zum Ziel. Verschiedene Psychopathen erschienen umgekehrt direkt
dankbar für das ihrem abnormen Zustande entgegengebrachte Verständnis.
Uber den äußern Hergang der Untersuchung verweise ich auf den
Bericht von Professor Gramer, von dem ich kaum abgewichen bin,
allein schon aus dem Grunde, um bei der individuell immerhin ver¬
schiedenen Beurteilung der psychischen Grenzzustände möglichst
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Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
| Beritht an das Landes-Direktorat der Provinz Schleswig-Holstein usw. 3
gleiche Vergleichsunterlagen zu erhalten. Die männlichen Zöglinge
wurden körperlich von Kopf zu Fuß untersucht, bei den weiblichen
beschränkte sich die körperliche Untersuchung auf die entblößt ge¬
tragenen Körperteile. Bei der Intelligenzprüfung ist in das For¬
mular II, in das die Resultate eingetragen wurden, die Fähigkeit,
rntersehiede klarzulegen (nach Ziehen), nicht aufgenommen. Doch
wurde diese Prüfung in fast allen Fällen mit vorgenommen. Kleinere
Abweichungen von dem gewöhnlichen Gange der Untersuchung
mußten selbstredend öfter eintreten, so z. B., wenn man merkte, daß
die Zöglinge sich gegenseitig unterrichtet hatten, was übrigens gar
nicht so häufig vorkam, als man vielleicht erwarten könnte. Im ganzen
mußte man sich sonst der Gleichmäßigkeit halber und aus Zeitmangel
tfhon an das Schema halten, trotz der Mängel, die einem solchen Ver¬
fahren anhaften.
Zur Untersuchung kamen in Rickling 84 männliche, in Innien
und Neuendeich je 30, zusammen 60 weibliche Zöglinge im Alter von
14 bis zu 20 Jahren. Von ihnen stammten aus den beiden Gro߬
städten Kiel und Altona weit mehr als die Hälfte, nicht ganz ein Diittel
aus den übrigen Provinzstädten, nur 20 Zöglinge vom Lande. Außer¬
ehelich geboren waren im ganzen 33, von denen 15 später legitimiert
waren. Daß die Mehrzahl den niedrigsten Volkschichten entstammt,
wird aus naheliegenden Gründen niemandem verwunderlich erscheinen.
Zu etwa % gehörten die Eltern dem Arbeiterstande an, in Ve der Fälle
dem Handwerker- und Gewerbestande, von denen aber nur sehr wenige
selbständig waren, der kleine Rest dem niederen Beamtenstande und
anderen Berufklassen. Das Einkommen der Eltern betrug dem¬
gemäß in keinem einzigen Fall über 3000 Mk. und nur bei 20% über
900 Mk.; 37 mal (d. h. in 25% der Fälle) waren die ärmlichen Verhält¬
nisse direkt betont. Gestorben war der Vater in 27, die Mutter in
22 Fällen, 15 mal hatte freilich der überlebende Gatte sich wieder ver¬
heiratet. Vollwaisen waren 3 Zöglinge.
Die sonstigen häuslichen Verhältnisse waren meist die denkbar
ungünstigsten. Die Akten schilderten da verschiedentlich derartig
unglaubliche Zustände in der Großstadt, aber auch auf dem Laude,
daß es wahrlich nicht wundernehmen kann, wenn auch ein völlig
normales Kind in einem solchen Sumpfe versinkt. Da sind beide
Eltern dem Tranke ergeben, roh und gewalttätig, lügen und betrügen,
i •
i g
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Original fro-rri
UNIVERSITY OF MICHIGAN
4
Hinrichs,
wo und wann sich ihnen Gelegenheit bietet, sind beide bestraft, der
Vater mit Zuchthaus, die Mutter im Verdacht der gewerbmäßigen
Unzucht, und alle, Eltern und sieben Kinder, schlafen auf Stroh mit
Decken zugedeckt, da Betten nicht vorhanden sind. Oder die Ehe
ist geschieden, der Vater trank, die Mutter hat verschiedentlich unehe¬
lich geboren, steht im Verdacht der Kuppelei, lebt in wilder Ehe mit
einem vielfach vorbestraften Manne und duldet, daß dieser mit ihrer
kleinen Tochter unzüchtige Handlungen vornimmt. Jedem, der sich
mit der Fürsorgeerziehung beschäftigt hat, werden solche Schilderungen
trotzdem wenig Neues bieten, und der Einzelheiten wegen kann
deshalb auf die Tabelle 2 verwiesen werden. Eine große Rolle spielt
in ursächlicher Beziehung der Alkohol, um so verderbenbringender,
als er nicht nur die widerlichen häuslichen Verhältnisse, Not und
Elend schafft, sondern auch eine schwere erbliche Belastung bedingt,
so daß dann auf der endogenen Grundlage die exogenen Schädigungen
um so verhängnisvoller ihre Wirkung entfalten können, zumal wenn
zum Übermaß der eigene frühzeitige Alkoholgenuß des Zöglings
hinzutritt. Der Vater trank in 43, beide Eltern in 3 Fällen, Alkohol¬
mißbrauch des Zöglings wurde 11 mal erwähnt. Es waren dies 8 männ¬
liche und 3 weibliche Zöglinge. Fast regelmäßig war dann auch der
Vater ein Trinker, so bei den 8 männlichen 6mal als ein ausgesprochener
Potator zu bezeichnen. Zum Teil schien sich die unselige Leidenschaft
direkt vererbt zu haben, so besonders bei einem Zögling, einem Imbe¬
zillen, dessen Großvater bereits an Trunksucht gelitten hatte, dessen
Vater deswegen entmündigt war, nachdem er fast sein ganzes Ver¬
mögen vertrunken hatte. Die meiste Schuld trugen aber doch wohl
die unverantwortlich laxen Anschauungen der bereits durch Alkohol
degenerierten Eltern und die Verführung. So war es 2 mal direkt be¬
tont, daß der Zögling schon als Kind beständig mit zechenden Er¬
wachsenen verkehren durfte, und daß dem Kinde bereits der Alkohol
zugänglich gemacht wurde. Da ist denn die Forderung, die Berau¬
schung eines Kindes als eine grausame Körperverletzung unter Strafe
zu stellen (Weygandt 31), ganz gewiß berechtigt. Wiederholt war es
bei den Zöglingen nach Alkoholgenuß bereits zu deliriumartigen Zu¬
ständen mit Selbstmordversuchen (4mal) gekommen. Daß dies alles
nur Minimalwerte sind, ist leider sicher. Offenbar sind nur die
schwersten Fälle erwähnt worden.
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Bericht an das Landes-Direktorat der Provinz Schleswig-Holstein usw. 5
Aber nicht immer erklärten die mißlichen häuslichen Verhältnisse,
die asozialen Zustände in der Umgebung das Scheitern der jungen
Existenzen. Schon sehr oft fand sich in den Akten nur die Bemer¬
kung: der Vater, resp. die Mutter hat jeglichen Einfluß auf den Zögling
verloren, oder aber: die Eltern können nicht erziehlich auf ihn ein¬
wirken, wobei es unentschieden bleiben mußte, ob die Energielosigkeit
und Willenschwäche der Erzeuger die Schuld hatte — was dann ja
auch als erbliches Moment gewertet werden müßte — oder aber die
abnorme Veranlagung des Zöglings allein. Ferner fehlten die An¬
gaben in 13 Fällen, und endlich wurden gar nicht selten die Verhält¬
nisse umgekehrt als durchaus günstig geschildert, so daß hier der
Grund der Verwahrlosung in der Minderwertigkeit des Zöglings selbst
gesucht werden mußte.
Im ganzen wirkten so exogene und endogene Ursachen zusammen
in 78 Fällen, nur exogene in 19, nur endogene in 31, und in 16 Fällen
ließen sich keine von beiden nachweisen. Hierbei wurden freilich
die eigenen Angaben der Zöglinge mit verwertet. Direkte erbliche
Belastung von seiten der Erzeuger (Schwindsucht, leichtere geistige
Abnormitäten, Verbrechen nicht einberechnet), also schwere erbliche
Belastung war vorhanden nach den Akten bei 64 (d. h. bei 44%),
nach ihren eigenen Angaben außerdem bei 27, im ganzen bei 91, d. h.
bei 63% aller Untersuchten, doppelte Belastung von seiten beider
Eltem im ganzen bei 26. Die Angaben der Zöglinge mögen dabei
vielleicht nicht immer zuverlässig sein. Immerhin muß man aber in
Erwägung ziehen, daß sie wohl ebenso gern die Mängel ihrer Eltern
zu- wie aufdecken. Auf jeden Fall bedeuten diese Zahlen einen hohen
Grad der Erblichkeit. Zum Vergleich möge herangezogen werden,
daß diese bei den Aufnahmen der hiesigen Provinzialirrenanstalt
in den letzten 10 Jahren im Durchschnitt noch nicht ganz 40% betrug
(1410 von 3645). Im Vordergründe stand bei weitem die Trunksucht
der Eltern. Außer den oben erwähnten 46 Fällen, die aktenmäßig
festgestellt werden konnten, wurde vom Zögling selbst noch 19 mal
Alkoholmißbrauch des Vaters zugestanden. Bei 65 von 91 Belasteten
hatte also der Alkohol die erbliche Veranlagung verursacht. Weitere
Aufschlüsse über die Erblichkeit gibt die Tabelle 3. Sie erreichte einen
noch höheren Grad als den Durchschnitt bei den schwereren Schwach¬
sinnsformen und den ausgesprochenen Psychopathen: von letzteren
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Hinrichs,
waren nur 17% (4 von 24), von ersteren nur 25% (5 von 20) erblich
nicht belastet.
Wieweit andere äußere Ursachen (körperliche Erkrankungen,
Unfälle usw.) mit verantwortlich gemacht werden konnten, war
schwer zu entscheiden. Abgesehen von den Fällen von Alkoholmi߬
brauch der Zöglinge, die oben bereits erwähnt wurden, war die geistige
Entwicklung sicher ungünstig beeinflußt je lmal durch Lues hered.,
Epilepsie (wahrscheinlich), Hydrocephalus, Gehirnerschütterung,
Trauma, allgemeine körperliche Schwäche infolge von Rhachitis und
Skrofulöse. Sonst war in dieser Hinsicht die Ausbeute der Akten
außerordentlich gering. So z. B. fand sich Rhachitis im ganzen nur
3 mal, Skrofulöse nur 5 mal verzeichnet, während bei der Unter¬
suchung 34 mal ausgesprochene Drüsenschwellungen, Narben nach
Drüsenoperationen 7 mal und deutliche Zeichen überstandener
Rhachitis jetzt noch allein bei 12 männlichen Zöglingen nachgewiescn
werden konnten. Auch die Aussagen der Zöglinge selbst vervoll¬
ständigten dies Bild nur wenig. Freilich muß man bedenken, daß
infolge der zur Verfügung stehenden Zeit immer nur eine kurze Ana¬
mnese von ihnen aufgenommen werden konnte.
Eine Ausnahme machten bei den weiblichen Zöglingen die Ge¬
schlechtskrankheiten (Tafel 7). Unter den 60 untersuchten Mädchen
hatten nur 3 vielleicht nicht geschlechtlich verkehrt, alle übrigen
regelmäßigen Geschlechtsverkehr gepflogen, zum Teil schon vor dem
vollendeten 14. Lebensjahr. 26 waren der Unzucht ergeben und 16
der gewerbmäßigen Unzucht. Manchen Schwachsinnigen hatte
offenbar ganz das Gefühl für das Unmoralische gefehlt. Ein Mädchen
war schon unter 14 Jahren regelmäßig von Soldaten mißbraucht
worden, ein anderes hatte erklärt, was solle man tun, wenn man kein
Geld habe, oder aber, das täten doch alle Mädchen, oder ein anderes,
es sei ja nur am Sonntag geschehen. Alle vier waren imbezille Mädchen,
deren Zurechnungfähigkeit schwer in Zweifel gezogen werden mußte.
Bei der Untersuchung selbst wurde die Frage bei der großen sexuellen
Erregbarkeit der Zöglinge aus naheliegenden Gründen nicht erörtert.
Daß unter solchen Verhältnissen auch die Geschlechtskrankheiten
stark verbreitet waren, wird niemandem erstaunlich erscheinen.
Nur die Hälfte aller Insassen war davon verschont geblieben, 12 von
60 waren an Lues erkrankt gewesen, 8 schon mehrmals wegen
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Bericht an das Landes-Direktorat der Provina Schleswig-Holstein usw.
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Lues und Gonorrhoe behandelt worden. Bei den männlichen Zög¬
lingen spielten dagegen die Geschlechtskrankheiten eine ganz unter¬
geordnete Rolle.
Über die geistige Veranlagung in der Kindheit gaben die Akten
gleichfalls nur dürftige Auskunft. Bei 57 fehlten jegliche Angaben.
Es war ja freilich immer der Schulbesuch und dessen Erfolg verzeichnet.
Dies konnte jedoch nur einen schlechten Ersatz bilden. Denn mehr¬
fach sollten Zöglinge eine volle Volkschulbildung genossen haben,
die bei der Untersuchung nicht einmal das kleine Einmaleins kannten
und zweifellos als imbezill bezeichnet werden mußten. Alle bis auf
zwei, die eine höhere Schulbildung genossen, hatten die Volkschule
besucht. Der Besuch war aber besonders bei den Knaben oft sehr
unregelmäßig (47 mal), 29 waren „Schulläufer“ gewesen, während
nur 10 Mädchen gelegentlich Neigung zum Schulenlaufen gezeigt
hatten. Bei den weiblichen Zöglingen stellte sich das Umhertreiben
und Vagabondieren erst mit der geschlechtlichen Reife in den Ent¬
wicklungsjahren ein. Von den Mädchen hatten 7s* von den Knaben
nur etwa */« das Ziel der Volkschule erreicht. •
Im allgemeinen beschränkten sich die Aktenangaben auf kurze
Äußerungen wie: beschränkt, geistig zurückgeblieben, nicht ganz
normal, und Aussagen über die verschiedensten moralischen Defekte
von seiten der Lehrer und Erzieher. Eine ärztliche Untersuchung
und Begutachtung hatte stattgefunden in 10 Fällen, eine ärztliche
Beobachtung in nur 6 Fällen (Tafel 7). Meistens auch in schweren
Fällen von Schwachsinn und Psychopathie war niemals ein Arzt
befragt. Selbst wenn ein Zögling als ekelhaft schmutzig und viehisch
bezeichnet worden war, so daß „der Waisenvorsteher vor einem
Rätsel steht, das sich nur durch einen krankhaften Zustand erklären
läßt“, war er ohne Sachverständigenurteil bestraft und alsdann in
Fürsorge gegeben, und ähnlich war es einem hochgradigen Psycho¬
pathen ergangen, der viele nervöse Erscheinungen bot, in der ganzen
Entwicklung zurückgeblieben war und dessen Zurechnungfähigkeit
noch jetzt stark bezweifelt werden mußte, sowie einem Idioten, der
nunmehr dauernd der hiesigen Irrenanstalt zur Pflege überwiesen ist.
Durch die Tätigkeit der Jugendgerichtshöfe werden solche Fälle aber
wohl immer mehr zur Seltenheit werden. Wenn freilich wie bei einem
Zögling das ärztliche Zeugnis lakonisch lautet: „Über ihren Zustand
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ist nicht viel zu sagen“, trotzdem die Erzieher wegen der geistigen
Abnormität jegliche Verantwortung ablehnen, und sich dann in Kürze
die Notwendigkeit der Irrenanstaltpflege herausstellt, so ist damit
der Sache wenig gedient. Über gewisse Spezialkenntnisse muß der
Begutachter schon verfügen und etwas Verständnis den Grenzzuständen
entgegenbringen.
Änderungen in dem Zustandbilde treten allerdings oft ein, und
sie sind nicht immer vorauszusehen. Mehrmals bin ich erstaunt
gewesen, wenn ich bei einem Zögling, in dem man nach der Schilderung
der Akten einen Idioten erwarten mußte, nur einen ganz geringen
Grad von Schwachsinn nachweisen konnte, so daß einer sogar als
fast normal bezeichnet wurde. Während der Fürsorgeerziehung hatte
bei ihnen eine Spätentwicklung eingesetzt. Umgekehrt tritt bekannt¬
lich vielfach in den Entwicklungsjahren ein Stillstand oder eine Ver¬
schlimmerung ein. So hatte besonders bei 10 von den untersuchten
Knaben die Verwahrlosung erst nach oder kurz vor der Konfirmation
begonnen. Unter ihnen befanden sich 4 Psychopathen, deren geistige
Minderwertigkeit jetzt in Zunahme begriffen war, und 3 Imbezille,
die beim Hinaustreten ins Leben dem Kampf ums Dasein nicht ge¬
wachsen waren, von denen zwei um so rascher versagten, als sie dem
Alkohol verfielen. Ein geistig Normaler scheiterte gleichfalls infolge
des Alkohols, und bei den beiden letzten, die auch als normal be¬
zeichnet werden mußten, war eine Ursache nicht ersichtlich. Viel¬
leicht waren sie in schlechter Gesellschaft der Verführung zum Opfer
gefallen.
Bei den Mädchen zeigte sich die Verschlimmerung oft durch
Häufung von Wutanfällen und Erregungszuständen, die zu wieder¬
holten Malen auch die Irrenanstaltspflege erforderlich machten, noch
öfter aber wurden sie jetzt nach erreichter Keife bei ihrer sexuellen
Erregbarkeit durch die äußern Verhältnisse der Unzucht in die Arme
geführt, und manche Imbezille erlagen nur gar zu bald willenlos der
Verführung. Weitere Angaben über die Entwicklungsjahre enthält
Tabelle 7.
In die Zeit der Pubertät fielen auch erklärlicherweise die meisten
Konflikte mit dem Strafgesetz. Bei einem Teil der weiblichen Zöglinge
fehlten nähere Angaben, alle übrigen hatten die verschiedensten Ver¬
gehen und öfter schwere Verbrechen auf dem Gewissen, die meisten
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Bericht an das Landes-Direktorat der Provinz Schleswig-Holstein usw. 9
waren vorbestraft, eine ganze Anzahl bereits unter 14 Jahren, mehrere
Knaben bis zu 5 mal, bevor sie in Fürsorge gegeben wurden. Da
die beigefügte Tafel (8) nur die Strafen enthält, ergeben die Zahlen
naturgemäß nur Minimalwerte aller begangener Verbrechen. Auch
während der Fürsorgeerziehung waren noch viele bestraft worden.
Ein Strafaufschub war, soweit sich dies feststellen ließ, in 29 Fällen
eingetreten.
Die Strafen überwogen ganz erheblich bei den Knaben, besonders
die Eigentumvergehen, bei den Mädchen traten dafür die unzähligen
Fälle von Unzucht, über die aber nur ganz selten eine Strafe verhängt
war. Wie bei jenen die Konflikte mit dem Strafgesetz, so waren bei
diesen die sexuellen Verfehlungen fast regelmäßig die Ursache für die
Einleitung der Fürsorgeerziehung gewesen. Diese war immer und
immer wieder als die ultima ratio, leider nicht vorbeugend in Wirk¬
samkeit getreten. Bei 75 von den 84 männlichen Zöglingen war sie
eingeleitet auf Grund des § 1 Abs. 3 des Gesetzes vom 2. Juli 1900,
bei 7 auf Grund des Abs. 2, nur bei 2 nach Abs. 1 (Tafel 9). Trotz der
größten Verwahrlosung der Kinder hatten sich aber noch oft genug
die Eltern ablehnend verhalten und alle Mittel in Bewegung gesetzt,
um die Fürsorge zu verhindern. Nur 10 mal hatten die Eltern selbst
den Antrag gestellt. Es wird also wohl noch lange Zeit verstreichen,
bis das Vorurteil über die Fürsorgeerziehung überwunden ist.
Dementsprechend war sie leider auch immer erst sehr spät, zu
spät in die Wege geleitet. Nur 7 Zöglinge waren im Alter von 6 bis
10 Jahren, 22 weitere vor vollendetem 14. Lebensjahr, alle übrigen
später und 19 sogar erst nach vollendetem 18. Lebensjahr in Fürsorge
gekommen. Dabei betrug die Zeit zwischen Antrag und Unterbringung
noch oft genug über 1 / 2 Jahr. So war es denn auch notwendig ge¬
worden, daß 59 von 84 männlichen Zöglingen — nur bei diesen wurden
diese Zahlen verfolgt — sogleich in einer Erziehungsanstalt unter¬
gebracht werden mußten, und von ihnen hatten in der Zwischenzeit
nur 24 vorübergehend versuchsweise in Familienpflege gegeben werden
können. Daß mit solchen Elementen die Erziehung noch glänzende
Resultate erzielen soll, kann man füglich kaum verlangen.
Aus der Zeit der Fürsorgeerziehung interessieren hier zunächst
die zahlreichen Entweichungen (Tafel 11), die (wohl zur Hauptsache
aus äußern Gründen) bei den männlichen Zöglingen ungemein viel
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Hinrichs,
häufiger Vorkommen als bei weiblichen (dort Feldarbeit, hier Haus¬
arbeit). Am .meisten beteiligt waren von jenen dann wiederum die
Psychopathen und die Imbezillen, während die leichteren Grade von
Schwachsinn unter dem Durchschnitt blieben. Als eine triebartige
Neigung wurde das Entweichen besonders in drei Fällen von den
Zöglingen selbst geschildert: sie wurden verstimmt, bekamen Angst
und Herzklopfen, liefen plötzlich auf und davon, fühlten sich hinterher
von der Unruhe und Spannung befreit und möchten dann am liebsten
wieder umkehren. Zwei waren ausgesprochene Psychopathen, bei
dem dritten ließ sich bei der Untersuchung sonst nichts Besonderes
feststellen. Die meisten Zöglinge wußten dagegen für ihr Fortlaufen
keine nähere Erklärung zu geben. Später beschuldigten mehrere die
Erziehungsanstalt und die schlechte Behandlung. Hierauf sowie auf
die Selbstmordversuche und Erregungszustände werde ich weiter
unten zurückkommen.
Der Ernährungszustand der untersuchten Zöglinge war durchweg
gut, insonderheit bei den weiblichen, und wo nicht, erklärten körper¬
liche Leiden die Magerkeit zur Genüge. Verschiedene Male konnte
man beobachten, in welch dürftigem und heruntergekommenem Zu¬
stande dagegen einige kurz zuvor Entwichene nach den Strapazen
eines unregelmäßigen, auf der Landstraße oder im Bordell verbrachten
Lebens in die Anstalt zurückgekehrt waren. Die körperlichen Er¬
krankungen sind in Tabelle 12 aufgeführt.
Den Entartungszeichen und Innervationstörungen (vgl. die Tafeln
13 u. 14) wurde bei der Beurteilung nur dann ein Wert beigelegt,
wenn sie gehäuft vorkamen und in ausgesprochenem Maße vor¬
handen waren. Ganz frei von ihnen waren nur wenige.
Mit Tätowierungen (bis zu 10 verschiedenen, s. Taf. 12), auf die
im übrigen gar kein Gewicht gelegt wurde, hatte sich reichlich die
Hälfte der männlichen Zöglinge geziert. Es waren fast ausnahmlos
rohe, gewalttätige Burschen oder solche, die eine sexuelle Laufbahn
hinter sich hatten, zum größten Teil geistig Minderwertige.
Bei der Prüfung der geistigen Fähigkeiten wurden die Anforderun¬
gen möglichst niedrig gestellt, schwierigere Fragen nur, um die richtige
Beantwortung in positivem Sinne verwerten zu können. Trotzdem
war der negative Ausfall ein großer, so daß selbst die Schwestern sich
oft über die Unkenntnisse der Zöglinge wunderten, obwohl sie sich
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Bericht an das Landes-Direktorat der Provinz Schleswig-Holstein usw. H
doch allmählich an ein so schwach begabtes Material gewöhnt und
wohl auch ihre Anforderungen bereits recht heruntergeschraubt
haben. Verschiedene kannten nicht ihren Geburtstag, nicht alle
Farben — Farbenblindheit bestand dabei nicht —, nicht die Uhr,
von den vorgezeigten Bildern nur den Löwen, konnten einstellige
Zahlen nicht richtig addieren u. a. m. Eine ganze Reihe von Zög¬
lingen in Rickling kannte die Pastoren, den Hausvater und die
Schwestern nicht mit Namen. Es ist dies jedoch weniger als ein
Intelligenzdefekt zu deuten, als vielmehr eine Folge von außerordent¬
licher Teilnahmlosigkeit und Gleichgiltigkeit. Bei den Mädchen
wurde dies nur dreimal beobachtet. Bei ihnen überwog das lebhafte,
erregte Element, und die Indolenz erreichte bei ihnen auch nie einen
so hohen Grad. Dafür versagten sie wiederum öfter auf andern Ge¬
bieten, zeigten verhältnismäßig öfter Störungen des Gedächtnisses,
der Merkfähigkeit, leichtere Ermüdbarkeit, Flüchtigkeit, Zerstreut¬
heit u. a., geringere Schulkenntnisse. Weiterer Einzelheiten wegen
verweise ich auf die Tafel 15 und auf die Berichte über die Unter¬
suchungen in andern Provinzen.
Wahnideen wurden nicht festgestellt, dagegen mehrmals krank¬
hafte Eigenbeziehung und auch zeitweilige Sinnestäuschungen, die
freilich bei den Betreffenden erst in der späteren Anstaltsbeobachtung
mehr zutage traten. Moralische Defekte als Teilerscheinung der
ganzen geistigen Minderwertigkeit waren, wie zu erwarten, oft vor¬
handen; ein ausgesprochener Defekt auf moralischem Gebiete ohne
sonstige, insonderheit Intelligenzstörungen wurde dagegen nur einmal
beobachtet. Affektstörungen (Tafel 16) waren nicht selten, und be¬
sonders bei den weiblichen Zöglingen waren oft infolge der leichten
Erregbarkeit Tobsuchtsanfälle (mit Selbstmordversuchen) aufgetreten,
die mehrmals Irrenanstaltspflege erforderlich machten. Leichtere
Hemmungen konnten wiederholt beobachtet werden, eine schwerere
Hemmung bestand bei einem nach seinem Entweichen kurz zuvor
zurückgebrachten Mädchen. An Bettnässen litten noch drei Zöglinge
in Rickling, an Nachtwandeln einer. An Handlungstörungen sei hier
noch erwähnt, außer dem bereits oben angeführten triebartigen Ent¬
weichen, die zweimal beobachtete Neigung zu ekelhaften Schmutze¬
reien, wie sie bei Hysterie zuweilen besteht. Beides waren aus -
gesprochene Psychopathen, die wohl auch sonst hysterische Charakter-
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Hinriclis,
eigenschaften darboten, aber keine hysterischen Stigmata. Der eine
von ihnen war auch längere Zeit in der Irrenanstalt. Wie das Ent¬
weichen wurde dann auch gar nicht selten das Stehlen als triebartig
geschildert, sowohl in den Akten, wie von den Zöglingen selbst (vgl.
Taf. 7 u. 15). So behauptete einer, vorher jedesmal ein Gefühl der Be¬
klemmung, Zittern und Herzklopfen, Unruhe und Angst zu bekommen,
hinterher von einem Gefühl der Starre befallen zu werden. Meistens
handelte es sich um Schwachsinnige oder Psychopathen mit mehr oder
weniger Schwachsinn. Zwei von ihnen mußten aber als normal be¬
zeichnet werden: der eine erklärte, er sei früher „schwächer“ gewesen,
der andere erzählte, seine Mutter habe das Stehlen bei ihm für eine
Krankheit gehalten, er sei aber durch Hypnose, geheilt. In der Tat
hatte er sich seit 1907 keinen Diebstahl mehr zuschulden kommen
lassen.
Bei der Diagnose (Tafel 17) wurde unterschieden: normal, psycho¬
pathisch mit oder ohne Schwachsinn, debil (Schwachsinn leichteren
Grades), imbezill (Schwachsinn schwereren Grades), Idiotie und Epi¬
lepsie, von der Stellung weiterer Differenzialdiagnosen dagegen ab¬
gesehen.
Der Beurteilung des Geisteszustandes wurde selbstredend nicht
nur die Intelligenzprüfung, sondern alles: das Aktenergebnis, die
schriftlichen und mündlichen Angaben der Erzieher, die somatische
und psychische Untersuchung zugrunde gelegt, auch die Auskunft der
Zöglinge mit Vorsicht mit verwertet, und die Grenzen der geistigen
Gesundheit dann immer möglichst weit gezogen. Trotzdem konnten
von den männlichen Zöglingen nur 16 als einwandfrei normal bezeichnet
werden. 22 weitere boten allerhand nervöse Erscheinungen, moralische
Defekte, mehr oder weniger geistige Schwäche, so daß bei 9 von diesen
die Diagnose normal mit einem großen Fragezeichen versehen werden
mußte. Immerhin müssen aber auch sie für das Resultat der Unter¬
suchung als normal gelten, zusammen also 38 = 45%, Ausgesprochene
Psychopathen (ohne Intelligenzdefekt) waren 5 = 6%, als debil
mußten im ganzen 27 = 32%, als imbezill 12 = 14% bezeichnet
werden. Ein Zögling litt wahrscheinlich an Epilepsie, einer an Idiotie.
Bei den weiblichen Zöglingen stellt sich das Eigebnis, wie folgt:
einwandfrei normal 17, normal (?) 7, zusammen 24 = 40%, aus¬
gesprochen psychopathisch 3 = 5%, debil im ganzen 21 = 35%,
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Reicht an das Landes-Direktorat der Provinz Schleswig-Holstein usw. 13
imbezill 12 = 2C% In Neuendeich überwogen etwas die Psycho¬
pathen, in Innien die Schwachsinnigen. Hinterher wurde auch von
der Vorsteherin in Neuendeich bestätigt, daß gegenwärtig verhältnis¬
mäßig intelligente Zöglinge in ihrer Anstalt untergebracht seien.
Unter den Schwachsinnigen befand sich dann noch, wie auch aus der
Tabelle 17 zu ersehen ist, eine ganze Anzahl von Zöglingen, die neben
ihrer geistigen Schwäche schwere nervöse Erscheinungen darboten.
An Psychopathen fanden sich somit im ganzen (mit oderohne Schwach¬
sinn): unter den Knaben 13 = 15%, unter den Mädchen 10 = 17%.
Diese hohen Prozentsätze mögen zunächst gewiß Staunen erregen.
Im Grunde genommen braucht man sich aber nicht zu wundern. Denn
man muß doch bedenken, daß erstlich einmal das, was in Fürsorge
kommt, durchw r eg kein normales Material darstellt, und in zweiter Linie
scheitern hiervon in der Außenwelt, in der Familienpflege immer
wieder die geistig Minderwertigen. Gerade sie müssen in die Erziehungs¬
anstalten zurückversetzt werden und drücken das Durchschnittniveau
so herunter.
Zur Fürsorgeerziehung weiter geeignet erschienen nach ärzt¬
lichem Standpunkte 64 männliche (= 76%) und 44 weibliche Zög¬
linge (= 73%). Diese Zahlen scheinen mir aber jetzt entschieden
noch zu hoch gegriffen zu sein. Denn seit der Untersuchung wurden
aus Rickling bereits drei der Irrenanstalt zur Beobachtung und vor¬
übergehenden Behandlung überwiesen, die damals als durchaus
geeignet bezeichnet waren trotz der nicht übersehenen geistigen
Minderwertigkeit. Alle übrigen passen in die Fürsorgeerziehung,
d. h. in ihrer jetzigen Form, nicht hinein. Sie gehören sowohl in ihrem
Interesse, wie vor allem mit Kücksicht auf die übrigen Zöglinge in
besondere Zwischenanstalten, in denen neben der pädagogischen Er¬
ziehung vor allem auch die ärztlich notwendigen Gesichtspunkte zu
ihrem Recht kommen können. Das wird gegenwärtig wohl allgemein
anerkannt und kam auch in den Leitsätzen auf dem vorjährigen Für-
sorge-Erziehungs-Tag sowohl von ärztlicher, wie von pädagogischer
Seite voll zum Ausdruck und zur Annahme. Eine nähere Begründung
ist deshalb hier kaum mehr am Platze.
Die Zahl der zur Fürsorge Ungeeigneten ist erheblich geringer
als die der geistig Minderwertigen. Denn viele von diesen, besonders
die, bei denen zur Hauptsache nur eine Schwäche des Intellekts besteht,
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14
Hinrichs,
sind sehr oft leicht zu lenken und ohne Schwierigkeit in den bisherigen
Erziehungsanstalten zu behandeln.
Die Frage nach der Besserungfähigkeit habe ich mir bei den ein¬
zelnen Zöglingen nicht gestellt, da die Prognose zu unsicher ist. Auch
ist die Frage nach der Militärtauglichkeit bei den männlichen nicht
beantwortet, da die Zwischenzeit bis zum Diensteintritt meistens noch
zu lang war. Bei allen nicht Normalen wird sie aber später ernstlich
zu prüfen sein, da gerade die Psychopathen und Schwachsinnigen
beim Mili tär sehr bald versagen, geistig erkranken oder durch Fahnen -
flucht u. a. mit den Militärstrafgesetzen in Konflikt geraten.
Wichtiger erschien es dagegen, schon jetzt die Frage der Ent¬
mündigung zu erörtern, damit sie rechtzeitig genug vor Ablauf
der Fürsorgeerziehung eingeleitet werden kann, vor allem bei den
Mädchen, die wohl noch mehr der Versuchung ausgesetzt sind (in
sexueller Hinsicht) als die männlichen Zöglinge. So wird besonders
bei 12 weiblichen Insassen, je 6 von Neuendeich und Innien, die
Entmündigung voraussichtlich erforderlich sein. In Betracht kommen
dabei in erster Linie Imbezille, die sich willenlos lenken und vor allem
nach der schlechten Seite hin beeinflussen lassen, die ohne Stütze in
der Außenwelt sich nicht halten können.
Auf die Untersuchung hin wurde zunächst bei 6 Zöglingen aus
Rickling, bei denen eine längere Anstaltsbeobachtung, bzw. -pflege
durchaus notwendig erschien, die Überführung in die Irrenanstalt
beantragt und ausgeführt. Eis stellten sich dann aber bald bei ihrem
Aufenthalt in der Irrenanstalt allerhand Schwierigkeiten heraus,
insonderheit auch bei der später wiederholt beantragten Zurückver¬
setzung in die Fürsorge. Die Provinz besitzt keine eigenen Anstalten,
und die Vorstände der Fürsorgeanstalten lehnten die Wiederaufnahme
der Zöglinge ab. Deshalb wurde fortan auf Grund der Untersuchung
keine weitere Überführung zwecks längerer Beobachtung befür¬
wortet, sondern nur den Fürsorgeanstalten anheimgegeben, bei den
pathologischen Zöglingen bei eintretender Verschlimmerung eine
solche zu beantragen, obwohl bei einer ganzen Reihe eine längere
Beobachtung wünschenswert gewesen wäre. Um so mehr wäre des¬
halb bei ihnen eine Wiederholung der psychiatrischen Untersuchung
in gewissen Zeitabständen angebracht.
Auf diese Weise wurden dann im Laufe der Zeit (5 Zöglinge mit-
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Bericht an das Landes-Direktorat der Provinz Schleswig-Holstein osw. 15
gerechnet, die sich bereits vorher hier befanden ) % im ganzen 16 männ¬
liche und 6 weibliche Zöglinge in der hiesigen Provinzialirrenanstalt
ontergebracht. Von diesen hatten drei aus Rickling kurz zuvor
einen ernstgemeinten Selbstmordversuch gemacht. Sie waren daselbst
vor nicht langer Zeit in die Falkenburg, das feste Haus fttr schwer¬
erziehbare Zöglinge, das im vorigen Sommer gerade zur Zeit der
psychiatrischen Untersuchung bezogen war, in dem eine eiserne
Disziplin gehandhabt wird und auch wohl herrschen muß, zur Haupt¬
sache ihrer Entweichungen wegen verlegt worden. Es bestätigte sich
von neuem die Erfahrung, die im Heere schon längst gemacht worden
ist: geistig defekte Menschen versagen, sowie größere Anforderungen
an sie gestellt werden, und einer zu straffen Disziplin sind sie nicht
gewachsen. Die meisten Entweichungen (im Heere Fahnenflucht)
sind ja nicht durch äußere Umstände veranlaßt, sondern durch innere
Voigänge bedingt. Dies gilt noch mehr von Selbstmordversuchen.
Freilich alle drei genannten Zöglinge bekundeten gleichlautend, nur
durch Verzweiflung infolge der schlechten Behandlung und Mi߬
handlung durch Schimpfen und Prügel seien sie zu der Tat getrieben.
Aber abgesehen davon, daß eine eingeleitete Untersuchung für diese
Angaben keine Anhaltspunkte eigab, zeigte es sich in der Anstalts-
beobachtung bald, daß der eigentliche Grund sicher in krankhaften
Verstimmungen zu suchen war. Auf eine ganz geringe Veranlassung
hin, oft ohne ersichtlichen Grund traten Depressionszustände, öfter
von tagelanger Dauer auf. So weinte einer von ihnen stundenlang,
als seine Mutter, durch äußere Gründe verhindert, einen in Aussicht
gestellten Besuch an dem bestimmten Tage nicht ausführte; der zweite
sprach ein bis zwei Tage lang kein einziges Wort zu seiner ganzen Um¬
gebung, nachdem es ihm untersagt worden war, ältere Patienten durch
Schneeballwerfen zu belästigen, und der dritte wußte oft selber keinen
triftigen Grund für seine langandauemden Verstimmungen anzu-
führen.
Leider wird dies an der Tatsache nichts ändern, daß das Durch¬
schnittpublikum immer wieder den Aussagen der Zöglinge allein
Glauben schenken und den Fürsorgeanstalten die ganze Schuld auf¬
bürden wird und daß dann eine sensationslüsterne Presse solche Vor¬
kommnisse mit Vergnügen aufgreifen und aufbauschen wird, wie dies
ja in ähnlichen Fällen auch in unserer Provinz zur Genüge geschehen
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Hinrichs.
ist. Will man da rechtzeitig Vorbeugen und die Fürsorgeerziehung vor
unbegründeten Angriffen und Schaden bewahren, so wird man bei der
Versetzung in das feste Haus bei pathologischen Zöglingen außer¬
ordentlich vorsichtig Vorgehen müssen. Eine spezialärztliche Unter¬
suchung und Beratung wäre da jedesmal sehr am Platze. Noch besser
aber wäre es, wenn alle diese Psychopathen, die in der freieren Behand¬
lung zu große Schwierigkeiten machen, gar nicht erst in das Haus
für schwer erziehbare Zöglinge hineinkämen, sondern daß für sie be¬
sonders geeignete Zwischenanstalten errichtet würden. Diese Not¬
wendigkeit wird sich mit der Zeit immer mehr herausstellen. In
Hannover ist man auch bereits in dieser Hinsicht vorgegangen.
Die Überführung in die Irrenanstalt ist wohl in einzelnen Fällen
zum Zwecke der Beobachtung gerechtfertigt, zum Zwecke der Pflege
aber meistens nur ein Notbehelf und auf die Dauer nicht haltbar.
Denn nur die allerwenigsten sind als dauernd irrenanstaltspflege¬
bedürftig anzusehen. Von den oben erwähnten 22 Zöglingen sind dies
nur 2 männliche, ein Idiot und ein Imbeziller, die beide zeitweilig
halluzinieren. 5 männliche sind inzwischen großjährig geworden,
von ihnen nur 1 in der Anstalt verblieben, 4 entlassen. Weiter sind,
weil nicht anstaltspflegebedürftig, in Familienpflege entlassen 3 männ¬
liche und 2 weibliche Zöglinge, 1 männlicher ist entwichen. Die
übrigen 9 (5 männliche und 4 weibliche) befinden sich noch in der
Anstalt. Diese 5 männlichen sind sämtlich nicht mehr irrenanstalts-
pflegebedürftig, bei den 4 weiblichen ist nur ein vorübergehender Auf¬
enthalt in der Irrenanstalt infolge ihrer heftigen Erregungszustände
zu rechtfertigen, ihre Behandlung wäre aber auch in einer geeigneten,
ärztlich geleiteten Zwischenanstalt möglich. Es ergibt sich also, daß
alles in allem nur drei Zöglinge als dauernd geisteskrank anzusehen
waren, sie müßten denn auch auf das Gesetz vom 11. Juli 1891 über¬
nommen werden.
Alle übrigen passen auf die Dauer nicht in die Irrenanstalt hinein,
zunächst einmal nicht in ihrem eigenen Interesse. Sie müssen hier
naturgemäß ganz wie Kranke und dementsprechend stets mit Nach¬
sicht behandelt werden. Solche dauernde Milde können sie aber
ebensowenig vertragen wie die zu straffe Disziplin. Bei ihren vielen
moralischen Defekten, die nicht alle ohne weiteres als krankhaft
anzusehen sind, haben sie ganz gewiß eine ernste Erziehung nötig,
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wie sie ihnen in der Irrenanstalt nicht zuteil werden kann, wenn
anders sie später den Ansprüchen des Lebens gewachsen sein sollen.
Daß sie das hier nicht lernen, lehren die Erfahrungen, die mit der
Familienpflege bisher gemacht wurden. Um nämlich die Zöglinge,
die nicht irrenanstaltspflegebedürftig waren, anderweitig unterzubrin-
?en, wurden 7 männliche, einer von ihnen 2 mal in Familienpflege
gegeben. 2 entwichen sehr bald und wurden in verwahrlostem Zustande
nach einigen Wochen wieder eingeliefert, 1 mußte wegen Straßenraubs
in Haft genommen werden, 3 mal kehrte der Zögling nach kurzer Zeit
von selber zurück und bat um seine Wiederaufnahme, angeblich
natürlich, weil er zu schlecht und zu grob behandelt worden sei. Dabei
ließ es sich aber nur einmal hinterher feststellen, daß die Stelle in der
Tat nicht passend gewählt war. Die mildere Behandlung in der
Irrenanstalt bei verhältnismäßig viel Freiheit und nicht so anstren¬
gender Arbeit gefiel ihnen eben besser. Für ihr späteres Leben ist
der Gewinn aber recht zweifelhaft. Nur zwei von den letztgenannten
haben sich bisher y 2 , bzw. y 4 Jahr lang gut gehalten, ohne ihrem
Dienstherrn Anlaß zu Klagen zu geben. Freilich muß man hierbei
in Betracht ziehen, daß gerade die Psychopathen zu den am schwersten
erziehbaren Zögüngen rechnen, zum Teil wohl leider als unerziehbar
gelten müssen, und es soll deshalb auch nicht behauptet werden,
daß nun neue Zwischenanstalten auf einmal alle Schwierigkeiten
aus dem Wege räumen und glänzende Resultate werden erzielen
können.
Was aber vor allem betont werden muß, ist der Umstand, daß die
Rücksicht auf die übrigen Kranken die Unterbringung solcher Für¬
sorgezöglinge in der Irrenanstalt auf die Dauer als unhaltbar erscheinen
läßt. Durch ihre asozialen Neigungen wirken sie zu ungünstig auf
ihre Umgebung: durch Frechheit und Unverschämtheit, Rücksichts¬
losigkeit, Albernheit und Neckereien, die oft mit Schlägereien ein Ende
nehmen, gegenseitige Beeinflussung und Hetzereien, durch maßlose
Wutausbrüche und Erregungzustände, dies besonders bei den Mädchen,
oft auch ein Gemisch von Ungezogenheit und Krankheit, wie dies
alles in den Berichten der Anstaltdirektion immer wieder hervor¬
gehoben ist. Durch eine weitere Anhäufung solcher Elemente würde
der Charakter der Irrenanstalt als eines Krankenhauses schwer leiden,
nachdem sie eben durch die Erbauung des festen Hauses von den
Zeitschrift für PcyohUtrie. LX1X. 2
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Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
18
Hinrichs,
geisteskranken Verbrechern befreit worden ist, sie würde sehr zum
Nachteil der übrigen Kranken immer mehr den Charakter einer reinen
Detentionsanstalt annehmen müssen. Schließlich ist auch wohl zu
überlegen, ob es rein rechtlich zu verantworten ist, solche Zöglinge,
die ärztlicherseits nicht als geisteskrank im engeren Sinne und nicht
als unzurechnungfähig im Sinne des Gesetzes zu bezeichnen sind,
sondern nur als vermindert zurechnungfähig, dauernd der Irren¬
anstalt zur Pflege zu überweisen.
Immer von neuem drängt sich also die Notwendigkeit auf, für
pathologische Zöglinge geeignete Zwischenanstalten zu errichten oder
zum mindesten besondere selbständige Abteilungen, die rein wirt¬
schaftlich anderen Anstalten angegliedert werden könnten. Die
Provinz würde sich dadurch auch in gewisser Weise von den Er¬
ziehungsanstalten unabhängig machen, während die Unterbringung
gerade bei diesen Zöglingen bisher allerhand Schwierigkeiten machte,
indem sie von Anstalt zu Anstalt geschoben werden mußten, entschie¬
den nicht zu ihrem Vorteil.
Hiergegen wird allerdings der Einwand erhoben werden können,
daß sich in unserer besonders kleinen Provinz für solche Anstalten
nicht die nötige Anzahl von Zöglingen wird finden lassen. Ich glaube
jedoch, diese Befürchtung wird sich mit der Zeit als unbegründet
erweisen. In Betracht kommen zunächst alle Zöglinge, die bei der
Untersuchung als ungeeignet zur Fürsorgeerziehung in der jetzigen
Form bezeichnet sind, 20 männliche und 16 weibliche. Diese Zahl ist
aber, wie oben ausgeführt, noch zu niedrig gegriffen. Ferner ist ein
Teil der männlichen und reichlich die Hälfte der weiblichen erwachsenen
Anstaltzöglinge bisher nicht zur Untersuchung gekommen. Es wäre
sehr erwünscht, dies nachzuholen, um genaue Resultate zu erhalten.
Da man annehmen darf, daß bei den übrigen Zöglingen der Prozentsazt
der Psychopathen und Schwachsinngen ungefähr die gleiche Höhe
erreichen wird, so wird man von vornherein mit etwa 30 männlichen
und reichlich so viel weiblichen Zöglingen für die neue Anstalt rechnen
können, die wenigen, die wirklich geisteskrank und irrenanstaltpflege¬
bedürftig sind, abgerechnet. Dann werden diese Anstalten alle auf¬
nehmen können, die vor Einleitung der Fürsorgeerziehung psychische
Abnormitäten dargeboten haben, die eine längere Beobachtung
wünschenswert erscheinen lassen. Es würde ihnen dann nicht ohne
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Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Bericht an das Landes-Direktorat der Provinz Schleswig-Holstein usw. 19
weiteres der Stempel der Irrenanstalt aufgedrückt, gegen die doch
leider immer noch ein Vorurteil besteht.
Schließlich wird in Zukunft nach Errichtung einer Zwischenanstalt
das Bedürfnis nach weiteren Plätzen ganz entschieden sehr bald
steigen, da die Fürsorgeanstalten die Wohltat, von solch schwierigen
Elementen befreit zu werden, im Interesse der normalen Zöglinge
immer mehr empfinden werden und die Zahl der Fürsorgezöglinge
im allgemeinen noch im Steigen begriffen ist. Es wird da denselben
Gang gehen, wie einst mit dem festen Hause für geisteskranke Ver¬
brecher. Das Bedürfnis hierfür war längst anerkannt, man fürchtete
aber allgemein, die Zahl würde zu niedrig sein, um einen Bau für die
Provinz allein zu rechtfertigen. Selbst von sachverständiger Seite
wurden anfangs 25 bis 30 Plätze für ausreichend gehalten. Dann
wurde das feste Haus in Neustadt errichtet mit 40 Plätzen, und jetzt
nach wenigen Jahren reichen auch diese nicht mehr aus.
Auf Grund der vorliegenden Resultate der bisherigen Unter¬
suchung halte ich mich zu folgenden kurzen Schlüssen
berechtigt: 1. Es ist sehr erwünscht, daß die psychiatrische
Untersuchung auf die übrigen Fürsorgezöglinge, zunächst auf die
in Anstalten für Erwachsene untergebrachten ausgedehnt werde.
2. Es ist dringend erforderlich, daß sie in gewissen Zeitabständen
wiederholt werde; sie kann sich dann aber beschränken auf die früher
als pathologisch erkannten und solche, bei denen inzwischen auf¬
fallende Veränderungen eingetreten sind; vor allem wäre sie erwünscht
vor Verlegung von Psychopathen in das feste Haus für schwererzieh¬
bare Zöglinge.
3. Die Errichtung einer geeigneten Zwischenanstalt ist auch für
unsere Provinz auf die Dauer nicht zu umgehen.
Fragebogen 1. Vorgeschichte (nach Auskunft der
Akten etc.)
1. Personalien'. Vor- und Zuname. Geburtsort (Kreis). Geburts¬
tag- Ehelich oder unehelich.
2. Äußere Verhältnisse : Der Eitern Wohnort, Stand, Vermögens¬
und sonstige Verhältnisse. Sind die Eltern noch am Leben? (ev. wann
verstorben?) Wo wurde der Zögling früher erzogen? Unter weichen
Verhältnissen? Frühere Arbeitstellen? Seit wann Erwerbsarbeit?
2 *
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
20
Hinrichs,
3. Erbliche Belastung’. Sind bei den Eltern, Großeltern, Geschwistern
oder sonst in der Familie vorgekommen: Geisteskrankheiten, Nerven¬
krankheiten (Epilepsie), Selbstmord, Trunksucht, auffallende Charaktere,
Verbrechen, Schwindsucht, Syphilis (Aborte).
4. Frühere Entwicklung, a) körperliche: Erkrankungen der Mutter
während der Schwangerschaft; Geburt (abnorme Verhältnisse); Ent¬
wicklung bei der Geburt; Zahnen; Gehen; Sprechen; Krämpfe (Bett¬
nässen, Nachtwandeln); Rachitis und Skrofulöse; Infektionskrankheiten;
Hautausschläge; Traumen.
b) Geistige Entwicklung: Als Kind; Schulbesuch; Erfolg desselben;
Fähigkeit zum Aufmerken und Beobachten; Gedächtnis; Leichte Ermüd¬
barkeit; Kenntnisse; Urteilsbildung; Gemütsstimmung; Auffallende
Eigenschaften; Frühzeitige sexuelle Regungen; Ethische Defekte; Ver¬
brecherische Neigungen; Neigung zum Umhertreiben; zum Alkohol.
5. Besonderheiten aus den Entwicklungsjahren ;
6. Vorstrafen;
7. Beginn der Fürsorgeerziehung; Grund:
8. Weitere Entwicklung in der Fürsorgeerziehung: Körperliche
Krankheiten (Krämpfe); Führung; Besondere Eigenschaften; Wie oft
bestraft und weshalb? Entweichungen; Erregungszustände; Beschäfti¬
gung; Leistungen; Sonstige Bemerkungen.
Fragebogen 2. Ärztliche Untersuchung.
1. Körperlich : Größe, Gewicht. Körperbau; Hautbeschaffenheit;
Drüsen; Abnormer Haarwuchs.
Schädel: Kopfmaße; Narben des Schädels; Degenerationszeichen
am Schädel; am Gesicht; an den Ohrmuscheln; Innervationsstörungen
der Hirnnerven; Augenlider; Augenbewegungen; Pupillen; Facialis;
Nase nerkr anku nge n.
Mundhöhle: Gaumen; Zäpfchen; Rachen; Rachenreflex; Zähne;
Zunge (Narben).
Rumpf: Herz; Lungen; Bauchorgane; Reflexe, Bauchdecken-;
Crema'ster-; Muskelerregbarkeit; Geschlechtsorgane; Urin.
Extremitäten: Abnorme Stellungen; Spitzfuß, Klumpfuß; Degene¬
rationszeichen; Atrophien; Paresen; Kontrakturen; Reflexe der oberen
Extremitäten; der unteren; Spasmen; Hypo- und Hypertonie; Sensi¬
bilitätstörungen; Dermographie; Koordinationstörungen; Ataxie: Augen-
fußschluß, Kniehackenversuch; Sonstige Bewegungstörungen; Gang und
Haltung; Sprachstörungen; Sinnesorgane.
2. Psychisch: Orientiertheit über Ort, Zeit, eigene Person, andere
Personen, weitere Umgebung: Erkennen von Gegenständen, Farben,
Bildern; Sinnestäuschungen; Gedächtnis für frische Aufnahme (Merk¬
fähigkeit), Gegenstände, Farben. Bilder, Zahlen und Worte, Sätze, ältere
Vergangenheit; Schulkenntnisse; Rückläufige Assoziationen: Ebbing-
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Original fro-m
UNIVERSITY 0F MICHIGAN
fWit'hi Mi das Lüodcs-Direktmat der Proviiu dsw
Wi-Mu-h, M&£«eipwseli<*t: Verpuel». Fähigfctüf ?,u beschreiben. tu
ein Sprich wyt .zu ÜrHi#6nJ Besitz air Vöar«t«iUiiij|f«^. allgemeinen
Inhalts. ethischer Vorstellungen. spezifi
Wahnideen;
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• i 1 * miN r.>‘:-i.;':i.li:uttigunv: des Vorst^lmigsahlaufe, Inkohärccjit; Slandhntgs-
M»*rw«gv.n; !Vrigi»ngen und (iem'hoheitert; XliWUtssUmmong.
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22
Hinrichs,
Tafel 2. Häusliche Verhältnisbe.
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Eltern haben jeglichen Ein*
Beide Eltern tranken.
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fluß verloren .
15
10
6
31
Alkohol dem Kind zugängl.
i
—
—
1
Eltern können nicht erziehe-
Stiefvater trank .
i
—
—
1
risch einwirken .
12
2
1
15
Mutter Kupplerin, lebt in
Eltern kümmern sich nicht
wilder Ehe.
—
1
i
2
um Zögling.
5
1
1
7
Mutter der Unzucht ergeb.
4
2
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Eltern tagüber au! Arbeit
26
5
4
34
Mutter hat trotz Alters un-
Eltern beständig auf Reisen
ehelich geb.
2
—
—
2
(Artisten) .
—
—
1
1
Mutter hat in der Ehe un-
Eltern wechseln jede Woche
ehelich geb.
1
—
—
i
die Wohnung.
—
1
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1
Eltern in schlechtem Ruf in
Eltern beide kränklich....
1
1
—
1
sittl. Bez.
5
1
2
8
Mutter kränklich.
2
1
—
3
Mutter sittlich verkommen
1
—
1
„ nimmt Kind in
Mutter schmutzig u. unsaub.
1
1
2
4
Schutz.
2
—
—
2
Schmutziges Haus .
1
—
1
Mutter energielos .
3
1
—
4
Ärmliche Verhältnisse betont
19
6
12
37
Vater kränklich u. willens¬
Große Kinderschar betont
1
—
—
1
schwach .
2
—
—
2
Eltern verleiten Kinder zum
Eltern wechseln unvernünf¬
Schlechten .
1
—
—
1
tig mit Strenge u. Milde
1
—
—
1
Eltern halten Kind von der
Eltern leben getrennt ....
8
2
5
16
Schule ab.
—
1
—
1
Vater wohnt nur im Logis
—
—
1
1
Eltern halten Kinder zum
Eltern sind geschieden....
7
2
4
13
Diebstahl an .
]
1
Mutter zweimal geschieden
1
1
Vater begeht Sittenverbr. an
Vater mißhandelt Mutter u.
den Kindern.
1
2
2
5
Kinder.
1
—
- 1
1
Kind wurde zu Hause nicht
1
Vater lebt in wilder Ehe .
2
—
—
2
satt.
1
—
—
1
Eltern schlugen sich.
1
—
—
1
Verhältn. denkbar ungünst.
—
1
—
1
Kind von den Eltern mi߬
Verhältnisse günstig.
—
3
1
4
handelt .
3
—
2
6
Eltern ordentliche Leute ..
8
5
1
14
Vater trank .
22
9
12
43
Es fehlen jegliche Angaben
7
1
6
13
Tafel
3.
Erbliche Belastung.
Direkte erbl. Belastung nach
Indirekte erbl. Belastung
den Akten .
39
10
15
64
nach den Akten .
3
2
1
G
Nach Angabe des Zöglings
Nach Angabe des Zöglings
außerdem .
18
5
4
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außerdem ..
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1
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Bericht an das Landes-Direktorat der Provinz Schleswig-Holstein nsw. 23
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Belastung von beiden Eltern
Geschwister geisteskrank ..
1
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1
nach den Akten .
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verkommen ...
1
—
1
Nach Angabe des Zöglings
„ Unzucht.
1
2
1
4
außerdem .
6
1
1
8
Cousine Krämpfe .
—
—
1
1
Nach den Akten:
Nach eigener Angabe
Vater Trunksucht.
22
9
12
43
außerdem:
Nervenleiden.
1
—
—
1
Vater Trunksucht.
16
1
3
19
„ jähzornig, toh, Vaga-
„ Schwermut .
1
—
—
1
bund, gewalttätig, ener-
„ Schlaganfall .
—
2
1
3
gielos usw. ..
10
6
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16
Schwindsucht.
3
2
ß
Vater bestraft .
H
G
30
Mutter gemütskrank.
2
—
2
schwindsüchtig.
3
9
4
„ Krämpfe .
2
2
—
4
Mutter Trunksucht.
—
2
1
3
„ nervös, nervenkrank,
geisteskrank .
—
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1
Weinkrämpfe.
6
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2
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,, geistesschwach ....
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Mutter Schwindelaniälle ..
1
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nervös, hyster. usw.
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„ Schwindsucht.
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abnorm. Charakter
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12
Geschwister abnorm .
3
1
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4
., bestraft .
3
4
14
„ nervenkrank...
4
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—
5
.. Unzucht.
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„ Krämpfe .
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2
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11
schwindsüchtig ....
1
—
1
,, Trunksucht ...
6
1
—
6
(iroßvater Trunksucht ....
1
—
2
„ in Fürsorge ...
3
1
1
6
Geschwister bestraft.
—
1
8
„ Zuhälter.
—
1
—
1
Geschwister in Zwangserz.
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1
1
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„ Krüppel.
1
1
—
2
., Trunksucht ...
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—
—
1
Onkel geisteskrank.
1
—
—
1
schwachsinnig .
LL
—
1
Urgroßmutter Krämpfe ...
—
1
—
1
Tafel 4. Körperliche Erkrankungen vor Einleitung der Fürsorge¬
erziehung (außer Geschlechtskrankheiten, s. Tafel 7).
Nach den Akten:
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22
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22
95
Spätes Gehen.
Späte Entwicklung.
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1
Spätes Sprechen.
1
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1
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In der Entwickl. zurückgebl.
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1
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Körperlich schwächlich ...
2
—
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2
.. „ Nachtwandeln ...
2
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Rhachitis.
2
1
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3
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1
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Skrofulöse.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
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Als Kind Nachtwandeln ..
2
1
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Kopfschmerz m. Erbrechen
1
—
—
i
„ „ Bettnässen .
1
—
—
1
Hysterie .
—
—
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i
„ „ Ohnmächten ....
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—
2
2
Akute Infektionskrankheit.
18
—
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19
Spätes Gehen.
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—
—
1
Rheumatismus.
1
—
—
1
Späte Entwicklung.
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1
—
1
Hals- u. Nasenleiden.
2
—
—
2
Spätes Sprechen.
1
1
Augenleiden .
3
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i
4
Rhachitis.
2
—
2
Ohrenleiden .
2
—
2
Skrofulöse..
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1
2
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Bronchialkatarrh.
1
—
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Gehirnerschütterung.
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—
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1
Blutvergiftung.
1
—
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Oft Kopfschmerzen.
i
3
6
13
Furunkulose.
1
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—
i
Akute Infektionskrankheiten
6
11
17
34
Knochenbrüche .
2
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—
2
Gelenkrheumatismus.
3
1
1
5
Lues hered.
—
i
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—
1
Augenleiden .
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H
1
1
Mastdarmvorfall.
1
i-
—
1
Ohrenleiden .
B
1
1
i
1
i
Magenleiden.
1
1
2
Nach eigener Angabe
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Blinddarmentzündung ....
3
—
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4
außerdem:
1
1
Knochenbrüche .
1
—
—
1
Als Kind Krämpfe .
211
—
3
Kopfverletzungen .
8
—
—
8
„ ängstliche Träume
ü
—
i
5
Nierenentzündung .
1
—
—
1
Tafel
5.
Schulbesuch und Erfolg.
Regelmäßig.
37(25
23
86
rechnen im Zahlenkreise v.
Unregelmäßig.
47
5
7
59
1—100.
49
16
18
83
Nicht fertig lesen usw. ...
8
* 3
1
12
Volle Volksschulbildung ...
23
m
m
43
Fertig lesen, schreiben und
|
1
Höhere Schulbildung.
1
—
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2
1
i
Unbekannt.
3
i
u
4
Tafel 6. Geistige Abnormitäten u. a. in der Kindheit.
Angaben fehlen .
2ll20'l6
57
Lernte schlecht (eigene Ang.)
8
2
6
15
Begabt n. aufgeweckt .
4 -
i
5
Rasche Ermüdbarkeit ....
1
—
—
i
Beschränkt resp. schwach-
1
Zerstreut u. unaufmerksam
3
—
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sinnig.
15 5
4
24
G edäclitnissch wäche .
1
—
—
1
Geistig minderwertig .
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1
3
Teilnahmlos u. stupide ...
1
1
Für nicht normal gehalten
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m
5
Nachlässig u. unsauber....
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—
5
„Einmal von Verstand“ (ei¬
.
Mit Ungeziefer behaftet ..
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gene Angabe) .
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Ekelhaft u. viehisch schmutz.
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Geistig zurückgeblieben ...
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Sehr lauec unsauber .
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Oft eigentümlich .
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Rascher Wechsel der Stim¬
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Rechnen fiel besonders
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Eltern beantragen wiederholt
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Verzögerung infolge Ent-
die Wiederaufhcbung
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1
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weichung.
7
Eltern sehen ihren Sohn
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Verzögerung wegen Ver-
lieber auf dem Kirchhof.
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1
büßung einer Strafe ....
5
Antrag früher 1 x ab-
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Verzögerung durch Schuld
geleimt.
6
der Polizei .
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Antrag früher 2 x abgelehnt
3!
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Tafel 10. Erkrankungen etc. während der Unterbringung.
Angaben fehlen bei .
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21
71
Ekzem.
3
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3
Blutarmut, Bleichsucht...
1
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2
4
Hautausschlag.
2
—
—
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Drüsen.
—
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—
1
Krätze.
9
i
—
10
Halsentzündung.
2
8
—
Gehirnentzündung .
—
—
1
1
Diphtherie.
—
2
—
2
Viel Kopfschmerzen.
2
2
Nasenpolypen.
—
1
—
1
Halbseitige Kopfschmerzen
—
i
1
Mittelohreiterung .
1
— *
1
Nachtwandeln ..
1
—
1
Augenleiden .
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1
—
6
Bettnässen .
4
—
—
4
Herzleiden .
1
1
—
2
Heimweh .
4
—
—
4
Lungenleiden .
4
1
—
5
Schwermut nach Entbindg.
—
l
—
1
Influenza .
1
—
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Ohnmächten .
—
—
1
1
Kippenfellentzündung .
—
1
—
ii
Simulation .
—
i
—
1
Darmgeschwür .
1
—
—
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Anlage zu Größenwahn ...
—
i
—
1
Bruchoperation .
1
--
—
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Droht sich das Leben zu
Hämorrhoiden .
1
—
—
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nehmen.
1
—
—
1
l’nterleibsleiden.
—
—
2
2
Selbstmordversuche .
5
—
1
6
Fehlgeburt .
--
—
1
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Periodisch von schlechtem
>chleimbeutelent.zündung .
1
—
—
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Charakter .
1
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Knieleiden.
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Brutal u. gewalttätig.
3
—
1
4
Beingeschwür.
—
—
1
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Tobsuchtsanfälle .
1
6
7
13
Rheumatismus.
1
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3
i
1
1
Tafel
11. Entweichungen.
28
Hinricbs,
Tafel 12. Körperlicher Befund.
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Ernährungszustand:
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1
Narbe nach Bruchoperat..
2
_
2
Gut.
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„ „ Blinddarmop.
2
i
—
3
Mittel.
23
4
5
32
Narbe am Knöchel (nach
—
Mäßig.
3
1
2
6
Überfahren).
1
—
—
1
Schwächlich u. blutarm ..
9
3
6
18
Narben nach Messerstichen
2
—
i
3
Drösenschwellung .
Narben nach Drüsenoperat.
21
3
5
2
8
2
34
7
Tätowierungen 1—3.
4—6.
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8
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Sonstige Zeichen vor Skro¬
fulöse ..
3
1
4
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,, mehr.
5
2
5
2
Spitzfuß angedeutet.
1
1
Plattfuß .
9
—
—
9
Klagen über Herzklopfen..
5
8
3
16
X-Beinc .
7
—
_
7
Veränderungen am Herzen
15
—
15
Kyphoskoliose .
1
—
1
Flache, schmale Brust....
8
—
—
8
Sonstige Zeichen von
Lungenkatarrh.
7
—
—
7
Rhachitis .
11
2
13
Asthma .
1
—
1
2
Kariöse Zähne in größerer
Kurzsichtigkeit .
8
1
3
12
Zahl .
18
4
6
28
Weitsichtigkeit .
1
—
—
1
Zeichen von Lues bered...
—
2
1
3
Sonstige Augenleiden.
4
4
4
12
Zeichen von frischer Lues ..
—
1
2
3
Schwerhörigkeit .
3
—
2
o
Unbedeutende Kopfnarben
9
1
1
11
Sonst Ohrenleiden .
7
1
1
9
Empfindl. Kopfnarben ....
2
—
2
Nascnleidcn .
12
2
5
19
„ „ mit
Halsleiden, chronisch .
9
9
6
24
Knochenimpression .
3
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3
„ akut .
10
3
2
15
Unbedeutende Narben im
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Mandeln entfernt .
—
2
1
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Gesicht .
5
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4
11
Hydrocele .
1
—
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Erheblichere Narben im
Krampfadern .
1
—
—
l
Gesicht .
2
—
2
Ekzem .
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1
—
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Narbe nach Operation des
Alopecia arcata .
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—
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Warzenfortsatzes .
Eingesunkene Nase mit
2
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1
—
3
Starke Obstipatio .
1
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Narbe (nach Unfall) ...
2
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2
In der Entwicklung allge¬
mein zurückgeblieben ...
6
1
1
1 1
8
Andeutung von Azteken¬
schädel .
2
1
2
Schädelumfang unter 53 cm
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16
Sehr niedrige Stirn.
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2j 2
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„ über 58 cm
4
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Fliehende Stirn.
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Hinterhaupt abgeflacht....
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K&bhipuulies; fohlt........
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Demographie ,. ü *Vgr i>;
Muskeleiregbarkeit lebhaft
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Orientiertheit über eigene
Ethische Vorstellungen man-
Person ungenau.
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1
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gelhaft.
35
15
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Orientiertheit über andere
Krankhafte Eigenbeziehung
2
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3
Personen ungenau.
25
2
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28
Zeitw. Sinnestäuschungen..
3
i
4
Orientiertheit über weitere
Konfabulieren .
1
1
3
5
Umgebung ungenau.
12
6
7
25
Ängstl. Vorstellungen.
1
—
i
Zeitl. Orientiertheit nicht
Zwangsvorstellungen.
1
—
—
i
vorhanden .
3
1
—
4
Zwangsmäß. Lachen.
1
—
i
Zeitl. Orientiertheit ungenau
22
10
6
38
Triebartiges Fortlaufen (nach
Erkennen von Gegenständen
Angabe des Zöglings) ...
3
_
—
3
mangelhaft.
18
3
5
26
Triebartiges Stehlen (nach
Erkennen von Farben man-
Schilderung des Zöglings)
4
—
4
gelhaft '..
11
—
—
11
Gezwungene Stellungen ...
1
—
—
1
Erkennen von Bildern rann-
Unbeholfenheit.
3
—
3
gelhaft.
13
10
7
30
VArlocrpno TTnmViA „ .
4
1
1
6
Merkfähigkeit herabgesetzt
21
8
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38
Zappeligkeit.
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Gedächtnis mangelhaft ...
8
6
5
19
Ängstlichkeit .
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3
3
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4
Schulkenntnisse: Addieren
Albernheit.
2
3
2
4
fehlerhaft .
4
3
3
10
Kindliches Lächeln.
3
1
4
Einmaleins fehlerhaft.
14
9
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33
Flegeleien (während der
1
„ immöglich.
3
4
—
7
Untersuchung).
4|
—
—
4
Dividieren richtig.
48
11
13
72
Verlangsamung des Vorstel¬
Bruchrechnung richtig....
22
—
2
24
lungsablaufs.
23
7
5
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Lesen mangelhaft.
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Leichte Hemmung .
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Rückl. Assoziationen man¬
Stärkere Hemmung .
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10
Ebbinghaus mangelhaft ...
31
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Flüchtigkeit .
7,
3
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Masseion ,.
22,10
6
38
Zerstreutheit.
2
—
2
Ziehen
16
5
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28
Geschwätzigkeit.
2
—
—
2
Fähigkeit zu beschreiben
Stärkere Inkoliärenz.
3
—
2
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mangelhaft.
30; 14 13
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Moralische Defekte stark
Fähigkeit zu definieren man-
hervortretend.
10
11
7
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gelhaft.
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Erregungszustände .
1
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7
13
Fähigkeit ein Sprichwort zu
Noch Krämpfe .
1
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Nachtwandeln.
1
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Vorstellungen allg. Inhalts
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„ plötzliches Aufschreien
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Alpdrücken, ängstl. Träume
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Fachkenntnisse mangelhaft.
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Noch Bettnässen.
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Nägelkauen.
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32
II inrichs.
3. Cramer, Bericht an das Landesdirektoriutn in Hannover über die
Ergebnisse der psych.-neurol. Untersuchungen der Fürsorge -
Zöglinge. Klin. Jahrbuch 1907, Bd. 18, S. 1.
4. Derselbe, Bericht an das Landesdirektorium über die psych.-neurol.
Untersuchung der schulentlassenen Fürsorgezöglinge. Allg.
Ztschr. f. Psychiatrie 1910. Bd. 67, S. 493.
5. Cimbal, Die vorbereitenden Ermittelungen beim Jugendgerichts- und
Fürsorgeverfahren. Sonderabdruck aus Zentralbl. f. Vormund¬
schaftswesen, Jugendgerichte u. Fürsorgeerziehung.
6. Dannemann, Psychiatrie u. Hygiene in den Erziehungsanstalten.
Hamburg 1910.
7. Derselbe, Die Fürsorge-Erziehung. Juristisch-psychiatr. Grenz-
fragen 1906. Bd. 3, Heft 8.
8. Fuld, Die Zwangserziehung. Ebendaselbst.
9. Gaupp, Über moralisches Irresein u. jugendliches Verbrechertum.
Jurist, -psych. Grenzfragen. 1904. Bd. 2, Heft 1/2.
10. Heller, Schwachsinnigenforschung, Fürsorgeerziehung und Heilpäda¬
gogik. Zwanglose Abhandlungen aus dem Gebiete der Nerven-
u. Geisteskr. 1909. Bd. 8, Heft 6.
11. Kluge, Über die Mitwirkung des Psychiaters bei der Fürsorgeerziehung.
Allg. Zeitschr. f. Psych. 1907. Bd. 64, S. 473.
12. Derselbe, Über die Unterbringung u. Behandlung psych. abnormer
Fürsorgezöglinge. Vortrag, geh. a. d. Jahresvers. des Deutsch.
Vereins für Psych. zu Dresden 1905. Monatsschr. f. Kriminal-
psych. u. Strafrechtsref. 1905, II, 4.
13. Derselbe, Die Behandlung der schwer erziehbaren Fürsorgezöglinge.
Vom psychiatr. Standpunkt. Vortrag, geh. a. d. allg. Fürsorge-
Erziehungs-Tag zu Rostock 1910.
14. Knecht, Die Fürsorge-Erziehung in Pommern. Psych.-neurol. Wochen¬
schrift 1910/11. Jahrg. 12, S. 179.
15. Laquer, Über die Bedeutung der Fürsorgeerziehung für die Behand¬
lung Schwachsinniger (nebst Diskussion: Moeli, Neisser). Vor¬
trag a. d. Jahresvers. d. Deutsch. Vereins für Psych. Jena 1903.
Allg. Ztschr. f. Psych. Bd. 60, S. 961.
16. Derselbe, Die ärztl. Feststellung der verschiedenen Formen des
Schwachsinns in den ersten Schuljahren. München 1909.
17. Mönkemöller, Korrektionsanstalt und Landarmenhaus. Leipzig 1908.
18. Derselbe, Bericht an das Landesdirektorium über die Ergebnisse der
psych.-neurol. Untersuchung der schulpflichtigen Fürsorge¬
zöglinge. Ztschr. f. d. Erforschung u. Behandlung des jugendl.
Schwachsinns 1910. Bd. 4.
19. Derselbe, Geistesstörung u. Verbrechen im Kindesalter. Sammlung
von Abh. a. d. Gebiete der pädag. Psychologie u. Physiologie
1903. Bd. 6, Heft 6.
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Bericht an das Landes-Direktorat der Provinz Schleswig-Holstein usw. 33
20. Piek, Über einige bedeutsame Psycho-Neurosen des Kindesalters.
Zwangl. Abh. a. d. Geb. der Nerven - u. Geisteskr. Bd. 5 Heft 1.
21. Redepenning, Die psych. Beobachtungstation für Fürsorgezöglinge
in Göttingen. 1910. Allg. Ztschr. f. Psych. Bd. 67, S. 520.
22. Rixor, Ergebnisse der psych.-neurol. Untersuchung der in den An¬
stalten befindl. über 14 J. alten Fürsorgezöglinge Westfalens.
1909. Ztschr. f. d. Erforschung u. Behandl. des jugendl. Schwach¬
sinns Bd. 3 Heft 2.
23. Schultz, A., Der Meineidprozeß Kolander u. die Fürsorgeerziehung.
1910. Monatsschr. für Kriminalpsych. u. Strafrechtsreform.
Jahrg. 6 Heft 10.
24. Seelig, Psychiatrische Erfahrungen an Fürsorgezöglingen. Vortrag,
geh. a. d. Sitz, des psych. Vereins zu Berlin. 1906. Allg.
Zeitschr. für Psych. Bd. 63, S. 506.
25. . Seiften, Wie weit ist die Mithilfe des Psychiaters in der Fürsorge¬
erziehung notwendig usw.? Vortrag, geh. auf dem internal.
Kongreß der Fürsorge für Geisteskranke zu Berlin 1910.
Psych.-neurol. Wochenschr. Jahrg. 12, S. 363.
26. Siefen, Über die unverbesserlichen Gewohnheitsverbrecher. 1905.
Jurist.-psych. Grenzfragen. Bd. 3 Heft 5.
27. Stelzner, Die psychopathischen Konstitutionen. Berlin 1911.
28. Tippei, Fürsorgeerziehung und Psychiatrie. Vortrag, geh. a. d.
Jahresvers. des Deutsch. Vereins f. Psych. zu Dresden 1905.
Allg. Zeitschr. f. Psych. Bd. 62, S. 583.
29. Vogt, H., Über die Fürsorge, Pflege u. Unterbringung Schwachsinniger,
Epileptischer u. geistig Minderwertiger. Vortrag a. d. 3. internat.
Kongreß für Irrenpflege in Wien 1908. Auszug. Neurol.
Zentralblatt Jahrg. 27, S. 1166.
30. Weygandt, Leicht abnorme Kinder. Zwangl. Abhandl. a. d. Geb. der
Nerven- u. Geisteskr. 1905. Bd. 6, Heft 1.
31. Derselbe, Der Entwurf einer Strafprozeßordnung usw. in ihren Be¬
ziehungen zur Fürsorge für normale u. schwachsinnige Kinder.
1909. Zeitschr. f. d. Erf. u. Beh. des jugendl. Schwachsinns.
Bd. 3 Heft 2.
32. Ziehen, Die Geisteskrankheiten das Kindesalters. Berlin 1902.
Zeilaobrüt für Psychiatrie. LXli. 1.
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Nene Aufgaben der Psychiatrie in Baden. 1 )
Von
Medizinalrat Dr. Max Fiseher,
Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Wiesloch.
Ln Jahre 1858, als die „Gesellschaft Deutscher Naturforscher
und Ärzte“ zum erstenmal in Karlsruhe sich zusammenfand — es war
die 34. Tagung — war die Irrenfürsorge des Landes auf die beiden An¬
stalten Pforzheim, eröffnet im Jahre 1322 als „ein Asyl für arme und
sieche Kranke und Irren“ — also eines der ehrwürdigsten Denkmäler
des Irrenwesens überhaupt — und die damals neue Irrenanstalt
Illenau, eröffnet 1842, gestellt. Illenau stellte zu jener Zeit die mo¬
derne Heilanstalt dar; nach ihrem Muster, dem einer Korridoranstalt
und sogenannten relativ verbundenen Heil- und Pflegeanstalt, wurden
Jahrzehnte hindurch weiterhin die Anstalten in Deutschland und
darüber hinaus gebaut. Ihr Schöpfer war der große Reformator und
Organisator des Irrenwesens in Baden, Christian Friedrich Wilhelm
Boiler, dessen Einfluß nicht nur über Deutschland, sondern über
ganz Europa sich erstreckte. Auf der damaligen Karlsruher Tagung
hielt Roller seinen berühmten Vortrag „Über Seelenstörungen in ihrer
Beziehung zur Strafrechtspflege“. Die Anstalt Illenau wurde im
Anschlüsse an die Versammlung von der elften Sektion: „für Psychia-
trik“ besucht.
Seitdem, also im Verlauf von über 50 Jahren, hat wie überall
so auch in Baden die Irrenfürsorge und speziell das Anstaltweeen
einen enormen Aufschwung genommen. Während im Jahre 1858
zwei staatliche Anstalten mit 900 Plätzen zur Verfügung standen,
x ) Vortrag, gehalten auf der „83. Versammlung Deutscher Natur¬
forscher und Ärzte“ in Karlsruhe am 25. September 19H, in erweiterter
Form.
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Neue Aufgaben der Psychiatrie iu Baden.
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sind es jetzt sechs Asyle mit rund 4000 Plätzen, also eine Steigerung
auf das 4*4fache. Und zwar sind unterdessen zu jenen beiden An¬
stalten, abgesehen von deren eigener Erweiterung, neu hinzugekommen:
die Schaffung der beiden Irrenkliniken in Heidelberg (1878) und in
Freiburg (1886), mit die ersten ihrer Art, ferner die große Heil- und
Pflegeanstalt im Pavillonstil bei Emmendingen (1889) und die letzte
Schöpfung auf diesem Gebiete, die Anstalt bei Wiesloch, eröffnet 1905,
deren völliger Ausbau gegenwärtig noch betrieben wird.
Auf die übrigen Errungenschaften der neueren Zeit im Irren¬
fürsorgewesen — Irrenfürsorgegesetz mit VollzugsverOrdnung, neue
Regelung des Aufnahmewesens und der Aufnahmebezirke, Verbesse¬
rung der Gehaltverhältnisse der Anstaltbeamten usw. — kann hier
nicht näher eingegangen werden; sie sind von mir schon an anderen
Orten behandelt worden.
Damit wenden wir uns den künftigen Notwendigkeiten der Irren¬
fürsorge in unserem Lande zu. Nach wiederholten Untersuchungen
(vgl. die Denkschriften von 1901 und 1909) haben wir in Baden, um
uur zu einigermaßen geordneten Zuständen in der Irrenversorgung,
die etwa bei einem Verhältnis von 3 Plätzen in wirklichen Irren¬
anstalten auf 1000 Landeseinwohner zu erwarten wären, zu gelangen,
noch eine große Anzahl von Anstaltplätzen, einige Tausende, nötig.
Das nächste Projekt, das solche schaffen soll, ist die Heil- und
Pflegeanstalt bei Konstanz, die gegenwärtig im Bau begriffen
ist und im Herbst 1913 mit 500 Betten eröffnet werden soll, während
ihr im Jahre 1917 zu erwartender Ausbau eine Anstalt von im ganzen
910 Plätzen bringen wird. Die neue Anstalt liegt etwa l 1 /* Stunden
westlich von Konstanz bei dem Dorfe Wollmatingen, nördlich der
Bahnlinie Konstanz-Singen, gerade oberhalb der Station Reichenau,
auf sanft ansteigendem Gelände in prachtvoller Gegend am Untersee —
gegenüber die Insel Reichenau mit ihren alten Kirchenbauten, unten
der herrliche See, östlich die Stadt Konstanz und die Schweizer Alpen,
westlich die Berge des Hegaus - kurz, wohin das Auge schweift, land¬
schaftlich ungemein schöne und liebliche Eindrücke. In nächster
Nähe der Anstalt sind außerdem schöne Waldbestände vorhanden.
Die Situation schmiegt sich dem Gelände an und ist bedeutend
regelmäßiger angeordnet als die der Wieslocher Anstalt. Sie ist wieder
eine Pavillonanstalt nach dem Wieslocher Muster; die Bautypen weisen
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Fischer,
jedoch eine geschlossenere, vielfach rechteckige Form auf. Die Anstalt
besteht aus 26 einzelnen Pavillons für die verschiedenen Krankenkate¬
gorien mit im einzelnen 10 bis 25 bis 60 Betten.
Das Verwaltungsgebäude enthält im Obergeschoß zugleich den Fest¬
saal, während die Kirche als ein besonderes Gebäude erstellt wird. Koch-
und Waschküche, ein sehr schönes und zweckmäßiges Projekt, sind in ein
Haus zusammengebaut; das Werkstättengebäude ist mit der Bäckerei
verbunden. Das Wasser wird aus dem Überlinger See durch ein Pump¬
werk herangeholt, da eine andere Wasserversorgung nicht möglich war.
Die Abwässer werden in den Untersee geführt. Zu diesen und den übrigen
Verwaltungs- und Wirtschaftgebäuden kommen noch hinzu; 7 Beamten¬
wohnhäuser mit etwa 22 Dienstwohnungen für Direktor, Ärzte, Ober¬
personal, Wartpersonal und Werkmeister. Im ganzen sind es 26 Kranken-
bauten, 11 Verwaltungs- und Wirtschaftbauten, 7 Beamtenwohngebäude,
also zusammen 44 Anstaltgebäude. Die Bausumme ist nach dem end¬
gültigen Projekte auf 5,8 Millionen Mark veranschlagt, also auf etwa
6000 Mk. pro Bett.
Die neue Anstalt soll zugleich als Aufnahmeanstalt für die See-
gegend, Kreise Konstanz und Viilingen, wie auch als Übernahmeanstalt
für die weiterhin anschließenden Kreise Offenburg, Waldshut, Lörrach und
Freiburg und dadurch zur Entlastung der Irrenklinik in Freiburg und
der Anstalt Illenau dienen.
Bei diesem Anstaltneubau, der uns, wie gesagt, bis 1913:500 und
bis 1917 weitere 400, im ganzen 900 Anstaltplätze schafft, sind wir
jedoch nicht stehen geblieben. Wir haben uns vielmehr sofort an ein
neues Projekt, das einer großen Anstalt fttr das Mittelland,
die Kreise Baden und Karlsruhe, gemacht, für welche Gegend eine
Erweiterung der Anstaltfürsorge vom regionären Standpunkte aus
dringend nötig ist, da Illenau allein hier nicht ausreichen kann. Außer¬
dem soll damit die veraltete Pforzheimer Anstalt, zu deren Ersatz
bisher die neuen Anstalten Emmendingen und Wiesloch nicht aus¬
gereicht haben und auch die neue Anstalt in Konstanz sicher nicht
ausreichen wird, endlich einmal aufgehoben werden. Schließlich gilt
es die seit lange angestaute Überfüllung sämtlicher anderen Anstalten
endgültig zu beheben.
Für alle diese Zwecke waren allein schon auf das Jahr 1920:
1700 neue Anstaltplätze erforderlich. W r ollte man auch für die weitere
Zukunft etwas vorbauen, so kam man auf 2000 Plätze, also zwei voll¬
ständige weitere Anstalten.
Dabei drängte sich angesichts der Überlegung, daß diese beiden
Anstalten, sollten sie ihren Zweck fttr ihr Aufnahmegebiet richtig
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Neue Aufgaben der Psychiatrie in Baden.
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erfüllen, doch nur auf geringe Entfernung voneinander hätten an¬
gelegt werden dürfen, sofort der Gedanke auf, die beiden Anstalten
in e i n e m großen Komplex, einer ausgedehnten Zentrale
für Irrenversorgung zu vereinigen.
Wir haben dies durchaus nicht gerne getan; auch wir sind durch¬
aus der Ansicht, daß kleinere Asyle sowohl wegen der regionären Ver¬
teilung der Irrenfürsorgeaufgaben wie auch wegen des inneren ärzt¬
lichen Betriebs eigentlich den Vorzug verdienen. Hier aber zwangen
die Verhältnisse mit aller Macht zu der bezeichneten Lösung; sie ist
für diesen speziellen Fall als die richtige anzusehen.
Für ein engumgrenztes und dichtbevölkertes Gebiet mußte eine
große Plätzezahl in raschem Tempo geschaffen werden: vom regio¬
nären Standpunkt aus war also eine Trennung in zwei gesonderte
Anstalten nicht nötig.
Ein Hauptgrund für diese Entscheidung sind dann aber auch die
finanzpolitischen Erwägungen gewesen.
Ein kleines Land von 2,14 Millionen Einwohnern, das in der
relativ kurzen Zeit von 20 Jahren drei Anstaltprojekte von zusammen
3000 Plätzen mit einer Bausumme von etwa 17 Millionen Mark ins
Leben ruft und sich nun nochmals vor beinahe die gleich große Auf¬
gabe gestellt sieht, muß sich ein solches Unternehmen unter größter
Rücksichtnahme auf die Steuerkraft seiner Bevölkerung zurechtlegen.
D. h., das ganze Projekt muß so einfach und so sparsam, als es ohne
Hintansetzung der ärztlichen Notwendigkeiten überhaupt möglich ist,
gestaltet werden.
Auch dadurch ergab sich die Notwendigkeit der Zusammen¬
legung der beiden Anstalten in ein großes Ganze von selbst. Denn
eine derartige Projektgestaltung mußte, besonders in den technischen
und wirtschaftlichen Anlagen der Anstalt, eine wesentliche Verein¬
fachung und Verbilligung bringen. Wir sehen diese Entwicklung
auch an großen allgemeinen Krankenhäusern für körperlich Kranke,
so z. B. in Großstädten.
So sehr man sich von jeher in der praktischen Psychiatrie gegen
derartige Riesenanstalten gesträubt hat, überall ist man trotz aller
Bedenken in der Wirklichkeit zu ihrer Ausführung gedrängt worden
und zwar aus denselben Gründen. Und gerade Psychiater, die am
meisten dagegen waren — ich selbst gehöre dazu — sind Leiter solcher
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Fischer.
großen Betriebe geworden. Irrenasyle von 1200 bis 1700 Betten
werden in großen Provinzen immer mehr zur Regel, und, wo noch
größere und drängendere Aufgaben der Irrenfürsorge bestehen, z. B.
bei Großstädten und in dichtbevölkerten Provinzen, gelangt man
zu Anstaltgebilden von 2000 und 2400 Plätzen.
Meiner Ansicht nach kommt es bei der Schaffung solcher großen
Komplexe, wo einmal die Notwendigkeit dazu geführt hat, sehr
wesentlich auf die Form der inneren Einteilung und auf
die Organisation des Ganzen an. Hier stand man nun
vor der Wahl, entweder zwei völlig selbständige Anstalten von je 1000
Plätzen, jede mit Frauen- und Männerseite zu je 500 Betten, zu bauen
oder aber ein mehr einheitliches Ganze zu schaffen, bestehend aus
einer Männeranstalt zu 1000 Plätzen und einer Frauenanstalt zu
1000 Plätzen. Jedes Projekt hatte seine Vorzüge und Nachteile; war
bei dem ersten, das nur in einigen zentralen Einrichtungen eine Ge¬
meinsamkeit bot, jede Unteranstalt ganz auf sich gestellt und in sich
abgeschlossen, wie es mehr unsem auf individuelle Behandlung ge¬
richteten ärztlichen Intentionen entsprochen hätte, so bot dagegen
der Betrieb nach außen, die Abteilung der Aufnahmebezirke, die
praktische Ausübung des Aufnahme Verfahrens, der Verkehr mit dem
Publikum usw. bei dieser Form der doppelten Anstalt nicht unbedenk¬
liche Schwierigkeiten und Komplikationen, die bei der zweiten Form
der Projektgestaltung von vornherein wegfielen; auch die bauliche
Anlage erlaubte bei dieser noch eine wesentlich größere Vereinfachung.
Je mehr man sich mit dem ganzen Projekte beschäftigte, desto über¬
zeugender trat die Unmöglichkeit der ersteren Form und die Über¬
legenheit der zweiten in der Vereinheitlichung des ganzen Betriebs im
Innern sowohl wie anch nach außen vor Augen; sie wurde für uns
die einzig mögliche.
Bei der weiteren Projektbearbeitung unserer Anstalt hat man
sich denn auch darauf geeinigt, daß die Anstalt zu teilen sei in zwei
vollständige Unteranstalten, die eine für 1000 Männer, die andere
für 1000 Frauen, jede unter einem eigenen Direktor. In der Mitte
zwischen den beiden Anstalten liegen die gemeinsamen wirtschaft¬
lichen und technischen Anlagen und Gebäude. Über dem Anstalt¬
ganzen, also über den beiden Unteranstalten und den zentralen Ein¬
richtungen steht ein übergeordneter ärztlicher Direktor. Ihm
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Neue Aufgaben der Psychiatrie in Baden.
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fällt die einheitliche Führung der Direktions- und Verwaltungs¬
geschäfte zu, die sich beschränkt auf die allgemeinen ärztlichen Direk¬
tiven und die innere Organisation, auf die oberste zentrale Leitung
und Administration, auf die hygienische und allgemein psychiatrische
Durchdringung und Fortentwicklung des ganzen großen Unter¬
nehmens.
Es ist also trotz der Unterteilung in zwei Anstalten von je 1000
Plätzen die einheitliche ärztliche Leitung des Ganzen, wie sie bei
einer Krankenanstalt, und sei sie noch so groß, unbedingtes Erfordernis
ist, gewährleistet, andererseits aber den Direktoren der beiden An¬
stalten für Männer und für Frauen die nötige Selbständigkeit durchaus
gewahrt.
Man wird einwenden, daß diesem obersten Direktor eigentlich
eine ärztlich unbefriedigende Stellung zugeteilt wird; dies ist sicher
zum Teil richtig, aber unvermeidlich. Mit dem eigentlichen Ab¬
teilungsdienst, mit der Untersuchung und Behandlung interessanter
Fälle wird er sich kaum abgeben können.
Wir glauben aber trotzdem, daß es zu jeder Zeit unter den Irren¬
ärzten auch Männer geben wird, die gerade für diese Seite großer
organisatorischer und administrativer Tätigkeit Verständnis, Neigung
und Tatkraft genug haben. Wir würden uns ja sonst — von allem
anderen abgesehen --- vor den juristischen Beamten, die sich in. der
Staatsverwaltung sowohl wie auch sonst in leitenden Stellungen
z. B. in der Industrie, in Handel und Verkehr, im Finanz- und Bank¬
wesen hervortun, selbst ein Minderwertigkeitszeugnis ausstellen.
Davor müssen wir uns aber, besonders angesichts der mehrfach zutage
getretenen Ansicht von dem Rückgänge des Ansehens des ärztlichen
Standes, in unserem eigensten Interesse sehr hüten. Wir werden
gegenteils beweisen, daß wir auch diesen organisatorischen und ad¬
ministrativen Aufgaben im Krankenfürsorgewesen, die durchaus
Sache der Ärzte sind und bleiben müssen, vollauf gewachsen sind.
Im übrigen zeigen die Verhältnisse an allen großen Anstalten, daß
wir in dieser Entwicklung schon mittendrin stehen und nicht mehr
zurück können.
Wir glauben aber auch, daß sich der Direktor eines so großen
Betriebs je nach seiner Eigenart ein spezielles Gebiet, das ihn inter¬
essiert, jederzeit reservieren kann, um es selbst zu bearbeiten; seien
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es nun wichtige Verwaltungsfragen, bautechnische oder hygienische
Probleme, seien es statistische oder ätiologische, z. B. Erblichkeit» -
forschungen, seien es mehr ärztlich-juristische Untersuchungen z. B.
in der forensen Psychiatrie, der Gesetzgebung oder aber solche der
immer wichtiger werdenden sozialen Psychiatrie — kurz an Stoff
wird es ihm sicher nie fehlen, weit eher an der nötigen Muße.
Für einen Nachteil dieser großen Anstalt wird man auch die
Einförmigkeit des ärztlichen Dienstes ansehen;
die einen Ärzte wären fortdauernd nur auf Männerabteilungen be¬
schäftigt, die andern bei den Frauen; man kann davon eine Einseitig¬
keit in der Ausbildung und Betätigung der ärztlichen Kräfte be¬
fürchten. Wir sind der Ansicht, daß diesem Nachteil sehr wohl durch
bestimmte Richtlinien in der ärztlichen Dienstorganisation entgegen¬
gewirkt werden kann. Wir meinen damit hauptsächlich einen regel¬
mäßigen Wechsel der Ärzte zwischen den beiden Anstalten, bei den
älteren Ärzten in einem längerfristigen Turnus, während die Hilfe¬
ärzte schon alle ein bis zwei Jahre getauscht werden könnten. Auf
diese Weise käme vielleicht sogar ein rascherer Wechsel zustande
als vielfach bei den bestehenden Anstalten; bleiben doch hier manche
Ärzte auf viel längere Zeit, ja sogar zeitlebens bei einer Geschlechts¬
seite oder sogar auf derselben Abteilung haften. Auf der anderen
Seite hat ein so großes Ärztekollegium — man wird auf 18 bis 20 Ärzte
kommen — auch seine großen Vorteile in der Vielheit der vorhandenen
ärztlichen Individualitäten und Fähigkeiten, in dem Austausch und
dem Reichtum an täglichen Erfahrungen, in der Arbeit an einem
nicht zu erschöpfenden Krankenmateriale, in der Erziehung und Zu¬
sammenfassung aller Kräfte zu einem großen Werke der Kranken¬
fürsorge.
Daß ein derartiger Großbetrieb, gerade bei einer Krankenanstalt
und besonders bei einem Irrenasyl, auch große Schattenseiten haben
kann, das wird sich niemand verhehlen. Wir halten es aber für mög¬
lich, daß durch eine gesunde und wohldurchdachte Organisation im
Innern und nach außen diese mancherlei Schwierigkeiten ausgeschaltet
oder doch wenigstens auf ein Maß, wie es auch andere kleinere Insti¬
tutionen dieser Art zu bekämpfen haben, gemindert werden können.
Und es wird vor allen Dingen gerade die vornehmste Aufgabe des
übergeordneten ärztlichen Direktors sein müssen, unausgesetzt darauf
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Neue Aufgaben der Psychiatrie in Baden.
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zu denken und daran zu arbeiten, wie derartige üble Folgen überhaupt
zu vermeiden seien, oder, wo sie dennoch zutage treten, ihren Ursachen
nachzugehen und sie auszumerzen. Wenn darauf der Schwerpunkt
der Leitung gelegt wird, dann können wir hoffen, daß unser Unter¬
nehmen eine gesunde und fortschrittliche Entwicklung nehmen wird.
Als geeignetste Lage für diese unsere neue, die siebente badische
Heil- und Pflegeanstalt käme etwa die Gegend um Rastatt, weil
ungefähr der Mitte des Fürsorge- und Aufnahmegebiets entsprechend,
in Betracht 1 ). Wir legen die Anstalt absichtlich an die Hauptbahnlinie
des Landes, in die Nähe einer Schnellzugstation und eines Eisenbahn¬
knotenpunktes, in die weitere Umgebung einer größeren Stadt (Ra¬
statt); auch die Großstadt Karlsruhe ist leicht erreichbar. Sie liegt
zwar auf dem Lande, wir vermeiden aber eine allzu abgeschiedene
ländliche Lage; so verlangen es die mancherlei materiellen und ide¬
ellen Interessen der Anstalt, ihrer Bewohner und ihrer Beamten¬
schaft.
Als Bausumme wird man auch bei sparsamer Projektgestaltung
mindestens 10 Millionen Mark vorsehen müssen.
Was nun die bauliche Anlage unseres Projektes für 2000
Kranke anlangt, so haben wir in die Mitte als Achse zwischen beiden An¬
stalten — einer Männeranstalt zu 1000 Betten und einer Frauenanstalt
zu 1000 Betten — die beiden gemeinsamen Verwaltungs- und Wirtschaft¬
gebäude, technische Anlagen usw. gelegt.
Als solche zentralen gemeinsamen Einrichtungen können gelten:
i. Pförtnerhaus, 2. Verwaltungsgebäude, 3. Kirche, 4. Gesellschafthaus,
5- Kochküche, 6. Waschküche, 7. Magazingebäude, 8. Werkstätten, 9.
Bäckerei, 10. Schlachthaus, 11. Kühlanlage, 12. Feuerlöschgerätehaus,
13. Fernheizwerk, 14. Elektrizitätswerk, 15. Gutshof, 16. Gemüsegärtnerei,
17. Gewächshaus, 18. Wasserversorgung und Hochbehälter, 19. Klär¬
anlage und Abwässerleitung, 20. Friedhof, 21. Sektionshaus.
Es ist also eine ganz erkleckliche Anzahl von Anlagen und Gebäuden,
die man bei der Ausgestaltung eines solchen Doppelprojekts nur einmal,
wenn auch in vergrößerten Maßen, zu erstellen hat.
Dazu kommen sodann die zahlreichen Beamtenwohnge¬
bäude, die wenigstens zum Teil beiden Anstalten gemeinsam an*
gehören.
Wir gelangen zum wichtigsten Teile unserer Anstalt, den Kranken¬
häusern, deren Anlage bei beiden Unteranstalten ungefähr gleich sein
kann.
') Unterdessen ist bei Station Muggensturm in der Nähe von
Rastatt ein großes u. schönes Gelände gewählt u. angekauft worden.
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Fischer,
Selbstverständlich können wir ein solches Riesenunternehmen nicht
in lauter kleine Pavillons von 20 bis 30 Plätzen auflösen; wir kämen sonst
auf eine Anzahl von 80 bis 100 Krankenhäusern. Wir müssen vielmehr
an die Erstellung größerer Krankenpavillons und selbst langgestreckter
Bautrakte herangehen, wie ich sie früher schon empfohlen habe.
Welche Krankenkategorien in diesen größeren Häusern, die wir
auf etwa 80 bis 100 bis 150 Plätze ansetzen möchten, am besten beherbergt
werden, mag dahingestellt bleiben. Man kann an eine größere kli¬
nische Zentrale, ähnlich den Irrenkliniken selbst, mit Unterteilung
in mehrere Wachstationen und Aufnahmeabteilungen denken; ebenso
kann man die große Menge der mehr chronischen und stumpfen Kranken,
die aber arbeitfähig sind und meist unter dem Namen der Halbruhi-
gen laufen, in diesen größeren Pavillons ohne jedes ärztliche Bedenken
unterbringen, wenn nur eine geschickte Raum Verteilung und Grundri߬
anordnung mit getrennten selbständigen Unterabteilungen stattündet.
Und drittens kann ein derartiger großer Bautrakt verwendet werden,
um eine größere Anzahl von Unterabteilungen für Bettlägerige
jeder Art aufzu nehmen. Wir denken dabei an Katatoniker, Abstinierende,
Gebrechliche, Sieche, Paralytiker, Alterskranke, an körperlich Kranke
jeder Art, insbesondere an Tuberkulöse, Typhusbazillenträger usw. An
das gleiche Haus könnten aber auch kleine getrennte Abteilungen für
akute Infektionskrankheiten angegliedert werden, ebenso eine Abteilung
für erkranktes Personal, und schließlich dürfte auch eine Operations-
abteilung für chirurgische Fälle nicht fehlen. Damit kommen wir leicht
auf einen großen Krankenhauskomplex, der bei der Ausdehnung unserer
Anstalt kaum unter 150 bis 200 Betten für jede Geschlechtseite zu halten
sein wird.
Dieses letztere Projekt haben wir für das Bauprogramm ausgearbeitet.
Im übrigen haben wir in das Programm hauptsächlich das System
der Doppelpavillons von im ganzen 50 bis 80 Betten Belegzifler
aufgenommen, und zwar einerseits für Aufnahme- und Wachabteilungen,
andererseits für die Unterbringung von Unruhigen und sogenannten Halb-
ruhigen. Diese Häuser scheiden sich horizontal oder vertikal in zwei
vollkommen oder annähernd gleiche Unterabteilungen für den gleichen
Zweck. Einige Doppelpavillons für Unruhige und Halbruhige haben
dagegen in der Mitte eine gemeinsame Wachabteilung, zu beiden Seiten
je eine Tagsaalabteilung, im Obergeschoß die Schlafsäle ohne Wachbetrieb.
Aber auch einfache kleine Pavillons von 20 bis 35 Plätzen im Land¬
hauscharakter werden erstellt werden; sie dienen zur Unterbringung der
ruhigen, harmlosen, frei zu verpflegenden Kranken, denen wir gern ein
behagliches Heim und ein Milieu in kleinerem Kreise gewähren wollen.
Im ganzen sind es nach dem vorläufigen Bauprogramm 39 Kran-
kenpavillons, 17 Gebäude für gemeinsame zentrale Einrichtungen
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Neue Aufgaben der Psychiatrie in Baden.
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und ungefähr 20 Beamtenwohngebäude mit 52 Familienwohnungen.
Die ganze Anstalt besteht somit aus etwa 76 Gebäuden, wovon 39
Krankenpavillons sind. Man wird danach wohl sagen dürfen, daß
im ganzen genommen, wenn sich auch verschiedene größere Bau¬
komplexe darunter befinden, der Charakter einer Pavillonanstalt
gewahrt worden ist.
Bei diesem Projekt haben wir auch daran gedacht, eine
K i n d e r a b t e i 1 u n g , die bei uns in Baden noch fehlt, zu gründen;
der einen Anstalt wäre eine Station für Knaben, der anderen eine für
Mädchen einzureihen.
Nicht minder sollte aber bei einer derartigen Riesenanstalt auch
daran gedacht werden, in den Bauplan für jede Geschlechtseite einen
besonderen, wenn auch kleinen Pavillon für Nervöse (Neurasthe¬
niker, Psychastheniker, psychisch Nervöse und Erschöpfte) auf¬
zunehmen. Derartige Kranke suchen als freiwillige Aufnahmen
unsere Anstalten immer häufiger auf. Es ist daher notwendig, auch
für sie zu sorgen und ihnen, gesondert von den schwerer Kranken,
ein ruhiges und wohnliches Heim zu bieten; auf eine geschickte Grund¬
rißeinteilung mit vielen kleineren Räumen wäre dabei besonderer Wert
zu legen.
Des weiteren habe ich Antrag gestellt zu erwägen, ob nicht
bei dieser Anstalt große Stationen für Tuberkulöse
und andererseits für Typhuskranke resp. Typhus¬
bazillenträger gegründet werden sollen. Und zwar sollen
diese Krankenhäuser die bezeichneten Krankenkategorien aus dem
ganzenLand,d. h. aus sämtlichen Irrenanstalten,
die dann gänzlich davon entlastet würden, vereinigen. Selbstver¬
ständlich würden trotzdem bei den vorhandenen anderen Asylen kleine
Krankenstationen für auftretende Krankheitfälle dieser Art bestehen
bleiben müssen, bis jeweils die Überführung der Kranken nach der
Zentrale stattfinden kann.
Wir versprechen uns von der geplanten Einrichtung trotzdem
einen großen Gewinn, weil dann für die große Zahl dieser infektiösen
Kranken nur einmal gesorgt werden muß, und weil zweitens die
ärztliche Prophylaxe mehr zu ihrem Rechte kommt, wenn sämtliche
andere Anstalten von diesen Seuchen, die gegenwärtig einen immer
größeren Umfang in unseren Anstalten anzunehmen drohen, befreit
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Fischer,
werden können. Immerhin schien es mir von Wert, dieses Problem
einmal anzuregen.
Ein unter diesen Gesichtspunkten ausgestaltetes großes Anstalt¬
projekt muß aber nach allen Erfahrungen des Anstaltbaus in Bau und
Betrieb ganz wesentlich rationeller zu stehen kommen, als wenn wir
statt dessen zwei oder gar drei getrennte Anstalten in kleineren Pa¬
villons, jede mit den gleichen hier gemeinsam angenommenen zentralen
technischen und wirtschaftlichen Einrichtungen, an verschiedenen
Orten im Lande für sich aufstellen würden.
Als eine selbstverständliche Forderung bei der Neuschöpfung
solcher Asyle, wo neue bauliche Probleme zur Durchführung kommen
sollen, muß es gelten, daß der Arzt d. h. der Facharzt (Psychiater) bei
der Ausgestaltung in maßgebender oder richtiger dominierender
Stellung beteiligt sei. Je mehr wir Irrenärzte selbst uns auf einen
billigeren Anstaltbau einstellen, desto wichtiger ist es, daß die unerlä߬
lichen ärztlichen Anforderungen durch den Sachverständigen in
Person unausgesetzt verfochten und zur Geltung gebracht werden.
Das kann nur geschehen, wenn der Facharzt von Beginn an und
dauernd mit den Arbeiten im Hauptamt betraut ist. Es sind das
eigentlich Selbstverständlichkeiten; es wird aber nicht immer danach
gehandelt. Wo es sich um die Gründung von Krankenhäusern für
die uns anvertrauten Pfleglinge handelt, muß der fachkundige Arzt
das ausschlaggebende Wort haben. Dieser schon wiederholt von mir
vertretene Standpunkt hat auf dem vorletzten „Kongreß für Irren-
fürsorge“ in Wien (1908) durch eine einstimmig angenommene Reso¬
lution seine klare und volle Bekräftigung erhalten.
Allerdings gehört dazu seitens des die Arbeiten leitenden Arztes
eine unbeschränkte Vertiefung in seine Aufgabe, eine große, haupt¬
sächlich durch Anstaltreisen gewonnene Erfahrung und ein gewisses
Geschick und Talent für diese wichtige Seite des ärztlichen Wirkens
im Krankenhausbau.
Nur bei einer derartigen ärztlichen Durchdringung des ganzen
Bauprogramms kann die moderne Irrenanstalt das werden, was sie
sein soll — eine Heilstätte für Nerven-, Gemüts- und Geisteskranke
aller Entwicklungs- und Zustandformen, jeden Alters, also auch für
Bänder und Jugendliche, und jeden Standes, also auch für Kranke der
vermöglichen Klassen, für Anfang- und Endzustände, also auch für
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Neue Aufgaben der Psychiatrie in Baden.
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psychisch Nervöse, wie nicht minder für alle schon in der Anlage
Defekte und Geschwächte, für Grenzzustände und Minderwertige aller
Art, ferner für Epileptische, Imbezille und Idioten jeden Grades,
schließlich überhaupt für alle chronischen Kranken bis zur stärksten
Verblödung, kurz für jeden Kranken, soweit und sofern er einer fach¬
ärztlichen Behandlung in irgendeiner Hinsicht bedarf. Allen diesen
Aufgaben muß die Heilanstalt gerecht werden können, und der Psychia¬
ter muß und nur er kann dafür sorgen, daß für alle Krankenkategorien
auch die für sie zweckmäßigsten Behandlungs- und Pflegebedingungen
und die richtige Unterkunft in ärztlich durchdachten und praktisch
gegliederten Krankenabteilungen (Pavillons) durch eine reiche Diffe¬
renzierung der ganzen Anstaltanlage geschaffen werden.
Der Kostenaufwand — um auch hierüber zum Schlüsse
nochmals ein Wort zu sagen —, den der badische Staat für den Bau
seiner Irrenanstalten insgesamt sich auferlegt, ist für unser kleines
Land ein ganz außerordentlich großer. Sind schon seit dem Jahre 1884
bis 1911 für den Bau von Emmendingen und Wiesloch, für bauliche
Neuerungen in Illenau und Pforzheim im ganzen 15,59 Millionen Mark
nötig gewesen, so sieht eine Aufstellung des Großh. Ministeriums des
Innern für jede nun folgende zweijährige Budgetperiode ungefähr
2 bis 2,5 weitere Millionen und für das ganze nächste Jahrzehnt —
1912 bis 1921 — eine Gesamtsumme von 12,63 Millionen Mark im
Ausbau der Irrenanstalten vor; darin erscheinen außer bedeutenden
Posten für notwendige Herstellungen in Illenau und Emmendingen,
ferner für den völligen Ausbau von Wiesloch, vor allem noch 4,2 Millio¬
nen für den Bau der in der Entstehung begriffenen neuen Anstalt
bei Konstanz und zunächst 7 Millionen für die Erstellung der Anstalt:
Ersatz Pforzheim; die weiteren 3 Millionen gehören einer noch späteren
Periode des völligen Ausbaues dieser Anstalt im Mittellande an; also
wiederum zusammen 15,63 Millionen und zwar in der halben Zeit, was
einer doppelten Leistung seitens der staatlichen Finanzen gleichkommt.
Wenn unser Projekt die Zustimmung der Landstände, die bisher
immer eine sehr liberale und humane Stellung zu unseren durch die
Notwendigkeit gebotenen Forderungen eingenommen haben, findet,
so dürfen wir hoffen, daß die Erstellung der Anstalt: Ersatz Pforzheim
schon in den nächsten Jahren (ab 1914) begonnen und so gefördert
werden wird, daß etwa im Jahre 1919 die Hälfte der Anstalt betrieb-
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Fischer,
f&hig dasteht; den Ausbau werden dann die folgenden Jahre je nach
dem sich weiterhin einstellenden Bedarfe bringen.
Wir werden damit von jetzt 3070 Plätzen auf künftig 5600 Plätze
(im Jahre 1921) in staatlichen Heil- und Pflegeanstalten kommen
und dadurch den Grad der staatlichen Anstalt Versorgung der Geistes¬
kranken in unserem Lande steigern von jetzt 1,43 auf künftig 2,24 zu
1000 Einwohnern.
Bis diese großen Neuerstellungen in Wirksamkeit treten können,
werden aber die vorhandenen Anstalten Illenau, Pforzheim, Emmen¬
dingen und das neue Wiesloch mit den beiden Irrenkliniken zusammen
keinen leichten Stand haben; sie werden gegenteils, nach dem bis¬
herigen Anwachsen der Krankenbevölkerung in unseren Anstalten —
der jährliche Zuwachs des Krankenstandes beträgt im ganzen rund
150 Kranke — zu schließen, aufs äußerste in Anspruch genommen
werden müssen und aus der Überfüllung erst herauskommen, wenn
zu dem neuen Konstanz auch das neue Rastatt, wenigstens in seiner
ersten größeren Hälfte hinzugekommen sein wird. Erst dann, also
etwa im Jahre 1921, wird auch die Stunde schlagen, wo die altersgraue
Pforzheimer Anstalt nach gerade sechshundertjährigem Bestehen ihre
unter den widrigsten Verhältnissen treu geleistete psychiatrische
Arbeit endgiltig beschließen kann.
Bis dahin ist noch viel Geduld und Ausdauer, viel Arbeit und viel
Geld nötig.
Wenn Sie nun vielleicht auch nicht mit allem, insbesondere nicht
mit dem großen Anstaltprojekte im Mittellande sympathisieren
werden, so müssen Sie doch zugeben, daß Baden im letzten Jahrzehnt
ganz gewaltige Anstrengungen im Anstaltbauwesen gemacht hat. Sie
haben des weiteren ersehen, daß wir auf diesen Taten nicht ausruhen
werden, sondern uns vielmehr, allerdings durch die Macht der Ver¬
hältnisse gezwungen, nochmals zu einem neuen großen Werke, dem
beschriebenen, aufmachen wollen.
Daraus, d. h. aus den auf einen verhältnismäßig kurzen Zeitraum
gehäuften Anforderungen, erklärt sich auch die ungewöhnliche Form
der Ausführung, die Doppelanstalt im Mittellande. Wir müssen und
wollen einmal glatte Lage in der Anstaltfürsorge bekommen und dazu
müssen wir uns auch dieses heroischen Mittels bedienen.
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Neue Aufgaben der Psychiatrie in Baden.
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Mit der damit gewonnenen, enormen, aber nötigen Plätzebeschaf-
fung von 2000 Betten hoffen wir dann auf geraume Zeit Ruhe im
Anstaltbau zu bekommen. Wir verhehlen uns aber nicht, daß wir zur
Vervollständigung unserer Landesirrenversorgung nach dem regio¬
nären Prinzip späterhin auch im nordöstlichen Teil des Großherzog¬
tums, im Kreise Mosbach, ein weiteres Landesasyl nötig haben werden.
Wir möchten indes wünschen und hoffen, daß diese Aufgabe erst der
nächsten Generation zufallen möge. Eine Gewähr für die Ausführ¬
barkeit dieses Aufschubs möchte ich allerdings in keiner Weise über¬
nehmen.
Das sind in kurzem Überblicke die Ziele, die sich die staatliche
Irrenfürsorge in Baden für den Ausbau ihres Anstaltwesens ge¬
steckt hat.
Zugleich sind damit aber auch die Wege vorgezeichnet, wie wir
nach und nach die endgültige regionäre Ordnung der ge¬
samten Irrenversorgung des Landes nach den ein¬
zelnen Landesdistrikten erreichen wollen: Die Irrenklinik in Heidel¬
berg, die Heil- und Pflegeanstalten in Wiesloch und später in Mosbach
für das Unterland, davon die letztere Anstalt für den äußersten Nord-
osten des Landes; Illenau und Rastatt für das Mittelland, die Irren-
klinik in Freiburg und die Anstalten Emmendingen und Konstanz
für das Oberland, davon die letztere hauptsächlich für den Südostteil,
d. h. den Seekreis.
Außerdem ist aber auch nach der neuen Vollzugsverordnung zum
Irrengesetz die Teilung in Aufnahme- und Ubernahmeanstalten
noch weiter beibehalten worden, wonach die frischen Aufnahmen
aus dem Lande vorzugsweise Illenau und den beiden Kliniken Heidel¬
berg und Freiburg zukommen, während die großen Asyle: Emmen¬
dingen, Wiesloch, Rastatt, Konstanz und Mosbach hauptsächlich
die Fälle mit längerem Krankheitverlaufe aus den Aufnahmeanstalten
(der solche, die von ihnen abgelehnt werden, übernehmen sollen;
nur Konstanz wird beiderlei Zwecken dienen, indem es aucli die
Frischerkrankten aus dem Seekreis aufnehmen soll.
Bezüglich der freiwilligen Aufnahmen und der v e r -
möglichen Kranken (der Selbstzahler aller Klassen) ist aller¬
dings eine generelle Ausnahme gemacht worden; sie können nach der
neuen Vollzugsverordnung die Anstalt frei wählen. Dieses Zugeständnis
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Fischer.
ist von den Übernahmeanstalten freudig begrüßt worden; es wäre
nur zu wünschen, daß die Neuerungen, insbesondere auch die frei¬
willigen Aufnahmen, sich rascher, als bisher geschehen, einbürgerten.
Da jedoch die Anzahl dieser Aufnahmen überhaupt im Vergleich zur
Summe aller Jahresaufnahmen verhältnismäßig gering ist und bleiben
wird, so kann auch an der Gesamtlage, daß nämlich den großen Landes¬
anstalten nur verschwindend wenig Neuaufnahmen zukommen, kaum
etwas geändert werden.
Nach unserer Überzeugung kann dies kein Dauerzustand bleiben.
Freilich werden die großen Asyle den kleiner angelegten Kliniken
und Ulenau immer als Abnehmer für die von jenen auszuscheidenden
Kranken zu dienen haben. Daneben muß ihnen aber gleichwohl mit
der Zeit die Freiheit der Aufnahme von frischen Kranken aus dem
Lande ohne Einschränkung zugestanden werden, wie nicht minder dem
Publikum die vollständige Freiheit in der Wahl der Anstalt, so daß
späterhin jede Anstalt alle diejenigen Kranken aufnimmt, die ihr auf
eigene Wahl der Kranken oder auf Bestimmung der Angehörigen
zugeführt werden. Nur dadurch kann der befremdliche Zustand nach
und nach aufgehoben oder doch einigermaßen ausgeglichen werden,
daß fast sämtliche frischen Aufnahmen und damit das Interessanteste
in unserem Berufe Illenau und den beiden Kliniken zufallen, die zu¬
sammen nur 25% der Belegschaft aller badischen Anstaltplätze aus¬
machen, während die großen Landesanstalten mit einer Belegschaft
von 76% sämtlicher Anstaltplätze bezüglich der Neuaufnahmen
beinahe leer ausgehen; später nach der Erstellung der neuen Anstalten
würde das Mißverhältnis noch viel größer werden. Man mag mit
Gegengründen welcher Art auch immer kommen, niemand wird be¬
streiten können, daß auf diese Weise d. h. mit dem Entzug der Neuauf¬
nahmen die großen Landesanstalten in eine zweite Beihe der Irren¬
fürsorgeinstitute gerückt werden, und man wird es uns nicht verübeln
können, wenn wir dagegen immer wieder ankämpfen.
Von der angestrebten Neuordnung befürchten wir nun aber keiner¬
lei Unzuträglichkeiten und auch keine Beeinträchtigung der Interessen
der einzelnen Anstalten. Das Aufnahmewesen wild sich ganz von
selbst aus Gründen der einfachsten Zweckmäßigkeit so regeln, daß die
Aufnahmen im ganzen genommen doch nur regionär erfolgen, d. h.
in die dem Wohnsitz des Kranken zunächst gelegene Anstalt und
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Neue Aufgaben der Psychiatrie in Baden.
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damit auch in die Anstalt, die für die Irrenfürsorgezwecke des be¬
treffenden Bezirks in Wirklichkeit vorgesehen ist. Der beständig
wachsende Zudrang von Kranken zu den Anstalten wird aber ganz
allein mit Bestimmtheit dafür sorgen, daß keine der bisher bevor¬
zugten Institutionen an Krankenmaterial geschmälert wird; der
Ausgleich, der daneben auch unseren berechtigten Ansprüchen einiger¬
maßen gerecht wird, wird sich dadurch von selbst ergeben.
Nachdem wir so die Aufgaben der staatlichen Irrenfürsorge
sowohl im Ausbau des Anstaltwesens wie auch in der ganzen Organi¬
sation des Irrenw’esens überhaupt beleuchtet haben, gehen wir zur
Besprechung einiger andern wichtigen und aktuellen Fragen der all¬
gemeinen praktischen Psychiatrie in unserm Lande über.
1. Zunächst wollen wir die mit dem Anstaltleben aufs engste
zusammenhängende Familienpflege der Geisteskran¬
ken streifen.
Durch das neue Irrenfürsorgegesetz resp. durch die dazu erlassene
Vollzugsverordnung ist auch die von den Anstalten aus organisierte
Familienpflege behördlich geregelt und sanktioniert worden.
Der betreffende Paragraph (§31) der Vollzugs Verordnung lautet:
Die Anstaltdirektionen sind ermächtigt, mit Zustimmung desjenigen,
der den Antrag auf Unterbringung gestellt hat. geeignete Kranke bei
•■iner in der Umgebung der Anstalt wohnenden zuverlässigen Familie
Kegen eine zu vereinbarende Vergütung in Pflege zu geben.
Der Kranke bleibt hierbei im Verbände der Anstalt, wird von dieser
•ius ärztlich behandelt und beaufsichtigt und kann ohne weiteres in die
Anstalt zurückversetzt werden, wenn eine Veränderung des Zustandes oder
di- Verhältnisse der Pflegefamilie es erforderlich erscheinen lassen.
Auf die Vergütung (§ 27) ist die Unterbringung in Familienpflege
ohne Einfluß.
Leider ist bis jetzt, wie unseres Wissens übrigens in ganz Süd¬
deutschland, auch bei uns in Baden zum Unterschied von Nord¬
deutschland in der Familien Versorgung der Geisteskranken trotz
mehrfach unternommener Anläufe noch kein durchschlagender Erfolg,
der zu einer merklichen Entlastung der Anstaltpflege geführt hätte,
erzielt worden.
Zu einem nicht geringen Teil mag dies daran liegen, daß unser
Und in den noch zu besprechenden Kreispflege- und Wohltätigkeits-
anstalten Institutionen besitzt, wo gerade Kategorien von Kranken,
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die anderwärts in Familienpflege gegeben werden, um ein billiges Ver¬
pflegungsgeld dauernde Unterkunft finden; in den Kreispflegeanstalten
sind es erwachsene Imbezille, Idioten, Epileptische und chronische
Geisteskranke, in den Wohltätigkeitsanstalten jugendliche Kranke
derselben Krankheitformen.
Wir halten diesen Zustand schon darum für keinen glücklichen,
weil so eine große Anzahl von chronischen Geisteskranken aus der
irrenärztlichen Fürsorge, Aufsicht und Kontrolle gänzlich ausscheidet.
Der Bevölkerung in Stadt und Land werden diese Kranken, die man
gewöhnlich gerne aus der Familie weggibt, zwar auf diese Weise ab¬
genommen; sie gelangen aber auch nicht vorübergehend in die staat¬
lichen Irrenasyle, entgehen so der psychiatrischen Behandlung und
können deshalb von uns auch nicht der organisierten Familienpflege,
selbst wenn sie sich dafür eignen würden, überantwortet werden.
Unsere Landesbevölkerung steht denn solchen Aufgaben auch
gänzlich fremd und interesselos gegenüber. Sie ist ohnehin an ein
größeres Maß von Freiheit und Selbständigkeit in ihrer Lebensführung
gewöhnt und wird sich zu einer Aufopferung für andere, Fremde,
und gar zu deren Aufnahme in den eigenen Familienkreis wenig hin-
gezogen fühlen. Es wird daher auch sehr schwer halten, sie zu diesen,
einen nicht geringen Grad von Altruismus erfordernden Aufgaben der
Krankenfürsorge zu erziehen.
Nicht zu leugnen ist aber auch, daß andererseits der ganze Cha¬
rakter unseres Menschenschlags lebhaftere Krankheiterscheinungen
zeitigt als anderswo, so daß schon darum unsere Kranken vom Arzte
gewissenhafterweise nicht so leicht in Familienpflege gegeben und dort
gehalten werden können.
Schließlich kommt es auch sehr auf die Anforderungen an, die
ärztlicherseits an eine wirklich geordnete Familienpflege gestellt
werden.
Häufig lehnen aber auch Kranke, für die wir selbst statt der Ent¬
lassung eine Zeitlang die Familienpflege für gut und nötig hielten und
einrichten wollten, den Übergang in die Familienpflege einfach ab;
sie drängen auf unmittelbare Entlassung in die Freiheit, in Stellen,
„wo sie etwas verdienen“, und müssen dann häufig, zumal bei der
Überfüllung unserer Anstalten, wenn es ärztlich einigermaßen gerecht¬
fertigt werden kann, auch entlassen werden. Nicht selten werden
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Nene Aufgaben der Psychiatrie in Baden.
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sie darin von ihren Angehörigen bestärkt, oder diese verweigern über¬
haupt die nach den bestehenden Bestimmungen erforderliche Zu¬
stimmung zu unserem Vorhaben.
So ist denn die Familienpflege bei uns über kümmerliche An¬
fänge nicht hinausgekommen. In Emmendingen und Wiesloch sind
etwa ein Prozent des Krankenstandes auf diese Weise versorgt worden.
Oie Resultate bei diesen wenigen Fällen sind allerdings günstig und
mahnen zur Weiterarbeit.
Es kann darum auch hier nur von neuem die Anregung gegeben
werden, daß wir auch in dieser Sparte der Irrenfürsorge vorwärts zu
kommen suchen müssen; die norddeutschen Vorbilder mahnen ein¬
dringlich dazu. Wenn dadurch auch der Ausbau des Anstaltwesens
nicht aufgehalten werden darf, so kann uns doch die Familienpflege
mit jedem neuen Zuwachs eine Erleichterung im Anstaltbetriebe,
eine Abwehr gegen die Überfüllung einer jeden einzelnen Anstalt
bringen; schon aus diesem praktischen Grunde allein, ganz abgesehen
von ihrer prinzipiellen Bedeutung als notwendige Ergänzung der
“«entliehen Anstaltfürsorge, empfiehlt sich deren Ausbau.
Bezüglich der Unterbringung von Familienpfleglingen bei ver¬
heirateten Angestellten (Wärtern, Werkmeistern usw.) der
Anstalt haben wir zum Unterschied von der Gepflogenheit an anderen
Anstalten von Anfang an den Standpunkt eingenommen, daß hierin
kein Zwang irgendwelcher Art, zum Beispiel in der Einräumung oder
Aberkennung einer Dienstwohnung, ausgeübt werden solle. Wir
sind vielmehr der Ansicht, daß den Beamten, die tagüber in ihrem
aufreibenden Berufe ständig mit den Kranken zu tun haben, der Um¬
gang mit ihnen zu Hause, innerhalb der Familie, nicht noch zugemutet
werden darf, außer wenn sie diese Verpflichtung freiwillig übernehmen.
Wie schon gesagt, bereitet bei uns die Entlassung auch
nicht geheilter Kranker in die eigene Familie
mitunter weniger Schwierigkeiten als die Überführung in die eigent¬
liche, von der Anstalt aus organisierte Familienpflege. Sind es auch
^hr oft nur materielle Gründe (Last der Kostentragung), die dazu
fuhren, so kommen doch dadurch jährlich eine große Anzahl von Ent¬
lassungen zustande mit oft überraschend gutem Erfolge; manche
dieser Kranken, bei denen wir selbst es nicht gehofft hatten, bleiben
längere Zeit oder sogar dauernd entlassen.
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Leider fehlt uns aber außer den meist dürftigen Antworten auf
unsere Erkundigungen hin jede genauere Nachricht über deren Er¬
gehen und über den weiteren Krankheitverlauf.
In dieser Hinsicht außerordentlich wertvoll könnten daher die
von Roller , dem ersten Direktor von Illenau, schon vor mehr als 70 Jah¬
ren angeregten Besuchsreisen der Irrenärzte im Lande
wirken. Die Anstaltärzte würden alle diese, dem Aufnahmegebiet
der jeweiligen Anstalt angehörigen, aber bei ihren Familien befind¬
lichen Kranken in regelmäßigem Turnus aufsuchen, deren Gesund¬
heitzustand von neuem feststellen, aber auch zugleich die Pflege- und
Unterkunftverhältnisse untersuchen und sodann ihren ärztlichen Rat
nach der einen wie der anderen Richtung erteilen. .Es ist anzunehmen,
daß auf diesem Wege die Irrenfürsorge außerhalb der Anstalten
wesentlich gefördert, manches Nützliche erreicht, nicht selten übel¬
stände abgestellt oder verhütet werden können.
2. Wiederholt war, um der Überfüllung der staatlichen Asyle zu
steuern, davon die Rede, die Kreispflegeanstalten des
Landes, unter der Selbstverwaltung der Kreise stehende Armen¬
spitäler für Sieche und Gebrechliche, auch mehr für Zwecke der Irren¬
fürsorge heranzuziehen und auszubilden. Wir Irrenärzte haben uns
dem gegenüber jederzeit ablehnend verhalten ( Roller , Schüle, Kraepelin .
M. Fischer). Wir haben davon abgeraten, diesen Instituten andere
als chronische und vollständig abgelaufene Krankheitfälle zuzuweisen,
weil sie einer eigentlichen irrenärztlichen Dienstorganisation ent¬
behren und deshalb vor Aufgaben gestellt würden, denen sie nicht
gewachsen sein könnten. Damit läge aber die Gefahr vor, daß, wenn
Arzt und Personal nicht psychiatrisch vorgebildet sind, eine ver¬
derbliche Form der Winkelpsychiatrie sich einbürgerte. Wir sind
sogar der Ansicht, daß diese Anstalten Aufnahmen aus dem freien
Lande zu vollziehen überhaupt nicht berechtigt sein sollten, sondern,
daß nur solche Geisteskranke dahin kommen können, die längere Zeit
in einer staatlichen Heil- und Pflegeanstalt behandelt und dann nach
gründlicher Beobachtung und Prüfung zur Übergabe in Kreispfiege
für geeignet befunden worden waren. Natürlich müssen Fälle von
Geisteskrankheit, wenn sie dann in der Kreisanstalt einer Verschlimme¬
rung ihres Zustandes anheimfallen, die in irgendeiner Beziehung
irrenärztliche Behandlung und Anstaltfttrsorge nötig macht, unver-
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Neue Aufgaben der Psychiatrie in Baden.
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züglich der staatliehen Heil- und Pflegeanstalt zurückgegeben werden,
da ja die Kreisanstalt für solche Aufgaben nicht vorbereitet und nicht
eingerichtet ist.
Dazu gehört dann noch eine genügende Aufsichtführung des
Staates, die bezüglich der geisteskranken Insassen einem erfahrenen
Psychiater anvertraut sein muß.
*
Für diesen Zweck einer Siechenanstalt für völlig ab¬
gelaufene, harmlos gewordene Fälle von Geisteskrankheit, also für
verblödete chronische Irre, Idioten, Kretinen und Epileptische,
halten wir dagegen die Kreisanstalten für ebenso geeignet wie für
körperlich Sieche und Gebrechliche und für Krankheitzustände, wo
sich beiderlei Erscheinungen mischen. Hier ist das eigentliche Gebiet
dieser Art von Krankenanstalten; hierin leisten sie Gutes und können
cs zu einer billigen Verpflegungsnorm leisten. Sie sind so zu einer
Wohltat für die Kreisverwaltungen und für die Armen des Landes
geworden; zurzeit sind darin unter insgesamt 2700 Insassen auch
etwa 1400 Geisteskranke, Idioten und Epileptiker untergebracht.
Für Zwecke der eigentlichen Irrenfürsorge aber können sie nach
unserer Überzeugung aus den angeführten Gründen nicht stärker
herangezogen werden.
3. Eine der allerwichtigsten psychiatrischen Bestrebungen, die
uns wie nicht minder dem Staate zukommt, ist die F ü r s o r g c f ü r
geistig abnorme und geisteskranke Kinder
undJugendliche. Sie liegt bei uns in Baden noch nicht durch¬
aus in den Händen der Psychiater, und auch die Regierung hat sich
ihrer noch nicht völlig bemächtigt. Bis jetzt treten bei uns dafür
hauptsächlich die sogenannten charitativen Anstalten
in Herthen, Kork und Mosbach ein, wo schwachsinnige, epileptische
und idiotische Jugendliche verpflegt und, soweit möglich, unterrichtet
und erzogen werden. Gegenwärtig beherbergen diese Anstalten
zusammen ungefähr 820 Pfleglinge.
An den staatlichen Heil- und Pflegeanstalten fehlen bis jetzt
besondere Kinderstationen. Erst das neueste Projekt für die große
Anstalt im Mittelland sieht zwei Kinderpavillons vor.
Im neuen badischen Irrengesetze ist allerdings kein Unterschied
in der Aufnahmefähigkeit nach dem Alter der Kranken gemacht, so
daß hiernach die staatlichen Heil- und Pflegeanstalten berechtigt sind,
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auch Kinder und Jugendliche aulzunehmen; es müssen also den An¬
stalten nur noch die dafür nötigen besonderen Abteilungen zuteil
werden.
Und in der Tat will es uns scheinen, daß in einem Lande, wo die
gesamte Irrenfürsorge staatlich geordnet ist, der Staat auch nicht bei
einer bestimmten Altersgrenze Halt machen darf. Es muß den Staats¬
bürgern ermöglicht werden, erkrankte minderjährige Angehörige
ebensogut in die staatlichen Institute in Behandlung zu geben wie die
Erwachsenen. Ich bin daher seit Jahren dafür eingetreten, daß,
ganz im Sinne der nunmehrigen Bestrebungen des Deutschen Vereins
für Psychiatrie und des bekannten A11 sehen Vortrags auf diesem
Gebiete, an unseren staatlichen Landesasylen, vorerst an einigen,
später, sofern nötig, an allen, Kinderstationen gegründet
werden, wo geisteskranke, aber auch in schwererem Grade geistig
minderwertige und psychopathische Kinder und Jugendliche die
richtige, das heißt fachärztliche Untersuchung, Beobachtung, Behand¬
lung und Leitung, einschließlich der Erziehung und, wo angängig,
beruflichen Ausbildung, finden. Dazu gehören aber auch die Imbe¬
zillen, Idioten, Kretinen und Epileptischen, sofern und soweit sie beson¬
derer psychiatrischer Behandlung und Fürsorge bedürfen. Es müßte
überhaupt zum Grundsatz erhoben werden, daß keiner von diesen
Zuständen allen in eine andere Anstalt, sei es zur Behandlung, sei es
zur Erziehung aufgenommen wird, bevor er nicht auf kürzere oder
längere Zeit in einer staatlichen Irrenanstalt zur Beobachtung ge¬
wesen ist. Diese Untersuchung erst soll feststellen, ob und für welche
weitere Fürsorge der Fall im speziellen geeignet ist.
Für ganz besonders wuchtig halten wir diese Voruntersuchung
aber, wo es sich um die Frage der Zwangserziehung (Fürsorge¬
erziehung) verwahrloster Kinder handelt. Solche Kinder sollten,
wenn nur der geringste Zweifel über ihre psychopathische Konstitution
besteht, zunächst der Irrenanstalt zur Voruntersuchung übeigeben
werden, ob die Zwangserziehung wirklich die richtige Maßnahme dar-
stellt. oder ob vielleicht eine andere ärztliche und besonders psychia¬
trische Fürsorge besser am Platze w T äre. Wir sind überzeugt, daß
dadurch manchem Fehlgriffe vorgebeugt werden würde; vielleicht
kann dadurch sogar die Erstellung besonderer psychiatrischer Stationen
bei den Zwangserziehungsanstalten selbst entbehrlich gemacht werden.
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Aber auch wo sich eine Psychose oder ein psychisch zweifelhafter
Zustand eist während der Zwangserziehung herausstellt, ist eine Über¬
führung des Zöglings in die eigentliche Heil- und Pflegeanstalt zur
längeren Beobachtung anzustreben. Sind hier etwa Bestimmungen
des Zwangserziehungsgesetzes hinderlich, so wäre deren Abänderung
herbeizuführen, oder es müßte die Zwangserziehung für die Zeit der
irrenärztlichen Obsorge ausgesetzt werden.
Die Mitarbeit des Psychiaters darf jedenfalls in diesem wichtigen
Kürsorgezweige nicht mehr hintangesetzt werden. Dazu gehört
natürlich noch des weiteren, daß der Psychiater in allen Institutionen
für Jugendfürsorge, Jugendschutz, Zwangserziehung, in den Jugend¬
gerichtshöfen, Sitz und Stimme hat und in jedem zweifelhaften Falle
befragt wird. Gerade in der Zwangserziehung halten wir es für beson¬
ders wichtig, wenn der Irrenarzt eine regelmäßige ärztliche Kontrolle
über die Zöglinge, darunter besonders über diejenigen von irgendwie
abnormem Geisteszustände ausübt und zwar während der ganzen
Dauer der Zwangserziehung, ja sogar, wo nötig, auch darüber hinaus.
Nicht minder wichtig ist eine derartige ärztliche Obsorge auch bei
allen jugendlichen resp. minderjährigenKrimi-
nellen überhaupt. Sehr oft wird der Arzt imstande sein, einer
schlimmen Entwicklung im Leben derartiger, doch meist psycho¬
pathischer Individuen vorzubeugen, sei es durch rechtzeitige Erziehungs¬
maßnahmen, sei es durch frühzeitige Anstaltunterbringung.
Die Zentrale für alle solche Bestrebungen der psychiatrischen
Jugendfürsorge und die Beratungstelle für alle auftauchenden ärzt¬
lichen Fragen soll für ihren Aufnahmebezirk jede Heil- und Pflege¬
anstalt des Landes sein; mit ihr sollen sich die in diesem Fürsorge-
wesen beschäftigten Behörden jederzeit in Verbindung halten.
Die Durchführung der richtigen Irrenfürsorge für Kinder und
Jugendliche in einer einheitlichen Organisation über das ganze Land
hin halten wir — um es nochmals zu sagen — für eine unserer drin-
eendsten und aktuellsten Aufgaben, der Irrenärzte sowohl wie des
Staates. Handelt es sich doch um die edelste Seite des ärztlichen
Wirkens: um die ärztliche Prophylaxe und zwar zugleich in mehr¬
fachen, sehr bedeutsamen Beziehungen zum ganzen Staatsleben!
4. Die Fürsorge fftrkriminelleGeisteskranke — wir
verstehen darunter sowohl die geisteskranken Verbrechernaturen
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Fischer,
wie auch die verbrecherischen Geisteskranken jeder Art lind jeden
Alters, also auch die in diese Kategorie gehörigen Grenzzustände,
geistig Minderwertige und Psychopathen schwereren Grades — ist
gerade für ein kleines Land ein außerordentlich schwieriges Kapitel.
Für akut-psychisch erkrankte Sträflinge besteht nun in Baden
bei der Zentralstrafanstalt in Bruchsal ein neues, recht zweckmäßiges
Asyl. Für alle verbrecherischen Geisteskranken nach Ablauf oder Auf¬
hebung ihrer Strafe müssen aber die großen Landesanstalten und, da
es sich meist um dauernde Verwahrung handelt, die sogenannten
Übernahmeanstalten, d. h. Emmendingen und Wiesloch, herhalten,
die auf diese Weise ein sehr großes Kontingent höchst unangenehmer
und den ganzen Krankenhauscharakter störender Kranker zugewiesen
bekommen. So hat zum Beispiel Wiesloch in seinem Krankenstände
auf der Männerseite gegenwärtig 28,5% Kriminelle, d. h. mit dem
Strafgesetz in Konflikt Gekommene und Vorbestrafte, zu verpflegen.
Und zwar sind davon wieder 71,8% d. h. 20,49% des gesamten Männer¬
krankenstandes Rückfall- und Gewohnheitsverbrecher. Diese geistig
abnormen oder geisteskranken Elemente nun müssen nach der neuesten
Vollzugsverordnung zum Irrengesetz in unsern Anstalten verbleiben,
selbst wenn sie einer psychiatrischen Behand¬
lung nicht bedürfen; es genügt die Feststellung ihrer Ge¬
meingefährlichkeit. Auf diese Weise erhalten wir aber auch als dau¬
ernde Bewohner eine nicht geringe Anzahl von Kriminellen, die eine
ausgesprochene Geisteskrankheit nicht haben, sondern psychopathische
oder geistig minderwertige Persönlichkeiten, eigenartige Charaktere
mit dem Hauptmerkmal der Insozialität und Verbrecher-
haftigkeit sind.
Ihre Behandlung ist um so schwieriger, als sie sich selbst einer¬
seits nicht für geisteskrank halten und andererseits ihnen auch vom
Arzte eine wirkliche Form der Geisteskrankheit schwer nachgewiesen
werden kann. So werden sie mit der Zeit verbitterte, zu Intriguen,
Komplotten und Ausbruchsversuchen stets bereite Menschen, denen
der Anstaltaufenthalt und alle ärztlichen Behandlungsbestrebungen
oft nur zum Schaden ausschlagen.
Mit Notwendigkeit führt dies zur Schaffung gesicherter Ab¬
teilungen und Verwahrungshäuser, die eigentlich in den Rahmen
unserer modernen Anstalten nicht recht passen. Auch an unseren
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Neue Aufgaben der Psychiatrie in Baden.
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badischen Anstalten ist — zum Beispiel in Emmendingen durch
Herrichtung einer gesicherten Abteilung im Zentralbau, in Wieslocli
durch Erstellung eines eigenen gesicherten Hauses mit 4 Unterabtei¬
lungen für insgesamt 46 Pfleglinge — staatlicherseits für die Unter¬
bringung solcher Elemente gesorgt worden oder wird gesorgt
«erden.
Wir sind aber der Überzeugung, daß selbst Anstalten mit solchen
Verwahrungshäusern zur richtigen Behandlung der Kriminellen nicht
.iiisreiehen. Es fehlt ein Glied in der Fürsorge für diese unglücklichen
und zugleich schwierigen Elemente. Und zwar halten wir für eine
jroße Anzahl von ihnen eine weitere Art der Anstaltversorgung
außerhalb der eigentlichen lrrenanstaltfürnötig,
«in Mittelding zwischen Krankenhaus und Arbeitshaus. Es müßte
also getrennt von der Irrenanstalt, am besten im Anschluß an ein
wirkliches Arbeitshaus, eine Station für verbrecherische Charaktere
gegründet werden als ein wertvoller weiterer Faktor in ihrer Unter¬
bringung und Behandlung.
Auch für diese Station müßte natürlich eine irrenärzt-
iche Kontrolle und Behandlung der Insassen ein¬
gerichtet werden; sie käme auf diese Weise auch den übrigen psychisch
nicht direkt affizierten Insassen zugute, bei denen sie nach manchen
bisherigen Erfahrungen gleichfalls sehr angebracht ist.
Wir denken uns den Gang der Fürsorge dann im einzelnen Falle so,
'laß jeder Kriminelle dieser Art zunächst der Irrenanstalt, sei es dem
Verwahrungshause, sei es einer anderen Abteilung zugeführt wird.
Krweist er sich nach längerem gewissenhaften Studium als ungeeig¬
net für die weitere Anstaltbehandlung und kommt man danach zu der
Kntscheidung, daß er nach seiner ganzen Eigenart sich selbst besser
befinden würde in einer Versorgung außerhalb der eigentlichen Irren-
mstalt, so erfolgt seine Versetzung indieKriminellenstation
beim Arbeitshause; lediglich das Interesse des Kranken soll
hierbei maßgebend bleiben. Ebenso müssen natürlich auch aus dieser
Nation in geeigneten Fällen Rückversetzungen in die Irrenanstalt
jederzeit möglich sein.
Mit der Einführung der verminderten Zurechnungfähigkeit
nach dem neuen Strafg fw '‘' + '’" r ' + " i'rf und der sogenannten „sichernden
Maßnahmen" würde tige Kombination von Arbeitshaus
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Fischer,
mit Verbrecherstation, auf deren Notwendigkeit ich bereits im Jahre
1897 („Fürsorge für irre Verbrecher“) hingewiesen habe, ohnehin gar
nicht mehr länger zu umgehen sein. Es scheint uns aber sicherer
und klüger, solche Einrichtungen und Notwendigkeiten, zumal sie
schon gegenwärtig von Nutzen sein können, bei Zeiten vorzubereiten;
dann wird man später auch nicht noch größeren Kalamitäten und
Unzulänglichkeiten gegenüberstehen.
Wir würden nach unserem Vorschläge für erwachsene Schädlinge
der menschlichen Gesellschaft ähnliche Institutionen bekommen wie
die Zwangserziehungsanstalten bei den Jugendlichen, und zwar für
Fälle, die einer besonderen psychiatrischen Obsorge in der Irren -
Instalt nicht mehr bedürfen, oder wo sie sich sogar als schädlich erweist,
an anderer Richtung wären diese Stationen aber für gemeingefährliche
Elemente ein notwendiges Korrelat zu den Kreispflegeanstalten für
Erwachsene und ebenso zu den Pflegeanstalten charitativen Charakters
für Jugendliche, wo bis jetzt nur nicht gemeingefährliche, harmlose,
chronische Kranke, die keiner besonderen psychiatrischen Obsorge
bedürfen, untergebracht werden sollen.
Den Hauptwert der Einrichtung sowohl für die Pfleglinge wie
für den Betrieb und den ärztlichen Dienst erkennen wir, wie gesagt, in
der Möglichkeit des Aufenthaltwechsels zwischen Irrenanstalt und
Arbeitshaus und in der damit geschaffenen weiteren Verwahrungsform,
die keine Irrenanstalt und keine Strafanstalt darstellt; sie erscheint
uns als eine notwendige Ergänzung der bisherigen Art der Fürsorge.
Für unbedingt erforderlich müssen wir es aber nochmals erklären,
daß alle derartigen Zustände zuerst in psychiatrische
Beobachtung an einer eigentlichen Irrenanstalt kommen und
erst von hier aus nach kürzerer oder längerer Zeit unter genauer
Stellung der Indikation in das Arbeitsasyl verwiesen werden; das
gleiche gilt für die Rückversetzungen in die Irrenanstalt.
, Ein ganz besonders heikler Punkt ist die Entlassung psy¬
chisch gebesserter und sogar geheilter, früher gemeingefährlich oder
kriminell gewesener Geisteskranker aus der Irrenanstalt. Bei ihnen
wird man ja in der Stellung der Prognose und der Indikation der Ent¬
lassung gerade im Hinblick auf ihr Vorleben und auf die Gefahr für
die Allgemeinheit immer ganz besonders vorsichtig verfahren.
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Neue Aufgaben der Psychiatrie in Baden.
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Wie begreiflich hält es nun, auch wenn wir eine weitgehende
Besserung verbärgen und einen Entlassungsversuch, meist nach langem
Anstaltaufenthalt, unter den auch dann noch erforderlichen Kautelen
durchaus empfehlen können, außerordentlich schwer, für solche Ele¬
mente eine in jeder Beziehung geeignete Unterkunft und sichere
Arbeitgelegenheit zu finden. Gewöhnlich lehnt man es wegen ihrer
Vergangenheit von vornherein ab, sich mit ihnen zu befassen, oder
man macht unter Umständen einen kurzen Versuch, aber ohne ernsten
Willen und humane Rücksichtnahme oder ohne die richtige Leitung
über die Kranken, Dinge, die gerade hier am nötigsten und zugleich
lohnendsten sind; mit Vorliebe wirft man ihnen sogar ihre kriminelle
Vergangenheit bei jedem geringsten Anlasse vor.
Haben solche Entlassenen aber dann doch einmal in der Freiheit
Fuß gefaßt, und kommen sie unter dieser Ungunst der Verhältnisse,
durch verkehrte und aufreizende Behandlung nach kürzerer oder
längerer Zeit wieder in neue Konflikte mit der öffentlichen Ordnung
und dem Strafgesetze, so wird gewöhnlich ohne viele Umstände,
einfach auf Grund ihres Vorlebens, ihre alsbaldige Rückverbringung
in die Anstalt veranlaßt. Es liegt nun allerdings sehr nahe, anzuneh¬
men, daß diesen Personen der Schutz des § 51 auch weiterhin zu-
komme, und daß sie als gemeingefährlich am besten unverzüglich
wieder in Anstaltpflege eingeliefert würden, nachdem und weil sie
«•ben schon einmal wegen Geisteskrankheit dort untergebracht waren.
Sehr oft ist in diesen Fällen aber die Sachlage unterdessen insofern
eine andere geworden, als der gewesene Kranke nach fachärztlichem
Urteil jetzt gar nicht mehr unter den § 51 fallen würde; oder er kann
doch eine so weitgehende Besserung seines psychischen Zustandes
erfahren haben, daß die Frage seiner Zurechnungfähigkeit zum
mindesten strittig geworden ist. Unter Umständen kann er also
recht wohl zur Rechenschaft gezogen und ohne Gefahr für seine Ge¬
sundheit auch in Haft und Strafe genommen werden. Dem allem
entgeht er durch die Verbringung in die Anstalt — gewöhnlich
?ar nicht zum Behagen des Rechtbrechers selbst; ihm wäre es viel
angenehmer, wenn er vor Gericht käme und seine Strafe absitzen
könnte; er glaubt so besser wegzukommen als durch einen längeren
Aufenthalt in der Anstalt wegen Geisteskrankheit.
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Fischer,
Hier ist also zweierlei nötig:
Erstens, wenn derartig gebesserte und beruhigte, aber immerhin
etwas zweifelhafte Elemente aus der Zahl der Kriminellen aus der
Irrenanstalt in die Freiheit entlassen werden, so muß bei ihnen mit
besonderer Umsicht und Vorsicht vorgegangen; sie müssen mit größter
Aufmerksamkeit, Festigkeit und Geduld zugleich behandelt und ge¬
leitet werden.
Werden sie aber dann trotzdem entschieden rückfällig in Straf¬
taten, so ist eine neue amtsärztliche oder gerichtsärztliche Prüfung,
unter Umständen im Benehmen mit der Anstaltdirektion, darüber
unbedingt nötig, ob der Betreffende tatsächlich wieder geisteskrank
und zugleich anstaltbedürftig ist oder aber ob er für seine Straftaten
verantwortlich gemacht und in ein gerichtliches Verfahren genommen
werden darf und muß. Je nach Lage des Falls wird für manchen
von ihnen jedoch entweder nach der Strafverbüßung oder statt ihrer
die langfristige Einweisung ins Arbeitshaus die richtige Maßnahme
darsteilen. Andere wiederum werden allerdings trotz aller Bemühun¬
gen auch weiterhin zwischen der Freiheit, der Irrenanstalt oder der
Strafanstalt hin- und herwechseln.
Eine individuelle Behandlung dieser Leute in unserem Sinne
außerhalb der Anstalt würde aber sicher auch nicht wenige vom un-
rechten Wege abhalten und sie dauernd in die richtigen Bahnen lenken
können. Wir werden daher auf die weitere Ausbildung dieser Fürsorge
für entlassene kriminelle Geisteskranke ein sorgsames Augenmerk
richten sollen, wobei der Entlassene in beständiger Aufsicht und
unter dem Schutz besonderer gut informierter Vertrauenspersonell
gehalten werden müßte.
5. Die Behandlung der Trinker ist in Baden ermöglicht worden
durch die vom „Verein gegen den Mißbrauch geistiger Getränke* 1
(Bezirksverein Karlsruhe E. V.) gegründete eigene „Heilstätte
für A1 k o h o 1 k r a n k e“ in Kenchen, deren ärztliche Obsorge
dem Arzte der Heil- und Pflegeanstalt Illenau, Medizinalrat
1) r. T h o m a an vertraut ist. Die Anstalt, die aus einem Bau im
Landhausstil mit 35 Plätzen besteht, ist eröffnet worden am 1. Mai
1905 und blickt trotz ihres kurzen Bestehens auf schöne Erfolge
zurück. Ihre nahe und trotzdem nicht allzunahe Verbindung
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Neue Aufgaben der Psychiatrie in Baden.
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mit einer Irrenanstalt muß als glücklicher Umstand angesehen
werden.
Ob sie für die Dauer ausreichen wird, und ob nicht späterhin der
•Staat selbst aus Gründen der allgemeinen Organisation dazu kommen
muß, eine eigene Trinkerheilstätte in direkter Verbindung mit einer
meiner Heilanstalten, etwa nur in Form eines besonderen Pavillons,
zu errichten, ist eine offene Frage.
In den Irrenanstalten befinden sich eine große Anzahl chronischer
Trinker mit psychischen Störungen oder Defekten, für die bei ihrer
Eigenart einerseits auf kürzere oder längere Zeit der Aufenthalt inner¬
halb der geschlossenen Anstalt vonnöten ist, während andererseits
für einen Teil von ihnen nach erreichter Besserung auf einige Zeit
vor der Entlassung die freiere Behandlung in der mit der Anstalt ver¬
bundenen Trinkerheilstätte von Vorteil wäre. Umgekehrt wäre damit
aber auch für Fälle, die in der Heilstätte rückfällig werden oder sich
als ungeeignet für die offene Behandlung erweisen oder aber inten¬
sivere Krankheiterscheinungen psychischer Art, wie sie mitunter
plötzlich auftreten, eingehen, die Möglichkeit gegeben, sie ungesäumt
und ohne weitere Formalitäten als die gesetzlich festgelegten in die
erschlossene Anstalt zurückzuversetzen oder neu aufzunehmen. Wir
könnten somit aus dieser Überlegung der Kombinierung der staat¬
lichen Trinkerheilstätte mit der staatlichen Irrenanstalt nur das Wort
reden.
Daß etwa die Frequenz der Heilstätte oder des Pavillons für
Alkoholkranke durch die direkte Verbindung mit der Irrenanstalt
geschädigt werden könne, diese Befürchtung mag vielleicht für die
erste Zeit zutreffen, für später, wenn die Einrichtung sich einmaf
ringelebt hat, teilen wir sie nicht.
6. Die Frage der Unterbringung und Behandlung Nervöser
befindet sich bei uns in Baden noch ganz in der Schwebe. Wohl ist
der Irrenklinik in Freiburg ein Pavillon für Nervenkranke angegliedert
worden; auch besteht in St. Blasien eine kleine aus Sammelbeiträgen
hervorgegangene private Heilstätte für Nervöse der gebildeten Stände
mit mäßigen Verpflegungsätzen.
Ebenso können an allen Landesanstalten Nervöse, die sich nach
Ansicht des Direktors zur Aufnahme eignen, freiwillig aufgenommen
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werden; allerdings müssen sie sich in die vorhandenen Verhältnisse
schicken und auf den Abteilungen mit den leichter Geisteskranken
zusammenwohnen, was nicht Jedermanns Sache ist. Es wäre daher
anzustreben, daß jede größere Landesanstalt einen eigenen, besonders
gelegenen und im Grundriß gut durchdachten, nicht zu großen Pa¬
villon für Nervenschwache, insbesondere für die sogenannten Psychisch -
Nervösen und Übergangszustände erhielte.
Ein Verein zur Gründung einer eigenen Volksnervenheil-
.statte besteht zwar bei uns; seine Mittel sind aber leider noch sehr
bescheiden. Es fehlt also zurzeit noch in Baden eine richtige Für¬
sorge für unbemittelte Nervöse gänzlich, so dringend nötig sie uns
auch wäre. Die Fälle, wo wir trotz der reichen Auswahl von Kur¬
orten und Bädern in unserem Lande nicht wissen, wohin wir nervöse
Kranke, seien sie nun gänzlich mittellos oder aber Mitglieder von
Krankenkassen, in die richtige fachärztliche Behandlung eines er¬
fahrenen Nervenarztes geben sollen, mehren sich zusehends. Es wäre
daher aufs lebhafteste zu wünschen, daß dem Verein reichlichere
Mittel zufließen, damit der Bau der Heilstätte wenigstens mit einem
ersten Teil der ganzen Anlage möglichst bald begonnen werden könnte.
An der Unterstützung seitens der Regierung fehlt es nicht; es sind
auch schon anerkennenswerte Stiftungen und Beiträge zugegangen;
aber sie reichen bei weitem noch nicht zur Verwirklichung des Unter¬
nehmens aus.
Was wir ärztlicherseits von unserer Nervenheilstätte verlangen,
ist unter anderem eine entsprechende mittlere Höhenlage mit
ihrem für die Kräftigung des Nervensystems erprobt günstigen Ein¬
flüsse; man sollte auf diesen Faktor nicht verzichten, er läßt sich auch
in unserem Lande zum Beispiel im Schwarzwaldgebiete unschwer
verwirklichen. Ferner sollte in der Heilstätte neben dem Sommer¬
betrieb auch der Winterbetrieb zur Ausnützung der winter¬
lichen Klimaverhältnisse (Wintersport) eingeführt werden. Und
schließlich muß neben allen sonstigen Erfordernissen der Nerven-
behandlung insbesondere ein reichlich ausgestalteter Beschäfti¬
gungsbetrieb von vornherein in Aussicht genommen werden.
Wir Anstaltdirektoren haben noch ein besonderes Interesse an
der Nervenheilstätte insofern, als wir es sehr oft mit nervös erschöpftem
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Neue Aufgaben der Psychiatrie in Baden.
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Personal, insbesondere unter den Wärterinnen, zu tun haben, bei
denen ein Erholungsaufenthalt in der Heilstätte nicht nur sehr an¬
gebracht, sondern direkt nötig und durch nichts anderes ersetzbar
wäre.
Der Gedanke, ein eigenes Erholungsheim für im Beruf er¬
schöpftes Personal aus den Heil- und Pflegeanstalten zu begründen,
ist wohl sehr schön und der Ausführung wert; wir befürchten aber,
daß wir hierfür auf allzulange hinaus keine Mittel zur Verfügung haben
werden.
7. Eines der wichtigsten Kapitel der praktischen Psychiatrie,
das, wie überall, so auch bei uns in Baden noch sehr der Förderung
und Ausbildung bedarf, istdiePsychiatrieaußerhalbder
Anstalten oder, wie wir sie nach ihrem Hauptcharakter auch
nennen können, die soziale Psychiatrie. Für sie bin ich
schon seit vielen Jahren in immer wiederholten Anläufen eingetreten;
hier können ihre Ziele nur kurz gestreift werden. Diese außerordent¬
lich vielseitige und vielseitige Arbeit erfordernde Sparte der Irren-
iürsorge, die besonders in England durch die Gesetzgebung staat-
licherseits in dem Institute der „Commissioners“ eine allgemeine
Ausbildung erfahren hat, zeigt bei uns noch große Lücken, wie ich
insbesondere in: „Wirtschaftliche Zeitfragen auf dem Gebiete der
Irrenfürsorge“ (1901) und „Schutz der Geisteskranken in Person und
Eigentum“ (1902) eingehend dargetan habe. Dort wurde auch von
mir die Einführung besonderer Fürsorger, Berufspfleger
"der Generalpfleger für unsere Kranken als generelle Ein¬
richtung gefordert, ein Thema, das neuerdings von Starlinger-Mmer-
Oehling in einem Aufsatze: „Zur Reform des Irrengesetzes“ (Zeit¬
schrift für Kranken- und Humanitätsanstalten, 1911, Nr. S—11)
wieder aufgenommen worden ist.
Bis eine derartige allgemeine Organisation geschaffen sein wird,
werden wir uns bemühen, den badischen Hilfsverein für
'»eisteskranke, der bereits von Roller im Jahre 1872 gegründet
worden und in den letzten Jahren auf meine wiederholten Anregungen
hin neu in fühlbarere Wirksamkeit getreten ist, im Sinne der Sozial-
peychiatrie weiter zu entwickeln und zu vervollkommnen. Hier
handelt es sich im besonderen um die ärztliche und soziale Fürsorge
für die aus den Anstalten zur Entlassung Kommenden, vor allem
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Fischer.
auch die ungeheilt Entlassenen, wie überhaupt für alle außerhalb der
Anstalten lebenden Geisteskranken. Die Hauptaufgabe ist dabei die
Bereitstellung von für jeden einzelnen Fall ausgesuchten Unterkunft -
stellen und Arbeitgelegenheiten, wie sie zum Beispiel in neuester Zeit
in Mannheim von der dortigen Hilfsvereinstelle durch Einteilung der
.Stadt in besondere Fürsorgebezirke und durch Nachweis geeigneter
Arbeitstellen in Verbindung mit den Oiganen der Industrie, des
Handels und des Handwerks eingerichtet worden ist. Besonderes
Gewicht ist vor allem auf eine regelmäßige Kontrolle des Zustandes
des Kranken selbst wie nicht minder seiner Pflege- und Arbeitverhält¬
nisse durch Arzt und Fürsorger zu legen.
Ferner kann an die Gründung von Genesungsheimen,
wo die Kranken von der Anstalt aus die erste Unterkunft und auch
Beschäftigung, sei es im Hause selbst, sei es aber außerhalb, angewiesen
bekommen, als Ubergangsaufenthalt aus dem Anstaltleben in die völlige
Freiheit gedacht werden.
Die Pflegeversicherung der Geisteskranken
nach Nürnberger Muster ist, wie ich andernorts nachgewiesen habe,
insofern eine überaus segensreiche Einrichtung, als sie die Kranken
und ihre Familien wenigstens vor den materiellen Schäden der Er¬
krankung sicherstellt; sie sollte überall nachgeahmt werden.
Weiterhin müßte zu allen diesen Fürsorgebestrebungen aber auch
noch ein aktives Aufsuchen der Bedürftigen in den ärmeren
Schichten des Volkes hinzukommen, um schon beim Beginne nervöser
und geistiger Erkrankungen jeder Art, sei es beim Kinde oder beim
Erwachsenen, frühzeitig eingreifen und abhelfen zu können; hier fehlt
es meist am nötigsten, an der Erkennung der Krankheitzeichen sowohl
wie an den Beratern und an den Mitteln zur richtigen Fürsorge.
Die Heil- und Pflegeanstalt selbst muß aber für ihren Aufnahme -
bezirk die poliklinische Zentrale und Beratung¬
stelle für alle vorkommenden psychiatrischen Fragen und sozial -
medizinischen Fürsorgebestrebungen bilden.
An meine Fachkollegen möchte ich bei dieser Gelegenheit den
Appell richten, daß sie sich mehr wie seither den sozialpsychiatrischen
Aufgaben zu wenden mögen. Die klinische Forschung, die anato¬
mischen Untersuchungen sind schön und notwendig; wer wollte es
verkennen, wer nur im mindesten sie einschränken 1 Nicht minder
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Neue Aufgaben der Psychiatrie in Baden.
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wichtig und nötig aber ist unsere ärztliche Arbeit auf diesem Felde
der praktischen sozialen Irrenfürsorge.
Wie man sieht, sind hier noch weite Gebiete zu bestellen. Die
Aufgabe wird zwar zunächst den Hilfsvereinsbestrebungen zufallen;
der Staat kann aber seine mächtige Hilfe und Förderung nicht ver¬
sagen, da es sich um seine ureigensten Interessen, um das wichtige
Problem der Prophylaxe und Bekämpfung einer der verbreitetsten
aad sozial schädigendsten Volkskrankheiten handelt und damit um
die Hebung des Volkswohls und der Volkskraft im ganzen.
8. Wir haben uns in Baden noch eine unserer Ansicht nach sehr
bedeutungsvolle Aufgabe in anderer Richtung, die aber mit den
seither behandelten eng zusammenhängt, gestellt: Wir wollen mit
der Zeit eine statistische Aufnahme aller Geistes¬
kranken des Landes herbeiführen zu dem Zwecke
einer allgemeinen Erforschung der Geisteskranheiten und ihrer Ur¬
sachen; hier tappen wir bekanntlich in den wichtigsten und einfachsten
Fragen noch vielfach im Dunkeln. Es handelt sich insbesondere um
die Ätiologie der Psychosen in den verschiedensten Richtungen, vor
iflem auch um das Erblichkeitsproblem und ferner um die Frage der
Zunahme der Geisteskranken, Ziele, aiif die ich schon seit 10 Jahren,
»letzt in der „Denkschrift über den Stand der Irrenfürsorge in Baden“
( 1909 ) und auf dem „ 3 . internationalen Kongreß für Irrenfürsorge“
in Wien (1908) in dem Vortrage: „Die einheitliche Gestaltung der
Jahresberichte der Irrenanstalten“ eingehender hingewiesen habe.
Dort ist auch von mir der Vorschlag auf Einsetzung einer „psychia¬
trisch-statistischen Landeszentralstelle“ zur wissenschaftlichen Unter¬
suchung und Verarbeitung des Krankenmaterials gemacht worden.
In jüngster Zeit hat die Frage der psychiatrisch-sta¬
tistischen Sammelforschung erneute Anregung er¬
fahren, so daß sie nicht mehr so schnell zur Ruhe kommen wird; die
Anläufe dazu mehren sich vielmehr von Jahr zu Jahr, und auch früher
Fanerstehende sind jetzt zu Anhängern geworden. An derartigen
wissenschaftlich begründeten Vorschlägen, die alle die Notwendigkeit
vertiefter statistischer Untersuchungen dartun, nennen wir vor allem
Front, Tamburini („Internationales Institut zur Erforschung der
Geisteskrankheiten “), Sommer („Psychiatrische Abteilung beim Reichs-
graundheitsamt“), Kraepelin (Antrag auf dem Berliner internationalen
Zdtwhrtft ftr Payohiatrie. LXLX. 1. O
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Fischer,
Kongreß auf Einführung einer eingehenden Bevölkerungstatistik und
seine weitere Anregung auf der Stuttgarter Versammlung des Deut¬
schen Vereins für Psychiatrie (1911) über die Einsetzung einer Kom¬
mission zur Untersuchung der Frage der Zunahme der Geisteskrank¬
heiten) und Schüle durch seine bekannten Bestrebungen für diese Art
ätiologischer Sammelforschung, insbesondere die Erblichkeitsfrage.
In England besteht bekanntlich schon lange eine Evidenzerhaltung
sämtlicher Geisteskranken, und in Ungarn soll sie nach dem neuen
Entwürfe des Irrengesetzes in der gleichen Weise eingeführt werden.
Den Weg der statistischen Landesaufnahme der Geisteskranken
gedenken wir nun in Baden in der Weise zu beschreiten, daß zunächst
für sämtliche in den Anstalten befindlichen und dahin neu aufgenom¬
menen, aus ihnen entlassenen Kranken eine Zählkarte mit allen
für die statistische Forschung nötigen Fragepunkten ausgefüllt wird.
Eine derartige Zählkarte ist an der Anstalt Wiesloch bereits vor
6 Jahren ausgearbeitet worden und befindet sich seitdem, also seit
Eröffnung der Anstalt, im Gebrauch. Sie enthält sämtliche Daten
1. für die Ausfüllung der Reichsmedizinalstatistik, 2. für die vom
badischen statistischen Landesamt aufgestellte Fragekarte, 3. für
die Bearbeitung des Krankenbestandes nach dem statistischen Schema
unserer Anstaltjahresberichte und 4. außerdem eine große Reihe
von für die wissenschaftliche Ursachenforschung unerläßlichen Einzel¬
fragen. Sie ist dadurch für uns ein sehr wichtiges Requisit sowohl
in der ätiologischen Festhaltung eines jeden einzelnen Falles wie
auch für die größeren Zusammenstellungen über unser gesamtes
Krankenmaterial geworden. In gleicher Weise würde sie sich nach
Vornahme etwa nötiger Abänderungen auch für die allgemeinere
Einführung zum Zwecke der statistischen Sammelforschung über ein
ganzes Land wohl eignen.
Außer der Anstaltbevölkerung selbst soll aber fernerhin noch
eine möglichst große Anzahl der außerhalb der Anstalten
befindlichen Geisteskranken in den gleichen Zähl¬
karten festgehalten werden. In welcher Weise dieses Vorgehen und
weiterhin das Anlegen von sogenannten Stammlisten beim Statisti¬
schen Landesamt gedacht ist und welche Kategorien von Personen
hierbei in Betracht kommen, ist in der Fachpresse bereits behandelt
worden; vergleiche hierzu Römer: „Eine Stammliste aller amtlich
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Neue Aufgaben der Psychiatrie in Baden.
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bekannt werdenden Fälle von Geisteskrankheit“ (Psych.-Neur.
Wehnschr. 1911/12, Nr. 10) und Römer : „Zur Methodik der psychia¬
trischen Ursachenforschung“ (Vortrag auf der 83. Vers. Deutscher
Naturf. u. Ärzte in Karlsruhe im Sept. 1911).
Wir täuschen uns keineswegs darüber, daß mit diesem Vorgehen
nur ein allererster Anfang geschaffen wird, daß wir dadurch noch lange
nicht einen vollständigen Stand aller Geisteskranken des Landes
erhalten werden. Wir sind aber ebenso fest überzeugt davon, daß wir
mit der Zeit, insbesondere durch den Vergleich der Zählungen
aus den verschiedenen Perioden zu verwertbaren und bedeutsamen
Resultaten kommen werden.
Als Endpunkt dieser Bestrebungen stellen wir uns eine allgemeine
Zählung der Geisteskranken nach der eingeführten Zählkarte bei jeder
Volkszählung vor. Man wird dadurch zugleich das beste Vergleichs¬
material zu den in den Stammlisten festgestellten Zahlen erhalten.
Nur durch positive Arbeit aber können die von mancher Seite
gemachten Bemängelungen über die jetzige Unsicherheit in allen
psychiatrisch -statistischen Fragen behoben werden. Die Erfolge
eines solchen gemeinsamen Unternehmens werden sich allerdings nicht
sofort, sondern erst nach und nach einstellen. Gerade darum aber
wäre es Pflicht auch gegen die Zukunft, möglichst bald mit dieser
Arbeit zugunsten der sozialen und gesundheitlichen Wohlfahrt des
Volkes zu beginnen und keine Zeit mehr zu versäumen, damit die
Ergebnisse und Vorteile der Forschung um so eher zur Geltung gelangen
können.
Wir haben hier ein sehr weitläufiges und reiches Programm für
die fernere Ausgestaltung des badischen Irrenwesens entwickelt. Bei
seiner Verwirklichung werden wir nach dem Grundsätze verfahren:
Das Nötigste zuerst. D. h. zunächst Plätze, neue Anstalten zur
Beherbergung des immer stärker werdenden Krankenzudranges,
Vervollkommnung der inneren Organisation nach dem Prinzip der
regionären und zugleich freieren Verteilung der Irrenfürsorgeaufgaben,
sodann Verfolgung der übrigen dargelegten Programmpunkte nach
ihrer Dringlichkeit, worin insbesondere die Jugendfürsorge
und die Ausgestaltung der sozialen Psychiatrie eine füh-
6 *
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Fischer, Neue Aufgaben der Psychiatrie in Baden.
rende Rolle spielen muß. Manche anderen Punkte werden daneben
noch gefördert werden können, andere gleichfalls wichtige werden
dagegen liegen bleiben müssen, bis wir auch dafür Zeit und Mittel
aufbringen können. Im Zeichen eines stetigen und doch energischen
Fortschritts hoffen wir im Laufe der Jahre die Erfüllung unserer Ziele
in ihrer Gesamtheit durchzusetzen.
bv Google
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Über den Status epilepticus und seine Be¬
kämpfung mit hohen Dosen von Atropinum sulf.
Von
Dr. med. Domer, Maria Lindenhof bei Dorsten i. W.
Es würde die Grenzen der Urteilsmöglichkeit auf medizinischem
Gebiete überschreiten, wollte man jeden Status epilepticus auf eine
vermeidbare Schädlichkeit zurückführen. Es wird immer eine Gruppe
von Kranken geben, die zum Status neigen, während andere, trotz
aOer schädlichen Einflüsse nie von einem Status befallen werden,
freilich hat Forschung und Erfahrung das Resultat gezeitigt, daß
bestimmte Ursachen auf das Auftreten eines Status auslösend ein¬
wirken können. So bezeichnet Oowers die plötzliche Unterbrechung
der Brombehandlung als die häufigste Ursache für die lebensgefähr¬
liche Häufung der Anfälle; von andern wurde diese Beobachtung
bestätigt, Peterson wendet sich allerdings gegen diese Ansicht. Er hat
durch plötzliche Bromentziehung keinen Schaden gesehen, sondern
bei einigen Kranken sogar Besserung dadurch erzielt. Es handelt
sich hierbei sicher um Ausnahmefälle, die plötzliche Bromentziehung
dürfte immerhin ein gefährliches Experiment bleiben. Ich kann diese
Beobachtung durch eigene Erfahrung in drei Fällen unterstützen.
Einer dieser Kranken war nach Hause beurlaubt, ein anderer ent¬
wichen; der dritte kam innerhalb der Anstalt zur Beobachtung. Bei
allen Dreien trat einige Tage nach Unterbrechung der Brombehandlung
Status epilepticus schwerster Art auf. Andere auslösende Ursachen,
die für das Auftreten eines Status verantwortlich gemacht worden
sind, wie Alkoholgenuß, Obstipatio, sexuelle Exzesse, strahlende
Sonnenhitze {AU), werden in erster Linie für die außer Anstaltbehand¬
lung stehenden Fälle ihre Geltung behaupten, innerhalb der Anstalt
doch nur zu Seltenheiten gehören. Alle seelischen und körperlichen
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D o rn e r,
Reizpotenzen ( Böckelmann ) können natürlich auch in der Anstalt
nicht ganz vermieden werden und werden sich immer bei dem einen
oder andern als auslösendes Moment anführen lassen. Das beste —
wenn auch nicht absolut wirksame — Mittel zur Vermeidung eines
Status ist innerhalb der Anstalt aufmerksamste Pflege; denn bekannt¬
lich sind gerade die Siechen und Elenden unter den Epileptikern
am meisten gefährdet. Doch auch der geschulteste Pfleger wird bei
dem sich täglich gleichenden Ablauf der Geschehnisse nicht imstande
sein, immer die ersten Anfänge eines Rückgangs in dem Befinden
der Kranken zu bemerken. Hier ist es in erster Linie das geübte Auge
des Arztes, das die besonderer Pflege Bedürftigen herausfindet. Eine
auffallende Müdigkeit, schlaffe Haltung der Kranken, angegriffenes
Aussehen bilden den ersten Anlaß für eine eingehendere Behandlung.
Ernstere Fälle, wie verminderte Nahrungaufnahme, häufigeres Auf¬
treten von Anfällen im Gegensatz zu früher, werden ja ohne weiteres
zur Kenntnis des Arztes gelangen. Behandlung dieser Kranken
mit Bettruhe, Kostzulagen, Regelung der Körperfunktionen neben
Verabreichung der gebräuchlichen Arzneimittel kann manchem
Status Vorbeugen. Auch die vorsichtige Verabreichung salzloser oder
salzarmer Kost wird in geeigneten Fällen Erfolg zeitigen, und nur
mit dieser Einschränkung wird man Kiuberg in seiner Ansicht bei¬
stimmen können, daß die Kur nach Toulouse den Ausbruch eines
Status verhindern könne. Denn manche trübe Erfahrung hat gelehrt,
daß gerade bei einer Kur nach Toulouse Status in seiner schwersten
Form auftreten kann.
Trotz aller dieser Vorsichtsmaßregeln werden sich die Fälle von
Status epilepticus wohl einschränken, nicht aber vermeiden lassen,
und nur ein allzu häufiges Auftreten in einer Anstalt wird den Ver¬
dacht auf Unterlassungsünden in der Pflege erregen. Solange wir die
Ursache der Epilepsie nicht kennen, werden wir auch mit unsem
Abwehrmitteln mehr oder minder im Dunkeln tappen. Denn gerade
hier läßt uns der pathologische Befund, der in erster Linie Aufschluß
geben könnte, fast völlig im Stich. Abgesehen von durch Trauma
hervorgerufenem Status, wo z. B. Luce in zwei Fällen große Blut¬
extravasate in der Schädelhöhle als Ursache nachweisen konnte,
sehen wir nirgends Ursachen, nur die Folgen des Status in seiner
ganzen verheerenden Wirkung. Die Ergebnisse der Obduktionen,
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über den Status epilepticus und seine Bekämpfung usw.
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die Weber bei allen innerhalb vier Jahren in der Anstalt Uchtspringe
im Status Gestorbenen vornahm, können hier als maßgebend betrachtet
werden. Er fand in fast allen Organen Stauungserscheinungen, Blut¬
extravasate, frische fettige Degeneration in Herz, Leber und Nieren,
schwere Erkrankung der Blutgefäße, durch Blutaustritt zerstörte
Gehirn- und Oblongatapartien. Wohl wurde auch die Giftwirkung
von Organextrakten und Sekreten der im Status Gestorbenen konstatiert
(Tiburtius, Gobüto), doch des Wesens eigensten Kern zu ergründen
ist noch nicht gelungen.
Durch Beobachtung der oben angegebenen Regeln ist es immerhin
geglückt, die Zahl der im Status Sterbenden gegen früher bedeutend
herabzusetzen; doch ist die Anzahl der Todesfälle immer noch eine
recht erhebliche. Nach Wüdermuth stirbt die Hälfte aller Epileptiker
an gehäuften Anfällen, nach Worcester 64%; Binswanger bezeichnet
den Status als die häufigste Todesursache der Epileptiker, ähnlich
spricht sich Fere aus; Habermaas bezeichnet innerhalb der Anstalt
in 47,6%, außerhalb in 59% Status als Todesursache bei Epilepsie.
Der Prozentsatz in unserer Anstalt bleibt bedeutend hinter diesen
Zahlen zurück. So starben im Jahre 1911 einer, 1910 vier, 1909
drei im Status bei einer durchschnittlichen Verpflegungszahl von 320.
Doch ermöglichen ja diese statistischen Angaben keine einheitliche
Beurteilung. Ja es ist sogar der Fall möglich, daß sich bei Beziehung
auf die Sterbefälle in der Anstalt überhaupt in alten Anstalten mit
weniger günstigen hygienischen Einrichtungen und solchen mit
ungünstigeren klimatischen Lagen die Prozentzahlen für im Status
Gestorbene infolge der höheren allgemeinen Sterblichkeitsziffer günsti¬
ger stellen, im Gegensatz zu modern eingerichteten Anstalten mit
allem hygienischen Komfort. Eine Berechnung im Verhältnis zur
Verpflegungsziffer würde hier ein klareres Bild geben. Auch werden
kleinere Anstalten, die nur die dringlichsten Fälle aufnehmen können,
also in erster Linie Sieche und Pflegebedürftige, bei der größeren
Neigung zu gehäuften Anfällen gerade dieser Kranken mehr Todes¬
fälle im Status aufweisen wie große Anstalten, in denen viele körper¬
lich Rüstige und geistig Gesunde Aufnahme finden können.
Bei den mit dem Tode endenden Status handelt es sich ja fast
immer um Status schwerster Art, obwohl ja bei nebenhergehenden
andern Erkrankungen wie besonders schweren Herzleiden auch leicli-
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Dorner,
tere gehäufte Anfälle den Tod herbeiführen können. Sonst wird der
Begriff des Status epilepticus von manchen Autoren enger, von andern
weiter gefaßt. So sagt Qotoers : Folgen schwere Anfälle so häufig
einander nach, daß in den Intervallen das Bewußtsein nicht wieder¬
kehrt, oder nur unvollkommen erwacht, dann besteht jener Zustand,
der als Status epilepticus bezeichnet 1 wird. Redlich schreibt: Status
epilepticus.... wobei zwischen den Anfällen das Bewußtsein nicht
wiederkehrt, Fieber sich einstellt und oft sogar der Exitus letalis ein-
tritt. Böckelmann führt die Definition von Cdmeü als prägnant an:
„Es gibt Fälle, wo schon vor Ende des einen Anfalls ein anderer be¬
ginnt und so immer weiter Schlag auf Schlag, so daß man 40, ja 60 An¬
fälle ohne jede Unterbrechung zählen kann. Es ist das jener Zustand,
den die Kranken unter sich fitat de mal nennen.“ Doch erwähnt
Böckelmann auch Anfallserien, die in den Status epilepticus im engem
Sinne übergehen können. Als Unterscheidungsmerkmal stellt er die
zeitweise Bewußtseinsaufhellung in einem Fall der steten Bewußt¬
losigkeit im andern gegenüber. Bei allen Definitionen bildet die an¬
dauernde Bewußtlosigkeit zwischen den einzelnen Anfällen das Haupt¬
unterscheidungsmerkmal. Doch rechnet Gowers noch Anfallserien,
in deren Zwischenpausen das Bewußtsein unvollkommen erwacht,
zum Status, während Böckelmann diese Attacken vom eigentlichen
Status als Anfallserien abtrennt. Böckelmann faßt den Begriff des
Status offenbar zu eng, denn bei einem Übergang der Serien in einen
schweren Status ist es nicht leicht, eine Grenze festzustellen. Diese
Serien können aber nicht nur die Einleitung zum Status bilden, son¬
dern selbst durch ihre lange Dauer eine schwere Form darstellen. Ich
habe unter andern einen Fall behandelt, bei dem 10 Tage lang Tag
und Nacht alle 1 / 2 bis 1 Stunde ein leichterer Anfall auftrat, in den
Zwischenpausen das Bewußtsein sich immer wieder aufhellte und
trotzdem der Kranke am Ende der Anfallserien aufs äußerste erschöpft
war, in demselben Grade wie Kranke nach einem kürzeren schweren
Status. Derartige Anfallserien gehören meines Erachtens zum Be¬
griff des Status epilepticus. Mag es auch bei oberflächlicher Betrach¬
tung nicht von besonderer Wichtigkeit erscheinen, ob ein Autor noch
leichtere Anfallserien als Status bezeichnet oder nicht, so ist es doch
von großer Bedeutung für die Beurteilung der Wirkung der einzelnen
Arzneimittel, ob die geheilten Fälle Serien oder schweren Status
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Ober den Status epilepticus und seine Bekämpfung uaw.
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betrafen. Es wäre jedenfalls wünschenswert, hier nach einheitlichen
Gesichtspunkten urteilen zu können. Ich habe mich in der hiesigen
Anstalt gewöhnt, die Beurteilung der Schwere des Status von dem
Verhalten des Herzens abhängig zu machen und alle Anfallserien
von diesem Gesichtspunkte aus als leichte, mittelschwere und schwere
Formen zu unterscheiden. Die leichte Form bestände demnach
in Anfallserien mit größeren Zwischenpausen, in denen das Bewußtsein
ganz oder zum Teil erhalten ist; der Puls ist in den Anfallpausen
annähernd normal. Die mittelschwere Form bestände in Anfallserien
mit schweren Anfällen, die häufig aufeinander folgen, mit größten¬
teils geschwundenem Bewußtsein in den Pausen, doch ohne ernstere
Herzstörung, Pulsbeschleunigung in der Anfallpause bis höchstens
110 bis 120 in der Minute. Bei der schweren Form folgen sich An¬
fälle häufig, Störung der Herzfunktion zeigt sich in kleinem oder un¬
regelmäßigem Puls oder Beschleunigung von 120 bis 180 und mehr
in der Minute während der Anfallpause. Völliger Bewußtseinschwund.
Herzinsuffizienz stempelt jede Anfallserie zur schweren Form. Also
nicht die Schwere oder Häufigkeit der Anfälle allein sollte für die Be¬
oteilung ausschlaggebend sein, sondern auch das Verhalten des Her¬
tens den Attacken gegenüber in Betracht gezogen werden. Eine
Sonderstellung nimmt jener Zustand ein, den ich als subakuten Status
epilepticus bezeichnen möchte. Ich verstehe darunter ein allmählich
läufigeres Auftreten der epileptischen Anfälle leichterer oder schwe¬
rerer Natur, die jeder Therapie trotzen. Bei Kranken, die früher
vielleicht alle 8 Tage oder seltener Anfälle bekommen, treten nach
und nach 2 bis 3 leichtere Anfälle täglich auf, die trotz Bettruhe,
Ausschaltung aller Schädlichkeiten, Verabreichung der bewährten
Arzneimittel nicht zurückgehen, sondern an Intensität und Häufig¬
keit — vielleicht nach Pausen scheinbarer Besserung — zunehmen
and schließlich in einem schweren Status enden. Man hat den Ein¬
druck, daß das Epilepsiegift — wenn wir ein solches annehmen —
derartig dominierend auftritt, daß der Körper dem gegenüber jede
Widerstandkraft einbüßt.
Die leichten und mittelschweren Formen des Status epilepticus
können ohne medikamentöse Therapie auch zur Abheilung kommen.
Bettruhe, Fernhaltung aller Reize, Eisbeutel auf dem Kopfe und vor
allem gehörige Darmentleerung durch Einläufe oder Rizinus sind die
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Dorner,
im allgemeinen genügenden Maßnahmen. Vielleicht, daß man die
gewöhnliche Bromdosis erhöht und Kranken, die nicht unter Brom¬
behandlung stehen, 6 bis 8 g Bromsalz verabreicht. Ich habe eine
Reihe derartiger mittelschwerer Fälle in der geschilderten Weise be¬
handelt und bin überall gut zum Ziel gekommen. Ich richtete mich
bei der Beurteilung nur nach dem Verhalten des Pulses, obwohl in
verschiedenen dieser Fälle die Anfälle sehr schwerer Natur waren,
rasch sich folgten und das Bewußtsein auch in der Zwischenzeit er¬
loschen war. Es ist daher erklärlich, daß wir so vielfach von erfolg¬
reichen Behandlungsmethoden hören, wenn die Arzneimittel bei dieser
Form des Status ihre Probe bestehen müssen. Es soll aber durchaus
nicht damit gesagt sein, daß nur die schweren Fälle des Status be¬
handelt werden sollen. Denn auf jeden Fall kann durch sachgemäße
Behandlung auch ein leichterer Fall abgekürzt werden und — was
das Wichtigste ist — ein Fortschreiten bis zur schweren Form ver¬
mieden werden. Es sollen auch in diesen Fällen neben der oben
erwähnten allgemeinen Maßnahme mit Auswahl die therapeutischen
Hilfsmittel zur Anwendung kommen, wie sie in großer Zahl zur
Bekämpfung des Status von vielen Autoren empfohlen sind,
begeisterte Anhänger und skeptische Beurteiler gefunden
haben. — Zu den wirksamsten gehört das von Wüdermuth
eingeführte Amylenhydrat, das von Ackermann, Naab, Strwmpd,
Kraepelin, Flügge, AU, Redlich, Böckelmmn u. a. nachgeprüft und zum
Teil dringend empfohlen wurde. Stvntzmg nennt es unsicher, Gowers
und Fere legen ihm keinen Wert bei. Binswanger und Ziehen empfehlen
zuerst das Chloralhydrat, das sich ebenfalls bewährt hat, doch auch —
insbesondere wegen seiner schädlichen Wirkung auf das Herz —
seine Gegner hat. An seiner Stelle wurde von Hoppe das Dormiol,
eine Verbindung des Chloralhydrats und des Amylenhydrats empfohlen,
das sich auch weiter viele Freunde erworben hat (Alt, Böckelmatm ,
Redlich). Alt und Gotoers wenden auch Chloroformnarkose an; Alt
neben Sauerstoffinhalation, Gowers nur solange zur Unterdrückung
der Anfälle, bis die andern Arzneimittel ihre Wirkung ausüben. Da¬
neben werden auch von andern Methoden günstige Erfolge berichtet,
so von Entgiftung mittels Magendarmspülungen ( Barham), Ergotin-
injektionen (White Emest), Hyoscin. hydrobromicum (Gowers), Bäder,
daneben Bekämpfung der Herzschwäche durch Strophant., Digitalis,
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Uber den Status epilepticus and seine Bekämpfung usw.
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Kampfer, Strychnin. Redlich spricht neben andern der Venaesectio
mit Kochsalzinfusion das Wort. Besonders dringend empfiehlt
Böckelmann die unbeirrte Anwendung hoher Dosen von Narkoticis,
Dormiol bis 30 g., Chloralhydrat 9 g. Alle haben ihre Erfolge, viele
ihre Gegner, so besonders Chloralhydrat, Morphium, Chloroform.
In den mittelschweren und leichten Fällen wirken diese Mittel prompt,
versagen jedoch oft gerade in den schwersten Fällen und zeigen vielfach
nicht einmal eine Verminderung oder Abschwächung der Anfälle.
Ein jeder Arzt, der Status epilepticus zu behandeln Gelegenheit hat,
kennt die Ohnmacht unserer Hilfsmittel in vielen solcher Fälle. Es
mag daher genügen, einige Krankengeschichten zur Illustration
herauszugreifen.
K. A., 32 Jahre alt, durchschnittlich 4 bis 5 Anfälle im Monat.
26. 3. 1906 Beginn des Status, alle 2 bis 3 Minuten sehr schwere An¬
fälle. Neben Bettruhe kühle Umschläge um den Kopf, Einlauf, im Laufe
des Tages 8 g Amylenhydrat subkutan. Daneben dreimal täglich 10
Tropfen Tct. Strophanti und Digitalis, abends 3 g. Chloralhydrat per
rectum, in der Nacht 11 Uhr 0,0005 Skopolamin subkutan. Trotzdem
'lauern die Anfälle ununterbrochen bis 28. morgens. Dann totale Er-
aattung, große Herzschwäche; trotz stündlichen Kampferinjektionen
jud zwei Nähreinläufen in der folgenden Nacht Exitus letalis.
H., 16 Jahre alt, in der Nacht vom 13. auf 14. 5. 08 Auftreten
■•iDes Status epilepticus, % stündlich schwerer Anfall, in Zwischenpausen
völliger Bewußtseinschwund. Chloroforminhalation, im ganzen 40 g.
Trotzdem % stündlich 1 bis 2 Anfälle und mittags 1 Uhr Exitus letalis
direkt nach einem Anfall.
Auch verhältnismäßig große Dosen zeigen hier gar keine Wirkung.
!>as spätere Schwinden der Anfälle tritt sehr häufig ein und zwar
«hne jede Verabreichung eines Arzneimittels. Nur wenn die Anfälle
»nz kurze Zeit nach der Einnahme der Arzneimittel stehen und sich
dieser Vorgang des öfteren demonstrieren läßt, ist dies für die Wirkung
dieser Mittel beweisend. Zudem verbieten sich Mittel wie Chloral-
fiydrat, Morphium, Chloroform in allen Fällen, die mit Herzstörungen
nnhergehen, also gerade in den Fällen, die am meisten gefährdet sind.
Bei diesen Kranken steigt die Herzschwäche ja bekanntlich in kurzer
Zeit so enorm, daß sie in späteren Stadien durch nichts mehr zu be¬
kämpfen ist. Auch unser bestes Rüstzeug, Kampfer, Koffein, Stro-
phant. Strophantin, Digalen subkutan und intravenös, Aderlaß ver¬
mögen auf die Dauer nicht das Sinken der Herztätigkeit hintanzuhalten,
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selbst wenn die Anfälle zum Stehen gekommen sind. Am meisten
nützt noch Kampfer und Digalen, von'den gerühmten Strophantin¬
injektionen habe ich hierbei gar keinen Erfolg gesehen. Bei der
Häufigkeit dieses Ausgangs kann ich mich darauf beschränken, einige
besonders markante Fälle anzuführen.
1. B. 30. 7. 1907 im Status epilepticus eingeliefert. 4 Spritzen
Amylenhydrat k 1 ccm, Skopolamin 0,0005 subkutan. Nähreinläufe.
Anfälle stehen nach 24 Stunden nach der Einlieferung, Herzschwäche,
160 Puls. Digalen, Tct. Strophanti, Koffein, Kampfer abwechselnd
y 2 stündlich eine Spritze zeigen vorübergehende Wirkung. 7. 8. 07
Exitus unter den Erscheinungen der Herzinsuffizienz.
2. B. J., Fr. Ab 9./7. nachmittags bis 10./7. vormittags schwerer
Status epilepticus. 10 g Bromkali auf einmal, neben Abführen, Ruhe
usw. Anfälle stehen. Große Herzschwäche. Puls 160. Kühle Extremi¬
täten, beschleunigte Atmung. 20 gtt. Digalen innerlich, später 4 Pravaz
Digalen intravenös, 1 subkutan sind ohne jede Wirkung. 11./7. nachts
Exitus letalis.
3. B., Bd. 13. 12. 08. Nachts 5 Anfälle; Bett, Rizinus; 8 g Brom¬
kali; in den nächsten beiden Tagen schwerer Status, am 15. 12. morgens
letzter Anfall. Puls klein, aussetzend, 160. Digalen dreimal täglich
1 Pravaz; Kampfer, strophant. bringt bedeutende Besserung. Will auf-
stehen, ist bei klarem Bewußtsein. Puls auf 120 zurück, doch klein.
Am 16. 12. nachm, geht Patient auf den Nachtstuhl, darauf plötzlich
Exitus. Durch die intensive Herzbehandlung erholte sich das Herz und
funktionierte leidlich bei Ruhelage. Doch die Lageveränderung und
geringe Anstrengung bei der Defäkation genügen, um das Herz erlahmen
zu lassen. Es zeigten sich hierbei keine Störungen von seiten des Gehirns,
die auf apoplektische Insulte hinwiesen.
Es ist ja wohl nicht nur die toxische Wirkung des epileptischen
Krankheitstoffes als Ursache für diese Herzinsuffizienz anzusprechen,
sondern in erster Linie die enormen mechanischen Anforderungen
an die Herzkraft während der Dauer der Anfälle. Fällt doch auch
sonst bei allen Krankheiten, so insbesondere bei Pneumonie, Influenza,
septischen Prozessen das raschere Versagen der Herzkraft bei den
Epileptikern auf, im Gegensatz zu Nichtepileptikern, und bei den
meisten Sektionen ist die Degeneration des Herzmuskels nachweisbar.
Ich gebe deshalb seit Jahren bei allen ernsteren Erkrankungen der
Epileptiker von vornherein Digitalis, wie ich glaube, mit bestem Er¬
folge. Diese Erfahrung führt notwendigerweise zu der Annahme,
daß die von Weber festgestellte fettige Degeneration des Herzmuskels
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Über den Status epiiepticns and seine Bekämpfung usw.
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bei im Status Verstorbenen, im geringeren Grade bei allen Epileptikern
vorhanden ist. Die Schädlichkeiten, die beim Status vervielfacht
auf das Herz einwirken, bilden im geringeren Grade eine stetige Noxe
bei allen Epileptikern.
Wenn wir also das Erlahmen der Herztätigkeit als das gefahr¬
drohendste Moment beim Status epilepticus erkannt haben, so ist es
auch unsere erste Aufgabe bei jedem Status, von Anfang an die Herz¬
kraft zu erhalten zu suchen, alles zu vermeiden, was diese schädigen
kann, und keinesfalls so lange mit Verabreichung von Herzmitteln
ru warten, bis ernste Störungen auftreten. Wohl wird es immer erste
Aufgabe bleiben, die Anfälle ab die schädigendsten Momente zu be¬
kämpfen, doch nie auf Kosten des Herzens. Denn was nützt es uns,
wenn die Anfälle zum Stehen kommen und die Kranken nachher an
Herzinsuffizienz zugrunde gehen? Deshalb können Mittel mit schäd¬
licher Nebenwirkung auf das Herz nur im allerersten Anfang und in
nicht allzu großen Dosen gegeben werden. Denn wir können nie
wissen, bei welcher Dosis das schädigende Moment das therapeutbche
iberwiegt.
Das ideale Mittel bei Bekämpfung des Status wäre demnach ein
solches, das möglichst stark auf die Anfälle wirkt, ohne das Herz zu
schädigen, oder noch besser, das zugleich die Herztätigkeit hebt. Diese
Gesichtspunkte waren es, die mich bei meinen Versuchen mit hohen
Dosen von Atropin, sulf. leiteten. Und berechtigen die Erfolge auch
nicht zu dem Schlüsse, daß die hohe Atropindosis jeden Status zu be¬
kämpfen imstande ist, so versprechen sie doch die Erfüllung der zwei¬
fachen Forderung: intensive Wirkung auf die Anfälle und zu gleicher
Zeit Hebung der Herzkraft.
Die für uns in Betracht kommende Atropinwirkung innerhalb
der gewöhnlichen Dosen besteht nach den Lehrbüchern ( Tappeiner ,
Sekmiedeberg) in Erhöhung des Blutdrucks — Tappeiner stellt es ab
zweifelhaft hin, ob diese nicht auch auf Erregung des verlängerten
Marks beruht —, des weiteren in Lähmung der Hemmungswirkung des
Vagus, in Beschleunigung der Peristaltik — auch bei sehr großen Dosen
ist noch die Erregbarkeit des Peristaltik auffallend — bei Krampf-
zoständen der glatten Muskulatur tritt jedoch Lähmung ein. Außer¬
dem Pupillenerweiterung, Behinderung oder Einstellung der Drüsen-
iekretion. Bei ganz hohen Dosen werden immer Erregungszustände
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und nachher Lähmung und Sopor beschrieben. Doch hat die Er¬
fahrung in der allgemeinen Praxis gelehrt, daß erst Beruhigung, mehr-
ständiger Schlaf eintritt und dann später Delirien.
Schon längere Zeit wurden die hohen Atropindosen in der all¬
gemeinen, besonders jedoch in der chirurgischen Praxis bei para¬
lytischem und mechanischem Deus mit Erfolg verabreicht; es handelt
sich hier um das Drei- bis Fünffache der Maximaldosis. In erster
Linie war hier die Wirkung des Atropins auf die glatte Muskulatur
des Darms ausschlaggebend. Eine Dosis von 0,003 bis 0,005 Atropin,
sulf. bewirkt hier vielfach 3 bis 4 ständigen Schlaf mit nachfolgender
reichlicher Darmentleerung. Außer Pupillenerweiterung, Trockenheit
der Schleimhaut und der Haut werden keine Vergiftungserscheinungen
beobachtet. Der vorher gewöhnlich schlaffe und unregelmäßige Puls
wird kräftig, voll und regelmäßig. Muß die Dosis mehrmals angewen¬
det werden, so kann es wohl zu leichten Delirien kommen, die völlig
ungefährlich und durch Morphium leicht zu bekämpfen sind. Irgend¬
welche gefahrdrohende Vergiftungserscheinungen sind hierbei in der
Literatur nicht bekannt geworden. Es ist deshalb kein Grund vor¬
handen, ängstlich zu sein. Rudisch gab sogar bei einem 9jährigen
Kinde bis 0,006 pro die; also die doppelte Maximaldosis und von
Methylatropin, dem weniger giftigen Salz, bis 0,032 und einmal sogar
bis 0,06 3mal täglich. Das wäre das 60fache der Maximaldosis von
Atropin, sulf.; diese Dosis gab er allerdings erst nach allmählicher
Steigerung. Er betont die gute Verträglichkeit und hat nur Trocken¬
heit im Halse als Nebenerscheinung beobachtet. Immer wieder wird
die beruhigende Wirkung und die Hebung der Herztätigkeit nach der
Atropininjektion gerühmt; so sagt Reitzenstein : „Der bisher unruhige
Patient verfällt in tiefen Schlaf, die Kollapserscheinungen schwinden,
der Puls erholt sich und wird voller.“ Die Nebenwirkung auf den Darm
kann bei Epileptikern nur erwünscht sein, um so mehr, wenn nach
Götze während des Anfalls die glatte Muskulatur in Kontraktion gerät.
Reüzenstein bezeichnet gerade in Hinsicht auf diese Eigenschaft des
Atropins dessen pharmakodynamische Wirkung als äußerst kompliziert,
da es einerseits die Peristaltik anregt, andrerseits erhöhte Peristaltik
und Krampf im Darmsystem durch Lähmung des Splanchnikus be¬
seitigt. Für unser therapeutisches Handeln beim Status mag ma߬
gebend sein, was Penzoldt sagt: Atropin beseitigt nutzlos störende
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Über den Status epilepticns und seine Bekämpfung nsw.
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Peristaltik und regt fehlende an. Am interessantesten ist wohl die
Schilderung, die G. Schulz, der wegen Heus die Wirkung der hohen
Atropindosen am eigenen Körper probierte, gibt: „.selbst
hochgradige Vergiftungserscheinungen, die sich hauptsächlich in Delirien
äußern, sind völlig ungefährlich;.aber auch in verzweifelten
Fällen muß gleichzeitig (d. h. neben der Operation) Atropin injiziert
werden, um die Herztätigkeit zu heben, die Blutzirku¬
lation zu bessern.“ Die Wirkung des Atropins an sich selbst
schildert er folgendermaßen: ..Nach 5 bis 10 Minuten beginnt
man am ganzen Körper eine angenehme Wärme zu fühlen, welche
dekhsam vom Abdomen ausgeht Allmählich lassen die Atem-
b«chwerden nach. Die Inspiration wird tiefer, die Schmerzen he¬
rinnen zu weichen. Die schmerzhaft kontrahierte Muskulatur des
nnzen Körpers erschlafft gruppenweise, man nimmt ein fibrilläres
Zittern der Muskeln wahr, welche sich aber imm er mehr beruhigen.
Es verschwindet das widerwärtige Gefühl der Übelkeit, statt dessen
ritt vollständige Euphorie, das Gefühl absoluter Ruhe ein.... Die
'jedanken werden von einem Nebel umzogen und schließlich verfällt
» Kranke in tiefen Schlaf“.
Aas all diesen Berichten von der Wirkung großer Atropindosen
Rta die dreifache Tatsache hervor:
L Die narkotisierende Wirkung, die so groß ist, daß sie die Mor-
•Auswirkung in den möglichen Dosen übertrifft, die heftigsten
Faunen werden betäubt, es tritt Schlaf ein.
1 Die erregende Wirkung auf das Herz.
-1 Die regulierende Wirkung auf den Darm.
Dabei völlige Gefahrlosigkeit.
Innerhalb der gebräuchlichen Dosen wird Atropin und besonders
schon länger in der Epilepsiebehandlung benutzt. Doch
ri* Berichte darüber noch spärlich und zurückhaltend. Gowers
wum dm Nutzen der Belladonna und des Atropins 0,0006 bis 0,001
1 Tgrtrindnng mit Brom. Ebenso Wulff, Leury, Büro. Doch kennt
- Kbm keinen Fall, wo Anfälle dadurch ganz ausbleiben. Im Gegen-
soe daza hat Gerhartz auch bei einem Fall von Hysteroepilepsie mit
mehrmals auftretenden Krämpfen Genesung gesehen. Er gab
Baim* lie&ch 0,001 Atropin sulf. subkutan, langsam nachlassend
b» «mm; üblich 0,001. Dadurch schwanden die Krämpfe für längere
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Zeit. Als sie wieder auftraten, war Atropin ohne Erfolg. Sp&ter
sistierten die Anfälle unter Atropinbehandlung noch einmal für längere
Zeit, bis zuletzt völlige Heilung eintrat. Doch verliert der Fall an
Beweiskraft durch den Umstand, daß es sich nicht um reine Epilepsie,
sondern um Hysteroepilepsie handelte. Auch läßt das teilweise völlige
Versagen der Atropinbehandlung den Gedanken einer Spontanheilung
nicht ohne weiteres ausschließen.
Modi gab Brom abwechselnd mit Atropin, mit Vs mg 1 bis 2 mal
täglich beginnend. Bei 13 Kranken von 37 wurden die Anfälle nach
diesen Atropinkuren durch Brom verringert, bei ö hörten sie vorüber¬
gehend atif, bei 5 wirkte Brom nach Atropin schlechter. Er schreibt
also die günstige Wirkung Brom zu, Atropin soll nur eine vorbereitende
Tätigkeit ausüben.
Auch Runge erwähnt die Behandlung mit Atropin und zwar
gibt er bei Kindern Vs mg* bei Erwachsenen 0,002; Oppenheim sah
zuweilen hier gute Erfolge, wo Brom nicht mehr nützte, ebenso spricht
sich Böckdmunn aus; nach Albertoni steigert Atropin die Erregbarkeit
des Zentralnervensystems, nach v. Besold, Biobaum , Wood, Cemer
erregt es das Atemzentrum; nach Husemann steigern kleine Dosen
den Blutdruck, große mindern ihn herab. Bvnsuxmger stimmt Albertoni
darin bei, daß Atropin bei Beflexepilepsie sowohl innerlich wie sub¬
kutan im Bereich der Läsion, wo es die Erregbarkeit der peripheren,
sensibeln und motorischen Nerven abstumpft, mit Erfolg anzuwen¬
den sei
Ich kann diese Erfahrungen durch 5 Fälle eigener Beobachtung
stützen, bei denen Atropin in seiner Wirkung sich jedesmal stärker
erwies wie Brom und Amylenhydrat. Es handelte sich um Kranke,
die ohne erkennbare Ursache allmählich häufigere Anfälle bekamen,
täglich 1 bis 2 bis 10 leichte, während solche früher alle 8 bis 14 Tage,
auch noch seltener auftraten. Diese häufigen Anfälle bestanden
wochen-, zum Teil monatelang. Bettruhe, erhöhte Bromdosis blieb
wirkunglos, Amylenhydrat, dreimal täglich eine Pravazspritze sub¬
kutan oder 20 Tropfen innerlich brachte für 8 Tage Verminderung
der Anfälle. Erst Atropin, sulf. dreimal täglich 10 bis 20 Tropfen
einer Lösung von 0,03 :10, also dreimal täglich 0,0015 bis dreimal
täglich 0,003 brachte prompt Besserung. Die häufigeren Anfälle
blieben aus und gingen auf die frühere Anzahl zurück. Von Interesse
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über den Status epilepticus und seine Bekämpfung usw.
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sind dabei besonders zwei Fälle, bei denen nach mehrjnaligem Aus¬
sehen des Atropins die häufigen Anfälle sofort auftraten, um ebenso
prompt bei Atropingabe zu schwinden. In einem dieser Fälle mußte
ich von dreimal täglich 20 Tropfen auf dreimal täglich 10 herabgehen,
da heftige Leibschmerzen auftraten, die auf Morphium nach reichlicher
mehrmaliger Stuhlentleerung Und viel Gasentweichung schwanden.
Es handelte sich hierbei offenbar um schmerzhaften Spasmus der
Daraunu8kulatur.
Diese günstige Wirkung kleinerer Dosen bei Epilepsie, ganz
insbesondere jedoch die oben geschilderte Wirkungsweise der die
Marimaldosis weit überschreitenden Atropindosen veranlaßten mich
zu Versuchen mit diesen hohen Dosen beim Status epilepticus. Es
handelt sich um Versuche in 11 ganz schweren Fällen; ich verwendete
dabei Atropin, sulf. subkutan bis zur Dosis von 0,006 mehrmals täglich.
Ich lasse hier die betreffenden Krankengeschichten folgen.
1. Sp., W., 20 Juhre. Seit ungefähr 9 Jahren Epilepsie. In anfall-
freier Zeit geistig normal. Hat alle 4 Wochen, später seltener einige Tage
.«heinander 1 bis 2 Anfälle mit nachfolgendem ungefähr 8tägigen Zustand
Erregung. Am 3. 4. 09 über Tag 4 Anfälle schwerer Natur; dann die
nnieNacht hindurch ungefähr alle Vz Stunde schwerer Anfall, in Zwischen-
Mit volle Bewußtlosigkeit. Gegen Morgen wird der Puls schwach. Um
9 Uhr vorm. 1 Pravaz Atropin, sulf. 0,003 subkutan, darauf Anfälle wie
angeschnitten. Er schläft bis Nachmittag, ist dann bei Bewußtsein,
'f kennt dann den Arzt; guter regelmäßiger Puls, nur noch etwas be-
^hleunigt. Daran anschließend länger dauernder Erregungszustand, der
y|r h von den übrigen postepileptischen Erregungen nicht unterscheidet.
2. H., H., 32 Jahre. Seit Jahren Epilepsie, 1 bis 4 Anfälle im Monat,
'•hwere postepileptische Erregungszustände, vorgeschrittener Schwach-
'iiin. In letzter Zeit sehr hinfällig, muß viel zu Bett liegen. 14. 8. 09
>Utus epilepticus. Alle y t Stunde und öfter ein schwerer Anfall, völlige
Bewußtlosigkeit in der Zwischenzeit, andauernd von 8 Uhr morgens bis
■•4 Uhr nachmittags. Puls schlecht. Um 2 Uhr 0,003 Atropin subkutan,
Stunde nachher stehen die Anfälle. Bis 1 Uhr abends Schlaf. Dann
notorische Erregung, die durch Morphium nicht gemildert wird. Am
•adern Tag ist diese Erregung geschwunden. Der Puls erholt sich nach
Aufhören der Anfälle rasch.
3. Derselbe. 9. 11. 09 stündlich ein schwerer Anfall. Ungefähr
lö im ganzen. Am 9. 11. nachts y 4 stündlich schwerer Anfall, völliger
kwußtseinschwund. Um 12 Uhr nachts Atropin, sulf. 0,003 subkutan;
^*nso morgens 8 Uhr. In der Nacht Anfälle unverändert, nach der
I *«ten Injektion nur noch leichte Schwindel, die aber sehr häufig auf-
Zenachrilt für Psychiatrie. LXIX 1. {}
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treten. Im Laufe des Nachmittags hören sie ganz auf. Abends wieder
Status schwerer Natur mit Pulsschwäche. Um 12 Uhr nachts Atropin, sulf.
0,003 subkutan. Nachher wegen Erregung Morphium. Am 11./II
Vfc stündlich Schwindelanfälle, deliriert. Diese Schwindel werden immer
seltener; am Nachmittag tritt nur noch einer auf. 12./11. anfallfrei, erregt.
Chloralhydrat. Puls während der Atropinbehandlung voll und gut, nur
beschleunigt. Für Stuhlgang war gesorgt. Bromlösung mit Spray ge¬
geben.
4. E., F., 39 Jahre alt. Seit 16 Jahren Epilepsie. Anfälle ver¬
einzelt. 1 bis 3 im Monat. Geistig frisch. Ziemlich starker Fettansatz.
Am 29. 3. 10 einige Anfälle. Am 30. 3. 10 den ganzen Tag ungefähr
alle */ 2 Stunden schwere Anfälle. Auch in der Anfallpause Bewußtsein¬
schwund. Puls im Laufe des Nachmittags schnell und weich. } 2 6 Uhr
nachmittags Atropin, sulf. 0,003 subkutan. Darauf noch 3 Anfälle. Nachts
Uhr nochmals dieselbe Injektion. Anfallfrei.
Die zweite Injektion war wohl nicht mehr nötig. Sie war verordnet
worden für den Fall, daß die Anfälle wieder gehäuft auftreten sollten.
5. M., A., 10)4 Jahre alt. 4 bis 10 Anfälle im Monat. Ruhiger,
bildungunfähiger Idiot. Sehr schwächlicher Habitus. Am 16. 7. 09
Status epilepticus schwerer Natur; 3 Tage vorher schon schlechtes Be¬
finden, Durchfall, Müdigkeit, 2 bis 3 Anfälle im Tag, Rizinus, erhöhte
Bromdosis, Bettruhe jedoch erst bei Eintritt des Status epilepticus. Die
Nacht hindurch und den Vormittag alle 1 bis 2 Minuten schwerer Anfall.
Die ganze Zeit über tiefer Sopor. Puls sehr klein, 180 in der Minute.
Atem kurz. \' 2 11 Uhr Aderlaß, gut ! 4 1; nachher \' 2 Pravaz Atropin, sulf.
0,03 : 10 (= 0.0015). Darauf sofortiges Sistieren der Anfälle bis 3 Uhr
nachmittags. Von da wieder Anfälle leichterer Natur, in größeren
Zwischenräumen. Puls kräftiger, doch 180 in der Minute. y t 5 Uhr
nachmittags Atropin, sulf. 0,0015 subkutan. Ab 7 Uhr stehen Anfälle,
die Nacht hindurch anfallfrei; aufgeregt. \\4 Uhr nachts noch dieselbe
Dosis Atropin. Am 17. 7. vorm. Vs 10 Uhr noch ein Anfall. Puls 144,
kräftiger. Lebendig. Wassereinläufe, gewohnte Bromdosis (4 g mit
Spray; 6 g auf 1 Glas). Nimmt wenig Nahrung. Noch ein Anfall im Laufe
des Tages. Puls 140. Am 18. 7. allmähliche Erholung, ein leichter An¬
fall. Puls 120, von da ab Puls 100. Nimmt gut Nahrung und erholt sich
innerhalb 8 Tagen völlig.
6. L., A., 16Vi Jahre alt. Epilepsie seit dem 10. Lebensjahre. Im
Anfang seines Anstaltaufenthalts täglich mehrere SchwindelanfäUe.
später 10 bis 12 Anfalltage im Monat, an mehreren Tagen 2 bis 5 Anfälle
leichterer Art.
Am 8. 6. 10 den ganzen Tag hindurch und die Hälfte der vorher¬
gehenden Nacht alle Vi Stunden schwere Anfälle. Die Nacht hindurch
5 Anfälle. Puls unregelmäßig, 120 in der anfallfreien Pause. Rizinus»
Eis auf Kopf und Herz. Gegen Mittag den 9. 6. alle 1 ' 4 Stunden schwerer
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Ober den Status epilepticus und seine Bekämpfung usw.
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Anfall. Puls aussetzend, t20—130. Atropin, sulf. alle 8 Stunden 0,0015,
zweimal 0,003 subkutan. Anfälle halten an bis 10. 6. abends %9 Uhr.
Seit Mittag 10. 6. 10 Kampfer und Koffein. Doch vorher schon Puls
regelmäßig, aber beschleunigt. 160 bis 170. In der Nacht nach großer
Pause noch 13 Anfälle. Am 11.6. alle l / t Stunden 2 schwere Anfälle direkt
nacheinander bis 12. 6. nachts 4 Uhr. Bis 6 Uhr noch 2 Anfälle, dann
keiner mehr. Vom 13. auf 14. nachts noch 2 Anfälle und 1 Schwindet.
Keine Vergiftungserscheinungen außer großer Pupille und Konjunktivitis,
die nach einigen Tagen abheilt. Puls hält sich lange auf 120.
7. K.. C., 20 Jahre. Mit ungefähr 7 Jahren Polioenzephalitis mit
nachfolgender Epilepsie, rechtseitige Kinderlähmung, kindlicher Habitus.
Anfälle jeden 2. bis 3. Tag, zeitweise gehäuft, Neigung zu Status. Am
6. 3. 09 schw erer Status. Anfälle Schlag auf Schlag von 3 Uhr nachmittags
ab. Sopor, schneller, kleiner Puls auch in den kurzen Anfallpausen.
5 Uhr 0.0015 Atropin, sulf. subkutan. 8 Uhr Stillstand der Anfälle. Dann
nochmaliges Auftreten des Status von nachts 12 Uhr bis 3 Uhr. Nachher
rasche Erholung.
Nebenbei erwähnen möchte ich noch 2 Fälle, bei denen es zweifelhaft
war. ob wir es mit der schweren Form des Status zu tun haben.
2. 2. 11. D. Einige Tage gehäufte Anfälle trotz erhöhter Brom*
•tosi«i und dreimal täglich 2 Pravaz Amylenhydrat, nachts 10 schwere
Anfälle, die sich direkt folgten. Auf % Pravaz Atropin ( = 0,0015) sofort
Stillstand bis zum Morgen. In den nächsten Tagen noch einzelne Anfälle.
5. 2. 11. L. Häufige Anfälle in den vorhergehenden Tagen,
trotz Brom und Amylenhydrat. In der Nacht 8 sich direkt folgende An¬
fälle, die auf 0,003 Atropin, sulf. subkutan sofort standen.
Ich schließe hier die Krankengeschichten von 4 Fällen mit letalem
Ausgang an. 3 dieser Fälle gehören zu der Gruppe, die ich oben als
Jakuten Status epilepticus bezeichnete; einer litt an einem Herz¬
fehler.
8. B., Fr., 41 Yt Jahre. Hinfällig. Epilepsie seit 14. Lebensjahre,
vielfach Erregungszustände, neigte immer zu gehäuften Anfällen. In den
letzten 4 Wochen fast täglich gehäufte Anfälle, 3 bis 4 im Tage, dabei
benommen, delirierend. Bettruhe und die üblichen Behandlungsmethoden
f 'hne Erfolg. 17. 11. 09: Nachts alle halben Stunden schwerer Anfall,
absoluter Bewußtseinschwund, ebenso vormittags. 11 Uhr Atropin, sulf.
».003 subkutan. Anfälle stehen sofort bis 2 Uhr nachmittags. Dann bis
■> Uhr 10 Anfälle äußerst schwerer Natur, schlechter Puls. Aderlaß \\ 1.
Darauf Stunde Ruhe. Der vorher schnelle, röchelnde Atem (beginnen¬
des Lungenödem) wird ruhiger. Röcheln schwindet. Nach y 2 Stunde
leichter, dann sofort schwerer Anfall. Weiter bis 10 Uhr 13 schwere An¬
fälle. Um 9 Uhr Atropin 0,003 subkutan. Von 10 Uhr bis 1 Uhr anfallfrei.
Schlaf. 18. 11: Von 1 Uhr bis 3 Uhr 12 schwere Anfälle, x/ 2 3 Uhr nochmal
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Atropin. sulf. 0,003. 3 Uhr Exitus kurz nach Anfall. In der letzten Zeit
noch Digalen und Kampfer ohne weitere Wirkung. Puls von 1 Uhr bis
3 Uhr sehr schnell und schwach.
9. E. J., 20% Jahre. Immer hinfällig, lag wegen vieler Anfälle
häufig zu Bett, Kur nach Toulouse mit nur kurzer, vorübergehender Wir¬
kung. Liegt jetzt seit Wochen zu Bett wegen gehäufter Anfälle, 4 bis 6
im Tage, immer sehr benommen. Die üblichen Behandlungsmethoden
ohne Erfolg. Am 29. 6. 10 morgens ab 8 Uhr gehäufte Anfälle. Dann
2 Stunden Ruhe, dann alle % Stunden schwerer Anfall, völliger Bewußt¬
seinschwund, schlechter Puls. Abends 7 Uhr Atropin, sulf. 0,006 subkutan,
ebenso gegen Morgen des 30. 6. Nach der zweiten Injektion stehen Anfälle,
Puls 170. Sehr elend. Gegen Abend 5 Uhr wieder Auftreten des Status,
9 Uhr Atropin, sulf. 0,006. Dann wegen völliger Aussichtlosigkeit auf
Rettung keine Injektion mehr. 1. 7. morgens Exitus letalis in den An¬
fällen. Auffallende Vergiftungserscheinungen waren nicht zu konsta¬
tieren.
10. K.,,H., 38 Jahre. Seit 22. Lebensjahre Epilepsie, häufig Anfälle.
Geistig sehr geschwächt, körperlich hinfällig. In den letzten 4 Wochen
täglich 1 bis 3 Schwindelanfälle. Am 19. 6.10 Status epilepticus schwerster
Art, % stündlich schwerer Anfall. Bewußtseinschwund. Puls 140, klein.
2 Pravaz 0,003 Atropin, sulf. ( = 0,006), Koffein natr. salicyl. und Kampfer.
Die Anfälle treten von 12 Uhr ab nur alle a / 4 Stunden und bedeutend
leichter auf. 3 Uhr noch eine Pravaz 0,003 Atropin, %4 Uhr stehen die
Anfälle bis % vor 9 Uhr morgens am 20. 6. 10. Von da ab Anfälle alle
% bis 3 / 4 Stunden, leichter. Puls 130, gespannt. Unruhe, der Kranke
wälzt sich im Bett umher. Um 11 Uhr 1 Pravaz 0,003 Atropin, ebenso
12% Uhr. Darauf Stillstand der Anfälle bis 3 Uhr. Dann % bis ^stünd¬
lich Anfall leichterer Art. Bewußtsein in der ganzen Zeit völlig geschwun¬
den. Abends 8 Uhr Atropin 0,006 ohne Erfolg, 3 Uhr morgens 21. 6. noch
eine, darauf stehen die Anfälle sofort, nur noch einige leichte Schwindel
treten auf. Starke motorische Unruhe, Zunge, Rachenschleimhaut sehr
trocken. Milch kann eingeflößt werden. Wasser-Spray. Morgens 9 Uhr
macht Patient guten Eindruck. 120 Puls. Keine Anfälle. Puls wird
im Laufe des Nachmittags schlechter 150 bis 160, 11 Uhr Atropin 0,006,
Abends 7 Uhr wegen Unruhe 0,01 Morphium subkutan. Nun rascher
Rückgang und 11 Uhr nachts Exitus letalis.
11. L., F., 51% Jahre alt. Epilepsie seit ungefähr 20 Jahren,
Neigung zu Status, mit nachfolgenden, heftigen deliriösen Zuständen;
sonst Anfälle vereinzelt. Geistige Schwäche vorgeschrittenen Grades.
Bei der Aufnahmeuntersuchung (15. 5. 08), ist bemerkt: Herztöne sehr
leise, über Aorta und Pulmonalis Schwirren. Verbreiterung des Herzens
bis zum rechten Sternalrand. Puls klein, 70 bis 80 Schläge in der Minute.
Ziemlicher Fettansatz. In der Nacht vom 3. zum 4. Juni 9 schwere An¬
fälle, nachdem er tags vorher 3 Schwindelanfälle gehabt hat. Am 4. Juni
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Ober den Status epilepticus und seine Bekämpfung usw.
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regelmäßig alle 3 / 4 Stunden schwerer Anfall; in der Zwischenzeit auch
völliger Bewußtseinschwund. Da er nicht unter Brombehandlung stand
— er hatte nur alle 4 bis 6 Wochen einen Anfall — 6 g Bromkali; Rizinus
und Einlauf ohne Erfolg. Da Anfälle andauern. Puls auf 140 steigt und
sehr dünn ist, dabei röchelnder Atem, >44 Uhr nachmittags 1 Pravaz
0,003 Atropin. Da sich kein Erfolg zeigt, abends >48 Uhr dieselbe Dosis
nach einem Aderlaß (>41) zur Herzentlastung. Von 9 Uhr ab stehen die
Anfälle. 1 >4 Uhr Exitus letalis unter zunehmender Herzschwäche.
Fall 1,2 und 4 bedürfen keiner weiteren Erörterung. Die Wirkung
des Atropins tritt hier in ähnlicher Weise hervor, wie wir es von den
Deusfällen gehört haben. Prompt nach der Injektion stehen die An¬
fälle, es tritt 3- bis 4stündiger Schlaf ein, beim Erwachen klares Be¬
wußtsein. Bei Fall 1 und 2 schließt sich ein kurz dauernder Erre¬
gung zustand an, der sich nicht als Atropinwirkung, sondern als post¬
epileptischer charakterisiert. Er unterscheidet sich einesteils in nichts
von aus früherer Zeit bekannten derartigen Zuständen und wird durch
Morphiuminjektion — im Gegensatz zu den sonstigen Erfahrungen
bei Atropindelirien — nicht beeinflußt.
Bei Fall 3 genügte die Dosis von 0,003 nicht, erst nach noch¬
maliger Anwendung derselben Dosis gehen die Anfälle in leichte
Schwindel über, die dann rasch zum Stehen kommen. Bei dem
späteren Auftreten der Anfälle genügt jedoch die einmalige Injektion
von 0,003, um zum Ziele zu gelangen. Auch in einigen andern Fällen
(9,10 u. 11) kann man deutlich die Wirkung erst der zweiten In¬
jektion beobachten. Das Versagen nach der ersten lag also nur an der
zu geringen Dosis.
Am bemerkenswertesten ist wohl Fall 5 und 6. Es handelt sich
hier um äußerst schwächliche Knaben von IO 1 /* bzw. 16 Jahren;
in dem einen Fall eine Pulsfrequenz von 180 pro Minute sofort im Be¬
ginn des Status, im andern ein kleiner, dünner, unregelmäßiger, aus-
Jctzender, nicht besonders beschleunigter Puls. Also beides Fälle,
die die denkbar geringste Aussicht auf Bestehen eines schweren Status
bieten, bei denen sich die Anwendung irgendwelcher das Herz schädi¬
gen Mittel von vornherein verbot. Bei diesen, wie auch bei den
übrigen Fällen, hob sich der Puls, wurde kräftiger, die unregelmäßige,
»««setzende Herzaktion wurde regelmäßig. Ich möchte hierbei er¬
mähnen, daß bei Beurteilung des Pulses nach Atropin nicht die Zahl
'l p r Schläge in Betracht kommt — Atropin bedingt Vaguslähmung
>ud dadurch immer Pulsbeschleunigung — sondern der volle, regel-
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86
Dorner.
mäßige Schlag, mit andern Worten, die durch Atropin bedingte Er¬
höhung des Blutdrucks. Diese Tatsache beweist schon der bloße
Anblick atropinisierter Kranken. Vorher in den Anfallpausen bleich
oder livide und verfallen, bekommen sie rote Lippen und frische
Gesichtsfarbe.
Die Gefahrlosigkeit der Methode — die ja schon hinreichend
durch die Versuche bei Nichtepileptikern erwiesen ist — erhellt am
besten aus diesen beiden Fällen. Der KF/sjährige, schwächliche
Knabe verträgt innerhalb 24 Stunden dreimal das D/gfache der
Maximaldosis ohne jede Nebenerscheinung außer erweiterten Pupillen,
der 16jährige verträgt mehrere Tage lang alle 8 Stunden die l 1 /*-
und 3fache Maximaldosis, als einzige Nebenerscheinung Pupillen¬
erweiterung und einige Tage anhaltende Konjunktivitis. Erwachsene
vertrugen das 6 fache der Maximaldosis mehrmals täglich ohne be¬
drohliche Folgeerscheinung.
Wenn auch in einigen Fällen die erwünschte Wirkung erst bei
diesen Gaben von 0,006 eintrat, so würde ich doch als erste Dosis
0,003 empfehlen und erst bei deren Wirkunglosigkeit die Erhöhung.
Über 0,006 als Einzeldosis hinaus habe ich trotz der oben erwähnten
höheren Gaben von Rudiseh keinen Versuch gemacht. Bei 0,006
kann schon sehr lästige Trockenheit des Schlundes auftreten, die den
Schluckakt ungünstig beeinflußt. Auch könnte es Vorkommen, daß
man nicht mehr unterscheiden kann, was auf Kosten des Atropins
und was auf Kosten des Status zu setzen ist. In der Regel wird man
gut tun, über 0,005 dreimal täglich nicht hinauszugehen, ebenso
sollen aber auch Dosen unter 0,003 nur ausnahmsweise bei ganz
jugendlichen Kranken Anwendung finden. Doch ist es das Wichtigste,
zwischen diesen Grenzwerten die Höhe der Dosis, die die Anfälle eben
zum Schwinden bringt, rasch herauszufinden, da gerade in der richtigen
Dosierung die beste Gewähr für die Wirksamkeit liegt.
Auch bei den vier Fällen mit letalem Ausgang liegt eine vorüber¬
gehende Besserung durch Atropin offen zutage. In Fall 8 stehen jedes¬
mal sofort oder kurz nach der Injektion die Anfälle für 3 Stunden.
Im Fall 9 stehen die Anfälle erst nach der zweiten Atropininjektion
für 12 Stunden, ähnlich im Fall 10. Nach der ersten Injektion läßt
die Intensität und Frequenz der Anfälle sofort nach, nach der zweiten
Injektion stehen sie für 17 Stunden. Nun treten sie wieder auf, um
nach zwei Injektionen von je 0,003 innerhalb einer Stunde für 3 Stun-
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Ober den Status epilepticus und seine Bekämpfung usw. 87
den zu sistieren. Auch nachher beendet erst wieder die zweite In¬
jektion die AnfaUreihe. Bei diesem Fall hätte vielleicht die letzte
Injektion in der Anfallpause gespart werden können. Im übrigen
hielt sich dieser Kranke leidlich gut, erst nach der Morphiuminjektion
trat rascher Rückgang ein. Hier machte sich die Trockenheit des
Schlundes sehr störend geltend. Bei Fall 11 — dem Herzkranken —
rtehen die Anfälle nach der zweiten Injektion, doch stirbt der Kranke
kurze Zeit nachher.
Die deutliche Besserung durch Atropin ist also auch hier außer
Zweifel, wenn der letale Ausgang auch nicht abwendbar war; sei es
nun, daß bei dem Herzkranken die Herzmuskeldegeneration zu weit
vorgeschritten war, sei es, daß bei den übrigen die nachteilige Wir¬
kung der längere Zeit vorausgehenden gehäuften Anfälle auf Herz,
Gehirn, Oblongata schon zu weit gediehen war. Auch an eine in¬
dividuell verschiedene Wirksamkeit des Atropins muß gedacht werden.
Wenn ich nun die Ergebnisse obiger Beobachtungen zu-
saminenfasse, so können folgende Tatsachen als erwiesen gelten:
Das Atropin, sulf. wird auch vom Epileptiker in der 3- bis öfachen
Maximaldosis — in der 3fachen Dosis auch von jugendlichen Kran¬
ken — ohne Schädigung vertragen. Es ist in diesen Dosen imstande,
in einzelnen Fällen von Status epilepticus die Anfälle zu kupieren,
in andern sie nach Zahl und Intensität abzuschwächen, so die Lebens¬
gefahr zu beseitigen und sie allmählich ganz zum Schwinden zu bringen;
auch bei aussichtlosen Fällen zeigt es noch vorübergehende Wirk¬
samkeit. In allen Fällen hat es sich als Herztonikum bewährt. Es
ist daher als ein empfehlenswertes Mittel zur Bekämpfung des Status
epilepticus zu betrachten. Wegen seines günstigen Einflusses auf die
Herztätigkeit empfiehlt es sich besonders da, wo sich wegen vor¬
handener oder zu erwartender Herzschwäche andere sonst erprobte
Mittel (Chloralhydrat) verbieten.
Eine Kombination von Atropin mit andern Antiepilepticis könnte
Jessen Wirksamkeit noch erhöhen. Bei gleichzeitiger Anwendung von
Amylenhydrat und Atropin hatte ich den Eindruck, als ob die Anfall¬
pausen verlängert würden.
Literatur.
1. Wiidermuth, Handbuch der Krankenversorgung und Fürsorge für
Nervenkranke, Epileptische und Idioten.
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Original from
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88 Dorner, Ober den States epilepticus and seine Bekämpfung usw.
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2. Luce, Hans, Deutsche Zeitschrift für Nervenheilkunde Bd. 14: Kli¬
nisch-anatomischer Beitrag zu den intermeningealen Blutungen
und zur JocArsonschen Epilepsie.
3. Kinberg, Om den metatrophiska behandlingen af epilepsi. Allmänna
Svenska Läkartidningen 1904.
4. Alt, Bekämpfung des Status epilepticus. M. M. W. 13, 1905.
5. Barham, G. F., Journal of Mental Science: Notes on the management
and treatment of the epileptic insane etc.
6. Ackermann, Das Amylenhydrat im Status epilepticus. Zeitschr. f.
Behandlung Schwachsinniger Nr. 4 1906.
7. Peterson, P., Beneficial effects of the withdrawal of bromides in the
treatment of epilepsy. New York Medical Journal, Sept. 1897.
8. White, Ernest, Epilepsy associated with insanity. The journ. of
ment. Science, January.
9. Götze, H., Über Kotbrechen während des Status epilepticus. Neuro).
Zentralbl.
10. Tiburtius, Einiges zur Epilepsiefrage. Psych. -neurol. Wochenschr.
11. Weber, Uchtspringe, Obduktionsbefunde beim Tode durch Status epi).
Wiener med. Wochenschr. Nr. 4 1899.
12. Naab, Zur Behandlung des Status epilepticus. Ztschr. f. Psych.
Bd. 57, S. 1.
13. Habermaas, Über die Prognose der Epilepsie. Zeitschrift f. Psych.
Bd. 58, S. 251.
14. Krainsky, Zur Pathologie der Epilepsie. Ztschr. f. Psych. Bd. 54.
15. Flügge, Beiträge zur modernen Epilepsiebehandlung. Vortrag, geh.
in der 59. ordentl. Vers, des psych. Vereins der Rheinprovinz
äm 19. Juni 1897 zu Bonn. Allg. Ztschr. f. Psych. Bd. 54, S. 669.
16. Gerftara-Rheinbach, Beitrag zur Epilepsiebehandlung. Vortrag, geh.
im psych. Verein am 19. Juni 1897 zu Bonn. Ebendort. S. 681.
17. Redlich, Die Behandlung der Epilepsie, Deutsche med. Wochenschr.
Nr. 37, 1906.
18. Runge, Die Therapie der genuinen Epilepsie. Zentralbl. f. d. gesamte
Therapie. 1906. Heft 5 u. 6.
19. Böckelmann, Über die Behandlung des Status epilepticus und von
Zuständen verwandter Art. Therap. Monatshefte 1906, Novem¬
berheft.
20. Derselbe, Epilepsie und Epilepsiebehandlung. Würzburger Ab¬
handlungen Bd. VII, Heft 12, 1907.
21. Edinger, Über den heutigen Stand der Therapie der Nervenkrank¬
heiten. Ztschr. f. Ärztl. Fortbildung Nr. 8, 1906.
22. Rudisch, Über den Einfluß von Atropinsulfat und Atropin, methyl-
bromatum bei Diabetes mellitus. Arch. f. Verdauungskrank¬
heiten Bd. 15 Heft 4 (Zeitschr. Ä. F. 20, 1909).
23. Reitzenstein, Über Ileus. Daselbst Ä. F. Nr. 9, 1907.
24. Schulz, ('. (Mitteilungen aus den Grenzgebieten der Medizin u. Chirurgie
Bd. 17 Heft 5 [Ä. F. 16, 1907].)
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Zur Anwendung des Salvarsans in der Psychiatrie.
Von
Dr. A. Pfänder.
Der Vortrag Ehrlich s und die anschließende Diskussion auf der
Naturforscherversammlung zu Karlsruhe gewährten einen willkomme¬
nen Überblick über den Stand der Salvarsanbehandlung. Aufs neue
wurden die ausgezeichneten Erfolge bei der Frühsyphilis an einem
sehr großen Material dargetan und die absolute Spezifität des Mittels
gegen Frambösie und Recurrens hervorgehoben. Eine Reihe von
Forschem wiesen auf die Überlegenheit einer kombinierten Queck-
sübersalvarsanbehandlung hin, welche die Methode der nächsten Zu¬
kunft sein dürfte.
Nachdem AU , der als erster die Wirkung des neuen Mittels auf
den Menschen erprobte, über bemerkenswerte Besserungen bei einer
so aussichtlosen Krankheit wie der Paralyse — wenn auch mit be¬
sonderem Vorbehalt und Einschränkungen — berichtet hatte, begannen
in der Psychiatrie allgemein die Behandlungsversuche der Paralytiker
mit Salvarsan. Was ist nicht schon alles gegen die Paralyse versucht
worden! Auch Arsenpräparate spielten frühe eine Rolle (vgl. die
Arbeit von Plange, Zeitschr. f. Psych. 38. Bd., II. Heft). Man konnte
ja nicht so weit gehen, Heilwirkungen oder dauernde Besserung bei
Krankheiten zu erwarten, welche die organische Struktur so kompli¬
zierter, lebenswichtiger und empfindlicher Organe wie das Zentral¬
nervensystem verändert haben. Und trotzdem sind noch manche
Hoffnungen getäuscht worden. Ehrlich selbst hatte schon in den
Anfängen der Salvarsantherapie eine besonders sorgfältige Auswahl
bei der Anwendung auf luische bzw. metaluische Erkrankungen
‘) Aus der Großh. Bad. Heil- und Pflegeanstalt Illenau, Direktor
Geheimrat Dr. Schule.
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90
Plunder,
des Zentralnervensystems empfohlen. Man fürchtete zuerst eine
neurotoxische, unter Umständen deletäre Wirkung des Arsenpräpa¬
rates. Auch später, nachdem sich gezeigt hatte, daß Tabiker und
Paralytiker das Mittel keineswegs schlecht, viele sogar auffallend gut
vertrugen, stand der Entdecker der besondern Eignung seines ja in
erster Linie als Sterilisans gegen die spirochätenreichen Frühformen
der Lues bestimmten Präparats namentlich für metaluische Prozesse
skeptisch gegenüber.
Trotzdem die Ergebnisse bei den Behandlungsversuchen keine
einheitlichen sind, nähern wir uns anscheinend doch einem gewissen
Abschluß in der Salvarsanbehandlung der Paralyse, wie dies auch
auf der 5. Jahresversammlung der Nervenärzte in Frankfurt zutage
trat. Es ist daher wohl am Platze, die Erfahrungen, die wir hier
sammeln konnten, wenn sie auch verhältnismäßig wenige Fälle um¬
fassen, zu veröffentlichen.
Herr Geheimrat Ehrlich hatte uns in liebenswürdiger Weise eine
Anzahl Röhrchen des 606 zur Verfügung gestellt, und wir konnten
im September 1910 mit deren Anwendung bei unsern Kranken be¬
ginnen.
Vorausschicken möchte ich, daß wir auch Gelegenheit hatten,
die Wirkung des neuen Mittels an einigen Fällen sekundärer
und tertiärer Lues, die uns von auswärtigen Kollegen über¬
wiesen waren, zu beobachten.
Wir sahen bei einem Manne mit sekundären Papeln am Skrotum
schon 8 Tage nach der Injektion (0,5 subkutan) einen überraschenden
Erfolg. Am ersten Tag traten ziemlich starke Nebenerscheinungen auf,
Schwindel, Erbrechen und Fieber. Die Papeln aber waren in der genannten
Zeit bis auf undeutliche Reste verschwunden, auch war das Allgemein¬
befinden deutlich gehoben.
In einem weiteren Fall mit leichten tertiären Erscheinungen wurden
die Schleimhautplaques im Munde durch einmalige, ebenfalls subkutane
Injektion von 0,5 deutlich gebessert.
Ein Patient mit ausgedehnter langjähriger Psoriasis erfuhr auf 0,45
subkutan nur eine vorübergehende Besserung.
Alle andern Fälle betrafen Kranke unserer Anstalt. Die An¬
gehörigen gaben nicht nur gern ihre Zustimmung, sondern verlangten
zum Teil selbst unter dem Eindruck des allgemeinen Enthusiasmus
dringend die Injektion ihrer Verwandten.
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Zur Anwendung des Saivarsans in der Psychiatrie. 91
Diese wurde anfangs ausschließlich in Form der neutralen Suspen¬
sion subkutan nach Wechselmann, später intravenös vorgenommen.
Die subkutanen Injektionen von 0,3 bis 0,5 g, bei mehreren Patienten
wiederholt, gingen mit den bekannten leichten Nebenerscheinungen
(geringe Temperatursteigerung, örtliche Schmerzen) einher. Störend
waren hauptsächlich die Infiltrate, die sich nur unvollkommen zurück -
bildeten und zum Teil heute noch schmerzhaft sind. Einmal kam es,
bei einem Paralytiker mit Aorteninsuffizienz, zu ausgedehnter, nur
sehr langsam abheilender Nekrose. Die Dosis war 0,3. Seit wir die
Injektionen intravenös machen (Methode von Wemtraud) hatten wir
auch bei Gaben von 0,6 keinerlei Nebenerscheinungen mehr. Ich
möchte dies darauf zurückführen, daß wir gleich von Anfang an,
schon bevor man auf den „Wasserfehler“ aufmerksam wurde, jeweils
frisch destilliertes steriles Wasser zur Herstellung der schwach alka¬
lischen Lösung verwendeten. Die gefürchteten Neurorezidive, welche
allerdings fast nur bei den frühen Formen der Lues beobachtet wurden,
sahen wir niemals.
Zur Behandlung kamen im ganzen 16 Patienten, darunter 7 Para¬
lytiker. Vor der Injektion wurde in unserem serologischen Labora¬
torium jedesmal die Wassermanns^ Reaktion vorgenommen.
Nur bei einigen wenigen konnte die Nachprüfung aus äußern Gründen
nicht mehr gemacht werden *).
Diejenigen Patienten, welche sich zu einer besonders eingehenden,
speziell neurologischen Untersuchung eigneten, sollen ausführlicher,
die übrigen mehr summarisch erwähnt werden.
Es handelt sich um folgende Fälle progressiver Para¬
lyse:
1. Sch., Karl, 51 Jahre, Ministerialbeamter. Auf genom¬
men: 23. 2. 1910.
Anamnese: Von luischer Infektion nichts bekannt. Vor
2 Jahren Aufregungszustand. War zweimal im Sanatorium und psychia¬
trischen Klinik. Damals schon Sprachstörung, Pupillenstarre, Aufhebung
der Patellarreflexe und ein paralytischer Anfall. 4 gesunde Kinder.
Status bei der Aufnahme: Reflektorische Pupillenstarre
(völlig). Deutliche Sprach- und Schriftstörung. Ataxie ausgesprochen.
*) Die Untersuchungen wurden durch Herrn Anstaltarzt Dr. Bund¬
schuh angestellt.
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Pfänder,
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Rombergsches Zeichen positiv. Sensibilität am Rücken im Bereich des
5. bis 7. Brustwirbels fast aufgehoben. Urin: E—, Z—.
Unordentlich in der Kleidung. Starke Merkstörung, große Ur¬
teilschwäche, Größenideen. Stimmungwechsel sehr ausgesprochen, völliger
Mangel des Krankheitgefühles.
Verlauf und Behandlung: Zunehmende Demenz. Die
Untersuchung des Augenhintergrundes ergibt links nasale graue Ab¬
blassung der Pupille. Urin: Z + (Nylander). Körperlicher Befund
sonst gleich. Am 25. 7. paralytischer Anfall.
Am 21. 9. 10 subkutane Injektion von 0,45 Ehr¬
lich - H a t a. Dabei kein besonderer Schmerz. An den folgenden
Tagen ungestörte Euphorie. Patient ist nicht im Bett zu halten. Am
zweiten Tage abends 37,8 Temperatur, Puls 100.
Kein unmittelbarer Erfolg im körperlichen und geistigen Zustand.
E —, Z- -f (Nylander).
Status vom 2 2. t 0. 10: Die Sensibilitätstörung
an der Wirbelsäule ist bis auf eine kleine Un¬
sicherheit zurückgegangen. Psychisch scheint der Stim¬
mungswechsel günstig beeinflußt. Im übrigen keine
Besserung. Merkfähigkeit eher geringer. Infiltrat schmerzlos, über
J /2 verkleinert. Gewichtzunahme 2,5 kg. Augenhintergrund unver¬
ändert.
Wassermonrtsche Reaktion im Blutbzw. Liquor cerebrosp. vor der
Injektion: positiv. Nonne: positiv.
4 Wochen später etwas schwächer im Blut. Liquor nicht unter¬
sucht.
Weiterer Verlauf: Patient Sch. hatte in der Folgezeit
(nach mehreren Monaten, am 22. 4. 11) einen schweren Anfall, der eine
Lähmung der rechten Seite und eine sehr bedeutende Sprachstörung
hinterließ. Beides hat sich seither wieder wesentlich gebessert, jedoch
ist der progrediente Gesamtverlauf unverkennbar.
2. v. H., Otto, 57 Jahre, Ministerialbeamter.
Aufgenommen: 24. 8. 10.
Anamnese: Von luischer Infektion nichts bekannt. Seit
2 Jahren „Nervosität“ mit Depressionszuständen, verließ plötzlich ohne
Urlaub sein Amt.
2 gesunde Kinder.
Status bei der Aufnahme: Pupillen reagieren träge,
Patellarreflex fehlt rechts, ist links herabgesetzt. Gang ataktisch. Böm¬
berg nicht deutlich positiv. Sensibilität nicht einwandfrei (spitz, stumpf)-
Keine deutliche Zone. Schrift: paralytisch (deutliche Zitterschrift).
Sprache: nachlässig, leicht verwaschen und hesitierend.
Starker Defekt des intellektuellen und besonders des Gemütlebens.
Auffallende Apathie und Vergeßlichkeit. Nachlässigkeit in der Kleidung,
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Zur Anwendung des Salvarsans in der Psychiatrie. 93
Unsauberkeit. Rasche körperliche und geistige Ermüdbarkeit. Neigt
:u triebhaften Erregungszuständen.
Verlauf in den ersten Wochen: Gang besser. Rom -
berg —. Keine deutliche Sensibilitätstörung. Schrift sehr gebessert, nicht
mehr als paralytisch erkennbar. Sprache ebenfalls besser. Urin:E —, Z —.
Besteht auf seiner Entlassung. Hält sich geordneter, schreibt klare
Briefe nach Hause, beginnt sich andern Patienten anzuschließen.
Am 2 9. 9. subkutane Injektion von 0,5 Ehrlich-
H a t a. Momentan nicht schmerzhaft. Auch nachher wurde nichts von
Schmerzen geäußert. Temperatur und Puls dauernd normal, keinerlei
nachteilige Erscheinungen. Im physischen und psychischen Status
keine mittelbar auffallenden Veränderungen. Urin: E—, Z—.
Status vom 13. 11. (Überführung nach Hause): Infiltrat
schmerzfrei, % verkleinert. Pupillenreaktion wie bei der Aufnahme,
ebenso das Verhalten der Reflexe. Gang seit der Injektion noch mehr
gebessert. Sehr gutes Aussehen. Viel geordneter in seinem
Verhalten, Stimmung gleichmäßig. Nimmt auf seinem Gut wieder an
Beratungen teil. Diese bedeutende Besserung blieb jedoch nicht lange
auf der gleichen Höhe. Bis zu welchem Grade sie im Lauf der Zeit wieder
verloren ging, entzieht sich unserer Kenntnis 1 ).
18. 8. 10: Nonne. Phase I + Trübung, Zellvermehrung. Wasser -
■<mn ~ in Blut und Liquor.
24. 10. 10 (5 Wochen nach der Injektion): Wassermann im Blut und
Liquor cerebrosp. unverändert. Nonne — Phase 1 = 4- Zellvermehrung.
3. Taboparalyse: Br., Oswald, 40 Jahre, Postinspektor.
A u f g e n o m m e n: 9. 5. 10.
Anamnese: Von luischer Infektion nichts bekannt. Will
sich überarbeitet haben. 1908 Anfall von Bewußtlosigkeit. Fortschrei¬
tende Demenz, Alcohol. abusus. Einmal im Sanatorium. 1 gesundes Kind.
Status bei der Aufnahme: Pupillen different, die linke
weiter und träger reagierend. Typische Sprachstörung (Silbenstolpern).
Schrift nachlässig, nicht deutlich paralytisch. Starke allgemeine Hy¬
perästhesie, zuckt bei jeder Berührung zusammen. Schmerzgefühl erhöht,
Patellarreflexe sehr gesteigert. Romberg nicht deutlich. Gang unsicher,
Ubisch.
Deutlicher Intelligenzdefekt, starke Apathie, Merkfähigkeit erhalten,
nieist euphorisch bei völligem Mangel von Krankheiteinsicht, oft sehr
reizbar.
Verlauf und Behandlung: Im Oktober: Augen-
Hintergrund rechts vollständige weiße Atrophie der Papille, links
»och geringer. Sehschärfe rechts 4/20, links 2/20, ziemlich rasch zurück-
l ) Nach neueren Mitteilungen hat die psychische Schwäche erheb¬
liche Fortschritte gemacht.
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Pfundcr.
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gehend. Dabei Stimmung gehoben in Hinsicht der „völligen Gesundheit“.
Urin: E—, Z +. Reizbarkeit etwas geringer.
Am 2 1. 10.: Subkutane Injektion von 0,5 S a 1 -
v a r s a n. Angeblich starker Schmerz (Hyperästhesie), der gegen Abend
noch zunahm, dabei jedoch gleichmütige Stimmung. Kein unmittelbarer
Erfolg der Injektion. Infiltrat stark empfindlich, sonst gleich. Tempe¬
ratur: 2. Tag: 37.2; 3. Tag: 37.3. Urin: E—, Z + {Nylander).
Status vom 2 0. 11. 10: Infiltrat gut zurückgegangen. D i e
Hyperästhesie hat sich an den Extremitäten und an Brust
und Bauch gebessert, ist aber am Rücken unbeeinflußt. Psychischer
und physischer Status sonst ohne Veränderung. Visus ebenfalls nicht ge¬
bessert. Augenhintergrund unverändert.
2 3. 1 1.: Anfall mit Aphasie und Paresis des rechten Arms.
Vor der Injektion 7. 10. bzw. 17. 10. Wassermannsche Reaktion im
Blut und Liquor positiv. Blut > Liquor.
Wassermann in Blut und Liquor blieb unverändert.
I m w e iteren Verlauf wurde das Sehvermögen eher noch
schlechter. Die Krankheit nahm im übrigen einen langsamen Verlauf.
Br. starb 1 am 5. 8. 11 an Pneumonie.
Der makroskopische und mikroskopische Sektionsbefund entsprachen
dem einer typischen Paralyse.
4. Ein Fall von hereditärer Paralyse.
K., Ludwig, 19 Jahre, ohne Beruf. Vater luisch, Mutter in
der Schwangerschaft infiziert, als Kind Schmierkur, erkrankte im Mai
1910 fast plötzlich (war sehr verändert, zeigte unsichern Gang, zahlreiche
Größenideen). Aufnahme am 21. 5. 10. Nach der subkutanen Injektion
von 0,4 war Patient vorübergehend zugänglicher und körperlich kräftiger.
Der im allgemeinen progrediente Verlauf wurde aber nicht nachhaltig
beeinflußt.
5. J., Albert, 54 Jahre, Former, Infektion vor 12 Jahren in
Indien. Damals Schmierkur. Krank seit Mai 1910, Aufnahme am 10. Sep¬
tember 1910, Entlassung am 20. Oktober 1911. Depressiver Zustand
mit motorischen Ausfallerscheinungen, Injektion von 0,3 subkutan. Es
mag zweifelhaft erscheinen, ob die Injektion an der schon vorher ein-
setzenden Besserung einen besondern Anteil hat.
6. R., Franz, 46 Jahre, Rechtsanwalt. Über Infektion nichts
bekannt. Rascher Beginn der Krankheit mit Größenideen und starker
Erregung. Aufnahme am 19. 4. 10. Fast gleichzeitig mit der zweiten
subkutanen Injektion von 0,45 bedeutende Beruhigung, so daß Patient
in die Gesellschaftsabteilung versetzt werden konnte. Er verfiel aber nach
wenigen Wochen in eine vollständige, einige Monate anhaltende Apathie
und ging körperlich stark zurück. R. ermangelte dabei zeitweise nicht
einer gewissen Krankheitseinsicht. Später entwickelte sich allmählich
wieder der frühere erregte Zustand, der heute noch anhält. Die psychische
Schwäche hat deutlich zugenommen.
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Zur Anwendung des Salvarsan» in der Psychiatrie.
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7. M., Karl, 44 Jahre, Oberstabsarzt. Infektion mit 23 Jahren,
■lamals Quecksilberkur. Beginn der Krankheit Spätjahr 1909, Wasser¬
mann nach nochmaliger energischer Kur vorübergehend negativ (1910).
Aufnahme am 8. 8. 10. Wir sahen eine leichte Besserung des Krankheit-
hildes, bei dem auf dringenden Wunsch der Frau zweimal mit 0,45 sub¬
kutan injizierten Patienten, der draußen und hier mehrere rasch vorüber¬
gehende Anfälle gehabt hatte. M. war etwas komponierter und körper¬
lich erholt. Er erlag jedoch bald nach der am 6. April erfolgten Ent-
U'sung zu Hause einem neuen schweren Anfall.
Aus den mitgeteilten Fällen geht hervor, daß wir bei der Paralyse
mehrfach — wenigstens vorübergehend — eine günstige, wohl spezi¬
fische Beeinflussung der neurologischen Ausfallerscheinungen
sahen. Ob die beobachtete Besserung der psychischen Symp¬
tome als unmittelbare Salvarsanwirkung aufzufassen ist, oder ob es
sich hierbei nicht vielmehr um einfache Remissionen handelt, läßt
sich bei dem bekannten wechselnden Verlauf der Paralyse namentlich
mit Rücksicht auf unsem, doch relativ kleinen Kreis von Erfahrungen
mit Sicherheit nicht entscheiden. Diese schwierige Frage wird aber
auch bei einem größeren Material mit Bestimmtheit kaum zu beant¬
worten sein, zumal auch noch die allgemein roborierende Eigenschaft
les Arsens in Betracht gezogen werden muß. Jedenfalls können wir
inkeinem der Fälle dem Salvarsan einen deut¬
lich merkbaren Einfluß auf den Gesamt verlau f
e i n r ä u m e n. Bemerken möchte ich noch, daß die jeweils positive
Wassermannsche Reaktion, die ja bei den Spätformen besonders
^hwer zu beseitigen ist, nie ganz zum Verschwinden gebracht wurde.
Verschlimmerungen, wie sie von anderer Seite, be¬
sonders von Fischer in Prag mitgeteilt wurden, sahen wir inkeinem
Fall und können somit, geeignete Auswahl der Patienten und vor¬
sichtige Dosierung vorausgesetzt, die Paralyse nicht allgemein als
Kontraindikation der Salvarsanbehandlung ansehen.
Neuerdings gingen wir, namentlich auf die Empfehlung Donaths,
zur Behandlung mit Natrium nuclein. über, da diese Methode eine
unmittelbarere Beeinflussung des Krankheitprozesses zu ermöglichen
scheint.
Es ist dem Salvarsan nicht gelungen, bei der Behandlung der
Paralyse einen ähnlich hervorragenden Platz zu erobern, wie bei den
andern Formen der Lues. Nach wie vor wird hier der Hauptgewinn
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Pfunder.
in der Prophylaxe zu erblicken sein. Wenn es sich künftig be¬
stätigen sollte, daß das Salvarsan, allein oder in Verbindung mit dem
bewährten Quecksilber, eine radikale Heilung der Lues ermöglicht,
so wäre damit eine wirkungvollste Vorbeugung dieser gefürchteten
Gehirnkrankheit erreicht.
Unter den ersten mit Salvarsan behandelten Patienten befand sich
noch folgend«* Fall von
8. Lues cerebri (Korsakoffwher Symptomenkomplex).
Sch., Leopold, 42 Jahre, Rechtsagent. Aufgenommen am
2. 6. 10. Anamnese: 1897 Commotio cerebri. Lues vor 10 Jahren.
Haarausfall vor 4 Jahren, längere Zeit mit Quecksilberpillen behandelt,
erheblicher Abusus alcohol. 2 gesunde Kinder. Seit 3 Wochen verwirrt
und erregt. Klagt über nächtliche Kopfschmerzen.
Status bei der Aufnahme, soweit zu erheben: Augen¬
hintergrund o. B. Papille links unscharf begrenzt, Lidflattern. Pupillen¬
reaktion links > rechts. Sehschärfe herabgesetzt. Romberg nicht deut¬
lich. Schmerzhafter luischer Hodentumor. Keine Atrophien. Sen¬
sibilität anscheinend rechts herabgesetzt. Urin: E—, Z—. Keine
Sprach-, Schreib- und Lesestörung. Psychisch ausgesprochen amnesti¬
scher Symptomenkomplex: völlige örtliche und zeitliche Desorientiert¬
heit, starker Merkdefekt, lebhafte Konfabulation, außerdem bedeutende
Störung der Aufmerksamkeit. Starker Wechsel zwischen euphorischer
Witzelsucht und rührseliger Weinerlichkeit. Häufig psychomotorisch
erregt. Intelligenzprüfung anfangs unmöglich.
Verlauf und Behandlung: Im Juli 1910 Inunktionskur,
danach Jodkali. Hodentumor unverändert. Sehschärfe besser, 6/8 beider¬
seits. Keine Differenz der Sensibilität. Patellarreflexe beide erhöht,
rechts etwas stärker wie links. Fußklonus positiv, Babinski positiv,
Romberg schwach positiv. Urin: Z positiv. Temperatur öfters erhöht bis
37.6, Puls 80 erhöht bis 96. Aufmerksamkeitstörung deutlich, Labilität
der Stimmung etwas gebessert. Der amnestische Symptomenkomplex
besteht unverändert fort. Die Intelligenzprüfung ergibt keinen Defekt.
Am 2 1. 9. 10 subkutane Injektion von 0,5 Sal¬
varsan. Keine wesentlichen Nebenerscheinungen. Hodentumor vom
zweiten Tage an entschieden zurückgegangen, auch weniger schmerzhaft.
Urin: Z—. Am 21. 10. subkutane Injektion von 0,4. Der Hodentumor
ging vom zweiten Tage an noch mehr zurück. Neurologisch und psychisch
unmittelbar keine Veränderung.
Status vom 2 1. 11. 10: Hodentumor etwa um die Hälfte
verkleinert seit der ersten Injektion. Körpergewicht um 1,5 kg gestiegen.
Nervenstatus unverändert. Merkfähigkeit deutlich gebessert, desgleichen
ist der Stimmungswechsel seltener, die Desorientierung (Ort und Zeit)
besteht noch in gleicher Weise, ebenso die Konfabulation.
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Zur Anwendung des Salvarsans in der Psychiatrie.
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Vor der ersten Injektion positive Wassermannsche Reaktion im
Blut. 5 Wochen nach der zweiten Injektion Wassermann im Blut
unverändert positiv, im Liquor cerebrosp., der unter mäßig erhöhtem
Druck ausströmt, mit 0,1 negativ, von 0,2 an positiv, bei 0,6 stark
positiv. Keine Zellvermehrung. Nonne, Phase I negativ.
Weiterer Verlauf: Eine dauernde Besserung wurde hin -
sichtlich der Orchitis erzielt.
Auch ist der Urin frei von Zucker.
Im übrigen bietet Sch. heute noch dasselbe an Korsakoff erinnernde
Bild. In letzter Zeit tritt wieder größere Reizbarkeit zutage. Möglicher¬
weise wird durch eine kombinierte Behandlung (die Hg-Kur lag 2 Monate
zurück) doch noch mehr zu erreichen sein. Übrigens ist vielleicht der
geringe Erfolg der antiluischen Kuren darauf zurückzuführen, daß
in der Ätiologie auch der Alcohol. abusus eine beträchtliche Rolle spielt.
Ferner veranlaßten uns tertiäre Haut-, Schleimhaut- und Knochen-
prozeeee, die zum Teil auf Jod und Quecksilber nicht genügend rea¬
gierten, zur Salvarsaninj ektion bei
9. Einem Psychopathen mit Depressionszuständen und
\Ikoholismu8.
H., H e r ra a n n , 35 Jahre, cand. med. Aufgenommen am 19. 5.10.
Anamnese: Lues 1902. 2 Inunktionskuren und Hg-Pillen.
In den letzten Jahren Okzipitalneuralgien, abusus alcohol. Neuerdings
Depressionszustände und Suizidgedanken.
Status bei der Aufnahme: Acne rosacea (spezifisch?).
Tremor der Zunge und Hände, Schleimhautplaques am rechten Mund¬
winkel, strahlige Narben am rechten Unterarm, luische Geschwüre und
schmerzhafte Periostitis luica am rechten Unterschenkel. Depression
im Anschluß an die fortwährenden Rückfälle in den Alkoholmißbrauch
und wegen der Folgen der Infektion.
Verlauf und Behandlung: Mit Jodkali gelangten die
l'nterschenkelgeschwüre zur Abheilung, jedoch blieb eine Verdickung des
rechten Unterschenkels von 3 cm. Die Okzipitalschmerzen, ebenso die
Beschwerden von seiten der Periostitis verschwanden. Patient konnte
größere Touren unternehmen und beschäftigte sich regelmäßig mit schrift¬
lichen Arbeiten. Schleimhautplaques unverändert. Mitte August Schmer¬
zen in der Lebergegend ohne Ikterus, die auf Karlsbader Salz zurück-
gingen.
Am 21. 9. 10 mittags subkutane Injektion von
0,5 E. - H. Unmittelbar geringer Schmerz, der sich abends steigerte
(neuralgisch, den Rippen entlang). Zudem Schweißausbruch und Kribbeln
■m linken Arm (Injektion unter dem linken Schulterblatt). Urindrang
bei nicht vermehrter Urinmenge. Leichte motorische Unruhe. Die
Temperatur stieg nicht über 37.6. Die Nebenerscheinungen waren am
Zeitschrift für Psychiatrie. LI1X. 1. 7
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98
Pfunder,
dritten Tag zurückgegangen, nur das Infiltrat blieb ziemlich schmerzhaft.
Am zweiten Tag Plaques subjektiv glatter, nach drei Tagen entschieden
kleiner geworden. Abblassen der blauroten strahligen Narben in der¬
selben Zeit. Subjektives Wohlbefinden vom vierten Tage an. Gewicht¬
abnahme 2,5 kg. Nachträglich vorübergehende Entzündung des Stich¬
kanals.
Status vom 3 0. November 1910: Schleimhautplaques
um */ 3 verkleinert. Umfang des rechten Unterschenkels nur noch 1,5 cm
größer wie links. Narben deutlich abgeblaßt. Körpergewicht um 4 kg
gestiegen. Akne vorübergehend entschieden gebessert. Die Rötung
und teigige Schwellung der Nase ist in letzter Zeit wieder aufgetreten,
leichtes ödem und Sekretion, keine Spirochäten. 3 Wochen nach der
Injektion Anfälle von Cholelithiasis mit leichtem Ikterus (14 Tage lang).
Vor 8 Tagen schmerzhafte Verdickung am Gapitul. fibul., die jetzt wieder
zurückgegangen ist. Die Okzipitalschmerzen sind zeitweise wieder auf¬
getreten (spezifische Salvarsanreaktionen ?).
Wassermann : vor der Injektion im Blut positiv, 5 Wochen nach der
Injektion unverändert.
Weiterer Verlauf: H. wurde nach 3monatiger Pause,
da die TPossermannsche Reaktion auch bei nochmaliger Untersuchung
keine Veränderung zeigte, innerhalb von 2 Wochen dreimal intravenös
injiziert. Zuerst mit 0,3, dann zweimal mit 0,6 Salvarsan. Hierdurch
konnte eine erhebliche Abschwächung der Blutreaktion erzielt werden.
Das Mittel wirkte im übrigen noch weiter auf die lokalen Erscheinungen
und als Roborans. Nebenerscheinungen, vor allem Fieber, traten nicht
auf, einmal vermehrte Diurese (ohne pathologischen Harnbefund). Pat.
war inzwischen entlassen worden und in einem kaufmännischen Geschäft
tätig. Erneute Aufnahme am 2. 12. 11. wegen Depressionszustandes mit
Suizidgefahr. Von den luischen Aflektionen ist nur ein fibröser Rest
der Schleimhautplaques noch deutlich. Die Akne ist abgeheilt, ebenso
die Periostitis. Okzipitalschmerzen sind nicht mehr aufgetreten.
Waren bei den besprochenen Kranken durchweg klinische Symp¬
tome luischer oder metaluischer Prozesse vorhanden, so wies bei
den folgenden nur die Anamnese auf eine vorausgegangene Infektion
hin. Nach deren Bestätigung durch positive TFossemannsche Reaktion
im Blut (Liquor dabei in einfachen und steigenden Mengen negativ)
unterwarfen wir der Salvarsanbehandlung:
10. Einen Fall von paranoider Demenz (0,6 intra¬
venös).
B., Max, 45 Jahre, Küchenchef. Infektion 1890. 3 Schmier¬
kuren. Krank seit Frühjahr 1911 (Beeinträchtigungs- und Verfolgungs*
ideen). Die bald nach der Injektion erfolgte Entlassung entzog den
Patienten weiterer Beurteilung.
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Zar Anwendung des Salv&rs&ns in der Psychiatrie.
99
11. Einen weiteren Patienten derselben Krankheit¬
gruppe (zweimal 0,3 subkutan).
Sch., Franz, 38 Jahre, Bahnassistent. Infektion 1902. Er¬
krankt 1906 mit phantastischen Wahnideen und hypochondrischen Vor¬
stellungen. Seit 26. April 1907 zum zweiten Male in der Anstalt. Schmier¬
kur 1908. Die Krankheit blieb unbeeinflußt, ebenso die Wassermanns che
Reaktion.
12. Einen konstitutionellen Psychopathen (0,3
intravenös).
D r. Ferdinand C., 39 Jahre, Konsulatsbeamter. Infektion
mit 14 Jahren. Regelmäßig mit Hg behandelt. Krank seit April 1911
(psychogene Depressionszustände mit schweren Suizid versuchen). Keine
unmittelbare Beeinflussung der Krankheit. Weitere Kontrolle war wegen
der Entlassung nicht möglich.
13. Einen weiteren schweren konstitutionellen Psy¬
chopathen mit ausgesprochen hysterischen Zügen und hypochon¬
drischen Verstimmungen (0,3 intravenös).
B., Landolin, 26 Jahre, Hilfsarbeiter. Vater Trinker. In¬
fektion 1908. Eine Hg-Kur. Wegen Geisteskrankheit vom Militär als
iienstuntauglich entlassen, wurde B., nachdem er wegen Bedrohung
^geklagt war, hier exkulpiert. Der psychische Zustand blieb derselbe.
Patient, der noch anstaltbedürftig ist, will sich einer nochmaligen Behand¬
lung unterziehen.
Hinsichtlich derartiger Patienten mit klinisch latenter Lues
möchte ich hervorheben, daß bei ihnen eine energische Kur, wenn
irgend möglich, bis zur Beseitigung der positiven tPossermonnschen
Reaktion vorgenommen werden sollte. Es kommt hier wohl die wirk¬
same kombinierte Anwendung in Betracht. Ob und welche Zusammen¬
hänge zwischen der Geisteskrankheit und der Lues bestehen, ob die
Lues tatsächlich als wesentlicher ätiologischer Faktor in Betracht
kommt oder der psychischen Affektion zufällig parallel geht, läßt sich
in solchen Fällen erfahrunggemäß sehr oft nicht sicher entscheiden.
Jedenfalls ist aber die Gefahr einer späteren Paralyse nie zu unter¬
schätzen. Vor nicht langer Zeit kam in hiesige Anstalt ein Patient
zur Wiederaufnahme, der früher das typische Bild einer primären
Demenz ohne irgendwelche nervösen Ausfallerscheinungen geboten
hatte. Die klinische Untersuchung stellte jetzt übereinstimmend mit
der serologischen eine beginnende Paralyse fest, bei der wir mit Natr.
nuclein. einen deutlichen Erfolg erzielten.
7*
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100 Pfunder, Zur Anwendung des Salvarsans in der Psychiatrie.
Hier bietet sich auch dem Psychiater, dem das Ehrlich&che Mittel
nicht so viele Hoffnungen erfüllte, wie den meisten andern Kollegen,
Gelegenheit, an der wirksamen Bekämpfung der Lues mitzuarbeiten,
besonders im Hinblick auf die möglichste Verhütung einer der schwer¬
sten und traurigsten Krankheiten, die seiner Behandlung zugeführt
werden.
Zum Schluß sei die praktische Wichtigkeit der TFossermafmschen
Reaktion auch für die Psychiatrie nochmals hervorgehoben, welche
es allein gestattet, die wichtigen Fälle latenter Lues zu erkennen.
Sie sollte deswegen auch in den Irrenanstalten möglichst allgemein
zur Anwendung kommen.
bv Google
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
IX. Jahresversammlung des Vereins bayrischer
Psychiater in München am 6. und 7. Juni 1911.
1. Sitzungstag.
Dienstag, den 6. Juni 1911.
Die Sitzung findet in dem Hörsaal der psychiatrischen Klinik statt.
Den Vorsitz führen: FoeAe-Eglfing und Alzheimer -München.
Als Schriftführer fungieren: Hrandf-Eglßng und Isserlin -München.
Anwesend sind: AUers -München, AIzheimer -München, Ast-Eglflng,
Bausewein -München, Brandt-Eglfing, Brodmann -Tübingen, Dees -Gabersee,
OrescA/eM-München, üccard-Frankenthal, Ellmann -Wöllershof, Fauser-
Stuttgart, Feldkirchner -Regensburg, Fischer-Prag, Gaupp -Tübingen, Glas-
München, Gudden -München, Herfeldt -Ansbach, Hillin »ScAmid-München,
Hirt-München, Hock, Josef- Bayreuth, Hock, Valentin - Bayreuth, von Höss -
lin -Eglfing, Horwitz, /famiWa-München, Isserlin -München. Jahrmärker,
Marburg, Jakob -München, JemscA-München, Kaiser -Neufriedenheim b.
München Karrer- Klingenmünster, Kaufmann -Werneck, /fern-Kennen -
bürg i. Württemberg. Afeist-Erlangen, /Tnauer-München, Koberlin -
Erlangen, ÄoJA-Kutzenberg, JTorie-Eglfing, Kraepelin -München, Krapf-
Kaufbeuren, Äundr-Deggendorf, Itmberg- Eglfing, Zeoy-München. Lößl-
Rabersee, Mager- Gabersee, Afarggra^-Homburg, Mattem -Winnental, Meg¬
gendorf er-München, AfensAurger-Innsbruck, Müller, CAmrt’an-München,
Müller-Dösen, iVenning-Eglfing, Oerter-Ansbach, Ossen-Hall i. Tirol,
Plaut -München, Prinzing- Kaufbeuren, Pütterich-Homburg, Ranke- Ober*
Endling b. München, /feAm-Neufriedenheim b. München, Renninger- Re¬
gensburg, //osentaLMünchen, /?o<A-Landau i. d. Pfalz, Rüdin -München,
Schnorr von Carolsfeld -Obersendling b. München, Schwarz -Ansbach,
Schweighofer -Salzburg, von Seidlitz- Tapiau i. Ostpreußen, Sercko -München.
•S/xcAf-Erlangen, *S7öcWe-Eglfing, Storz- Kutzenberg, Stransky- Wien, Tes-
<torp/-München, FrtA-Erlangen, KocAe-Eglfing, Kogler-Dedendorf, Wacker-
München, Weiter-München. 76 Teilnehmer.
1’ocAe-Eglfing eröffnet die Versammlung um 9 Uhr und begrüßt die
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102
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Anwesenden. Begrüßungschreiben sind eingelaufen von den Mitgliedern
W iirschmidt - Erlangen und von Rad. -Nürnberg.
Die Mitgliederzahl des Vereins betrügt 93, gegen 100 im
Vorjahre. 2 Mitglieder (Hofmann -München und Eisenhofer- Bayreuth)
hat der Verein durch Tod verloren. Die Versammlung ehrt das Andenken
der Verstorbenen durch Erheben von den Sitzen. 5 Mitglieder sind durch
Wegzug ausgeschieden, 1 Mitglied wegen Verweigerung der Beitrags -
leistung. 1 Mitglied ist zugegangen.
Hierauf erstattet Brandt -Eglfing den Rechenschaftsbericht
über das Vereinsjahr 1910/11:
Summe der Einnahmen: 894 Mk. 76 Pf.
Summe der Ausgaben: 106 Mk. 47 Pf.
Vermögensbestand: 788 Mk. 29 Pf.
Hiervon wurde ein Teil (600 Mk.) in verzinslichen Papieren an¬
gelegt.
Prinzing- Kaufbeuren und Hock- Bayreuth prüfen die Rechnung und
bestätigen die Richtigkeit derselben.
Vocke -Eglfing berichtet sodann über die Tätigkeit der statistischen
Kommission, welcher die Herren Herfeldt, Kraepelin, Specht, Vocke an-
gehören, und beantragt im Namen derselben:
„Der Verein wolle beschließen
I. das Kgl. Staatsministerium des Innern zu ersuchen, die Aus¬
füllung und Vorlage der Jahrestabellen II—X für Irrenanstalten
zu erlassen, bis eine zeitgemäße Änderung der Reichsstatistik vor-
genommen ist,
II. an den Deutschen Verein für Psychiatrie mit der Anregung
einer Änderung der psychiatrischen Reichsstatistik heranzutreten.“
Der Antrag wird ohne Debatte einstimmig angenommen.
DerVorsitzende konstatiert, daß durch die Verordnung vom
4. August 1910 dieGebührenderpsychiatrischen Sach¬
verständigen (für die Untersuchung und Beobachtung zum Zwecke
der Erstattung eines Gutachtens 5 bis 50 Mk.; für Studium der Akten
10 bis 50 Mk.; für Gutachten über den Geisteszustand einer Person 10 bis
100 Mk.) nunmehr die längst ersehnte Erhöhung erfahren haben, und zwar
aus eigener Initiative der Kgl. Staatsministerien der Justiz und des Innern,
was der Verein um so mehr dankbar anerkennt.
Vorsitzender bringt endlich eine Eingabe des „Münchener
Zentralverbandes zur Bekämpfung des Alkoholismus“ zur Kenntnis be¬
treffend die möglichste Beseitigung der geistigen Getränke als Genu߬
mittel aus den Irrenanstalten Bayerns. i
Es wird beschlossen, dem Zentralverband mitzuteilen, daß der
Verein bayerischer Psychiater seinen Bestrebungen lebhafte Sympathien
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Verein bayerischer Psychiater.
103
entgegenbringt und es für wünschenswert erachtet, daß die Anstaltleiter
bei ihren Maßnahmen zur Beseitigung des Alkoholgenusses aus einzelnen
Abteilungen oder zur Einführung allgemeiner Abstinenz_die Unterstützung
ihrer Vorgesetzten Behörden finden.
Hierauf erstatten
Kolb -Kutzenberg und Specht-Erlangen das Referat über „Ein¬
führung der Familienpflege in Bayer n.“
(Veröffentlicht in der Zeitschr. f. d. ges. Neurologie u. Psychiatrie
1911 Bd. VI, Heft 3, S. 274 u. 305).
Diskussion (über beide Referate gemeinsam). — Kolb weist
den Ausführungen des Konreferenten gegenüber darauf hin, daß Preußen
in gewisser Weise durch die Wirkung des Gesetzes 1891 überrascht wurde.
Das Rehm-Kolbsche Referat 1908 wollte für Bayern dem Vorbeugen. —
Der geringe Prozentsatz der in Erlangen geeigneten Kranken dürfte z. T.
eine Folge des notgedrungenerweise ganz geschlossenen Erlanger Be¬
triebes sein. Ein Beweis ist bis zu einem gewissen Grade der Erfolg
Stamms in Ilten, der 22 % eines ausgesuchten Krankenmaterials aus
den Irrenanstalten Hannovers in Familienpflege brachte. — Die Hospi-
talisierungquote Bayerns ist zurzeit 1 : 700 und wird auf 1 : 550 (in öffent¬
lichen Anstalten) steigen; Ungarn hat bei geringerer Quote über 1000
Familienpfleglinge. Auch bemittelte Kranke sind zuweilen geeignet für
Familienpflege. Man hat auch behauptet, Bayern sei für offenen Betrieb
nicht geeignet, und doch haben Gabersee und Kutzenberg großen offenen
Betrieb. — Im übrigen scheinen K. die Ausführungen Spechts die Zweck¬
mäßigkeit und Notwendigkeit der Pflege in der eigenen Familie zu be¬
weisen.
Dees-Gabersee sieht sich genötigt, den Ausführungen Spechts in
einem Punkte zu widersprechen, nämlich dem Vorschläge, die einschlägige
neue Gesetzgebung abzuwarten und dann danach zu handeln. Was die
rein ärztliche, psychiatrische Seite betrifft, dürfen wir die Hände nicht in
den Schoß legen. Wir müssen, wie Kolb sagt, die Bahn für die Familien-
pflege frei machen. — Pfleglinge für Familien hat Gabersee genügend, aber
es fehlt an geeigneten Familien. In Wasserburg lehnt man Geisteskranke
ab wegen der dort bestehenden, feuergefährlichen Bauart der Stadt;
die in der Umgebung der Anstalt lebenden Bauern sind zumeist wohl¬
habend und mögen sich mit Geisteskranken nicht befassen. Wie sollen
wir nun aber Vorgehen ? Man hat Pflegerdörfer in Anstalten eingerichtet;
diese mögen als Ubergangstationen ganz gut sein, nach meiner Meinung
ist aber das gar keine Familienpflege, sondern Anstaltpflege. Wenn wir
ni einer richtigen Familienpflege kommen wollen, brauchen wir das Pflege¬
personal dazu, denn die Pfleger, besonders solche, die mit Pflegerinnen
verheiratet sind, sind die wirksamsten Propagandisten für die Irrenpflege,
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wenn sie außerhalb der Anstalt in Dörfern oder Märkten frei angesiedelt
werden, wenn ihnen rechtzeitig Vorteile gewährt werden, die sie in der
Anstalt nicht haben — Kolb empfiehlt etwas Ähnliches in seiner Anstalt —,
wenn sie z. B. nach einer bestimmten, etwa 10jährigen Dienstzeit — wie
in Hessen eingeführt ist — Prämien erhalten, unter Umständen auch ein
Häuschen und was man sonst alles noch für gut findet, unter der Bedingung,
daß sie freiwillig und gern Kranke in ihre Familie aufnehmen. Ich denke
an einfache Handwerker, diese würden dann die besten Verbreiter der
Familienpflege sein. Dadurch, daß man die Pfleger in der Anstalt mög¬
lichst stabilisiert und ihnen Aufbesserungen — die ihnen ja gegönnt sind —
immer wieder in einförmiger Weise gewährt, fördert man die Familien -
pflege nicht. Wir sind verpflichtet, der Familienpflege näher zu treten,
wir werden jedoch ohne geeignete Organisation des Pflegepersonals nichts
ausrichten.
Eccard - Frankenthal: Die Herren Referenten haben in erschöpfender
Weise alle sozusagen abwägbaren und zahlenmäßig zu belegenden Momente
vorgeführt, es gibt aber in dieser wichtigen Frage noch gewisse Impondera¬
bilien, die meines Erachtens nicht ganz außer acht gelassen werden dürfen.
Sie sind ethnographischer und sozialer Natur und liegen in dem Charakter
der Länder und der Bevölkerung, der vielfachen, durch unsere Umwälzun¬
gen auf sozialem Gebiete bedingten Reibungen und Unruhen, und dem
veränderten, bewegten Leben, das längst die Grenzen der Großstädte
überschritten hat und zum Teil zu einer Charakterveränderung weitester
Volkskreise führt. Die Familienpflege verlangt ein gewisses patriarcha¬
lisches, autoritätgläubiges, ruhiges Milieu. Ich glaube nicht, daß nur die
Armengesetzgebung allein die Ursache ist, daß — mit wenigen Ausnah¬
men — der Main die südliche Grenze des Paradieses der Familienpflege
bildet, und daß nach dem Osten Deutschlands zu die erfolgreichsten Zentreo
der Familienpflege liegen. 12 Jahre lang habe ich an den, für unsere Ver¬
hältnisse ja relativ erfolgreichen Bestrebungen des Herrn Med.-Rats
Karrer um die Familienpflege teilnehmen können, die Erfolge waren lange
nicht der aufgewendeten Mühe entsprechend. Es ist nicht auffallend,
daß ich hier von einem Mißerfolge berichten muß auf meinem, vielfach
mit der Psychiatrie sich berührenden Gebiete der Familienunterbringung
von Zwangszöglingen. Wenn nicht ein deutlicher pekuniärer Erfolg vor¬
handen ist, sind die Leute nicht zu haben, noch viel weniger, wenn noch
etwas Nachsicht und eventuell Unannehmlichkeiten damit verbunden
waren. In unserer bewegten, raschlebigen und genußsüchtigen Zeit ist
jeder, der nicht mithilft, zu verdienen, der sogar noch Kosten und Mühen
macht, ein unwillkommener Gast. So kommt es, daß die Kranken quoad
Arbeit ungemein ausgenützt werden. Bessere Leute beteiligen sich über¬
haupt nicht an der Familienpflege, und wenn ja, so meinen sie, was sie
wohl für ein Opfer brächten, und sind äußerst empfindlich. Kurz, das
Ende vom Lied war, daß man die Kranken wieder in die Anstalt zurück-
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nahm und man sich schließlich sagen mußte, man hatte besser daran getan,
sie Oberhaupt nicht hinauszutun. Außerdem sind der Familienpflege in
der Pfalz erschwerend die vielen Kirchweihen, die sich immer über viele
Orte der Umgebung in ihrer ungünstigen Wirkung erstrecken, und die
Sitte des jedem Hausgenossen liberal zur Verfügung stehenden Haus-
trunkes. — Alles in allem teile ich den Optimismus beider Herren Refe¬
renten nicht, daß die Familienpflege in Bayern einen wichtigen Faktor
in der Irrenfürsorge bilden wird. Natürlich halte ich auch nicht die Unter¬
bringung von 2 bis 12 Patienten für einen nennenswerten Faktor.
Müller- Dösen: Die pekuniären Vorteile der Familienpflege bilden
nicht ihren wichtigsten Vorzug, sind aber doch nicht so gering anzu-
schlagen. In Dösen betrug die Ersparnis im vergangenen Jahre bei vor¬
sichtiger Berechnung etwa 70 Pfennig für den Kopf; im ganzen hat die
Stadt durch die Familienpflege im Jahr annähernd 20 000 Mk. erspart. —
Zn Punkt 23 a der Aofhschen Thesen: Ähnlich liegen die Verhältnisse
im Königreich Sachsen, wo die Landesanstalten, abgesehen von den nur
vorübergehend pflegebedürftigen, heilbaren Kranken, nur die Gefährlichen
aufnehmen. Hauptsächlich deshalb hat man sich dort ebenfalls bisher von
der Familienpflege nichts versprochen. Jetzt wird der Versuch ernsthaft
geplant, und der Erfolg wird für Bayern lehrreich sein. Daß auch bei der¬
artigem Krankenmaterial einige für Familienpflege passende Kranke sich
Inden, ergibt sich daraus, daß wir in Dösen von Kranken, die aus Landes¬
anstalten dorthin versetzt worden waren, einzelne mit Erfolg in Familien¬
pflege geben konnten. — Zu Punkt 23 b der Jf.schen Thesen: Man könnte
auch sagen, daß moderne, offene Anstalten mit ausgedehnter Kranken-
beschaftigung der Ausdehnung der Familienpflege hinderlich sind, da dort
oft ungern die arbeitenden Kranken abgegeben werden und die Anstalt
den Kranken so gute Versorgung bietet, daß die Familienpflege weniger
notwendig ist als für veraltete Anstalten. — Die Bevölkerung einer Gegend
muß sich erst allmählich an die Familienpflege gewöhnen; deshalb ist es
nicht verwunderlich, wenn man zuerst jahrelang nicht weiter kommt.
Auch in Gardelegen war die Entwicklung so. Die Familienpflege verbreitet
sich am besten dadurch, daß Nachbarn und Bekannte der Pflegefamilien
durch eigene Anschauung Lust und Interesse daran gewinnen. Die Tat¬
sachen sprechen dagegen, daß die Familien die Gegenwart der Kranken
so unangenehm empfinden. Dann würden sie auch die Kranken nicht
behalten und würden nicht immer mehr sich dazu drängen, trotzdem
ihnen die Schwierigkeiten vorher gesagt werden. Unrichtig ist es, daß
ärztliche Aufsicht den Familien unerträglich wird. Wo es so ist, da liegt
*s am Arzt und an der Methode. Eis ist nicht so schwer, ein freundliches
Verhältnis zu den Familien zu halten. Wenn in Bayern bei der ländlichen
Bevölkerung besondere Schwierigkeiten bestehen, so empfiehlt es sich
kleine Städte zu wählen, da finden sich passende Familien. Gute Er¬
fahrungen haben wir mit früheren Pflegerinnen gemacht, denen 3 bis 4
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Kranke gegeben wurden. Wenn es möglich ist, soll man die Groflstadt für
Familienpflege nicht wählen. Die klinische Beobachtung der Kranken
ist in der Familienpflege eher erleichtert, da der Arzt bei den, freilich
selteneren. Besuchen viel besser über die Kranken unterrichtet wird.
Kundt -Deggendorf glaubt, daß die Zahlenangaben Kolbs über die
in den bayrischen Irrenanstalten in offenen Abteilungen verpflegten
Kranken zu Mißverständnissen über das Maß der freien Behandlung in
bayerischen Anstalten überhaupt führen könnten. Die alten Anstalten,
wie Deggendorf, haben keine offenen Abteilungen, gleichwohl kann eine
freie Behandlung in großem Umfange stattflnden. In Deggendorf z. B,
fährt eine erhebliche Anzahl von männlichen und weiblichen Kranken
mit der Eisenbahn auf das Kreisgut und ist dort täglich von früh bis
abends beschäftigt. — Bezüglich des Umfanges der einzuführenden Fa¬
milienpflege spielt aber doch die Krankheitform eine bedeutende Rolle.
Die Fälle, zu denen die Mehrzahl der Uchtspringer Familienpfleglinge
gehört, sind z. B. in Niederbayern satzungmäßig von der Aufnahme in die
Kreisirrenanstalt ausgeschlossen.
Karrer -Klingenmünster spricht von den von ihm in den Jahren
1896—1908 mit Familienpflege gemachten Erfahrungen. Dieselben
führen ihn zu dem Schlüsse, daß die Familienpflege möglich ist, daß aber
allgemeine Sätze, die für alle Anstalteü gelten sollen, nicht aufgestellt
werden können, da die Lage der Anstalten mit ihrer umgebenden Bevöl¬
kerung und deren Charaktereigenschaften zu verschieden sind. Nach
seinen Erfahrungen begegnen einer erfolgreichen Erweiterung der Fa¬
milienpflege in der Pfalz zurzeit noch sehr große Schwierigkeiten.
FocAre-Eglflng: Bei uns scheiterte die Einführung der Familien¬
pflege bei Pflegerfamilien an dem Widerstand der Kranken und der Pfleger.
Die Kranken zogen die Kost, die ihnen liebgewordene Beschäftigung und
die Geselligkeit in der Anstalt vor, falls man sie nicht nach Hause ent¬
lassen wolle. Die Pfleger wollten von einer Familienpflege, die ihnen
Verantwortung aufbürde und die häusliche Intimität störe, nichts wissen.
Wenn sie vom Dienst heimkämen, möchten sie Ruhe und nicht wieder mit
Kranken zu tun haben.
Afüüer-Dösen bemerkt zu den Ausführungen Kundts: Das Ver¬
hältnis der Krankheitformen der Uchtspringer Familienpflege erklärt
sich zum Teil aus dem dortigen Anstaltmaterial, welches hauptsächlich
aus Epileptikern und Schwachsinnigen besteht. In Dösen ist der Prozent¬
satz der Dementia praecox in der Familienpflege annähernd ebenso hoch
wie der der Imbezillität.
Prinzing- Kaufbeuren: Wir dürfen Herrn Kollegen Kolb dankbar
sein, und ich empfinde es als ein Bedürfnis, ihm dies auszusprechen, daß
er die ideale Seite der Frage in den Vordergrund gestellt und einen ener¬
gischen Appell an unsere Mitarbeit bei der Einführung der Familienpflege
in Bayern gerichtet hat. Mögen die Schwierigkeiten noch so groß sein,
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so dürfen wir doch hoffen, über dieselben hinwegzukommen, wenn wir mit
einer gewissen Begeisterung an die neue Aufgabe herangehen und die
freiheitliche Entwicklung unserer Anstalten mit allen Kräften zu fördern
suchen. Eis ist meine feste Überzeugung, daß in dieser Beziehung noch
viel geschehen kann, und daß jetzt noch in manchen Fällen— ich denke
vor allem an gewisse Stadien der Dementia praecox — die geschlossene
Anstalt, statt fördernd, schädigend auf das Befinden unserer Kranken
einwirkt. Großen Erfolg verspreche ich mir von der Mitarbeit unserer
jüngeren Kollegen, denen sich dadurch ein dankbares Feld selbständiger
Tätigkeit eröffnet.
Kolb bemerkt in seinem Schlußwort gegenüber den Aus¬
führungen MüUers -Dösen, daß 3 bis 4 Kranke in einer Familie doch nicht
(fanz unbedenklich seien. Die Geisteskranken werden stets einen ge¬
ringeren Prozentsatz der Plätze der Familienpflege besetzen als die Imbe¬
zillen und Idioten.
Nach beendigter Diskussion frägt Kraepelin -München an, ob nicht
über den in den Kolbs chen Leitsätzen enthaltenen Antrag abgestimmt
werden soll.
Der Vorsitzende glaubt nicht, daß eine Abstimmung gewünscht
wird (Zustimmung Kolbs).
Hierauf folgte eine einstündige Pause, während welcher in dem
'.Urten der psychiatrischen Klinik ein gemeinsames Frühstück eingenommen
wurde.
Nach der Pause beginnt die Reihe der Vorträge.
Fischer-Prag: Überden spongiösen Rindenschwund
(mit Demonstration).
F. demonstriert Photogramme und Mikrophotogramme von Ge¬
hirnen, in denen er den spongiösen Rindenschwund vorfand, und bespricht
an der Hand derselben dessen histologischen Entwicklungsgang. Er fand den
Prozeß bei 17 Fällen und zwar erstens bei Paralysen und Senilen; als
mikroskopisch kleine Herdchen bei gewöhnlichen Paralysen und Presbyo-
phrenien, und als größere Herde bei Lissauer -Paralysen und Senilen mit
Herdatrophien, wobei die „Herde“ durch den spongiösen Rindenschwund
hervorgerufen sind. Dann fand sich derselbe Prozeß bei einem Tabiker
und Fällen von präseniler Demenz, in welchen ein oder beide Stirnlappen
*> destruiert waren. Nach F. ist dieser Prozeß von den anderen atrophi¬
schen Prozessen verschieden, ist etwas, was zur Paralyse resp. der senilen
Hirnatrophie sekundär Zutritt und wahrscheinlich durch ein Toxin ver¬
ursacht wird. Gefäßerkrankungen konnten als Ursache ausgeschlossen
werden.
(Der Vortrag erscheint in der Zeitschr. f. d. gesamte Neurol. u.
Psychiatrie.)
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108 Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Diskussion. — Stransky -Wien findet in den demonstrierten
Bildern besonders interessant die anscheinende Diskontinuität der Faser -
Veränderungen; man könnte an ähnliche Befunde Marburgs bei der sog.
akuten multiplen Sklerose denken. Am peripheren Nerven sind solche
diskontinuierliche Erkrankungen gerade auf toxischer Basis nicht selten,
sie gestatten bekanntlich Restitution; vielleicht könnte man also daran
denken, daß die klinischen Remissionen mit derartigen anatomischen
Reparaturprozessen korrespondieren.
AlzAeimir-München hält den spongiösen Rindenschwund verursacht
durch plötzlichen Untergang großer Mengen nervösen Gewebes in mehr
oder minder umschriebenen Gebieten der Hirnrinde. Er findet sich be¬
sonders bei der Z,mauerschen Paralyse, dann, wenn mit einem Schlag
schwere Rindenausfälle eingetreten waren, weniger, wenn sie erst langsam
nach verschiedenen Insulten sich ausbildeten, wo man dann meist nur
einfache Zellausfälle findet. Die Gliawucherung ist eine sekundäre Folge.
Im Mark findet man reichlich gliogene Körnchenzellen. Man kann sich
heute kaum eine andere Erklärung machen, wie die, welche Fischer heran-
zieht.
Fischer -Prag (Schlußwort) glaubt, daß er den spongiösen Rinden-
schwund doch als einen selbständigen Prozeß ansehen müsse, eben des¬
wegen, weil derselbe nicht nur bei der Paralyse, sondern auch bei Senilen
vorkommt und überdies auch bei Gehirnen, die sonst außer dem Rinden-
schwund keine besondere Veränderung zeigten. Nur meint F ., daß es
möglich ist, daß das hier wirkende hypothetische Toxin in den verschiedenen
Erkrankungen verschiedener Provenienz sei.
Stransky- Wien: Rückwirkungen der forensischen
auf die klinische Psychiatrie.
Vortr. betont, daß die forensische Psychiatrie nicht bloß angewandte
Psychiatrie sei, sondern auch ihrerseits rückwirkend der Klinik wichtige
Erfahrungen und Kenntnisse vermittle; es bezieht sich dies keineswegs
etwa bloß auf die großen, wichtigen, schwierigen Fälle oder die im engeren
Sinne „kriminellen“ Störungsformen, sondern es sei gerade das oft un¬
scheinbare forensische Alltagmaterial, dessen Betrachtung nicht selten
interessante, auch der Klinik zugute kommende Ergebnisse zu liefern
scheine. Vortr. betrachtet überhaupt gründliche forensische Erfahrung
als eine durchaus notwendige Ergänzung der klinischen und Anstaltpraxis
für den Psychiater.
Vortr. illustriert seine Anschauungen durch den Hinweis auf einige
konkretere Fragestellungen, die sich ihm ganz besonders in seiner foren¬
sischen Praxis ergeben haben. So liefert uns diese interessante Beiträge
zur Kenntnis der Vielgestaltigkeit des Individualcharakters und scheint
zu zeigen, daß Persönlichkeitsgeltung, second etat und Verwandtes nähere
Beziehungen zu haben scheinen zu Erscheinungen, die sich an der Grenze
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Verein bayerischer Psychiater.
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des noch normalen Seelenlebens gar nicht so selten finden. Schon die
psychologische Erfahrung zeigt, wie — etwa in starken Affekten — nicht
selten eine Art zweiter, gegenüber der habituellen als mehr minder fremd
icefühlter und gearteter Reaktionsart temporär mobilisiert wird, die sonst
latent bleibt; forensisches Material ganz besonders tut uns dar, daß insoweit
der Alkohol — auch wo er nicht gerade einen eigentlich pathologischen
Rausch erzeugt — im nämlichen Sinne nicht so ganz selten bahnend wirkt.
Vortr. glaubt und führt dies näher aus, daß hier vielleicht Brücken sich
«’hlagen lassen zum Verständnis viel schwererer Bewußtseinsveränderungen,
<rie jener in Dämmerzuständen.
Weiter weist Vortr. darauf hin, wie ihm das forensische Material
auch nicht wenige Belege lieferte für den psychoataktischen Grundzug
im Wesen der Schizophrenien; gerade das Delinquieren solcher Kranker
kennzeichnet sich nicht selten durch etwas Plötzliches, Unabgemessenes,
Unberechenbares, ja Raptusartiges, die Delikte erscheinen daher oft
unerwartet, unbegreifbar.
Auf andere Detailfragen einzugehen, insbesondere die simulierten
' "^tesstürungen betreffend, versagt sich der Vortr. aus zeitlichen Gründen.
Ausführliche Veröffentlichung wird in Bälde erfolgen.
Keine Diskussion.
Kleist- Erlangen: Die klinische Stellung der Mo¬
tilitätspsychosen.
Wer nicke bezeichnet seine Motilitätspsychosen als Krankheiten. Aus
*ioer eigenen Darstellung geht aber hervor, daß sie nicht Krankheiten
im Sinne einer nach Merkmalen der Entstehung, des Verlaufs und Aus-
angs eigenartig bestimmten Krankheitart sind wie z. B. die progressive
Paralyse. Die von Wer nicke geschilderten Motilitätspsychosen sind viel-
uehr in Wirklichkeit nur Zustandbilder, die bei den verschiedensten
fankheitarten Vorkommen. Wernicke spricht selbst von Motilitäts¬
psychosen hebephrenischer Ätiologie, von Motilitätspsychosen auf para¬
lytischer, epileptischer, hysterischer Grundlage.
Es fragt sich aber, ob wir jeden einzelnen Fall psychischer Er¬
krankung , der unter dem Bilde einer der Wernickeschen Motilitätspsychosen
wläuft, einer der bisher bekannten Krankheitarten einordnen können,
'ach Abzug derjenigen Fälle, die der Katatonie (katatonische Form der
Dementia praecox Kraepelins), der Paralyse, der Hysterie, der Epilepsie,
ien toxischen und infektiösen Psychosen angehören, bleibt noch ein be¬
achtlicher Rest übrig, und zwar sind das gerade besonders charakte-
’irtische „Motilitätspsychosen“: z. B. die heilbaren menstruellen und
Puerperalen hyperkinetischen Motilitätspsychosen. Wer ein manisch-
kpwssives Irresein in der erweiterten Fassung von Dreyfus, Specht,
WfoiaRR* anerkennt, vermag auch diesem Rest der Motilitätspsychosen
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
seinen Platz anzuweisen. Die betr. Fälle können nicht nur, sondern
müssen dann dem manisch-depressiven Irresein eingereiht werden. Denn
diese Restfälle teilen mit den manisch-depressiven Erkrankungen die
endogene Grundlage; der einzelne Krankheitanfall entsteht autochthon
und geht in Heilung aus, ebenso wie es wenigstens für die Mehrzahl der
manisch-depressiven Psychosen angegeben wird. Häufig wiederholen
sich diese Motilitätspsychosen, z. T. in periodischer Weise — alles wie beim
manisch-depressiven Irresein.
Den zirkulären Fällen des manisch-depressiven Irreseins würde
Wernickes zyklische (hyperkinetisch-akinetische) Motilitätspsychose ent¬
sprechen. Vor allem sprechen aber folgende Gründe für die Zugehörigkeit
jenes Restes von Motilitätspsychosen zum manisch-depressiven Irresein:
nicht selten machen dieselben Menschen, die eine Motilitätspsychose über¬
stehen, zu anderen Zeiten ihres Lebens eine echte Manie oder Melancholie
durch; die Motilitätspsychose selbst wird öfters eingeleitet oder abgeschlossen
durch einen reinen manischen oder melancholischen Symptomenkomplex;
während der Dauer der Motilitätspsychosen selbst finden sich öfter neben
den spezifisch motorischen Symptomen manische oder depressive Einzel-
Symptome und Syndrome; mit Hilfe der manisch-depressiven Misch -
zustande endlich dürfte es in jedem Fall gelingen, die betr. Motilitäts¬
psychose für das manisch-depressive Irresein zu gewinnen.
Die Frage nach der klinischen Stellung der Motilitätspsychosen wäre
damit gelöst. Der Vortr. kann jedoch in dieser Lösung nur eine Schein¬
lösung sehen, da das erweiterte manisch-depressive Irresein selbst nicht
als eine der progressiven Paralyse vergleichbare, nach Merkmalen der
Entstehung, des Verlaufs und Ausgangs bestimmte Krankheitart aner¬
kannt werden kann.
Es zeigt sich bei einer kritischen Betrachtung des erweiterten ma¬
nisch-depressiven Irreseins, die der Vortr. im Anschluß an die Streitfrage
der akuten Paranoia angestellt hat (Zeitschr. f. d. ges. Neurologie u.
Psychiatrie V 3), daß die dem erweiterten manisch-depressiven Irresein
zugerechneten Erkrankungen weniger in Merkmalen der Entstehung, des
Ablaufs und Ausgangs übereinstimmen, als auf Grund ihrer symptomato-
logischen Übereinstimmung in den sog. manisch-depressiven Symptomen
zusammengefaßt werden. Die symptomatologische Übereinstimmung
zweier Krankheitfälle beweist aber nichts für die Wesensgleichheit der
ihnen zugrunde liegenden Krankheitarten.
Die klinische Stellung der dem manisch-depressiven Irresein zu-
gerechneten Erkrankungen bedarf nicht weniger noch der Klärung als die
der Motilitätspsychosen.
Der Vortr. verfügt über etwa 50 Motilitätspsychosen, die sicher nicht
der Katatonie (Dementia praecox), der Hysterie, Epilepsie u. a. un¬
bestrittenen Krankheitarten angehören. Auch die im Puerperium und in
der Laktation entstandenen Erkrankungen sind, da toxische Faktoren
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Verein bayerischer Psychiater.
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möglicherweise bei ihnen eine Rolle spielen, außer Betracht gelassen.
Alle diese Psychosen entstanden weder aus exogenen Ursachen, noch als
Reaktionen auf tiefbewegende seelische Erlebnisse. Sie gingen sämtlich
in Heilung aus, die bisher anhielt. Diese Motilitätspsychosen sind daher
endogene Psychosen, Erscheinungen einer abnormen, in autochthonen
Schwankungen sich äußernden Konstitution auf einem Teilgebiet der
psychischen Funktionen, eben in der psychomotorischen Sphäre.
Nach ihrem Symptomenbilde und der Verlaufsweise der einzelnen
Erkrankung lassen sich diese Fälle in 4 Gruppen teilen:
t. Rekurrierende h y p e r k i n e t i s c h e Motilitäts¬
psychosen (fast die Hälfte der Fälle): Erkrankungen, die aus meh¬
reren, rasch aufeinanderfolgenden psychomotorischen Erregungszuständen
bestehen; bei Frauen fallen die einzelnen Schübe gewöhnlich mit der Men¬
struation zusammen.
2. Protrahierte psychomotorische Erregun-
ge n: Länger dauernde kontinuierliche, nicht in eine Serie von einzelnen
Anfällen gegliederte Erkrankungen.
3. Zyklische Motilitätspsychosen: Auf einen kürze¬
ren Erregungszustand folgt eine längere akinetische Krankheitphase.
4. Akinetische Motilitätspsychosen: Meist lang¬
dauernde psychomotorische Stuporzustände.
Bei mehr als einem Drittel der Fälle treten die psychomotorischen
Schwankungen zu wiederholten Malen auf — dabei in erdrückender Über¬
zahl in derselben Form. Die rekurrierenden Erregungszustände stehen
weitaus an erster Stelle, sowohl hinsichtlich der Zahl der wiederholt Er¬
krankten, als in bezug auf die Zahl der Krankheitanfälle beim einzelnen
Kranken. Diese Tatsachen zeigen besonders deutlich, daß es sich bei den
an Motilitätspsychosen psychisch Erkrankenden um eigenartige abnorme
Veranlagungen handelt, sowohl hinsichtlich der Örtlichkeit (psycho¬
motorische Sphäre) wie hinsichtlich der Art der abnormen Disposition.
Ob man die psychomotorisch-labilen Konstitutionen als eine be¬
sondere Art abnormer seelischer Konstitutionen anerkennen soll, hängt
aber wesentlich davon ab, ob die betr. Kranken ausschließlich oder doch
in überwiegendem Maße psychomotorische Symptome bieten, oder ob
noch andere Symptome auftreten und die Eigenart des Krankheitbildes
verwischen. Es wird ohne weiteres zugegeben, daß jede Motilitätspsychose
auch nichtmotorische Symptome enthält, wodurch aber das eigenartige
psychomotorische Gepräge der Fälle nicht verwischt wird.
Beschränkt man sich auf die besonders wichtige Frage nach dem
Vorkommen manischer und melancholischer Symptome bei den Motilitäts¬
psychosen, so ergibt sich, daß */« der Fälle vor oder nach der Motilitäts¬
psychose eine Manie oder Melancholie durchgemacht hat, daß bei */# der
Kranken die Motilitätspsychose selbst durch ein manisches oder melancho¬
lisches Stadium eingeleitet oder abgeschlossen wurde. Nur 3 Kranke
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
dagegen boten wahrend der Motilitätspsychose selbst neben den spezifisch-
motorischen Symptomen noch rein manische bzw. melancholische Symp-
tomenkomplexe. Am größten ist die Selbständigkeit gegenüber den
manisch-depressiven Symptomenkomplexen bei den rekurrierenden Er¬
regungszuständen, am geringsten bei den protrahierten Erregungen. Die
Tatsache, daß in einer Anzahl von Fällen psychomotorische und manische
bzw. melancholische Symptomenkomplexe Vorkommen, weist darauf hin,
daß bei diesen Menschen nicht ausschließlich die psychomotorische Sphäre
abnorm veranlagt ist, sondern noch andere Funktionenkomplexe (der
manische, der melancholische Komplex) autochthon-labil sind. Diese
Verbindung mehrerer Konstitutionsanomalien bei einem und demselben
Menschen ist nur ein Beispiel für die bekannte Tatsache, daß konstitutio¬
nell Abnorme häufig nicht nur auf einem Gebiet, sondern gleichzeitig in
mehreren Richtungen abnorm veranlagt sind.
Der Vortr. kommt zu folgendem Ergebnis: Die Aufstellung einer
besonderen Gruppe der auf psychomotorischem
Gebiet autochthon-labil Veranlagten erscheint be¬
gründet. Die betr. Krankheitfälle umfassen den Rest der Motilitätspsycho¬
sen Wernickes, der nach Abzug der katatonisch Präcocen, der psychomoto¬
rischen Erregungs- und Hemmungszustände im Verlaufe der Paralyse, der
Epilepsie u. a. übrig bleibt. Der Vortr. empfiehlt den als Ausdruck der
gekennzeichneten abnormen Veranlagung auftretenden Psychosen den
Namen Motilitätspsychosen vorzubehalten, die Bezeichnung Katatonie
nur für die unter motorischen Symptomen verlaufende Form der Früh¬
verblödung zu gebrauchen und bei anderen psychomotorisch gefärbten
* Krankheitbildern nicht — wie Wernicke tat — z. B. von einer Motilitäts¬
psychose auf paralytischer Basis, sondern z. B. von einem psychomoto¬
rischem Erregungszustände im Verlaufe einer Paralyse zu sprechen.
Diskussion. — Gaupp -Tübingen weist zunächst darauf hin,
daß die Mehrzahl der Motilitätspsychosen bei Wernicke wohl zweifellos
katatonische Zustände umfaßte und nur eine kleine Gruppe zum manisch-
depressiven Irresein zu rechnen war, wie er aus eigener Erinnerung weiß.
Hierin unterscheidet sich also die heutige Auffassung Kleists in bemer¬
kenswerter Weise von Wernicke s Anschauungen. Gaupp betont ferner,
daß eben die von Kleist selbst zugegebene Tatsache, daß nicht selten
Manien in „Hyperkinese“ übergehen oder aus ihr mit dem Nachlaß der
Krankheit hervorgehen (ebenso umgekehrt bei Depression und „Akinese“)
gegen die Selbständigkeit einer Krankheit „Motilitätspsychose“ im Sinne
Kleists spreche. Vom klinischen Standpunkt ist die Annahme, daß eine
Manie mit zunehmender Erregung zur Hyperkinese werde, abzulehnen,
so anerkennenswert auch die exakte Analyse des jeweiligen Zustand¬
bildes sei.
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Verein bayerischer Psychiater.
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Jahrmärker -Marburg: Die bearbeiteten Fälle entbehren der Beweis¬
kraft aus einem Grunde, welchen der Herr Vortr. selbst angeführt hat:
es war nicht möglich, die Konstitution der Kranken in genügender Weise
klarzustellen; primäre und sekundäre Krankheitbilder können nicht aus-'
reichend unterschieden werden. Bedeutsam erscheint dies insbesondere
wegen der zweifellosen Zugehörigkeit mancher solcher Fälle zur Schizo¬
phrenie, bei welcher Genesung sehr oft zu Unrecht angenommen wird.
Die Aufstellung einer selbständigen Krankheit auf Grund der bearbeiteten
Fälle dürfte sich nicht rechtfertigen.
.SVransAry-Wien möchte sich den Bemerkungen Gaupps und Jahr-
marken anschließen. Auch er möchte glauben, daß sehr Vieles von den
Fällen Kleists Dementia praecox ist; viele solcher Fälle dürften doch end¬
lich verblöden. Str. kann auch nicht zustimmen, wenn Kleist . wie er
wenigstens verstanden zu haben glaubt, Ideenflucht als manisches oder
Verstimmungen als melancholisches Zeichen ansieht. Auch hebephre-
nischer Wortsalat enthält ideenflüchtige Elemente, und depressive Ver¬
stimmung ist anscheinend überhaupt eine verbreitete Reaktionsart der
Psyche auf Schädlichkeiten, z. B. im Beginn von Körperkrankheiten,
jrewiß also noch kein manisch-depressives Symptom. Str. warnt davor,
die großen synthetischen KrankheitbegrifTe, die wir Kraepelin verdanken,
lllzu vorschnell nach symptomatologischen Begriffen zu zersplittern.
Schluß derl. S i t z u n g 4 Uhrnachmittags.
2. Sitzungstag: Mittwoch, den 7. Juni 19 11.
Zu Beginn der Sitzung teilt der Vorsitzende FocAre-Eglfing mit,
daß die nächstjährige Versammlung Anfang Mai in Regensburg
'tattflnden und mit ihr ein Besuch der neuen Anstalt in Wöllershof
verbunden werden soll.
Als Referat für die nächstjährige Versammlung wird vom Vor¬
sitzenden vorgeschlagen: Psychiatrische Jugendfürsorge;
Referenten die Herren Gudden und Isserlin -München; als Referat für die
1913 in München tagende Versammlung: Die paranoiden Er¬
krankungen; Referenten die Herren Stransky -Wien und von Hösslin-
Effing.
Bei der darauf folgenden Vorstand wähl wird die bisherige
Vorstandschaft durch Akklamation wiedergewählt.
Der Mitgliederbeitrag für das kommende Vereinsjahr
1912 wird wieder auf drei Mark festgesetzt.
Kraepelin : Kranken Vorstellungen.
Kraepelin stellt zunächst einen Fall von Alzheimers eher Krankheit
vor, eine Frau von 60 Jahren, die seit 12 bis 13 Jahren allmählich in
einen Zustand tiefster Verblödung mit leichten spastischen Erscheinungen
an Armen und Beinen und einem eigentümlichen Zerfall der Sprache
ZaiUehrlft für Psychiatrie. LXIX. 1. 8
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
geraten war. Die Äußerungen der ziemlich redseligen Kranken stellten
ein unverständliches Gemisch von einzelnen wirklichen Worten mit sinn¬
losen, perseverierenden, logoklonischen und echolalischen Silben dar.
Zugleich konnte das deutlich atrophische Gehirn eines ganz ähnlichen
Kranken gezeigt werden, der zufällig am Tage vorher an einer Lungen¬
entzündung gestorben war. Es war der erste Fall, in dem schon bei Leb¬
zeiten die Diagnose der Alzheimerschen Krankheit gestellt worden war:
die sofort vorgenommene mikroskopische Untersuchung ergab den kenn¬
zeichnenden Befund.
Weiterhin wurde ein 30jähriges Mädchen gezeigt, das seit 4 Jahren,
anfangs unter deliranten Erscheinungen, mit Gesichts-und Gehörstäuschun¬
gen und Verfolgungsideen stark verblödet war und außer ganz leichten,
jetzt wieder verschwundenen spastischen Erscheinungen in den Beinen
eine ausgeprägt skandierende Sprache aufwies. Der Fall, der im Beginne
den Verdacht auf multiple Sklerose erwecken konnte, wurde wegen der
weitgehenden, euphorischen Verblödung sowie wegen des Fehlens von
Augenstörungen und Anfällen vorläufig in das noch dunkle Gebiet der
lobären Sklerose eingereiht. Die Wasserman /»sehe Reaktion war hier wie
im folgenden Falle negativ.
Die dritte, 30jährige Kranke litt seit ihrem 16. Jahre an epilepti¬
schen Anfällen, die sich in Pausen von einigen Wochen wiederholten.
Auch sie war ganz tief verblödet, unklar, kaum fähig, die einfachsten
Fragen aufzufassen und zu beantworten. Dazu kamen eine eigentümlich
logoklonisch-perseverierende Sprachstörung, Paragraphie und Andeu¬
tungen von Parapraxie. Dem zunächst an Epilepsie erinnernden Krank¬
heitbilde dürfte deswegen wahrscheinlich doch ein andersartiger aus-
gebreiteter Krankheitvorgang zugrunde liegen. Zeitweise wurde an die
Möglichkeit einer tuberösen Sklerose gedacht, doch scheint das Alter bei
Beginn der Erkrankung dagegen zu sprechen.
Der letzte Kranke war ein jugendlicher Paralytiker, der schon seit
den ersten Lebensjahren eine erhebliche geistige Schwäche gezeigt hatte,
aber erst seit einigen Jahren die kennzeichnenden Störungen der Paralyse
darbot. Er war seit 1 Y> Jahren, anfangs unregelmäßig, im letzten \ > Jahre
ganz planmäßig mit Einspritzungen von nukleinsaurem Natron behandelt
worden. Es konnte eine deutliche psychische Besserung, Abnahme der
zeitweise sehr häufigen Anfälle und gute körperliche Erholung festgestellt
werden, wenn auch deren Zusammenhang mit der Behandlung einstweilen
nicht behauptet werden kann.
An der Diskussion beteiligen sich die Herren Fischer-Pv&g,
•Specfa-Erlangen, 2?ccard-Frankental, Alzheimer-München, Stransky- Wien.
In Anbetracht der vorgerückten Zeit werden die Vorträge der Herren
FViMser-Stuttgart, Jakob -München: „D ie feinere Histologie
der sekundären Degeneration“, und .dlzAewner-Münclien:
„Beiträge zur Anatomie der Idiotie“ zurückgezogen.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Verein bayerischer Psychiater.
115
Der Vortrag Göring- Merzig und /Vaa«-München: „Erhebungen
über Paralytikerfamilien“ fällt aus, da Herr Görmg-Merzig
an der Teilnahme an der Versammlung verhindert ist.
E« folgt dann
eon //öss/m-Eglfing: Klinischer und anatomischer
Beitrag zur Lehre von der Westphal-Strümpelhchen Pseudo -
sklerose.
Nach einem kurzen Überblick über die Symptomatologie der Pseudo-
sklerose und die Differentialdiagnose namentlich gegenüber der multiplen
Sklerose berichtet Vortr. eingehend über einen Fall eigener Beobachtung.
Die intra vitam gestellte Diagnose einer multiplen Sklerose wurde durch
die Sektion nicht bestätigt, vielmehr handelte es sich tatsächlich nach
den klinischen Erscheinungen, insbesondere den psychischen Symptomen,
die der Kranke darbot, um einen Fall von Pseudosklerose im Sinne der
Westphal-Strümpelfcchen Krankheit. Die histologische Untersuchung
(Prof. Alzheimer) ergab einen bisher noch nirgends beschriebenen, eigen¬
artigen Befund. Die nervösen Elemente des Gehirns und Rückenmarkes
waren nur geringfügig verändert, dagegen zeigte die Glia diffuse, außer¬
ordentlich schwere Veränderungen, besonders hochgradig im Corpus
striatum, dem Thalamus opticus, der subthalamischen Region, in den
Kernen der Brücke und Medulla, sowie im Corpus dentatum des Klein¬
hirns. Die Art und Lokalisation der pathologischen Erscheinungen
machten die Annahme wahrscheinlich, daß es sich bei der Pseudosklerose
um ein in seiner Anlage pathologisches Zentralnervensystem handelt,
(las später einem fortschreitenden Degenerationsprozeß verfallen ist.
Keine Diskussion.
Rüdin -München: „Zur Frage der gleichartigen Ver¬
erbung bei Dementia praecox“ (mit Projektionen).
Der Vortrag erscheint im Zentralblatt für die gesamte Neurologie
und Psychiatrie.
Keine Diskussion.
A. Kna uer -München: „Psychologische U n t e rsuchun -
Zen über den Meskalin rausc h.“
Die mexikanischen Indianer bereiten aus einer Kaktuspflanze,
Anhalonium-Lewinii, eine Droge, Pellote oder Meskal genannt, deren
Genuß einen eigenartigen Rauschzustand mit Sinnestäuschungen, vor¬
nehmlich Visionen, erzeugt.
Englische Forscher (Prentiss und Morgan, Weir Mitchell, Eshner u. a.)
haben schon in den 90er Jahren mit dem Produkte Versuche angcstellt.
Heffter hat später nachgewiesen, daß die Sinnestäuschungen durch ein
8 *
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UNIVERSITY OF MICjjJGAN
116
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Alkaloid „Meskalin“ hervorgerufen werden. Der Körper ist als schwefel¬
saure Verbindung in warmem Wasser löslich und läßt sich subkutan
injizieren.
Knauer und Maloney haben mit diesem Salze an 9 Ärzten eine Reihe
von Versuchen angestellt und den erzeugten Rauschzustand mit Methoden
der experimentellen Psychologie studiert. Injiziert wurden Dosen von
0,15 bis 0,2. Das äußere Bild der Intoxikation ist weit mehr, wie z. B.
der Alkoholrausch, sehr vielgestaltig, wechselt nicht nur von Person zu
Person, sondern fällt auch bei der gleichen Person zu verschiedenen Zeiten
oft ganz anders aus; die ersten Erscheinungen pflegen sich etwa 3 / 4 Stunden
nach der Injektion einzustellen. Den Beginn bildet meist eine bald vor¬
übergehende leichte Nausea. Nun folgt in der Regel ein hypomanisches
Stadium mit Rede und Bewegungsdrang. Die Stimmung ist meist gehoben.
Einzelne Personen geraten sogar in eine eigentümliche clownartige, alberne,
läppische Lustigkeit. Andere zeigen an Stelle der heiteren Stimmung
eine schwer zu meisternde Gereiztheit, der sich von Zeit zu Zeit eine ge¬
wisse ängstliche Unruhe hinzugesellt, oder die sich auch in einen für den
Untersucher unangenehmen Zustand von Negativismus verwandeln kann.
Im allgemeinen aber bleiben die Versuchspersonen besonnen und fügsam.
Bald stellen sie selbst mit Überraschung fest, daß sie alle Farben und
Konturen plötzlich viel leuchtender und schärfer sehen, wie im gewöhn¬
lichen Leben. Diesem Stadium folgt in der Regel eine eigentümliche,
allmählich zunehmende Einengung des Bewußtseins, ohne daß dessen
Klarheit entsprechend leidet; die Stimmung wird zugleich weicher und
schlaffer. Der Berauschte gibt seine expansiven Neigungen auf, wird
willenlos, muß zu allem angetrieben werden. Jetzt stellen sich bei den
meisten Versuchspersonen im Dunkeln kaleidoskopartig wechselnde Gesichts -
bilder ein, Linien, Teppichmuster und Blumenmuster, Ornamente,
Schnitzereien, Windmühlen, Gewölbe und Kuppelbauten, panorama-
artige Landschaften, menschliche und tierische Gestalten, oft von unnatür¬
lichem puppenartigen Aussehen, schließlich auch ganze Szenen und ver¬
wickelte zusammenhängende Handlungen. Die Bilder sind zum größten
Teil plastisch, scharf konturiert, vielfach sehr lebhaft koloriert. Sie sind
alle in ein inneres Gesichtsfeld von konstanter Ausdehnung eingepaßt,
können aber durch Verrückung von vorn nach hinten und umgekehrt
an Übersichtlichkeit gewinnen oder vergrößert werden. Die Bilder gehen
ohne Lücken fließend ineinander über. Die einfacheren Muster wechseln
meist sehr rasch untereinander ab. Die Bilder hängen alle durch gewisse
äußere Ähnlichkeiten in Form und Farbe zusammen. Änderungen in den
stereoskopischen Merkmalen vollziehen sich besonders oft durch immer
rascher werdende Drehbewegungen. Der Drehpunkt scheint mit der
Erhöhung der Geschwindigkeit immer weiter zurückzuweichen, so daß
schließlich der Eindruck eines rotierenden Trichters entsteht, in dem
sich nun weitere Wandlungen vollziehen, Grotten, Gewölbe, Panoramen
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Verein bayerischer Psychiater.
117
u. a. formiert werden. Verhältnismäßig selten sind die Bilder auch inner¬
lich untereinander verwandt, so daß man von einer inneren Assoziation
als Bindeglied sprechen kann. Manchmal ändern sich die Bilder in zwei
und mehr Richtungen. Das Ergebnis ist dann eine ganz wirre Kontami¬
nation von Elementen verschiedenartiger Bilder. Vielfach bewegen sich
die Bilder auch ruckweise vor dem Beschauer vorbei. Damit mag das
häufige Auftreten von Treppenstufen, Reihen hintereinander marschie¬
render Soldaten und Ähnliches Zusammenhängen. Sehr merkwürdige
Beziehungen zeigen die Bilder zu den peripheren Netzhautnachbildern.
Sie sind sicher von diesen verschieden. Denn während die einfachen Nach¬
bilder bei Augenbewegungen mitwandern, behalten diese Bilder während
der Bewegung ihren imaginären Ort im Raume meist bei, werden also
zentralwärts vom beweglichen peripheren Sehapparat erzeugt. Die Bilder
konkurrieren bald mit den gewöhnlichen Nachbildern um das Gesichtsfeld,
bald vereinigen sie sich mit diesen zu höchst eigenartigen Doppelgebilden,
die durch seitliche Blickbewegungen wieder axiseinandergerissen werden
können. Weniger oft treten die Visionen als Illusionen an realen Gesichts-
eindrücken auf. Das ist auch eigentlich der einzige Fall, wo die Kritik
zu schwinden pflegt, die während des visionären Spieles im übrigen nie
verloren geht. Trotz ihrer sinnlichen Kraft imponieren die Gesichte dem
Beschauer stets als so subjektiv, daß er im Zweifel bleibt, ob es sich hier
um wirkliche Halluzinationen oder nur um sehr sinnliche Vorstellungen
handelt. Es ist aber hervorzuheben, daß neben diesen Bilderreihen der
eigentliche Gedankengang ungestört weiterläuft, daß sogar zugleich mit
den Bildern echte visuelle Vorstellungen von der Deutlichkeit, wie man
sie alltäglich hat, reproduziert werden können. Hingegen läßt sich die
Richtung des Bilderwandels willkürlich nur sehr schwer beeinflussen;
gelingt es, so dauert es oft 5 bis 10 Minuten, bis ein Erfolg der Willens¬
anstrengungen bemerkbar wird. Auch ist der Inhalt der Bilder so phan¬
tastisch und hat so wenig Beziehungen zu dem aktuellen Bewußtseinsinhalt
des Berauschten, daß ein jeder sich wundert, wie fremdartig und fern-
liegend das Gesehene ist. Auffallend war, daß bei allen Versuchspersonen,
auch bei sinnlich veranlagten, sexuelle Motive so gut wie nie auftraten.
•Vm Marbe sehen Farbenkreisel konnte festgestellt werden, daß den visio¬
nären Erlebnissen eine ausgesprochene Überempfindlichkeit für Licht und
Farben parallel geht.
Gehörstäuschungen kamen nur ganz verinzelt als Illusionen zur
Beobachtung, dagegen hatten einige Personen massenhaft haptische
Täuschungen, fühlten auf einmal ganz abenteuerliche Verwandlungen und
Veränderungen in den Ausmessungen des eigenen Körpers. Auch diese
haptischen Bilder änderten sich bei Bewegung der betreffenden Körper¬
teile vielfach nicht, müssen also ebenfalls zentrale Vorgänge sein. Die
Täuschungen des Lage- und Bewegungsinnes gingen auch interessante
Komplikationen mit den visuellen Bildern ein; möglicherweise sind über-
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
118
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
haupt alle stereoskopischen Bilder als solche Mischprodukte von optischen
und taktilen Sinneserregungen aufzufassen. Das Verhalten der Reiz¬
wellen für die taktilen Bewegungsempfindungen wurde durch Gewicht¬
heben geprüft, konnte aber aus methodischen Gründen nicht genau genug
ermittelt werden. Jedenfalls fand sich auch hier mindessens keine Er¬
höhung der Schwellen. Endlich kamen auch leichte Geschmacks- und
Geruchstäuschungen vor; eine ziemlich regelmäßige Erscheinung waren
Anfälle von Gänsehaut- und Schüttelfrost ohne Änderung der Körper¬
temperatur, was wohl auf Reizung des Temperatursinnes zurückzuführen ist.
Nächst den Sinnestäuschungen beansprucht ein besonderes Interesse
die fast bei allen Personen hervorgetretene Veränderung des Zeitsinnes.
Genauere Untersuchungen nach den Methoden von Kraepelin und Eijner
ergaben, daß die Zeit im Meskalinrausch teilweise ganz enorm überschätzt
wird; es entspricht dies auch dem persönlichen Empfinden der Berauschten.
Paralleluntersuchungen mit 60 und 120 g Alkohol ergaben keine oder nur
Andeutung einer solchen Störung. Die Täuschung war ganz unabhängig
von den Gesichtstäuschungen, trat auch auf bei Personen, die keine der¬
artigen Erlebnisse hatten, und war manchmal gering bei Personen, die
lebhaft halluzinierten.
Die Auffassungfähigkeit für optische Eindrücke war während der
Intoxikation bei mehreren Personen überraschend gut, bei anderen etwas
herabgesetzt. Die Merkfähigkeit für zeitlich aneinandergeknüpfte Reihen
von Erlebnissen war bei allen Personen mehr oder weniger schwer geschä¬
digt. Die einfachen Reaktionszeiten waren nicht verändert, die Wahl¬
reaktion meist verlängert. Beim fortlaufenden Addieren wurde meist
weniger geleistet: In einigen Fällen besserten sich aber auch die Leistun¬
gen. Der Assoziationstypus blieb während des Rausches im wesentlichen
unverändert.
Der eigentliche Rausch dauerte gewöhnlich 3 bis 4 Stunden. Reiz¬
erscheinungen am optischen Sinnesapparat machten sich aber oft nach
24 Stunden noch bemerkbar. Ferner folgte dem eigentlichen Rausch¬
zustand gewöhnlich wieder ein stundenlanges hypomanisches Nachstadium
mit Betätigungsdrang und Schlaflosigkeit.
1> i s k u s s i o n. — A'/cist-Erlangen frägt, ob die Versuchspersonen
im Zustande der Meskalinvergiftung auf Vestibularisfunktionen unter¬
sucht wurden. Viele Erscheinungen, die Kn. beschrieben hat, erinnern
außerordentlich an Symptome, die wahrscheinlich mit zentralen Vesti¬
bularisstörungen Zusammenhängen.
A Mers-Munchen bemerkt gegenüber Kleist, daß er eine so komplizierte
Störung des Körperbewußtseins, wie sie Knauer beschreibt, doch nicht
auf eine Störung der Tonusfunktion beziehen möchte, wenn auch in den
elementareren Funktionen Analogien nicht zu verkennen sind.
Brodmann -Tübingen hat bei 2 Fällen von Korsakoivscher Psychose
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Deutscher Verein für Psychiatrie.
119
im Gegensatz zu der hochgradigen Merkfähigkeitstörung für Silbenreihen
und Zahlen ein relativ gutes Erhaltensein des Zeitsinnes für kürzere Zeit*
strecken, auch im Höhestadium der Krankheit, festgestellt.
Die auf der Tagesordnung stehenden Vorträge Eifers-München:
„Beitrag zur Chemie des senilen Gehirns“, Hirt-
München: „D ie klinische Bedeutung der Deperso-
nalisatio n“, und Rosenthal -München: „Zur Histologie der
H i r n s c h \v e 11 u n g“ mußten in Anbetracht der vorgerückten Zeit
ausfallen.
Sodann spricht der Vorsitzende rocAre-Eglfing den Vortragenden,
sowie Herrn Professor Kraepelin für die bewiesene Gastfreundschaft den
Dank des Vereins aus und schließt hierauf die Versammlung.
ffrand/-Eglfing.
Deutscher Verein für Psychiatrie.
Sitzung der Kommission für Idiotenforschung und -fürsorge am
5. Oktober 1911 in Frankfurt am Main.
Anwesend Professor Dr. Tuczek -Marburg als Vorsitzender, Direktor
Dr. Jf/uge-Potsdam, Professor Dr. Vogt -Wiesbaden.
Erörtert wurden Fragen allgemeiner und prinzipieller Natur, insoweit
«ie die durch den Deutschen Verein für Psychiatrie vertretenen Bestre¬
bungen bezüglich der Fürsorge für die Schwachsinnigen und Epileptiker,
insbesondere kindliche und jugendliche Individuen, betreffen. Ferner
wurde über eine allgemeine Stellungnahme zu einzelnen Preßerzeugnissen
aus pädagogischen Kreisen beraten und über Versammlungen und Kon¬
gresse der vorwiegend nichtärztlichen Vereinigungen berichtet. Ein
öffentliches Vorgehen gegen einseitig pädagogische Veröffentlichungen
und Maßnahmen wurde zurzeit als nicht erforderlich erachtet. Vogt
referierte speziell noch über die gegenwärtig vorhandenen und dem¬
nächst noch zu erwartenden Anstalten und Einrichtungen für Schwach¬
sinnige und Idioten, wobei er besonders auf die größtenteils ganz unzu¬
länglichen Institutionen der sogenannten Gärtnerschulen für Schwach¬
sinnige hinwies; diese müßten infolge der dort geübten offensichtlich oft
ganz unsachgemäßen Behandlungsweise als höchst fragwürdige Gründungen
angesehen werden. Von Interesse erscheint die Zunahme der privaten
Anstalten für kindliche und jugendliche Schwachsinnige und Geistes¬
kranke, die unter ärztlicher und ärztlich-pädagogischer Leitung stehen und
zum Teil eine gedeihliche Entwicklung versprechen. Uber Fragen aus der
Fürsorgeerziehung berichtete Kluge, der dabei an seinen Vortrag vor dem
Allgemeinen Fürsorgeerziehungtage am 30. Juni 1910 in Rostock an-
knüpfte. Es wurde dabei die Notwendigkeit betont, in psychiatrischen
Kreisen immer wieder auf das Bedürfnis hinzuweisen, die in Fürsorge-
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
120
Verbandlangen psychiatrischer Vereine.
erziehung zu "Verbringenden Kinder und Jugendlichen schon möglichst
bald und bei irgendwie zweifelhaftem Geisteszustand schon bei der Ein¬
leitung des Fürsorgeerziehungs Verfahrens durch einen psychiatrisch durch-
gebildeten Arzt untersuchen zu lassen, ferner Beobachtungstationen, am
besten an ärztlich geleiteten Idioten-, Epileptiker- oder Irrenanstalten,
einzurichten, und für die rechtzeitige Unterbringung der schwachsinnigen,
neuropathischen, psychopathischen und geisteskranken Zöglinge in die
ihrem Zustande entsprechenden Krankenanstalten Sorge zu tragen. Ganz
besonders ist die Begründung besonderer Anstalten für die Grenz- und
Zwischenzustände im Auge zu behalten, die naturgemäß am besten in
enger Verbindung mit den ärztlich geleiteten Krankenanstalten für Schwach¬
sinnige, Epileptische und Geisteskranke errichtet werden; auch ist bei
ihnen die ärztliche Leitung oder mindestens ärztliche Oberleitung zu
fordern. Diese Sonder- oder Zwischenanstalten werden in gewisser Be¬
ziehung ein Vorbild für die mit der in Aussicht genommenen Strafgesetz-
reform zu erwartenden Verwahrungsanstalten für gemindert zurechnung¬
fähige Kriminelle abgeben können, so daß für die Psychiatrie hiermit
ein weiterer Anstoß zur Befassung mit den Fragen der Fürsorgeerziehung
wie des Idiotenwesens bei den Kindern und Jugendlichen überhaupt
gegeben ist. Von besonderem Wert erscheinen auch die als immer not¬
wendiger angesehenen regelmäßigen psychiatrischen Untersuchungen
aller in Fürsorgeerziehung befindlichen Zöglinge, zumal die der Anstalt-
Zöglinge. Diese Untersuchungen werden auch die noch immer sehr unzu¬
verlässigen statistischen Feststellungen über die Zahl der abnormen und
defekten Zöglinge erleichtern, die ihrerseits auch wieder einen Fingerzeig
für die in besonderenVerwahranstalten unterzubringenden Gemindertzurech -
nungfähigen abgeben werden. Nach den bisherigen Ermittlungen wird
sich der bisherige Prozentsatz der in Sonderanstalten zu behandelnden
Fürsorgezöglinge auf 5 bis 8% stellen; vielleicht dürfte dieser Satz auch
für die gemindert zurechnungfähigen Kriminellen Geltung haben. Er¬
freulich war die zu konstatierende Tatsache, daß die hier entwickelten
Tendenzen bei den mit der Erziehungsarbeit betrauten Kreisen und bei den
staatlichen und kommunalen Behörden immer größeren Anklang finden,
wie z. B. die Provinz Hannover an der Irrenanstalt Göttingen eine Sonder¬
anstalt für ältere männliche Zöglinge errichtet, wie eine solche auch an
der Idiotenanstalt Rastenburg in Ostpreußen entstanden ist, und wie die
Provinz Brandenburg zu der bereits bestehenden Sonderanstalt für schul¬
pflichtige männliche Zöglinge eine zweite für 50 weibliche Fürsorgezöglinge
an den Potsdamer Anstalten errichtet hat; erfreulich ist auch die Tatsache,
daß wohl jetzt in jeder Provinz und bei jeder selbständigen Kommune
sich immer mehr Psychiater finden, die dieser Spezialaufgabe der Für¬
sorgeerziehung ihre Hauptarbeit widmen. Mit Genugtuung ist auch zu
begrüßen, daß im „Allgemeinen Fürsorge-Erziehungs-Tage“. sich eine
Reihe besonders interessierter Psychiater und Pädagogen zu einem Sonder-
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Psychiatrischer Verein zu Berlin.
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Ausschuß zusammengefunden hat, welcher im Sinne der gegebenen Dar¬
legungen oder doch in der Richtung derselben den defekten und abnormen
Zöglingen beizuspringen versucht. Die Klugeschen Ausführungen fanden
•lie Billigung in der Sitzung: sie wurden auch für geeignet angesehen, die
Unterlagen für eventuelle Abänderungsvorschläge zum Fürsorgeerziehungs-
gesetz abzugeben. In dieser Hinsicht sollten sie der Zentralstelle für
Yolkswohlfahrt als Material unterbreitet werden, wie es inzwischen auch
geschehen ist.
Vogt trug sodann noch über die im Frankfurter Neurologischen
Institut angestellten Forschungen und Experimente über die Funktionen
der Tymusdrüse vor und wies auf die Wahrscheinlichkeit hin, daß der aus
der Degeneration dieser Drüse sich ergebende Krankheitzustand, der
wohl auf eine Vergiftung des Organismus durch Nukleinsäure oder nuklein-
saure Salze zurückzuführen sei, zu der Herausschälung einer besonderen
Idiotieform führen könne.
An diese Ausführungen schloß sich ein Rundgang durch das Neuro¬
logische Institut.
Kluge.
136. Sitzung des psychiatrischen Vereins zu Berlin
am 16. Dezember 1911.
Anwesend: Ascher- Berlin, .Perendes-Bucha. G., Draeck- Bucha.G., M.
-Charlottenburg, ZsicAe-Buch, Falkenberg-Lichtenberg, FincAA-Nordend,
J. Fraenkel- Lankwitz, //e&o/d-Wuhlgarten, Hoffmann -Eberswalde, Jeß-
Eberswalde, Koritkowski -Neubabelsberg, Hans Laehr- Schweizerhof, Lange-
Lichtenradea.G., Liepmann- Dalldorf, Afarcuse-Lichtenberg, Moeli- Lichten¬
berg, 3/ucAa-Franz.-Buchholz, Oliven -Lankwitz, P/asAuda-Lübben, Reich-
Buch, Richter- Buch, Sander -Dalldorf, .Sander-Lieh tenrade, .ScAayer-D all dor f,
.Wlnüdf-Lichtenberg, 5rAwtd/-Wuhlgarten, Schmilz -Neuruppin, Seelig-
üchtenberg, Sklarek- Buch, Spliedt -Waldfrieden, Viedenz -Eberswalde,
l’ieregge-Lichtenberg, Wagenknechl-Lnch a. G, Waldschmidt -Nikolassee,
h'amcke -Berlin a. G., Werner- Buch, Zinn -Eberswalde.
Vorsitzender: Sander- Dalldorf.
Otto Ju/jusAurger-Steglitz- Berlin: Psychiatrische Tages ¬
fragen 1 ).
Bereits im vorigen Jahre, gelegentlich des Internationalen Kon¬
gresses zur Fürsorge für Geisteskranke in Berlin, sprach ich die Notwendig¬
keit aus, daß gegen die zahlreichen Angriffe, welche in jüngster Zeit gegen
die Psychiatrie als Wissenschaft im allgemeinen und einzelne ihrer Ver-
') Vgl. Juliusburger , Zur sozialen Bedeutung der Psychiatrie. Medi¬
zinische Reform, November 1911.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
treter im besonderen, gerichtet wurden, eine entschiedene Abwehr er¬
griffen werden müßte. Vor allen Dingen aber sollte in Fachkreisen eine
Klarstellung der in Frage gezogenen Fälle statt finden. Ich richtete da¬
mals ein Schreiben an den Vorstand des Deutschen Vereins für Psychiatrie,
und ich glaube, daß dieses mit den Anstoß dazu gegeben hat, daß der Be¬
schluß gefaßt wurde, die Standeskommission zu veranlassen, Vorschläge
zur Abwehr der Angriffe in der Presse zu bringen. Im Dezember 1910
erschien auch in der Psychiatrisch-neurologischen Wochenschrift ein
Aufsatz des Geh. Medizinalrats Dr. Siemens, welcher zum Gegenstand den
Rechtschutz der Psychiater gegen Angriffe in der Presse hatte. Bedauer¬
licherweise ist es nicht zu einer eingehenden Erörterung der Vorschläge
gekommen, und man hat, soweit ich wenigstens sehen kann, vorläufig,
von einer nennenswerten praktischen Betätigung Abstand genommen.
Ich werde des späteren auf den Aufsatz des Herrn Siemens zurückkommen.
Zunächst muß ich die augenblickliche Lage der Dinge kurz schildern.
Seit vorigem Jahre sind die Angriffe gegen die Irrenärzte keineswegs
verstummt; im Gegenteil, ich habe die Überzeugung gewonnen, sie wurden
lauter und verschärfter. Nun ist es ja gewiß einem jeden von uns aus der
Geschichte unserer Wissenschaft eine genügend bekannte Tatsache, daß
immer wieder von Zeit zu Zeit die Psychiatrie zum Gegenstand mehr oder
weniger heftiger Angriffe gemacht wurde. Ich erinnere an den Aufruf,
welcher am 9. Juli 1892 in der „Kreuz-Zeitung“ erschien und von nam¬
haften Männern der Wissenschaft unterzeichnet war. In jenem Aufrufe
hieß es, daß auf keinem Gebiete unseres Rechtslebens dem Irrtum, der
Willkür und der bösen Absicht ein solcher Spielraum gewährt ist, als auf
dem der Irrsinnserklärung. Diese Tonart des Aufrufs wird auch heute
wieder angeschlagen. Es ist lehrreich und bietet dem Sozialpsychologen
reichlichen Stoff zu der Betrachtung, daß früher die „Kreuz-Zeitung“
die Führerin im Streite war, während jetzt zu den Hauptrufern gegen
uns gerade die weit links stehenden Organe gehören.
Als neu zu bezeichnen ist, daß sich auch ein Bund für Irrenrechts -
reform und Irrenfürsorge gebildet hat, welcher in einer eigenen Zeitschrift
die Propaganda gegen die Psychiatrie und die Irrenärzte zusammen -
fassen will. Diesem Bunde gehören auch Juristen und Arzte an. Man
soll niemals einen Gegner unterschätzen und ignorieren, und welches Ur¬
teil man auch über den Charakter der Zeitschrift dieses Bundes sich bilden
mag, immerhin wird man es nicht aus dem Auge verlieren dürfen, daß diese
Zeitschrift unter Laien eine Verbreitung findet und zweifelsohne Schaden
genug anrichten kann. Der Laie wird umso geneigter sein, unter Umstän¬
den den vermeintlichen Belehrungen der Anhänger der Irrenrechtsreform
Gehör zu schenken, wenn er in den Schriften auch Arzte und Juristen als
Gegner unserer Wissenschaft vertreten findet.
Aber auch andere Tageszeitungen und Zeitschriften, welche in unse¬
rem öffentlichen Leben eine Bedeutung besitzen, haben Aufsätze gebracht.
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UMIVERSITY OF MICHIGAN
Psychiatrischer Verein zu Berlin.
123
die geeignet waren, das Vertrauen zu uns zu erschüttern. Eine ganze
Flut von Artikeln hat sich allmählich gebildet und ein ganzer Chor von
Widersachern ist auf die Bühne getreten. Nur selten erschien uns ein
Verteidiger. Ein Berliner Rechtsanwalt schrieb bezeichnenderweise einen
Aufsatz mit der Überschrift: „Bürgerlicher Tod“. Darin heißt es:
„Angesichts der mannigfachen Mißgriffe und bedenklichen Freiheit-
Ixschränkungen, die gerade in der jüngsten Zeit bekannt geworden sind,
dürfen die Forderungen einer Reform keinen Augenblick verstummen.“
Als im September vorigen Jahres die Angelegenheit des Herrn
Professor Hohenberg spielte, erschien in einer Zeitung eine außerordentlich
umfangreiche Annonce, an deren Spitze in Fettdruck die Worte prangten:
„Psychiaterunfug! Der Krug geht so lange zu Wasser, bis er bricht; so
wollen wir nicht weiter regiert werden!“
Eine Reihe von ärztlichen Äußerungen ist gleichfalls abgedruckt,
welche in Kürze als Gutachten dienen sollen. Ein Arzt meint darin:
„Es wird Zeit, daß sich das deutsche Volk nach einer Rechtskontrolle gegen
das Unwesen der fahrlässigen und leichtfertigen psychiatrischen Gut¬
achten umtut.“ Betrübenderweise sind in dieser Riesenannonce auch
Kundgebungen von hervorragenden Vertretern der Naturwissenschaft
ruthalten, und ich kann nur sagen: es tut mir in der Seele weh, daß ich
sie in der Gesellschaft seh.
In einer Berliner Tageszeitung äußerte sich ein Arzt: „Ich bin der
Ansicht, daß jeder intelligente Mensch mit gesundem Menschenverstand
und guter Menschenkenntnis eben so gut wie ein Arzt imstande ist, zu
rutscheiden, ob ein Anderer an Geisteskrankheit leidet oder nicht. Ein
Laie hat aber vor dein Arzt noch den Vorzug, daß er dieser Frage un¬
befangen und uninteressiert gegenübersteht. Der gewöhnliche Arzt ist
aber dem Irrenarzt vorzuziehen, weil dieser überall Geisteskrankheit
wittert. Der Irrenarzt ist nach meiner Ansicht der schlechteste Psychiater.
Werden bei einer Klage Psychiater als Sachverständige zugezogen, so wird
las Urteil von den Richtern auf dem Gutachten jener aufgebaut. Haben
Kne richtig geraten, so fällt das Urteil auch meistens richtig aus. Haben
Me aber unrichtig geraten, so wird auch das Urteil schief ausfallen. Unter
1 mständen entsteht dann ein modernes Ketzergericht, wobei der An¬
geklagte zwar nicht zum körperlichen, aber doch zum geistigen Tode ver¬
urteilt wird.Die Psychiater haben die Gewohnheit, die Lehren
Jer sogenannten Psychiatrie bei ihren Gutachten zu verschweigen; sie
müssen das notgedrungen, denn diese Lehren scheuen das Licht der Welt.“
Große Tagesblätter und kleinere Lokalblätter ergingen sich in
Angriffen, die mehr oder weniger auf den eben berührten Ton abgestimmt
waren, ln einem der letzteren heißt es: „Der Fall X. wird das Mißtrauen,
das mancher teils aus Erfahrung, teils instinktmäßig gegen die Psychiatrie
in der Praxis hat, verstärken.“ X. selbst wurde Gegenstand sehr ener¬
gischer Angriffe.
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Verj»»»djw|!wi psyohijd frischer Vereine.
•GUV
r'i’oxeÖ.. ifi <t«i ich \>ja'\vkikell hin. noch keiiierr Ahsohloß
■gefunden ii-jl. kaini ich avis nahchegtjijdf'ii Gründen wehr des- itühart?».
mt( ihti Q'mgeheB, Ich hafte *hs?r fäK berechtigt und terpftfcftieJ,
Ittir* folgendes :iu bemerken::
Ich Mi».. iinihkf. verklagt kuf iSablungGiftes hohen Schadeuercsatz*
in« v.'mieiv!t.'(?chci'; wi<h-*n‘ech»ji< f -hcr f «tei ehrung ein«.» ' H*rrn ir» *i«r'
.Äiisialt, >vo ich tedsgifeh dLi Arzt ungestaUt hin, und üveitgus •sckuwht'-
gegen mich noch &0 : Kluge wegen einer -angeblicher* Betet digung, itiv »vi.
t« «'gegen den ►»mahnte.» Herr» bei übergehe einer hkbe fcoschuhb?«
komme« Uissi-n sollen, woem die „-ihwerst«» tfeleiftigonge«. «tnler umJorin
«ier V-orwiari' der Bestechung/gegen mich erhoben ifcr-cicn sml ich fenr«»*
hier nur kw/. -die \Vtu, heeurig »bgebeii. daö idr «he mir in den Mund
|&iah'Uäi?p. Eihc grbÖC' Berliner Tage»,?-
zßiiqijjg der * T G$äft ««J -ixp
lmmharH‘% worin » r het&: ,,Dvr ßeffttttfo* 4S dua-er oder jem*.-
angeblich Geist esbunge mf dr<ui<l von I mvigvn. oder auf Grund oinw
talffli-hen Diagnose i«V ittenhäiu; lestgehalten Weideti feiiiUiVe. fest trotzdem
m fnrchtbhn daß luant tottil ftngh>$ ^hr mangef-
haften Xuslhrideh riildii heimhigen darf, stMderh die»age auJfwrerfeii muß,
oh t*« rjichl meichhai' h:|. daft du stürfcmr Schute für die angeblich
C-eMtf&krHjjikni geschütten werden könne, ehe sie hinter den Mauern de?
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i(r/';ihi>«sj:41'{a gesagt %sb*n»' aber..ein angeblich ftrahW. der sich selbst
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iiaehpröft und £,wur tia< ii aHen BieMimgen, nicht h* Twmaler Weise.
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••.OriöiraffriiTT'
Psychiatrischer Verein zu Berlin.
125
Da mir diese von Herrn von Hansemann vermeintlich festgestellte
Tatsache neu erschien, so gestattete ich mir die Anfrage bei dem Verfasser
der Schrift über den Aberglauben in der Medizin, auf welche statistischen
Tatsachen er sich stütze. Ich erhielt die Antwort: „Auf irgendeine
statistische Erklärung habe ich mich in dieser Beziehung überhaupt nicht
berufen, da eine solche wohl kaum existiert, sondern auf meine persön¬
lichen Beobachtungen im Verkehr mit vielen Psychiatern.“
Die Stelle aus der Schrift des Herrn von Hansemann, die ich soeben
-rwahnt habe, wurde mir an Gerichtstelle vorgehalten und außerdem
ist sie in einer Beilage der Zeitschrift des Bundes für Irrenrechtsreform
natürlich in Sperrdruck wiedergegeben. Ein Mann der Wissenschaft
sollte doch röcht vorsichtig sein, wenn er Mitteilungen in gemeinverständ¬
licher Darstellung an die breite Öffentlichkeit gibt. Eis ist bedauerlich,
wenn von der selbstverständlichen Forderung abgewichen wird, nur fest¬
stehende Tatsachen einem Leserkreise zu übermitteln, der das, was ihm
geboten wird, auf Treu und Glauben hinnehmen muß, da er nicht in der
Lage ist, eine Nachprüfung zu veranstalten. Übrigens scheint mir Herr
. «I! Hansemann mit seiner pessimistischen Beurteilung des Gesundheit-
iustandes der Irrenärzte nicht allein zu stehen. Herr Dr. Georg Lomer,
Oberarzt der Großherzoglich Sächsischen Landesirrenanstalt zu Blanken¬
hain in Thüringen, hat 1909 eine Schrift herausgegeben, welche an ihrer
Stirne die Aufschrift trägt: „Die Wahrheit über die Irrenanstalten.“
Im Verlauf der Ausführungen des Herrn Dr. Lomer findet sich nun folgende
Stelle: „So ist’s am Ende nur zu verständlich, wenn die Gesundheit vieler
Irrenärzte durch die ständige und hochgespannte Verantwortlichkeit im
Verein mit den abstoßenden Eindrücken des Berufes, durch die dauernde
Sorge, es könnte trotz aller Sorgfalt einmal etwas Vorkommen, sichtbar
leidet. Sie werden nervös, reizbar, hypochondrisch und erfreuen sich am
Ende nur selten eines längeren Daseins als sorgenfreier Alterspensionär.
Auch die häufigen, oft nicht sehr feinen An würfe seitens der Öffentlichkeit
!un das ihre, sie, die ihr Bestes an ihren schweren Beruf setzen, schließlich
in eine Art unpraktischer Resignation zu versetzen.“ Des weiteren heißt
■* betreffs des Wartepersonals: „Was hier von den Ärzten gesagt ist,
las gilt in vielen Punkten auch von dem ihnen unterstellten Personal.
Da der Pfleger mit dem Kranken in viel unmittelbarere und häufigere
Berührung kommt, als der Arzt, sind auch die Wirkungen auf sein Nerven¬
system entsprechend ungünstiger. Dazu kommt, daß es sich hier meist
um wenig oder gar nicht gebildete Leute handelt, welche den krank-
machenden Einflüssen nicht den inneren Widerstand entgegensetzen
können, wie der Gebildete.“
Herr Dr. Lomer hat seine Schrift, welche zweifellos in der besten
Absicht, unserer Wissenschaft und unserm Stande zu nützen, geschrieben
wurde, der breitesten Öffentlichkeit gewidmet, wie er selbst sagt. Gerade
darum aber wäre es wünschenswert gewesen, wenn er sich vorsichtiger
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UNIVERSETY OF MICHIGAN
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
ausgedrückt und nicht so in Bausch und Bogen über den Gesundheit-
zustand der Irrenärzte sich ausgesprochen hätte. Dadurch wird die Offen t -
lichkeit keineswegs beruhigt, im Gegenteil, es besteht die Gefahr, daß das
Vertrauen zu uns noch mehr erschüttert wird. Die Fälle von geistiger
Erkrankung von Irrenärzten, welche mir bekannt geworden sind, hatten
eine Ätiologie aufzuweisen, welche überhaupt weit verbreitet und in keinem
engeren Zusammenhänge mit irgendeiner Berufsbetätigung steht. Freilich
nehmen wir an der allgemeinen, ich möchte sagen, sozialen Nervosität
anteil; von dieser aber können wohl nur diejenigen verschont bleiben,
welche dem Kampf um das Dasein entrückt, in gesicherter Stellung sich
befinden. Man kann aber nicht behaupten, wie leider vielfach angenommen
wird, daß wir Irrenärzte, sofern wir angestellt sind, auf der Sonnenseite
des Lebens sitzen. Der Beruf des Irrenarztes, abgesehen von der wissen¬
schaftlichen Betätigung und der reizvollen individuellen Behandlung, ist
wenig angetan, eine dauernd gehobene und freudige Stimmung zu erzeugen
und zu halten. Liegt doch die Zukunft nur allzu vieler auch strebsamer
Ärzte im unsicheren, ja vielfach in einem bis zur Undurchsichtigkeit
dichten Nebel. Das soll ausgesprochen werden. Aber das ist etwas ganz
anderes, als die Behauptungen, welche wir in den Ausführungen der Herren
von Hanseinann und Loiner finden 1 ).
Nun aber weiter. Wir stoßen vielfach auf die seltsame Betonung,
daß wir Irrenärzte einen festgeschlossenen Ring zu gegenseitiger Ver¬
teidigung und Abwehr der vermeintlich berechtigten Angriffe gegen uns,
zur Verhütung und Vertuschung aller Ungebühr und sonstiger Schändlich-
keiten bilden. Mich hat insonderheit in letzter Zeit diese immer wieder¬
kehrende Behauptung seltsam berührt. Ich habe leider nicht bemerkt,
daß ein fester Zusammenschluß unter uns besteht. Es wäre sehr wichtig
und zweckmäßig für die von uns vertretene gute Sache, wenn eine ver¬
ständige und brauchbare Solidarität tatsächlich bestände und amWerke wäre.
In der „Frankfurter Zeitung“ vom 8. Juli 1911 steht ein längerer
Aufsatz, welcher die Überschrift trägt: „Mißstände im Irrenwesen“,
und dessen Verfasser Herr Professor Friedländer. Hohe-Mark bei Frank¬
furt a. M., ist. Es steht für mich außer jedem Zweifel, daß Herr Fried-
länder die lobenswerte und gute Absicht gehabt hat, die Öffentlichkeit
aufzuklären und zu beruhigen, nachdem in letzter Zeit so viel Angriffe
gegen das Irrenwesen erfolgt waren. In einem Aufsatze kommt Herr Fried¬
länder auch auf einen Berliner Fall zu sprechen und stellt ihn kurz so dar,
wie er zuerst in alarmierender Weise von den Tageszeitungen gebracht
*) Das Gleiche gilt von den ähnlichen Bemerkungen Kraepelins
(die phychiatrischen Aufgaben des Staates, S. 47), die mir erst nach¬
träglich zur Kenntnis kamen. Der Indifferentismus vieler Psychiater
ist gewiß nicht zu übersehen, unterscheidet sich aber in nichts von
der Gleichgültigkeit vieler Intellektueller gegenüber den großen Fragen
der Zeit.
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Psychiatrischer Verein zu Berlin.
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wurde. Herr Friedländer fährt aber dann mit folgenden Worten fort:
..Daß dieser Fall eine genaueste Klärung und öffentliche Darstellung
verlangt, wird niemand, am allerwenigsten der Leiter jener Anstalt,
leugnen.“ Meiner Meinung nach hätte es doch nahe gelegen, daß Herr
Friedländer, bevor er seinen Aufsatz schrieb, an den leitenden Arzt der in
Frage stehenden Anstalt sich wandte, um näheren Aufschluß über den Fall
zu erlangen, welcher die allgemeine Aufmerksamkeit erregt hatte. Es hätte
dann nicht eines Appells durch die Zeitungen an den Arzt bedurft, sondern
die Sache hätte sich sehr einfach und leicht aufklären und erledigen lassen.
In der Berliner Zeitung „Der Tag“ vom 24. September 1910 hat
Herr Dr. Hellpach dem Kongreß für Irren-Fürsorge einige Worte gewidmet.
Darin kommt er, freilich ohne meinen Namen zu nennen, aber in unver¬
kennbarer Weise auf mich zu sprechen, indem er schreibt: „Ein in einer
Anstalt internierter Herr war aus dieser entkommen und hatte sich im
Auslande Zeugnisse verschafft, die seine Geistesgesundheit dokumentierten.
Der für seine Internierung verantwortliche Arzt hatte im weiteren Verlauf
'1er Affäre den etwas unvorsichtigen Ausspruch getan, er verpflichte sich.
Jen Betreffenden innerhalb 14 Tagen wieder in die Anstalt zurückzubringen.“
Auch hier muß ich meine große Verwunderung aussprechen, daß Herr
Dr. Hellpach es nicht der Mühe für wert gehalten hat, sich, bevor er seinen
Aufsatz schrieb, an mich zu wenden und mich um Aufschluß über die
fragliche Angelegenheit zu bitten. Da ich wußte, daß Herr Dr. Hellpach
«inen Vortrag auf dem Kongreß für Irren-Fürsorge halten würde, schrieb
ich ihm und bat ihn. zur Sitzung der Ärzte der Privatanstalten sich zu
bemühen, da ich dort über den fraglichen Fall Aufklärung geben wollte.
Ich nahm an, Herr Dr. Hellpach würde meiner Einladung folgen und dann
Gelegenheit nehmen, in der ihm zugänglichen Zeitung die mich betreffende
Sache richtig zu stellen. Bis heute habe ich auf mein Schreiben von
Herrn Dr. Hellpach keine Antwort erhalten und will annehmen, daß mein
Brief verloren gegangen ist, — eine Annahme, die mir allerdings nicht ganz
Weht fällt.
Den freundlichen Bemühungen und Empfehlungen der Herren
Prof. Dr. Lennhaff und Dr. Lilienthal von der „Vossisehen Zeitung“ und
dem bereitwilligen Entgegenkommen des Chefredakteurs der „Berliner
Morgenpost“, Herrn Cuno, welcher für unser Irrenwesen ein weit¬
gehendes Verständnis besitzt, konnte ich es verdanken, daß ich in diesen
Zeitungen zu Worte kam, wobei ich bemerke, daß ich von einer persön¬
lichen Verteidigung Abstand nahm und bemüht war, lediglich die Sache
unserer angegriffenen Wissenschaft zu führen.
Im Vordergründe der Angriffe gegen uns steht die Behauptung,
daß tatsächlich eine große Gefahr für jeden Mitbürger vorhanden ist,
widerrechtlich in eine Anstalt untergebracht zu werden. Ich will nicht
auf die ganze Literatur des näheren eingehen, welche über diesen Gegen¬
wand bereits vorhanden ist, sondern mich beschränken, kurz zwei Schriften
zu besprechen, welche sich mit unserem Gegenstände beschäftigen.
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
In der einen bereits erwähnten Broschüre des Herrn Dr. Lomer
„Die Wahrheit über die Irrenanstalten“ heißt es: Heute sind die Fälle,
wo ein „Unschuldiger“ in die Anstalt kommt, recht selten geworden.
Daß ungerechtfertigte Internierungen aber immer
noch Vorkommen können, ja auch wirklich Vorkommen.
kann freilich nicht geleugnet werden. Auch ist es leider Tatsache,
daß zuweilen von verbrecherischen Angehörigen der Versuch gemacht
wird, ein Familienglied als „geisteskrank“ zu denunzieren und das Ver¬
trauen des untersuchenden Arztes durch falsche Angaben zu täuschen.
Man wünscht den Ehemann, Bruder usw. in der sicheren Bewahrung der
Anstalt zu wissen, um sich ungestört diesen oder jenen Lebensvorteil zu
verschaffen, und zuweilen, z. B. bei Neurasthenikern, chronischen Trinkern
usw. gelingt das Vorhaben tatsächlich, es kommt wirklich zur Aufnahme
des Armen.“ Und weiter heißt es am Ende dieser Schrift: „Von vier
Brüdern befindet sich einer als Geisteskranker in der Anstalt; einer der
Brüder ist ihm zum Vormund bestellt. Plötzlich fällt allen Vieren zu
gleichen Teilen eine beträchtliche Erbschaft zu. Der Anteil des Kranken
wird von seinem brüderlichen Vormund verwaltet, der davon auch den
mäßigen Pensionspreis an die Anstalt zahlt. Der Rest trägt Zins und
Zinseszins und wächst allmählich zu stattlicher Höhe. Da der Anstalt -
aufenthalt des Kranken inzwischen Jahre gedauert hat, sind die Brüder
zu der Überzeugung gelangt, daß der Ärmste unheilbar sei, und haben im
Geiste bereits sein Vermögen unter sich verteilt. Die Nachricht von seiner
bevorstehenden Entlassung trifft sie wie ein Donnerschlag, und sie setzen
nun alles daran, diese Entlassung liintanzuhalten, indem sie etwa die
häuslichen Verhältnisse so traurig wie möglich schildern, die Unmöglich¬
keit, sich des Genesenen anzunehmen, immer wieder betonen, kurz, alles
andere an den Tag legen, als — brüderliche Liebe. Besteht die Anstalt-
direktion aber auf ihrem w’ohlbegründeten Willen, so nehmen sie den
Bruder zwar zu sich, behandeln ihn jedoch derart schlecht, daß er bald
wieder abnorme Züge zeigt, die ihnen dann willkommenen Anlaß bieten,
seine Wiederaufnahme zu beantragen. Man glaube ja nicht,
daß diese Dingesos eiten sin d.“ Auch hier wieder kann ich
meine Bedenken nicht unterdrücken, daß solche der Nachprüfung doch
sehr bedürftigen Behauptungen in solcher Allgemeinheit gefaßt der brei¬
testen Öffentlichkeit mitgeteilt werden. Ich erlaube mir einen starken
Zweifel auszusprechen, ob wirklich ungerechtfertigte Internierungen ver¬
kommen. Ich wenigstens kenne keine solchen und warte noch auf den
strengen Bew'eis des Gegenteils, wünsche aber dann die genaueste Mit¬
teilung eingehend geführter Krankengeschichten.
Noch eine Schrift will ich erwähnen, welche im Jahre 1905, be¬
gleitet von einem Vorworte von Geh. Medizinalrat Prof. Dr. Eulenburg.
in Berlin erschien und zum Verfasser Dr. jur. Arthur R e i s s n e r hat,
welcher in ihr die Zwangsunterbringung in Irrenanstalten und den Schutz
der persönlichen Freiheit behandelt. Herr Geheimrat Eulenburg schreibt:
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Psychiatrischer Verein zu Berlin.
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„Die mehr oder minder berechtigten und dringenden Klagen über eine
teilweise Reformbedürltigkeit unseres Irrenwesens wollen auch nicht ver¬
stummen.Auf Grund sorgsamer kritischer Durchmusterung
der einschlägigen gesetzlichen und administrativen Bestimmungen, sowie
sachgemäßer Verwertung mancher in die Öffentlichkeit gedrungenen Ein¬
zelerfahrungen über zutage getretene Übelstände in der Internierungs-
und Entmündigungspraxis ist er (nämlich der Verfasser, Dr. Reissner)
zu einer Reihe von Vorbeugungs- und Besserungsvorschlägen gelangt, gegen
die im allgemeinen auch vom ärztlichen Standpunkte aus kaum begrün¬
dete Einwendungen zu erheben sein dürften. Für Einzelnes (wie z. B.
für die faßliche und zweckentsprechende Definition des so ganz in der
Luft schwebenden wahren Begriffs der „Gemeingefährlichkeit“) werden
wir dem rechtsgelehrten Verfasser dankbar zu sein alle Ursache haben.“
Aus den Ausführungen des Verfassers über gefährliche und harmlose
Geisteskrankheit als Unterbringungsgründe möchte ich nur folgende
Stelle hervorheben: „Der Geisteskranke dagegen, der weiß, daß er krank
ist, auf die Frage, ob er geheilt sein wolle, bejahend, auf die Frage, ob er
zu diesem Zwecke in eine Irrenanstalt gebracht werden wolle, sich ver¬
neinend äußert oder auch sein Einverständnis damit erklärt, der verfügt
über Krankheitbewußtsein. Nicht erforderlich ist, daß er Einsicht in die
Art der Erkrankung hat. Obgleich ein solcher Geisteskranker infolge der
Erkrankung an Bewußtseinstörung leidet, so ist doch das Bewußtsein
bei ihm nicht vollkommen ausgelöst, und er muß deshalb dem körperlich
Kranken gleichgestellt werden. Dies gilt übrigens ganz besonders von den
Geisteskranken, die, wie man sagt, Krankheit dissimulieren, gleich dem,
der Schmerz empfindet und ihn, um sich tapfer zu zeigen oder um z. B.
der Entlassung aus dem Dienst zu entgehen, verwindet. Denn wer ge¬
gebenenfalls Krankheit dissimulieren, Gesundheit heucheln kann, der
weiß, daß die Betätigungen seines Gehirns für krankhaft gehalten werden,
und indem er diese krankhaft erscheinenden Betätigungen mit Vorsatz,
also bewußt vermeidet, — dissimulieren kann man eben nur mit Bewußt¬
sein! — zeigt er, daß er Krankheitbewußtsein hat. Demjenigen Kranken
aber, der trotz Krankheitbewußtsein es vorzieht, sich der Freiheit zu
erfreuen und an der Krankheit zugrunde zu gehen, wird der Staat die
Freiheit nicht rauben können.“
Nun, ich glaube, diesen letzten Ausführungen des Herrn Dr. Reissner
werden wir uns vom Standpunkte der Wissenschaft und Humanität aus
nicht anschließen können.
Wenn ich nun noch dazu übergehe, die Vorschläge des Herrn
Dr. Reissner hier zu erwähnen, so geschieht dies, weil sie auch heute wieder
von verschiedener Seite aus vorgebracht werden.
Erst vor ganz kurzer Zeit hatte ich Gelegenheit, in der Gesellschaft
für soziale Medizin über die soziale Bedeutung der Psychiatrie zu sprechen,
wobei ich bereits die gegen unser Irrenwesen gerichteten Angriffe er¬
örterte. Bei dieser Gelegenheit wurde von mehreren namhaften Ärzten
Zutoohrift für Psychiatrie. LXLX. 1. 9
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
energisch auf eine Reform des Irrenwesens hingewiesen und auch ein
Irrengesetz verlangt, insbesondere — darauf bitte ich die volle Aufmerk¬
samkeit zu richten — die Heranziehung von Laien gefordert, welche mit
die Frage entscheiden sollen, ob ein Kranker in eine Irrenanstalt gebracht
werden dürfe. Daher halte ich es für angezeigt, den Vorschlag des Herrn
Dr. Reissner des näheren mitzuteilen, den wir in seiner Broschüre über die
Zwangsunterbringung in Irrenanstalten und den Schutz der persönlichen
Freiheit finden, und der, soweit ich sehen kann, auch die Billigung des
Herrn Geheimrats Eulenburg gefunden hat, welcher das Vorwort zu dieser
Broschüre, wie erwähnt, geschrieben hat.
Herr Dr. Reissner macht nun folgende Ausführungen: „Die Anträge
auf Unterbringung in eine Irrenanstalt werden bei einer Internierungs-
kommission anzubfingen sein; ihre Zusammensetzung ergibt ihr Zweck
und das Material, das ihrer Prüfung unterliegt: ein Amtsrichter als Vor¬
sitzender, der Gerichtsarzt als ständiger Beisitzer und drei Laien
als Schöffen. Eine solche Kommission wird in der Lage sein, zu
prüfen, ob der Implorat geistig normal ist oder nicht, ob objektiv ein Fall
vorliegt, der den Antrag seitens des jeweiligen Antragstellers rechtfertigt,
und ob im gegebenen Falle die geforderte Maßregel sich rechtfertigt
sowohl nach dem Zustande des Kranken, als nach seiner und seiner Fa¬
milie Vermögenslage. Das Verfahren wird in einer dem Strafprozeß an-
gepaßten Weise zu regeln sein. Der Antragsteller hat in seinem Anträge
auf Unterbringung Angaben über die Person des Kranken, über seine und
der unterhaltpflichtigen Verwandten Vermögensverhältnisse zu machen
und dafür Beweismittel anzugeben; er hat Zeugen zu benennen, das be¬
gründete Gutachten eines Sachverständigen über den Gesundheitzustand
des Imploraten beizufügen, aus dem sich der Zweck, dem es dienen soll,
ergibt. Es findet sodann ein Vorverfahren statt, das innerhalb zweier
Wochen abzuschließen Ist. Die Polizei als Hilfsorgan der Staatsanwalt¬
schaft, bzw. der Internierungskommission, vernimmt den Kranken, seinen
behandelnden Arzt und die Antragzeugen und läßt den Kranken durch
einen Vertrauensarzt untersuchen. Erscheint ein sofortiger Schutz des
Kranken oder des Publikums erforderlich, so sind die Akten mit einem
entsprechenden Antrag und eidesstattlichen Versicherungen, aus denen die
Notwendigkeit der Zwangsunterbringung mangels anderer Schutzmöglich -
keiten erhellt, sofort dem Gericht einzureichen. Atteste des erstunter¬
suchenden Arztes und des Vertrauensarztes sind beizufügen (eventuell
also nur des Vertrauensarztes). Der Richter hat alsdann binnen 24 Stunden
nach Beratung mit dem Gerichtsarzt zu entscheiden, und falls er sich für
vorläufige Unterbringung entscheidet, einen vorläufigen Aufnahmeschein
zu erteilen. Auf Grund dieses erfolgt dann eine Aufnahme des darin Be¬
nannten in einer öffentlichen oder Privatirrenanstalt bis zur Haupt Ver¬
handlung, zu der der Kranke vorzuführen ist. Der Arzt der Anstalt hat
die Pflicht, den Kranken bis zur Hauptverhandlung, die spätestens einen
itlonat nach Eingang des Antrages bei der Behörde stattzufinden hat.
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‘■ingphend zu beobachten. Außerdem steht dem Richter, dem Gerichtsarzt
und den Schöffen jederzeit innerhalb der Frist bis zum Hauptverhandlungs-
termin — auch bei Nichtinternierten — das Recht zu, den Kranken selbst
aufzusuchen. um sich über seinen Geisteszustand ein Urteil zu bilden.
Über das Ergebnis der Beweisaufnahme berät das Kollegium. Vier
Stimmen sind zu einem Beschluß auf Unterbringung erforderlich. Ist
weitere Beweisaufnahme notwendig, und soll bis zu deren Erledigung der
kranke weiter interniert bleiben, so bedarf es eines mit einfacher Stimmen¬
mehrheit gefaßten Beschlusses der Kommission. Der Termin ist alsdann
um zwei Wochen höchstens zu verlegen. In diesem zweiten Termin muß
eine definitive Entscheidung ergehen. 1 '
Ich habe diesen Vorschlag des Herrn Dr. Reissner deswegen im
wesentlichen ausführlich mitgeteilt, weil, wie gesagt, sein Hauptinhalt
und Kern von den auch ernst zu nehmenden Vertretern einer Reform des
Irrenwesens mit Nachdruck hervorgehoben und unterstrichen wird. Nun
hieße es wirklich blind sein, die bestehende Gefahr hartnäckig zu über-
^hen, welche der Psychiatrie als Wissenschaft, sowie unserm gesamten
irrenwesen von den Stürmern und Drängern droht. Wenn Ärzte bereits
die Heranziehung von Laien zur Begutachtung der Notwendigkeit der
Internierung von Kranken verlangen, so dürfen wir nicht länger schweigen;
^ gilt, die Würde unserer Wissenschaft zu wahren und unser hehres Amt,
^verleidende Mitmenschen zu schützen und zu behandeln, nicht aus
insern Händen gleiten zu lassen.
ln einer bemerkenswerten Erwiderung auf einen Aufsatz „Das
Irrenhaus als Gefahr“ in der „National-Zeitung“ Nr. 159 d. J. hat Herr
Mediiinalrat Dr. Kreuser schon zutreffend ausgeführt: „Die Krankheit-
iiagnose ist es, die bei allen Irrenhausaffären in erster Linie bestritten
*ifd; sollte sie einwandfreier durch den Richter als durch den Arzt fest¬
stem werden können? Doch wohl nur, wenn es sich um Zustände
handelt, an denen nicht mehr zu zweifeln, aber auch nichts mehr zu bessern
^ über dem hierzu erforderlichen Verfahren und der dazu benötigten
geht aber die beste Gelegenheit zu einer angemessenen Fürsorge ver-
i" r en f schwinden die Aussichten auf Wiederherstellung und auf Milderung
iller der Schäden, die solche Krankheiten für die davon Befallenen und
'ürihre Familien mit sich bringen. Alle Vorteile einer rechtzeitigen Für-
’^rge würden der blinden Furcht vor Vergewaltigungen in gewinnsüchtiger
Absicht geopfert werden.“ Wir können natürlich den Ausführungen des
Herrn Kreuser nur zustimmen, und wir brauchen in unsern Reihen doch
ehrlich nicht die Frage zu diskutieren, ob Laien zur Beurteilung der
frage der Notwendigkeit der Internierung in einer Anstalt herangezogen
werden sollen. Aber was uns klar ist, ist eben der Allgemeinheit und, wie
d* e Erfahrungen der Gegenwart lehren, auch vielen Ärzten noch lange
nicht klar genug. Darum ergibt sich die zwingende Forderung für uns,
aus unserer Schweigsamkeit und Zurückgezogenheit endlich herauszutreten
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
und, wo immer wir können, in Wort und Schrift, die Gründe eingehend dar¬
zulegen, daß die Erschwerung der Aufnahmen und ihre Verschleppung,
ihre Abhängigkeit von der Zustimmung von Laien gerade denjenigen den
größten Schaden zufügen muß, welchen man in wohlwollender Absicht
einen Schutz angedeihen lassen will. Schon heute erleben wir es ja, daß
zur Beurteilung von Geisteszuständen Laien vielfach in bedenklicher Webe
befragt werden.
Der erfahrene Arzt und langjährige Leiter des „Berolinum“ in Lank¬
witz, Herr Sanitätrat Fränkel, konnte dies jüngst am eigenen Leibe erfahren.
Er hatte in einem Atteste zur Einleitung der Pflegschaft die bekannte
Forderung bejaht, daß eine Verständigung mit dem betreffenden Kranken
nicht möglich sei. Der Arzt ging dabei von der eigentlich selbstverständ¬
lichen Meinung aus, daß die Möglichkeit zu einem Verständnb mit dem
Kranken nicht darin zu suchen sei, daß er den Inhalt dessen, was zu ihm
gesprochen wird, einfach in sich aufnahm, sondern daß die Fähigkeit
bei dem Kranken vorhanden sein müßte, seinen eigenen Zustand mit
Rücksicht auf die daraus entspringenden Folgen richtig zu beurteilen, mit
anderen Worten: nur dann kann eine Verständigungsmöglichkeit mit dem
Kranken als vorhanden angenommen werden, wenn dieser die erforderliche
Krankheiteinsicht besitzt. Der Richter dagegen schien einer anderen
Auffassung zu huldigen. Er verzichtete in dem gegen Herrn Sanitätrat
Fränkel von dem Kranken angestrengten Prozesse darauf, sachverständige
Ärzte zu hören, sondern begnügte sich, Laien zu vernehmen, welche zum
Teil noch Angestellte des betreffenden Kranken waren. Die Aussagen
dieser Laien genügten dem Richter, an der geistigen Gesundheit des pro¬
zessierenden Herrn nicht zu zweifeln und den leitenden Arzt wegen Fahr¬
lässigkeit zu verurteilen, obwohl derselbe durch seine Qualität als Arzt
und Leiter der Anstalt durch eine lange Reihe von Jahren doch den Beweis
erbracht hatte, daß ihm eine Fahrlässigkeit auch nicht im mindesten zu-
getraut werden könnte.
Wenn es also jetzt schon möglich ist, daß auf Grund von kritikloser
Bewertung der Laienaussagen so weitgehende Urteile und Verurteilungen
stattflnden können, nun, dann wollen wir uns lieber nicht in unserer Phanta¬
sie ausmalen, welchen Zuständen wir entgegengehen, wenn einmal dem
Laienelement eine noch größere rechtliche Befugnis zuteil würde und wenn
Laien vom Gesetze die Erlaubnis erhielten, zu jeder ihnen beliebigen Zeit
in die Anstalt zu kommen und dort selbständig Untersuchungen der uns
anvertrauten Kranken anzustellen. Wenn wir all dies erwägen, so müssen
wir uns sagen: so, wie es gegenwärtig steht und geht, kann und darf es
nicht weitergehen.
In dankenswerter Webe hat nun vor kurzer Zeit in der „Medizinbchen
Gesellschaft“ Herr Medizinalrat Leppmann über „Irrenärztliche Tages-
fragen“ *) gesprochen. Seine wertvollen Ausführungen faßt er im Hin-
>) Siehe Berliner Klinbche Wochenschrift 1911 Nr. 46 und 47.
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Psychiatrischer Verein zu Berlin.
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bück auf die Erfahrungen der letzten Zeit dahin zusammen: 1. Wir
brauchen ein Irrengesetz, welches die Anstaltunterbringung Kranker und
insbesondere die Pflichten und Rechte der Anstaltleiter bis ins kleinste
regelt; 2. wir brauchen eine Ergänzung unserer bürgerlichen Gesetzgebung
über die Beschränkung der Geschäftsfähigkeit Erkrankter in der Weise,
daß bis jetzt noch mögliche Schädigungen Kranker und Belästigungen
Gesunder vermieden werden.
Herr Leppmann hat mit Recht darauf hingewiesen, daß man bis¬
weilen den Eindruck gewänne, als ob unsere heutige Rechtslage den
Rechtschutz der Geisteskranken gegenüber dem der Gesunden über¬
spanne. Die Richtigkeit dieser Bemerkung springt ohne weiteres in die
Augen, wenn man die wichtigen Ausführungen liest, welche Herr Ge¬
heimrat Jastrowitz in der Diskussion über den Vortrag des Herrn Lepp¬
mann gemacht hat. Herr Geheimrat Jastrowitz wurde von einer Dame
verklagt, nach 21 Jahren, weil er bei ihr, wie sie sich ausdrückte, eine
Pigure hätte machen lassen, ein Ausdruck, der auch von dem Rechtsanwalt
der Dame konstant festgehalten wurde. Die Dame behauptete, Geheimrat
Jastrowitz und seine damaligen Assistenten hätten durch eine Oberin
ihr quer nach dem Herzen zu, was sie gespürt hätte, unten vom Rücken¬
mark aus bis hinauf in den vierten Ventrikel und in das Kleinhirn stechen
lassen, um zu sehen, ob sie hereditär syphilitisch belastet sei. Durch diese
Manipulation wäre sie in einen Zustand der Raserei und der gänzlichen
seelischen Zerrüttung versetzt worden, sie wäre mannstoll geworden, sie
hätte dadurch ihr ganzes Leben verfehlt. Sie beanspruchte dafür eine
entsprechend hohe Entschädigungsumme. Herr Geheimrat Jastrowitz
mußte alle Mühen und Beschwerden des Prozesses auf sich nehmen und
hatte außerdem noch eine stattliche Summe Gerichtskosten zu bezahlen,
obwohl er, wie zu Beginn des Prozesses vorauszusehen war, natürlich den¬
selben gewinnen mußte.
Solche Erfahrungen und Erlebnisse, wie die eben mitgeteilten,
häufen sich. Ich kann ja auf den schwebenden Prozeß, welcher gegen die
leitenden Ärzte der Anstalt Berolinum, die Herren Sanitätsräte Dr. Fränkel
und Oliven und auch gegen mich angestrengt und noch nicht erledigt ist,
nicht eingehen. Aber auch wir sind wegen Fahrlässigkeit und widerrecht¬
licher Internierung auf eine außerordentlich hohe Schadenersatzsumme
verklagt worden, und noch andere Fälle ließen sich anführen. Da ist es
allerdings hoch an der Zeit, daß die Frage eingehend erörtert werde, ob
nicht zu Beginn des Prozesses, noch bevor in die Verhandlung eingetreten
wird, auf richterliche Veranlassung eine genaue Prüfung der zugrunde
liegenden Tatsachen durch sachverständige Ärzte verlangt werden muß.
Wir müssen hierauf bestehen, nicht allein im Hinblick darauf, daß uns
überflüssige Prozesse und unnütze Geldaufwendungen erspart bleiben
sollen, sondern auch im Hinblick auf die prozessierenden Kranken selbst,
welche durch die sich hinziehende Prozeßführung aufs 'neue in ihrem
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
seelischen Gleichgewicht gestört und erschüttert werden und außerdem
in materieller Hinsicht sich verausgaben, wovor sie geschützt werden
sollten. Es wird sich sicherlich ein Weg finden lassen, um hier den not¬
wendigen Wandel zu schaffen. Es muß den durchaus überflüssigen Pro¬
zessen ein Riegel vorgeschoben werden; dadurch wird natürlich auch die
Allgemeinheit vor ferneren Beunruhigungen bewahrt bleiben können.
Herr Leppmann hat auf das badische Gesetz für Irrenfürsorge vom 25. Juni
1910 die Aufmerksamkeit hingelenkt. Nach seinen Ausführungen spricht
dasselbe zunächst klar und deutlich aus, daß eine Unterbringung eines
Kranken ohne oder gegen seinen Willen nicht bloß dann stattfinden kann,
wenn er gemeingefährlich ist, nein, wenn es sein Interesse fordert. Es
macht die Unterbringung abhängig von der Zustimmung der Regierungs¬
behörde bzw. des zuständigen Bezirksamtes. Es unterscheidet neben der
gewöhnlichen Unterbringung eine dringende, fürsorgliche, in welcher die
Genehmigung der Regierung nachgeholt werden kann, und bezeichnet
als einen besonderen Grund der Dringlichkeit den Heilungszweck. Es gibt
dem Kranken selbst in dem Falle ein Einspruchrecht gegen die Einhaltung,
wenn er keinen gesetzlichem Vertreter hat, z. B. wenn er nicht unter vor¬
läufiger oder endgültiger Vormundschaft steht. Über den Einspruch
entscheidet das Bezirksamt, und gegen den Entscheid desselben steht dem
Kranken bzw. dessen gesetzlichen Vertreter oder dessen Angehörigen Klage
im Verwaltungstreitverfahren zu. Ich muß Herrn Leppmann zustimmen,
wenn er der Ansicht Ausdruck gibt, daß hier wertvolle Grundzüge eines
Irrengesetzes gegeben sind, mit dem man wirtschaften könne. Gleichwohl
wird man noch weitere Maßnahmen in Vorschlag bringen, um eine Beruhi¬
gung der Allgemeinheit herbeizuführen. Ich halte es für sehr zweckmäßig,
wenn den Anstalten durch gesetzliche Verfügung ein psychiatrisch ge¬
nügend vorgebildeter Jurist als Beirat gegeben würde, welcher die Auf¬
gabe hätte, die Rechtsverhältnisse, Vermögensangelegenheiten und Fa¬
milienbeziehungen des in die Anstalt gebrachten Kranken zu berücksichti¬
gen und im Auge zu behalten. Der Kranke hätte dann von Anfang an
einen gesetzlichen Vertreter und Rückhalt, welcher sein Interesse wahr¬
nimmt, und ich glaube, daß durch diese Maßnahme jeder Zweifel im Keim
erstickt werden könne, als sei der Kranke aus unlauteren Absichten inter¬
niert und des Schutzes und der Wahrnehmungen seiner Angelegenheiten
beraubt.
Ich sprach eben, daß der in diesem Sinne wirkende Jurist auch eine
genügende psychiatrische Kenntnis besitzen muß. Dieser Wunsch bzw.
diese Forderung muß dahin erweitert werden, daß überhaupt Juristen,
sofern ihre Sonderbetätigung sich auch auf die Behandlung und Beurteilung
krankhafter Seelenzustände erstreckt, nicht nur vorübergehend eine Vor¬
lesung über Psychiatrie hören oder dann und wann ein Kompendium nach¬
schlagen, sondern durch eigene Anschauung und Betätigung in einer
Irrenanstalt, unter fachmännischer Unterweisung und Belehrung sich
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Psychiatrischer Verein zu Berlin.
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Kenntnisse sammeln. Nur so wird ein ersprießliches Zusammenwirken
zwischen Jurist und Psychiater in der Zukunft möglich sein. Heute finden
leider nur zu oft die Ausführungen des sachverständigen Irrenarztes bei
vielen Juristen kein Echo, da dem Juristen eben die notwendigen Grund¬
lagen in Psychologie und Psychopathologie fehlen.
Aber auch zur Aufklärung der Allgemeinheit durch die Presse muß
etwas geschehen. In einem kleinen Aufsatze „Zur sozialen Bedeutung der
Geisteskrankheiten“ hatte ich schon 1903 auf eine solche Notwendigkeit
hingewiesen. Die Vertreter der Presse sollten, so meinte ich, bevor sie die
Öffentlichkeit alarmierten, erst bei der Anstaltleitung vorstellig werden
und um ausreichende Auskunft nachsuchen. Wenn sie die letztere nicht
erhalten, mögen sie die fragliche Angelegenheit einem wirklich sachver¬
ständigen Arzte unterbreiten. In der Nr. 36 der Psychiatrisch-Neuro¬
logischen Wochenschrift vom Dezember 1910 hat der Geh. Medizinalrat
Dr. Siemens einen Rechtschutz gegen die Angriffe der Presse empfohlen
und seinen bekannten Vorschlag gemacht, der dahin geht, daß eine Art
Rechtsbureau eingerichtet werde, und zwar in Berlin. Der Deutsche
Verein für Psychiatrie soll mit einem tüchtigen Rechtsanwalt in Verbindung
treten. Eins der beiden Vorstandmitglieder, welche in Berlin wohnen,
und ein oder zwei jüngere Vereinsmitglieder in Berlin, die über gewandte
Federn verfügen und Lust und Liebe zur Sache haben, mögen sich der
Mühe unterziehen, die einzelnen Fälle zu studieren. Ein Abonnement auf
die bezüglichen Zeitungsausschnitte werde bei einem der literarischen
Bureaus genommen, und von den beiden Mitgliedern werd$ fortgehend
alles durchgesehen, was in der Presse erscheint. Ergibt sich auch nach
Meinung des Vorstandmitgliedes die Notwendigkeit zum Einschreiten,
so wenden sie sich an den Bechtsanwalt zur Beratung um Unternehmung
der erforderlichen Schritte. Die angegriffenen Kollegen müssen das be¬
treffende Tatsachenmaterial in möglichst schlüssiger Form liefern, ge¬
gebenenfalls den Antrag auf Bestrafung stellen und dem Rechtsanwalt
Vollmacht zu ihrer Vertretung erteilen. In Fällen, welche die Allgemein¬
heit der Psychiater betreffen, erteilt der Vereinsvorstand die Vollmacht.
Der Rechtsanwalt fordert sich alle Unterlagen ein, sucht die Erlaubnis
zur Akteneinsicht nach und geht gegen die Angreifer vor, zwingt sie zum
Widerruf und beantragt die Bestrafung wegen Beleidigung.
Einen im wesentlichen verwandten Vorschlag hat in der Nr. 31 der
Psychiatrisch-Neurologischen Wochenschrift 13. Jahrgang Herr Oberarzt
Dr. Beyer- Bayreuth -Herzoghöhe gemacht. Er führt sehr richtig aus:
»Nicht die Kommission soll über einen einzelnen Fall ein Urteil abgeben,
sondern die Presse oder das Publikum sollen sich selbst ein Urteil bilden,
und die Kommission soll ihnen dazu das Material liefern.“ Der wesent¬
lichste Unterschied gegenüber der bisher latent gebliebenen Kommission
besteht also, wie Dr. Beyer hervorhebt, darin, daß sie nicht gegen die
Presse arbeiten soll, sondern mit ihr, daß sie den Vertretern derselben ihre
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Verbandlangen psychiatrischer Vereine.
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Aufgabe, das Publikum aufzuklären, erleichtert. Die Kommission soll
sich mit dem Standesverein der Presse in Verbindung setzen und sich
erbieten, das nötige Material zur Verfügung zu stellen, eventuell in enger
Fühlung mit ihm den betreffenden Fall zu prüfen. Ich bedauere außer¬
ordentlich, daß in seiner letzten Jahresversammlung der Deutsche Verein
für Psychiatrie den Vorschlag des Herrn Siemens eigentlich hat auf sich
beruhen lassen, und ich möchte erneut die Anregung geben, eine Kom¬
mission zu ernennen, welche die Prüfung der Vorschläge der Herren Siemens
und Beyer wieder aufnimmt, aber auch zu einer praktischen Durchführung
bringt. Es darf nicht weiter mit angesehen werden, daß die Presse in
einseitiger Weise ihre Leser unterrichtet, und nach meinen Erfahrungen
werden wir bei den Redaktionen der großen Tagesblätter ein geneigtes
Ohr finden, um so leichter, wenn nicht der gerade angegriffene Arzt allein
das erforderliche Material herbeibringt, sondern eine Kommission von
Fachärzten unter Zuziehung eines Rechtsanwaltes durchaus objektiv die
notwendigen Tatsachen in gemeinverständlicher Weise darstellt und in
einer zur Mitteilung geeigneten Form den Redakteuren unterbreitet. Bei
der Durcharbeitung und Präzisierung dieses Vorschlages wird natur¬
gemäß der Paragraph betreffend Schweigepflicht und Wahrung des ärzt¬
lichen Berufsgeheimnisses zu berücksichtigen sein. Dabei ist zu bedenken,
daß der Arzt nicht auf seine Initiative hin den Fall an die Öffentlichkeit
bringt, sondern nur notgedrungen in der Abwehr handelt; gleichzeitig ist
auch in Betracht zu ziehen, daß der Angreifer selbst über seine Angelegen¬
heit Mitteilungen macht, wie bekannt, zumeist ja in entstellter Weise,
so daß es sich also nur von seiten des angegriffenen Arztes um eine Be¬
richtigung handelt, und endlich gebe ich zu erwägen, daß wir bei unsern
Mitteilungen uns nicht allein auf Beobachtungen, die wir an der unter¬
suchten Persönlichkeit gemacht haben, stützen, sondern für unser Urteil
auch Berichte verwenden, die wir von Angehörigen und andern Personen
empfangen haben, welche mit dem Internierten in Beziehung stehen.
Auch wird es sich verlohnen und im Hinblick auf die erforderliche Auf¬
klärung des Publikums von großem Wert sein, wenn wir einerseits die
Fälle sammeln, in denen der Allgemeinheit durch Geisteskranke Nachteil
und Schaden erwachsen ist, und andererseits jene Fälle zusammenstellen,
welche durch Scheu vor der Irrenanstalt und durch verzögerte Unter¬
bringung in dieselbe einen üblen Ausgang genommen haben. In der
Diskussion über den Vortrag des Herrn Leppmann in der Medizinischen
Gesellschaft hat bereits Herr Munter den gleichen Gedanken ausgesprochen,
und ich hoffe, daß seiner Verwirklichung bald näher getreten werde.
Ferner wird es darauf ankommen, die uns Irrenärzten wohl klaren
Begriffe der Gemeingefährlichkeit und des Vorhandenseins einer Möglich¬
keit, mit dem Kranken eine Verständigung herbeizuführen, auch für
Juristen und gebildete Laien in nicht mißzuverstehender und erschöpfender
Weise zum Ausdruck zu bringen. Auch hier dürfte es sich empfehlen,
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Psychiatrischer Verein zu Berlin.
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unsern Anschauungen und Forderungen dadurch Entgegenkommen und
Gehör zu verschaffen, daß eine Kommission eine Fassung vorschlagt,
welche nach Billigung des Deutschen Vereins für Psychiatrie dann all¬
gemeine Geltung beanspruchen sollte.
Ferner müssen wir als selbstverständliche Forderung hinstellen,
daß auch die Gutachten, welche zur Unterbringung eines Kranken in eine
Anstalt erforderlich sind, möglichst eingehend erstattet werden und eine
präzise nicht mißzuverstehende Symptomatologie des Falles enthalten.
Verbreitet ist die Annahme, daß zu einem Aufnahmeattest die Unterschrift
iweier praktischer Ärzte notwendig ist. Das ist ein Irrtum; aber man
könnte ihn insoweit berichtigen, als wir es für wünschenswert erachten,
daß neben der Begutachtung durch einen praktischen Arzt noch die
Untersuchung durch einen Psychiater zu erfolgen hätte.
Diese Forderung sollte auch ausgedehnt werden auf die Erstattung
von Gutachten in Strafsachen und im Entmündigungsverfahren. Für uns
iwar eine Selbstverständlichkeit, muß es aber doch ausgesprochen werden:
die Psychiatrie ist eine Wissenschaft so schwieriger Natur, daß nur lang¬
jähriges Studium und eigentlich steter Umgang mit den Kranken die
Möglichkeit gibt, die notwendigen Grundlagen und Handhaben für die
Abfassung eines wissenschaftlich begründeten Gutachtens zu erwerben.
Damit will ich natürlich nicht sagen, daß Fachleute unfehlbar sind. Irren
ist menschlich, und auch sie können irren; aber die Gefahr des Irrtums
wird bei ihnen doch immer in engen Grenzen eingefriedet liegen. Freilich
sollte man es als eine Selbstverständlichkeit ansehen, bei Nachprüfungen
von Gutachten mit großer Umsicht und Vorsicht zu Werke zu gehen.
Leider ist es in letzter Zeit nicht so selten vorgekommen, daß Gutachten
abgegeben wurden, ohne daß vorher die Krankheitgeschichte der Anstalt
>*ingefordert wurde, in der der zu begutachtende Fall sich bislang befunden
hatte. Ich selbst könnte hiervon Bemerkenswertes berichten, doch will
i'h von meinen persönlichen Erfahrungen Abstand nehmen. Aber sie
veranlassen mich, mit Nachdruck die oben gestellten Forderungen zu
erheben. Auch muß gesagt werden, daß jede Anstalt, welche einen fach¬
männisch gebildeten Arzt zum Leiter hat, als geeignet anzusehen ist,
forensische Fälle zu begutachten. Es darf in dieser Hinsicht kein künst¬
licher Unterschied zwischen den verschiedenen Kategorien der Anstalten
eemacht werden; durch die prinzipielle Gleichstellung der Anstalten kann
mit dahin gewirkt werden, schädliche Vorurteile zu beseitigen.
Schließlich will ich noch einen Punkt kurz erörtern, der gleichfalls
in der Öffentlichkeit zur Besprechung Veranlassung gab und weiterhin
gibt. Gegen die Privatanstalten wird der Verdacht ausgesprochen: um
materiellen Gewinnes willen sei man bereit, bei der Aufnahme von Kranken
etwas weniger vorsichtig zu sein, und der klingenden Münze zuliebe sei man
vielfach bereitwillig. Kranke über Gebühr zurückzuhalten. Vor Fach¬
leuten brauche ich ebensowenig auf diese Anwürfe einzugehen, wie ich es
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
nicht für nötig erachte, die öffentlichen Anstalten in Schutz zu nehmen,
weil wiederholt gegen sie der Vorwurf erhoben wurde und wird, sie stellen
sich in Abhängigkeit und in den Dienst der Polizei, um etwa politisch
mißliebige Elemente in die Irrenanstalt aufzunehmen und dort festzuhalten.
Diesem Vorurteil bin ich bei gebildeten Laien und Juristen begegnet.
In meiner Abhandlung „Zur Behandlung der forensischen Alkoholisier
im 64. Bande der Zeitschrift für Psychiatrie hatte ich darauf hingewiesen,
daß die Polizei in der Lage ist, jeden von uns unterstützten Antrag auf
Entlassung bis auf weiteres abzulehnen. Es mag sein, daß durch dieses
Recht der Polizei die öffentliche Meinung in Unruhe geraten ist. Vielleicht
ließe sich hierin eine Abhilfe schaffen, insofern die Polizei nicht einfach
auf dem Verwaltungswege ihr kategorisches Nein erteilen läßt, sondern
ihre Zustimmung oder Ablehnung der gewünschten Entlassung eines
Kranken aus der Anstalt von dem Votum einer Kommission von Sach¬
verständigen abhängig macht. Diese Auffassung, die ich in dem erwähnten
Aufsatze vertrat, habe ich auch heute noch, und ich möchte sie doch
wenigstens zur Erörterung gestellt haben.
Wenn ich nach den vielen bitteren Erfahrungen, die ich gemacht
habe, das Eine erreichen könnte, daß meine Ausführungen, wenn auch
nur in dieser und jener Hinsicht, einen wirkungvollen Nachhall fänden,
so würde ich es dankbar begrüßen.
D i s k u s s i.o n. — Falkenberg - Herzberge: Bei der Beurteilung der
derzeitigen ablehnenden Haltung weiter Kreise gegen unser Arbeitgebiet
darf der Gang unserer modernen politischen Entwicklung, die zu einer
Überspannung des Begriffs der persönlichen Freiheit und einer Über¬
schätzung ihres Schutzbedürfnisses neigt, nicht außer acht gelassen werden.
Dieser Entwicklung müssen wir, auch wenn wir sie nicht billigen, Rechnung
tragen und der scharfen Abwehr unberechtigter Angriffe positive Vor¬
schläge zufügen; auch von einem Gegner, dessen Prämissen zurück-
gewiesen werden müssen, soll man lernen. Von den einzelnen recht be¬
achtenswerten Anregungen des Vortragenden dürfte der Vorschlag auf
Beiordnung eines juristischen Beirates zur Prüfung und Wahrnehmung
der persönlichen und vermögensrechtlichen Interessen der Kranken gewiß
manche Vorteile bieten. Die Klagen über mangelnden Rechtschutz der
Kranken werden durch ihn aber ebensowenig beseitigt werden, wie durch
die von anderer autoritativer Seite erstrebte Ausdehnung der Pflegschaft
(§ 1910 BGB.) auf möglichst alle Aufgenommenen. Die Pflegschaft an
sich macht den Bepflegten, abgesehen von den wenigen im Gesetz an¬
geführten Einzelfällen, nicht unfähig, seine Geschäfte selbst zu führen:
sein Wille bleibt neben dem seines Pflegers rechtlich bestehen, und im
Streitfall muß für jede einzelne mit den Willensäußerungen des Bepflegten
nicht übereinstimmende Unterlassung oder Handlung des Pflegers erst
der Nachweis geführt werden, daß der Wille des Kranken als der eines
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Geschäftsunfähigen rechtlich nicht beachtlich ist. Diese Notwendigkeit
läßt weder die Ausdehnung der Pflegschaft im Sinne des BGB. auf mög¬
lichst alle Kranke noch die Einführung des juristischen Beirats im Sinne
des Vortragenden als gangbaren Weg erscheinen, um zu einer gesetz¬
lichen Vertretung des Kranken zu gelangen, die kraft eigenen Rechtes,
unter Aufsicht der zuständigen staatlichen Instanzen', während des An¬
staltsaufenthaltes des Kranken fürsorglich über dessen Vermögen und
Person, insbesondere, was uns heute besonders interessiert, über das
Verbleiben in der Anstalt, bestimmen könnte. Daß die Entmündigung,
die an sich diese Forderungen erfüllen würde, im allgemeinen nicht als
Voraussetzung für die Zurückhaltung des Kranken in der Anstalt gelten
darf, braucht in diesem Kreise ja nicht weiter ausgeführt zu werden.
Wichtiger als die Einzelvorschläge des Vortragenden scheint aber
eine präzise Stellungnahme zu der grundsätzlichen
Frage, ob unser Irrenwesen einer neuen gesetz¬
lichen Regelung bedarf. Bis vor kurzem ist diese Frage
von den Psychiatern, die mit Recht in dem Verantwortlichkeits- und Pflicht¬
gefühl des Arztes den besten Schutz der Kranken erblickten und von
unzweckmäßigen gesetzlichen Bestimmungen eine Schädigung der Inter¬
essen ihrer Kranken befürchteten, fast stets verneint worden. Erst in den
letzten Zeiten beginnt sich ein Umschwung vorzubereiten: Inzwischen
ist das Badische Gesetz erlassen und hat gezeigt, daß auch ein Gesetz
nicht notwendigerweise eine Erschwerung der Aufnahmen oder sonstige
Schädigungen mit sich bringen muß; das Interesse an den das Irren wesen
berührenden rechtlichen Problemen hat zu weiterer Fragestellung an¬
geregt, und an die Frage nach ausreichendem Schutz für die Geistas¬
kranken hat sich die weitere nach ausreichendem Schutz der Gesunden
vor Geisteskranken angeschlossen. Auf Grund solcher und anderer
Erwägungen hat erst vor wenigen Wochen A. Leppmann in seinem Vortrag
in der Berliner Medizinischen Gesellschaft die Forderung nach einem
Irrengesetz erhoben. Juliusburger ist ihm gefolgt und auch i c h stehe
nicht an, diese Forderung als eine recht dringende zu bezeichnen. Ver¬
gegenwärtigt man sich, soweit es im Rahmen einer kurzen Diskussions-
bemerkung überhaupt möglich ist, die gesetzlichen Grundlagen, auf denen
das Irrenwesen in Preußen beruht, so sind für die öffentlichen
Anstalten namentlich zwei Bestimmungen hervorzuheben: die eine ist
die bekannte Vorschrift des Allgemeinen Landrechts, Teil II, Titel 17,
S 10: „Die nötigen Anstalten zur Erhaltung der öffentlichen Ruhe,
Sicherheit und Ordnung und zur Abwendung der dem Publiko oder
einzelnen Mitgliedern desselben bevorstehenden Gefahr zu treffen, ist das
Amt der Polizei“ (und in Anlehnung hieran der § 6 des Gesetzes über die
Polizeiverwaltung vom 11. März 1850, nach dem zu den Gegenständen
der ortspolizeilichen Vorschriften gehören: a) der Schutz der Personen und
des Eigentums.f) Sorge für Leben und Gesundheit); die andere
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
findet sich im Preußischen Ausführungsgesetz zum Reichsgesetz über den
Unterstützungswohnsitz (in der Fassung vom H. Juli 1891), das den Land¬
armenverbänden die Verpflichtung auferlegte, für Bewahrung, Kur und
Pflege der hilfsbedürftigen Geisteskranken usw., soweit sie der Anstalt¬
pflege bedürfen, in geeigneten Anstalten Fürsorge zu treffen, und dessen
§ 31 b lautet: „Die Bestimmungen über die Aufnahme und Entlassung
der Anstaltpflegebedürftigen.werden in Reglements getroffen,
welche der Genehmigung der zuständigen Minister unterliegen.“ Die
gelegentlich aufgestellte Behauptung, daß das preußische Irrenwesen der
gesetzlichen Grundlagen entbehre, ist also irrig, eine andere Frage ist aber,
ob diese Grundlagen ausreichen. Ob die Vorschrift des Allgemeinen Land-
rechts wirklich eine so extensive Auslegung gestattet, wie es irrenärztlicher -
seits vielfach angenommen wird, mag hier unerörtert bleiben, sicher haben
sich bei der Ausführung Mängel gezeigt, auf die Leppmann wiederholt
hingewiesen hat. Sicher ist auch, daß die nach § 31 b des Preußischen
Gesetzes erlassenen Reglements recht erhebliche Verschiedenheiten zeigen,
gerade mit Bezug auf die Fragen, die zu dem heutigen Vortrage in Be¬
ziehung stehen (genaue Bezeichnung der Behörden und Privatpersonen,
die zur Stellung des Antrages auf Aufnahme eines hilfsbedürftigen
Kranken berechtigt sind; Vorschriften über das einzuschlagende Ver¬
fahren, falls die Ortspolizeibehörde die Aufnahme eines Kranken, für den
in seiner hilflosen Lage nicht ausreichend gesorgt wird, für nötig hält,
der gesetzliche Vertreter, einer der nächsten Verwandten oder die Ehe¬
frau der Aufnahme aber widersprechen; Versagung der Entlassung wegen
fortbestehender Anstaltpflegebedürftigkeit, obgleich der fürsorgepflichtige
Armenverband die Entlassung beantragt, u. a.). Ein Vergleich der für
Brandenburg und für Berlin geltenden Reglements wird das ohne weiteres
zeigen; die für die anderen Provinzen erlassenen Reglements sind aber,
wenn ich nicht irre, wieder von diesen beiden Reglements und auch unter
sich verschieden, und doch bilden gerade diese reglementarischen Aus¬
führungsbestimmungen auf Grund des § 31 b nicht nur formal, sondern
auch materiell die rechtliche Grundlage für die Aufnahme, Behandlung
und Entlassung aller hilfsbedürftigen Kranken. Wenn man erwägt, von
wie ausschlaggebender Wichtigkeit bei allen rechtlichen Fragen gerade der
Wortlaut der anzuwendenden Bestimmungen ist, kann diese Mannig¬
faltigkeit und Verschiedenheit schwerlich als zweckmäßig oder als un¬
wesentlich erachtet werden. Die Verschiedenheit der Reglements bringt
es auch mit sich, daß in dem einen Fragen ausführlichst und unter An¬
führung von Details behandelt werden, über die das andere Reglement
mit einem kurzen Satz hinweggeht, ohne daß sich behaupten ließe, daß
das letztere durch seine allgemeinere Fassung eine erschöpfendere Ant¬
wort gebe; die lokal begrenzte Gültigkeit der Reglements führt daher in
der Praxis auch zu verschiedener Auslegung und Handhabung einzelner
Vorschriften. Die Forderung nach einer größeren Einheitlichkeit und
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Übersichtlichkeit der gesetzlichen Bestimmungen erscheint danach be¬
rechtigt ; ihre Erfüllung wird, zumal auch eine Ergänzung der Vorschriften
über die Bestellung einer gesetzlichen Vertretung der Kranken, über die
Entlassung und ihre eventuelle Versagung (und zwar nicht nur bei sicher¬
heitsgefährlichen, sondern auch bei nur hilfsbedürftigen Kranken) u. a. not¬
wendig werden dürfte, ohne Inanspruchnahme der Gesetzgebung nicht
zu erwarten sein. Der Einwand, daß es sich bei einem solchen neuen
Gesetz im wesentlichen nur um eine Kodifikation des bestehenden Rechts
handeln würde, wird, auch wenn er zuträfe, nicht zur Ablehnung der
Forderung führen dürfen. Auch eine solche Kodifikation schafft größere
Klarheit, hilft dem Arzt die Verantwortung leichter tragen und gibt
ihm einen sichereren Boden für die Zurückweisung ungerechtfertigter
Beschuldigungen; vor allem aber schafft sie einheitliches Recht und gibt
der Rechtsprechung Gelegenheit, maßgebende Grundsätze für die An¬
wendung der einzelnen Bestimmungen aufzustellen und dadurch zur
Klärung etwaiger strittiger Fragen beizutragen. Fehler und Uneben¬
heiten, die der ersten Gesetzgebung anhaften könnten, werden sich, wie
die Geschichte der in den letzten Jahren erlassenen Gesetze zeigt, auf
dem Boden der durch die Judikatur gewonnenen Erfahrung später ändern
und ausgleichen lassen.
Zinn -Eberswalde: Die Forderung eines Irrengesetzes ist neuerdings
auch in den Reihen der Psychiater wiederum mehr und mehr laut geworden,
t'nd wenn ich dieses Verlangen auch für wohl begreiflich und berechtigt
halte, so kann ich mich dem Drängen nach Verwirklichung dieser Forderung
doch nur unter der Voraussetzung anschließen, daß der Auf- und Ausbau
eines solchen Gesetzes auf der Grundlage der Anerkennung der Irren¬
anstalten als Krankenanstalten und ihrer ersten und wichtigsten Zweck¬
bestimmung der Heilung, Besserung und Pflege einer bestimmten Art von
Kranken, eben der Geisteskranken, gesichert ist. Ich muß dessen gewiß
sein können, daß in dem verlangten Irrengesetz die tatsächlichen Interessen
unserer Kranken vertreten und gewahrt werden nach den Forderungen
der Irrenheilkunde in Wissenschaft und Praxis, und nicht nach mehr
oder weniger gut gemeinten, in ihrer Wirkung aber verfehlten Vorschlä-
nen und Anschauungen von Ratgebern, die, wie die Ausführungen des
Herrn Vortragenden von neuem gezeigt haben, wegen mangelnder oder
unzureichender Sachkenntnis hierzu weder berufen noch befugt sind.
Was wir da über die vermeintlich zweckmäßigste Gestaltung der Auf¬
nahmebedingungen, was wir, selbst von ärztlicher Seite, für Ansichten
und Urteile über Irrenwesen und Irrenfürsorge soeben in dem Vortrage
gehört haben, das beweist nur von neuem, daß es leider auch unter den
Gebildeten noch viele Leute gibt, die von diesen Dingen wenig oder gar
nichts verstehen und doch zum Berichterstatter und Berater der öffent¬
lichen Meinung sich berufen fühlen und die Verantwortung dafür glauben
tagen zu können.
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Ein Irrengesetz, wie ich es mir vorstelle, hätte in erster Linie an
Aufnahmebedingungen festzuhalten, die, bei aller Rücksicht auf den
Schutz der persönlichen Freiheit und die Rechte der Person, auf die Forde¬
rungen der sozialen Gesetzgebung, auf die Sicherstellung der Kosten usw.
usw., die Aufnahme der Kranken möglichst einfach gestalten — ähnlich
denen der allgemeinen Krankenanstalten — sie also tunlichst erleichtern
und nicht erschweren; ein solches Gesetz hätte weiter die Entlassung
und die Zurückhaltung der Kranken in einer ihren eigenen Interessen
und denen der Außenwelt entsprechenden und nicht von Vorurteilen und
allerlei abenteuerlichen Ansichten und Anschauungen genährten Weise
zu regeln; es hätte weiter, wie es neuerdings besonders von Leppmann
hervorgehoben worden ist, auch dem Psychiater, dem Anstaltarzt Schutz
zu gewähren gegen ungerechtfertigte Angriffe, Verleumdungen und Ver¬
dächtigungen aller Art, wie sie jetzt wieder mal an der Tagesordnung sind,
und endlich auch den Arzt in den Stand zu setzen, Einflüsse und Ein¬
wirkungen von seinen Kranken fernzuhalten, die sie direkt oder indirekt
zu schädigen und den Zweck der ärztlichen Anstaltbehandlung in Frage
zu stellen und zu vereiteln geeignet sind. Wenn Aussicht ist, ein solches
Irrengesetz, wie ich es oben in groben Zügen gezeichnet habe, zu bekommen,
dann soll es je eher je lieber willkommen sein. Und fast könnte es scheinen,
als ob wir dieser glücklichen Zeit schon sehr nahe wären, wenn wir nach
Baden blicken, wo ein erfreulicher Ansatz für ein solches Irrengesetz
neuerdings bereits gemacht ist. Aber es ist wohl kein Zweifel, daß Hoff¬
nung auf Übernahme dieses Gesetzes auf Preußen oder das Reich nicht
gesetzt werden kann, schon aus äußeren und verwaltungstechnischen
Gründen; und wenn ich dann weiter mir nicht verhehle, welche Anschau¬
ungen über Geisteskranke und Irrenanstalten heute noch ganz allgemein
und gerade auch unter den Gebildeten verbreitet sind, wenn ich die ge¬
legentlichen Verhandlungen über dieses Thema in den parlamentarischen
Körperschaften mir ins Gedächtnis zurückrufe, wenn ich die heutigen
Zeitläufte, wie sie nun einmal sind, betrachte, dann, meine Herren-, wird
mein Verlangen nach einem Irrengesetz wieder stille, und es will mir ratsam
scheinen, in Geduld besserer Zeiten zu harren, bis die Erkenntnis der
Wahrheit, die schließlich doch siegen muß, und alles dessen, was in diesen
Dingen wirklich zu Nutz und Frommen ist, mehr und mehr Gemeingut
Aller geworden ist. Denn ich kann mich der Überzeugung nicht ent-
schlagen, daß ein aus den heutigen Zeitverhältnissen heraus gemachtes
Irrengesetz nicht zum besseren, sondern nur zum schlechteren ausfallen
kann und muß. In dieser Auffassung kann mich der Blick auf den neuen
österreichischen Entwurf eines Irrengesetzes nur eindringlich bestärken
und liegt es sehr nahe, ihn als Muster auch für unsere Verhältnisse emp¬
fohlen zu sehen. Aus all diesen Gründen kann ich mich dem Verlangen
in unseren Reihen nach einem Irrengesetz heutzutage nicht anschließen,
ich halte die Zeit dazu für noch nicht gekommen und warne, allzu begierig
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Psychiatrischer Verein zu Berlin.
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danach zu sein. Das enthebt aber nicht der Pflicht, wo nur irgend möglich,
in Wort und Schrift, an der Aufklärung aller Gesellschaftsklassen über
alles, was mit dem Irrenwesen zusammenhängt, weiter zu arbeiten und
so bessere Zeiten mit mehr Verständnis und mehr Einsicht für das, was
nottut, herbeizuführen. Und da mit am wirksamsten die Aufklärung von
Mund zu Mund ist, so mögen besonders auch alle die Berufenen unter uns,
die Gelegenheit haben, mit maßgebenden öffentlichen Persönlichkeiten,
mit den Mitgliedern der gesetzgebenden Körperschaften in Berührung zu
kommen, ihre Stimmen immer wieder ertönen lassen.
Und nun zu den Vorschlägen zur Abwehr der in letzter Zeit wiederum
zunehmenden Angriffe auf die Psychiater; ich nehme sie nicht allzu tra¬
gisch, sie sind, solange ich mich als Irrenarzt dessen erinnern kann, noch
nie ganz verstummt, in neuerer Zeit allerdings wieder einmal mächtig
• raporgediehen. Wie schwer es ist, zu ihrer Abwehr das Richtige zu treffen,
las hat der Herr Vortragende an verschiedenen Beispielen gezeigt; ich
erinnere an die von ihm mitgeteilten Aussprüche, die von Ärzten aus
unseren Reihen in bester Absicht gemacht, dabei aber leicht ins Gegenteil
und zum Schaden der von ihnen vertretenen guten Sache ausschlagen
können. Eis werden diese Abwehrmaßregeln ganz besonders eingehend
überlegt und beraten werden müssen. Wenn ich nicht irre, hat der Deutsche
Verein für Psychiatrie die Standeskommission mit dieser Materie befaßt
und können wir danach wohl heute von der Einsetzung einer besonderen
Kommission absehen und die Vorschläge der Standeskommission abwarten.
Auf eines möchte ich aber trotzdem nicht ganz verzichten, das ist die Bitte
um kurze tatsächliche Berichtigungen aller der Fälle, in denen bei solchen
Angriffen die Tatsachen in einer die Öffentlichkeit beunruhigenden, irre¬
führenden und oft sensationellen Weise entstellt sind. Daß derartige
Schilderungen oft wochen- und monatelang unberichtigt bleiben, halte
ich im Interesse der öffentlichen Meinung und aller Beteiligten für äußerst
schädlich und nachteilig. Und ich glaube, daß wir uns da vor dem § 300,
dessen Wert für das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Kranken wir
ulle wohl gleich hochschätzen, nicht allzu ängstlich und engherzig zu hüten
brauchen. Die Darstellungen in den Zeitungen begnügen sich in der
Regel nicht mit allgemeinen Andeutungen, sie gehen vielmehr meist ganz
eenau in die Einzelheiten — Namen, Daten usw. — ein, so daß eine Be¬
richtigung in dieser Beziehung tatsächlich nichts Neues in die Öffentlich¬
keit bringt. Und wenn ich sehe, in welcher Weise nicht nur Wissen und
Können, sondern vor allem auch Zuverlässigkeit und Pflichttreue, wie
Ehre und Ansehen und die ganze gesellschaftliche und wirtschaftliche
Stellung des Arztes in solchen Angriffen bloßgestellt wird, so kann ich mir
nicht denken, daß eine solche tatsächliche Berichtigung, die sich auf das
zur Klarstellung unbedingt Erforderliche beschränkt und darüber hinaus
Einzelheiten ohne Not nicht preisgibt, als ein Verstoß gegen das Berufs¬
geheimnis ausgelegt oder gar bestraft werden könnte. Es stehen dem
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
nicht nur die berechtigten Interessen des Einzelnen, sondern vor allem
auch Rücksichten allgemeiner öffentlicher Art entgegen.
Hans LoeAr-Schweizerhof: Auch ich erwarte keine Besserung von
einem jetzt im Reichstag oder in den preußischen Kammern einzubrin¬
genden Irrengesetz. Die Antwort auf die Frage, ob ein Gesetz oder die
gegenwärtige Regelung durch Verordnungen vorteilhafter scheint, hängt
wesentlich davon ab, ob man bei der Volksvertretung oder bei den Be¬
hörden größere Sachkenntnis und Unbefangenheit voraussetzt, und da
meine ich, daß man es der Regierung wohl Zutrauen kann, ein zweck¬
entsprechendes Irrengesetz, etwa nach Art des badischen, einzubringen,
unsren Parlamenten aber kaum, es ohne erhebliche Verschlechterung
anzunehmen. Diese materielle Verschlechterung würde den Vorzug der
Einheitlichkeit, so hoch dieser auch einzuschätzen ist, bei weitem über-
wiegen. Aber das ist persönliche Ansicht und berührt kaum die uns heute
beschäftigende Frage der Abwehr ungerechter Angriffe. Denn ob wir
nach Maßgabe von Gesetzen oder von Verordnungen handeln, ist in dieser
Hinsicht gleich. Auch das zweckmäßigste Irrengesetz wird irrtümliche
Beschuldigungen nicht verhindern noch vermindern. Gegen diese kann
der Beschuldigte vorgehen. Er kann in einzelnen Fällen berichtigen.
Allerdings glaube ich, daß ihm hierin recht enge Grenzen gezogen sind
durch die Pflicht, das Berufsgeheimnis zu wahren. Bei dem Vorwurf
ungerechtfertigter Freiheitberaubung z. B. kann wohl die formale Be¬
rechtigung der Aufnahme in die Anstalt öffentlich festgestellt, selten aber
die Notwendigkeit der Aufnahme materiell dargetan werden, ohne die
Schweigepflicht zu verletzen. Häufiger wird der Angegriffene klagen,
gegebenenfalls den Schutz seiner Behörde anrufen oder eine Untersuchung
beantragen können. Sehr viel schwieriger ist es, Mittel anzugeben, wie
Angriffen auf Einzelne oder den ganzen Stand zweckmäßig von Vereins
wegen zu begegnen ist; wie schwierig, ersieht man daraus, daß auf der
letzten Jahresversammlung des Deutschen Vereins für Psychiatrie die
darauf bezüglichen Vorschläge der Standeskommission dieser selbst nach
nochmaliger Durchberatung unzweckmäßig erschienen und deshalb von
ihrem Vorsitzenden zurückgezogen wurden. Das Ergebnis neuer Be¬
ratungen wird uns in Kiel vorgelegt werden. Ich glaube nicht, daß die
weitgehenden Hoffnungen, die Manche auf eine Vereinsveranstaltung
setzen, sich erfüllen können. Am aussichtreichsten erscheint mir noch
der Versuch, gemeinsam mit dem deutschen Presseverein eipe Kom¬
mission zu bilden, welche einschlägige Fälle besprechen und, wo dies angeht
und nützlich erscheint, Berichtigungen erlassen könnte, die gewiß von
Wert wären. Solches Zusammenarbeiten könnte aber auch in andrer
Richtung nützen, wenn anders das Meiste von der Aufklärung des Publi¬
kums zu erwarten ist. Diese kann nicht durch den Verein als solchen oder
eine Kommission, sondern nur durch Einzelne erfolgen, und sie wird am
wirksamsten sein, wenn sie durch die Tagespresse verbreitet wird, die nun
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Psychiatrischer Verein zu Berlin.
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einmal am weitesten dringt. Ließe es sich in größerem Umfang ermög¬
lichen, daß auch Psychiater in persönliche Fühlung mit Zeitungsredaktio¬
nen kommen und ihnen dauernd als Berater und Mitarbeiter zur Seite
stehen, so wäre sehr viel gewonnen. Dieser Verbindung könnte aber aus
einem, wenn auch nur gelegentlichen, gemeinsamen Zusammenarbeiten
von Beauftragten des deutschen Pressevereins und des Deutschen Vereins
für Psychiatrie erhebliche Förderung erwachsen.
M. Edel -Charlottenburg berichtet, daß bereits von seiten der Ver¬
einigung der Privatirrenanstaltleiter Schritte unternommen seien, mit der
Presse zwecks gemeinsamer Aufklärung des Publikums Fühlung zu nehmen.
Herr Friedländer habe dankenswerterweise den Redakteur der Frankfurter
Zeitung gewonnen, und dieser habe sich dem Vernehmen nach bereit
erklärt, mit Vertretern der psychiatrischen Vereinigung zu beraten, wie
an den Reichsverband der deutschen Presse heranzutreten sei. Wenn die
Aufklärung des Publikums durch die Presse mit Hilfe einer psychiatrischen
Kommission naturgemäß auch erst später erfolgen könne, so sei dies doch
auch dann noch voraussichtlich von großem Nutzen und würde sicherlich
zur Beruhigung des Publikums dienen. Für ein preußisches Irrengesetz
halte ich auch aus den von Herrn Zinn angeführten Gründen die Zeit noch
nicht für gekommen.
Die von Herrn Juliusburger und Herrn Leppmann betonte Notwendig¬
keit besserer psychiatrischer Vorbildung der Juristen teile ich voll und
ganz. Ich kann berichten, daß Herr Gerichtsarzt Strauch mit mir seit
zwei Semestern für Juristen regelmäßig Vorlesungen mit Demonstration
von Kranken hält, und daß die Herren Juristen mit großem Eifer und
Interesse den Ausführungen folgen.
James FraenAef-Lankwitz: Aus den sehr lehrreichen und sach¬
gemäßen Ausführungen des Herrn Juliusburger , die so manche wertvolle
Anregung enthalten, möchte ich mir erlauben, nur einen wichtigen Punkt
zu erwähnen, der allgemeines Interesse erheischt, nämlich den § 1910BGB.
..Es kann ein Volljähriger, der nicht unter Vormundschaft steht, einen
Pfleger erhalten, wenn er infolge körperlicher oder geistiger Gebrechen
seine Angelegenheiten nicht zu besorgen vermag.“ Diese Bestimmung
ist völlig einleuchtend und bedarf keiner weiteren Auseinandersetzung,
um so weniger als die Begriffe „körperliches“ und „geistiges Gebrechen“
•n den Kommentaren genügend erklärt werden. Zu Meinungsverschieden¬
heiten gibt aber der Zusatz Anlaß, nach welchem nur mit Einwilligung
des Gebrechlichen die Pflegschaft angeordnet werden darf, es sei denn, daß
eine Verständigung mit ihm nicht möglich Ist. Wenn auch der Begriff
..Verständigung“ streng genommen kein rein medizinischer ist, und die
Juristen seine Definition für sich in Anspruch nehmen, so soll doch stets
der sachverständige Arzt sein Urteil über die Verständigungsmöglichkeit
mit einem Gebrechlichen abgeben, da an ihn eine diesbezügliche Anfrage
vor Einsetzung einer Pflegschaft ergeht.
ZrftMhiift tat Psychiatrie. LUX. 6. 10
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146
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Wie das Gesetz den Begriff „Verständigung“ aufgefaßt "wissen will,
darüber existieren eine Reihe vielfach auseinandergehender juristischer
und psychiatrischer Erläuterungen. Zunächst muß festgestellt werden,
daß der Begriff sich aus zwei Komponenten, dem „Verstehen“ und dem
„Verstandenwerden“ zusammensetzt. Eine Verständigung unter Zweien
kann nur Zustandekommen, wenn der Eine versteht, was der Andere
sagt und meint, und wenn dieser von jenem richtig verstanden wird.
Es ist ferner einleuchtend, daß „Verständigung“ ebensowenig nur die
akustische Aufnahme von Wortbildern, wie die bloße Fähigkeit, seine
Gedanken zu verraten, bedeuten kann. Denn es ist sehr wohl denkbar,
daß ein geistig Gebrechlicher in einer Unterredung alles richtig hört und
ihm kein Wort entgangen ist, sowie daß er ferner mit Redegewandtheit
sich äußert und sogar mit einer gewissen Schlagfertigkeit zu erwidern
versteht; und doch kann man zu dem Schlüsse kommen, daß eine Ver¬
ständigung mit ihm nicht möglich ist. Andererseits wird man sich unter
Umständen mit einem Tauben oder mit einem Stummen, ja sogar mit
einem Taubstummen recht gut verständigen können. — Von einer Ver¬
ständigungsmöglichkeit wird deshalb bei einem Geisteskranken nur die
Rede sein können, wenn er seine Lage vernunftgemäß zu beurteilen ver¬
mag, wenn er genügende Einsicht für die Notwendigkeit der Einsetzung
einer Pflegschaft über ihn besitzt, und wenn seine Gefühlsrichtung nicht zu
erheblichen Schwankungen unterworfen ist. Wenn aber ein geistig Ge
brechlicher, trotz wiederholter gegenteiliger ärztlicher Versicherung,
immer wieder seine geistige Gesundheit betont, wenn er seine Äußerungen
dauernd mit wahnhaften Vorstellungen verquickt, wenn während der
Exploration ein so hochgradiger Affekt eintritt, daß es nicht ratsam
erscheint, sie fortzusetzen, so wird man zu dem Ergebnis gelangen, daß
eine Verständigung mit ihm unmöglich ist. Wie sollte auch ein Ver¬
ständigungsmodus gefunden werden bei jemandem, der sich für geistig
unversehrt hält, der zu Unrecht, lediglich durch Haß und Rachsucht der
Seinigen, interniert sein will und bei der jedesmaligen Rücksprache in
exzessive Erregung gerät? Schon allein infolge des mangelnden Krank¬
heitbewußtsein beurteilt ein solcher Patient seine augenblickliche Situation
falsch; er vermag sie mit den tatsächlichen Verhältnissen nicht in Ein¬
klang zu bringen. Also nur wenn bei einem Geisteskranken die Fähigkeit
einer sinngemäßen Kritik über seine eigenen Angelegenheiten vorhanden
ist, wird die Verständigungsmöglichkeit mit ihm bescheinigt werden können.
Hieraus ergibt sich schon, daß diese in der Mehrzahl der Fälle als aus¬
geschlossen zu erachten sein wird.
Diese Auffassung teilen die meisten Autoren; ihr schließen sich auch
unsere Städtischen Anstalten an, wie ich es häufig genug in den Akten
bestätigt sah. So finden sich wiederholt Pflegschaftatteste nach fol¬
gendem Wortlaut: „Der p.ist geisteskrank nach § 6 BGB.; er
ist unvermögend, seine Angelegenheiten zu besorgen; eine Verständigung
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Psychiatrischer Verein zu Berlin.
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ist mit ihm, als einem Geisteskranken, nicht möglich.“ In anderen Fällen
wird dem erforderten Zeugnis noch nachstehende Bemerkung hinzu -
gefügt: „Wir senden beifolgende Einverständniserklärung des Patienten
ab, bemerken jedoch, daß nach ärztlicher Äußerung die Möglichkeit einer
Verständigung mit ihm als einem Geisteskranken nicht als vorliegend zu
erachten ist.“ Es wird also hier von vornherein subsumiert, daß man
sich mit einem Geisteskranken nicht verständigen kann.
Bisher bin auch ich nach den soeben proklamierten Maximen bei der
Ausstellung von Pflegschaftattesten— ohne jedeBeanstandung— verfahren.
Nur in einem einzigen Falle hat das Gericht nachträglich einen andern
Standpunkt vertreten. Nicht das ärztliche Urteil wurde als maßgeblich
erachtet, sondern vielmehr die eidlich erhärteten Aussagen von Bekannten
und Angestellten des Kranken, die vorher mit ihm in Verkehr standen.
Es erscheint mir wünschenswert, wenn auch vor diesem Forum
recht viele Ansichten über das angeregte Thema laut würden.
Zinn -Eberswalde: Im allgemeinen kann ich mich mit den Aus¬
führungen des Herrn Vorredners einverstanden erklären, und es ist mir
unverständlich, wie aus der von ihm mitgeteilten Auffassung des Be¬
griffs der „Verständigung“ und seiner praktischen Verwertung ein Vor¬
wurf erhoben werden kann. Es ist aber kein Zweifel, daß der Begriff
„der Verständigung“ im Sinne des § 1910 verschiedenartiger Auslegung
unterliegt, und daß er namentlich vielfach viel weiter gefaßt wird. Aus
rein praktischen Gründen pflegen wir in Eberswalde daher in den Fällen,
in denen wir eine Verständigung für nicht möglich halten, eine kurze Zu¬
standschilderung zu geben und damit zu schließen, daß danach „nach
unserem Dafürhalten“ eine Verständigung nicht möglich ist. Damit
heben wir unsere subjektive Auffassung als solche deutlich heraus und
geben dem Richter zugleich Einsicht in die Beweggründe unseres Urteils,
eventuell auch noch mit dem Hinweis, sich selbst durch Rücksprache mit
dem Arzt und durch die persönliche Vernehmung des Kranken in der
Anstalt sein Urteil zu bilden.
Falkenberg- Herzberge kann Herrn Zinn nicht folgen, wenn er aus
dem wahrscheinlichen Inhalt des Gesetzes zu einer Ablehnung der Forde¬
rung einer gesetzlichen Regelung überhaupt kommt. Zunächst teilt er
in Hinblick auf das badische Gesetz nicht die pessimistischen An¬
sichten Zinns und Laehrs ; im übrigen sei es ihm aber in seinen Bemer¬
kungen nicht auf den Inhalt des Gesetzes angekommen, über den man
ja noch später werde diskutieren können, sondern um die hiervon unab¬
hängige grundsätzliche Stellungnahme zu der Frage: Ist die
rechtliche Basis, auf der der Anstaltsarzt bei der Wahrnehmung der Inter¬
essen seiner Kranken steht, in allen Fällen so unangreifbar und eindeutig,
daß eine Änderung nicht notwendig erscheint? Er, für seine Person,
komme zu einer Verneinung der Frage und damit zu der prinzipiellen
Forderung einer neuen gesetzlichen Regelung. Die von Zinn so warm
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
befürwortete Aufklärung dürfe gewiß nicht unterlassen werden, einen
durchgreifenden Erfolg könne er sich aber von ihr allein nicht versprechen.
Zinn -Eberswalde: Um ganz kurz auf die letzten Ausführungen des
Kollegen Falkenberg einzugehen, kann ich nur wiederholen, daß
ich die Frage, ob ein Irrengesetz verlangt werden muß, von der Frage,
wie es, wenn es jetzt verwirklicht wird, voraussichtlich ausfallen wird,
nicht trennen kann. Ein Irrengesetz um jeden Preis scheint mir bedenk¬
lich und gefährlich; nur wenn ich einigermaßen die Garantie habe, daß es
auch wirklich zum Guten ausschlägt, kann ich dem Drängen danach zu-
stimmen, und diese Garantie fehlt bisher noch. Inzwischen mögen wir
uns begnügen in dem Bestreben, die bestehenden Bestimmungen, soweit
sich Lücken gezeigt haben, auf dem Wege der Verordnung, der Regle¬
ments usw. zu ergänzen und zu vervollkommnen.
Liepmann -Dalldorf: Die Frage des Herrn Fraenkel gehört zu denen,
die völlig befriedigend nicht gelöst werden können. Der § 1910 ist nicht
für Geisteskranke, sondern für körperlich oder geistig Gebrechliche
geschaffen, daher ist wohl bei „Verständigung“ ursprünglich an den
gröberen Sinn des Wortes: Fähigkeit, eine fremde Meinung zu verstehen
und die eigene zum Ausdruck zu bringen, gedacht.
Die Anwendung des Paragraphen auf Geisteskranke würde aber zum
großen Teil illusorisch werden, wenn man dann nicht mit Herrn Fraenkel
vernünftigerweise dem Wort „Verständigung“ einen engeren und feineren
Begriff zugrunde legte. Dies geschieht auch ganz allgemein. Um den
Kranken die Wohltat der Pflegschaft nicht zu entziehen und um sich
selbst zu schützen, empfiehlt es sich, zu schreiben: „Mit X., a 1 s e i n e m
Geisteskranken, ist eine Verständigung nicht möglich“; womit
man dem Richter gegenüber ausdrücklich betont, daß man den feineren
psychiatrischen Sinn des Wortes „Verständigung“ im Auge hat.
Warnke -Berlin warnt in Anlehnung an die Ausführungen von Herrn
Direktor Zinn gleichfalls dringend davor, schon jetzt etwa die Materie
der Irrengesetzgebung vor das Forum der gesetzgebenden Körperschaften
zu bringen. Der Mangel an Verständnis in diesen Kreisen sei entsetzlich.
Wolle man Verbesserungen, dann sei der Weg der Aufklärung des Reichs¬
tages z. B. durch eine Kommission, die Material sammle, erwägenswert.
Juliusburger h'A\t seine Forderung eines Irrengesetzes aufrecht und teilt
hierin die Ausführungen des Herrn Falkenberg. Im Gegensatz zu letzterem
hält er eine Aufklärung nach allen Richtungen hin für dringend notwendig.
Zu begrüßen sei die Fassung des Begriffs der Verständigung mit einem
Kranken, wie sie von den Herren Zinn und Liepmann gegeben wurde. Julius¬
burger schlägt eine Kombination beider Fassungen vor 1 ). Hans Laehr.
x ) Inzwischen hat der S. 124 erwähnte Herr seine Klage wegen Be¬
leidigung gegen mich auf eigene Veranlassung und unter Tragung der
Kosten zurückgenommen. Ebenso hat er auf Entschädigungsansprüche
an San.-R. Fraenkel und mich verzichtet. J.
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Kleinere Mitteilungen.
Ein Kursus und Kongreß für Familienforschung, Ver-
erbungs- und Regenerationslehre findet vom 9. bis 13. April
in Gießen statt.
Der nächste Kongreß für experimentelle Psychologie
findet vom 16. bis 19. April 1912 in Berlin statt. Referate: G. Deuchler,
Die Psychologie der sprachlichen Unterrichtsfächer: K. Marbe, Die Be*
deutung der Psychologie für die übrigen Wissenschaften und die Praxis;
IT. Stern, Die psychologischen Methoden der Intelligenzprüfung. Mit
dem Kongreß wird eine Ausstellung von Apparaten verbunden sein.
Gleichzeitig mit dem Kongreß wird eine Ausstellung des Instituts für
angewandte Psychologie und psychologische Sammelforschung stattfinden.
Anmeldungen betr. Teilnahme oder Vorträge sind an Geh. - Rat Prof.
Dr. Stumpf (Berlin W., Augsburger Straße 45), Anfragen oder Anmel¬
dungen betr. die Ausstellung von Apparaten an Dr. H. Rupp (Berlin NW.,
Dorotheenstraße 80), Zusendungen betr. die Ausstellung des Instituts
an Dr. O. Lipmann (Berlin-Neubabelsberg, Kaiserstraße 12) zu richten.
Der vom Deutschen Verein für Psychiatrie veranstaltete
Fortbildungskurs für Psychiater wird in diesem Jahre vom
'■ bis 26. Oktober in Berlin stattfinden. Es sind wieder 20 Stunden
für Nervenheilkunde, 20 für Hygiene, 16 für pathologische Anatomie,
1» für Chirurgie, 12 Stunden für innere Medizin in Aussicht genommen.
Beitrag 80 M. Anmeldungen und Anfragen erbeten an San.-R. Dr.
Hans Laehr, Zehlendorf-Wannseebahn, Schweizerhof.
Nekrolog Krömer. — Am 1. November 1911, gerade an
seinem Geburtstage, wurde der Direktor der Provinzial-Irrenanstalt Con¬
radstein bei Preuß. Stargard, Geh. Med.-Rat Dr. Richard Krämer, begraben.
Essei mir, der ich viele Jahre mit dem Heimgegangenen in Freundschaft
verbunden war, vergönnt, dem hervorragenden Arzt und Kollegen einige
Worte der Erinnerung zu weihen.
Richard Krömer wmrde 1849 zu Zöblitz im sächsischen Erzgebirge
als Sohn eines kinderreichen Lehrers geboren. Von seinem Vater in der
lateinischen und französischen Sprache und besonders in der Musik unter¬
richtet und vorbereitet, fand er Aufnahme in dem berühmten Kreuz-
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Kleinere Mitteilungen.
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chore zu Dresden, der den Kirchengesang in der Kreuzkirche, Frauen-
und Sophienkirche leistete und alle Sonnabende in der Vesper die klassi¬
schen Werke von J. Seb. Bach, Mendelsohn, Hauptmann, Homilius u. a.
zur Aufführung brachte. Dafür wurde den Sängern freier Unterricht
im Kreuzgymnasium und freie Station im Alumneum gewährt. Das
letzte Jahr in Dresden hatte R. Krämer als erster Präfekt die Aufführungen
einzuüben und zu leiten. Eine ganze Reihe von Bänden enthalten seine
Lieblingsmotetten, deren Partitur er sich selbst ausgeschrieben hatte.
Ostern 1870 bezog er die Universität Leipzig. Sein Vater hatte ihn nach
bestandenem Abiturium gefragt: „Was willst du nun werden?“ Da hatte
Richard geantwortet: Medizin studieren! „Das kannst du tun, aber geben
kann ich dir nichts dazu.“ — R. Kr. beschaffte sich die Mittel zum Studium
selbst durch Privatstunden geben und andere Arbeiten. Er brachte es
sogar fertig, der Pauliner Sängerschaft anzugehören, um der Frau Musika.
die er so sehr liebte, nicht untreu zu werden. Nur sein unermüdlicher
Fleiß, große Ordnungsliebe und Sparsamkeit und jener feste Wille, der
vor keiner Schwierigkeit zurückschreckt, konnte das Vorhaben gelingen
lassen. In den klinischen Semestern war er Famulus in der chirurgischen
Klinik bei Thiersch, und seine erlangte Geschicklichkeit und Sicherheit
im Operieren hat er später in der Anstalt vielfach verwertet.
Nach beendigtem Staatsexamen wurde er Arzt an der Irrenanstalt
Nietleben bei Halle, die damals unter Koeppe s Leitung stand. Als die
Überfüllung in Nietleben unerträglich wurde, hatte Krämer etwa IV 2 Jahre
eine Abteilung Kranker auf dem Schlosse zu Zeitz ärztlich zu versorgen.
Dann wurde Altscherbitz gebaut und Koeppe dirigierte anfänglich noch
beide Anstalten (Nietleben und Altscherbitz). Nach Koeppe s Über¬
siedlung nach Altscherbitz leitete Krämer die Anstalt Nietleben als zweiter
Arzt; er hielt auch Vorlesungen, wozu er sich als Dozent habilitierte.
Nach Koeppe 5 1879 erfolgtem Tode übernahm Hitzig die Anstalt Niet-
leben, und Krämer war unter Hitzig noch zweiter Arzt bis zum 1 . Juli
1883. 1876 hatte sich Krämer mit Charlotte Dietel, der Tochter eines
Leipziger Stadtrats, verheiratet.
1883 wurde Kr. als Direktor an die neuerbaute Provinzial-Irren¬
anstalt zu Neustadt in Westpreußen berufen. Diese Anstalt war baulich
bereits im wesentlichen fertig, als Kr. hinkam. Er widmete sich nun mit
Feuereifer der inneren und äußeren Ausgestaltung dieser durch eine land¬
schaftlich schöne Lage ausgezeichneten Anstalt. Es ist erstaunlich, was
Kr. hier an Einrichtungen, Gärten, Pflanzungen, Anlagen, Rieselfeldern,
Park mit Teichen, Wiesen und Ackerverbesserungen geschaffen hat.
Er versetzte geradezu Berge. Schließlich erbaute er auch, ohne daß ein
Pfennig dafür besonders bewilligt zu werden brauchte, mit den eigenen
Kräften der Anstalt ein großes Gewächshaus. Als es fertig war, zeigte
er es der Oberbehörde an und bat um die Mittel für die Heizungsanlage.
Das gab natürlich Sturm im Provinzialausschuß. „Wie kann der Direktor
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Kleinere Mitteilungen.
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Häuser bauen ohne Genehmigung?“ Eine Kommission sollte die Zweck¬
mäßigkeit begutachten. Ein Mitglied, Kommerzienrat und Besitzer großer
Kunst- und Handelsgärtnereien, fand es vorzüglich und schenkte sogleich
finige große Palmen für den Mittelbau. — Diese kleine Geschichte ist
• harakteristisch für Krämer. Daneben arbeitete er wissenschaftlich rast¬
los fort, betätigte sich literarisch, stand einem Ärzteverein der Nachbar¬
kreise vor und versuchte neue Heilmethoden bei seinen Kranken. Eine
meiner Arbeiten (Beitrag zur Kastrationsfrage, Allg. Ztschr. f. Psych.
Bd. 52, S. 1) beruht auf eigenen Operationen, die er als sicherer Chirurg
in der Anstalt vornahm. Er beschreibt da vier Frauen, die er ovarioto-
mierte. Über die Ablatio testium bei den Männern macht Kr. nur einige
allgemeine Ausführungen. Gemacht hat er mehrere bei sexuell erregten
Hebephrenen und Epileptikern. Aber es schien ihm doch hinterher be¬
denklich, die Fälle zu publizieren, weil die Gerichte mehrfach ärztlich -
kurative Operationen als „Körperverletzungen“ verfolgten. Es waren
auch anonyme Anzeigen beim Staatsanwalt gegen ihn erfolgt, u. a. weil
eines Sonntags abends den angetrunkenen Portier, der unbotmäßig
und drohend wurde, kurzerhand für die Nacht in die nächste beste Isolier¬
zelle einsperrte, bis er nüchtern war und zu Kreuz kroch.-
Alle seine wissenschaftlichen Abhandlungen zeichnen sich aus durch
Fleiß bezüglich der Literaturangaben und Klarheit der Darstellung. —
1894 gründete Kr. mit mir zusammen den nordostdeutschen Verein für
Psychiatrie und Neurologie, der alljährlich in Danzig tagt und die Kollegen
von Pommern, West- und Ostpreußen und Posen vereinigt. 1894 wurde
Kr. auch als Med.-Rat in das Medizinal-Kollegium der Provinz West-
preußen berufen.
Die letzte große Tat seines arbeitreichen Lebens war das Programm
und die Einrichtung der großen Anstalt Conradstein. Diese Riesen-
snlage auf dem Rittergut (1200 Morgen) zeigt alle Vorzüge Arömerscher
Arbeit: großzügige, klare Disposition des Ganzen, vorzügliche Anordnung
und Ausstattung der Räume in den einzelnen Pavillons, insbesondere
sroße zweckmäßig gelegene Nebenräume, bis in die kleinsten Einzel¬
heiten klar durchdachte Diensteinrichtungen; prächtige Ausgestaltung
•ler Gärten und Parks, musterhafte Rieselfelder, zu denen er wieder un¬
geheure Erdbewegungen von den Kranken ausführen ließ; großartiger
l^ndwirtschaftsbetrieb. Alle Jahre stellte er sich neue Aufgaben der
Erweiterung, Verbesserung und Verschönerung. Es war seine Freude
und sein Stolz, dieses selbstgeschaffene Reich zu repräsentieren und be¬
sonders es den Fachgenossen zu zeigen, wobei er, der für sich von Haus
aus Genügsame, eine glänzende Gastfreiheit entfaltete. —r Am 30. Dezember
1895 wurde Conradstein eröffnet.
* Krämer war eine etwas spröde, sensitive Natur, war geneigt, alles
schwer zu nehmen, er schloß sich schwer auf andern gegenüber. Aber
er hatte ein goldnes Herz, vielen Sinn für Humor und konnte ausgelassen
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Kleinere Mitteilungen.
froh sein.'— Als im Jahre 1897 seine Gattin starb (die ihm 6 Kinder
geschenkt hatte), fühlte er sich im Herzen vereinsamt. 1900 schritt er
zur zweiten Ehe mit Amalie Lüning, welche er auf einer der mit mir unter¬
nommenen Ferienreisen kennen lernte. Auch aus dieser glücklichen Ehe
sind noch 2 Kinder hervorgegangen. — 1906 erhielt er den Titel als Geh.
Med. -Rat.
Schon seit 15 Jahren litt er an der Zuckerkrankheit. Sein starker
Körper wurde zeitweilig Herr über die Störung, das Leiden trat aber
immer wieder hervor. Dies und die schweren Sorgen und Aufregungen
der in seiner Anstalt ausgebrochenen Typhusepidemie fällten den starken
Mann. — Am 29. Oktober schloß Richard Krämer im Coma diabeticum
seine Augen für immer. — Sei dir die Erde leicht, lieber Freund!
Siemens.
Personalnaehrichten.
Dr. Oskar Otter, Oberarzt in Ansbach, ist zum Direktor in Kutzen-
berg,
Dr. Jul. Braune, Oberarzt in Konradstein, zum Direktor daselbst
• ernannt worden,
Dr. Ludw. Scholz, Dir. in Kosten, ist auf seinen Antrag aus dem Provinzial¬
dienst ausgeschieden und nach Bremen gezogen; die
Verwaltung der Direktorstelle ist
Dr. Karl Freiherrn v. Blomberg, bisher in Dziekanka, übertragen wordeo.
Dr. Karl Wickel, bisher in Obrawalde, ist Oberarzt in Dziekanka,
Dr. Karl Christoph, bisher in Obrawalde, Oberarzt in Kosten,
Dr. Alfr. Fickler, bisher in Kosten, Oberarzt in Obrawalde und
Dr. Wilh. Knust in Kosten Oberarzt daselbst geworden.
Dr. Arthur Leppmann in Berlin-Moabit und
Dr. Rob. Sommer, Prof, in Gießen, sind zum Geh. Medizinalrat,
Dr. Friedr. Vocke, Dir. von Eglfing, zum Medizinalrat,
Dr. Wilh. Heüpach in Karlsruhe zum ao. Professor ernannt worden.
Dr. Arth. Hübner in Bonn hat den Titel Professor erhalten.
Dr. Gust. Specht, Prof, in Erlangen, ist der Verdienstorden vom
hl. Michael 3. Kl. verliehen worden.
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Befreiung von Kranken aus Irrenanstalten.
Von
Oberarzt Dr. Mönkemölier, Hildesheim.
*
Die Bedeutung der Befreiung von Geisteskranken aus Anstalten
für die Anstalt selbst und die Allgemeinheit liegt auf der Hand. Sie
kommt so gut wie ausschließlich zur praktischen Geltung bei Kranken,
die mit den Gesetzen in Konflikt gekommen sind, oder die sonst unter
den Begriff der Gemeingefährlichkeit fallen. Daß eine solche Hand¬
lung strafbar ist, erscheint dem Laien selbstverständlich. Denn sie
gibt meist einem anerkannten Rechtbrecher die Möglichkeit, ver¬
brecherische Handlungen zu begehen, für die er nicht verantwortlich
gemacht werden kann, und die er von neuem um so eher begehen wird,
als er sieh meistens bewußt ist, daß er in der Unzurechnungfähigkeits¬
erklärung einen Freibrief für neue Straftaten mit sich herumträgt.
Sowieso schon ist er gefährlicher wie geistesgesunde Verbrecher,
als bei ihm die sittlichen Hemmungen geringer sind und seine krank¬
haften Impulse und Beweggründe nur zu leicht der Umsetzung in eine
kriminelle Betätigung verfallen.
Die bisherige Rechtsprechung mußte sich, wenn sie die Be¬
freiung dieser gefährlichen Elemente ahnden wollte, auf die Para¬
graphen des Strafgesetzbuches stützen, die für die Gefangenenbe¬
freiung in Geltung standen:
§12 0. Wer einen Gefangenen aus der Gefangenenanstalt oder aus
d**r Gewalt der bewaffneten Macht des Beamten oder desjenigen, unter
dessen Beaufsichtigung, Begleitung oder Bewachung er sich befindet,
vorsätzlich befreit oder ihm zur Selbstbefreiung vorsätzlich behilflich ist,
wird mit Gefängnis bis zu 3 Jahren bestraft. Der Versuch ist strafbar.
§ 1 21. Wer vorsätzlich einen Gefangenen, mit dessen Beauf-
s ''-htigung oder Begleitung er beauftragt ist, entweichen läßt oder dessen
Befreiung befördert, wird mit Gefängnis bis zu 3 Jahren bestraft. Ist
ZeiUchrift für P*vchi»trie. LXIX. 2. H
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Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
154
Mönkemöller,
die Entweichung durch Fahrlässigkeit befördert worden, so tritt Ge¬
fängnisstrafe bis zu 3 Monaten oder Geldstrafe bis zu 300 Mk. ein.
§ 3 4 7. Ein Beamter, welcher einen Gefangenen, dessen Beauf¬
sichtigung, Begleitung oder Bewachung ihm anvertraut ist, vorsätzlich
entweichen läßt oder dessen Befreiung vorsätzlich bewirkt oder befördert,
wird mit Zuchthaus bis zu 5 Jahren bestraft. Sind mildernde Umstände
vorhanden, so tritt Gefängnisstrafe nicht unter einem Monate ein. Ist die
Entweichnng durch Fahrlässigkeit befördert oder erleichtert worden,
so tritt Gefängnisstrafe bis zu 6 Monaten oder Geldstrafe bis zu 600 Mk. ein.
Nach der allgemein gültigen Auslegung wurde bisher (vgl
Oppenhoff x )) als „Gefangener“ jeder angesehen, der durch ein Organ
der Staatsgewalt in Ausübung dieser Gewalt und in gesetzlich gebilligter
Form in Haft genommen worden ist. Die Haftnahme mußte aus
Gründen des öffentlichen Interesses erfolgt sein. Nach Oppenhoff
(S. 301) behält ein Gefangener diese Eigenschaft auch dann, wenn er
als solcher einer Krankenanstalt übergeben wird.
Nicht immer ist die Befreiung von Geisteskranken bestraft worden,
mochte es sich auch um ausgesprochen kriminelle Individuen handeln.
Die Anschauungen der Rechtslehrer darüber, ob die auf Anordnung
einer Behörde in einer Irrenanstalt verwahrten Personen zu den
Gefangenen gerechnet werden sollen, sind verschieden. Dafür sprechen
sich Olshausen, Frank, Hofmann aus, dagegen Mayer, v. Liszt, Bin -
ding.
Nach Mayer 2 ) sind „Personen, die auf Anordnung einer Behörde
in einer Irrenanstalt verwahrt sind, Kranke und ebensowenig Ge¬
fangene wie körperliche Kranke, die infolge von behördlichen Anord¬
nungen in Anstalten — etwa in Isolierspitälern — untergebracht sind.
Und wenn man an die Frage herantreten will, ob die Befreiung eines
Kranken unter Strafe gestellt werden soll, so darf man keinesfalls
zwischen Geisteskranken und anderen unterscheiden, sondern
muß die Kranken, deren Befreiung eine Gefährdung der Gesellschaft
ist, von denjenigen, die, ohne daß eine Gefahr entsteht,
befreit werden können, scheiden. In die erstere Gruppe gehören
durchaus nicht alle Geisteskranken, von den körperlichen Kranken
aber die mit ansteckenden Krankheiten behafteten. So viel nun aber
*) Oppenhoff, Deutsches Strafgesetzbuch, 13. Auflage. Berlin 1896.
S. 303.
*) Mayer . Die Befreiung von Gefangenen. Leipzig 1906. S. 7.
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Original from
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Befreiung von Kranken ans Irrenanstalten.
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dafür spricht, die Befreiung eines gemeingefährlichen Kranken unter
Strafe zu stellen, so verkehrt dünkt es mir, diese Handlung wie die
Befreiung eines Sträflings zu bewerten. Denn in der Befreiung
des gemeingefährlichen Kranken wird sich regelmäßig eine
Mißachtung der Staatsgewalt nicht bekunden, niemals
wird sie als das wesentliche Moment angesehen werden können. Viel¬
mehr liegt in der Befreiung eines unter Staatsaufsicht verwahrten
Kranken die Hinderung einer Verwaltungs¬
tätigkeit, die, wenn der Kranke gemeingefährlich ist, straf¬
würdig ist. Als Verwaltungsdelikt sollte man die Befreiung
von gemeingefährlichen Kranken in das neue Beichsrecht aufnehmen.“
Wenn bisher die Bestrafung der Krankenbefreiung öfters nicht
erfolgt ist, so scheiterte das fast ausnahmlos daran, daß man die Kran¬
ken nicht unter den Begriff des Gefangenen bringen konnte oder wollte.
Daß eine so gemeingefährliche Handlungsweise, die zudem fast aus¬
nahmlos aus den unlautersten Beweggründen erfolgt, dem allgemeinen
Rechtsgefühl ins Gesicht schlägt, bedarf keines Beweises. Wie zer¬
setzend es auf die Disziplin einer Anstalt einwirken muß, wenn allen
Prinzipien der Anstaltbehandlung entgegen gerade die gemeingefähr¬
lichsten Insassen der Freiheit und Selbstbestimmung wiedergegeben
werden, während der Täter straffrei oder nur mit Disziplinarstrafen
beschwert ausgeht, wird auch einem Laien einleuchten, der in dem
Zwange der Irrenanstalt eine reformbedürftige Einrichtung sieht.
Wenn wir uns in dem neuen Rechtzustande, der uns durch das
zukünftige Strafgesetzbuch beschert wird, mit diesem Delikte
richtig abfinden wollen, so ist es erforderlich, zu sehen, wie das Gericht
sich jetzt in praktischen Fällen dazu stellt.
In dieser Beziehung sind zwei Fälle lehrreich, die sich in kurzer
Zeit hintereinander in der Heil- und Pflegeanstalt zu Hildesheim ab¬
gespielt haben. Die Abhängigkeit der Rechtsprechung von der sub¬
jektiven Auffassung des bestehenden Rechts kommt in der Ver¬
schiedenheit der Bestrafungen recht scharf zum Ausdrucke. Die
Reformbedürftigkeit des bestehenden Zustandes wird dadurch sehr
überzeugend nachgewiesen.
Im ersten Falle befand sich auf der Abteilung des Wärters D o., der
seit einem halben Jahre in Anstaltdiensten stand, der an Paranoia chronica
leidende Kranke Tra. Er hatte am 13. 12. 1904 eine 3 *4 jährige Zucht-
11 *
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Mönkemoller,
hausstrafe angetreten, war aber im Strafvollzüge krank geworden, worauf
er aus der Haft entlassen und als hilfbedtirftiger Geisteskranker dem
Ortsarmenverbande der Stadt Celle überwiesen wurde. Diese veranlaßte
seine Überführung in die Heil- und Pflegeanstalt zu Hildesheim unter
Beobachtung der für die Aufnahme von Geisteskranken in die Heil- und
Pflegeanstalten der Provinz Hannover geltenden Bestimmungen.
Tra., der schon häufig schwer vorbestraft war, galt auf der Ab¬
teilung als einer der gefährlichsten kriminellen Kranken und hatte ver¬
schiedene Ausbruch versuche gemacht. Er war auf fast sämtlichen Statio¬
nen der Abteilung untergebracht gewesen und hatte selbst bei jeder Ge¬
legenheit über sein kriminelles Vorleben in der ausgiebigsten Weise ge¬
sprochen. D o. war von den älteren Wärtern wiederholt ausdrücklich vor
Tra. gewarnt worden.
Nachdem Tra. dem D o. versprochen hatte, ihm eine Uhr und Stoff
zu einem Anzuge zu schenken und weitere „Schätze“ in Aussicht gestellt
hatte, öffnete ihm D o. nachts die Zellentür und ließ ihn in den Hof. T r a.
entwich über die Mauer, ging über die braunschweigische Grenze, wurde
bald wieder bei einem Einbrüche ergriffen und macht zurzeit in Königs¬
lutter durch die asozialen Seiten seines Wesens seiner Umgebung das
Leben sauer.
Gegen Do. wurde Strafantrag wegen Gefangenenbefreiung ent¬
sprechend § 347 eventuell § 121 StGB, gestellt.
In der Strafkammersitzung am 4. 2. 1910 wurde er freigesprochen.
In der Urteilsbegründung heißt es u. a.:
„Der Angeklagte gibt zu, er habe den Tra. vorsätzlich aus der
Anstalt entkommen lassen, weil er ihm leid getan habe. Hierdurch hat
sich der Angeklagte einer strafbaren Handlung nicht schuldig gemacht.
Der Angeklagte war kein Beamter im Sinne des StGB. Es waren ihm
nur Dienstleistungen eines einfachen Kranken¬
wärters zugewiesen, Pflege und Beaufsichtigung kranker Personen,
Funktionen, die den Charakter einer öffentlichen Amtstätigkeit nicht tragen.
Es kommt hinzu, daß der Angeklagte nicht beeidigt war, die beiderseitige
Kündigung jederzeit erfolgen konnte, ihm auch kein Pensionsanspruch
zustand, Momente, die dafür sprechen, daß der Angeklagte als Beamter
auch gar nicht angestellt werden sollte, sondern daß es sich um ein lediglich
privates Dienstverhältnis handelt. Ein Verbrechen oder
Vergehen im Amte kommt somit nicht in Frage.
Es kann aber auch keine Bestrafung aus § 121 erfolgen, da ein¬
mal Tra. kein Gefangener war. Dadurch, daß durch Ver¬
fügung der zuständigen Behörde die Strafhaft des Tra. unterbrochen
wurde, war letzterer an sich ein freier Mann. Ein Ge¬
fangener wäre er weiterhin nur dann gewesen, wenn ein zuständiges
staatliches Organ in formell gesetzlicher Weise die
weitere Beschränkung der persönlichen Freiheit des Tra. durch Unter-
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Befreiung von Kranken aus Irrenanstalten.
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bringung in die Heil- und Pflegeanstalt angeordnet hätte. Dies ist aber
nicht geschehen. Die Stadt Celle hat den T r a. als A r m e n behandelt
und ihn als solchen durch ein formloses Ersuchen in der Anstalt
untergebracht. (In der Voruntersuchung war beim Magistrat von Celle
angefragt worden, ob bei der Aufnahme ein förmlicher Beschluß
des Magistrats erfolgt sei, was natürlich verneint wurde.)
Aber selbst angenommen, T r a. wäre ein Gefangener im Sinne des
5 121 gewesen, so kann doch in subjektiver Hinsicht der Angeklagte nicht
schuldig befunden werden, da dessen Behauptung nicht widerlegt ist, er
habe nicht gewußt, daß T r a. nicht allein als Geisteskranker, sondern als
Gefangener in der Anstalt sei. Wie der Zeuge Dr. Mo. bekundet, wird es
den Wärtern nicht mitgeteilt, wenn essich um Ver¬
brecher handelt, und ist insbesondere dem Angeklagten von
der Anstaltleitung nichts bekannt gegeben, wonach
er den T r a. als „Gefangenen“ anzusehen hätte.
Die Staatsanwaltschaft legte Berufung ein. Auch das Landesdirek¬
torium brachte seine Ansicht nachdrücklich zum Ausdrucke, daß Ge¬
fangenenbefreiung vorliege.
Die Berufung wurde nicht aufrecht erhalten, weil nach der Ansicht
des Staatsanwaltes das Urteil zutreffend begründet erschien. Durch diese
Entscheidung werde ein Präzedenzfall nicht geschaffen werden, da das
Urteil keinen Zweifel darüber lasse, daß die Fälle mit Strafe bedroht seien,
in denen eine Person von einem Organe der Staats¬
gewalt im Gebrauche der persönlichen Freiheit
durch Unterbringung in einer Anstalt beschränkt
und somit „G efangener“ sei, und dem Wärter dieser
Sachverhalt bekannt sei.
Im vorliegenden Falle handele es sich lediglich um Unterbringung
eines kranken, daher hilfbedürftigen Armen. Einer Pflichtvernach¬
lässigung der Wärter könne dadurch entgegengetreten werden, daß ihnen
bei Unterbringung von „Gefangenen“ in den Anstalten von dieser Eigen¬
schaft Kenntnis gegeben werde.“
Diese Anregung ist den Anstalten der Provinz nicht zur Kenntnis
gebracht worden. In dieser Form hätte sie auch schwerlich in die
Praxis umgesetzt werden können. Tatsächlich kann der Ausdruck
..Gefangene“ auch bei den kriminellen Geisteskranken so gut wie nie
angewandt werden. Werden sie doch fast ausnahmlos bei der Über¬
führung in die Anstalt aus der Haft entlassen, schon um dem Justiz¬
fiskus unnötige Kosten zu ersparen. Wenn die Befreiung unter den
§ 121 fallen soll, so kann der Ausdruck Gefangener nur in sinn¬
gemäßer Übertragung auf die vorliegenden Verhältnisse
gebraucht werden. Im übrigen hat es unbestritten seine schweren
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Mönkemöller,
Bedenken, solche Kranken dem Wartpersonal als „Verbrecher“ oder
gar als „Gefangener“ zu bezeichnen, auch wenn man die Gemein¬
gefährlichkeit noch so sehr in den Vordergrund zu stellen geneigt ist.
Bei der bekannten Beizbarkeit solcher asozialen Elemente kommt es
ja nur zu leicht zu Explosionen, wenn das Wartpersonal einmal verrät,
daß es über das kriminelle Vorleben orientiert ist, mögen auch die
Kranken selbst aus dieser Tatsache in der Unterhaltung gar kein Hehl
machen. Auf der andern Seite ist nur zu sehr zu befürchten, daß
das Personal dann zweierlei Kranke unterscheidet, und daß es sich
versucht fühlt, die Grundsätze, die bei der Behandlung in Straf¬
anstalten nötig sind, in die Krankenbehandlung einzuschleppen.
In psychiatrischer Beziehung konnte das Urteil nicht befriedigen.
Über die juristische Tragweite darf ich mir selbstverständlich kein
Urteil erlauben und muß in dieser Beziehung auch für die Folge
betonen, daß die ganzen Darlegungen in keiner Weise ein Eindringen
in ein unzugängliches Gebiet bedeuten, sondern nur die praktische
Bedeutung klarlegen sollen, die diese Frage für den Psychiater hat.
Die Urteilsbegründung stellt an und für sich die Befreiung von
solchen „Gefangenen“ als strafbar hin.
Erlangte aber die Art und Weise, in der das Kechtsprinzip auf die
praktischen Verhältnisse zugeschnitten wurde, allgemeine Geltung,
dann würde diese Strafbestimmung kaum einmal in die Tat umgesetzt
werden können.
Daß der Wärter nicht als Beamter angesehen wurde, und daß
deshalb die schwereren Strafbestimmungen des § 347 nicht zur An¬
wendung gelangten, war bei Lage der Sache nicht anders zu erwarten.
Immerhin geht aus dem Urteile nicht gerade hervor, daß man die
verantwortungvolle Stellung des Irrenwärters, dessen Handlungsweise
doch unter allen Umständen als viel strafbarer erscheinen muß wie die
einer beliebigen anderen Person, in ihrem vollen Umfange gewürdigt
hätte. Auch wenn man zugeben muß, daß ihm nicht die Qualität
als Beamter zukam, wird man die Bezeichnung seiner Tätigkeit als
ein lediglich privates Dienstverhältnis nicht gerade als einen
glücklich gewählten Ausdruck bezeichnen können.
Die Anschauung, daß Gefangene, die wegen Geisteskrankheit
aus der Strafe ausscheiden und an und für sich freie Männer sein
sollen, stellt sich nur als ein sehr theoretisches Schemen dar. Tat-
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Befreiung von Kranken ans Irrenanstalten.
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sächlich erfolgt ein solches Ausscheiden stets nur unter den sorgfältig¬
sten Kautelen, und wenn der kranke Gefangene in ein neues Regime
übeigeführt wird, so trägt dies so gut wie stets alle Kriterien einer Auf¬
bewahrungsform an sich, die ihn jeder freien Selbstbestimmung entzieht,
nur daß das juristische Moment der Strafe ausscheidet und dafür das
ärztliche der Bewachung und Pflege eintritt.
Das Urteil sagt ja dann auch selbst, daß Tra. ein Gefangener
dann gewesen wäre, wenn ein zuständiges staatliches
Organ in formell gesetzlicher Weise die weitere Be¬
schränkung der persönlichen Freiheit durch Unterbringung in einer
Heil- und Pflegeanstalt angeordnet hätte. Tatsächlich war er unter
Innehaltung des formalen Aufnahmeverfahrens aufgenommen worden,
wie es sich nach § 12 ff. des Reglements betr. die Aufnahme von
Geisteskranken in die Provinzialirrenanstalten vom 24. April 1877,
das staatlich anerkannt worden ist, ergibt. Wohl in keinem anderen
Aufnahmebezirke wird ein im wesentlichen umständlicheres Verfahren
in Geltung stehen. Wenn das Urteil das „staatliche Organ“ und die
..formell gesetzlich gebilligte Weise“ des Aufnahmeverfahrens ver¬
mißte, weil kein förmlicher Beschluß des Magistrats vorlag und in dem
regelrechten Aufnahmeantrag des Magistrats nur ein formloses
Ersuchen sah, so wird man in diesen Ansprüchen an das Ver¬
fahren eine auf die Spitze getriebene Theorie sehen, die sich mit den
Forderungen der praktischen Wirklichkeit nie ins Einvernehmen
bringen lassen wird.
Ebensowenig aber kann man das volle Verständnis für die prakti¬
schen Verhältnisse einer Irrenanstalt in der Forderung erblicken,
daß es dem einzelnen Wärter von der Anstaltdirektion bekannt ge¬
geben werden soll, daß er einen Kranken als „Gefangenen“ anzusehen
habe.
Im vorliegenden Falle war die kriminelle Qualität des Tra. den
meisten anderen Kranken und allen übrigen Wärtern so bekannt,
daß D o. an den schwersten Formen geistiger Schwäche gelitten haben
müßte, wenn er sich dieser Wahrnehmung hätte entziehen können.
Zum Überflüsse war D o. von seinem Stationswärter und anderen
Kollegen gewarnt und in geeigneter Weise auf die Gefährlichkeit
des T r a. aufmerksam gemacht worden. Als Zeugen sind sie in dieser
Sache nicht vernommen worden.
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Mönkemöller,
Das Gesetz von der Duplizität der Fälle bewährte sich schon nach
kurzer Zeit.
Der Wärter T ü., der seit April 1911 im Anstaltdienste stand, hatte
auf seiner Station die Kranken R u. und B a y. Ru. war auf Antrag des
Königl. Landratsamtes Hannover als sehr gefährlicher Geisteskranker
eingeliefert worden. Er hatte im epileptischen Dämmerzustände einen
Totschlag begangen. Ein gerichtliches Verfahren wurde gegen ihn wegen
seiner notorischen Geisteskrankheit nicht eingeleitet.
Die Aufnahme B a y.s war auf Antrag des Magistrats Hannover
am 7. 4. 1911 erfolgt. Ein Verfahren wegen Zuhälterei, schwerer Kuppelei
und Anstiftung zum Diebstahl war auf Grund des § 51 eingestellt worden.
Er hatte 10 Tage Gefängnis, zu denen er wegen Körperverletzung ver¬
urteilt worden war, noch nicht abgemacht. In seinen Personalakten
beim Königl. Polizeipräsidium in Hannover wurde er als ganz gemein¬
gefährlicher und äußerst raffinierter Verbrecher bezeichnet.
Vom Stationswärter war T ü. mehrere Male ausdrücklich auf diese
Kranken aufmerksam gemacht und angewiesen worden, auf sie besonders
zu achten, da R u. draußen einen Totschlag begangen und B a y. schon
einmal einen Fluchtversuch unternommen habe. B a y. hatte ihm, wie
er in seiner ersten Vernehmung angab, mitgeteilt, daß er schon mit den
Gesetzen in Konflikt geraten sei, nahm diese Behauptung aber in der
Hauptverhandlung zurück, um den T ü., wie er später selber zugab, nicht
noch weiter hineinzureißen.
B a v. hatte T ü. während des Gartendienstes bearbeitet, ihn aus der
Anstalt herauszulassen, und ihm versprochen, er w'olle das auch „gleich
machen“. In der Nacht vom 8. zum 9. Juni 1911 weckte T ü. den Bay
nachts, um ihn herauszulassen. R u. wurde bei dieser Gelegenheit geweckt
und erklärte, er wolle auch heraus: worauf T ü. auch ihm die Kleider gab.
Er ließ sie beide in den Garten, kletterte mit ihnen über die Mauer und gab
ihnen beim Abschiede Geld. Die Kranken wurden in den nächsten Tagen
wieder aufgegriffen. T ü. w-urde aus dem Dienste entlassen.
14 Tage später wurde ein Kuvert im Anstaltgarten aufgefunden mit
der Aufschrift: „Komme heute wieder, wache nur, es ging mal nicht.“
Da man annahm, daß T ü. Bay. befreien wolle, würde ihm ein Hinter¬
halt gelegt. In der Nacht überkletterte T ü. die Mauer, drang vermittelst
eines Nachschlüssels in die Abteilung ein, in der B a y. schlief, und wurde
hier ergriffen und der Polizei übergeben. In seiner Tasche fand man ein
geöffnetes Messer.
In dem Strafantrage, der gegen T ü. gestellt wurde, war u. a. darauf
hingewiesen worden, daß die Stellung solcher Kranken durch den Erlaß
der Minister des Innern, der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalange¬
legenheiten vom 15. 7. 1901 über die Entlassung gemeingefährlicher
Geisteskranker sehr wesentlich beeinflußt werde. Auch wurde auf die
Entscheidung des I. Strafsenats des Reichgerichts vom 5. 12. 1910 Bezug
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Befreiung von Kranken aus Irrenanstalten.
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genommen, nach dem in einem ähnlichen Falle ein Wärter wegen vor¬
sätzlicher Gefangenenbefreiung mit einem Monat Gefängnis verurteilt
worden war.
Von der I. Strafkammer des Landgerichts in Hildesheim am 19. 9.
1911 wurde T ü. wegen Gefangenenbefreiung in einem Falle sowie wegen
versuchter Gefangenenbefreiung in einheitlichem Zusammentreffen mit
qualifiziertem Hausfriedensbruch sowie wegen einfachen Hausfriedens¬
bruchs zu einer Strafe von einem Jahre und zwei Monaten Gefängnis
kostenfällig verurteilt. Sechs Wochen Untersuchungshaft wurden an-
gerechnet.
Aus der Urteilsbegründung ist hervorzuheben:
„Die Handlungsweise des Angeklagten enthält»die Tatbestandsmerk -
rnale des § 121 StGB. Der Hofbesitzer Ru. ist im Jahre 1905 auf Er¬
suchen des Landrats am i8. 9. 1905 wegen seiner gemeingefährlichen
Geisteskrankheit in die hiesige Anstalt aufgenommen, später wieder ent¬
lassen, und nachdem er im Jahre 1906 einen Totschlag ausgeführt hatte,
abermals auf Ersuchen des Landrats am 29. 10. 1906 in die Anstalt als
gemeingefährlicher Irrer aufgenommen.
B a y. ist auf Ersuchen des Magistrats der Stadt Hannover vom
29. März 1911 gleichfalls als ein wegen seiner Geisteskrankheit und seiner
verbrecherischen Neigungen gemeingefährlicher Irrer in die hiesige An¬
stalt aufgenommen. Laut Anordnung des Königl. Polizeipräsidiums
in Hannover darf B a y. ohne Einverständnis der Polizei nicht entlassen
werden.
Den beiden Kranken ist somit durch ein hierzu befugtes
Organ der Staatsgewalt die persönliche Freiheit entzogen wurden,
und zwar sowohl aus Gründen des öffentlichen Inter¬
esses als auch in formell gesetzlich gebilligter Weise.
Ferner befanden sich die Kranken während der Dauer der Freiheitent¬
ziehung in der Gewalt der zuständigen Behörde. Die
Anstalt darf sie nicht entlassen vor Mitteilung
an die Polizeibehörde des Aufenthaltortes, damit
diese sie eventuell bei der Entlassung sofort in Empfang nimmt. Sie sind
daher alsGefangeneimSinnedes §121 StGB, anzusehen.
Nach den Aussagen des Wärters S t r u. war dem Angeklagten
gesagt worden, daß R u. einen Totschlag begangen habe, freigesprochen
sei und deshalb interniert werde. Es kann deshalb keinem Zweifel unter¬
liegen, daß der Angeklagte von vornherein gewußt hat, daß Ru. als ge¬
meingefährlicher Kranker auf polizeiliche Anordnung in der Anstalt unter-
gebracht war. Dagegen konnte nicht festgestellt werden, daß der An¬
geklagte, als er den B a y. in der Nacht vom 8. auf den 9. Juni d. J. aus
der Anstalt herausließ, gewußt hat, daß B a y. als gemeingefährlicher
Irrer aufpolizeilicheAnordnungin der Anstalt untergebracht
war. Es kann dies nicht schon daraus gefolgert wurden, daß dem Ange-
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Mönkemöller,
klagten gesagt war, Bay. habe schon einmal einen Flucht¬
versuch gemacht. Der Zeuge Bay. bekundet aber, er habe dem
Angeklagten erst dann angedeutet, weshalb und wie er in die Anstalt
gekommen sei, als sich der Angeklagte von R u. und ihm nach ihrer Frei¬
lassung aus der Anstalt getrennt habe.
Von diesem Tage ab, mithin schon am 19. Juli, wie auch schon in¬
folge seiner Vernehmung vor dem Oberarzte Mo., die alsbald nach dem
Vorfall in der Nacht vom 8. zum 9. Juli stattfand, und bei der Mö. ihm
sagte, daß Bay. polizeilich festgehalten werde, wußte der Angeklagte,
weshalb Bay. sich in den Anstalt befand, und daß er ebenso wie R u. nur
mit polizeilicher Genehmigung aus der Anstalt entlassen werden durfte.
Somit wird auch die Begründung des Angeklagten, -er habe es nicht
mit ansehen können, daß ein so gesunder Mensch wie B a y. in der Anstalt
sitze, was die Vorfälle in der Nacht vom 19. zum 20. und vom 20. zum
21. anlangt, hinfällig. Außerdem wußte der Angeklagte ganz genau, daß
nur die Anstaltleitung, nicht aber die Wärter darüber zu befinden haben,
ob ein Mensch als geistig gesund anzusehen und daher zu entlassen ist
oder nicht. Daß der Angeklagte mit der Beaufsichtigung der Freigelassenen
beauftragt war, liegt schon in seiner Stellung als Wärter begründet. Da
aber dem Angeklagten in der Nacht vom 8. zum 9. Juli nur hinsichtlich
des R u. die Kenntnis von dessen Eigenschaft als Gefangener im Sinne
des Strafgesetzbuches nachzuweisen ist, nicht dagegen hinsichtlich des
Bay., so war der Angeklagte wegen vollendeter Gefangenenbefreiung
nach § 121 StGB, auch nur bezüglich des R u. zu bestrafen.
Die nachfolgenden Ausführungen der Urteilsbegründung, die sich
auf die versuchte Gefangenenbefreiung und den Hausfriedensbruch be¬
ziehen, haben kein allgemeines Interesse. Zu bemerken ist nur der Passus,
daß unter Gefangenenanstalt im Sinne des § 121 StGB, jede
Anstalt zu verstehen ist, in der Gefangene untergebracht werden, also
auch eine Heil- und Pflegeanstalt.
Bei der Strafzumessung fiel strafmildernd ins Gewicht, daß der
Angeklagte noch nicht vorbestraft war, verschärfend dagegen die Inten-
sivität seines verbrecherischen Willens und die Gefahr, die in¬
folge seiner Handlung der Allgemeinheit drohte,
insbesondere in dem Falle R u.
Die ganze Formulierung des Urteils und die hohe Bemessung der
Strafe lassen erkennen, in wie höherem Maße das Gericht die Gemein-
gefährlichkeit dieses Deliktes einschätzte. In praktischer Beziehung
ist das Urteil insofern bemerkenswert, als es sich die Begründung der
Eigenart der Stellung der kriminellen Geisteskranken in der Anstalt¬
behandlung durch die Ministerialverfügung über die verbrecherischen
Geisteskranken zu eigen macht.
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Befreiung von Kranken aus Irrenanstalren.
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Trotz der ausgesprochenen Neigung der Strafkammer, die Gemein¬
gefährlichkeit des Vergehens entsprechend zu sühnen, wäre der Täter
beinahe straflos ausgegangen. Die schwere Bestrafung wegen der
vollendeten Gefangenenbefreiung erfolgte nur deshalb, weil der Kranke
R u., dessen Befreiung ursprünglich nicht geplant war, die Gelegenheit
zur Entweichung mit ausgenutzt hatte. Obgleich dem Wärter zweifel¬
los bekannt war, daß er es mit einem kriminellen Kranken zu tun hatte,
war der Nachweis dafür schwer zu führen, solange man darauf bestand,
daß ihm anstaltseitig, wenn auch nur durch die Mitteilung eines
anderen Wärters, diese Eröffnung gemacht worden war. Da die Judi¬
katur am Hildesheimer Landgerichte wahrscheinlich für absehbare
Zeit auf dieser Mitteilung bestehen wird, haben wir uns entschlossen,
trotz aller Bedenken, die gegen eine zu ausgesprochene Hervorhebung
des kriminellen Charakters der Pfleglinge sprechen, eine Zusammen¬
stellung aller der Kranken zu machen, bei denen bei einer eventuellen
Befreiung die Bestrafung des schuldigen Wärters durch eine Betonung
dieses Momentes herbeigeführt werden müßte. Alle Wärter müssen
durch Unterschrift davon Kenntnis nehmen, daß diese Kranken
infolge ihrer Krankheit mit den Gesetzen in Konflikt gekommen,
daß sie als gemeingefährlich anzusetzen sind, und daß unter den Grün¬
den, die ihre Anstaltbedürftigkeit bedingen, unter anderem auch
die Rücksicht auf die öffentliche Sicherheit mitspricht. Daß das
als ein idealer Ausweg anzusehen ist, wird wohl niemand behaupten.
Die Voraussetzungen, die für die subjektive Strafbarkeit des
Täters sprechen, werden wesentlich leichter gefaßt in der Begründung
der oben angeführten reichsgerichtlichen Entschei¬
dung, die für die künftige Rechtsprechung von großer Tragweite
ist. wenigstens solange das jetzige Strafgesetzbuch noch in Kraft
steht.
Der auf Anordnung der Polizeibehörde zu Wiesbaden als gemein¬
gefährlicher Geisteskranker in der Landesheilanstalt untergebrachte
Chemiker G. begegnete auf einem unter Aufsicht des Wärters K i. unter¬
nommenen Spaziergange einer ihm bekannten Wäscherin K., und beide
beschlossen zu fliehen. Nach kurzem Widerstande gab der Pfleger nach
und begab sich mit den beiden zunächst nach Frankfurt a. M. und dann
nach Mainz. Daraufhin wurde K i. wegen vorsätzlicher Gefangenen¬
befreiung vom Landgerichte Wiesbaden zu einem Monat Gefängnis ver¬
urteilt, da G. ab Gefangener anzusehen sei. Der Einwand des K i., er
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habe nicht gewußt, daß G. als gemeingefährlicher Geisteskranker auf
polizeiliche Anordnung in der Anstalt untergebracht sei, erachtete das
Gericht für unzulänglich, da er, wenn er vielleicht auch keine direkte
Kenntnis davon habe, doch infolge der warnenden Äuße¬
rungen der Ärzte, den Kranken auf das schärfste
zu bewachen, mit der naheliegenden Möglichkeit
hätte rechnen müssen.
Der 1. Strafsenat des Reichsgerichts verwarf am 5. 12. 1910 die ein¬
gelegte Revision. In der Begründung des Urteils (K. I. 884/10) x ) heißt es:
Nach der ständigen Rechtsprechung des Reichsgerichts sind unter
„Gefangenen“ im Sinne der §§ 120, 121 StGB, alle diejenigen Personen
zu verstehen, denen in gesetzlich gebilligter Form aus
Gründen des öffentlichen Wohles d i e p e r s ö n 1 i c h e
Freiheit entzogen ist, und die sich zufolge dieser
Freiheitentziehung in der Gewalt der zuständi¬
gen Behörde befinden (vgl. Entsch. in Strafs. Bd. 12, S. 162,
Bd. 37, S. 366, Bd. 39, S. 7, 189). Daß hierzu auch solche gemein -
gefährliche Geisteskranke gehören, die von der Polizeibehörde
im öffentlichen Nutzen in einer Irrenanstalt untergebracht
worden sind, hat z. B. das Preußische Obertribunal in dem Urteile vom
30. November 1877 (Oppenhoff. Rechtsp. des Ob.-Trib. Bd. 18 S. 755)
und für Baden der erkennende Senat in dem Urteile vom 5. Oktober 1908
1 D 507/08 anerkannt. Das in Goltds Arch. Bd. 50 S. 104 abgedruckte
Urteil des III. Strafsenats vom 9. Oktober 1902 D 3077/02 steht nicht
entgegen. In dem ihm zugrunde liegenden Falle war überhaupt nicht
festgestellt, wer die Unterbringung in die Irrenanstalt
an geordnet hatte. Hier dagegen hat das Gericht für erwiesen
erachtet, daß G. von der Polizeidirektion in Wiesbaden als
gemeingefährlicher Geisteskranker in der Landesirrenanstalt Eichberg
untergebracht worden war. daß diese polizeilich Festgehaltenen anfäng¬
lich in einer besonderen Abteilung üntergebracht
werden, und daß den Wärtern bezüglich ihrer die
Dienstvorschrift ganz besonders ein geschärft zu
werden pflegt. Die Befugnis der Polizeibehörde, einem gemein¬
gefährlichen Geisteskranken die Freiheit zu entziehen, ergibt sich aus
§ 127 der für die neuen Landesteile erlassenen Strafprozeßordnung vom
5. Juni 1867 (Gesetzsamml. S. 933), der dem § 6 des preuß. Gesetzes zum
Schutze der persönlichen Freiheit vom 12. Februar 1850 (Gesetzsamml.
S. 45) entspricht.
Danach durfte die Polizeidirektion den G. in polizeiliche Verwahrung
nehmen und ihn der zuständigen Behörde, der Landesirrenanstalt, über¬
weisen. Ob sie sich ausdrücklich das Recht Vorbehalten
l ) Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen. Bd. 44, 2. Heft,
S. 171.
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Befreiung von Kranken ans Irrenanstalten.
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hat, über ihn zu verfügen, ist unerheblich. Denn er
blieb während seines Aufenthalts in der Anstalt auch ohnedies in der
Gewalt der Polizei. Durch den Ministerialerlaß vom 15. Juni 1901 (Min.-
Bl. f. die innere Verw. S. 197) sind die öffentlichen Irrenanstalten an¬
gewiesen, nicht nur diejenigen auf Veranlassung der Polizeibehörde auf¬
genommenen Geisteskranken, bei denen die Polizeibehörde ausdrücklich
das Ersuchen um Mitteilung von der beabsichtigten Entlassung gestellt
hat, sondern auch sonstige nach Ansicht des An¬
staltleiters gefährliche Geisteskranke nicht zu
entlassen, bevor der Polizeibehörde Gelegenheit
zur Äußerung gegeben ist. Auch wenn die Polizei¬
direktion in Wiesbaden das ausdrückliche Er¬
suchen um Mitteilung nicht gestellt haben sollte, konnte
sie immer darauf rechnen, daß G. ohne ihr Mitwissen nicht entlassen
werden würde. Sie war daher in der Lage, gegebenenfalls ihn
wieder in polizeiliche Verwahrung zu nehmen. So¬
mit kann dahingestellt bleiben, ob zu der Annahme, daß G. ein Gefangener
gewesen sei. nicht genügte, daß er in der Gewalt der öffentlichen Irren¬
anstalt, als der durch die polizeiliche Überweisung zuständig gewordenen
Behörde, war.
Zunächst ist die Einleitung der Begründung bemerkenswert:
sie betont, daß die Rechtsprechung in der Auslegung des Begriffes
..Gefangener“ ständig gewesen sei, und setzt eine Auslegung für
die Unterordnung der gemeingefährlichen Geisteskranken unter diesen
Begriff fest.
Soweit diese auf Geisteskranke ausgedehnt wird, erfaßt sie wieder
nur solche gemeingefährliche Geisteskranke, die von der
Polizei im öffentlichen Nutzen eingeliefert werden,
macht also die Strafbarkeit ihrer Befreiung wieder von ihrer Gemein -
gefährlichkeit und der Art der einliefernden Behörde abhängig.
Die zur Erfüllung des Begriffes „Gefangener“ erforderliche Be¬
dingung, daß der Kranke in der Gewalt der zuständigen Behörde
bleiben soll, wird als erfüllt angesehen, wenn die Voraussetzungen des
Ministerialerlasses vom 15. Juni 1901 über die Entlassung gemein¬
gefährlicher Geisteskranker vorliegen. Ausdrücklich wird die Er¬
schwerung hervorgehoben, die für die Entlassung solcher Geistes¬
kranken gilt, die nach Ansicht des Anstaltleiters ge¬
meingefährlich sind. Dadurch wird mit dem Grundsätze gebrochen,
daß eine strafbare Handlung vorliegen muß, die zum Einschreiten
der polizeilichen und gerichtlichen Behörden geführt hat. Es braucht
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überhaupt noch kein Akt der Gemeingefährlichkeit vorgefallen zu sein,
wofern nur nach dem ganzen Charakter der Krankheit und dem Ver¬
halten des Kranken in der Anstalt befürchtet werden muß, daß ein
solcher jederzeit eintreten kann. Der Nachweis der subjektiven
Verschuldung des Wärters wurde dadurch als erbracht angesehen,
daß hier die polizeilich festgehaltenen in einer besonderen Abteilung
untergebracht wurden, und daß den Wärtern bezüglich ihrer die Dienst¬
vorschrift ganz besonders eingeschärft zu werden pflegte.
Das Landgericht hatte sogar bei dem Täter diese Schuld noch als
vorliegend angesehen, auch wenn er keine direkte Kenntnis gehabt
habe,daerinfolgederwarnendenÄußerungen derÄrzte,
den Kranken auf das schärfste zu bewachen, mit der nahelie¬
genden Möglichkeit hätte rechnen müssen.
Trotz der steigenden Geneigtheit der Gerichte, den Begriff des
Gefangenen auch auf gemeingefährliche Geisteskranke zu übertragen,
wird das recht häufig die Klippe sein, an der eine Bestrafung des Täters
aus § 120 und 121 scheitert. Außerdem bleiben auch die „Organe
der Staatsgewalt“ und die „gesetzlich gebilligte Form“ Begriffe, von
deren weiterer oder engerer Auslegung die Möglichkeit der Verurteilung
abhängt.
Wie sehr es auch hierauf ankommt, beweist die oben angeführte
Entscheidung des IIL Strafsenats des Beichsgerichts vom 19. Oktober
1902 *). Die Begründung erörtert ebenfalls ausgiebig die Frage, in¬
wiefern ein in einer öffentlichen Irrenanstalt Untergebrachter,
trotzdem gegen ihn die Strafvollstreckung während dieser Unter¬
bringung unterbrochen ist, dennoch als „Gefangener“ angesehen
werden darf.
Nach den von dem Vorderrichter getroffenen Feststellungen wurde
Sch. nach Antritt der ihm im Jahre 1898 zuerkannten dreizehnjährigen
Zuchthausstrafe am 4. November 1901 aus der Strafanstalt in F. auf
Veranlassung des dortigen Anstaltarztes unter einstweiliger
Gewährung von Strafunterbrechung als Geisteskranker
nach F. der H.sehen staatlichen Irrenanstalt verbracht.
Hieraus folgt ohne weiteres, daß Sch. während der Zeit seines
Aufenthaltes in F., in welche die Begünstigung seiner Flucht durch Max
M. fällt, nicht mehr Strafgefangener war, und kann hierzu auch
*) Goldammer, Archiv für Strafrecht und Strafprozeß. 50. Band.
S. 104.
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Befreiung von Kranken aus Irrenanstalten,
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der Umstand nichts ändern, daß Sch. in Fr. in dersog. Zellen¬
abteilung, in der sich hauptsächlich die aus der
Untersuchunghaft oder Strafhaft der Irrenanstalt
überwiesenen Personen befinden, untergebracht
und hier einer besonders aufmerksamen Bewah-
chung und Beaufsichtigung durch das Wärter¬
personal unterstellt war.
Der Umstand, daß Sch. während seiner Internierung in Fr. auf-
gehört hatte. Straf gefangener zu sein, schließt nun allerdings nicht
mit unbedingter rechtlicher Notwendigkeit aus,
daß er gleichwohl auch in dieser Zeit ein Gefange¬
ne r w a r, da unter einem solchen im Sinne der §§ 120 u. ff. StGB, jeder
zu verstehen ist, welchem durch ein Organ der Staatsgewalt in formell
gesetzlich gebilligter Weise aus Gründen des öffentlichen Interesses die
persönliche Freiheit entzogen wurde, und welcher sich infolge dessen
während der Dauer der Freiheitentziehung in der Gewalt der zuständigen
Behörde befindet.
Das erste Urteil läßt aber in dieser Hinsicht jegliche nähere Fest¬
stellung vermissen, wer die Unterbringung des Sch. als Geisteskranken
in der Irrenanstalt angeordnet hat, ob diese namentlich durch eine staat¬
liche Behörde geschah, ob dieselbe zu einer derartigen Anordnung gesetz¬
lich zuständig war, ob die Anordnung aus Gründen des öffentlichen Inter¬
esses geschah, und Sch. auch während seiner Detention in der Gewalt
der dieselbe anordnenden Behörde verblieb. Das vorige Urteil spricht
auch hier nur ganz im allgemeinen davon, daß Sch. zur Zeit seiner Flucht
aus Fr. auf Anordnung der zuständigen Behörde sich dortselbst befand
und aus Gründen des öffentlichen Interesses als Geisteskranker und g e -
meingefährlicher Verbrecher hier seiner persönlichen Frei¬
heit beraubt war. Irgendeine nähere Begründung hat auch diese erst-
richterliche Annahme nicht gefunden, und es bleibt insbesondere völlig un¬
aufgeklärt, welche Behörde der Vorderrichter im Auge hatte, die Straf¬
vollstreckungbehörde, welche infolge der gewährten Strafunterbrechung
mit dem einstweilen aus der Strafhaft entlassenen Sch. zunächst nicht
weiter befaßt war, den Gefängnisarzt, welcher ersichtlich nur die Über¬
führung des Sch. aus der Strafanstalt in die Irrenanstalt anregte, aber
nicht anordnete und füglich auch nicht anordnen konnte, die Polizei¬
behörde oder irgendeine andere Behörde.
Bei der Mangelhaftigkeit der in der fraglichen Hinsicht getroffenen
erstrichterlichen Feststellung ist deshalb auch für jede Nachprüfung des
Revisionsgerichts ausgeschlossen, ob die Annahme des Vorderrichters,
daß Sch. auch während der Zeit seines Aufenthalts in der Irrenanstalt
noch Gefangener war, allenthalben frei von Rechtsirrtum ist.
Die Verurteilung des Täters scheiterte allerdings in diesem Falle
nur an formalen Gründen, und der Fehler, den die erste Instanz mit
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168
Mönkemöller,
dem Unterlassen dieser Begründung begangen hatte, läßt sich leicht
vermeiden, wenn schon bei der Stellung des Strafantrages die Sachlage
geklärt wird. Immerhin beweist auch dieses Urteil, daß der Täter
trotz der offenbarsten subjektiven Verschuldung straffrei ausgehen
kann.
Die Auffassung, daß eine von der zuständigen Behörde einer
Irrenanstalt übergebene geisteskranke Person im Sinne des StGB.
Gefangener sei, wurde übrigens von der obersten rechtsprechenden
Behörde auch für Privatanstalten anerkannt*).
Zweifellos reicht die jetzige Gesetzgebung und ihre richterliche
Auslegung aus, um die schwierigsten Fälle zu belangen.
Die Praxis scheint sich jetzt auch entschieden mehr an diese Aus¬
legung zu halten. So wurde noch vor kurzem ein Pfleger der Irren¬
anstalt Herzberge zu 2 Monaten Gefängnis verurteilt, der einem vom
Polizeipräsidium Berlin in sicherheitpolizeilichem Interesse der An¬
stalt überwiesenen Geisteskranken Ausbruchswerkzeuge und bares Geld
ausgehändigt hatte, um ihm das Entweichen aus der Anstalt zu er¬
möglichen.
Wie wird sich nun voraussichtlich die neue Strafgesetzgebung
zu diesem Delikte stellen? Es ist ja vor der Hand noch sehr fraglich,
ob die Auslegung, die jetzt die höchste richterliche Instanz dieser
strafbaren Handlung angedeihen läßt, auch in der unter dem Zeichen
der neuen Gesetzgebung stehenden Eechtsprechung ihre Gültigkeit
behalten wird. Auch wenn die in Betracht kommenden Begriffe
keine so grundlegende Bedeutung zu haben scheinen, daß unter allen
Umständen eine neue Auslegung nötig wäre, ist das doch nicht aus¬
zuschließen. Ob die dann zu erwartenden reichsgerichtlichen Ent¬
scheidungen sich auf denselben Standpunkt stellen und dieselben
Kriterien verlangen werden, steht noch dahin.
Der Vorentwurf zu dem neuen Strafgesetzbuche schafft für diese
Frage eine sehr bedeutsame Änderung. Er legt 2 ) die Entscheidung,
ob die Verwahrung in einer öffentlichen Heil- und Pflegeanstalt statt¬
zufinden hat, in die Hände des Richters. Der zuständige Richter ist
*) Oppenhoff, Die Rechtsprechung dos Königlichen Obertribunals
in Strafsachen. Bd. 18. 1877. S. 7
*) Begründung dos \ o r o n t \v u r f s zu einem deutschen
Strafgesetzbuche. Berlin. S. •JHO.
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Befreiung von Kranken aus Irrenanstalten.
169
der Strafrichter, und seine Entscheidung geht nicht bloß auf die Zu¬
lässigkeit der Verwahrung, sondern auf diese selbst. Dadurch wird
für einen großen — den wichtigsten — Teil der in Frage kommenden
kriminellen Kranken die Frage nach der Zuständigkeit der einliefern-
den Behörde ohne weiteres gegeben. Betroffen werden von dieser
Bestimmung, die zudem noch schwere Bedenken gegen sich hat und
zweifellos noch erhebliche Anfechtungen zu bestehen haben wird,
ja aber wieder nur die gemeingefährlicheren Geisteskranken, bei
denen ein Verfahren stattgefunden hat. Nach § 65 des Vor¬
entwurfs fallen unter diese Bestimmung nur diejenigen, welche auf
Grund des § 63 freigesprochen werden oder außer Verfolgung gesetzt
worden sind. Bei den übrigen müßte man schon wieder zu den Aus¬
legungen greifen, mit denen man sich bisher behalf.
Der Vorentwurf vereinigt alle Strafbestimmungen über die Ge¬
fangenenbefreiung im § 129.
Wer vorsätzlich einen Gefangenen befreit oder dessen Befreiung oder
Entweichen befördert, wird mit Gefängnis oder Haft bis zu 2 Jahren bestraft.
Der Versuch ist strafbar.
Hatte der Täter bei der Bewachung des Gefangenen mitzuwirken,
so ist die Strafe Gefängnis nicht unter einer Woche und, wenn die Hand¬
lung nur aus Fahrlässigkeit begangen worden ist, Haft bis zu 3 Monaten
oder Geldstrafe bis zu 500 Mk.
Die Delikte, gegen die in den §§ 126 bis 130 die Strafen verhängt
werden, fallen unter die große Rubrik des Widerstandes gegen
die Staatsgewalt.
„Allen diesen Tatbeständen“, sagt die Begründung, „ist ein
Kennzeichen gemeinsam, daß nämlich die Handlung sich unmittelbar
gegen eine Behörde oder gegen Beamte in bezug
auf ihre amtliche Tätigkeit oder gegen Perso¬
nen richtet, die diesen aus besonderen Gründen
gleichz u.s teilen sind, mithin gegen staatliche Organe, in
letzter Reihe gegen die Staatsgewalt selbst.“
Damit fänden, sollte man meinen, wenigstens auf einen Teil
der geisteskranken Verbrecher, d. h. auf die nach § 65 internierten,
ohne jede Frage die Grundprinzipien dieser allgemeinen Begründung
ihre Anwendung. Die Begründung kommt *) aber gerade zu dem
entgegengesetzten Ergebnis.
*) 1. c. S. 474.
Zeitschrift für Psychiatrie. LX1X. 2. 12
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Mönkemöller,
„Wie das bisherige Gesetz spricht der § 129 von Gefangenen.
Der Begriff ist in der Rechtsprechung fest¬
gesetzt und hat Schwierigkeiten nicht veranlaßt. Eine Aus¬
dehnung der Vorschrift auf andere Personen, etwa Fürsorgezöglinge
oder gemeingefährliche Geisteskranke, die in Anstalten untergebracht
sind, erschien nicht gerechtfertigt. Solche Personen sind nicht Ge¬
fangene x ), ihre Befreiung kann zwar unter Umständen nach anderen
Gesetzen strafbar sein. Jedenfalls verletzt sie kein staatliches Haft-
recht, enthält keinen Widerstand gegen die Staatsgewalt und kann
daher hier nicht mit Strafe bedroht werden“. 2 )
Wenn man in einer Handlung, die einen Menschen einer zwang¬
weisen Unterbringung entzieht, die durch öffentliche Gewalten über
ihn verhängt ist, ohne weiteres einen Widerstand gegen die Staats¬
gewalt sieht, so kann das kaum als eine gekünstelte Auffassung an¬
gesehen werden. Jedenfalls ist es nur schwer zu verstehen, daß man
jetzt von der bisher so oft in einer den Verhältnissen entsprechenden
Weise geübten Auslegung des Begriffes abgehen will, nur weil er nicht
ganz in die selbstgewählte Form hineinpaßt, obgleich die Begründung
selbst sagt, daß der Begriff Schwierigkeiten nicht veranlaßt habe und
also mit der bisherigen reichsgerichtlichen Auslegung rechnen muß.
Nun ist es ja durchaus nicht gesagt, daß die endgültige Fassung
in dem neuen Strafgesetzbuche sich mit der des Vorentwurfs decken
wird, und ob ihre Begründung ebenso ausfaUen wird wie die vor¬
geschlagene. Es steht auch noch ganz dahin, ob die Rechtsprechung
sich an die Auslegung des Begriffs „Gefangener“, wie sie in dieser Be¬
gründung beliebt wird, halten muß, oder ob sie sich selbst, wie die
letzte Rechtsprechung beim Reichsgerichte, eine Auslegung schafft,
die sich mit der praktischen Wirklichkeit deckt. Aber selbst gesetzt
den günstigsten Fall, daß es im wesentlichen so bleiben sollte, wie
bisher, muß man sich darüber klar werden, daß auch die weitgehendste
Auslegung nicht die Ansprüche befriedigen kann, die an die Ahndung
dieses Deliktes gestellt werden müssen.
Zunächst bleibt es immer eine sehr bedenkliche Sache, daß diese
*) Mayer, Die Befreiung von Gefangenen.
*) „Der Regelung durch landesrechtliche Vorschriften steht nach
wie vor nichts im Wege. Vgl. z. B. das preußische Gesetz vom 2. Juli
1900 über die Fürsorgeerziehung Minderjähriger.“
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Befreiung von Kranken aus Irrenanstalten.
171
Handlang durchaus unter den Begriff der Gefangenenbefreiung
gepreßt werden muß. Wir bemühen uns unablässig, von unseren An¬
stalten den Begriff des Gefängnisses, der ihnen in den Augen der
großen Menge leider noch immer anhaftet, abzustreifen. Wir kämpfen
dafür, daß unsere Kranken auch in den Augen dieser Menge gebühren¬
dermaßen als solche angesehen werden. Und Kranke bleiben die
Insassen unserer Anstalten auch dann, wenn sie noch so gemein¬
gefährlich sind und noch so oft mit den Gesetzen in Konflikt geraten
und mit den richterlichen und polizeilichen Gewalten und den Straf¬
anstalten in Berührung gekommen sind.
Wenn bis jetzt die Befreiung unserer Kranken notgedrungen
unter der Signatur der Gefangenenbefreiung bestraft
wurde, so war das eben nur ein Notbehelf. Dabei aber ein Notbehelf,
der als durchaus unzureichend angesehen werden muß, und der nur
dann zur Hilfe gezogen werden konnte, wenn eine Reihe von Voraus¬
setzungen vorlag und mühselig nachgewiesen werden mußte, und der
auch dann nicht immer den subjektiven Anschauungen des Richters
genügte. Und auch im besten Falle umfaßte er nicht alle Fälle von
Krankenbefreiung. Indem sich die neueste Reichsgerichtsprechung
an die Ministerialverfügung vom lö. Juni 1901 hielt, brach sie ja mit
der Anschauung, daß unbedingt ein richterliches Verfahren oder doch
ein Konflikt mit den Gesetzen vorliegen mußte, der das Eingreifen
der Polizeibehörde provoziert hatte. Wenn jetzt die Überzeugung
der Anstaltleitung von der Gemeingefährlichkeit eines Kranken
genügt, um seine Befreiung als Gefangenenbefreiung erscheinen zu
lassen, so ist der Kreis der Personen, die von der Gesetzesbestimmung
erfaßt werden können, in solchem Umfange erweitert, daß wir keine
Schwierigkeiten haben sollten, die Befreiung der Gemeingefährlichen
zu ahnden.
Ist aber der Begriff der Gemeingefährlichkeit so genau zu um¬
schreiben, daß er ohne jede Anfechtung festgelegt werden könnte?
Man braucht nur an die Querulanten und ähnliche Krankheittypen
zu denken, über deren Gemeingefährlichkeit man sicherlich nicht mit
allen Gerichten in ein restloses Einvernehmen gelangen würde.
Dabei wird immer nur das Interesse der Allgemeinheit
in den Vordergrund gestellt, wenn diese Befreiung eines Kranken bestraft
werden soll Wie steht es aber mit dem Interesse des Kranken selbst?
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172
Mö nkemöller,
Soll man es ungesühnt hingehen lassen, wenn einem Melancholiker zur
Entweichung aus der Anstalt verholten wird, damit er sich draußen
ungestört das Leben nehmen kann? Soll der Erfolg, das ganze Heil¬
verfahren dadurch aufs Spiel gesetzt werden? Soll die so oft ohne
Frage eintretende Schädigung der Angehörigen bedeutunglos bleiben?
Und kann es auch schließlich der Anstalt gleichgültig sein, wenn ein
Kranker gegen eigenen Willen, gegen sein Interesse, ohne die Ein¬
willigung der Behörden, deren Autorität dadurch gestört wird, der
Anstaltbehandlung entrissen wird?
Mit Recht weist Vocke x ) darauf hin, daß es im allgemeinen nicht
angebracht erscheint, daß die Irrenärzte ein besonderes Interesse an
der Zurückhaltung der Kranken in den Anstalten bekunden und da¬
durch einem weit verbreiteten Vorurteil gegen Irrenanstalten und deren
Ärzte Vorschub leisten. Gewiß! Es ist durchaus erforderlich, daß
gerade die Entlassung aus den Anstalten nach Möglichkeit erleichtert
wird, und daß wir Irrenärzte allen legitimen Versuchen, den
Kranken der Öffentlichkeit wiederzugeben, keinen zu halsstarrigen
Widerstand entgegensetzen. Gerade aber damit diesen Vorurteilen
keine Nahrung gegeben wird, darf die Befreiung eines Kranken unter
keinen Umständen straflos bleiben. Wenn das Volk sieht, wie jemand
einen Kranken der Obhut der Anstalt ohne Wissen und gegen den
Willen der Ärzte entzieht und dann straflos ausgeht, muß es zu der
Ansicht kommen, daß das Recht der Zurückbehaltung, gegen das es
schon sowieso einen Verdacht hat, auf sehr tönernen Füßen steht.
Wir stützen uns, wenn wir dieses viel angefochtene Recht ausüben,
auf ein umständliches, mit allen Vorsichtmaßregeln ausgestattetes,
von der Mitwirkung der Behörden im weitesten Umfange abhängiges
Verfahren, das die Interessen des Kranken und der Allgemeinheit
in ganz anderem Maße sichert, wie bei allen sonstigen Kranken, auch
bei den an Infektionskrankheiten leidenden. Wenn Mayer (L c.) in
der Durchbrechung dieses bedeutungvollen Verfahrens, sogar bei
Gemeingefährlichen, nur ein Verwaltungsdelikt
sieht, so hat er die Natur der Sache denn doch völlig verkannt. Er
hat sich schon der einfachen Erkenntnis entzogen, daß einer Hand-
1 ) Vocke, Befreiung von Kranken aus Anstalten. Bemerkungen
zum Vorentwurf des Strafgesetzbuches, herausgegeben von der Justiz-
kommission des Deutschen Vereins für Psychiatrie. Januar 1910. S. 88.
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Befreiung von Kranken aus Irrenanstalten.
173
lung, die einem kriminellen Kranken die Gelegenheit verschafft, von
neuem kriminell zu werden, die Kriterien der eigenen Kriminalität
anhaften, mag sie auch nur indirekt wirken. Selbst wenn man die
Mißachtung der Staatsgewalt durchaus als Kriterium dieses Deliktes
verlangt, sollte man in der Durchbrechung eines durch so gründliche
behördliche Tätigkeit geschaffenen Verfahrens doch auch ohne Wort¬
klauberei eine Mißachtung der Staatsgewalt herauszulesen imstande
sein.
Auch die Begründung des Vorentwurfs ist sich trotz ihres ableh¬
nenden Standpunktes darüber klar, daß mit ihrer Auslegung die Sache
noch nicht geregelt ist.
„Neue Fragen entstehen dem Entwürfe gegenüber wegen der
Vorschriften in den §§ 43, 65 und 69, Absatz 2. Es lag keine Veran¬
lassung vor, auf diese Fragen, deren Beantwortung der Praxis zu über¬
lassen ist, hier näher einzugehen.“
Weshalb man sich der Entscheidung in einer Sache entzieht,
die doch unbedingt in absehbarer Zeit eine Klärung verlangen wird,
ist nicht recht einzusehen. Es erscheint unverständlich, daß man erst
der Auslegung in der Rechtsprechung und einer eventuellen Landes¬
gesetzgebung es überläßt, eine einheitliche und gründliche Regelung
der Frage herbeizuführen, das zu ordnen, wozu sich jetzt eine Gelegen¬
heit darbietet, die so bald nicht wiederkehrt.
Mit vollem Rechte betont Voeke 1 ), daß im Vorentwurfe eine
Lücke vorliegt, die in der künftigen Rechtspraxis nur unter Inne¬
haltung der alten Praxis geschlossen werden kann. Er verlangt die
Einfügung einer neuen Bestimmung über die Bestrafung vorsätzlicher
Befreiung bestimmter Kategorien von Kranken, damit derartige
Delikte nicht unter den Paragraphen Gefangenenbefreiung subsumiert
zu werden brauchen.
Voeke weist rückhaltlos auf die Bedenklichkeit der wahllosen
Anwendung des Paragraphen auf die Befreiung von Kranken aus
Anstalten hin: Die Übertragung der Bestrafung auf die Fahrlässigkeit
ist bei den praktischen Verhältnissen, unter denen die Anstalten
wirken müssen, unmöglich und nur geeignet, die Grundsätze der
l ) Voeke, 1. c. S. 91.
M Voeke, Vorsätzliche Befreiung gemeingefährlicher Geisteskranker.
Psych-Neurol. Wochenschrift 12. Jahrg. 1910/11. S. 450.
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174
Mönkemöller,
freien Behandlung, zu denen man sich mit Mühe durchgerungen hat,
zu zerstören.
Vocke will das zu bestrafende Delikt der Krankenbefreiung nur
auf solche Kranke angewendet wissen, die die Allgemeinheit gefährden.
Meiner Ansicht nach geht man, wenn man überhaupt die Loslösung
vom Gefangenenbefreiungsparagraphen erreichen will, konsequenter¬
weise noch einen Schritt weiter und belegt die Befreiung aller
Geisteskranken mit Strafe, die sich auf Grund eines geordneten Auf¬
nahmeverfahrens in einer Anstalt befinden. Zunächst ist ja die Ge¬
meingefährlichkeit ein so unbestimmter und dehnbarer Begriff, daß
sich eine scharfe Abgrenzung nie vollziehen lassen wird und fraglos
in der künftigen Rechtsprechung Unstimmigkeiten entstehen müssen.
Aus allen den oben angegebenen Gründen fordert aber auch die Be¬
freiung der Kranken, die nicht unter diesen Begriff fallen, eine Be¬
strafung heraus, weit eher, wie viele andere Delikte, die das Straf¬
gesetzbuch ahndet.
In dieser Fassung fallen alle die Schwierigkeiten fort, die bisher
so oft die Bestrafung dieses Deliktes verhinderten. Eine entsprechende
Abstufung der Strafe kann ohne jede Schwierigkeit im
Einzelfalle der Schwere des Deliktes gerecht werden.
Gewiß könnte die Landesgesetzgebung diese Lücke ausfüllen.
Wenn uns einmal das sehnlich erwartete Reichsirrengesetz beschert
wird, wäre ja eine herrliche Gelegenheit gegeben, in einheitlicher Form
diese Forderungen zu erfüllen. Wenn diese nur nicht noch in so
nebelhafter und vorläufig ganz unerreichter Ferne schwebte! Und da
jetzt die Gelegenheit so günstig ist, ist es nicht einzusehen, weshalb
wir darauf warten sollen. Der neuen Gesetzgebung müßte es ein
leichtes sein, einen Paragraphen zu formulieren, der das Verlangte
in die Form bringt, die dem Psychiater verschlossen ist.
Auf der Jahresversammlung des Deutschen Vereins für Psychiatrie
zu Köln im Jahre 1909 hatte EhremodU durch einen Antrag die Frage
aufgeworfen, ob die Strafbestimmungen in § 235 des Vorentwurfes
(Kindesraub) nicht auch auf die Befreiung bzw. Entführung entmündig¬
ter Geisteskranker aus Anstalten, deren Obhut und Fürsorge sie durch
den Vormund anvertraut sind, ausgedehnt werden soll Daß gewisse
Analogien vorliegen, soll nicht geleugnet werden. Da aber ein sehr
großer Teil unserer Kranken nicht entmündigt ist, und da gerade die
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Befreiung von Kranken aus Irrenanstalten.
175
schwersten Kriminellen nicht selten des Vormundes entbehren, kann
diese Strafbestimmung auch in ihrer weitesten Auslegung nicht den
Zweck erfüllen, den man in dieser Beziehung erwarten muß.
Wir beschränken uns auch, wenn wir die Krankenbefreiung unter
Strafe setzen, am zweckmäßigsten auf unsere Geisteskranken und
vereinigen nicht zu viele ähnliche und verwandte Begriffe unter
dieser Rubrik. Ob sich, wie Vocke annimmt (1. c. S. 95), im abge¬
schlossenen Rahmen eines einzelnen Paragraphen eine Vereinigung
der Minderjährigen, der ihnen gleichstehenden, einer Schutzgewalt
bedürfenden entmündigten Geisteskranken und der einer Fürsorge
und Aufsichtgewalt bedürftigen, die Allgemeinheit gefährdenden
geistig oder körperlich Kranken sehr wohl denkbar und zu recht-
fertigen ist, erscheint mir sehr zweifelhaft. Abgesehen von den auch
für den Laien erkennbaren juristischen Bedenken, die einer solchen
Zusammenfassung verschiedener Begriffe entgegenstehen, muß vom
ärztlichen Standpunkte aus doch mindestens der Grundbeginn der
Krankheit erfüllt werden, und der Begriff der Gemeingefährlich¬
keit, der den von Vocke zusammengesetzten Gruppen gemeinsam ist.
erfüllt nicht ganz die Forderungen, die oben aufgestellt worden sind.
Ke Trinker sind ja im wesentlichen identisch mit unseren Kranken,
und für die Trinker, für die nach § 43 des Vorentwurfs die Unter¬
bringung in eine Trinkerheilstätte angeordnet werden soll, kann die
Gleichstellung mit Geisteskranken ohne große Künstelei nachgewiesen
werden.
Daß mit ansteckenden Krankheiten behaftete Personen aus
Isolierspitälern und Krankenhäusern nicht befreit werden dürfen,
ist an und für sich selbstverständlich. Aber da es sich fast aus-
nahmlos nur um ganz kurze Detentionsfristen handelt, wird die Be¬
freiung solcher Kranken — es kommen wohl im wesentlichsten nur
Prostituierte in Frage — nur ganz ausnahmweise sich ereignen.
Will man sie bestrafen, so ist ohne Frage das Seuchengesetz der gegebene
Platz, um diese Bestrafung herbeizuführen.
Am wenigsten aber haben wir Anlaß, die Schicksale der Fürsorge¬
zöglinge mit denen unserer Kranken zu verquicken. Auch wenn
der gewaltige psychopathologische Einschlag nicht verkannt werden
soll, müssen die Fürsorgezöglinge a priori als geistesgesund
angesehen werden. Dabei trifft der Begriff der Gemeingefährlichkeit
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176 Mönkemöller, Befreiung von Kranken aas Irrenanstalten.
durchaus nicht auf alle zu. Bei einem großen Teile — theoretisch
sollte es ja bei allen der Fall sein — ist es das eigene Interesse des
Zöglings, das gebieterisch verlangt, daß er der fremden Erziehung
überantwortet wird. Eine Bestrafung der Befreiung aus dieser auf-
gezwungenen Erziehung ist aber bereits durch die Landesgesetz¬
gebung vorgesehen (§ 21 des preußischen Fürsorgegesetzes
vom 2. Juli 1900 Art. 13, des bayerischen Gesetzes vom 10. Mai 1902,
die Zwangerziehung betreffend). Nach dem Urteile des L Straf¬
senats beim Reichsgerichte vom 29. Dezember 1904 z. L. Reg. 48
72/09 und dem Urteile des IIL Strafsenats des Reichsgerichtes vom
23. Juni 1902 Sch. Reg. 2277/02 macht die Unterbringung dieser
Straftaten unter die §§ 120 und 121 des jetzigen Strafgesetzbuches
keine Schwierigkeiten.
Die Aussichten, daß die Krankenbefreiung aus unseren Anstalten
strafbar wird, sind am ersten erfüllbar, wenn wir von einer Vereinigung
mit anderen Krankheitkategorien absehen. Wenn wir verlangen,
daß die Befreiung dem ordentlichen Strafgesetze unterstellt wird,
so müssen wir konsequenterweise darauf bestehen, daß die Befreiung
aller Kranken unter diese Strafbestimmung fällt. Wollen wir die
Gefangenenbefreiung ganz ausgeschaltet wissen, dann
müssen wir verlangen, daß nicht nur die Befreiung der Gemein¬
gefährlichen in Zukunft geahndet wird.
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Ein Fall Ton Gehirnyerletzung im epileptischen
Anfall. 1 )
Von
Dr. Fr. SlolL
Bei der Sektion der am 27. Februar 1911 verstorbenen epilepti¬
schen Patientin E. D. wurden wir durch einen Fremdkörper im Schädel
überrascht. Der Herausnahme des Gehirns stellte sich zunächst ein
unklarer Widerstand in der mittleren Schädelgrube entgegen, schlie߬
lich folgte das Gehirn plötzlich, und es zeigte sich als Grund des Wider¬
standes ein an der Spitze des rechten Schläfenlappens aus dem Gehirn
herausragendes, rundes, gleichmäßig dickes Holzstück. Es ließ sich,
da es durch die Manipulation der Herausnahme des Gehirns bereits
gelockert war, leicht aus dem Gehirn herausziehen, dringt etwa 3% cm
in den Schläfenlappen ein und ragt etwa iy 2 cm aus demselben hervor,
wie umstehende Bilder zeigen. Soweit es im Gehirn steckt, ist
cs von einem festsitzenden narbigen Mantel umgeben. Die Dura war
hinter dem lateralen Teil der Fissura orbitalis sup. durchbohrt; nach
Aufmeißeln der oberen Wand der Orbita zeigte sich im Fettgewebe
ein schwarzer narbiger Strang, der vom inneren Augenwinkel nach
hinten führte und in seinem hintersten Teil eine Abbiegung lateral-
wart8 machte, so daß sich die eigentümliche, fast von median ein¬
dringende Lage im Temporallappen erklärt.
Die 1884 geborene Patientin litt seit ihrem 4. Lebensjahr ohne be¬
kannten Grund an ausgebildeter Epilepsie mit häufigen Anfällen; sie be¬
fand sich seit ihrem 10. Lebensjahr in der Heil- und Pflegeanstalt Bethel
l*i Bielefeld. Bei einem Anfall am 30. 12. 1909 erlitt sie eine Verletzung,
die als Schädelbruch mit Commotio cerebri durch Sturz auf den Kopf ge¬
deutet wurde, es bestand Erbrechen, Kopfschmerz, nachher tagelang
*) Aus der Prov.-Heil- und Pflegeanstalt Galkhausen (Direktor
Dr. Herting).
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,,dun.- n> nn<i*ivr Ans.t.iM um ii. ± »'.)<< war *tn Tiffstand.und il»tf Pr™.;
sw<\(. du« »vvhlou )i\iil»U'*; !V)i‘h dfnnit.il, fine Störung de'' Augenbfwegun*>vfl
.i< hndMni)reAKuV>ft hr^tÄud tüstit ander Vnotipinjun tmgebuog *ikt
JÜlZ'Yi
Eiu fall vöq Gehiraverfetzuttg .inv Mfall
An^nhöhle mren. Karten nicht 'löftltw* ISie i-'HlieHUh: selbst gab aiu
' i" !ii Si l.n.?t'!hrueh>!ti M<. BUB) keine nu-Uv zu hahcr«.
•»her «och gebiCfesitlitit ein dumpbe Geftdd knKopf öaö rfte Empfindung,
is öfe ihr <ti* Blut durch <Ue Buke K'örper'hftlfie #irt*fn<v »fühl«. .-*!* jä§
früher den Aü fallen vorausgcgaugcit seien Vom l|| , 2.;m hutto Patientin
u%etim-e Anfalle Omi; vyrfH *n. 2t:-. 2 ... i*i eumsy Sie Vir t j.;i.^y,i j,:;.,... m UHe
I’i: 2T 2. verstarb.-
I>er Fall jsd Iwtnerkenswert einerseits als Kuriosität zur Kasuistik
>c V.-rjerzungim im cpih'ptisehen Anfall, andrerseits als eine Ver-
Vtzurur de* Scldäfeidappeus durch da* Stück »unes Foiei’hnlteis, der
••"A'h die Attgenhöhle eingednmgen war und längere Zeit im Gehirn
hatte, ohne Erseheiuupgen zu machen. pp sieh die wahre
-Saiur der Verletzung der Ibagintee entzog, erseheint A^mkändiieh,
da det Eintritt des Federhaltern durch den Bluterguß verdeckt v^rde,
oath dessen Kesmption die Keujunktivalwunde geheilt war, und üio
anfänglich bestehenden SSiuptonie ebenso vfig auch, die znrückgeblie-
hene Prominenz und Tieferetellung des rechten Jhdbue durch die
Vituahrae eines Schädelbmehes erklärt wurden, Von den bekannten
Lokal- und FernsTiuptonie« von Stdiläfejiiapprötuinoren wurde nichts
beobachtet. Einen ursächlichen Zusammenhang der Gehirnver-
tetwng mit: dem Ausbleiben der gndien Anfälle möchten wir nicht
Minderen. du diese schließlich doch wieder auftraten. Der Ball
i^igt, ein wie einfacher Wog durch die Augenhöhle zur Spitze des
T^porallappehs führt, der in diesem Falle durch ein grobes Instru¬
ment, einen Federhalter, besehritten wurde.
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Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezög¬
lingen im Festungsgefängnis.
Von
Stabsarzt Dr. Weyert, Posen.
Die zahlreichen Arbeiten im letzten Jahrzehnt über die psychischen
Grenzzustände, welche unsere Kenntnis dieses für die Allgemeinheit
besonders wichtigen Kapitels der Psychiatrie so überaus gefördert
und vertieft haben, gaben mir während meiner ärztlichen Tätigkeit an
einer militärischen Strafanstalt die Anregung, eine größere Zahl von
Gefängnisinsassen psychiatrisch zu untersuchen. Mehrere Gründe
leiteten mich hierbei. Einerseits war es mein Wunsch, tiefer in das
Seelenleben der mir in ärztlicher Hinsicht anvertrauten Menschen ein¬
zudringen und — soweit möglich — nachzuprüfen, ob und wie weit
die wissenschaftlich niedergelegten Beobachtungen an Gefängnis¬
insassen mit den meinigen übereinstimmten. Anderseits war es für
mich von Interesse und Wichtigkeit, festzustellen, welche besonderen
militärischen und militärärztlichen Gesichtspunkte z. B. betreffs der
Dienstfähigkeit usw. sich ergaben. Zwar hat ja bereits Schütze an
demselben Material — gleichfalls Militärgefangenen — grundlegende
Beobachtungen gemacht. Gegenüber Schütze befand ich mich jedoch
in der glücklichen Lage, die Leute in ihrer Gefängnisumgebung, in
ihrem eigentlichen militärischen Milieu, ich möchte sagen: bei Tag
und bei Nacht beobachten zu können, und zwar ohne daß sie überhaupt
etwas von einer Beobachtung ahnten. Ich fand seitens der Offiziere
des Festungsgefängnisses, wie ich dankbar hervorheben möchte, die
werktätigste und weitgehendste Unterstützung und Förderung meiner
Untersuchungen und Beobachtungen. Ich hatte nicht nur ständig
Zutritt zu den Gefangenen, sondern es war mir auch vergönnt, zu
jeglicher Zeit die Unteroffiziere, Korporalschaftsführer, Kameraden
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Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezöglingen im Festungsgefängnis. 181
der Sträflinge selbst zu sprechen. Gerade hierdurch aber gewann ich
oft überraschende Einblicke. Im allgemeinen wird dem Anstaltsarzte,
sobald er es auch nur etwas versteht, sich das Vertrauen der Leute zu
erwerben, von den Gefangenen bereitwilligst Auskunft erteilt, nicht
nur über ihre persönlichen Verhältnisse, sondern auch über die Kame¬
raden, ja sogar — wie ich es wiederholt erfahren habe — über interne
Gefängnisangelegenheiten, als gelegentliche Durchstechereien usw.
Wie wohl leicht begreiflich, stand ich anfangs den Angaben etwas mi߬
trauisch gegenüber, denn der Verdacht, daß man mir etwas vorlog,
war ja naheliegend. Der ruhige Hinweis jedoch, daß in den Nach¬
forschungen in der Heimat, den Strafakten, Berichten der Vorge¬
setzten usw. eine Kontrolle über die mir gemachten Angaben statt¬
fände und daher falsche Angaben zwecklos seien, bewirkten, daß ich
doch nur in Ausnahmefällen belogen wurde. Im nachfolgenden möchte
ich meine Beobachtungen und Untersuchungen mitteilen, soweit es
sich um ehemalige Fürsorgezöglinge handelt. Ich verfüge über 29 Fälle,
sicherlich nur eine kleine Zahl. Es liegt mir auch fern, meine Ergeb¬
nisse etwa verallgemeinern zu wollen. Ich halte es aber immerhin doch
für interessant, meine Beobachtungen zu vergleichen mit denen der
zahlreichen Autoren, welche das Kapitel der Fürsorgeerziehung vom
Standpunkte des Psychiaters beleuchtet haben. Bei dem von mir
verwerteten Material ist es natürlich, daß der militärische Gesichts¬
punkt besonders berücksichtigt wird, nämlich die Frage: Welche be¬
sonderen Schlußfolgerungen ergeben sich für die Diensttauglichkeit
der Fürsorgezöglinge im aktiven Heere?
Bei Feststellung der erblichen r Belastung ist es be¬
kanntlich schwer, einwandfreie Angaben zu erhalten. Becht häufig
»erden uns Geisteskrankheiten usw. in der Familie verschwiegen,
nicht zum wenigsten beim Militär, um bei Versorgungsansprüchen die
dienstlichen Schädlichkeiten desto krasser hervortreten zu lassen und
den Anspruch auf eine Rente mehr zu begründen. Günstiger liegen -
die Verhältnisse bei gerichtlichen Fällen, in denen oft von den Ange¬
hörigen alle möglichen Einzelheiten vorgebracht werden, um den An¬
geklagten als geistig abnorm hinzustellen und die Strafe zu mildem.
Aus diesen Gründen möchte ich nachfolgende Angaben über
erbliche Belastung auch nur mit aller Vorsicht verwerten. Von meinem
Material scheiden 7 Leute aus, da sie nach eigener Angabe seit langen
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Weyert,
Jahren ohne Beziehungen zu ihrer Familie sind; leider vermag ich
nicht zu entscheiden, ob dieses auf einem Mangel an ethischen Emp¬
findungen der Eltern oder lediglich auf einem solchen der von mir
untersuchten Leute beruht. Von diesen 7 sind 3 unehelich geboren,
ein Punkt, auf den ich nachher noch zurückkomme. Von den ver¬
bleibenden 22 Leuten waren direkt erblich belastet von Vaters Seite
durch Geisteskrankheit des Erzeugers 3, durch Trunksucht des Vaters 9,
durch Selbstmord des Vaters 1, durch Schwindsucht des Vaters 4, durch
Krämpfe des Großvaters 1. Ein Mann ist stark belastet dadurch,
daß der Großvater und ein Onkel väterlicherseits an Selbstmord ge¬
storben sind und der Vater geisteskrank ist. Von mütterlicher
Seite waren belastet durch Geisteskrankheit der Mutter einer, durch
Krämpfe drei, durch „Nervosität“ drei, Trunksucht einer.
Als stärker direkt und indirekt belastet möchte ich einen Sol¬
daten erwähnen (s. S. 217, graphisch dargestellter Lebenslauf H S. 236), bei
dem der Vater an Schwindsucht und Trunksucht, zwei Brüder der Mutter
an Trunksucht litten und langjährige Zuchthausinsassen waren. Bei
einem zweiten Manne war der Vater mäßiger Säufer und starb infolge
Selbstmords im Gefängnis. Die Mutter wird von der Ortspolizeibehörde
als „verwahrlost“ bezeichnet. Bei einem Dritten litten der Vater an
Trunksucht, die Mutter an Geisteskrankheit und einem „schweren Lungen-
leiden“, eine Schwester der Mutter an auffälliger Dummheit und eine
andere Schwester des Vaters war an Selbstmord gestorben. Bei einem
Vierten litt die Mutter an Krämpfen, der Vater war ein Säufer und hatte
die Familie verlassen. Rin Bruder dieses Mannes ist ein arbeitscheuer
Säufer, ein anderer Bruder „sehr dumm“. Auffallend ist auch, daß bei
mehreren meiner Soldaten geistige Auffälligkeiten unter den Geschwistern
vorkamen. So litt bei einem Manne der eine Bruder an Krämpfen, ein
anderer Bruder war an Schwindsucht gestorben; bei einem Zweiten,
dessen Vater seit zwei Jahrzehnten im Irrenhaus sich befand, war ein
Bruder ein viel bestrafter Säufer. Bei einem dritten, sonst nicht belasteten
Menschen litt der Bruder an „Tobsucht“. Bei einem vierten befand sich
die Schwester gleichfalls in einer Erziehungsanstalt, „da sie immer von
Hause fortläuft“, nur bei zwei Leuten konnte in der ganzen Familie
keinerlei Belastung festgestellt werden, von diesen war der eine ein leicht
haltloser Mensch, der andere geistig leicht beschränkt.
Unehelich geboren von den 29 waren 6. Im allgemeinen wird in
einfachen Volkskreisen der außereheliche Geschlechtsverkehr eines
weiblichen Wesens nicht so besonders tragisch von der Umgebung auf¬
gefaßt und es ihr wohl nicht unbedingt als Schande angerechnet,
wenn sie ein außereheliches Kind hat. Die Mütter von dreien dieser
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Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezöglingen im Festungsgefängnis. 183
sechs unehelich geborenen Leute haben auch einen andern geheiratet,
die Mutter des einen sogar, obgleich sie im ganzen zwei außereheliche
Kinder hatte. Nur eine Mutter heiratete später den Erzeuger ihres
unehelichen Kindes. In allen Fällen handelt es sich um einfache
Mädchen aus dem Volk. Ein weibliches Wesen stammte aus besseren
Schichten, wurde von einem — anbei bemerkt, zuckerkranken —
Manne pekuniär unterhalten und hatte von diesem im ganzen drei
außereheliche Kinder. Bei allen sechs Leuten soll den Müttern der
Erzeuger des Kindes bekannt sein, eine Angabe, die natürlich mit
der nötigen Vorsicht aufgenommen werden muß. Auf jeden Fall wäre
es verfehlt, aus der Tatsache, daß ein weibliches Wesen ein uneheliches
Kind hat, nun einen besonderen Rückschluß auf ihre moralischen
Eigenschaften ziehen zu wollen.
Besonders erwähnen möchte ich einen, zwar ehelich Geborenen,
dessen Mutter mit einem andern Manne zusammen lebte, während der
rechtmäßige Ehemann, ein schwindsüchtiger Säufer, in derselben, aller¬
dings großen Stadt durch Gelegenheitsarbeit seinen Lebensunterhalt
verdiente. Jedoch auch dieser Fall ist mit Vorsicht zu bewerten; es handelt
sich um Katholiken, bei denen bekanntlich die Ehescheidung ungleich
schwieriger ist als bei Protestanten.
Uber die körperliche Entwicklung in der Kindheit
ist nichts Besonderes zu erwähnen. Die meisten hatten Masern und
Scharlach durchgemacht, je einmal wird Typhus, Nierenentzündung,
Granulöse erwähnt. Auffallend ist, daß nur in einem einzigen Falle
von einem nennenswerten Trauma mir berichtet wurde. Es handelt
sich um eine Gehirnerschütterung infolge Sturz von der elektrischen
Straßenbahn. Wenn man berücksichtigt, wie ungemein häufig bei
forensischen Fällen von den Angehörigen Unfälle aus der Kindheit
übertrieben bewertet werden, so ist das seltene Vorkommen von Un¬
fällen bei meinem Material zum mindesten erwähnenswert.
Von besonderem Interesse war die Frage nach den äußeren
Lebensbedingungen, unter denen mein Material aufge¬
wachsen war. Es hielt schwer, hier viel zu erfahren, da — wie ja bereits
erwähnt — zahlreiche Leute seit Jahren nicht mehr mit den Ange¬
hörigen in Beziehungen standen und daher Nachforschungen nicht in
dem Maße angestellt werden konnten, wie es zur Klärung dieses wichti¬
gen Punktes wünschenswert und notwendig war.
Ein auffallend hoher Prozentsatz meines Materials ist frühzeitig
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Weyert,
verwaist,; es haben als Kinder durch Tod 4 den Vater, 4 die Mutter
verloren und 2 wurden frühzeitig Vollwaisen. Der Vater eines weiteren
Soldaten war Säufer und kam in eine Irrenanstalt, woselbst er noch
jetzt — nach annähernd 20 Jahren — weilt. Die Ehe wurde geschieden.
Die Mutter eines weiteren Mannes starb, der Vater, ein Sonderling,
wanderte aus, ohne sich weiter um die zurückgebliebenen Kinder
zu kümmern.
Es ist eine traurige Jugend, die die Mehrzahl dieser Leute gehabt
hat. Im allgemeinen ist es ja die Mutter, in deren Händen die Erziehung
liegt, während der Vater außerhalb des Hauses dem Erwerb nachgeht.
Und aus diesem Grunde ist wohl auch der Tod der Mutter der
schwerwiegendere Schicksalschlag. Sobald jedoch in einfachen
Volkskreisen — beim Tode des Ernährers der Familie — die
Mutter selbst für den Lebensunterhalt sorgen und um das tägliche
Brot kämpfen muß, verlieren die Kinder beim Tode des Vaters auch
teilweise die Mutter. In diesen Fällen werden die Kinder auch früh¬
zeitig mitverdienen müssen, durch Austragen von Zeitungen, Back¬
waren usw., und dadurch noch mehr dem Einfluß des elterlichen
Hauses entzogen. Stirbt andrerseits die Mutter frühzeitig, so kommt
entweder eine Stiefmutter oder eine Wirtschafterin in das Haus, die
doch nur in Ausnahmefällen den Kindern tiefere Liebe und Sorgfalt
angedeihen läßt. Dieses sind noch — wenn ich so sagen darf — nor¬
male Verhältnisse; bei unserem Material gewinnen wir jedoch noch
Einblick in ungleich traurigere Zustände.
Ein Patient verlor mit 1 V 2 Jahren den Vater ,und die Mutter war
eine „in geschlechtlicher Beziehung bescholtene Person“, die anscheinend
auch stahl, der die elterliche Gewalt aber erst entzogen wurde, als der
Sohn 9 y 2 Jahre alt war. Der Vater eines andern starb im Gefängnisse an
Selbstmord, die Mutter war „verwahrlost“; hier bemühte sich die Mutter
selbst um Zwangserziehung ihres fast 12 jährigen Sohnes, da er gegen sie
gewalttätig wurde.
Unter denen, die frühzeitig die Mutter verloren, möchte ich nur
bei zweien auf die Kindheit näher eingehen. Bei dem einen kam der Vater
— bald nach dem Tode der Mutter — wegen Meineids mehrere Jahre ins
Zuchthaus, der Knabe blieb ganz der unfreundlichen, rohen Stiefmutter
überlassen, so daß er noch heute mit unverkennbarer Erbitterung erklärt,
nie Elternliebe und Elternsorge kennen gelernt zu haben. Einen zweiten
jungen Mann, dessen Mutter gleichfalls frühzeitig gestorben war, hielt die
Stiefmutter zum Diebstahl an; nach dem Gerichtsbeschluß vermieteten
die Eltern „an schlimmstes Gesindel Schlafstellen“. Nebenbei erwähnt
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Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezöglingen im Festungsgefängnis- 185
kam dieser Mann mit 12 Jahren in Fürsorgeerziehung. Auffallend ist die
Interesselosigkeit vieler Väter für ihre Kinder nach dem Tode der Ehefrau,
wie es aus allen Gerichtsbeschlüssen, Berichten der Schulbehörde usw.
hervorgeht. Nicht selten hat dies seinen Grund darin, daß die Väter
erwiesenermaßen Säufer waren. Nur einer der Untersuchten gibt aus¬
drücklich an, daß die Wirtschafterin des Vaters bemüht gewesen sei,
sich mit Liebe seiner anzunehmen. Von den Vollwaisen wurde der eine
mit 2 Jahren bei ordentlichen Leuten untergebracht, die ihn wie „ein
richtiges Kind“ hielten; er kam mit 12 Jahren auf Veranlassung der
Heimatbehörde in Fürsorgeerziehung, da die Pflegeeltern nicht imstande
waren, ihn genügend zu beeinflussen.
Mit diesen früh verwaisten Kindern auf gleicher Stufe stehen die
unehelichen Kinder, was die äußeren Lebensbedingungen ihrer Kind¬
heit anbelangt. Bei allen war der Stiefvater — soweit die Mutter ge¬
heiratet hatte — ohne Interesse für das von ihm ja nicht herstam¬
mende Kind.
Einer ist sicher hochgradig gemütsroh gegen das Stiefkind gewesen,
denn er mißhandelte das Kind nicht nur übertrieben, sondern duldete
auch nicht, daß das Stiefkind mit den Eltern und Stiefgeschwistern zu¬
sammen am gleichen Tische aß. Bei einem zweiten war der Stiefvater
ohne Interesse, und die Mutter nahm das Kind frühzeitig mit auf den
Hausierhandel; es (das Kind) „hat frühzeitig lügen gelernt“. Von einem
dritten wurde die als herzleidend, jähzornig geschilderte Mutter durch
einen Mann, von dem sie im ganzen 3 außereheliche Kinder hatte, unter¬
halten und hatte eine sogenannte Pension, in der anscheinend nicht be¬
sonders strenge moralische Grundsätze herrschten. Die übrigen außer¬
ehelich geborenen Kinder hatten ähnliche, wenn auch nicht ganz so
krasse Schicksale. Sie alle waren den Eltern, Stiefeltern, Großeltern
mehr oder weniger eine Last und wurden von diesen — anscheinend —
allermeist als unangenehme Beigabe ertragen.
Während bei diesen frühzeitig verwaisten oder unehelich geborenen
Kindern aus bereits im vorhergehenden allgemein und speziell ge¬
schilderten Gründen eine Erklärung für unzureichende sittliche Er¬
ziehung unter sozial ungünstigen äußeren Umständen sich findet,
sind es bei den verbleibenden Kindern, deren Eltern am Leben waren,
andere schädigende Momente, die mehr hervortreten.
Auffallend häufig ist Krankheit der Eltern. Bei 5 von den 11 waren
psychische Störungen der Mutter erwähnt, die sicher bereits in der aller¬
frühesten Kindheit unserer Leute, höchstwahrscheinlich vor deren Geburt
bestanden haben. Eine Mutter ist Säuferin, zwei sind „sehr nervös“, je
eine leidet an Krämpfen und Schwindelanfällen. Bei einem 6. war der
Vater infolge eines Unfalles gelähmt, die Mutter tagüber auf Arbeit außer
Z*it»dnritt fdr P»yehi»trie. Litt, ?. 13
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Weyort,
dem Hause, so daß der an und für sich bereits schwer erziehbare Junge
ohne Aufsicht heranwuchs. Bei einem 7. lebte die Mutter von ihrem
Manne getrennt und zog mit einem andern Manne wochenlang mit einem
Planwagen hausierend durch das Land, wobei der Knabe nicht nur Zeuge
des Geschlechtslebens der Mutter und ihres Erwählten war, sondern auch
noch zum Diebstahle von dem „Stiefvater“ angeleitet wurde. Bei dem 8.
waren die Eltern unruhige Leute, die jahrelang in verschiedenen Orten
des Auslandes (Amerika) kümmerlich um ihre Existenz rangen. Nur
bei 3 Leuten vermochte ich aus der Anamnese nichts Auffälliges zu er¬
mitteln.
Fasse ich die gesamten bisherigen Ausführungen zusammen, so
ergibt sich folgendes: Bei der weitaus überwiegenden Mehrzahl meines
Materials lassen sich mit Sicherheit Faktoren nachweisen, die eine
ungünstige ethische und moralische Entwicklung zu bedingen und
zu erklären vermögen. Die Mehrzahl meines Materials ist erblich
belastet und aufgewachsen in einem traurigen sozialen Milieu, inmitten
psychisch abnormer, trunksüchtiger, sittlich verkommener Charaktere
bzw. ohne tiefergehende elterliche Fürsorge. Diesen Faktoren muß
für das gesamte weitere Leben eine einschneidende, unheilvolle Be¬
deutung zuerkannt werden. Für das Kind ist das Elternhaus seine Welt,
und hier liegen die Wurzeln für eine harmonische Entwicklung aller
seiner Kräfte.
Kurz streifen möchte ich nur die Frage, ob nicht die Schule
durch ihre Zucht und Disziplin imstande gewesen ist, segensreich zu
wirken, ln den Gerichtsbeschlüssen usw. wird bei reichlich der Hälfte
meiner Leute erwähnt, daß ihr „Betragen in der Schule bereits ärgernis-
erregend“ war, sie zu dummen Streichen neigten und sich durch
häufiges „Schwänzen“ dem Einfluß der Schule entzogen. Bei mehreren
kam es überhaupt nicht zu einem regelmäßigen Schulbesuch — infolge
des unruhigen Lebens der Eltern.
Bevor ich der Frage nähertrete, ob es der Fürsorgeerziehung
überhaupt zur Last gelegt werden kann, daß alle diese jungen Leute
bisher im Leben gescheitert sind und zum größten Teil wohl auch
fernerhin sich nicht bewähren werden, bedürfen zunächst drei Punkte
der Erörterung:
1. in welchem Alter kamen die jungen Leute in Fürsorgeerziehung,
2. welche Gründe werden für Zuweisung in die Anstalt genannt,
und
3. wie war ihre Führung und das Urteil ihrer Erzieher über sie?
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Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezöglingen im Festungsgefängnis. 187
Bei der Aufnahme in die Erziehungsanstalt
standen:
im 7.
Lebensjahre
1(?) Personen
im 13. Lebensjahre
4 Personen
„ 8 .
ii
0
1'
„ 14.
11
3
„ 9-
0
11
„ 15.
11
3
.. 10.
2
11
„ 16.
11
0
11.
11
1
11
„ 17-
11
3
„ 12.
11
5
n
„ 18 -
11
7
Aus vorstehender Tabelle ersehen wir, daß zwei Drittel des Ge¬
samtmaterials bereits das 12. Lebensjahr vollendet hatten, als sie in
Fürsorgeerziehung kamen. Wenn man sich nun vergegenwärtigt, wie
wenig Kindlichkeit noch in den höheren Klassen der Volksschulen
zu finden ist, welch frühreife, verdorbene Elemente sich in diesem
Alter bereits finden — besonders unter der Großstadtjugend —, so
wird man — rein theoretisch — sich des Zweifels nicht erwehren können,
ob in diesem Alter überhaupt noch eine einschneidende Änderung
durch die Erziehung erwartet werden kann. Ein Drittel des Gesamt¬
materials hatte sogar bereits das 16. Lebensjahr vollendet, als es in
Fürsorgeerziehung kam. Bedenkt man, daß diese jungen Leute doch
sämtlich schon längere Zeit der Schule entwachsen sind, daß sie seit
Jahren als Lauf-, Arbeitsburschen, Fabrikarbeiter, Handwerkslehr¬
linge usw. ihr Brot verdienen und somit dem unmittelbaren erzieheri¬
schen elterlichen Einfluß mehr oder weniger entzogen sind, berück¬
sichtigt man ferner die zahllosen Verlockungen und Verführungen,
denen unsere Jugend gerade im Entwicklungsalter ausgesetzt ist, selbst
wenn eine sorgende Elternhand über ihr waltet, so wird man — wieder
rein theoretisch — noch skeptischer werden in den Erwartungen von
der Fürsorgeerziehung. Die Praxis hat diese theoretischen Bedenken
zum Teil glänzend widerlegt, wie weiter unten ausgeführt werden soll.
Die von mir geäußerte Skepsis erfährt scheinbar eine Stütze, sobald
wir die Gründe näher beleuchten, welche bei unserem Material
unmittelbar die Überweisung in Fürsorgeerziehung
bedingt haben. Zwei meiner Leute scheiden aus; die Fürsorge -
anstalt hatte bei dem einen bereits jetzt — einige wenige Jahre nach
der Entlassung des Zöglings — die Akten vernichtet. Bei dem andern
habe ich nicht einwandfreie anamnestische Angaben erhalten können.
Unmittelbar im Anschluß an eine gerichtlich auferlegte und auch
verbüßte Strafe — meist Gefängnis, nur selten Haft — wurden 12
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Weyert,
der Zwangserziehung überwiesen. Von diesen 12 jungen Leuten wurde
bei dreien erst im Anschluß an die zweite, bei zweien sogar erst im
Anschluß an die vierte gerichtliche Strafe der Beschluß auf Fürsorge¬
erziehung gefaßt. Zu einem ganz andern Bilde gelangt man jedoch,
wenn man in den Beschlüssen die ausdrücklich erwähnten Straftaten
berücksichtigt, welche das Gericht ohne weiteres durch Freiheit¬
strafen hätte ahnden können. Es werden nämlich bei 23 (von den
27 Leuten) derartige Vergehen (bzw. Verbrechen!) erwähnt.
Fast in jedem Gerichtsbeschluß findet sich eine ganze Blütenlese
von Straftaten erwähnt, und es ist nicht möglich, jetzt zu entscheiden,
welches Delikt es hauptsächlich war, das den Anlaß zur Überweisung
in Fürsorgeerziehung geboten hat. Ich möchte jedoch eine Zusammen¬
stellung der von den Gerichten überhaupt erwähnten Vergehen usw.
im nachfolgenden — Interesses halber — geben. Es waren genannt:
Diebstahl (einschließlich Einbruchsdiebstahl) . 16 mal,
Unterschlagung . 5 mal.
Betrug." 2 mal,
unsittliche Handlungen an Mädchen . 4 mal,
rohe und gewalttätige Handlungen (einschließlich Tier¬
quälerei) . 6 mal,
Obdachlosigkeit, Bettelei, Umhertreiben . 16 mal;
ferner:
schlechte Charaktereigenschaften (Faulheit, Widerspenstig¬
keit, Lügenhaftigkeit, moralische Verkommenheit, Schul*
schwänzen). 18 mal;
Nur bei 4 von den 28 Leuten werden in den Gerichtsbeschlüssen
keine Straftaten erwähnt. Bei diesen waren es hauptsächlich die
eben erwähnten schlechten Charaktereigenschaften und das häufige
Schulschwänzen, welche sie in die Fürsorgeerziehung brachten. Von
diesen 4 jungen Leuten hatte jedoch keiner das 12. Lebensjahr bei der
Einweisung überschritten. Wir können mithin die Tatsache, daß
diese 4 keine Straftaten begangen hatten, mit Rücksicht auf ihre
Jugend nicht verwerten. 3 von diesen 4 Knaben sind in ihrem späteren
Leben häufig mit den Strafgesetzen in Konflikt gekommen — trotz
der frühzeitigen Fürsorgeüberweisung. Der 4. ist ein gutartiger,
harmloser, etwas haltloser Mensch, bei dem die Zwangserziehung
bestimmt Erfolg gehabt hat.
Die interessante Frage, wer den Anlaß, die Anregung zur Fürsorge-
Überweisung gegeben hat, vermochte ich leider aus den Personalakten
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Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezöglingen im Festungsgefängnis. 189
nicht eindeutig festzustellen. Es scheint die Anregung von der Schule
viermal, von der Ortspolizeibehörde dreimal und von den Eltern,
Vormündern viermal ausgegangen zu sein.
Das Bestreben, ein Bild von dem Verhalten und der Entwicklung
der Zöglinge in der Erziehungsanstalt zu gewinnen, stieß häufig auf
Schwierigkeiten. Regelmäßige, zusammenfassende. Schilderun¬
gen der Geistesbeschaffenheit eines Zöglings
habe ich leider nie gefunden. Fast stets mußte man sich aus den
kurzen Berichten der Erzieher die für die Beurteilung der geistigen
Entwicklung verwertbaren Hinweise heraussuchen und sie dann —
mosaikartig — zu einem Gesamtbilde zusammenfügen. Ich muß an¬
erkennen, daß fast in jedem einzelnen — meist Halbjahresbericht —
wertvolle Hinweise auf die Psyche sich befanden. War jedoch der
Zögling erst in die Lehre oder zu einem Bauern als Knecht gegeben,
dum war man vorzugweise auf die Briefe zwischen Anstalt und
Dienstherrn angewiesen, und diese besagten zumeist nicht allzu viel.
Nur einmal habe ich einen zusammenfassenden, ausführlichen Schlu߬
bericht eines Direktors (bei der endgültigen Entlassung eines Zöglings
aus der Fürsorgeerziehung) gefunden. Da dieser Bericht gleichzeitig
eine vorzügliche, dem betreffenden Zögling voll gerecht werdende
Schilderung darstellt, so möchte ich ihn wörtlich bringen, wenn ich
mich auch dem recht pessimistischen Endurteil nicht ganz anzu¬
schließen vermag.
„Die Entwicklung des K. während seiner 5jährigen Zugehörigkeit zur
hiesigen Anstalt war keine günstige. Sowohl in der Anstalt als auch im
Dienst hat er mir nur Not und Sorge bereitet. Wiederholt mußte er wegen
schlechter Führung in die Anstalt zurückgenommen werden. Sämtliche
Dienstherren beklagten sich über den losen Mund, das rohe und gemeine
Wesen des Zöglings. Auch die militärische Erziehung scheint dem Burschen
nicht zum Segen zu gereichen. Er hat seit seinem Diensteintritt schon
dreimal mit Arrest bestraft werden müssen. Von der Zukunft dieses jäh¬
zornigen Menschen, der anscheinend stark erblich belastet ist, verspreche
kh mir nichts Gutes. Ich vermute, daß er nach seiner Entlassung vom
Militär immer mehr sinken und in sein altes Leben zurückfallen wird.
Nach alledem kann er für die menschliche Gesellschaft'nur als „verloren“
betrachtet werden.“
Fasse ich die einzelnen, in den Fürsorgezeugnissen enthaltenen
Charakterschilderungen zu einem Gesamturteil zusammen, so werden
von den Anstalten selbst 8 Mann als unerziehbar und unbeeinflußbar
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Weyert,
bezeichnet. Ich vermag mich auf Grund einer kritischen Würdigung
des ganzen weiteren Lebenslaufes sowie auf Grund meiner eigenen
Untersuchungen diesen Urteilen nur anzuschließen. Ich möchte aus
den Erzieherberichten kurz einige Urteile anführen, um zu zeigen,
wie gut mit wenigen Worten eine weitgehende Charakteristik gegeben
werden kann.
„Ein überaus frecher, roher Bursche, der sich der Ordnung des Hauses
nicht fügen wollte und auf keine Weise erzieherisch auf sich einwirken
ließ“, oder bei einem andern: „Ein störriger, widerspenstiger Charakter,
wie wir ihn weder vor noch nach ihm in unserer Anstalt hatten“; ferner
bei einem Dritten: „Er ist faul, fügt sich nicht der Hausordnung, führt
freche Reden, besitzt Hang zu Raufereien und Saufereien, ist völlig ohne
Pflichtgefühl“; bei einem Vierten: „Er vermag sein Verhalten nicht nach
bestehenden Grundsätzen, z. B. Hausordnung, einzurichten; wir halten
ihn geistig nicht für normal.“ Letztgeschilderter Mann wurde wegen
Schwachsinns vom Militär entlassen. Die Berichte über die vier übrigen
Leute lauten im wesentlichen ähnlich, wenn auch nicht so präzis. Er¬
wähnen möchte ich nur noch einen Fall. In dem Bericht der Fürsorge¬
anstalt heißt es: „G. gehörte der Fortbildungsschulklasse für Schwach¬
begabte und geistig Minderwertige an. Wegen seiner geringen Begabung
vermochte er aber auch dem Unterricht dieser Klasse nicht zu folgen,
sondern mußte, zumal er weder lesen noch schreiben konnte, gesondert
mit Lese- und Schreibübungen, wie sie Kinder in den ersten Schuljahren
üben, beschäftigt werden. Er machte den Eindruck eines geistig nicht
ganz nortnalen Menschen.“ Die Fürsorgeanstalt bemühte sich sodann,
durch Vermittlung des Landeshauptmanns sowohl als auch direkt durch
Schreiben an das Regiment die Einstellung dieses Zöglings beim Militär
rückgängig zu machen. Ich vermochte auf Grund sehr umfassender Nach¬
forschungen und Untersuchungen die Ansicht der Fürsorgeanstalt über
die Dienstunbrauchbarkeit dieses Mannes nicht zu teilen, wenn ich auch
ohne weiteres zugebe, daß bei ihm eine Debilität vorlag, und mir auch bewmßt
war, daß genannter Mann nie ein zuverlässiger, wirklich brauchbarer Soldat
sein würde. Anscheinend hat er doch noch eine verspätete geistige Ent¬
wicklung durchgemacht, denn er w'ar sehr wohl imstande, über 1 y t Jahre
den dienstlichen militärischen Anforderungen zu genügen, war keineswegs
durch Dummheit aufgefallen, w'eder bei der Truppe noch im Festungs¬
gefängnis, wo ich Gelegenheit hatte, die Offiziere, Unteroffiziere und Kame¬
raden eingehend selbst zu sprechen, nachdem sie ihn auf meinen Wunsch
besonders beobachtet hatten.
Die eben genannte Zahl (8) erfährt eine beträchtliche Erweiterung,
wenn ich diejenigen Zöglinge hinzuzähle, bei denen zwar seitens der Er¬
ziehungsanstalt dasUrteil „unerzieh- und unbeeinflußbar“ nicht unmittelbar
ausgesprochen wird, bei denen jedoch Charaktereigenschaften erwähnt
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Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezöglingen im Festungsgefängnis. 191
werden, die gleichfalls eine mangelnde Beeinflußbarkeit erkennen lassen.
Eis sind dieses noch 6 Mann. Von diesen werden seitens der Anstalt
Schilderungen gegeben als „verstocktes Wesen, finsterer Blick, bedarf
strenger, fortwährender Aufsicht“ oder „bisweilen erregt und ausfallend,
frech, beträgt sich unanständig, lügt fürchterlich, ist ein großer Schwindler“,
ferner „ein ungezogener Bursche, der verschiedentlich entwichen ist,
dessen Leistungen ganz minimal sind, dessen Ordnungsliebe und Fleiß
viel zu wünschen übrig läßt, der viel gelogen“ (und anscheinend auch
gestohlen) hat; ferner noch: „ein dreister, frecher Bursche, ohne jegliche
sittliche Reife, leichtsinnig in seinen Angaben und ziemlich beschränkt“ usw.
Also 14 Leute — die Hälfte meines Materials — werden von der
Anstalt selbst mehr oder weniger eindeutig als unerziehbar bezeichnet.
Bei weiteren 6 Fürsorgezöglingen fanden sich in den Akten kurze
Bemerkungen, welche erkennen lassen, daß die Erziehung nicht geringe
Schwierigkeiten hatte. So werden als Charaktereigenschaften erwähnt:
„träges, zänkisches Wesen“, ferner „Leichtsinn und Mangel an ernste¬
rem Interesse für die Arbeit“, sodann „Mangel an Wahrheitsliebe“,
„Frechheit und Notwendigkeit häufiger strenger Zurechtweisung“ und
ähnliches. Gar nicht berücksichtigt habe ich die Fluchtversuche.
Ich kann nur sagen, daß jeder Zögling im Laufe der Zeit gelegentlich
versucht hat, zu entweichen; einzelne haben den Versuch sogar fünf-
bis sechsmal wiederholt, oft mit Erfolg. Nur bei 4 Leuten findet sich
in den Erziehungsakten die ausdrückliche Notiz, daß sie sich einwand¬
frei geführt hätten und gute Charaktereigenschaften besäßen. Diese
4 sind sämtlich haltlose Menschen, die unter ständiger Aufsicht sich
vielleicht sozial bewähren können, die aber — ohne derartige Aufsicht —
mehrfach mit den Strafgesetzen kollidierten und auch weiterhin kol¬
lidieren werden.
Um nun auf die Frage zurückzukehren, ob es der Fürsorge¬
erziehung als solcher zur Last gelegt werden
kann, wenn sie bei allen meinen Leuten nicht
imstande gewesen ist, sie zu sozial nützlichen
Gliedern zu machen, möchte ich gleich hier erwähnen, daß
es sich bei meinem Material durchaus um Ausnahmefälle handelt, und
daß meine Beobachtungen im schroffsten Gegensätze stehen zu den
Erfahrungen, die in der Statistik 1 ) über Fürsorgeerziehung Minder¬
jähriger niedergelegt sind.
l ) Statistik über die Fürsorgeerziehung Minderjähriger (Gesetz vom
2. Juli 1900) usw\ für das Rechnungsjahr 1909. Rawitsch 1911.
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Weyert,
Es sind umfassende Nachforschungen, Erhebungen usw. angestellt
worden über diejenigen Fürsorgezöglinge x ), die in der Zeit vom 1. April
1904 bis zum 31. März 1909 aus der Fürsorgeerziehung ausgeschieden sind.
Man vermochte über 8155 Zöglinge, das sind 82,1 % der überhaupt
zur Entlassung gekommenen, sichere Unterlagen zu gewinnen.
Es standen bei der
Es führten sich davon
Überweisung
im Alter von
genügend bis gut
zweifelhaft
ungenügend bis
schlecht
m.
w.
m.
w.
m.
w.
0—14 Jahren
86.1
88.0
7.3
7.2
7.6
4.8
14-16 „
76.1
76.4
10.2
9.8
14.7
14.8
16—18 „
64.0
66.0
11.8
13.0
24.2
22.0
Wenn auch aus vorstehender Tabelle sich eindeutig ergibt, daß bei
den in jugendlichem Alter bereits Überwiesenen eine erzieherische Beein¬
flussung weitaus günstiger sich gestaltet als bei den erst später Einge¬
wiesenen, so vermochte die Fürsorgeerziehung doch auch bei den Zög¬
lingen, die im Alter von 16 bis 18 Jahren eingewiesen wurden, noch recht
erfreuliche Erfolge zu erzielen. Daß diese auch dauernde waren, zeigt
nachstehende Tabelle:
Es schieden ans
im Jahre
1908 .
1907 .
1906 .
1906 _
1904 _
und führten sich nach der Ausscheidung
genügend bis gut
zus.
m.
w.
75.0%
76.4%
74.4%
70.1 „
71.0 „
69.0
66.8,,
66.4,,
66.1 „
61.4 „
69.0„
64.0„
63.8 „
61.6 „
67.7 „
oder: es haben sich von den 8155 Zöglingen nach der Entlassung geführt:
69,4 % genügend bis gut,
11.3 % zweifelhaft,
19.3 % ungenügend bis schlecht.
Es sei schließlich auch noch die Kriminalität in einer Tabelle er¬
läutert:
Es waren gerichtlich bestraft von den Zöglingen
vor oder während der Für¬
nach der Fürsorge-
sorgeerziehung
erziehung
zus. m. w.
zus. m.
w.
0—14jährig
36.7% 42.8% 19.6%
12.2% 16.3%
1-4%
14-16 „
60.8 „ 74.3 „ 36.6 „
19.7 „ 24.2 „
11.0 ..
16-18 „
64.9 „ 86.6 „ 41.6 „
31.0 „ 38.6 „
22.3 „
l ) Statistik über die Erfolge der Fürsorgeerziehung bei den in der
Zeit vom 1. April 1904 bis zum 31. März 1909 aus der Fürsorgeerziehung
ausgeschiedenen Personen, deren Überweisung nach dem Gesetz vom
2. Juli 1900 erfolgt war. Kgl. Ministerium des Innern. Rawitsch 1911.
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Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezöglingen im Festungsgefängnis. 193
Ich würde es für recht wünschenswert halten, daß in den künftigen
Statistiken die militärische Dienstzeit, besonders militärische Gefängnis¬
strafen mit berücksichtigt werden. Gerade die aktive Dienstzeit mit
der notwendigen straffen Selbstdisziplin und Unterordnung scheint
mir mit ein guter Prüfstein für den Erfolg einer gelungenen nach¬
haltigen Beeinflussung.
Diese außerordentlich günstigen Erfolge der Fürsorgeerziehung
werden in Zukunft noch zunehmen, wenn erst die umfassenden Ma߬
nahmen, welche der rechtzeitigen Erkennung, Unterbringung und Be¬
handlung der Psychopathen gewidmet sind, ihre praktische Wirkung
zeigen werden. Durch eine allgemeine Verfügung des Justizministers l )
vom 24. Juni 1909 werden „Ermittlungen im gerichtlichen Fürsorge¬
erziehungsverfahren über den geistigen und körperlichen Gesundheits¬
zustand des Minderjährigen“ angeordnet, und ein weiterer Erlaß 2 )
des Justizministers vom 9. Januar 1911 verfügt „die ärztliche Unter¬
suchung des Geisteszustandes der Minderjährigen im Laufe eines
gerichtlichen Fürsorgeerziehungsverfahrens“. Die von zahlreichen
Provinzial Verwaltungen veranlaßten Untersuchungen der in Fürsorge¬
erziehung befindlichen Zöglinge durch Psychiater hat bereits bemer¬
kenswerte Erfolge gezeitigt. Als solche sind zu nennen die Fortbildungs¬
kurse, in denen die Erzieher durch Psychiater in gemeinverständlicher
Weise auf die Erscheinungsformen des Schwachsinns hingewiesen und
ihr Blick für die Erkennung der geistig auffälligen Zöglinge geschärft
wird. Ein weiterer Erfolg ist die Einrichtung besonderer Erziehungs- *
anstalten für die Psychopathen bzw. ihre Überführung in Heil- und
Pflegeanstalten. Ferner sind für die geistig Minderwertigen besondere
Hilfsklassen in gewissen Anstalten eingerichtet, und schließlich ist
durch einen Erlaß *) des Ministers des Innern vom 2. November 1910
ungeordnet worden, „das Ergebnis der psychiatrischen Untersuchung
der minderjährigen Fürsorge- und Zwangszöglinge, sofern es auf
geistige Minderwertigkeit lautet, den Ersatzbehörden für die Ent¬
scheidung über die Militärpflicht der Zöglinge zugänglich zu machen“.
All diese dem Vorberichte der Statistik über die Fürsorgeerziehung
Minderjähriger entnommenen Schilderungen und Angaben zeigen
ebenso wie die zahlreichen Statistiken, in welch unermüdlicher, ziel-
l ) *) *) siehe Statistik über die Fürsorgeerziehung usw. Abschnitt B,
S. 89, 90, 128.
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194
Weyert,
bewußter Arbeit die Ausführungsbehörden bemüht sind, „die be¬
stehenden Einrichtungen zu vervollkommnen und die außerordent¬
lich schwierigen Erziehungsaufgaben, die die Fürsorgeerziehung täglich
neu stellt, nach Kräften befriedigend zu lösen“.
Ich möchte es als wünschenswert bezeichnen, wenn über jeden
Fürsorgezögling bei seinem Ausscheiden aus der Fürsorgeerziehung
auf einer Konferenz sämtlicher Erzieher ein zusammenfassendes, ab¬
schließendes Gutachten abgegeben und zu den Personalakten genommen
wird, etwa so, wie ich es wörtlich im vorhergehenden in einem Falle
anführen konnte. Ich glaube, daß — durch die Notwendigkeit eines
gegenseitigen Meinungsaustausches — Urteile über Charaktereigen¬
schaften von Zöglingen und Ansichten der Erzieher zur Sprache ge¬
langen, die sonst in die Akten nicht hineinkommen würden; für die
Nachforschungen gewännen wir sicher ein unschätzbares Material durch
diese zusammenfassenden Schlußgutachten.
Bereits mehrfach habe ich im vorhergehenden die soziale Be¬
währung gestreift; um auf sie im Zusammenhang näher einzugehen,
möchte ich zunächst kurz den Beruf des von mir untersuchten
Materials streifen. Es ergaben sich — obgleich dieses Kapitel ja noch
eigentlich zur Fürsorgeerziehung gehört — interessante Einblicke in
die Persönlichkeit meiner Leute.
Ein Handwerk hatten erlernt 7 Leute (5 das Schlosser- bzw. Schmiede-,
0 einer das Tischler-, einer das Schneiderhandwerk). 5 hatten die Lehrzeit
nicht durchgehalten, vier infolge ihrer Unbeständigkeit, indem sie aus der
Lehre entliefen; einer war für die Erlernung des freiwillig erwählten
Schmiedehandwerks — nach dem Urteil des Lehrherrn — zu „beschränkt“.
In bestimmten Betrieben waren bis zu ihrem Diensteintritt tätig
10 Mann, und zwar meist in der Landwirtschaft als Knechte bzw. in der
Stadt als Kutscher. Von diesen befanden sich mehrere monate- (ja einige
wenige sogar jahre-) lang bei denselben Arbeitgebern. Ein ausgesprochen
unstätes Leben führten 11 Mann. Von diesen waren als „Gelegenheits¬
arbeiter“ in verschiedenen Betrieben des Inlandes tätig 3 — soweit sie
nicht im Gefängnis saßen (s. Lebenslauf H., S. 217 u. 236, Be., S. 214
u. 235, W. S. 206 u. 231). 7 waren längere Zeit im Auslande, einer als
Wanderbursche, 6 auf Schiffen als Heizer, Kohlentrimmer, im Auslande
als Tagelöhner, Hafenarbeiter, auf Farmen usw. Nur einer — ein aus¬
gesprochen schwachsinniger Mensch — gab unumwunden zu, nie gearbeitet
zu haben, sondern als Zuhälter sich durch das Leben geschlagen zu haben
(s. Lebenslauf T., S. 208 u. 233).
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Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezöglingen im Festungsgefängnis. 195
Es nimmt kein wunder, daß von meinem Material ein nicht un¬
beträchtlicher Prozentsatz es versucht hat, sich dem Dienstein¬
tritt beim Militär zu entziehen. Im ganzen sind von
meinen 29 Mann 11 als unsichere Heerespflichtige eingestellt worden
(38 %); sicher eine recht hohe Prozentzahl, wenn man berücksichtigt,
wie relativ selten die unsicheren Heerespflichtigen beim Heere sind.
Einen stichhaltigen Grund für den Versuch, sich der Wehrpflicht zu
entziehen, habe ich bei den Leuten eigentlich nicht recht ermitteln
können; ich habe wenigstens nicht den Eindruck gehabt, daß bei der
Mehrzahl Furcht oder tiefergehende Abneigung gegen das Militärleben
die Ursache war, höchstens eine an und für sich allgemein bestehende
Abneigung gegen ein geordnetes, geregeltes, diszipliniertes Leben.
Diese Auffassung ergibt sich aus der Tatsache, daß von den 11 als
besonders unstät geschilderten Leuten allein 7 als unsichere Heeres -
pflichtige eingestellt worden sind.
Wenn schon die vorhergehenden Ausführungen einen wertvollen
Rückschluß auf das soziale Scheitern meines Materials zulassen, so
gibt doch das deutlichste Bild die Kriminalität.
Unbestraft sind nur 3. Von den verbleibenden 26 sind bestraft:
wegen: Anzahl der Personen:
Gewalt und Drohung gegen Beamte . 4
Hausfriedensbruchs. 3
Unzucht mit Gewalt usw. 0
Ärgernis durch unzüchtige Handlung. 0
Beleidigung. 0
einfacher Körperverletzung. 5
gefährlicher Körperverletzung. 1
einfachen Diebstahls, auch im wiederholten Rückfall. 16
schweren Diebstahls, auch im wiederholten Rückfall. 8
Unterschlagung . 3
Betrugs. 2
■Sachbeschädigung . 3
t'bertretungen nach § 360 Str.-G.-B. u. folg. (Betteln, Landstreichen,
Obdachlosigkeit, Unfug usw.) . 14.
Die Strafen gemäß § 360 u. folg, lassen keinen Rückschluß auf die
Persönlichkeit zu, so lange sie die einzigen Gesetzesübertretungen des
Mannes darstellen. Dieses ist bei 5 — unter den 14 gemäß § 360 usw.
Bestraften — der Fall In diesen 5 Fällen scheint es sich um gelegent¬
liches Betteln usw. aus Arbeitlosigkeit, Not gehandelt zu haben,
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Original fro-rri
UMIVERSITY OF MICHIGAN
196
Weyert,
beim Verüben von Unfug um Handlungen, die sicher unter stärkerer
oder geringerer Alkoholeinwirkung zustande kamen.
Als weitaus alle andern strafbaren Handlungen überragend stellen
sich die Vergehen gegen das Eigentum dar. Ich möchte die vor¬
stehende Tabelle noch ergänzen durch folgende Aufstellung:
Es wurden bestraft 1 2 3 4 6 6 mal
wegen einfachen Diebstahls (auch im wiederholten
Rückfall) im ganzen 16 M&nner, und zwar 8 4 3 — — 1
Von den 8 wegen schweren Diebstahls bestraften Personen waren
5 bereits wegen einfachen Diebstahls vorbestraft. Von den in vorstehender
Tabelle aufgeführten 8 wegen einfachen Diebstahls einmal bestraften
wurden 2 später noch wegen schweren Diebstahls bestraft, zeigten also
eine Tendenz zu gröberen Eigentumvergehen.
Ich wende mich im Nachfolgenden zu der Kriminalität
meines Materials während ihrer aktiven Dienstzeit
Die jetzige Gefängnisstrafe war — ohne Berücksichtigung bereits
früher verhängter militärischer Strafen mit Arrest, Gefängnis — ausge¬
sprochen worden:
wegen
bei
Soldaten
(Anzahl)
Von diesem
wurden in
Anschluß an
ihre Straftat
fahnenfltleht.
1. unerlaubter Entfernung .
8
2. Fahnenflucht .~.
8
3. strafbarer Handlungen gegen die militärische Unter¬
ordnung .
6
2
4. Unterschlagung.
2
1
6. Diebstahls (auch schweren) .
6
2
6. Betrugs.
1
7. Körperverletzung...
2
8. Notzucht.
1
—
Z u 1. Unter den wegen unerlaubter Entfernung jetzt mit Ge¬
fängnis bestraften Soldaten ist wegen desselben Vergehens einer bereits
4 mal, ein zweiter bereits 5 mal vorbestraft — letzterer überdies noch
8 mal mit Arrest und Gefängnis wegen strafbarer Handlungen gegen die
militärische Unterordnung — (s. Lebenslauf K., S. 207, u. M. A., S. 209).
Z u 2. Von den 8 wegen Fahnenflucht Verurteilten sind 6 schwerer
vorbestraft, und zwar einer wegen unerlaubter Entfernung mit Arrest,
zwei wegen Fahnenflucht mit Gefängnis, ein vierter zweimal wegen un¬
erlaubter Entfernung mit strengem Arrest und einmal wegen Fahnenflucht
mit Gefängnis. Ein fünfter ist wegen widernatürlicher Unzucht (begangen
an einer Stute) und anschließender Fahnenflucht mit Gefängnis vor¬
bestraft (s. Lebenslauf E., S. 212 u. 234). Ein sechster ist während seiner
10 monatigen Dienstzeit 17 mal mit — hauptsächlich strengem — Arrest
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Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezöglingen im Festungsgefängnis. 197
vorbestraft worden, davon allein 8 mal wegen Verstöße gegen die mili¬
tärische Unterordnung (s. Lebenslauf T., S. 208, graphisch 3, S. 233).
Z u 3. Die 6 Soldaten, verurteilt wegen strafbarer Handlungen
?egen die militärische Unterordnung, sind zur Hälfte schwerer vorbestraft.
Einer ist 6 mal, ein zweiter 4 mal wegen der gleichen Verfehlungen, jedoch
leichteren Grades, vorbestraft; von diesen beiden überdies einer noch
«mal wegen kleinerer Verstöße gegen die Disziplin (s. Lebenslauf K.,
S.207u. 232). Der dritte (s. Lebenslauf W., S. 206 u. 231) ist in 2 y 2 Jahren
zweimal wegen unerlaubter Entfernung mit strengem Arrest und Gefängnis,
einmal — ebenso wie jetzt — mit Gefängnis wegen Gehorsamverweigerung
und Achtungsverletzung sowie 8 mal wegen kleinerer Verstöße gegen die
Disziplin bestraft.
Z u 8. Von dem wegen Notzucht Bestraften sei nur — mit Rück¬
sicht auf die verhältnismäßige Seltenheit des Verbrechens — erwähnt,
iaB er 5 mal vorbestraft war wegen kleinerer Verstöße gegen die Disziplin
biw. Trunksucht im Dienst. Die Straftat selbst hatte er auch unter
Alkoholwirkung verübt.
Wie aus den vorhergehenden Ausführungen sich zeigt, spielt die
unerlaubte Entfernung von der Truppe bzw. Fahnenflucht die größte
Rolle. Es ist dieses im Hinblick auf die Eigenart der militärischen
Verhältnisse ja hinreichend verständlich. Ich möchte auf dieses Delikt
Loch etwas näher eingehen, gerade im Hinblick auf seine Bedeutung
■är militärische Verhältnisse.
Von meinen 29 Leuten wurden im ganzen fahnenflüchtig (bzw.
riifemlen sich unerlaubt von der Truppe) 16, das bedeutet 55 %.
Die Fahnenflucht (bzw. unerlaubte Entfernung) wurde begangen:
^1 im i. Vierteljahre der Dienstzeit von.6 Mann,
b) im 2. Vierteljahre der Dienstzeit von. 2 Mann,
•■) während des 2. Halbjahres der Dienstzeit von. 7 Mann,
'!) im 2. Dienstjahre nur von. 1 Mann,
■A zwar im Anschluß an einen Diebstahl.
Zu a. Von diesen 6 Mann wurde einer nach 10 Tagen, einer im 1.,
*-i im 2. und zwei im 3. Monat der Dienstzeit fahnenflüchtig.
Mehrfach fahnenflüchtig usw. während ihrer Dienstzeit wurden
Mion.
Daß während des ersten Halbjahres allein 8 — also die Hälfte —
Zufluchtig wurden, erscheint mir von Bedeutung. Das Militär-
-tn mit seinen zahlreichen fremdartigen Eindrücken, der Zwang zu
^ahbchkeit, Sauberkeit und Unterordnung ist sicher vielen unbequem,
*id «ine wirkliche Freude am Militärleben wird in dem allerersten
>nn der Dienstzeit wohl nur von wenigen empfunden. Jedoch
'** am Entschloß der Fahnenflucht ist ein weiter Weg. Die ständige
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198
W eyert,
Aufsicht, die gerade im ersten Vierteljahre den Rekruten im Interesse
der Ausbildung zuteil wird, die Bekanntgabe der strengen Strafen,
welche gerade auf die Fahnenflucht gesetzt sind, und zwar nicht nur
Freiheitstrafen, sondern auch die entehrende Versetzung in die 2. Klasse
des Soldatenstandes, das Bewußtsein, daß es unter den geordneten
heutigen polizeilichen Maßnahmen doch schwierig ist — zumal ohne
Geld und fern vom Elternhause — sich längere Zeit verborgen zu halten
— alle diese Faktoren lassen einen geistig Vollwertigen doch nur in
den alleräußersten Fällen den Gedanken einer Fahnenflucht ernstlich
in Erwägung ziehen. Sehr wohl ist es möglich, daß ein Mann den
Urlaub überschritten hat und nun aus Furcht vor Strafe nicht wagt,
sofort zurückzukehren. Ich gebe ohne weiteres zu, daß sich auf diese
Weise auch einige Fälle von unerlaubter Entfernung bei meinem
Material erklären. Aber dem geistig Vollwertigen geht doch die Dis¬
ziplin zu tief in Fleisch und Blut über, als daß er es wagt, sobald der
Urlaub einmal überschritten ist, nun ganz und gar davonzulaufen,
ohne Überlegung, daß er dadurch seine Straftat nur vergrößert und
bei der Festnahme schwerere Strafe zu gewärtigen hat. Es haben sich
nun von den 16 Leuten dieser Gruppe allein 5, also ein Drittel, mehr¬
fach von der Truppe entfernt bzw. sind fahnenflüchtig geworden,
und zwar obgleich sie durch die vorhergehenden Fälle von der Aus-
sichtlosigkeit ihres Unterfangens hätten überzeugt sein müssen. Sie
entwickelten also eine Unbelehrbarkeit, die allein schon die Aufmerk¬
samkeit des Psychiaters zu erregen imstande war.
Im nachfolgenden zweiten Teil meiner Arbeit
möchte ich näher auf die Psyche meines Materials ein-
gehen. Ich trat an die Untersuchung heran in der Erwartung, daß
es mir mehrfach gelingen würde, Fälle von Jugendirresein bzw. von
eigentlichen Psychosen zu ermitteln. In dieser Annahme täuschte
ich mich jedoch. Es handelt sich fast ausschließlich um angeborene
Schwachsinnszustände oder die große Gruppe der psychopathischen
degenerativen Konstitutionen. Die Tatsachen, daß — wie ich aus
eigener Erfahrung sagen kann — wirkliche Psychosen beim Militär
wohl kaum noch zur Aburteilung oder Einweisung in die Gefängnisse
kommen, ist zurückzuführen auf das wachsende Verständnis gerade
von uns Militärärzten für die Psychiatrie, welches durch die zahl¬
reichen Maßnahmen der Medizinalabteilung, die Veröffentlichungen in
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Original fro-m
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Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezöglingen im Festongsgefängnis. 199
den speziell militärärztlichen Zeitschriften usw. noch ständig gefördert
und vertieft wird. Es hat ferner seinen Grund darin, daß in höchst
dankenswerter Weise seitens der militärischen Gerichte gerade der
Psychiater ungemein häufig um sein Urteil gefragt wird, sicher weit
häufiger, als es bei den Zivilgerichten der Fall zu sein pflegt.
Unter meinem hier verwerteten Material findet sich nur ein Fall
von Jugendirresein, welches erst im Gefängnis zum Ausbruch
kam. Der Fall sei nachstehend geschildert, da er viele interessante
Momente darbietet.
Jas.; unehelich geboren; vom Vater ihm nichts bekannt. Die Mutter
heiratete später und starb vor einigen Jahren an Wassersucht. Uber
Nerven-, Geisteskrankheiten usw. in der Familie nichts zu ermitteln.
Keine Kinderkrankheiten. Besuchte kaum die Schule, da die Eltern als
Binnenschiffer fast ständig unterwegs waren. Mit 11 y 2 Jahren regelmäßige¬
rer Schulbesuch, da die Eltern seßhaft wurden. Das Lernen fiel ihm schwer,
hatte „keine Lust“, schwänzte fast andauernd und kam in Fürsorge¬
erziehung. In der Anstalt war er ein williger, harmloser Junge, der
sich jedoch leicht von den Kameraden verführen ließ und allerlei dumme
Streiche ausübte. Vom 15. bis 17. Lebensjahre war er bei einem Bauern
als Knecht untergebracht, führte sich jedoch angeblich infolge ungenügen¬
den Essens und infolge Mißhandlung schlecht, machte zwei Selbstmord¬
versuche (durch Erhängen und öffnen der Pulsadern), lief davon, stahl
Tauben und Hühner, die er verkaufte usw. Infolgedessen kam er auf
'■in Jahr in die Anstalt zurück, wo er sich wieder — scheinbar — leidlich
führte. Als Knecht auf einem Gute untergebracht, geriet er in Schläge¬
reien, beging Diebstähle und wurde zu V/ 4 Jahr Gefängnis verurteilt. Nach
Verbüßung der Strafe war er mehrere Monate als Matrose teils auf Übersee¬
dampfern, teils auf Segelschiffen tätig und wurde Oktober 1907 bei einem
Infanterieregiment eingestellt. Abgesehen von zwei kleineren Arrest-
'trafen wegen unpassenden Benehmens gab seine Führung zu Tadel keinen
Anlaß. Im Dezember 1908 beging er als Postordonnanz mehrere Dieb-
Stahle (durch öffnen fremder Pakete, deren Inhalt er für sich verwendete),
wurde im Januar 1909 zu 1 \ 2 Jahren Gefängnis verurteilt und kam im
Februar 1909 zur Strafverbüßung in das Festungsgefängnis Spandau.
Die Stubenkameraden schilderten ihn als fleißigen, willigen Menschen,
fröhlichen, stets zu Scherzen und Lachen aufgelegten Kameraden, der sich
allerdings durch sein Lachen und ein gewisses vorlautes Wesen mehrfach
kleine Disziplinarstrafen zuzog. Strafen nahm er sich zuweilen recht
iu Herzen, weinte und erklärte, er wolle nun ein anderes, ordentliches
Leben beginnen. Zeitweilig zeigte er sich für Stunden bis 2 Tage lang
unzugänglich, ging nicht auf die Scherze der Kameraden ein und war —
gegen sonst — leicht empfindlich. Diese Zustände sollen besonders auf-
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
200
Weyert,
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getreten sein, sobald das Gespräch auf die Mutter des Jas. kam, an der
er mit offenkundiger Liebe gehangen hatte. Einige Male will auch ein
Stubenkamerad beobachtet haben, daß J. still und teilnahmlos unter
seinem Wandschränkchen saß. Auf Fragen habe er den Kameraden
groß und völlig verständnislos angestiert, die Gesichtsfarbe sei auffällig
blaß gewesen. Nach kurzer Zeit sei er dann wieder „allmählich mitteil¬
samer und froher“ geworden. Den Vorgesetzten, Arzt, Anstaltgeistlichen
fiel er in keiner Hinsicht auf.
Am 18. November 1909 ließ sich Jas. früh eine kleine Hautwunde
ärztlich verbinden, wurde hierbei ohnmächtig, erholte sich aber bald und
nahm seine Arbeit wieder auf. Einige Zeit darnach wurde ihm „schwindlig“,
und er erhielt die Erlaubnis, sich ins Bett legen zu dürfen. Hier wurde ihm
wieder schwindlig und übel, und es setzt von jetzt ab ein mehrstündiger
Erinnerungsdefekt ein. Während desselben spielte sich folgendes ab: Jas.
wälzte sich viel im Bette umher, drehte und krümmte den Körper zu¬
sammen und reagierte nicht auf Fragen. Herbeigerufen, fand ich ihn
stöhnend und unruhig sich im Bette umherwälzen. Auf Anrufen führte
er Aufträge, z. B. öffnen der Augen, Vorstrecken der Zunge, Hochheben
der Hand usw., sinngemäß und ohne wesentliche Verlangsamung aus.
örtlich war er richtig orientiert, erkannte mich als Arzt und erinnerte sich,
daß ich ihm seinen Finger verbunden hatte. Er wußte jedoch nicht mehr,
wann es geschehen war (vor 10 Stunden!). Auf weitere Fragen erfolgten
nur sehr spärliche, oft gar keine Antworten. Puls 72, regelmäßig, Pupillen
mittelgut, weit und ausgiebig reagierend. Zunge wird gerade vorgestreckt,
zittert nicht. Keine Bißverletzungen. Sofort in das Lazarett überführt,
wälzte er sich auch hier unruhig umher, sprach viel vor sich hin, „als ob
er sich auf einem Schiffe befände, z. B. Anker heben, Segel raffen usw.“.
Allmählich wurde er ruhiger, schlief ein und erwachte am folgenden Morgen
völlig klar, jedoch mit einer Amnesie für die vorhergegangenen Ereignisse.
Ich beobachtete ihn noch mehrere Tage im Lazarett, entließ ihn dann
wieder versuchweise zum Dienste im Gefängnis, ließ ihn jedoch ständig
unauffällig beobachten, fragte unauffällig die Kameraden über ihn, unter¬
hielt mich selbst mit ihm bei jeder passenden Gelegenheit usw. Sein
ganzes Verhalten dienstlich und außerdienstlich blieb gegen früher völlig
unverändert, so wie es bereits geschildert wurde. Am 14. Februar 1910
fiel er in seiner Stube dadurch auf, daß er viel umherging, andauernd etwas
suchte, wobei er vor sich hinsprach, z. B. „Wo ist es denn hin“, „Ich habe
es doch hier vergraben“ usw. Am 15. Februar war sein Benehmen gegen
die Kameraden diesen auffällig; Jas. trat z. B. plötzlich zu einem Stuben-
kameraden heran und sagte unmotiviert: „Der Mann hat Recht“. Den
Vorgesetzten ahmte er hinter dem Rücken nach, schwätzte viel verwirrtes,
dummes Zeug, fuhr mit seinem eigenen Gesicht andern in das Gesicht,
stieß grunzende Laute aus, zeigte sich ganz unzugänglich für eine zu¬
sammenhängende, geordnete Unterhaltung. In der Nacht vom 15. zum
Go
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Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezöglingen im Festungsgefängnis. 201
lß. Februar 1910 weckte Jas. plötzlich einen Stubenkameraden und fragte:
..Hast du sie weggenommen ?“ Ohne die Antwort abzuwarten, ging er
fort, holte sich einen Besen, fuhr mit diesem unter die Betten, dabei
murmelnd: „Die kleine Maus habe ich gefunden, die große kann ich nicht
linden.“ Kameraden, die ihn beruhigen wollten, bedrohte er mit dem
Besen, fing an zu lärmen, militärische Kommandos laut zu rufen, ergriff
tinen Kasten, den er umherschob, wobei er den Ruf der Automobilhupe
nachahmte. Auf alle Fragen usw. gab er nur stereotyp dieselbe Antwort:
..Ich habe die weiße Maus nicht gemordet“. Einem herbeigerufenen Unter¬
offizier antwortete er auf alle Fragen stereotyp: „Rock ohne Ärmel“.
Isoliert — zur eigenen Sicherheit — schlief er kurze Zeit, saß dann in hocken¬
der Stellung auf dem Bett. Auf Fragen erzählte er in konfuser, verworrener
Weise, sein Vater sei Bürgermeister, habe seine eigene Frau ermordet usw.
Ich fand ihn in einer Ecke der Zelle stehend, vor sich hinstierend, ohne
«einer Umgebung Beachtung zu schenken. Aufgerüttelt, bezeichnete er
mich — auf dahingehende Frage — als einen „Preuß“, war zeitlich und
örtlich unorientiert, behauptete, der Vater habe die Mutter ermordet, und
er werde der Täterschaft bezichtigt. Die Gegenstände der Zelle benannte
er richtig; den ihm gereichten Kaffee wollte er nicht trinken, das sei Wasser
und röche nach Leichen. Der Puls, 76, regelmäßig; die Pupillen reagierten
prompt und ausgiebig; die Patellarreflexe in‘normaler Stärke auslösbar.
Romberg war angedeutet. Bei Beklopfen der Muskeln trat deutliches
fibrilläres Muskelzucken ein. Es bestand ferner eine allgemeine, leichte
Hypalgesie, lebhafte Dermographie, angeblich leichtes Globusgefühl.
Durch Druck auf die Austrittsteilen der NN. supraorbitales sowie vom
linken sogenannten Ovarialpunkte konnten typisch psychogene Zustände
■msgelöst werden, nämlich Schwindelgefühl, Gefühl des reifenförmigen
Kopfschmerzes, leichte Übelkeit, Herabsetzung des Hörvermögens usw.
Durch leichte Suggestion gelang es, diese Empfindungen zum Schwinden
zu bringen bzw. sie in beliebiger Weise zu modifizieren. Auch leichte
kataleptische Zustände konnten künstlich — durch Suggestion — hervor-
Rerufen werden. Vorübergehend vermochte ich das sogenannte Ganaersche
Svmptomenbild zu beobachten. Nach 23 Tagen trat eine Änderung des
Krankheitbildes ein. Die psychogenen Symptome schwanden völlig, und
« entwickelten sich ausgesprochene katatonische Erscheinungen. Jas.
Mand oder saß teilnahmlos umher in deutlich gebundener Haltung, den
Kopf auf die Brust gesenkt, die Hände gefaltet, mit starrem, unbewegtem
Oesichtsausdruck. Es bestand Katalepsie, deutliche Echolalie, leichter
Negativismus, zeitweilig völliger Mutazismus. Zuweilen gab er auf Fragen
«pärliche Antworten; z. B. auf die Frage, wie es ihm ginge, klagte er tage¬
lang über Schwindelgefühl: „Das Schiff schaukelt so“. In der Folgezeit
wurde er vorübergehend zugänglicher, zeigte sich ständig zeitlich und
örtlich unorientiert, verkannte die Kameraden, duzte mich (gleichfalls
nfolge Personenverkennung), hatte Gesichts- und Geschmackstäuschungen,
Z«MvUt fbr P*jreHk4ri«. LXIX. 2. 14
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Go^ 'gle
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
202
Weyert,
auch Gehörshalluzinationen. Immer deutlicher trat die Katalepsie in Er¬
scheinung sowie — allerdings wechselnd — Echopraxie, Echolalie und kör¬
körperliche Sensationen (in Entwicklung begriffener physikalischer Ver¬
folgungswahn). Eines Nachts unternahm er einen ernstgemeinten Selbst¬
mordversuch, indem er unter die Bettdecke kroch und versuchte, sich mit
dem Halstuch zu erdrosseln.
Im Mai erfolgte seine Überführung in eine Irrenanstalt.
Den Fall habe ich absichtlich so ausführlich geschildert, da er in
verschiedenster Beziehung bemerkenswert ist.
Er zeigt zunächst die Schwierigkeit einer exakten Diagnosen -
Stellung. Ein bisher völlig unauffälliger Mensch erkrankt ganz plötzlich
an einem Dämmerzustände, dessen Deutung unmöglich war — infolge
mangelnder Unterlagen für die Erkenntnis der zugrunde liegenden
Psychose (Epilepsie, Hysterie usw.). Der Dämmerzustand klingt in
wenigen Stunden ab, der Mann versieht ein Vierteljahr hindurch völlig
unauffällig und geistig gegen früher unverändert seinen militärischen
Dienst. Wiederum plötzlich tritt eine auffällige Änderung in seinem
äußeren Verhalten auf; er wird läppisch, verwirrt, erregt, hat Sinnes¬
täuschungen, zeigt das Oanser Bche Symptom, so daß man zunächst
an einen hysterischen Dämmerzustand denken mußte. Sehr bald
aber entwickelte sich ein typisches Jugendirresein, eine Katatonie,
welche die Aufnahme des Mannes in eine Irrenanstalt bedingte.
Wie meine Nachforschungen eigaben, hat der Mann bereits 2 Tage
vor der Lazarettaufnahme Zeichen von geistiger Veränderung gegen¬
über den Kameraden gezeigt, ohne daß diese es für nötig hielten, die
Vorgesetzten bzw. den Arzt zu benachrichtigen. Gerade akutere
psychische Störungen (Erregungs-, Verwirrtheitszustände, Sinnes¬
täuschungen, Wahnideen) sind für die Erkenntnis einer Dementia
praecox überaus wertvolle Hilfssymptome. In zahlreichen Fällen des
Jugendirreseins fehlen sie bekanntlich völlig, und hier sind es „nur
allmählich in Erscheinung tretende psychische Ausfallsymptome und
Insuffizienzerscheinungen“, Beeinträchtigung „der Funktionen der
Ausdauer, der Aufmerksamkeit und Kombinationsfähigkeit“ (Wieg-
Wickenthal 1 )), welche das Krankheitbild beherrschen. Gerade aber
diese Erscheinungen werden erfahrunggemäß von der Umgebung fast
*) Wieg-Wickcnthal, Zur Klinik der Dementia praecox. Seite 8.
Sammlung zwangloser Abhandlungen aus dem Gebiete der Nerven- und
Geisteskrankheiten. Marhold, Halle 1908.
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Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezöglingen im Festungsgefängnis. 208
stets übersehen oder verkannt und als Ausfluß von Trägheit, Dick¬
felligkeit usw. gedeutet. Für unsere militärischen Verhältnisse besteht
die Schwierigkeit, daß wir nur selten in der glücklichen Lage sind,
die Eltern, Angehörigen, Dienstherren usw. mündlich zu sprechen,
mithin kein klares Bild über den Geisteszustand eines Mannes vor
seinem Diensteintritt gewinnen können. Entgehen uns die oben
erwähnten akuteren psychischen Störungen, oder aber fehlen sie in
der häufig schleichenden Entwicklung des Jugendirreseins gänzlich,
so erwachsen uns bei forensischen Fällen nicht geringe Schwierigkeiten.
Es taucht dann der in Laienkreisen noch so viel spukende Begriff
..Simulation“ auf, und der Arzt wird — bei dem bekannten Mißtrauen
gegen die Psychiater — für zu leichtgläubig gehalten, wenn er unter
höherer Bewertung der Angaben der Kameraden als der Vorgesetzten
die angebliche Trägheit, Unart, Unfolgsamkeit usw. als Zeichen einer
beginnenden Geisteskrankheit erklärt. ''
Anderseits zeigt dieser Fall, welch ungemein wertvolle Beobachtun¬
gen uns notgedrungen entgehen müssen, sobald sich ein Sträfling in
Einzelhaft befindet. Ich hatte in Fällen von sogenanntem Zuchthaus¬
knall bei Einzelgefangenen mehrfach den Eindruck, daß doch wohl
schon wichtige psychische Veränderungen in den letzten Tagen
vor dem Ausbruch Vorgelegen haben mochten, deren Kenntnis die
Beurteilung des betreffenden Falles nicht unwesentlich erleichtert hätte.
Bei der — wie bereits erwähnt — oft recht langsamen und sich
lange Zeit hinziehenden Entwicklung des Jugendirreseins ist seine
Abgrenzung und Unterscheidung von andern Psychosen, besonders
aber von den psychasthenischen Zuständen, nicht leicht.
Daß epileptiforme Anfälle im Beginn der Dementia praecox Vor¬
kommen können, ist eine hinreichend bekannte Erfahrungstatsache.
IHe Abgrenzung von einer genuinen Epilepsie wird aber wohl kaum
je Schwierigkeiten bereiten. Ebenso wird die progressive Paralyse
wohl gleichfalls differentialdiagnostisch meist ausgeschaltet werden
können.
Wesentlich schwerer ist bereits die Unterscheidung von den
psychasthenischen Zuständen. Recht häufig finden wir „bei Beginn
einer Dementia praecox — noch vor dem Ausbruch der psychischen
Dissoziationserscheinungen — ein kürzer oder länger dauerndes hypo-
ehondrisch-neurasthenisches Zustandbild, Immer aber habe ich ge-
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fanden, daß diese symptomatischen Neurasthenien mit hypochondri¬
schen Vorstellungen im Initialstadium der Dementia praecox von
vornherein das ominöse Gepräge mangelnder psychischer Reaktion
im Sinne einer gewissen Resignation und Apathie an sich tragen,
wodurch derartige angehende Dementia praecox-Kranke ganz wesent¬
lich kontrastieren von den unstäten, überall hilfesuchenden, klage¬
reichen und nie zufriedenen eigentlichen Neurasthenikern“ ( Wieg -
Wickenthal S. 42).
Die Differentialdiagnose zwischen Hysterie und Dementia praecox
schließlich gehört „in gewissen Fällen vielleicht zu den schwierigsten
Fragen der klinischen Psychiatrie“, wie Wieg-Wickenthal an der Hand
mehrerer Fälle ausführt und einige im vorigen Jahre veröffentlichte
Krankengeschichten von Lückerath 1 ) gleichfalls illustrieren. „Bei
beiden Gruppen von Geistesstörungen — wenigstens im ersten Ver¬
laufe der Psychose — können rein funktionelle Störungen (Willens¬
störungen) allem Vorkommen, ohne deutlich hervortretende Demenz
oder psychische Dissoziationserscheinungen.“ Über die Differential¬
diagnose möchte ich Wieg-WickerUhal weiter zitieren.
1, „Die eigentlichen hysterischen Psychosen (Äquivalentpsychosen,
postparoxysmale Störungen, Raptus hystericus, akute paranoide Zustand¬
bilder, chronische hysterische Psychosen) sind im allgemeinen im Ver¬
gleiche zu dem häufigen Auftreten der Dementia praecox gerade im Puber¬
tätsalter selten; nach dem 25. Lebensjahre nehmen die hysterischen
Psychosen nach unserer Erfahrung wieder an Häufigkeit zu.
2. Jede akut oder subakut einsetzende Psychose mit hysteriformen
oder neurasthenischen Zügen, die bei einem früher ganz gesunden Patienten
ohne degenerative Veranlagung und ohne hysterisch-neurasthenische Ante-
zedentien auftritt, ist einer Dementia praecox verdächtig, besonders dann,
wenn ein stuporöser Zustand oder tobsuchtartige Erregung die Szene er¬
öffnet (Katatonie).“
Die große Bedeutung — der angeborenen Schwachsinnszustände
aller Grade — von der Idiotie bis zur leichten Debilität — für das
Heer hat überaus zahlreiche Arbeiten gezeitigt, auf die ich hier nicht
näher eingehen kann. Ich glaube, daß die Zahl der Schwachsinnigen
im Heere — vorzugsweise der leicht Schwachsinnigen — eher unter¬
schätzt als überschätzt wird. Bei dieser großen Rolle der Im¬
bezillität ist es leicht begreiflich, daß auch unter meinen ehemaligen
*) Lückerath , Zur Differentialdiagnose zwischen Dementia praecox
und Hysterie. Allg. Ztschr. f. Psychiatrie 1911, Bd. 68, Heft 3, S. 312.
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Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezöglingen im Festnngsgefängnis. 205
Fürsorgezöglingen ein nicht geringer Prozentsatz von Schwach¬
sinnigen sich befindet.
Ich möchte zunächst einige Fälle von stärkerem Schwachsinn
schildern.
1. M., 25 Jahre alt, ehelich geboren. Der Vater starb an einer rasch
verlaufenden Krankheit, eine Schwester der Mutter war mehrfach im
Irrenhause, eine Schwester des M. in einer Erziehungsanstalt, da sie stets
..von Hause fortläuft“. Nähere Angaben über die Familie konnten nicht
erlangt werden, da M. seit 15 Jahren zu der Mutter keine Beziehungen
unterhält. Als Kind machte er Lungenentzündung und eine Drüsen-
Operation am Halse (Narbe sichtbar) durch. In der Schule lernte er
schlecht, besonders Rechnen und Geographie fiel ihm schwer. Wegen
häufigen „Schwänzens“ der Schule und Mangel an erzieherischem Einfluß
der Mutter kam er mit 12 Jahren in eine Fürsorgeanstalt. Nach den Akten
der Anstalt zeigte er sich im Unterricht „sehr beschränkt“, „erschien zu
der Erlernung eines Handwerks nicht begabt genug“, war „träge“, stahl,
lief davon. Der Versuch, ihn bei einem Bauern unterzubringen, scheiterte,
da M. auch diesem davonlief, dumme Streiche beging, stahl. Er ver¬
brachte daher die Zeit vom 12. bis 21. Lebensjahre fast ausschließlich
in der Anstalt selbst. Vom 19. bis 21. Lebensjahre ist er viermal gerichtlich
bestraft, dreimal wegen Betteins mit Haft, einmal wegen Hausfriedens¬
bruchs mit Gefängnis. 1906 aus der Fürsorgeerziehung entlassen, fuhr
er als Schiffsknecht umher und wurde August 1907 als unsicherer Heeres-
pflichtiger eingestellt. Bereits 6 Wochen nach dem Diensteintritt wurde
er fahnenflüchtig, aber sehr bald ergriffen und zu 6 Monaten Gefängnis
verurteilt. Im Gefängnis führte er sich straffrei Am 25. März 1908 zur
Truppe entlassen, wurde er nach einem halben Jahre zum zweiten Male
fahnenflüchtig, wieder nach kurzer Zeit ergriffen und zu 1 Jahr 7 Monaten
Gefängnis verurteilt (hier wieder straffreie Führung). Der Kompagniechef
beieichnete ihn in seinem Bericht als „geistig minderwertigen Menschen“
von stillem, stumpfem Wesen. Ein im wesentlichen gleiches Urteil fällte
der Kompagniechef im Festungsgefängnis über M. Gründe für seine wieder¬
holte Fahnenflucht vermochte M. nicht zu nennen; nach ausdrücklicher
Angabe hatte er es gut bei der Truppe; sexuelle Motive lagen nicht vor,
■“bensowenig Alkoholwirkung. „Ich habe es mir nicht überlegt.“
Die Intelligenzprüfung wies einen Schwachsinn recht beträchtlichen
Grades nach. M. wußte nicht einmal die Namen seiner Vorgesetzten,
ebensowenig Vor- und Familiennamen der Mutter. Er zeigte sich unfähig,
•‘infache Kombinations-, Differenzierungsaufgaben zu lösen, versagte
bereits bei der allereinfachsten Ebbinghausschen Probe, sprach nur fünf¬
stellige Zahlen richtig nach, entwickelte bei Assoziationsaufgaben eine
hochgradige Armut an Vorstellungen usw.
Die körperliche Untersuchung zeigte M. als Mikrozephalen (52 cm
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Schädelumfang). Schädel und Gesicht waren unsymmetrisch, die Stirn
sprang stark vor, während die Schläfengegend deutlich eingefallen erschien.
Beide Augäpfel standen ungleich hoch, links bestand Schielen. Die Nase
verlief schief nach rechts. Am linken Ohr Z)ara>mscher Höcker; ferner
Plattfußanlage. Auf den Armen fanden sich Tätowierungen (zwei Hände
umrahmt von einem Kranz sowie ein Monogramm). Das Nervensystem
zeigte — außer leichter Dermographie — keine Besonderheiten. M. wurde
wegen Schwachsinns dienstunbrauchbar entlassen.
2. W. (graph. Lebenslauf 1, s. S. 231), 24 Jahre alt, ehelich geboren.
Der Vater war früher Säufer. Nähere Angaben über erbliche Belastung
fehlen, da W. seit langen Jahren ohne Beziehungen zu den Eltern ist. In
der Schule begriff er schwer und vergaß leicht, schwänzte viel, war ein
Taugenichts, wurde zuerst mit 13 Jahren wegen Sachbeschädigung gericht¬
lich mit einem Verweise bestraft und kam in Fürsorgeerziehung. Die erste
Anstalt bezeichnet seine Führung als schlecht und ihn selbst als „ver¬
stockte Natur, die sich nur dem Zwange füge“; die andere Anstalt kenn-
zeichnete ihn als „rohen, zu Gewalttätigkeiten geneigten Burschen, der
sich nicht an Ordnung und Zucht gewöhnen wollte“. Mehrfach verstand
er es zu fliehen (s. Skizze). Vom 17. bis 20. Lebensjahre (1902 bis 1905)
wurde er viermal gerichtlich mit Gefängnis bestraft, zweimal wegen Sach¬
beschädigung und zweimal wegen Diebstahls. Oktober 1907 Diensteintritt
(im 22. Lebensjahre). Anfangs führte er sich straffrei, fand sich auch
leidlich in das militärische Leben hinein. Nach einem halben Jahre jedoch
ließ er in seinen Leistungen nach, vernachlässigte sich in seinem Anzuge,
fing an zu trinken, überschritt den Urlaub, entfernte sich mehrfach von
der Truppe, wurde frech gegen Vorgesetzte, verweigerte den Gehorsam usw.
Er ist in den 2 l /i Jahren seiner Dienstzeit bestraft worden viermal mit
Arrest und Gefängnis wegen unerlaubter Entfernung bzw. Urlaubsüber¬
schreitung, zweimal wegen Achtungsverletzung und Gehorsamsverweige¬
rung mit Gefängnis und außerdem noch mit zahlreichen kleineren Diszi¬
plinarstrafen. Bei der Truppe gilt er als „minderwertiger, verwahr¬
loster Mensch“. Auch bei ihm konnte ich einen beträchtlichen Grad von
angeborenem Schwachsinn nachweisen. Hierfür sprach ja auch die völlige
Unbeeinflußbarkeit durch Strafen, seine Unbelehrbarkeit und Unfähig¬
keit, sich gegebenen Verhältnissen unterzuordnen. Er täuschte vielleicht
eine bessere Intelligenz vor — als er sie tatsächlich besaß — dadurch,
daß er gern Schlagworte anwendete und sich als ein Opfer der Verhältnisse
hinstellte. So z. B. antwortete er auf die Frage, ob ihm die mehrfachen
Ermahnungen des Geistlichen nicht zu Herzen gegangen seien: „Das glaube
ich doch nicht, was der sagt“, und weiter über seine Erziehung: „Ich bin
nie unter verständigen Menschen gewesen“.
Die körperliche Untersuchung ergab einen asymmetrischen Lang¬
schädel (Horizontalumfang 56 cm), schiefgestellte Nase, niedrige Stirn,
tiefliegende Augen infolge stark vorspringender oberer Augenhöhlen-
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Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezöglingen ira Festungsgefängnis. 207
ränder, eingesunkenen Nasenwurzelansatz, enge Lidspalten und einen sehr
massigen breiten Gesichtsschadei. Das Nervensystem zeigte keine Be¬
sonderheiten. W. wurde gleichfalls als dienstunbrauchbar entlassen.
3. K. (Skizze 2, s. S. 232), 22 Jahre alt, unehelich geboren. Der Vater
Ist ihm nicht bekannt, die Mutter hat einen andern geheiratet. Über erbliche
Belastung ist nichts bekannt. Bis zum 8. Lebensjahre wurde er von den
Eltern der Mutter erzogen, kam dann zu der Mutter, die inzwischen ge¬
heiratet hatte. Von dem Stiefvater wurde er angeblich viel geschlagen
und schlecht behandelt, lief daher mehrfach von Hause fort. Das Lernen
fiel ihm schwer, begriff schlecht, war „schwach im Kopfe“ und schwänzte
viel. Mit 11' , Jahr kam er in Fürsorgeerziehung. In dem Beschluß des
Amtsgerichts wird erwähnt, daß K. dem Pflegevater Geld unterschlagen,
ein Yagabundenleben geführt, gestohlen. Schule und Konfirmationsunter¬
richt fast gar nicht besucht habe, und daß die Eltern und der Vormund
außerstande seien, den K. zu „bändigen“. Bei der Aufnahme waren seine
Schulkenntnisse ungenügend. Über sein Verhalten in der Anstalt finden
<i< h Bemerkungen wie: „frech, dreistes, vorlautes Wesen, sehr hitzig und
leichtfertig, in seinen Angaben leichtsinnig“. Er wird ferner als „ziemlich
lieschränkt“ bezeichnet. Mehrfach entwich er, befreite dabei auch gelegent¬
lich andere Zöglinge. Zu einem Bauern als Knecht gebracht, beging er
Einbruchdiebstähle, Messerstechereien, beteiligte sich an Schlägereien,
warf Fensterscheiben ein usw. Vom 17. bis 20. Lebensjahre (1905 bis 1908)
wurde er viermal mit Gefängnis bestraft, zweimal wiegen Sachbeschädigung,
je einmal wegen Körperverletzung und schweren Diebstahls. Oktober 1909
biensteintritt. Während seiner 11 monatigen Dienstzeit ist er 8mal mit
Arrest, 6mal mit kleineren Disziplinarstrafen — meist wegen Ungehorsams,
Schmutzigkeit, Frechheit usw. — bestraft worden, sowie einmal wegen
Achtungsverletzung und Ungehorsam mit Gefängnis. Seine Führung
war schlecht; K. war sowohl im praktischen als im theoretischen Dienst
schwerfällig, langsam. Er selbst behauptet, in dem Dienstunterricht
..nichts begriffen zu haben“. Auch bei ihm war der Grund in einem ange¬
borenen Schwachsinn beträchtlichen Grades zu suchen.
In körperlicher Hinsicht zeigte er gleichfalls einen asymmetrischen
Schädel (Horizontalumfang 57,5 cm), schiefgestellte Nase, schiefen Mund,
«teilen Gaumen, verbildete Ohrmuscheln mit Dammschem Höcker.
Das Nervensystem zeigte mehrere Abweichungen von der Norm,
nämlich: linke Lidspalte enger als die rechte, fibrilläres Zittern der Zunge, ge¬
steigerte Pa tellar-Refl, rechts stärker als links, rechts sogar leichter Klonus
der Patella, Zittern der Finger, Dermographie, leichte Hyperästhesie der
gesamten linken Körperhälfte. Bei Berührungen mit der Nadelspitze
oft starkes, psychisches Zusammenschrecken. Linke Warze und linker
Ovarialpunkt leicht druckempfindlich, aber es gelingt selbst durch Sug¬
gestion nicht, psychogene Zustände hervorzurufen.
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4. T. (Skizze 3, s. S. 233), 22 Jahre alt, ehelich geboren. Der Vater
ist an Lungenschwindsucht gestorben, war starker Säufer. Bereits zu seinen
Lebzeiten wohnte die Mutter mit einem andern Manne zusammen, der
gleichfalls Alkoholiker war. Beide zogen hausierend im Lande umher,
wobei der Sohn Zeuge des intimsten Geschlechtslebens beider wurde.
Die Mutter soll selbst an Fallsucht leiden. Über erbliche Belastung ist
sonst nichts zu ermitteln. Die Schule besuchte T. infolge des vagabon-
dierenden Lebens der Eltern fast gar nicht. Im Alter von 14 Jahren
wurde er wegen Diebstahls und Bettelei einer Erziehungsanstalt überwiesen,
war bei der Aufnahme Analphabet, zeigte sich in den folgenden Jahren
,,schwach begabt“, galt als „geistig nicht normal“ und vermochte „sein
Verhalten nach bestehenden Grundsätzen, z. B. Hausordnung, schlecht
einzurichten“. Der Versuch, ihn bei einem Landwirt unterzubringen,
scheiterte; er verließ den Dienst ohne jeglichen Grund, arbeitete vorüber¬
gehend unter fremdem Namen in einer Fabrik, war aber im Hauptberuf
„Zuhälter“. Wie aus seinen Erzählungen hervorgeht, hat er sich bei dieser
Tätigkeit außerordentlich wohl gefühlt; eine besondere Zuneigung zu den
ihn unterhaltenden Mädchen hat er nicht besessen. Von 1908 bis 1909 —
in seinem 20. bis 21. Lebensjahre — ist er 8mal mit Haft und Gefängnis
bestraft worden, wegen Bettelei, Diebstahls, Widerstands, Betrugs. Im
August 1909 wurde T. als unsicherer Heerespflichtiger eingestellt. Wie
aus der Skizze hervorgeht, ist seine Dienstzeit ein fast ständiger Verstoß
gegen die Strafgesetze; von August 1909 bis März 1910 ist er llmal mit
Arrest und Gefängnis bestraft worden, wegen Schmutzigkeit, Beleidigung
eines Schutzmanns, hauptsächlich aber wegen leichterer und schwerer
Verstöße gegen die Disziplin. Nach dem Berichte des Kompagniechefs
zeigte er sich von Anfang an als „völlig verwahrlost und von denkbar
minderwertiger Gesinnung“. „Die Strafen fruchteten bei ihm absolut
nicht, schienen überhaupt nicht den geringsten Eindruck auf ihn zu
machen.“ Im April 1910 zur Arbeiterabteilung versetzt, wurde er hier
in 2 Monaten 6 mal mit strengem Arrest — gleichfalls wegen Verstößen
gegen die militärische Unterordnung — bestraft, ließ sich eine Gehorsams¬
verweigerung, Achtungsverletzung zuschulden kommen und versuchte aus
der Arrestzelle auszubrechen, wofür er eine Gefängnisstrafe erhielt. Er
war bereits bei der Truppe auf seine strafrechtliche Verantwortlichkeit
hin ärztlich untersucht worden; der Truppenarzt bejahte diese Frage,
betonte jedoch, daß T. infolge seiner verwahrlosten Erziehung (mehrere
Jahre in Erziehungsanstalt!!) auf einer sehr niedrigen Stufe der Ethik
stände und geistesschwach sei. Ich wurde auf den Mann durch sein Straf¬
register aufmerksam und stellte bei ihm einen angeborenen Schwachsinn
beträchtlichen Grades fest. T. vermochte bei der Intelligenzprüfung
einfache Fragen zum Teil leidlich zu beantworten, soweit es sich um rein
gedächtnismäßig niedergelegtes Wissen handelte; er war jedoch z. B.
außerstande, 6 stellige Zahlen richtig nachzusprechen, und zeigte auf dem
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Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezöglingen im Festungsgefängnis. 209
Gebiete der Kombination, der logischen Schlußfolgerung, der Urteils¬
fähigkeit recht grobe Defekte. Ethisch war er ein tiefstehender Mensch,
ohne das geringste Gefühl von Anhänglichkeit und Dankbarkeit.
T. hatte einen Langschädel von 59 cm Umfang; der Schädel war
unsymmetrisch und zeigte typische Wasserkopfbildung; der Gesichts¬
schädel war sehr massig und grob, Ohrläppchen fehlten fast ganz, während
der obere Teil der Ohrmuscheln sehr stark ausgebildet war. Der Körper
war stark behaart, es fand sich Plattfußanlage sowie seitens des Nerven¬
systems deutliche Dermographie und allgemeine leichte Hypalgesie.
T. wurde als dienstunbrauchbar entlassen.
5. Ma., 22 Jahre alt, ehelich geboren. Der Vater Säufer, arbeit¬
scheu, kümmerte sich nicht um die Familie und ist gestorben. Die Mutter
leidet an Schwindelanfällen und „weiß öfters gar nicht, wo sie ist“. Ein
Bruder säuft, ist arbeitscheu und wegen seiner Gewalttätigkeit zu längerer
Gefängnisstrafe verurteilt. Ein anderer Bruder ist sehr „dumm“. In
der Schule hat er sehr schwer gelernt; besonders das Rechnen fiel ihm
schwer. Mit 10 Jahren wurde er durch Amtsgerichtsbeschluß der Fürsorge-
anstalt überwiesen wegen Diebstahls, Schulschwänzens und Vagabundage.
Den Eltern gelang es, diesen Beschluß rückgängig zu machen. Jedoch
mit 11 Jahren wurde Ma. wieder der Fürsorgeerziehung überwiesen, und
zwar wegen mehrfacher Beischlafsversuche an minderjährigen Mädchen,
über sein Verhalten in der Anstalt urteilt der Direktor wörtlich: „Ma.
i ? t nach unserem Dafürhalten geistig sehr beschränkt, wenn nicht direkt
als dumm zu bezeichnen. Er hat in unserer dreiklassigen Anstaltschule
die Oberstufe nicht erreicht, obgleich er erst mit 15 Jahren eingesegnet
worden ist, sondern wurde aus der 2. Klasse entlassen. Bei der Arbeit
zeigte er sich zwar willig, aber wenig anstellig “ Der Versuch, ihn das
Schmiedehandwerk erlernen zu lassen, scheiterte. M. lief mehrfach aus
der Lehre fort, stahl, log viel, war verstockt und unlustig zur Arbeit. Der
Lehrmeister erwähnt die „große Dummheit“ des Ma. „Er kennt keine
Gewichte, keinen Zollstock, kann nicht lesen, hat auch keine Lust, es noch
zu lernen.“ In die Anstalt zurückgebracht, entwich er aus dieser und
arbeitete — häufig wechselnd — als Knecht bei verschiedenen Bauern.
Vor dem Diensteintritt Ist er nur einmal wegen groben Unfugs mit einem
Jag« Haft bestraft. Oktober 1909 eingestellt, fiel er bald bei der Truppe
in verschiedener Hinsicht auf. Der Kompagniechef erwähnt in seinem
Bericht folgendes: „Ma. gehört nach geistiger und körperlicher Veran¬
lagung zu den schlechtesten Elementen, die zur Einstellung gelangen.“
Er erwähnt ferner, daß es nur durch äußerste Strenge gelang, „Ma. geistig
und körperlich etwas zu fördern“. In dem Bericht wird weiterhin hervor-
Kehoben der vollkommene Mangel an Erziehung (längere Jahre in Er¬
ziehungsanstalt!!) und Ehrenhaftigkeit, ferner die Unwahrhaftigkeit und
der hochgradige passive Widerstand, den Ma. jeder erzieherischen Beein¬
flussung entgegengesetzt hätte. Am Schluß des Berichtes wird nochmals
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ausdrücklich „die außerordentliche Dummheit und Trägheit“ des Ma.
hervorgehoben.
Ma. überschritt 7 Monate nach dem Diensteintritt den Urlaub um
mehrere Stunden, angeblich unter dem Einfluß von Alkohol. 8 Monate
nach dem Diensteintritt lief er von der Truppe davon, nach Ansicht des
Hauptmanns ohne Grund, „nur aus Haltlosigkeit“, wurde ergriffen und
mit Gefängnis bestraft.
Auch bei Ma. vermochte ich einen angeborenen Schwachsinn recht
beträchtlichen Grades festzustellen. Dieser war allein schon durch den
törichten Gesichtsausdruck des Mannes, sein ganzes außerordentlich
schwerfälliges Wesen, das stark beeinträchtigte Auffassungsvermögen,
den beträchtlich verlangsamten Gedankenablauf kenntlich. Jegliche
Prüfung war recht schwierig, da Ma. nur sehr schwer die gestellten Auf¬
gaben begriff. Seine eigene Angabe über den Dienstunterricht: „Ich habe
nicht viel geantwortet da“ erschien mir völlig glaubhaft. Als stich¬
haltigen Grund für seine Fahnenflucht vermochte er nur diesen anzu-
geben, daß ihm das 'ganze militärische Leben außerordentlich schwer
fiel und er weder im praktischen noch theoretischen Dienste mit den
Kameraden gleichen Schritt zu halten vermochte.
Ma. war ein ausgesprochener Mikrozephale von 52,25 cm horizon¬
talem Schädelumfang. Der Kopf war völlig unsymmetrisch, die linke
Schädelhälfte auffallend stärker ausgebildet als die rechte. Die linke Lid¬
spalte war enger als rechts, die Nase zeigte in ihrem Längsverlauf eine
doppelte Krümmung, der Gaumen war steil, kahnförmig, die Ohrläppchen
waren angewachsen, beide Ohrmuscheln zeigten den Darwinschen Höcker;
überdies bestand links Auswärtsschielen.
Seitens des Nervensystems fanden sich Abweichen der Zunge nach
rechts und Zittern derselben, allgemein gesteigerte Reflexe, besonders
auch der Patellarreflexe; ferner Dermographie, Zittern der gespreizt vor¬
gestreckten Finger.
Auch bei Ma. wurde das Dienstunbrauchbarkeitsverfahren ein-
geleitet.
Ich habe die vorstehenden Fälle absichtlich in solcher Ausführlich¬
keit geschildert, obwohl ich mir durchaus bewußt bin, daß eigentlich
kein einziger vom psychiatrischen Standpunkt etwas Besonderes dar¬
bietet. Sämtliche Lebensgeschichten erscheinen aber — vom mili¬
tärischen Standpunkt — gerade durch ihre Übereinstimmung typisch.
Bei allen waren wir in der glücklichen Lage, aus den Personalakten
der Fürsorgeanstalten authentische Angaben über die Kindheit und
Entwicklung zu erhalten und somit zu erkennen, wie sich der unzweifel¬
haft vorliegende Schwachsinn bis in die frühe Jugend zurückverfolgen
läßt. Alle Personen zeigen bereits in der Kindheit auffällige* Zeichen.
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schwänzen die Schule, führen ein Vagabundenleben, begehen Dieb¬
stähle usw., Taten, die bereits über den Rahmen der Dummen Jungen¬
streiche hinausgehen und eine frühzeitig beginnende Neigung zu anti¬
sozialem Verhalten dokumentieren. In der Schule leisten sie Un¬
genügendes, begreifen schwer, vermögen mit den übrigen Schülern
nicht gleichen Schritt zu halten und versuchen, sich dem lästigen
Zwange der Schule zu entziehen. Eine wesentliche erzieherische Be¬
einflussung durch die Fürsorgeanstalt gelingt nicht; wie die Leiter
der Anstalten völlig richtig erkannt haben, zumeist aus Mangel an
hinreichenden intellektuellen Fähigkeiten der Zöglinge. Bei den
erethischen Imbezillen zeigt sich offenkundige Auflehnung, Frechheit,
bei den torpiden mehr der passive Widerstand, die allgemeine Trottlig-
keit. In einem Berufe scheitern sie völlig, sobald irgendwie nennens¬
werte geistige Leistungen von ihnen verlangt werden. Infolgedessen
erwählen sie einfache Berufe, die nur körperliche Arbeit erfordern,
werden z. B. Knecht, Arbeiter in Fabriken usw. Bis zu diesem Zeit¬
punkt sind viele, selbst hochgradig Schwachsinnige, durch das Leben
sekommen, ohne ihrer Umgebung nennenswert aufgefallen zu sein,
und es erwachsen uns bei unseren Nachforschungen Schwierigkeiten,
die ich an anderer Stelle eingehender kritisch gewürdigt habe l ). Mit
dem Diensteintritt beim Militär naht eine Zeit, die weit höhere geistige
Anforderungen stellt; gerade bei den vorhergehend geschilderten Fällen
tritt die Unfähigkeit der Anpassung, der Unterordnung in fest gefügte,
geordnete Verhältnisse deutlich zutage. Anfangs, sobald die dienst¬
lichen Anforderungen noch gering sind und größere Rücksicht waltet,
ist der einzelne noch imstande, längere Zeit äußerlich anscheinend
unauffällig zu bleiben; ich erinnere an die mehrmonatige straffreie
Führung des W T . (s. Skizze 1, S. 231). Die Beurteilung seitens der Truppe
in überaus zahlreichen Fällen hat mir gezeigt, daß eine Abweichung
von der Norm häufig durchaus richtig erkannt wird. Die Leute werden
zumeist als minderwertig bezeichnet und Charaktereigenschaften an¬
geführt als Verkommenheit, Faulheit, Neigung zu Lug und Betrug,
Mangel an Ehrenhaftigkeit, Selbstzucht, Streben usw. Überaus häufig
wird aber die Ursache aller dieser Eigenschaften nicht richtig erkannt.
Wie u. a. aus zwei der vorhergehend geschilderten Fälle hervorgeht,
*) Weyert, Kritische Bemerkungen zur Erkennung des angeborenen
Schwachsinns. D. militärärztl. Ztschr. 1911, Heft 20.
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wird die verwahrloste Erziehung als Ursache beschuldigt; berück¬
sichtigt man, daß die beiden derart beurteilten Individuen längere
Jahre in Fürsorgeanstalten sich befanden, so kann meines Erachtens
nicht gut von verwahrloster Erziehung die Rede sein. Gerade die
Fürsorgezöglinge befinden sich bis zu ihrer Großjährigkeit noch weiter¬
hin unter der Aufsicht der Anstalt; es wird mithin bei ihnen noch in
einem Alter ein erzieherischer Einfluß ausgeübt, in dem sich zahlreiche
junge Leute von dem Einfluß des Elternhauses bereits recht
beträchtlich losgelöst haben.
Es herrscht in unserem Leben eine unverkennbare Neigung, gerade
auf psychischem Gebiete modifizierende Ausdrücke zu gebrauchen.
So wird erfahrunggemäß von Eltern die Dummheit ihrer Kinder ent¬
schuldigt mit Schwerfälligkeit, Langsamkeit, schwererer Auffassungs¬
gabe usw.
Ähnlich habe ich es auch nicht so ganz selten in Berichten gefun¬
den. Am deutlichsten kommt dieses in einem Bericht zum Ausdruck,
indem es heißt: „Seine Leistungen waren sonst im praktischen wie
im theoretischen Dienst nicht genügend. Wenn sein Auffassungsver¬
mögen auch gering war, so ist er doch niemals durch geistige Be¬
schränktheit aufgefallen.“ Ich glaube, es ist in diesem Falle nahe¬
liegend, die unzulänglichen geistigen Leistungen in einem angeborenen
Schwachsinn zu suchen, der nach meiner Untersuchung auch vorlag.
Ich gebe ohne weiteres zu, daß die Erkennung des Schwachsinn?
durchaus nicht immer leicht ist. Es wird immer dem „Wissen“ al?
solchem ein zu großes Gewicht beigemessen nnd kein Unterschied
gemacht zwischen dem rein gedächtnismäßig aufgespeicherten Schul¬
wissen einerseits und dem Erfahrungswissen, der logischen Urteils-und
Kombinationsfähigkeit andererseits. Diese Defekte werden in den Fällen
von hochgradigem stärkerem Schwachsinn meist doch wohl erkannt
werden, besonders wenn zu dem Schwachsinn noch gröbere ethische
Mängel sich hinzugesellen. Wesentlich schwieriger liegen allerdings
die Verhältnisse bei den leichteren Schwachsinnsformen, der Debilität.
Unter meinem Material fanden sich noch 8 derartige Fälle, von denen
ich zwei hervorheben möchte. Der erstere steht auf der Grenze zu
der bereits geschilderten höheren Schwachsinnsform, der zweite ist
eine einfache Debilität.
E. (Skizze Nr. 4, s. S. 234), 26 Jahre alt, ehelich geboren, Mutter,,in ge¬
schlechtlicher Beziehung bescholten“, sonst über erbliche Belastung nichts
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Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezöglingen im Festungsgefängnis. 213
zu ermitteln, ebensowenig über Kinderkrankheiten. Mit 8 Jahren wurde
er durch Gerichtsbeschluß der Zwangserziehung überwiesen, da er auf
Anstiften der Mutter häufig gebettelt und mehrere Gelegenheitsdiebstähle
begangen hatte. Vom 9. bis 15. Lebensjahre befand er sich in einer Er¬
ziehungsanstalt, aus der er schließlich entlief. Leider fehlen Angaben über
sein Verhalten. In der Folgezeit arbeitete er zeitweilig als Knecht, größten¬
teils aber fuhr er als Schiffsknecht auf Binnengewässern. Vom 18. bis
19. Lebensjahre (1901 bis 1902) wurde er viermal mit Gefängnis bestraft,
dreimal wegen Diebstahls, einmal wegen Hausfriedensbruchs, und kam
im 20. Lebensjahre durch Beschluß des Landeshauptmanns wiede¬
rum in Zwangserziehung (Dezember 1903 bis Oktober 1904).
Die ersten Monate führte er sich gut, war willig, zeigte sich
für gute Einflüsse recht empfänglich, ließ dann aber in seiner Führung
nach, versuchte zu entfliehen und wurde aus der Erziehungs¬
anstalt heraus beim Militär eingestellt. Hier führte er sich gut,
behauptet jedoch selbst, es sei ihm sehr schwer gefallen, da er sich „in
die ganze Sache nicht hineinfinden“ konnte. Nach 4 Monaten (Februar
1905) lief er davon; ein Grund lag nicht vor, auch im Urteil heißt es, daß
er sich über die Absicht, in der er weggegangen war, im unklaren befand.
Nach wenigen Tagen ergriffen, wurde er zu 2 Jahren Gefängnis verurteilt,
und zwar einerseits wegen der Flucht, anderseits wegen vor der Einstellung
begangener widernatürlicher Unzucht mit einer Stute. Im Februar 1907
zur Truppe zurückgekehrt, wurde er bereits im Juni wiederum fahnen¬
flüchtig, und zwar nahm er auf die Flucht allein ein Kochgeschirr und
•üne Bibel mit. Unterwegs beging er Gelegenheits- und Einbruchdieb-
stähle, wurde ergriffen und zu 3 Jahren 3 Monaten Gefängnis verurteilt.
Einen stichhaltigen Grund für die erste und zweite Fahnenflucht vermochte
E. nicht anzugeben und brachte unter etwas törichtem Lächeln Gründe
vor, die den Eindruck von nachträglichen Entschuldigungen machten;
so sagte er, der Dienst sei ihm schwer geworden, die Truppe hätte viel
Dienst gehabt, die Vorgesetzten seien streng gewesen usw. Er meinte
selbst, es sei das beste, er käme auf eine Arbeiterabteilung, damit er nicht
mehr „Dummheiten“ mache und er mit seiner Dienstzeit endlich fertig
werde. Im Festungsgefängnis führte er sich regelmäßig bis auf kleinere
Übertretungen straffrei; die Vorgesetzten hatten den Eindruck, „als ob
sich im Gefängnis sehr wohl fühle“. Im Unterricht war er beschränkt,
zeitweilig „döste“ er, und es war weniger mit ihm anzufangen als sonst.
Die mehrfach vorgenommenen Intelligenzprüfungen ergaben gleich¬
falls einen Schwachsinn geringen Grades, der besonders bei Aufgaben von
logischer Schlußfolgerung und kombinatorischen Leistungen zutage trat.
E- zeigte einen stupiden Gesichtsausdruck und machte einen hochgradig
schwerfälligen Eindruck; er bedurfte des ständigen Antreibens, um zu
ernstlichem Nachdenken veranlaßt zu werden. Zum Teil mag hierbei
sein notorisch überaus mangelhaftes Gedächtnis schuld gewesen sein.
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Weyert,
Ethisch erschien er recht stumpf; Freunde hatte er nie im Leben gehabt,
über seine Straftaten machte er sich nie Gedanken, empfand auch keine
Reue. Wohl hatte er früher eine Braut, die er auch heiraten wollte. Nach
der ganzen Schilderung jedoch ging alles von der „Braut“ aus, einem
älteren Mädchen, das anscheinend gern noch heiraten wollte. An Eltern.
Angehörige, Braut,, Kameraden schrieb er weder, noch bezeigte er für
diese irgendwelches Interesse. Über seine Zukunft machte er sich nicht
die geringsten Sorgen; er sagt fatalistisch: „Das muß man eben nehmen,
wie es kommt“.
Der Schädel war unsymmetrisch, mesozephal, von 55 cm horizontalem
Umfang. Die Nase war breit und schief, die linke Augenbraue und der
linke obere Augenhöhlenrand standen höher als rechts. Es bestand An¬
deutung von Glatze. Die Ohrmuscheln im oberen Teile waren verbildet,
zeigten den Darwinschen Höcker; die Ohrläppchen waren angewachsen.
Seitens des Nervensystems fanden sich leicht gesteigerte Patellarreflexe.
Zittern der Zunge und Dermographie.
Be. (Skizze Nr. 5, s. S. 235), 23 Jahre alt, ehelich geboren. Über erbliche
Belastung ist nichts festzustellen. Ohne in der Kindheit wesentlich krank
gewesen zu sein, lernte er in der Schule nicht besonders, begriff schwer und
schwänzte viel. Im 15. Lebensjahre wegen Unterschlagung mit 3 Wochen
Gefängnis bestraft, kam er im Anschluß an die Strafe in Fürsorgeerziehung.
Bereits nach einem halben Monat entwich er, da ihm das Leben in der
Anstalt nicht gefiel. In der Folgezeit, nämlich von Juli 1902 bis Januar
1906, befand er sich noch 7 mal in verschiedenen Erziehungsanstalten,
entwich jedoch aus diesen regelmäßig nach kürzerer oder längerer Zeit
(s. Skizze). Er wandte sich meist nach dem Auslande, besonders Schweden.
Norwegen, Dänemark, Holland, wurde aus diesen Ländern häufig ausge¬
wiesen, in Deutschland ergriffen und regelmäßig wieder der Fürsorgeerzie¬
hung überwiesen. Einmal beging er einen ernstgemeinten Selbstmord¬
versuch durch Erhängen gelegentlich einer Ergreifung. Am 30. September
1907 wurde er bei einer Festnahme als unsicherer Heerespflichtiger ein¬
gestellt. Knapp ein halbes Jahr nach dem Diensteintritt wurde er fahnen¬
flüchtig. Er selbst gibt an, einen Einkauf in der Stadt gemacht zu haben
und davongelaufen zu sein, ohne daß er einen Grund für diese Tat anzu-
geben vermöge. Ergriffen, versuchte er auf dem Transport zu entspringen,
kam in Untersuchungshaft und wurde zu einem Jahr Gefängnis verurteilt.
Nach Abbüßung der Strafe zum Truppenteil zurückgekehrt, wurde er nach
4 Monaten erneut fahnenflüchtig; nach wenigen Tagen wurde er bei einem
Diebstahl abgefaßt und kam wiederum ins Festungsgefängnis. Auch für
diese Flucht vermag B. keinen Grund anzugeben. Die Folgen der Flucht
will sich B. nie überlegt haben, „habe auf einmal so den Gedanken gekriegt,
und da bin ich einfach losgegangen“. Er gibt an, es beim Militär in jeder
Hinsicht gut gehabt zu haben, seine Führung wird als durchaus befriedigend
bezeichnet. Er war in der besten Turnklasse, im Dienst ein strammer
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Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezöglingen im Festungsgefängnis. 215
Soldat: im theoretischen Unterricht fiel ihm das Lernen schwer, und er
vermochte nur unvollkommen zu folgen.
Bei ihm bestand ein Schwachsinn geringen Grades, der sich bei der
Intelligenzprüfung durch ein geringes Auffassungsvermögen und eine
Herabsetzung der höheren geistigen Leistungen, z. B. der logischen Schlu߬
folgerung, geltend machte. Nach meiner Auffassung prägt er sich weit
deutlicher in der ganzen bisherigen Lebensführung des B. aus. Ethische
Defekte vermochte ich bei B. nicht zu ermitteln. Er hängt mit Liebe an
seinen Angehörigen, schreibt regelmäßig an seine Eltern und ist freund¬
lichem Zuspruch des Anstaltgeistlichen in jeder Weise zugänglich.
In körperlicher Hinsicht zeigt er eine niedrige Stirn, leichte Asym¬
metrie des Schädels (Langschädel, 56 cm Horizontalumfang) und beider¬
seitiges Schielen. Das Nervensystem zeigt Dermographie, Beben der
Zunge und der gespreizt vorgestreckten Finger.
Die übrigen 6 Fälle dieser Gruppe nähern sich sämtlich mehr dem
zuletzt geschilderten Lebenslaufe; alle sind dadurch charakterisiert,
daß die betreffenden Individuen bereits im bürgerlichen Leben mehr
oder weniger sozial gescheitert waren und es auch nicht während ihrer
aktiven Dienstzeit verstanden, Kollisionen mit den militärischen Ge¬
setzen zu vermeiden.
Fasse ich alle Fälle zusammen, die der Rubrik „Imbezillität“
unterzuordnen sind, so erhalte ich 14, also annähernd die Hälfte meines
Gesamtmaterials (genau 44,8 %). Es ist dieses ein recht beträchtlicher
Prozentsatz, welcher nach meiner Ansicht beweist, daß die Zahl der
Imbezillen jeglichen Grades in den militärischen Strafanstalten im
allgemeinen eher unter- als überschätzt wird.
Auf das klinische Symptomenbild einzugehen, beabsichtige ich
nicht. Jedoch seien mit einigen Worten die körperlichen Erscheinungen
dieser 14 Leute zusammengestellt.
Mikrozephal waren 2 (horizontale Schädelumfänge von 52 und
52.25 cm); typisch hydrozephale Schädelbildung zeigte nur ein Mann (T.).
Auffallend ist es, daß 4 weitere einen horizontalen Schädelumfang von
58 bis 58,5 cm besaßen, allerdings ohne äußerlich erkennbare Veränderun¬
gen des Wasserkopfes. Bei einem wirkte der Schädel ausgesprochen keil¬
förmig. 2 Leute besaßen eine auffallend niedrige Stirn. Asymmetrien
des Schädels waren bei 11 vorhanden, insofern, als eine Schädelhälfte sich
stärker entwickelt zeigte, als die andere. Von Asymmetrien des Gesichtes
fand ich vorzugweise eine schiefe Stellung der Nase, nämlich 8 mal.
Gröbere Degenerationszeichen, als Mißbildung der Geschlechts¬
organe usw. fanden sich gar nicht: es hat dieses seine leicht erklärliche
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Ursache in der Tatsache, daß derartige Leute wohl nur in Ausnahme¬
fällen zur Einstellung gelangen.
Erwähnt sei, daß 3 Leute schielten (unter diesen beide Mikro¬
zephalen). Mißbildungen der Zähne fand ich nur einmal, steile, kahn-
förmige Gaumen 4 mal. Bei 2 Leuten war die linke Lidspalte enger als
die rechte.
Von Bedeutung sind ferner die Veränderungen des Zentralnerven¬
systems. Auch hier müssen wir uns — aus bereits dargelegten Grün¬
den — vor Augen halten, daß gröbere Veränderungen nicht zu er¬
warten waren, da eben derartige Leute für den Heeresdienst nicht
tauglich sind.
Immerhin bestanden doch bei 6 von den 14 Leuten Symptome,
die auf eine erhöhte Reizbarkeit hinwiesen. Kurz zusammengefaßt
seien diese Erscheinungen dahin:
Es fanden sich
Zittern der vorgestreckten Zunge. bei 5,
gesteigerte Patellarreflexe. bei 4,
Romberg (angedeutet)_;. bei 1,
Dermographie . bei 6,
Zittern der gespreizt vorgestreckten Finger bei 4,
Hyperästhesie . bei 1.
Bei einem der 6 fand sich auch leichte Druckempfindlichkeit der
Brustwarzen und der linken sogenannten Eierstocksgegend, jedoch gelang
es weder bei länger ausgeübtem Druck, irgendwelche Anfälle auszulösen,
noch bot der Mann sonst irgendwelche Erscheinungen von Hysterie dar.
Vereinzelte Reizsymptome, als erhöhte vasomotorische Erregbar¬
keit und leichte Herabsetzung der Schmerzempfindlichkeit waren auch
bei den übrigen Soldaten gelegentlich nachweisbar. Veränderungen
der Pupillen in Form und Reaktion vermochte ich bei meinem Material
in keinem Falle festzustellen.
Die nächste Gruppe meines Materials wird gebildet von den
Degenerierten, den Psychopathen aller Arten.
Zu ihr gehören 10 von meinen Soldaten. Es ist nicht Zweck meiner
Arbeit, über die verschiedenen Formen der psychopathischen Kon¬
stitutionen einen erschöpfenden Überblick zu geben. Das verhindert
ja bereits die Kleinheit meines Materials. Ebensowenig möchte ich
versuchen, mein Material in die verschiedenartigen, oft so sehr
von einander abweichenden Unterabteilungen einzureihen, in welche
die psychiatrischen Lehrbücher und Abhandlungen die Degenerierten
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Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezöglingen im Festungsgefängnis. 217
einteilen. Mein Material ist — wie erwähnt — viel zu klein, als daß
ich mir ein Urteil über den Vorzug dieser oder jener Einteilung erlauben
dürfte. Allerdings muß ich — der besseren Übersicht halber — mein
Material in einige Untergruppen zusammenfassen:
1. die erblich-degenerativen psychopathischen Konstitutionen
(nach Ziehen),
2. die Haltlosen,
3. die Degenerierten mit epileptoiden Anfällen.
Zu der ersten Gruppe gehören 2 von meinen Soldaten. Ich möchte
den Lebenslauf des einen hier folgen lassen.
H. (Skizze 6, s. S. 236), 24 Jahre alt, ehelich geboren. Der Vater war
mäßiger Schnapstrinker und ist an Schwindsucht gestorben. Die Mutter war
/me leicht erregbare Natur und starb an Herzschlag. Zwei Brüder der Mutter
‘ind starke Säufer und mehrfach mit Zuchthaus bestraft. Kinderkrank¬
heiten hat H. nicht durchgemacht; er schwänzte viel die Schule, angeblich
weil ihm das Lernen schwer fiel. Um der drohenden Fürsorgeerziehung zu
-ntgehen, trieb er sich im 16. Lebensjahre wochenlang umher und beging
mehrfach Diebstähle. Vom 15. bis 19. Lebensjahre ist er 6 mal mit Ge¬
fängnis wegen Diebstahls bestraft, war u. a. 1 Jahr 7 Monate hintereinander
im Gefängnis. Im 19. Lebensjahre wurde er aus dem Gefängnis heraus
-iner Erziehungsanstalt überwiesen, aus der er jedoch bald entwich. In
den folgenden Lebensjahren befand er sich noch einmal mehrere Monate
in einer Fürsorgeanstalt. Er galt — nach den Berichten der Direktoren —
als ein „überaus roher und frecher Bursche, der sich der Ordnung des
Hauses nicht fügen wollte und auf keine Weise erzieherisch auf sich ein¬
wirken ließ“. Er war finster und verschlossen, launenhaft, neigte zu
Streitigkeiten mit andern Zöglingen und wurde leicht gewalttätig. Von
hinein 19. bis 25. Lebensjahre — bis zu seiner Diensteinstellung — wurde
-r noch 8 mal mit Gefängnis bestraft wegen schweren Diebstahls, Körper¬
verletzung, Hausfriedensbruchs usw. Er befand sich — wie aus der Skizze
hervorgeht — mehr im Gefängnis als in der Freiheit. H. gab ohne weiteres
w. weit mehr Straftaten begangen zu haben, als zur Kenntnis der Gerichte
Kommen^eien.
Im Jahre 1910 als unsicherer Heerespflichtiger eingestellt, bildete
H. nach dem Berichte des Kompagniechefs vom Tage seiner Einstellung
»n „eine ständige Gefahr für die Disziplin in der Kompagnie“. Bereits
»ach einem Monat mußte H. mit strengem Arrest bestraft werden, weil
**r drohte, einem Unteroffizier den Schädel einzuschlagen, als dieser ihm
^ine Vorstrafen vorhielt. Er wurde ferner wegen Achtungsverletzung
in mehreren Fällen, verbunden mit Bedrohung, zu mehreren Monaten Ge¬
fängnis verurteilt. Im Festungsgefängnis führte er sich straffrei, wurde
nach der Strafverbüßung in eine Arbeiterabteilung versetzt, wo er gleich-
Zeitschrift für Psychiatrie. LXIX. 2. i c
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falls mit strengem Arrest bestraft werden mußte. Auch hier bedrohte er
wieder einen Vorgesetzten, als dieser ihn auf dem Wege zur ärztlichen
Untersuchung zu etwas größerer Eile antrieb. Über das weitere Schicksal
ist mir nur soviel bekannt, daß er durch Gerichtsbeschluß aufseinen Geistes
zustand untersucht und für strafrechtlich verantwortlich erklärt wurde.
H. zeigte sich als ein Mensch von recht guten intellektuellen Fähig¬
keiten, bei dem durchaus keinerlei Zeichen von Schwachsinn Vorlagen.
Er besaß jedoch einen seltenen ethischen Tiefstand. In all seinen Reden
prägte sich ein unglaublicher Zynismus aus. So erzählte er ohne die aller¬
geringste Gemütsbewegung mit offenkundiger Freude und Vorliebe in der.
gemeinsten Ausdrücken, wie er seine Mutter öffentlich als Hure beschimpft
und mißhandelt hätte, verdächtigte die Ordensbrüder seiner Erziehungs¬
anstalt des geschlechtlichen Umgangs mit Nonnen und erzählte mit einer
gewissen verbissenen Wut, wie er beabsichtige, diesem oder jenem später
noch einen gehörigen Denkzettel zu verabfolgen. Bei allen Handlungen
seiner Mitmenschen suchte er nur schlechte Motive; für höhere ethische
Vorstellungen zeigte er sich völlig verständnislos, allerdings tauchte in
seinen Reden zuweilen eine Bemerkung auf, die zeigte, daß ein gewi «s
Gefühl von Anstand und Empfänglichkeit sich doch bei ihm fand, so
daß ich den Eindruck gewann, es wäre früher — allerdings mit unendlicher
Geduld und Nachsicht für sein reizbares, jähzorniges, aufbrausendes
Wesen — vielleicht (?) doch möglich gewesen, ihn günstig zu beeinflussen,
während er sich jetzt zu einer typischen Verbrechernatur entwickelt hatto.
Charakteristisch war, daß er nie einen Freund, auch nie eine Braut besessen
hatte. Geschlechtlichen Umgang hatte er viel mit Prostituierten gehabt,
indem er diese, sobald sie ihm nicht zu Willen waren, bedrohte und mi߬
handelte (,,dann schlug ich ihr ein paar in die Fresse“). Dem Alkohol
gegenüber war er haltlos; bei Gelegenheit, in Gesellschaft von Kameraden,
besoff er sich sinnlos und stiermäßig, um seine Ausdrucksweise zu ge¬
brauchen. Im Rausch steigerte sich dann noch seine Reizbarkeit und
Neigung zu Gewalttaten.
In körperlicher Beziehung zeigte er bei 58 cm horizontalem Schädel¬
umfang eine leichte Asymmetrie des Schädels, verbildete Ohren, ange¬
wachsene Ohrläppchen, den Darwinschen Höcker am rechten Ohr sowie
einen etwas hohen Gaumen. Das Nervensystem zeigte keine Wesentlichen
Veränderungen.
Den zweiten Fall ausführlich zu schildern, kann ich mir ersparen.
Er war ein erblich belasteter Mensch, der wegen seiner Neigung zum Vaga¬
bundieren und unbeständigen, arbeitscheuen Lebenswandels im 17. Le¬
bensjahre in Fürsorgeerziehung kam, in der Anstalt selbst durch sein ver¬
stocktes Wesen und seinen finsteren Blick auffiel, mehrfach Fluchtver¬
suche machte, in der Folgezeit ständig den Dienstherren entwich und
bis zu seinem Diensteintritt in Deutschland umhervagabundierte. Ab¬
gesehen von einer Gefängnisstrafe wegen Diebstahl hatte er' nur Haft-
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Untersuchungen an ehemaligen Fiirsorgezöglingen im Festungsgefängnis. 219
^trafen im Zivilleben erhalten — stets wegen Obdachlosigkeit, Bettelei.
Beim Militär als Unsicherer eingestellt, entlief er nach 7 Monaten („wir
hatten einen getrunken, der andere wollte nach Berlin, da bin ich mit¬
gegangen; unterwegs kam uns der Gedanke, davonzulaufen“). Als Grund
für sein unstätes Leben gab er wörtlich an: „Ich kann nicht anders; wenn
i< h die schönste Arbeit habe und sehe einen Handwerksburschen laufen,
dann schmeiße ich alles hin und gehe mit“. Er war ein reizbarer, leicht
«empfindlicher, verschlossener Mensch, ein verbitterter, finsterer Charakter
ohne Freund und Sinn für kameradschaftliches, geselliges Leben, dem ich
es durchaus zutraute, kaltblütig schwere Verbrechen zu begehen, der
meiner Ansicht nach nicht bloß renommierte, wenn er sagte: „Mit dem
Ausgang rechne ich nicht“, d. h. der Ausgang ist mir gleichgültig. Er
besaß ein stark entwickeltes Interesse für Geschichte — besonders die
deutsche Geschichte —, hatte nicht nur viel und mit Verständnis gelesen,
vndern auch auf seinen Wanderschaften alle erreichbaren denkwürdigen
und berühmten Stätten, Denkmäler usw. aufgesucht, wie ich feststellen
tonnte. Ich habe mich viel mit ihm beschäftigt, da er der mißtrauischste
und verschlossenste meiner Gefängnisinsassen war und hinter meinen
Unterhaltungen lange Zeit irgendeine Falle witterte, denn „für einen
Lumpen interessiert man sich doch nicht“. Neurologisch bot er zahlreiche
Fb'izerscheinungen des Nervensystems dar.
Die beiden im vorhergehenden geschilderten Fälle verdienen
gerade durch ihre Übereinstimmung Interesse. Beide Menschen zeigten
eine tiefgehende Verbitterung, eine verbissene Wut und innere Auf¬
lehnung gegen allen Zwang und alle bestehende Ordnung. Es wäre
ja naheliegend, sie als Opfer einer traurigen, liebeleeren Jugend hinzu-
ftellen, als ein Produkt ihrer Abstammung und ihrer Umgebung.
Ich glaube jedoch, daß diese Faktoren allein durchaus keine genügende
Erklärung abgeben. Beide waren völlig uneinsichtig, daß die elter¬
liche Erziehung bei ihnen völlig versagt hatte und eine strengere Er-
liehung — außerhalb des elterlichen Hauses — dringend geboten war,
um sie bei ihrer Neigung zu einem anti- und asozialen Lebenswandel
noch vor völligem sittlichem Verfall zu bewahren. Uneinsichtig waren
sie auch dafür, daß die Strenge ihrer Erzieher in der Fürsorgeanstalt
doch nur eine begreifliche Folge ihrer eigenen Schwer- oder Unerzieh-
barkeit war und sie nach ihrem ganzen, vorhergehend näher geschilder¬
ten Verhalten wohl kaum ein Übermaß von Güte seitens ihrer Lehrer
erwarten konnten. Doch — wenn wir von der Zeit in der Fürsorge-
anstalt absehen — auch später sind beide als ungesellige Menschen durch
das Leben gegangen, überhaupt ohne Verlangen nach Anschluß
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an andere Menschen. Gerade die Jünglingsjahre sind bekannt als
die Zeit der Freundschaften, die Zeit des’leichten Anschlusses an
Gleichaltrige und Gleichgesinnte, als das Lebensalter der sich ent¬
spinnenden Liebesverhältnisse. So erscheint mir die Tatsache, daß
beide ohne Freund und ohne Braut im Leben geblieben sind, doch
bereits als ein zum mindesten auffälliges Zeichen, ein Zeichen, daß
bei beiden durchaus nicht die Anstalterziehung der Grund und die Er¬
klärung ihrer Verbitterung ist, sondern vielmehr letztere doch wohl
bereits als pathologisches Symptom gedeutet werden kann.
Beide stimmen ferner darin überein, daß auf sie das Verbrechen
als solches eine Anziehungskraft, einen förmlichen Reiz ausübte. „Es
ist ein Kitzel, wenn ich so recht eine Gefahr bestehen kann,“ sagte
der eine wörtlich, und beide bekunden, daß der Gedanke an einen
schwierigen Diebstahl oder Einbruch sie gar nicht wieder loslasse.
Beide waren Verbrecher aus Passion, und ich glaube ihnen sehr wohl,
daß der gefahrvolle Kampf mit den Gesetzen für sie ein „Nerven¬
kitzel“ war, wie für einen andern der Sport. Ich glaube ihnen ferner,
daß Furcht vor dem Ergriffenwerden ihnen unbekannt war, und daß
beide — bei einem Verbrechen überrascht — selbst nicht vor dem
Äußersten zurückgeschreckt wären. Ich halte es nicht für ausgeschlos¬
sen, daß beide infolge ihrer positiven kriminellen Begierden sich im
Laufe der Jahre zu Berufsverbrechern entwickeln können, unter Um¬
ständen sogar zu Spezialisten einer bestimmten Art des Verbrechens.
Zwar fehlt beiden der große Zug, der die Hochstapler, die internatio¬
nalen Taschendiebe auszeichnet und zu psychologisch so interessanten
Persönlichkeiten macht. Hierzu fehlt beiden die äußere Gewandtheit,
die Intelligenz. Ich gebe rückhaltlos zu, daß ihre geistigen Fähigkeiten
völlig für das gewöhnliche Leben ausreichen, ja vielleicht sogar das
Durchschnittmaß etwas überragen. Beide sind rein intellektuell
durchaus befähigt, sich zu Verbrecherspezialisten auszubilden und
bereits jetzt eine schwere Gefahr für die Rechtssicherheit des bürger¬
lichen Lebens. Trotzdem aber finden — nach meiner Ansicht — auf
sie die Worte Anwendung, mit denen Kraepelin die geborenen Ver¬
brecher schildert. Es fehlt ihnen „meist die Fähigkeit, allgemeine
Gesichtspunkte zu gewinnen, höhere Geistesarbeit zu leisten, sich eine
zusammenhängende Lebens- und Weltanschauung zu bilden. Ins¬
besondere haben die Kenner der Verbrechematur stets auf den Mangel
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Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezöglingen im Festnngsgefängnis. 221
an weiterblickender Überlegung und Voraussicht aufmerksam gemacht.
Die geborenen Verbrecher sind Augenblicksmenschen, die nicht das
Bedürfnis empfinden, über die Gegenwart und die allernächste Zukunft
hinauszudenken* 1 . Legen wir diesen strengen Kraepelin sehen Maßstab
unserer Beurteilung zugrunde, so zeigen beide Menschen sicher einen
Intelligenzdefekt. Ich habe aber Bedenken, einen Intelligenzdefekt
in dem geschilderten Sinne für die Diagnose eines angeborenen Schwach¬
sinnes, einer Debilität zu verwerten. Ich gebe gern zu, daß mich bei
dieser Auffassung mehr praktische, zum Teil für das Militärleben
wichtige Gesichtspunkte leiten, als streng wissenschaftliche Gründe.
Wir müssen — meines Erachtens — berücksichtigen, daß wohl jeder
Jüngling mit größerem oder geringerem Optimismus in das Leben
hinaustritt, in der Erwartung, die Welt so zu finden, wie er sie sich
in seinen Hoffnungen und Erwartungen malt. Erst wenn er das reale
Leben wirklich kennen gelernt hat, wird er sich eine zusammenhängende
Lebens- und Weltanschauung bilden können, also in reiferen Jahren,
in einem Alter, das jenseits der aktiven Dienstzeit liegt.
Ich möchte im Nachfolgenden auf einen viel umstrittenen Begriff
eingehen, die Auffassung der Moral insanity, des moralischen
Schwachsinns. Die vielumstrittene Frage, ob das Gefühls¬
irresein „eine umgrenzte Schädigung der sittlichen Leistungen* 1 , eine
Krankheit sui generis sei oder aber eine „einfache Unterform des an¬
geborenen Schwachsinns** darstelle, ist noch nicht geklärt. Die Moral
insanity ist nach Kraepelin» Ansicht „ein Sammelbegriff für eine
Reihe ganz verschiedenartiger Zustände**, und ich glaube, die Mehrzahl
der Psychiater entschließt sich nur ungern, diese Diagnose zu stellen,
ganz im Gegensätze zu psychiatrisch nicht durchgebildeten Ärzten,
die. wie ich gefunden habe, diese Diagnose als relativ bequem häufig
steilen. Vielfach werden unter dem Begriff Moral insanity „alle die¬
jenigen Formen abnormer geistiger Veranlagung und. Entwicklung zu¬
sammengefaßt, bei denen bei erhaltener oder wenigstens nicht wesent¬
lich verkümmerter Intelligenz ein erheblicher oder totaler moralischer
Defekt besteht** (t;. Muralt).
Binswanger l ) betont, daß „bei dieser Fassung überhaupt eine
1 ) Binswanger, Über den moralischen Schwachsinn, mit besonderer
Berücksichtigung der kindlichen Altersstufe. Sammlung von Abhandlun -
gen aus dem Gebiete der pädagogischen Psychologie und Physiologie.
B<t VIII, Heft 5, 1905.
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Grenze zwischen dem geborenen Verbrecher und dem verbrecherischen
Geisteskranken nicht besteht“, und ferner: „Der geborene Verbrecher
kann wohl als eine krankhafte Erscheinung des sozialen Organismus,
vielleicht auch als eine eigenartige anthropologische Varietät, niemals
aber als ein Geisterkranker betrachtet werden, so lange außer dem
moralischen Defekte keinerlei andere Zeichen einer geistigen Er¬
krankung auffindbar sind.“ „Beiden gemeinsam ist ein bis in die
kindliche Entwicklungstufe zurückgehender ethischer Defekt, welcher
sich in der Tendenz zu antisozialer Handlungsweise kundgibt.“ Der
moralische Schwachsinn ist, wie ja hinreichend bekannt, in enge Be¬
ziehung zu dem angeborenen Schwachsinn gebracht worden. Bins-
wanger erklärt: „Man beobachtet bei vielen Schwachsinnigen eine
Herabsetzung der gemütlichen Erregbarkeit, eine allgemeine, die
Intensität und Qualität der einfacheren und zusammengesetzten, pri¬
mären und abgeleiteten Gefühlstöne im gleichen Maße schädigende
Störung, welche sich in einer allgemeinen Gefühlsverarmung und
Gefühlsstumpfheit kundgibt. ‘‘
Wenn diese Worte auch vorzugweise auf die schweren angeborenen
Schwachsinnsformen angewandt werden müssen, so wird es gerade
bei diesen Formen — eben im Hinblick auf das gleichzeitige Bestehen
von intellektuellen und ethischen Defekten — unmöglich sein, eine
Grenze zwischen moralischem und angeborenem Schwachsinn zu ziehen.
Es würde somit — wie ich glaube — wohl mehr dem Belieben des
einzelnen überlassen sein, ob er einen Kranken dieser Gruppe als an¬
geboren oder moralisch schwachsinnig bezeichnen will. Vom forensisch
psychiatrischen Standpunkt aus ist — aus später zu erörternden
Gründen — die Diagnose Moral insanity zum mindesten unzweckmäßig.
Weit schwieriger zu deuten sind die Fälle, in denen keine sinnfälligen
Symptome von Schwachsinn gefunden werden. Ich möchte hier die
Ansicht von Aschaffenburg x ) über die Moral insanity zitieren: „Die
meisten der Fälle sind klinisch wahrscheinlich falsch aufgefaßt worden.
Sie gehören neben dem Schwachsinne zum Teil der Epilepsie und
Hysterie, zum Teil den leichten Erregungszuständen des manisch
1 ) Hoche — unter Mitwirkung von Aschaffenburg, Schultze, Wollen-
berg —, Handbuch der gerichtlichen Psychiatrie. I. Teil. Aschaffenburg-.
Die rechtlichen Grundlagen der gerichtlichen Psychiatrie. A. Strafrecht
und Strafprozeß. S. 39. 2. Aufl. 1909. Hirschwald.
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Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezöglingen im Festungsgefängnis. 223
depressiven Irreseins, zum Teil dem Jugendirresein (Dementia praecox;
an; solche Mißgriffe sind mir wenigstens aktenmäßig begegnet.“
Binswanger stellt in seiner erwähnten Arbeit die strikte Forderung
auf: „Nur in solchen Fällen, in welchen entweder ein ausgeprägter
intellektueller Defekt oder bei Mangel eines solchen charakteristische
psychopathische Krankheitsmerkmale beim Kinde vorhanden sind,
haben wir das Hecht, die verkümmerte ethische Entwicklung als Aus¬
fluß einer krankhaften seelischen Veranlagung zu bezeichnen.“ Bms-
tttmger weist selbst darauf hin, daß derartige Individuen meist erst
nach dem Verlassen der Schule in ärztliche Beobachtung und Unter¬
suchung gelangen. Wir werden bei Gefängnisinsassen überaus häufig
nicht in der Lage sein, eine wirklich objektive und verwertbare Ana¬
mnese zu erlangen. Uneheliche Geburt, jahrelange Trennung von
Eltern und Angehörigen, unsteter Lebenswandel usw. machen es uns
unmöglich, die geistige Entwicklung von Kindheit an klarzulegen.
Wir werden mithin oft gar nicht die Frage klären können, ob bereits
in der Kindheit psychopathische Krankheitsmerkmale bestanden
haben. Die eigenen Angaben des Verbrechers in dieser Hinsicht sind
mit Vorsicht aufzunehmen, er ist selbst zu sehr Irrtümern unterworfen
— ganz abgesehen von absichtlicher Irreführung des Arztes. Vom
forensisch-psychiatrischen Standpunkt aus erscheint — wie ich bereits
sagte — die Diagnose Moral insanity unzweckmäßig. Das Reichs-
Bericht *) (E. XV. 97) hat ausdrücklich entschieden, daß „nach den
dem deutschen Strafgesetzbuch zugrunde liegenden Anschauungen
durch den von der Theorie (eines moralischen Irreseins) angenommenen
Mangel jeglichen moralischen Haltes die Zurechnungsfähigkeit nur
dann für ausgeschlossen gelten kann, wenn der Mangel aus krank¬
hafter Störung zu erklären ist.... Nach § 51 genügt keineswegs
die bloße Unfähigkeit zur freien Willensbestimmung einem Anreize
regenüber. es muß vielmehr die freie Willensbestimmung durch einen
Zustand der Bewußtlosigkeit oder krankhaften Störung der Geistes¬
tätigkeit ausgeschlossen sein“. Damit ist — sagt Aschaffenburg —
die Nichtanerkennung der Lehre von dem moralischen Schwachsinn
..autorativ“ entschieden.
*) Zitiert nach Aschaffenburg im genannten Handbuch der gericht¬
lichen Psychiatrie S. 39.
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Die psychiatrische Auffassung über den geborenen Verbrecher als
solchen kann wohl nicht präziser zum Ausdruck gebracht werden als
durch die Worte von Aschaffenburg 1 ): „Beides, Verbrechertum und
geistige Störung, sind zwei Pflanzen, die aus demselben Boden ihre
Nahrung saugen, aus dem Boden körperlicher und geistiger Degenera¬
tion.“ Zu demselben Urteil kommt Sadger 2 ) auf Grund seiner Unter¬
suchungen über Belastung und Entartung, die er in dem Satze zu¬
sammenfaßt;: „Kein Genie ohne Belastung, kein geborener Verbrecher
ohne Entartung.“
Um zu diesem Schlüsse zu kommen, braucht man durchaus nicht
den Begriff der Entartung so eng zu fassen, daß wir jeden als entartet
bezeichnen, der „angeborene Eigenschaften“ besitzt, „die der Er¬
reichung allgemeiner Lebenszwecke hinderlich sind“ (KraepeUn).
Vielmehr möchte ich als Kennzeichen der Entartung — nach Kraepe-
Kn — eine dauernd krankhafte Verarbeitung der Lebensreize, eine
Unzweckmäßigkeit des Denkens, Fühlens oder Wollens während des
ganzen Lebens betrachten. Daß von diesem Gesichtspunkte aus die
beiden ehemaligen Fürsorgezöglinge, deren Lebenslauf ich zuletzt
geschildert habe, ohne weiteres entartete Persönlichkeiten sind, bedarf
wohl keiner weiteren Darlegung.
Die zweite Gruppe meiner Psychopathen bilden die Haltlosen,
die I n s t a b 1 e n. Ihr gehören 6 meiner Leute an.
Einer könnte insofern abgezweigt werden, als er mehr ausgesprochener
Affektmensch war. Ungemein leicht reizbar, geriet er fast ständig mil
seiner Umgebung in Konflikt und war von frühester Jugend an im Leben
eigentlich bisher überall gescheitert. Die leidenschaftliche Erregung, in
die er so leicht geriet, stand ständig in grobem Mißverhältnis zu der vor¬
handenen auslösenden Ursache; er war jedoch im Augenblicke des Affekts
unfähig zu jeglicher Überlegung und hatte sich beim Militär wegen tät¬
lichen Angriffs und Achtungsverletzung vor versammelter Mannschaft
eine zweijährige Gefängnisstrafe zugezogen. Auch im Festungsgefängnis
war er als leicht erregbarer Mensch bekannt. Daß es hier nicht zu neuen
Straftaten kam, lag wohl ausschließlich in der so überaus korrekten und
ruhigen Art der Vorgesetzten begründet, die von den Festungsgefangenen
interessanterweise fast stets rühmend anerkannt wird.
*) Aschaffenburg, Das Verbrechen und seine Bekämpfung. 2. Aufl.
Heidelberg 1906. Winters Universitätsbuchhandlung. S. 171.
*) Sadger, J„ Belastung und Entartung. Ein Beitrag zur Lehre
vom kranken Genie. Leipzig 1910.
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Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezöglingen im Festungsgefangnis. 225
Den Lebenslauf der 5 übrigen zu schildern, kann ich mir ersparen.
Es ist immer dasselbe Bild einer „die gesamte Lebensführung be¬
herrschenden Willensschwäche“ ( Kraepelin ), das uns bei jedem der
Leute entgegentritt. In der Schule — sowie im allgemeinen — hatten
sie alle, außer einem, leicht gelernt und sich oberflächliche Kenntnisse
und eine äußere Gewandtheit erworben, die, wie die längere Beob¬
achtung ergab, leicht dazu verleiteten, den betreffenden für intelligenter
zu halten, als er wirklich war. Fast jeder hatte die Schule geschwänzt,
..weil es mir nicht paßte“, wie einige Zugaben. Alle 5 waren in der
Lehre gewesen, aber kein einziger hatte die dreijährige Lehrzeit durch-
gehalten. Dem einen war der Meister zu streng, der andere hatte
..keine Lust“ mehr, ein dritter wollte sich nichts mehr sagen lassen,
war „frech“ usw., kurz bei allen tritt uns die Unfähigkeit, ein vorge¬
stecktes Ziel zu erreichen, entgegen, ein Versagen, sobald es sich darum
handelt, ernste Arbeit zu leisten und Unannehmlichkeiten zu erdulden
im Interesse eines höheren Zwecks. Keiner hatte in einem bestimmten
Berufe ausgehalten, ein jeder bis zu seinem Diensteintritt mehrfach
gewechselt. Alle 5 kamen wegen ihrer Unbeständigkeit, Arbeitscheu,
ihres Hanges zum Vagabundieren in die Erziehungsanstalt, alle 5 ver¬
suchten ein- und mehrmals zu entweichen; bei allen 5 ist in den Lehrer¬
berichten von „Mangel an ernstem Interesse“, „Arbeitscheu“, Träg¬
heit, von fehlender Selbstzucht und Ausdauer die Rede. Der Versuch
der Erziehungsanstalt, den Zögling bei einem Lehrherm oder Dienst-
herrn unterzubringen, glückte bei keinem einzigen der 5; immer wieder
liefen sie davon, unter ähnlichen Begründungen wie oben. Nur tritt
jetzt häufiger als Motiv der Alkohol und die Neigung zum weiblichen
Geschlecht in Erscheinung. 4 sind bis zum Diensteintritt gerichtlich
bestraft wegen Diebstahls, Körperverletzung, Bettelei usw. Der 5.
wurde anscheinend lediglich durch seine sehr ordentlichen Eltern vor
Konflikten mit den Strafgesetzen bewahrt, wenigstens nach seiner
Strafliste beim Militär zu urteilen. Die aktive Dienstzeit trägt bei
allen in überaus charakteristischer Weise den Stempel der Haltlosig¬
keit und Willensschwäche. Nachlässigkeit, Schmutzigkeit, Belügen
von Vorgesetzten, Betrügereien, vor allem aber Urlaubsüberschreitun-
een und unerlaubte Entfernung kehren in den Strafverzeichnissen
immer wieder. Von den 5 Leuten hatten auch 3 wegen unerlaubter
Entfernung bzw. Fahnenflucht sich ihre Gefängnisstrafe zugezogen.
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226
Weyert,
Am deutlichsten kam die Haltlosigkeit in der Erzählung des einen
zum Ausdruck, der angab, er habe einen Freund getroffen, einen Bier¬
kutscher, der ihn freigehalten hätte. Dann hätten sie getanzt, weiter
getrunken, sich umhergetrieben und „amüsiert“, bis er nach 2 Tagen
ergriffen wurde. Nicht viel anders lag der Sachverhalt bei den übrigen.
Es erscheint erwähnenswert, daß eigentlich keiner wirkliche Freunde
besaß; es liegt nahe, sich in einer charakterstarken Persönlichkeit
eine Stütze zu suchen, wenn man —wie eigentlich alle meine 5 Leute —
immer wieder seine Haltlosigkeit und seine mangelnde Widerstands¬
kraft gegen Verführungen und Verlockungen des täglichen Lebens
erkennen muß. Anschluß an eine derartige Persönlichkeit voll Lebens¬
ernst und Zielbewußtsein sucht der krankhaft Haltlose wohl kaum
jemals, sicher nicht freiwillig. Er ist innerlich viel zu wenig davon
überzeugt, daß er sich selbst alle Fehlschläge zuzuschreiben hat, und
ist nur zu sehr geneigt, die Schuld andern beizumessen oder nachleeren
Ausflüchten zur Entschuldigung zu suchen, die höchstens er selbst
glaubt. Die Willensschwäche bedingt für den Haltlosen eine schwere
Gefahr, sobald er in schlechte Gesellschaft gerät. Er fällt leicht der
Verführung anheim und wird so ein Gewohnheitsverbrecher. „Man
würde fehlgehen,“ sagt Aschaffenburg , „wenn man in ihm stets die
Betätigung positiver verbrecherischer Neigungen vermuten würde.
Eine große Anzahl der harmloseren Gewohnheitsverbrecher, das täg¬
liche Brot der Polizeiorgane und Amtsgerichte, die Landstreicher, sind
charakteristische Beispiele eines Gewohnheitsverbrechertums aus vor¬
wiegend negativen Eigenschaften.“
Ich muß ohne weiteres zugeben, daß meine 5 Fälle eigentlich alle
als leichtere Form von Haltlosigkeit anzusprechen sind und bei ihnen
die Charakteristika der Entartung nicht so sinnfällig zutage treten.
Vermißt habe ich sie bei keinem einzigen, und ich fürchte, daß von
den 5 Leuten wohl die Mehrzahl völlig außerstande sein wird, sich
im Lebenskämpfe durchzusetzen. Wie sie vor der Militärzeit ge¬
scheitert sind, so werden sie auch weiterhin wohl scheitern, wenn erst
der erzieherische Einfluß der Militärzeit, soweit ein solcher überhaupt
bei meinem Material zur Geltung kam, gänzlich abgeklungen ist. Eine
zielbewußte, wohlwollende Leitung wird bei leichteren Fällen, z. B.
bei den hier erwähnten, wenigstens das eine zuweilen verhindern können,
nämlich daß diese Menschen dem Verbrecher- und Landstreichertum
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Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezöglingen im Festungsgefängnis. 227
anheimfallen. Jedoch tatkräftige, widerstandfähige, gefestigte und
ausdauernde Persönlichkeiten aus ihnen zu machen, das wird meines
Erachtens nie gelingen.
Als dritte Gruppe möchte ich schließlich noch die Degene¬
rierten mit epileptiformen oder epileptoiden
Anfällen erwähnen. Ich bin mir sehr wohl bewußt, daß epilepti¬
sche und der Epilepsie ähnliche Anfälle bei zahlreichen Psychosen
Vorkommen, mithin das Auftreten derartiger Anfälle nicht als Kri¬
terium für eine eigene Unterabteilung gelten dürfte. Es liegt mir
jedoch — wie bereits erwähnt — nur daran, der besseren Übersicht
halber einzelne Gruppen aufzustellen; es waren für mich weniger streng
wissenschaftliche als vielmehr praktische Gesichtspunkte maßgebend.
Von meinem Material gehören dieser Gruppe drei Soldaten an.
Den Lebenslauf des einen möchte ich näher schildern.
Gi., 24 Jahre alt, ehelich geboren. Der Vater des G. war ein Sonder¬
ling (vielleicht geisteskrank) und hat vor langen Jahren die Familie ver¬
lassen. Ein Bruder des Vaters hat durch Selbstmord geendet, ebenso
beider Vater. Die Mutter ist vor langen Jahren gestorben. G. wurde
im Hause eines kleineren Beamten vom 6. Lebensjahre an erzogen; die
Pflegeeltern werden als sehr ordentliche Leute geschildert, und G. gibt zu,
•■s bei ihnen recht gut gehabt zu haben. Er besuchte die Volksschule,
dann das Gymnasium bis Quarta, wurde dann aber mit 12 Jahren wegen
ständigen Schulschwänzens und verschiedener dummer Streiche einer
Fürsorgeanstalt an der holländischen Grenze überwiesen. Die Akten habe
leider nicht eingesehen. In der Fürsorgeanstalt blieb er knapp 2 Jahre,
kam dann zu einem Schlosser in die Lehre, lief jedoch mehrfach davon,
angeblich wegen schlechter Behandlung. Vom 19. bis 21. Lebensjahre
Ist er dreimal gerichtlich bestraft, zweimal wegen Diebstahls, einmal wegen
Sachbeschädigung mit einem Verweis. Nach beendeter Lehrzeit zog er
als reisender Handwerksbursche mehrere Monate umher, arbeitete gelegent-
'l'h in Fabriken. Auf seiner Wanderschaft durchzog er Holland, Rhein¬
land. Frankreich, Italien, wurde wegen Schmuggelns abgefaßt, ausge-
»iesen und ging nach Spanien. Von hier kehrte er unter fremdem Namen
nach Italien zurück und schlich sich — als ihm der Boden zu heiß wurde —
In Genua auf ein Schiff, mit dem er nach Brasilien gelangte. Hier will
*r gestohlen haben, fuhr nach Argentinien, wo er auf einer Pferdezüchterei
•'inige Wochen arbeitete. Stellunglos und total abgerissen, ließ er sich
für die argentinische Marine anwerben, desertierte aber nach wenigen
Monaten — angeblich wegen schlechter Behandlung durch die Kameraden
— und kehrte über Kapstadt, Australien wieder nach Argentinien zurück.
Teils zu Fuß, größtenteils aber als blinder Eisenbahnpassagier durchzog
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228
Weyert,
er Chile, Paraguay und Uruguay, schiffte sich — wieder nach Argentinien
zurückgekehrt — heimlich auf einen Dampfer ein, brach in den Postraum
ein und wurde in Hamburg mit 3 Monaten Gefängnis bestraft (laut Akten
1907). Am 12. Juni 1907 wurde er als unsicherer Heerespflichtiger ein¬
gestellt. Das straffe militärische Leben behagte ihm nicht, er wurde nach
4 Monaten fahnenflüchtig, aber nach wenigen Tagen ergriffen und zu
iy 2 Jahren Gefängnis (wegen Fahnenflucht im Komplott) verurteilt.
Während der Strafverbüßung führte er sich tadellos, es wurde ihm daher
ein Teil der Strafe im Gnadenwege erlassen. Zur Truppe zurückgekehrt,
tat er 1 Jahr den Dienst zur Zufriedenheit der Vorgesetzten, wurde dann
aber erneut fahnenflüchtig, ging nach Belgien, das ihn an Deutschland
auslieferte. Zu 2 Jahren Gefängnis verurteilt, geriet er über die Höhe
der Strafe in heftige Erregung. Er stellte zwischen seiner und der Nachbar¬
zelle ein Loch in der Wand her, wollte Brandstiftung in der Strafanstalt
begehen und trat schließlich mit der Behauptung hervor, er litte an „Epi-
lepsie“. Er wurde daraufhin teils vor Antritt der Strafe vorübergehend,
teils während der Strafverbüßung dauernd auf seinen Geisteszustand
beobachtet. Durch zahlreiche Unterhaltungen, bei denen jegliche Sug¬
gestion und Suggestionsfragen peinlichst vermieden wurden, stellte ich
folgendes fest: G. behauptet, im 15. bis 18. Lebensjahre (1900 bis 1903)
seien etwa zwei- bis dreimal wöchentlich „Anfälle“ aufgetreten, d. h. er
habe in der linken Hand ein kribbelndes Gefühl verspürt, die Finger
hätten sich geschlossen, die Hand, der linke Arm seien schwer und machtlos
geworden. Das Kribbeln sei weiter bis zum Halse aufgestiegen, er habe
die Sprache verloren und sei ohnmächtig geworden. Wie lange die Ohn¬
macht gedauert hätte, wisse er nicht; nach Angabe von Augenzeugen will
er um sich geschlagen haben. Nach dem „Anfall“ habe er sich müde und
matt gefühlt. Durch ärztliche Behandlung (Elektrisieren) seien die „An¬
fälle“ leichter und seltener geworden. Zwar habe das Kribbeln in der¬
selben aufsteigenden Art fortbestanden, er sei jedoch nicht mehr ohn¬
mächtig geworden. Allmählich hätten die Anfälle ganz aufgehört. Etwa
1904/05 seien jedoch im Anschluß an eine große Erregung die geschilderten
Anfälle wiedergekehrt, begleitet von Taumeln und Schwindelgefühl. Seit¬
dem wäre ihm in unregelmäßigen Zwischenräumen und „bei ganz feinen
Arbeiten“ schwindlig, so als ob er angetrunken sei. Bewußtlos sei er
jedoch dabei angeblich nie geworden. Dämmerzustände haben bisher —
soweit feststellbar — nicht bestanden. Schwindelgefühl sei stets nur als
Folge des von der Hand aufsteigenden „Kribbelns“ aufgetreten. An¬
geblich sei es zuweilen von Angstgefühl begleitet gewesen (Furcht vor
Hinstürzen).
Die Stimmung sei im allgemeinen „ganz gut“, zuversichtlich. Mit
Kameraden pflegte er wenig Umgang („bin mehr für mich allein“), war
im allgemeinen schweigsam. Mitunter befalle ihn — wie er behauptete —
ein Gefühl von „Melancholie“; es sei ihm beklommen zumute, die „Um-
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Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezöglingen im Festungsgefängnis. 229
s^ebung“ ihm „zu eng“; Lebensüberdruß trete jedoch nicht zu diesen
Zeiten auf. Diese Zustände sind vielleicht um so auffallender, als bei
verzweifelten, äußeren Lagen G. oft „lustig und humorvoll“ sein will,
unbesorgt und gleichgültig gegen die drohenden Schicksalschläge. Nachts
träume er sehr lebhaft, besonders von Schlägereien und sexuellen Dingen;
oft fuhr er auch plötzlich aus dem Schlafe auf — wie die Kameraden be¬
haupteten. In Schlägereien ist G. — wie er offen zugesteht — oft verwickelt
gewesen. Zeitweise hat er stark getrunken. Syphilis in der Anamnese
i't nicht sicher.
G. ist im großen und ganzen ein gutmütiger Mensch. Allerdings ist
er leicht reizbar. Seine Angabe, er könne sich nur schwer zügeln und
neige bei heftigen Erregungen zu Gewalttätigkeiten und blindem Wüten,
e-scheint mir durchaus glaubhaft. Nach derartigen Entladungen verspürt
er jedoch Reue und Scham und hat den Vorsatz, künftig sich zu bessern.
Diese guten Vorsätze gelangen jedoch nicht zur Ausführung, wenn G.
wieder einmal in unangenehme Situationen verwickelt wird. An den
Pflegeeltern hängt er mit Anhänglichkeit und Liebe und steht mit ihnen
im Briefverkehr.
Die Intelligenz des G. überschritt durchaus den Durchschnitt; bei
<ien Kameraden galt er als „schlau“. Das Gedächtnis war befriedigend;
0. selbst behauptet allerdings, es habe in den letzten Jahren abgenommen.
Ebenso sagte er mir, er fühle sich stumpfer als früher („abgestumpft“)
und erklärte dieses mit seinen zahlreichen Fahrten und Erlebnissen in
der Welt.
In körperlicher Hinsicht zeigte G. bei einem Horizontalumfang des
Kopfes von 58 cm eine leichte Asymmetrie des Schädels sowie auf dem
rechten Scheitelbein eine etwa 2 cm lange, 1 cm breite, weder druck¬
empfindliche noch mit der Unterlage verwachsene Narbe. Von den Pu¬
pillen erschien die linke leicht verzogen, eine Spur weiter als die rechte;
die Reaktion beider war jedoch einwandfrei. Der linke Pat.-R. war
fegen den rechten leicht gesteigert. Es bestanden ferner Zittern der
narbenlosen Zunge und deutliches Nachröten der Haut.
Ich hatte während der mehrmonatigen Strafzeit des G. weder selbst
•Vlegenheit, irgendeinen „Anfall“ zu beobachten, noch auch w’urde ein
sicher von dem Personal und den Kameraden beobachtet.
Der z w e i t e F a 11 hat mit dem oben geschilderten beträchtliche Ähn -
lichkeit. Hier lag in der Kindheit ein schweres Schädeltrauma vor, später
tarnen längerer Alkoholmißbrauch und Syphilis als weitere schädigende
Momente hinzu. Hier bestanden anfallweise Kopfschmerzen und Schwin-
delanfalle, zeitweilige Verstimmungszustände (mit angeblicher Selbstmord-
neigung) sowie Erregungzustände. Allerdings war dieser Mensch leicht
reizbar, und es erscheint mir wahrscheinlich, daß die Erregungszustände
*°wie auch die Verstimmungszustände nur als leicht pathologische Re¬
aktion eines gefühlsbetonten Vorfalles aufzufassen waren. Mit dieser
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W eyert,
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- erhöhten psychischen Reizbarkeit in Einklang stand ein erhöhter Reiz¬
zustand des gesamten Nervensystems, wie mehrfache Untersuchungen
ergaben.
Zum Schluß noch mit einigen Worten der dritte Fall:
M. (Skizze Nr. 7, s. S. 237), 23 Jahre alt, ehelich geboren. Der Vater hat
„getrunken“ und ist an Schwindsucht gestorben, als M. 11 Jahre alt war.
Die Mutter war „wild“, lief dem Ehemann ohne Grund mehrfach davon,
war „komisch“ und starb im Wochenbett, als M. 7 Jahre alt war. Eine
Schwester des M. war dumm und ist an Schwindsucht gestorben. Eine
Kusine väterlicherseits endete durch Selbstmord. In der Schule lernte M.
gut, schwänzte jedoch viel, beging Diebstähle und wurde im 10. Lebens¬
jahr einer Fürsorgeanstalt überwiesen. Nach dem Berichte der Anstalt
hatte M. einen „störrischen, widerspenstigen Charakter, wie wir ihn weder
vor noch nach ihm noch einmal in unserer Anstalt hatten“. Der Direktor
erwähnt ferner den „wirren, unstäten Blick“ des M. Er befand sich 4 \' 2 Jahre
in einer Fürsorgeanstalt und erlernte dann 2 y 2 Jah" das Schlosserhandwerk.
Vom 18. bis 20. Lebensjahre ist er 5 mal gerichtlich mit Gefängnis und Haft
bestraft wegen Diebstahls, Körperverletzung und Landstreichens. Das
Schlosserhandwerk übte er nicht aus, sondern war in verschiedenen Fa¬
briken als Arbeiter sowie als Heizer auf Überseedampfern tätig. Im
September 1907 als unsicherer Heerespflichtiger bei der Marine eingestellt,
ist seine Dienstzeit — abgesehen von dem ersten halben Jahre — eine
Kette von andauernden Verstößen gegen die Disziplin. Er wurde in
2 Jahren 21 mal bestraft, darunter 9 mal mit strengem Arrest und 2 mal
mit Gefängnis, allein 5 mal wegen unerlaubter Entfernung. Als Ursache
für seine häufige Straffälligkeit gibt er an, daß er sich meist die Folgen
seiner Handlungen vorher nicht überlegt habe, besonders wenn er unter
Alkohol gestanden hätte, was, wie er eingesteht, recht häufig der Fall
gewesen wäre. Wenn er von Kameraden aufgefordert wurde, mitzumachen,
so habe er eben mitgemacht, ohne an die Folgen zu denken. Gute Vor¬
sätze habe er recht oft gefaßt, aber alle diese seien immer wrieder zuschanden
geworden, sobald irgendeine neue Versuchung an ihn herantrat. Richtige
gute Freunde hatte er angeblich nie, „mit jedem habe ich Freundschaft
gehalten“, ebenso habe er nie eine Braut gehabt, habe sich jedoch viel
mit Kellnerinnen abgegeben, von denen er gelegentlich „freigehalten“
worden sei. Er bestreitet jedoch energisch, jemals Zuhälterdienste ge¬
leistet zu haben. In der Trunkenheit neige er zu Streit und Lärm und sei
mehrfach in Raufereien verwickelt gewesen. Allerdings sei er auch ohne
Alkohol leicht reizbar, werde aufgeregt und könne nicht an sich halten,
beim Militär z. B., sobald ein Vorgesetzter ihn barsch anfahre. In eine
Arbeiterabteilung eingestellt, machte er hier einen Fluchtversuch und
wurde mit Gefängnis bestraft.
Im April 1910 erkrankte M. an einer eitrigen Mittelohrentzündung,
meldete sich jedoch erst krank, nachdem diese bereits etwa anderthalb
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I'nwrsnchungen an t&emaligen frlrsorgfczötflingen im 'Festangsgefäügnis. 231
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238
Weyert,
Monate bestand. Der unmittelbare Anlaß zur Krankmeldung war, daß
er „Schwindelanfälle“ bekam, ihm „heiß im Kopfe“ wurde und Angst¬
gefühl auftrat. Die Mittelohreiterung heilte unter spezialärztlicher Be¬
handlung. Ausfluß trat in den folgenden 6 Monaten nicht wieder auf.
Am Trommelfell fand sich eine deutliche Perforation, das Mittelohr zeigte
epidermisierte Wände, die Hörfähigkeit war auf 50 cm für Flüstersprache
herabgesetzt. M. gab an, zeitweilig im Hinterkopf und über den Augen
ein Druckgefühl zu empfinden und sich dann „duselig“ zu fühlen. Schwin¬
delanfälle seien nicht mehr aufgetreten. Beim Lesen bestände manchmal
Flimmern vor den Augen. Zuweilen trete auch anfallweise ein ängst¬
liches Gefühl, Herzklopfen und „Hitze im Kopf“ ein. Nachts träume er
viel, besonders von Leichen, daß er tot sei, und „allerhand Kram“. Er
meinte auch, doch bald sterben zu müssen, er habe das so im Gefühl. Der
Gesichtsaüsdruck war finster, der Blick etwas scheu, das ganze Wesen
wenig militärisch. M. zeigte recht gute intellektuelle Fähigkeiten; ein
Schwachsinn lag sicher nicht vor. Der Schädel hatte einen Umfang von
57 cm und zeigte auf dem Hinterhaupt eine 5 cm lange, % cm breite,
gut verschiebliche, nicht druckempfindliche Narbe. Die Nase stand etwas
schief, die Ohrmuscheln waren leicht verbildet, es bestand ferner Anlage
von Xbein und Plattfuß.
Seitens des Nervensystems fanden sich leicht gesteigerte Patellar-
sehnenreflexe, Zittern der gespreizt vorgestreckten Finger, geringe Dermo-
graphie sowie am ganzen Körper eine deutlich nachweisbare Herabsetzung
des Schmerzgefühls.
Besonders hervorgehoben sei, daß bei den mehrfach vorgenommenen
Untersuchungen niemals Gleichgewichtstörungen beobachtet wurden und
niemals Symptome, die für eine lokalisierte Gehirnerkrankung sprachen.
Ebensowenig konnten bei M. objektiv die von ihm geschilderten ver¬
schiedenartigen Anfälle beobachtet werden.
Die Deutung der geschilderten Fälle erscheint mir nicht völlig
einwandfrei möglich. Eine genuine Epilepsie kommt bei allen drei
Leuten nicht ernstlich in Frage. Berücksichtigt man, daß alle drei
bereits längere Zeit dienten und sich während zahlreicher Aufenthalte
im Lazarett, im Gefängnis usw. unter ständiger Aufsicht befanden,
so glaube ich, daß ein epileptischer Anfall, vorausgesetzt, daß ein
solcher jemals während der aktiven Dienstzeit aufgetreten ist, auch
zur Kenntnis der Vorgesetzten und zuständigen Ärzte gelangt wäre.
Überdies hätte wohl jeder der drei aus einem derartigen Anfall Kapital
für sich zu schlagen versucht, zum mindesten dadurch, daß er sich
krank gemeldet hätte.
Wahrscheinlicher ist — meines Erachtens — die Annahme, daß
es sich bei den ersten beiden um traumatisch psychopathische Kon-
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Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezöglingen im Festungsgefängnis. 239
stitutionen handelt. Sicher erscheint mir diese bei dem zweiten, kurz
skizzierten FalL Hier lag ein größerer, schwerer Schädelunfall mit
Gehirnerschütterung vor, und der Vater gab ausdrücklich an, daß
nach dem Unfall ausgesprochene Charakterveränderungen sich aus¬
bildeten, vorzugweise Boshaftigkeit und Jähzorn. Bei dem ersten,
in extenso geschilderten Falle fehlte mir eine hinreichend ausführliche
Anamnese. Dadurch ist es mir nicht möglich, nachzuweisen, welche
Veränderungen in geistiger Hinsicht mit G. während seines Lebens
vorgegangen sind. Aber ich glaube, so viel kann doch wohl be¬
hauptet werden, daß die verschiedenartigen Schlägereien und das
Trauma, von dem jetzt noch die Narbe herrührt, die Widerstand-
fähigkeit des Gehirns herabgesetzt haben. Als weitere Gehirnschädi¬
gungen kommen hinzu Syphilis, Alkohol und kalorische Schädigungen
(Schiffsheizer, Aufenthalt in den Tropen). So erscheint es nicht
wunderbar, daß sich in beiden Fällen psychische Degeneration - und
zerebrale Beizerscheinungen herausgebildet haben.
Es ist nun hinreichend bekannt, daß zwischen Schädeltrauma und
Epilepsie enge Beziehungen bestehen. Nach Ziehen pflegen in wenig¬
stens 10% aller schweren Schädeltraumen sich epileptische Anfälle
einzustellen. Insbesondere ist ja der Alkohol den Gehirntraumatikem
gefährlich, sei es in Form von pathologischen Rauschzuständen, sei
es in Form von alkoholepileptischen Anfällen. Ich möchte die Ver¬
mutung aussprechen, daß bei beiden Fällen die absolute Alkohol-
abstinenz in der Untersuchungshaft, den Lazaretten, der Arbeiter¬
abteilung und dem Festungsgefängnis nicht allein heilsam gewirkt,
sondern vielleicht direkt verhindert hat, daß schwerere epilepsieähn¬
liche Anfälle auftraten. So erklärt es sich vielleicht, daß bei beiden
keine ärztlichen Unterlagen für die von den Leuten behaupteten psychi¬
schen Anfälle gewonnen werden konnten. Daß die Angaben der beiden
Leute erfunden sind, glaube ich nicht; allerdings ist es ja möglich,
daß diese oder jene Einzelheit etwas krasser hingestellt worden ist,
als sie in Wirklichkeit war.
Schwieriger ist der dritte Fall. Hier hegte ich lange Zeit Ver¬
dacht, daß der Krankheitsprozeß vom Mittelohr in die Schädelhöhle
fibergegriffen hätte. Ich fand jedoch bei zahlreichen Untersuchungen
nie Anhaltpunkte, welche das Vorliegen einer organischen Gehirn-
erkrankung auch nur im entferntesten gerechtfertigt hätten. Ich
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Weyert,
nehme auch für diesen Fall eine traumatisch-psychopathische Kon¬
stitution an und glaube, daß es sich auch hier um zerebrale Reizerachei¬
nungen handelt, die gleichfalls zum mindesten in ihrem Entstehen be¬
günstigt worden sind durch Trauma, Alkohol und kalorische Ein¬
wirkungen.
Zum Schluß möchte ich noch die Degenerationszeichen und krank¬
haften Erscheinungen des Zentralnervensystems dieser Gruppe der
Psychopathen kurz zusammenfassen.
Von den 10 Leuten zeigte einer (Untergruppe 2) hydrozephale
Schädelform (horizontaler Umfang 60 cm), ein anderer derselben Gruppe
Mikrozephalie (53 cm Horizontalumfang). Bei diesen waren als weitere
Zeichen der Entartung vorhanden eine fliehende Stirn, Prognathie sowie
verschieden gefärbte Regenbogenhäute. Im Schädelbau zeigten 3 Leute
Asymmetrien zwischen beiden Hälften. Der Schädel eines vierten wirkte
ausgesprochen eckig, quadratisch, der eines fünften verjüngte sich stark
nach oben. Asymmetrien beider Gesichtshälften fand ich nur einmal,
jedoch 7 mal eine schiefgestellte Nase. Seitens der Ohren war erkennbar:
verbildete Ohrmuscheln 4-, angewachsene Ohrläppchen 5- und Darwin¬
scher Höcker 4 mal. Einer schielte, drei besaßen hohe, von diesen zwei
kahnförmige Gaumen. Die Abweichungen des Zentralnervensystems von
der Norm möchte ich tabellarisch kurz zusammenfassen.
Es fand sich
bei zwei Leu¬
ten mit erbt
(legen, psych.
Konst
bei drei Psy-
bei fünf Halt-! ehopsthen
losen mit epilept
1 Antillen 1 )
Also unter
10 Degene¬
rierten
unregelmäßige Form der Pupillen
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2
Differenz der Pupillen .
—
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träge Reaktion .
—
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Abweichen der Zunge.
—
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1
Zittern der Zunge.
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C\ 1
u
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Steigerung der Pat.-S.-R.
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13
5
Dermographie.
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6 • 3
9
Tremor digitorum.
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2
3
allgemeine Hypalgesie.
!
- 1
1
Von den vier noch verbleibenden Leuten ist kaum etwas zu sagen.
Einer von ihnen war in der Anstalt schwer erziehbar gewesen, die
andern drei hatten sich jedoch der Erziehung in der Anstalt in jeder
Weise musterhaft gefügt. Zwei waren vor dem Diensteintritt unbe¬
straft, und von diesen kann wohl mit großer Wahrscheinlichkeit eine
soziale Bewährung im Leben erwartet werden. Der eine hatte sich
nicht rechtzeitig gestellt, weil er an Krätze litt und sich angeblich
1 ) Von den drei Leuten dieser Gruppe haben zwei Lues überstanden.
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Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezöglingen im Festungsgefängnis. 241
schämte, der zweite hatte einen Vorgesetzten Unteroffizier
verdächtigt, daß er (der Unteroffizier) von ihm Geld geborgt hätte.
Von den beiden anderen Leuten wurde der eine im Alkoholrausch
gewalttätig und war sowohl im Zivil- als jetzt im Militärleben wegen
Körperverletzung bestraft worden. Der zweite konnte vielleicht auch
als erblich-degenerativer Psychopath bezeichnet werden; er stand
sicher auf der Grenze. Bei diesen beiden zuletzt erwähnten glaube
ich kaum, daß sie sieh fernerhin als soziale und brauchbare Mitglieder
der menschlichen Gesellschaft betätigen werden. Bei beiden hatte
ich jedoch den Eindruck, daß durch sachgemäße, wohlwollende Leitung
etwas aus ihnen zu machen wäre; ob beide jedoch einen derartigen
Halt im Leben finden — das ist ja wohl wenig wahrscheinlich.
Bereits erwähnt wurde, daß die Fürsorgeerziehung als solche
durchaus keine Schuld an dem bisherigen Versagen meines Materials
im bürgerlichen und militärischen Leben trifft. Nach der vom Mini¬
sterium des Innern veröffentlichten Statistik über die Erfolge der
Fürsorgeerziehung usw. kann ja kein Zweifel an dieser segensreichen
Einrichtung für unsere gefährdete Jugend mehr bestehen. Ich habe
auch zeigen können, welch treffende Beobachtungen die Lehrer und
Erzieher der genannten Anstalten über unser Material gemacht haben
und wie richtig häufig die von ihnen gestellte Prognose für das weitere
Leben der Zöglinge war.
Die eingangs meiner Arbeit erwähnten militärärztlichen Gesichts¬
punkte, die mich zu der Untersuchung veranlaßt haben, legen nun
zwei Fragen nahe:
1. Wie verhält sich Fürsorgeerziehung zum Militärdienst, und
2. Wie haben sich die Fürsorgezöglinge im Heere bewährt?
Mein Material ist zu klein und stellt doch zu sehr Ausnahmever¬
hältnisse dar, als daß ich es wagen dürfte, meine Ergebnisse zu verall¬
gemeinern. Es sind vor nicht langer Zeit zwei Arbeiten erschienen,
von Stier 1 ) und Schuppius 8 ), die sich gleichfalls mit den Fürsorge¬
zöglingen vom militärischen Gesichtspunkte aus beschäftigen. Die
von beiden Autoren niedeigelegten Ansichten und Resultate ihrer Be¬
obachtungen sind von grundlegender Bedeutung; Stier hat sich ein-
1 ) Stier, Fürsorgeerziehung und Militärdienst. D. militärärztl. Ztschr.
*0. Jahrg. 1911. Heft 22.
*) Schuppius, Fürsorgeerziehung und Militärdienst. Ebendort.
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242
Weyert,
gehend mit der Frage der Fürsorgeerziehung seit Jahren beschäftigt,
und Sehuppius hat auf Grund von Fragebogen ein Bild der zurzeit
in der preußischen Armee dienenden ehemaligen Fürsorgezöglinge ge¬
wonnen und ist zu recht beachtenswerten Ergebnissen gekommen,
die um so wertvoller für mich sind, da sie nicht an Festungsgefängnis¬
insassen, sondern an Soldaten der Front angestellt sind, somit eine
Ergänzung meiner eigenen Beobachtungen darstellen.
Alle ehemaligen Fürsorgezöglinge grundsätzlich vom Militärdienst
als untauglich oder unwürdig auszuschließen, ist, wie auch Stier betont,
„indiskutabel, da diese Maßnahme einen radikalen Bruch bedeuten
würde mit den sonstigen Grundsätzen der Einstellung, indem es die
Fürsorgezöglinge, von denen ein beträchtlicher Teil überhaupt keine
gerichtlichen Strafen erlitten hat, den ehemaligen Zuchthäuslern gleich -
stellen würde“. Stier zieht ferner die Möglichkeit in Erwägung, ob die
Entscheidung über die Tauglichkeit aller in die Fürsorgeerziehung
aufgenommenen Knaben in die Hände der Armee zu legen sei oder ob
für die Tauglichkeit der Umstand entscheidend sein könne, daß die
Fürsorgezöglinge sich in dem Kalenderjahre, in dem sie das 20. Lebens¬
jahr vollenden, noch in Fürsorgeerziehung befanden. Stier begründet
seine ablehnende Stellung zu diesen Möglichkeiten so erschöpfend und
weist so einleuchtend auf die Konsequenzen hin, welche sich ergeben
würden, daß es überflüssig erscheint, seinen Ausführungen noch etwas
hinzuzusetzen.
Stier schlägt schließlich vor, eine Verfügung zu erlassen, die besage:
„Die Kommunalverbände haben am 1. Januar jedes Jahres diejenigen
in Fürsorgeerziehung befindlichen jungen Männer den Ersatzbehörden
namhaft zu machen, die sich a) als schwachsinnig und psychisch abnorm
gezeigt haben, und die b) in den letzten drei Jahren sich nicht tadelfrei
geführt haben; beides unter Angabe der diese Urteile begründenden
Tatsachen, bei den unter a) genannten tunlichst unter Beibringung
eines psychiatrischen oder kreisärztlichen Zeugnisses“.
Ich halte diesen Vorschlag für überaus glücklich. Er bedeutet
eine Erweiterung des bereits erwähnten Erlasses des Ministers des
Innern vom 2. November 1910 betreffend Mitteilung des Ergebnisses
der psychiatrischen Untersuchung der geistig minderwertigen Für¬
sorge- und Zwangszöglinge an die Ersatzbehörden. Es war vorge¬
schlagen worden, über jeden ehemaligen Fürsorgezögling einen Ver-
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Untersuchungen an ehemaligen Füreorgezöglingen im Festungsgefängnia. 243
merk in die Stammrolle aulzunehmen, um die Aufmerksamkeit des
zuständigen Truppenarztes besonders auf diesen Mann zu lenken.
Stier hat Bedenken gegen diesen Vorschlag. Er fürchtet, dieser Ver¬
merk könne den Unteroffizieren und Eameraden bekannt werden und
so dem ehemaligen Fürsorgezögling, der vielleicht mit den besten Vor¬
sitzen und Absichten beim Militär eingetreten ist, der sich im Zivil¬
leben vielleicht sozial bewährt hat, nun ein Makel in den Augen seiner
Kameraden angehängt werden, der ihm sein militärisches Fortkommen
erschwert und unter Umständen dazu beiträgt, daß er in alte Fehler
zoröckfällt. Ich gebe diese Gefahr ohne weiteres zu und bin über¬
zeugt, daß derartige verletzende, kränkende Bemerkungen so manchem
ehemaligen Fürsorgezögling das militärische Leben verbittern können.
Wirmüssen jedoch anderseits bedenken, daß durch den vorgeschlagenen
Vermerk die militärischen Vorgesetzten und der zuständige Arzt darauf
hingewiesen werden, den betreffenden Soldaten unauffällig, besonders
sorgsam zu beobachten. Gerade hierdurch aber werden wir Arzte
die notwendigen Unterlagen für die Beurteilung der Psyche dieser
Leute gewinnen und würden frühzeitiger als bisher imstande sein,
so manchen psychisch Defekten zu erkennen. Hätte sich in den Listen
meines Materials der vorgeschlagene Vermerk gefunden, so hätten die
Truppenführer doch wohl bei diesem oder jenem Manne eine psychiatri¬
sche Beobachtung veranlaßt, und es wäre somit das Heer frühzeitiger
von einem ungeeigneten Element befreit worden. Allerdings ist dazu
eine Vertiefung des psychologisch-psychiatrischen Verständnisses der
militärischen Vorgesetzten notwendig, eine Forderung, an deren Er¬
füllung bereits in zahlreichen Armeekorps durch regelmäßig wieder¬
kehrende psychiatrische Vorträge gearbeitet wird.
Würde nun in die Stammrollen nur bei den von Stier erwähnten
psychisch verdächtigen ehemaligen Fürsorgezöglingen ein Vermerk
gemacht, so würde in zahlreichen Fällen bei der Musterung bzw. Aus¬
hebung so mancher geistig Defekte bereits vom Heeresdienst ausge¬
schlossen werden können. Ich glaube, daß die von mir vorgeschlagenen,
auf einer Lehrerkonferenz beim Abgang jedes Zöglings aus der Anstalt
zusammengefaßten Schlußschilderungen eine wertvolle Ergänzung
dieser ärztlichen usw. Zeugnisse bilden würden. Gerade meine Fälle
haben gezeigt, wie richtig die Lehrer ihre Zöglinge zu beurteilen ver¬
standen, wie richtig auch die Vorhersage über die weitere Lebens-
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244
Weyert,
führung meist war. Kämen diese ehemaligen Fürsorgezöglinge doch
zur Einstellung, so würden der Truppenarzt und der Kompaniechef
sofort wertvolle Fingerzeige für die Beurteilung des Mannes besitzen,
und es gelänge sicher, so manchen frühzeitiger zu erkennen und even¬
tuell abzuschieben als jetzt. Denn erfahrunggemäß verstreichen
unter den heutigen Verhältnissen stets Wochen, sogar Monate, ehe bei
Grenzzuständen ein Soldat als geistig auffällig dem Truppenarzt von
der Kompagnie zugewiesen wird und die dann eingeleiteten Erhebungen
über das Vorleben in unsere Hände gelangen. Es wird sich nie ver¬
meiden lassen, daß diesem oder jenem Soldaten seine ehemalige Er¬
ziehung in einer Fürsorgeanstalt von den Kameraden zum Vorwurf
gemacht und er als ein sittlich Zweitklassiger betrachtet wird. Dieser
Nachteil muß jedoch meines Erachtens völlig zurücktreten hinter den
großen Vorteil, den das Heer durch die möglichst frühzeitige Erkennung
von geistig defekten, für den Heeresdienst ungeeigneten Elementen
gewinnt.
Die in den bereits vielfach erwähnten Statistiken veröffentlichten
günstigen Ergebnisse haben — wie ich wohl sagen darf — nicht nur
mir eine große Überraschung bereitet. Ich hatte, als ich an die Unter¬
suchung meines Materials herantrat, nicht erwartet, auf so ausge¬
sprochene Ausnahmefälle zu stoßen, vielmehr geglaubt, daß von meinem
kleinen Material sich wenigstens ein gewisser, vorsichtiger Schluß auf
die allgemeinen militärischen Verhältnisse ziehen ließe. Diese Er¬
wartung ist erklärlich, wenn man sich die Ergebnisse der neurologisch¬
psychiatrischen Untersuchungen an Fürsorgezöglingen vergegenwärtigt.
Ich möchte diese der Übersicht halber in nachfolgender Tabelle zu-
sammenstellen und bemerken, daß ich einige Angaben der Statistik
über die Fürsorgeerziehung usw. entnommen habe.
Die umstehende Tabelle zeigt außerordentliche Differenzen:
z. B. schwankt bei den einzelnen Untersuchern die Prozentzahl
der geistig Gesunden zwischen 84,75 und 13,8, die Zahl der
Psychopathen aller Grade zwischen 15,18 und 86,2. Be¬
merkenswert ist das psychiatrische Ergebnis in der Rhein¬
provinz mit seiner interessanten Trennung zwischen erziehbaren,
sozial in gewissem Grade verwendbaren und sozial verlorenen Zöglingen.
Es ist naturgemäß nicht zu entscheiden, wieweit die abweichenden
Ergebnisse bedingt sind durch die verschiedene Auffassung der einzelnen
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Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezöglingen im Festongsgefängnis. 245
I
i
j Zahl der
Geistig
Psycho¬
pathen,
geistig Ab-
j norme aller
Grade
. ..
Provinz
Name des
Untersachers
nnter-
1 suchten
Zöglinge
gesund
bzw. un¬
auffällig
Nicht
erziehbar
USW.
0/
f 0
°/
/ 0
0/
Io
( istpreußen
Holthausen
979
76
23
1
Westpreußen
Rabbas (?)
! 271
84,75
15,18
0,07
Pommern
Knecht 1 )
!222männl.
57
43
?
95 weibl.
34
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?
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?
i 122
65,6
34,4
?
Hannover
Cramer*)
j 376 schul¬
entlassene
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63
37
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| pflichtige
P»g.-Bz. Wiesbaden
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;66 männl.
28,5
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I. Unters.
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25.7
74,3 ;
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i II. Unters.
i
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fl
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! 24 weibl.
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58
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l
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o
24 weibl.
,11. Unters.
37,5 :
62.5
V
-
Geelvink
37 weibl.
i schulend.
13,8
86,2 i
13,8
Westfalen
Rizor 4 )
789
24,4
69,6
6
Kheinprovinz
j 100
20, d. h.
55
25
i«
r
50 Knab.
erzieh¬
endogen ent- ,
absolut ver¬
\
50 Mdch.
bar i
artet,sozial ver-:
wendbar, eines :
loren fUr das
selbständige
posit. Schutzes
Leben
bedürftig
l'ntersucher. Knecht z. B. hat bei seinem Material nicht die leichten
Schwachsinnszustände berücksichtigt, ein Umstand, durch den sich
*) Knecht, Die Fürsorgeerziehung in Pommern. Psych.-neurol.
Wsohr. 12. Jahrg. 1910. Nr. 19.
*) Gramer , Bericht an das Landesdirektorium über die psychiatrisch -
neurologische Untersuchung der schulentlassenen Fürsorgezöglinge. Allg.
Ztschr. f. Psych. Bd. 67, Heft 4.
*) Mönkemöller, Bericht an das Landesdirektorium der Provinz
Hannover über die Ergebnisse der psychiatrisch-neurologischen Unter¬
suchung der schulpflichtigen Fürsorgezöglinge der Provinz Hannover.
Ztschr. f. d. Erforsch, u. Behandl. des jugendl. Schwachsinns Bd. 4, 1910.
4 ) Rizor, Bericht an den Landeshauptmann der Provinz Westfalen
über die Ergebnisse der psychiatrisch-neurologischen Untersuchung der
in den Anstalten befindlichen, über 14 Jahre alten Fürsorgezöglinge West ¬
falens. Ztschr. f. d. Erforsch, u. Behandl. des jugendl. Schwachsinns
1909. S. 119.
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246
Weyert,
naturgemäß die Zahl der geistig Defekten in seiner Statistik beträchtlich
verringert. Zum Vergleich möchte ich eine in der Statistik über die
Fürsorgeerziehung usw. veröffentlichte Tabelle anführen.
Von den Fürsorgezöglingen waren
Jahrgang
a) in geistiger Hinsicht
b) in
körperlicher Hinsicht
nicht nor¬
mal
1
m. Gebrechen
davon hatten
gesund
gesund
bzw. Mängeln
dauernde
behaftet
Gebrechen
1909
88,1
11,9
75,6
24,4
10,0
1908
90,2
9,8
77,3
22,7
9,1
1907
89,6
10,5
82,7
17,3
7,0
1906
90,0
10,0
! 80,7
19,3
8.1
1905
89,3
10,7
78,5
21,6
9,0
1904
90,9
9,1
! 85,6
14,4
7,1
1903
90,3 |
9,7
' 82,3
17,7
8,1
1902
89,3 |
10,1
84,3
15,7
7,2
Die große Differenz in den Prozentzahlen der geistig Defekten
dieser mit den in der vorherigen Tabelle führt logischerweise zu dem
Schluß, daß zahlreiche Psychopathen usw. in der Fürsorgeanstalt nicht
als solche erkannt, somit auch wohl zum Militärdienst herangezogen
wurden, ohne daß durch irgendeinen entsprechenden Vermerk in den
Personalakten auf den abnormen Geisteszustand dieser ehemaligen
Zöglinge hingewiesen wurde. Von den in den Jahren 1904 bis 1909
aus der Fürsorgeerziehung entlassenen Knaben wurden 24 von hundert
als Soldaten eingestellt, ein geringer Prozentsatz, der sich jedoch wohl
daher erklärt, daß noch nicht sämtliche der in dem genannten Zeitraum
entlassenen Zöglinge das Pflichtalter für den Militärdienst erreicht
haben. Der verhältnismäßig geringe Prozentsatz der mit körperlichen
Gebrechen bzw. mit Mängeln behafteten Zöglinge (s. letzte Tabelle)
erklärt jedenfalls nicht die Erscheinung, daß nur ein Viertel der ge¬
nannten Fürsorgezöglinge in das Heer eingestellt wurden.
Es ist das Verdienst von Schuppius , durch umfassende Erhebungen
bei sämtlichen Armeekorps einen Überblick über die Zahl und Führung
der im Sommer 1911 aktiv im Heere dienenden ehemaligen Fürsorge¬
zöglinge gegeben zu haben. In 10 Armeekorps dienten 560 ehemalige
Zöglinge. Von diesen Leuten standen im ersten Dienst jahre 338 Mann.
Von diesen waren 61,7 % gänzlich unbestraft, „bei Abrechnung der
Kapporte, Strafwachen und ähnlichen kleinen Disziplinarstrafen sogar
71,4 %“. Von den 222 Leuten des zweiten Jahrgangs hatten 24 %
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Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezöglingen im Festnngsgefängnis. 247
bzw. 35,75 % den größten Teil ihrer Dienstzeit straflos verbracht. Die
Führung wird bezeichnet bei 5 % mit „sehr gut“, bei 40 % mit „gut“,
bei 45 % mit „genügend oder befriedigend“, bei 10 % mit „schlecht
oder ungenügend“. Schuppius hat bei seinem Material ferner „in
jeder Beziehung abfällige Äußerungen“ über die Charaktereigenschaften
verhältnismäßig selten angetroffen.
Gegen diese günstigen Resultate von Schuppius vermag ich einige
Bedenken nicht zu unterdrücken. Seit langen Jahren wird von
Psychiatern, vor allem von Militärpsychiatem immer wieder die Not¬
wendigkeit betont, bei den militärischen Vorgesetzten das psychiatri¬
sche Verständnis für psychische Grenzzustände zu wecken und mehr zu
vertiefen. Ein jeder, der die einschlägige Literatur verfolgt hat, wird
wissen, wieviel in dieser Hinsicht bereits geschehen ist und immer
weiter geschieht, um möglichst weitgehend das Heer von geistig De¬
fekten zu befreien. Ich glaube, daß unter den heutigen Verhältnissen
seitens der militärischen Vorgesetzten in erster Linie die Leistungen
der Untergebenen im praktischen, im äußeren Dienste, also im Exer¬
zieren, Turnen, Felddienst, Reiten usw. als Maßstab für die Beurteilung
betrachtet werden und die Fähigkeiten im theoretischen Dienste durch¬
aus in zweiter Linie kommen. Leichte Formen des Schwachsinns, vor
allem aber all die Symptome der degenerativen psychopathischen Kon¬
stitutionen fallen bekanntlich in erster Linie der unmittelbaren Um¬
gebung auf, also den Kameraden und allenfalls den Korporalschafts-
führern. Die psychisch etwa auffälligen Symptome kommen also
häufig dem Kompagniechef gar nicht zur Kenntnis, und es ist auch gar
nicht zu verlangen, daß ein Hauptmann erst die Stubenkameraden
eines Mannes befragt, um ein Urteil über die Führung usw. zu gewinnen.
Die wenigsten Kompagniechefs bestrafen gern, und keiner will in den
zweifelhaften Ruf kommen, eine sogenannte Verbrecherkompagnie zu
führen. Es wird ein jeder also wohl versuchen, zunächst in Milde, ohne
Strafen auszukommen, demgemäß auch sich nur schwer entschließen,
die Führung eines Mannes als ungenügend oder als ausgesprochen
schlecht zu bezeichnen. Ich bin mir sehr wohl bewußt, daß ein ge¬
waltiger Unterschied besteht zwischen den Bestrafungen im Zivilleben
und beim Militär. Im Interesse der Disziplin, um zu erreichen, daß
die Truppe ein einheitliches, festgefügtes Ganzes in der Hand ihres
Führers wird, müssen eben Strafen verhängt werden für Verfehlungen,
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248 Weyert, Untersuchungen an ehemaligen Fürsorgezöglingen usw.
die im Zivilleben im allgemeinen als unwesentlich aufgefaßt werden,
z. B. das Ausbleiben über einen gewissen Zeitpunkt, eine freche Ant¬
wort gegen den Lehrherrn usw. Die Tatsache, daß „von 338 Leuten
des ersten Jahrganges 208 gleich 61,7 % gänzlich unbestraft sind,
bei Abrechnung der Rapporte, Strafwachen und ähnlichen kleinen
Disziplinarstrafen sogar 240 gleich 71,4 %“, erlaubt meines Erachtens
keinen Rückschluß. Denn gerade im ersten Dienstjahre herrscht
eine weitgehende Milde und das Bestreben, den neueingestellten jungen
Leuten hinreichend Zeit zu gewähren, sich in die neuartigen Verhält¬
nisse einzugewöhnen. In der Ausbildungszeit werden erfahrunggemäß
häufig Vergehen nicht bestraft, die mit strengem Arrest, sogar mt
Gefängnis geahndet werden könnten. Wenn jedoch von 222 Leuten
des zweiten Jahrgangs 24 % bzw. 35,75 % ihre Dienstzeit unbestraft
geblieben sind, wenn also 64,25 % strenger als durch Rapporte, Straf¬
wachen und ähnliche kleine Disziplinarstrafen bestraft werden mußten,
so vermag ich im Gegensätze zu Schuppius den letztgenannten Prozent¬
satz durchaus nicht so günstig zu finden. Er ist auf jeden Fall be¬
trächtlich höher als bei den jungen Leuten, die nicht in Fürsorge¬
erziehung waren. Die Vermutung liegt nahe, daß unter diesem relativ
hohen Prozentsätze von Bestraften doch so mancher psychisch nicht
einwandfrei ist. Ich möchte auf die von mir untersuchten Gefängnis¬
insassen hinweisen, die ja auch größtenteils mit Disziplinarstrafen
belegt worden waren, ehe sie infolge einer gröberen Straftat in das
Gefängnis kamen. Ich glaube jedoch, daß die von mir erwähnten Be¬
stimmungen, welche die Heranziehung der Psychiater bei der Für¬
sorgeerziehung immer mehr sichern, dazu führen werden, daß die uner¬
ziehbaren, die geistig defekten Zöglinge mehr als bisher vom Heeres¬
dienst ausgeschlossen werden können. Wenn meine veröffentlichten
Fälle auch stets Ausnahmeverhältnisse darstellen werden, so mögen
sie doch andrerseits ein Beweis dafür sein, daß zwischen Fürsorge¬
erziehung und Heeresdienst beachtenswerte Beziehungen bestehen und
die Förderung der Bestrebungen der Fürsorgeerziehung nicht in letzter
Linie für unser Heer, für die Frage der Tüchtigkeit unserer Armee
von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist.
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Über eine einfache klinisch-psychologische Me¬
thode zur Prüfung der Auffassung, der Merk-
fähigkeit, des Gedächtnisses und der Ablenkbarkeit
Von
Dr. Ernst Bischof!, Langenhorn.
Im zweiten Heft des 65. Bandes dieser Zeitschrift S. 207 hat
Vier egge eine Arbeit veröffentlicht: „Über die Prüfung der Merk¬
fähigkeit Gesunder und Geisteskranker mit einfachen Zahlen.“
Er berichtet darin über Untersuchungen an Versuchspersonen, Ge-
'linden und Geisteskranken, über die Fähigkeit vorgesagte Zahlen nach¬
zusprechen
1. sofort,
2. nach einer Minute ohne Ablenkung,
3. nach einer Minute mit Ablenkung.
Die Anzahl der Ziffern der noch richtig nachgesprochenen Zahl
wurde notiert. So erhält man für jede der drei Versuchsreihen eine Ziffer,
hie erhaltenen drei Ziffern nebeneinandergestellt ergeben eine dreistellige
Zahl.
Eis bedeutet beispielweise 653:
eine sechsstellige Zahl wird sofort,
eine fünfstellige Zahl wird nach einer Minute Ablenkung,
eine dreistellige nach einer Minute mit Ablenkung
richtig reproduziert.
Die Durchschnittwerte bei einer größeren Zahl von gesunden und
kranken Versuchspersonen stellte Vieregge in der Tafel S. 250 zusammen.
Damit hatte Vieregge eine praktisch verwendbare Untersuchungs¬
methode für die klinische Merkfähigkeitsprüfung ausgearbeitet, die auch
noch wertvolle Anhaltpunkte für die „Auffassungsfähigkeit“ und für die
Wirkung der Ablenkung auf die Gedächtnisfunktionen gibt.
Zeitschrift für Psychiatrie. LXIX. 2. 17
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250
Bischoff,
Die geringe Zahl
so wenig umständlicher
psychologisch - klini¬
scher Untersuchungs¬
methoden läßt es wohl
erwünscht erscheinen,
einer jeden, die so gut
anwendbar ist und mit
so einfachen Mitteln
arbeitet wie die er¬
wähnte, eine sorgfältige
Beachtung zu schen¬
ken, um sie nach Mög¬
lichkeit auszubilden.
In dieser Erkennt¬
nis hatte Vieregge da¬
mals die Ausführung
übernommen; die Me¬
thode und die Ver¬
suchsanordnung hatte
im wesentlichen ich
ihm empfohlen und
angegeben.
Die Versuchsan¬
ordnung bildete das Re¬
sultat einer Reihe von
Vorversuchen, auf die
in der erwähnten Arbeit
wohl kurz hingedeutet
ist, deren zusammen¬
hängende Veröffent¬
lichung damals aber
aus äußeren Gründen
unterblieb.
Vieregge gab der
Versuchsperson als Reiz
eine Zahl aus dem fol¬
gen J " £, ~ u —na:
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Ober ein* 1 einfache klinisch-psychologische Methode usw
Gruppe
Ziffer
Bei dsf Answah! dieser Zählen war itfmdertkh maßgebend.. daß
liüferr 1 wie t-twa h-'i { i:}\ oder 111, vermieden wurden.
Beim Versprechen wurdf ein die Ziffern miteinander verbindendes
■ :j. f‘. rwetundfuozig MiiUardei*, bu»fbot*d*rt u n »J »i*b**nundne'unzi£
Kif&mm, 'dreihundert u n d sbcbstithiaehuig Tausend. vierhundert und
• msetso (Zähl % I. b des S.--Imnus 1 ausgelassen, vv<> jm \bh un« ■•••>••
i»l*Miduf»g der Hunderter mit den Zehneeu und Einern .in ä&tt Tausonder-.
'i -> MjJIioacTi- und ilea M'dHardeijgfnppoti haQdeitb; dagwgeo wurdy und
RuigfsprK be n W eilen Verbindung:*» feinrrfr. and Zehjiem, sowie u»
i-drteu Gruppe, der HtiudertertjruppSj auch •zwisdheu Hunderten
MW*! r»iptrfT> rowis Z-dinern: z. B. Hrijyyihl. $. Hl..»: Dre3hu»dertsieheu-
•Vstoeao 2 «t 5 »isind fünfhundertUnd^efisüridaehUig.
Für AuSspcftt thr« rler Reiz*. wurde. die Zeit *nip*r»«-vb teigeJegl
ÜB »vitweridig r>ar. um x\v<,HsK)Hife, .n.f.-i,-.>jt»'Uhre.
- «ad ii?r -iriiiyfr Zahlen dt-ülfifb nitd klar verständlich ; *®T-
X ^ Sekunden
252
Bischoff,
Die Zahlen mit einer dazwischen liegenden Ziffernzahl werden ent¬
sprechend langsamer oder schneller angegeben.
Es gelten diese Zahlen natürlich nur als ungefähre Anhaltpunkte,
um eine gewisse Einheitlichkeit der Zeit der Reizgebung zu erreichen.
Wesentlich schwieriger war eine andere Frage der Technik der
Versuchsanordnung zu beantworten: Sollen die Reize in aufsteigender
Reihenfolge, von der kleinen zur größeren Zahl fortschreitend, gegeben
werden oder umgekehrt?
Von größter prinzipieller Wichtigkeit war endlich die Frage, welche
von den reproduzierten Zahlen als endgültig richtig ausgewählt werden
sollte.
Diese letzte Frage ist natürlich die den Ausschlag gebende, und
alle andern dienen mehr oder weniger direkt ihrer Beantwortung:
daher ist eine zusammenhängende Betrachtung, in der sie den Aus¬
gangpunkt bildet, wohl angebracht.
Gibt man einer erwachsenen, gesunden Versuchsperson als Reiz die
Zahl 6 mit der Aufgabe, sie sofort oder nach kurzer Zeit zu reproduzieren,
so wird ihr das unter gewöhnlichen Umständen anstandlos gelingen.
Steigert man die Anzahl der Ziffern, so wird die Reproduktion eine
mehr und mehr ungleichmäßige sein, bis es bei etwa 9*, 10-, 12stelligen
Zahlen überhaupt nicht mehr gelingt, alle Ziffern in richtiger Anordnung
zusammenzubringen.
Gerade aber die Anzahl der als Zahl richtig reproduzierten Ziffern
soll in den vorliegenden Versuchen den Maßstab abgeben für den Umfang
und die Güte des Gedächtnisses, des Auffassungsumfanges, eventuell der
Aufmerksamkeit usw.
Es fragt sich nun, welche von den reproduzierten Zahlen werden als
brauchbar gewählt.
Das Einfachste wäre, man wählte die Zahl, welche immer richtig
reproduziert wird; doch ergibt sich da sofort die Schwierigkeit, wo dieses
„immer“ begrenzt werden soll, da die Versuche natürlich nicht unbegrenzt
lange fortgesetzt werden sollen, und weil infolge der Übung bei einer immer
weiter fortgesetzten Zahl der Versuche die Zahl der richtig reproduzierten
Reize an Umfang so lange zunehmen w'ird, bis die Ermüdung oder andere
Erscheinungen, die aber alle erst sehr spät einsetzen, das Resultat etwas
einheitlicher oder aber auch geringer und vielleicht unregelmäßig fallend
gestalten.
Die Methode ist natürlich um so besser verwendbar, je geringer die
Zahl der notwendigen Versuche ist. Das erwähnte „immer“ wird also
aus innerer Notwendigkeit eine gewisse Willkürlichkeit in seiner Um¬
grenzung enthalten müssen.
Nehmen wir nun an, daß diejenige Zahl als „immer richtig reprodu-
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Über eine einfache klinisch-psychologische Methode usw. 253
ziert“ gilt, die bei 20 Versuchen ohne Fehler angegeben wird. Nach allen
unsern Erfahrungen werden wir sagen können, daß Zahlen mit einer
kleineren ZifTernzahl unter sonst gleichen Verhältnissen ebenso „immer“,
sagen wir — absolut richtig — reproduziert werden.
Steigern wir nun die ZifTernzahl immer mehr und mehr, so werden
voraussichtlich von den 20 Reproduktionen entsprechend mehr falsch
sein, bis schließlich eine ZifTernzahl erreicht wird, die in keiner der 20 Re¬
produktionen richtig wiedergegeben wird; diese Zahl stellt — sagen wir —
die absolut falsche Zahl dar.
Es leuchtet wohl ohne weiteres ein, daß die absolut richtige Zahl
einen zu kleinen, jedenfalls nicht erschöpfenden Umfang des noch auf-
faßbaren Zahlenmaterials angibt; das Umgekehrte ist bei der absolut
falschen Zahl der Fall.
Graphisch dargestellt ergeben sich diese Verhältnisse in Form einer
Kurve, deren Abszisse beispielweise die Anzahl der Ziffern, deren Koordi¬
nate die Anzahl der richtigen Lösungen angibt.
Solch eine Kurve ist in der Abbildung II dargestellt von einem
Versuch am 16. 1. 1908:
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Bisch off
Die absolut richtige Zahl i$f hier 4, die absolut falsch« Zahl ist:?,
•cift* «eefrssle llig? Zahl wurde io ach» von zwanzig Fälle», eine fänfstellige
Ziijii H fgtrfaoha ton zwortzig Fällen richtig reproduziert.
-
DijjS* Methode fei bei einer entsprechenden Verarbeitung der Be-
sultaic nattirlich durchaus brauchbar. Sie gibt ein erschöpfendes Bild
der Fehlerqualit.'Ucii » .> in r,vtv>r>obuog sehr f*ii«vr philologischer
BigentnrhHi'hkeite» und ^.odVhtnisfihllhomeiie. Doch haftet ihr der
DfcpitE.ed*by
• , C'i iyii ril frcri
IJNIVERSifV QF MjCHIGAN
Über eine einfache klinisch-psychologische Methode usw.
266
Mangel an, daß sie recht umständlich für den klinischen Gebrauch ist;
und die Abkürzung der Versuchzeit ist wohl eine Bedingung für die all¬
gemeine Verwendbarkeit.
Die absolut richtige und die absolut falsche Zahl sind mit sehr viel
weniger Fragen herausgefunden als mit den hier gestellten zwanzig; bei
der absolut falschen muß natürlich schon die erste falsch sein und die
zweite und die dritte; bei der richtigen liegen die Verhältnisse entsprechend,
und man hört meist schon bei gebildeten Versuchspersonen einen eigen¬
tümlichen Ton, der einem Gefühl entspricht, das man auf Grund der
Selbstbeobachtung wohl das „Sicherheitsgefühl“ nennen kann, und der wohl
darauf schließen läßt, ob man sich der richtigen Zahl nähert oder nicht.
Bei den dazwischen liegenden Zahlen ist die willkürlich gewählte
Zahl von zwanzig Versuchen natürlich auch reichlich hoch bemessen;
und es ist wesentlich, daß man bei einer kleineren Zahl von Versuchen
auch noch die Wirkung der Übung besser wird hintenanhalten können als
bei einer so großen Zahl.
Es wurde nun zur Untersuchung einer größeren Zahl von Versuchs¬
personen folgende Versuchsanordnung getroffen:
10 Versuchspersonen wurden nacheinander 10 einstellige, 10 zwei¬
stellige usw. Zahlen aus dem Fiereggeschen Schema vorgesprochen mit der
Aufgabe, sie sofort zu reproduzieren.
Die Registrierung fand in der schon geschilderten Weise statt. Es
ergaben sich für die richtig reproduzierte Ziffernzahl dieKurven Abb. 3, S. 254«
Die entsprechenden Werte sind in Zahlen in der Tabelle 1 dargestellt:
Tabelle 1.
Ziffernstellen der Reizzahl
1
! 2
3
4
5
6
D
8
9
11
r-Fälle
Vp. I
10
10
10
10
8
5
1
1
0
Vp. II
10
10
10
10
8
8
3
2
0
0
0
Vp. III
10
10
10
9
3
1
2
0
0
Vp. IV
10
10
10
10
9
5
2
0
0
Vp. V
10
10
10
8
7
0
0
0
Vp. VI
10
10
10
10
5
3
0
0
Vp. VII
10
10
10
9
7
5
0
0
0
Vp. VIII
10
10
10
10
8
6
1
2
0
Vp. IX
10
10
1 10
10
9
9
2
4
0
0
Vp. x
10
10
1 10
10
8
3
3
0
0
0
Die kleinste absolut richtige Zahl ist 3 bei Vp. V und VII.
Die größte absolut richtige Zahl ist 6 bei Vp. I und VI.
Die größte absolut falsche Zahl ist 11 bei Vp. I.
Die kleinste absolut falsche Zahl ist 6 bei Vp. V.
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UNIVERSETY OF MICHIG^
256
Bischoff,
Es handelt sich nun darum, in dieser Variationsbreite, die begrenzt
wird von der absolut richtigen und der absolut falschen Zahl, diejenige
zu bestimmen, die praktisch die richtige Zahl ist, die später bei der Dar¬
stellung des Auffassungsumfanges als maßgebend dienen soll.
Es ist bemerkenswert, daß die geringste Variationsbreite die Vp. V
hat, die auch im übrigen das schlechteste Resultat ergab, und daß um¬
gekehrt die größte Variationsbreite Vp. I hat, die absolut das beste Re¬
sultat gab.
Danach scheint jedenfalls die Variationsbreite mit der Abnahme der
absoluten Leistung nicht etwa zuzunehmen, sondern es ist das Gegenteil
der Fall. Wir dürfen also annehmen, daß bei einer absolut großen Zahl
die Variationsbreite eine größere ist, und daß damit hier der vermutliche
Fehler in mehr oder weniger entsprechendem Maße wächst.
' Bei der absolut kleineren Zahl wird der wahrscheinliche Fehler ent¬
sprechend kleiner sein.
Die Verhältnisse des wahrscheinlichen Fehlers werden sich also bei
absolut großen und absolut kleinen Zahlen relativ annähernd gleich sein.
Diese Beobachtung gestattet wohl einen Schluß auf die Exaktheit
der Methode in günstigem Sinne.
Bei dem Abfall der Werte lassen sich weiter noch zwei verschiedene
Arten des Abfallens erkennen: ein plötzlicher Abfall und ein allmählicher
Abfall.
Einen Abfall von 10 zu 8 (Vp. I, II, V, VIII, X) wird man wohl einen
allmählichen nennen können; einen Abfall von 5 zu 1 (Vp. I), von 8 zu 3
(Vp. II), von 10 zu 3 (Vp. III), von 9 zu 5 (Vp. IV), von 7 zu 0 (Vp. V),
von 10 zu 5 (Vp. VI), von 5 zu 0 (Vp. VII), von 6 zu 1 (Vp. VIII), von
9 zu 2 (Vp. IX). von 8 zu 3 (Vp. X) muß man im Verhältnis zu dem frühe¬
ren als einen plötzlichen bezeichnen.
Beide Formen des Abfallens verlangen naturgemäß eine verschiedene
Wertung. Die Umgrenzung des Bewußtseinsumfanges, der Auffassungs¬
möglichkeit ist zwischen den Zahlen dieses plötzlichen Abfalles zu suchen.
Dann engt sich aber die Auswahl unter den Zahlenergebnissen ganz erheb¬
lich ein; und man nähert sich den tatsächlichen Verhältnissen wohl sehr,
wenn man annimmt, daß der durchschnittliche Umfang für die Auffassung
und Reproduktion zwischen diesen beiden Werten in der Weise liegt,
daß er sich um so mehr der größeren der beiden Zahlen nähert, je kleiner
der Unterschied ist.
Damit ist aber ein Gewinn bezüglich der Genauigkeit und der Ein¬
deutigkeit des Zahlenresultates erzielt.
Bezeichnen wir die Neigung zum höheren Wert mit +, die Neigung
zum niederen Wert, der hier die tatsächlich angegebene Zahl ist, mit —.
so würden sich für den Auffassungs- und Reproduktionsumfang der unter¬
suchten Personen folgende Zahlen ergeben: Vp. I: 8(—), Vp. II: 6 (—),
Vp. III; 5(—), Vp. IV: 5(-f), Vp. V: 5(—), Vp. VI: 6(—). Vp. VII: 6(—),
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Ober eine einfache klinisch-psychologische Methode usw. 257
Vp. VIII: 7(—), Vp. IX: 6(—), Vp. X: 6( +). Schon bei diesem Versuch
ist es gelegentlich zweifelhaft, ob man nicht besser die einfache Zahl ohne
die Einschränkung mit dem 4- - und — -Zeichen nimmt.
Auch das starke Überwiegen des —Zeichens, daß also die angegebene
Zahl als die maßgebende bezeichnet, deutet darauf hin, daß die Exaktheit
der Resultate der Methode schon bei dieser Versuchsanordnung eine größere
ist, als man beim ersten Blick auf die vielen scheinbar abweichenden
Zahlen erwarten könnte.
Es fragt sich nun, ob es nicht möglich ist, auf Grund der Erfahrungen,
die wir der experimentell psychologischen Arbeit auf anderen Gebieten
entnehmen, die Methode so zu gestalten, daß ihre Ergebnisse noch ein¬
deutiger sind.
Der Grund für die Mehrdeutigkeit der Resultate, für die mangelnde
Exaktheit der Ergebnisse ist die Tatsache der „Streuung“ der Werte, der
relativ großen Variationsbreite.
Solche Streuung hat sehr häufig bei psychologischen Experimenten
ihre Ursache in „apperzeptiven Schwankungen“, in Schwankungen der
Aufmerksamkeitspannung. Bei den hier in Frage kommenden Verhält¬
nissen dürften diese Schwankungen aber nur kleinere Streuungsbreiten
ergeben. Das wohl beste Beispiel aus dem vorliegenden Material ist das
Untersuchungsergebnis bei Vp. III für die 5stellige Zahl; hier finden sich
nur 9 richtige Lösungen, während bei der 6stelligen Zahl die Reproduktion
wieder in 10 Fällen richtig war.
Aus den Untersuchungen über die „Arbeitkurve“ wissen wir, daß
große, stetig gesetzmäßige Schwankungen der Leistungen im Sinne der
Herabsetzung bedingt werden durch das Ermüdungsphänomen. Auch die
Reproduktion einer Zahl stellt eine Arbeit dar und in der hier angewandten
Versuchsanordnung eine „fortlaufende“ Arbeit. Die Wirkung der Er¬
müdung anzunehmen sind wir vielleicht berechtigt bei einem Abfall von
10 zu 8 und ähnlichem.
Das weitaus wichtigste hier in Betracht kommende Arbeitphänomen
aber ist das der Übung. Ihre Erscheinungen sind allerdings auf diesem
engen Gebiete des Zahlengedächtnisses noch nicht so eingehend durch¬
forscht, wie auf manchem anderen Gebiete, z. B. dem des fortlaufenden
Addierens: immerhin aber dürften wir berechtigt sein, einige der in den
vorliegenden Versuchsergebnissen zutage getretenen Erscheinungen mit
diesen Übungsphänomenen in einen ursächlichen Zusammenhang zu brin¬
gen. Es handelt sich um solch eine Übungswirkung z. B. bei den Vp. III,
VIII und IX bezüglich des Steigens der Werte in den letzten Versuchsreihen
von 1 auf 2, resp. 2 auf 4 r-Fälle.
Gelingt es nun, diese störenden Faktoren: Aufmerksamkeitschwan¬
kungen. Ermüdung und Übung, auszuschalten oder wenigstens herab¬
zusetzen, so würden die Resultate voraussichtlich einfacher, eindeutiger
und exakter werden.
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Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Bischoff
'V;.p.ig'iti2
Die eingehendsten Betrachtungen erfordert di« Hintenanhaltuog
der Übufigswfrkung.
S<h<>n die aUgemtdne \ Vertrautheit mit de« hier verlangten Vor¬
nahmen, dem einfache» Naclispreeh«» einer Vorgesprochenen Zahl* laßt
diese Übungswirkunge» bei dieser Methode nicht so sehr hervor! reten,* ab
b#d Jindcrctt Mt#hodm\, die in 4er. Foi*m.Ml^r«w?. : ]3Nrer Angaben oft raubt
’ itfi den ihn t:ute«mi:feenden, und die
b>i 50KrfS:H-%em Arb#fett itdib iifcon -•tiinf^bgrVbib>4;. ApjMwrat -erfordert*-
Ober eine einfache klinisch-psychologische Methode nsw. 259
Es gibt hier aber noch ein so einfaches Mittel, um die Übungswirkung
herabzusetzen, daB seine Anwendung fast selbstverständlich scheint.
In den erwähnten Versuchsreihen wurden den Versuchspersonen zunächst
einstellige Zahlen als Reize gegeben, dann zweistellige usf.; die Vp. wurde
also sozusagen für die größere Aufgabe planmäßig vorbereitet. Diese
Vorbereitung fällt natürlich viel weniger wirksam aus, wenn man mit den
größeren Reizen, die womöglich jenseits der absolut falschen Zahl liegen,
beginnt; also an Stelle der autsteigenden Reizreihe die absteigende Reiz-
reihe wählt.
In dieser Versuchsanordnung wurden die 10 folgenden Versuchs¬
personen untersucht.
Das ergab die folgenden (Tabelle 2 u. Abb. 4, S. 258) Resultate:
Tabelle 2.
Ziffernstellen der Reizzahl:
_ 9 J
8 |
7
6
5
4
3
r-Fälle:
Vp. XI
0
2
8
10
10
10
10
Vp. XII
0
o
0
0
4
10
10
Vp. XIII
0
0
0
1
6
9 i
10
Vp. XIV
0
0
1
4
10
10
10
Vp. XV
0
2
4
10
10
io ;
10
Vp. XVI
0
2
4
8
10
10
10
Vp. XVII
0
2
8
10
10
10
10
Vp. XVIII
0
3
1
8
10
■
10
10
Vp. XIX
0
0
0
5
! 10
10
10
Vp. XX
0
0
1
i 5
i 10
1
10
i
i 10
Die kleinste absolut richtige Zahl ist 3.
Die größte absolut richtige Zahl ist 6.
Die kleinste absolut falsche Zahl ist 6.
Die größte absolut falsche Zahl ist 9.
Die Variationsbreite ist hier aber eindeutig geringer als bei der vorigen
Versuchsanordnung: Während sie dort zwischen 5 und 2 Werten schwankte,
schwankt sie hier nur zwischen 1 und 3 Werten.
Ein etwas verschwommenes Resultat hat die Versuchsperson XVIII
ergeben. Das ist aber so zustande gekommen, daß diese Versuchsperson
mit ungleichmäßiger Aufmerksamkeitspannung arbeitete. Bei den
siebenstelligen Zahlen ist z. B. der Fehler überall fast nur an einer Stelle
der Zahl. Bei der zeitweise offenbaren Überanstrengung traten hier
außerdem bald auch die Wirkungen der Ermüdung deutlich zutage. Diese
Versuchsperson hätte unter andern Verhältnissen die siebenstellige Zahl
wohl in etwa 7 der 10 Fälle richtig reproduziert. Der Durchschnittwert
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260
Bischoff,
läge dann also zwischen der sieben* und achtstelligen Zahl mit starker
Neigung zur siebenstelligen.
Es würden sich hier bei den einzelnen Versuchspersonen die folgenden
Werte ergeben:
Vp. XI: 7 (—). Vp. XII: 4 (—), Vp. XIII: 5 (—), Vp. XIV: 5 (—).
Vp. XV: 6 (—), Vp. XVI: 6 ( + ), Vp. XVII: 7 (—), Vp. XVIII: 7 <- vgl.
oben), Vp. XIX: 6, Vp. XX: 6.
Danach hat sich also auch hier im praktischen Versuch ergeben,
daß bei einer Prüfung unter Anwendung der fallenden Reizreihe die Varia¬
tionsbreite erheblich vermindert wird, und daß damit die Eindeutigkeit der
Resultate bedeutend gewinnt.
Die Wirkung der apperzeptiven Schwankungen kann herabgesetzt
werden durch Einhaltung möglichster Ruhe bei den Versuchen, durch
möglichst gleichmäßige Reizgebung bezüglich Zeit und Ton beim Aus¬
sprechen der Reizzahl; dann aber vor allem durch eine so kurze Versuchszeil
als nur irgend möglich; denn es ist natürlich leichter für nur kurze Zeit
die Aufmerksamkeit gespannt zu erhalten, als für längere.
Eine möglichste Abkürzung der Versuchszeit setzt auch die Wirkung
der Ermüdung herab, die noch dadurch wesentlich gemildert werden
kann, daß man die einzelnen Reize in kleinen Zeitabständen und nicht
sofort nach Beendigung des vorigen Versuchs gibt. Auch das Signal
„Achtung“ vor der Reizgabe bewährt sich hier und zua Verminderung
der Aufmerksamkeit Schwankungen recht gut.
Bei solchen, eigentlich selbstverständlichen Vorsichtmaßregeln
scheint die Wirkung der Ermüdung bei diesen Versuchen bei gesunden
Versuchspersonen eine nur ganz nebensächliche Rolle zu spielen; auch das
hängt natürlich damit zusammen, daß Zahlen etwas so durchweg Be¬
kanntes sind, und daß das Nachsprechen zu den einfachsten Manipulationen
gehört, die wir kennen.
Trotz alledem waren doch aber auch bei den Versuchsreihen mit
fallender Reizreihe Zeichen von Übung, Ermüdung und Aufmerksamkeit-
Schwankungen aufgetreten, die eine noch weitere Verbesserung erwünscht
erscheinen ließen.
Ganz werden sich diese Wirkungen natürlich nicht vermeiden lassen:
waren aber für die methodische Bearbeitung der Fragen nach der Ver¬
wendung der steigenden oder fallenden Reizreihe Versuchsreihen von
10 Einzelversuchen nötig, so genügten für die praktische Ausführung
der Methode offenbar schon Reihen von 5 Einzelversuchen. Damit konnte
man wohl die Ermüdungswirkung fast ganz ausschalten, verminderte die
Übungsfolgen noch um ein Wesentliches und gestaltete auch für die Auf¬
merksamkeitspannung die Verhältnisse noch günstiger.
Für die Auswahl des gesuchten Durchschnittwertes ergab sich nun
die bequeme rechnerische Festlegung, daß man bei 3 und mehr richtigen
Werten die Reizzahl wählte, bei zwei oder einem richtigen Wert im all*
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Ober eine einfache klinisch-psychologische Methode nsw. 261
gemeinen die nächst kleinere. Folgten die beiden richtigen Reproduktionen
vielleicht gerade den beiden letzten der gegebenen Reize und wurden sie
mit besonderer Exaktheit und Promptheit wiedergegeben, so könnte man
wohl auch die Ziffernzahl dieser Reize wählen, wenn man nicht vorzieht,
noch eine weitere Versuchsreihe von fünf Reizen zu gewinnen. Bedient
man sich dann, um noch ein übriges zu tun, des + - und —Zeichens, so
ist der mögliche Fehler von einer Stelle des weiteren so eingeschränkt,
daß er praktisch wohl kaum in Frage kommt.
Der erste Teil der Untersuchung, die „sofortige Reproduktion“
der gegebenen Reizzahl, vollzieht sich also in folgender Weise:
Man spricht der Versuchsperson, dem zu untersuchenden Patienten,
eine Zahl aus dem Schema oder eine entsprechend gewählte andere
als Reiz vor, die voraussichtlich größer ist, als die „absolut falsche
Zahl“ oder sich dieser möglichst nähert. Unter Berücksichtigung
persönlicher Eigentümlichkeiten kann man mit ungefährer Allgemein¬
heit als solch eine Zahl bei „aufgeweckten“, „gebildeten“ Personen
etwa eine neunstellige wählen, bei anderen etwa eine achtstellige
Zahl
Waren nun alle fünf Antworten richtig, r-Fälle, so schreitet man
zur nächst größeren; waren dagegen nur 3 bis 4 Lösungen richtig, so
nimmt man die Ziffemzahl der gegebenen Reizzahl als richtige Zahl
zur Darstellung des Umfanges der Auffassung an. Waren keine, nur
eine oder zwei Reproduktionen richtig, so geht man zu der nächst¬
kleineren Ziffernzahl über und setzt hier die Untersuchungen fort,
bis man dann so zu dem erwähnten Resultat kommt.
Mit diesen Untersuchungen ist die Frage über die Auswahl unter
den richtig reproduzierten Zahlen beantwortet. Man hat mit dieser
Zahl einen einfach darstellbaren, relativ exakt festgelegten Reiz
gewonnen, den man durch Vermehrung oder Verminderung der Ziffern¬
zahl sehr bequem und in sehr weitem Umfange einer beliebigen Zahl
von Variierungen unterwerfen kann, deren Einwirkungen unter be¬
kannten Versuchsbedingungen man bei der Versuchsperson— experi¬
mentell — nachzuprüfen und zu erforschen vermag.
Die Bequemlichkeit der Anwendung, die Variierbarkeit der Reize
und ihre leichte Registrierbarkeit läßt diese Methode in hohem Grade
geeignet zur Erforschung von Gedächtnisphänomenen bei Geistes¬
kranken erscheinen. Natürlich verlangt schon die bisher behandelte
Vereuchstechnik eine wesentliche Betätigung der Gedächtnisfunktionen;
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262
Bischoff,
indes sind wir wohl allgemein in der experimentellen Psychologie
gewöhnt, Versuche mit „sofortiger“ Reproduktion in erster Linie in
Beziehung zu den Funktionen der „Auffassung“ zu bringen.
Für „Gedächtnisprüfungen“ oder in der in der klinischen Psychia¬
trie gewohnten Bezeichnung gewisser Teilfunktionen des Gedächt¬
nisses, für „Merkfähigkeitsprüfungen“ sind mehr geeignet Versuche,
die dem Gedächtnis einen größeren Zeitumfang zu seiner Betätigung
gewähren. In dem vorliegenden Falle kamen dafür Pausen in Betracht
zwischen der Reizgebung und der Reproduktion.
Es entstand nun die Frage, welche Zeit hier am besten als Pause
gewählt wurde.
Aus früheren Untersuchungen war es bekannt, daß keineswegs
immer bei sofortiger Reproduktion die besten Resultate erzielt werden,
vielmehr steigt die Zahl der reproduzierbaren Reize nach einem mehr
oder weniger Zeit umfassenden Zwischenraum. Dieser Zwischenraum
ist in wesentlichem Maße abhängig von der Qualität der Reize. Wundt
fand bei Reproduktion einfacher Töne oder einfacher Gesichtsobjekte
eine solche „günstige Pause“ nach 2 oder wenig mehr Sekunden.
Die hier angewandten Zahlen stellen nun allerdings nicht einfache
Gehörsobjekte dar. Es erschien daher notwendig, diese Verhältnisse
der günstigsten Pause für die Reproduktion auch für so geartete
Reize in besonderen Versuchsreihen zu prüfen; — wie es sich später
herausstellte, nicht in erster Linie, um die Zeit genau abzugrenzen,
sondern mehr, um ein allgemeines Bild über diese Schwankungen
zu gewinnen.
Mit den hier verwandten Zahlen ließen sich solche Versuche nicht
recht vorteilhaft einrichten: Bei der Verwendung vielstelliger Zahlen
hätten die Übungserscheinungen das Bild so sehr verwischt, daß nur
außerordentlich lange Reihen, die ein Arbeiten im „Übungsmaximum“
zu gewährleisten schienen, in Betracht kamen. Dieses Übungsmaximum
bei Zahlenreproduktionen ist aber so wenig untersucht, daß irgendwelche
Fragen hierüber eine ganz eigene, gesonderte Bearbeitung erfordert hätten.
Nach den bisherigen Erfahrungen dürfte auch dieses Übungsmaximum
bei Zahlenreproduktionen noch so schwankende Werte aufweisen, das
hieraus weitere Bedenken erwuchsen.
Die Anwendung von Ziffern hätte ein zu kleines Feld von Variations-
möglichkeiten ergeben, ein Umstand, auf den schon Ebbinghaus auf¬
merksam gemacht. Auch ist der Unterschied zwischen den Gedächtnis-
reaktionen bei Ziffern und Zahlen infolge der assoziativen Momente ein
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Über eine einfache klinisch-psychologische Methode usw. 263
so prinzipieller und großer, daß eine völlige Identifizierung der Resultate
doch nicht angängig erscheint.
So wurde schließlich der Ausweg gewählt, eine andere Methode
heranzuziehen, die am Ende noch die wenigsten Bedenken zu haben
schien und wegen der Einfachheit der Anwendung manchen Vorzug ver¬
diente. Die Methode visueller Buchstabenreize nach Art der von Kraepe-
lin-Finxi eingeführten Reizkärtchen für den „Finziapparat“; jedoch in
der weiteren Modifikation, daß an Stelle der dort maschinell in das Gesichts¬
feld gebrachten Fmztschen Reize 8 cm Quadratkante messende Karten
mit 9 besonders ausgewählten Buchstabenreizen der Versuchsperson
5 Sekunden exponiert wurden mit der Aufgabe, sie einmal sofort, dann
nach 15 Sekunden, nach 30 und nach 60 Sekunden zu reproduzieren.
Die Buchstaben auf den Karten waren in einer Letternhöhe von
8 mm in kräftigem Druck gewählt und symmetrisch in drei Reihen zu je
dreien angeordnet. Die Exposition fand statt, indem man die Karte vor die
Versuchsperson auf den Tisch legte. Nach 5 Sekunden wurde dann die
Karte verdeckt oder ganz entfernt, und die Versuchsperson aufgefordert,
entweder jetzt oder nach den erwähnten Pausen auf einem leeren Blatt,
das entsprechend in neun Felder geteilt war, die in ihrem Gedächtnis
haftenden Buchstaben in ihrer Position auf den Karten anzugeben.
Das Versuchsergebnis stellt sich unter Hervorhebung nur der wesent -
lieh hier in Betracht kommenden Punkte für einen ausgewählten, typischen
Versuch von 6 Versuchsreihen folgendermaßen dar:
Es wurden richtig reproduziert:
sofort nach 5" nach 15" nach 30" nach 60"
6 4 9 9 3
5 9 9 7 6
7 9 9 7 6
5 9 9 9 5
8 9 9 9 9
9 9 9 9 9
Im ganzen wurden also richtig reproduziert:
sofort: 40 Buchstaben
nach 5": 49 Buchstaben
nach 15": 54 Buchstaben
nach 30": 48 Buchstaben
nach 60": 38 Buchstaben.
Man kann hiernach sagen, daß nach 60 Sekunden die Wirkung
der günstigsten Pause abzublassen beginnt, und daß sich um diese
Zeit die Resultate etwa ähnlich denen bei sofortiger Reproduktion
verhalten. Diese sehr approximative Untersuchung war für die
spätere Auswahl einer Pause von einer Minute zwar nicht maßgebend,
bot aber doch recht wertvolle Anhaltpunkte dafür.
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264
Bischoff,
Entscheidend war vielmehr am Ende die praktische Rücksicht¬
nahme auf die vorteilhafte Anordnung des folgenden Versuches. In
ihm sollte die Wirkung der Ablenkung (Lektüre, Rückwärtszählen
von Metronomschlägen, Unterhaltung usw.) auf die Reproduktion
untersucht werden. Diese Ablenkung erfordert zu der „Einstellung“
darauf — sowohl für die Versuchsperson als auch für den Versuchs¬
leiter — einige Zeit, sei es nun, daß als Ablenkung Lektüre, Zählen
von Metronomschlägen oder einfache Unterhaltung gewählt wird.
Diese Zeit der Einstellung nimmt bei einer Pause von nur etwa 30 Se¬
kunden einen verhältnismäßig so großen Teil des gesamten zur Ver¬
fügung stehenden Zeitraumes in Anspruch, daß für eine recht gleich¬
mäßige Wirkung der Ablenkung eigentlich zu wenig übrig bleibt. Eine
so kurze Pause würde deshalb leicht zum Überhasten der Versuche
beitragen. Aus diesem Grunde namentlich schien es vorteilhaft, für
die Ablenkungsversuche eine Pausenzeit von einer Minute zu wählen.
Da nun für die Pausenversuche ohne Ablenkung ein möglichst
ebenmäßiges Vergleichmaterial erwünscht war, so wurde auch für
diese Versuche dieselbe Pause von einer Minute gewählt; eine Wahl,
für die sich aus den erwähnten Pausenversuchen mit Buchstabenreizen
Bedenken nicht ergaben.
Die Auswahl unter den richtig reproduzierten Zahlen wurde
natürlich nach den gleichen Gesichtspunkten vorgenommen wie bei
den Untersuchungen mit sofortiger Reproduktion.
Wurde etwa bei einzelnen Patienten auch eine einstellige Zahl
nach einer Minute nicht mehr richtig reproduziert, so wird nach einer
modifizierten Registriermethode und Versuchsanordnung verfahren,
die sich eng und selbverständlich der gewöhnlichen anschließen:
An der Stelle der einfachen Ziffer wird dann ein Bruch gewählt, indem
man experimentell die Zeit bestimmt, in der eine einstellige Zahl
noch richtig reproduziert wird; der Bruch gibt dann die Bruchteile
der Minute an, die durch die erhaltene Zahl bestimmt werden.
So bedeutet y 10 : eine einstellige Zahl wird nach 6 Sek. = V 10 Mi¬
nute noch richtig reproduziert.
Gewöhnlich stellt das Resultat der Untersuchungen sich dar in der
Form von drei im allgemeinen einstelligen Ziffern, von denen die erste
die Anzahl der Ziffern derjenigen Zahl angibt, die sofort reproduziert
wird, die zweite die Anzahl der Ziffern derjenigen Zahl, die nach einer
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Über eine einfache klinisch-psychologische Methode usw. 265
Minute ohne Ablenkung richtig wiedergegeben wird; und die dritte
Ziffer endlich bezeichnet die Ziffernanzahl der Zahl, die noch nach
einer Minute mit Ablenkung richtig reproduziert wird.
An Einfachheit und Übersichtlichkeit läßt diese Form des Resul¬
tates der Untersuchung einer besonders für den Psychiater so wichtigen
Funktion, wie sie das Gedächtnis, wenn hier auch nur das „Zahlen¬
gedächtnis“, darstellt, sich wohl kaum übertreffen.
Ein Prinzip der Methode verlangt noch eine besondere und etwas
eingehende Betrachtung: Die Wahl der Zahl und nicht der Ziffern¬
reihe als Reiz.
Vieregge weist mit Recht darauf hin, daß die Zahl gegenüber der
ZiiTernreihe den Vorzug des Gewohnten für die Versuchsperson und damit
auf die Übungswirkung vermindernden Einfluß hat.
Einer experimentellen Untersuchung solcher Fragen stellen sich
prinzipielle Schwierigkeiten nicht in den Weg. Es wurden demgemäß
einige Versuche zur ergänzenden Klärung vorgenommen:
Um für die Ziffern- und Zahlenreize möglichste Gleichmäßigkeit der
Cbungsverhältnisse herzustellen, wurden keine der in den vorigen Ver¬
suchen untersuchten Personen herangezogen. Die Reize wurden ferner
aus dem gleichen Grunde abwechselnd in zahlenmäßiger, dann in ziffer¬
reihenmäßiger Anordnung gegeben.
Um der Methode wegen möglichste Planmäßigkeit einzuhalten,
wurde die aufsteigende Reizreihe gewählt, bei jeder Versuchsperson also mit
•‘instelligen Zahlen oder Ziffern begonnen.
Jede einzelne Versuchsreihe umfaßte 20 Reize, also 10 in Zahlen,
10 in Zifferreihen, die dem im Beginn dieser Arbeit angegebenen Schema
entnommen wurden. Auch bezüglich der Zeit wurden die dort angege¬
benen Sekunden für die einzelnen Reizgrößen nach Möglichkeit eingehalten.
Die Ziffern wurden wenn möglich bei der Tongebung in Gruppen von je
drei zusammengefaßt. In den folgenden Tabellen sind die richtig repro¬
duzierten Zahlen und Zifferreihen wiedergegeben:
Tabelle 3.
Zahlenreize.
Stellenzahl:
3
4
5
6
7
8
9
10
11
Vp. I
10
10
10
10
7
4
2
0
0
Vp. II
10
10
10
10
8
7
4
2
0
Vp. III
10
10
10
5
1
0
0
0
0
Vp. IV
10
10
10
9
7
0
0
0
0
Vp. V
10
8
9
3
0
0
0
0
0
Zeitschrift fUr Psychistrie. LZIX. 2. 18
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266
Bischoff,
Zifferreihen.
Stellenzahl:
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
Vp. I
10
*10
9
8
3
8
5
1
0
0
0
0
0
Vp. II
10
10
10
10
10
10
8
6
7
3
4
1
0
Vp. III
10
10
10
7
5
3
0
0
0
0
0
0
0
Vp. IV
10
8
9
9
7
4
4
0
0
0
0
0
0
Vp. V
10
6
5
4
0
0
0
0
0
0
0
0
0
Nach diesen Zahlen scheint der Umfang für die Reproduktionsmöglich¬
keit für ZifTerreihen ein größerer zu sein als für Zahlen; hierfür sprechen
die Ergebnisse eindeutig.
^Mit diesem größeren Auffassungsumfang wächst aber auch die Größe
der Variationsbreite und zwar in solchem Maße, daß die Zahlenreize wohl
unzweifelhaft den Vorzug verdienen, da sie die Möglichkeit einer erheblich
größeren Exaktheit der Resultate ergeben.
Zur klaren Darstellung dieser Verhältnisse seien im folgenden noch
die Variationsbreiten der beiden Methoden nebeneinandergestellt:
Variationsbreiten:
Za. = Zahlenreize.
Zi. = Ziffernreize.
Zi. Za.
Vp. I 3 6
Vp. II 4 6
Vp. III 2 3
Vp. IV 2 6
Vp. V 3 3
Eine weitere Behandlung erfuhr die Frage, ob die Reproduktion
der Zifferreihen beeinflußt wurde durch Modifikationen der Grup¬
pierung und Betonung bei der Reizgebung.
Der Versuch wurde so angeordnet, daß der Versuchsperson neun¬
stellige Zifferreihen abwechselnd in Gruppierung zu dreien und mit ent¬
sprechend variierter Betonung und danach ohne solche Gruppierung und
in gleichmäßiger Tongebung vorgesprochen wurden. Von jeder Art wurden
10 Reize gegeben.
Von den in Gruppierung gegebenen Reizen wurden alle 10 richtig
reproduziert.
Von den ohne Gruppierung gegebenen wurden nur 2 richtig, 8 da¬
gegen falsch wiedergegeben.
Dieses Resultat war durchaus eindeutig; es entsprach auch voll¬
kommen den Erfahrungen anderer ( Ebbinghaus ), der Selbstbeobachtung
der Versuchsperson sowohl als auch des Versuchleiters und endlich der
alltäglichen Erfahrung, daß von weiteren Untersuchungen für den vor¬
liegenden Zweck Abstand genommen werden konnte.
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Ober eine einfache klinisch-psychologische Methode osw. 267
Die Zahl ist einer Beeinflussung durch diese Momente in viel
geringerem Maße ausgesetzt. Sie stellt wohl, der gewohnheitmäßigen
Erfahrung entnommen, schon in sich eine der praktischsten Grup¬
pierungen dar. Die Zusammenfassung von je drei Ziffern zu der ge¬
wöhnlichen Zahlengruppe aber läßt für die Betonung dieser einzelnen
Gmppen hier nur sehr wenig Spielraum, da meist ja nur zwei oder
höchstens drei solcher Gruppen in Betracht kommen.
Die Verwendung der Zahl bot ferner für die spätere Verarbei¬
tung der Fehler so mannigfache Vorzüge gegenüber der Ziffern¬
zusammenfassung, daß auch dies eindeutig für ihre Verwendung
als Reiz sprach.
Literatur.
In der psychiatrischen Literatur ist die Verwendung von Zahlen
und Ziffern zur Darstellung von Störungen des Gedächtnisses und der
Merklähigkeit etwas so Gewohntes, daß es wohl keines Hinweises im ein¬
zelnen bedarf.
Hier kamen außer den bei Vieregge gegebenen Arbeiten als wert¬
voll in Betracht:
Ebbinghaus, über eine neue Methode zur Prüfung geistiger Fähigkeiten.
Hamburg und Leipzig 1897.
Finzi, Zur Untersuchung der Auffassungfähigkeit und Merkfähigkeit.
Kraepelin, Psychol. Arbeiten, Bd. III, S. 289.
Hilliez, La continuitö de la mömoire immödiate de chiffres et de nombres
en sörie auditive.
Lobtien, Uber das Wesen der Zahl.
Fburnay, Sur l’association des chiffres chez les divers individus.
Meumann, Experimente über Ökonomie und Technik des Auswendig¬
lernens.
A. Binet, Notes complömentaires sur M. Jaques Inaudi.
Charcot et Binet, Un calculateur du type visuelle.
Binet et Henri, La Simulation de la mömoire des chiffres.
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
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87. ordentliche Generalversammlung des
Psychiatrischen Vereins der Rheinprovinz am
11. November 1911 in Bonn.
Anwesend sind die Mitglieder: Adams, Bastin, Baumann, Behrendt.
Berg, Beyer, Beyerhaus, Brockhaus, Buddeberg, Dannehl, v. Ehrenwall.
Fabricius, E. Förster, Gerhartz, Giesler, Günther, Hennes, Herting, Herz¬
feld, Höstermann, Hübner, Laber, Länderer, Liebmann, Lahmer, Mappes,
Märchen, Oebeke, Pelman, Peretti, Pfahl, Rademacher, Raether, Rülf, Schaum¬
burg, Schöbel, Schütte, Sieben, Sioli, Stertz, Thomsen, Tippei, Umpfen-
bach, van Husen, Voß, Wassermeyer, G. Werner -Bedburg, P. Werner-
Andernach, Westphal.
Als Gäste sind anwesend: Dr. Kellner und Dr. ■RecArterwa/d-Süchteln.
Der stellvertretende Vorsitzende, Geh. San.-Rat Oebeke, begrüßt die Er¬
schienenen und teilt mit, daß der Stabsarzt Dr. Wagner, wegen Versetzung
nach Berlin, aus dem Verein ausgeschieden ist. Prof. Westphal hat den
Psychiatrischen Verein der Rheinprovinz auf dem Kriminal-Anthropo¬
logischen Kongreß in Köln vertreten.
Durch Akklamation wird der bisherige Vorstand ( Pelman , Oebeke.
Umpfenbach, Thomsen, Westphal) wiedergewählt.
In den Verein werden aufgenommen: Dr. Gmar-Koblenz, Reg.-
und Geh. Med.-Rat, Dr. La&er-Godesberg, II. Arzt der Kur- und Kalt-
wasseranstalt „Godesberg“, Dr. Äü//-Bonn, prakt. Arzt, und Dr. G. Werner-
Bedburg, Anstaltsarzt der Prov.-Heil- und Pflege-Anstalt.
Zur Aufnahme in den Verein melden sich: Dr. Kellner -Süchteln.
Anstaltsarzt der Prov.-Heilanstalt Johannistal, Dr. ifee/rte/wa/d-Süchteln.
Assistenzarzt der Prov.-Heilanstalt.
Es folgen die Vorträge und Demonstrationen:
JVitte-Grafenberg: Demonstration von Mikrophotographien und
Photographien anatomischer Präparate.
1. Gefäßveränderungen bei Gehirntumoren a)
bei einer sarkomatösen Mischgeschwulst des linken Schläfenlappens und
b) bei einem Sarkom des linken Ammonshorns. Man sieht Gefäßbündel,
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Psychiatrischer Verein der Eheinprovinz.
269
Gefäßknäuel, drusenähnliche Gruppen von Gefäßen, Vermehrung der
Gefäße bis zur Angiombildung und Gefäßvermehrung mit besonders leb¬
hafter Beteiligung der adventitiellen Elemente. In manchen Arterien
findet sich eine lebhafte Wucherung der Intima, auch mit gleichzeitig
stattfindender Zerklüftung und Durchsetzung dieses Gefäßteils mit kleinen
Lumina. Die Elastica interna der Arterien ist zart und besonders in den
kleinsten Arterien zerbröckelt; eine Aufsplitterung derselben und dergl.
ist nicht nachweisbar. Die Venen sind vielfach sehr breit und bilden in
ihrem Lumen Lücken und Buchten. In der Nachbarschaft des Tumors
erblickt man Arterien, deren dem Tumor benachbarte Wand durch starke
Entwicklung der Media verdickt ist, während die entgegengesetzte Wand
dünn und in Falten gelegt ist, so daß das Lumen ganz unregelmäßig
erscheint.
2. Ein Fall von Lues cerebri mit Diabetes i n -
s i p i d u s. Eis bestehen gummöse und endarteriitische Veränderungen
der Pia und der Rinde des Großhirns sowie der Basis cerebri mit besonders
starker Beteiligung der Oblongata; ihre ganze Oberfläche, auch am 4. Ven¬
trikel, ist durchsetzt von kleinen gummösen Herden, die auch in der
Tiefe neben reichlicher Infiltration der Gefäße mit Lymphozyten und
vereinzelten Plasmazellen nachweisbar sind. Diese Veränderungen der
Oblongata sind wohl als Ursache des Diabetes insipidus anzusehen.
3. Angeborene, schon makroskopisch sichtbare Verände¬
rungen des Zentralnervensystems bei Paralytikern;
a) ein Angioma cavernosum des unteren Zervikalmarks,
b) eine Hypoplasie des Balkens: Länge 2,5 cm; Fehlen
des Septum pellucidum;
c) eine hochgradige Hydromyelie im Hals- und Brustmark;
die Höhle erstreckt sich an manchen Stellen bis in die Hinterhörner;
d) multiple P s e u d o n e u r o m e der Cauda equina
und zentrale Gliose und stellenweise in allen Höhen des Rückenmarks
Verdoppelung und Verdreifachung des Zentralkanals;
e) Aberration eines Pyramidenbündels einer Seite
der Oblongata, welches schon makroskopisch außen einen Wulst bildet.
Diese Fälle sind einem Material von mehr als 300 Paralysen ent¬
nommen und zeigen, daß gröbere angeborene Störungen des Nerven¬
systems bei Paralysen nicht häufig sind.
Werner- Bedburg; Demonstration zweier Patente: a) einer ver¬
stellbaren Tragbahre mit einer Auflagefläche aus Tuch, einem
Netz oder dergleichen sowie einem aus Längs - und Querrohren oder -Stäben
gebildeten Grundrahmen — Nr. 231 288, ausgegeben den 20. Februar 1911.
(Zeichnung.) b) einer Vorrichtung zum Prüfen des Temperatursinnes —
N>. 233 249, ausgegeben den 3. April 1911. (Modell.)
a) Die verstellbare Tragbahre bezweckt, schwerkranken Personen,
bei denen stets der Tonus der Rückenmuskulatur nachläßt, eine ange-
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Jimam utoutu «i.wos
270
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Psychiatrischer Verein der Rheinprovinz.
271
die Spannung des Tuches kann durch die drehbare Rolle in q dem je¬
weiligen Bedürfnis angepaßt werden. Der Rücken des Patienten ist somit
allseitig und gleichmäßig unterstützt. Gegen das Abrutschen schützt das
beliebig schräggestellte Polster s, welches als Kniestütze dient und da¬
mit zugleich die sonst üblichen Kniekissen ersetzt. Denn da die Kniegelenke
stets im Bett leicht flektiert sind, weil die Flexoren sich immer stärker kon¬
trahieren als die Extensoren, besteht ein physiologisches Bedürfnis, die
hohlliegenden Kniekehlen zu unterstützen.
Der Patient kann also vermittelst dieser Tragbahre dauernd und
bequem auf einer schiefen Ebene hochgelagert werden. Durch die ver¬
schieblichen Muffen kann die Länge des Lagers jeder Körpergröße ange¬
paßt werden.
In der Zeichnung besteht der Rahmen zur besseren Übersichtlichkeit
aus viereckigen Stäben, während er in Wirklichkeit aus gezogenen Stahl¬
rohren gedacht ist. Es ist ferner noch ein Leichtes, die Kniestützen zu
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teilen, so daß abwechselnd das eine Knie stärker gestreckt oder gekrümmt
werden kann, auch wäre es möglich, die Füße c zu längeren, umklappbaren
Stützen auszubilden, was vielleicht für militärische Zwecke von Wichtig¬
keit wäre, ebenso der Umstand, daß das ganze Gestell wegen der ver¬
schieblichen Muffen ganz flach zusammengelegt werden kann. Doch das
sind Vorzüge, welche andere Konstruktionen auch aufweisen, und e~ wurde
daher von deren bildlicher Wiedergabe hier Abstand genommen.
b) D i e Temperaturempfindlichkeit der Haut
wird meist mit zwei Reagenzröhrchen geprüft, von denen das eine mit
heißem, das andere mit kaltem Wasser angefüllt ist. Doch kühlt sieh
das heiße Röhrchen schnell ab, da die wärmespendende Wassermenge im
Verhältnis zur wärmeabgebenden Fläche des Glasröhrchens zu klein ist.
Um daher eine konstante Wärmequelle zu besitzen, ging Verf. von der
bekannten elektrischen Taschenlampe aus, indem er an das Trockenele¬
ment, dem eine zylindrische Form gegeben wurde, eine kleine Erbsen-
birne M anschloß, deren Inneres nicht wie gewöhnlich luftleer ist, sondern
mit Stickstoffgas angefüllt wird, so daß die Birne schnell heiß wird. Die
Birne ist auf einem kleinen Stift I am Kopfe der Elementkapsel A ange¬
bracht und wird ebenso wie der Kältestift H, der aus einem soliden Metall¬
stift besteht, bei Nichtgebrauch durch eine darüberzuschiebende Kappe N
geschützt. Die Einschaltung erfolgt durch einen kleinen Kontaktknopf F,
der seitlich angebracht ist (s. Abb. B, S. 271). Da es sich jedoch bei Ver¬
suchen, die mit einem derartigen Modell ausgeführt wurden, ergab, daß
zwar die erreichte Temperaturhöhe völlig genügte, die abgebende Wärme¬
fläche der Birne aber zu klein war, wird die Birne durch ein dünnes, zick¬
zackgelegtes Band von sogenannter Kruppinlegierung, das zwischen
Glimmer eingebettet ist, ersetzt werden. Der Durchmesser der wärme¬
abgebenden Fläche wird dann etwa 1,5 cm betragen. Die Herstellung
und den Vertrieb dieses Apparates hat die Firma B. B. Cassel in Frank¬
furt a. M. kontraktlich übernommen.
Raeiher -Andernach: Klinische Mitteilungen aus der Ander-
nacher Provinzial-Heilanstalt.
1. Fall: Encephalomalacia nach Schußverletzung.
Ein alter Paranoiker beging Suizid, indem er sich mit einer 6 mm-kalibrigen
Teschinpistole in die r. Schläfe schoß. Nach der Tat ging er noch 6 Tage
seiner gewöhnlichen Beschäftigung nach, behauptete seiner Umgebung
gegenüber, durch einen Fall sich an der Schläfe verletzt zu haben, und
konnte der polizeilich verfügten Internierung in die Andernacher Anstalt
(am 7. Tage) sogar noch großen Widerstand entgegensetzen. Bei der
Aufnahmeuntersuchung und den verschiedensten Unterredungen an den
darauf folgenden Tagen gab er äußerlich geordnete Auskunft*. Erst am
11. Tage nach dem Selbstmordversuch trat hohes Fieber, Trübung des
Sensoriums und rapider Verfall der Kräfte ein, der sich folgenden Tags
noch steigerte und in der Nacht in tiefer Benommenheit zum Exitus führte.
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273
Die Autopsie ergab, daß das Vorderhirn quer durchschossen war.
Der Einschuß fand sich im Gebiete der r. unteren Stirnwindung als ein
grobovales, etwa walnußgroßes Loch mit unregelmäßigen, stark zerfetzten
Rändern. Die Austrittstelle der Kugel, von Piasugillaten umgeben, lag
im Gebiete der mittleren Stirnwindung der 1. Hemisphäre. Der Schu߬
kanal wurde in seiner ganzen Länge durch einen etwa 4 cm vom Stirnpol
okzipitalwärts angelegten Frontalschnitt getroffen (Photographien). Das
Interessante an diesem Fall ist, daß der Patient noch 12 Tage mit dieser
schweren Schußverletzung gelebt hat und nur die beiden letzten Tage
zerebral-entzündliche Erscheinungen gezeigt hat.
2. Fall: Multiple Gehirnabszesse mit konseku¬
tiver Rindenepilepsie.
Der 32 jährige Patient, Potator, bekam nach einerschweren Pleuritis
exsudativa in der 7. Krankheitswoche plötzlich drei epileptiforme Anfälle,
die neben einer vorübergehenden Lähmung des 1. Armes eine Geistes¬
störung hinterließen: er verließ sein Bett, legte sich in andere Betten,
warf das Essen an die Wand, zerriß sein Bettzeug, spuckte alles an, hatte
Gesichts- und Gehörstäuschungen und kam deshalb in die Andernacher
Anstalt. Hier war Pat. anfänglich benommen und verwirrt, völlig des¬
orientiert, die Parese des 1. Armes, des 1. Facialis waren deutlich, die
Sprache verwaschen, der Patellarreflex, besonders rechts, gesteigert. Die
Lähmungserscheinungen bildeten sich bald ganz zurück, um immer wieder
nach einem epileptiformen Anfall, der hauptsächlich aus einem tonischen
Krampf ohne lösende Zuckungen bestand, von neuem aufzutreten. Bis¬
weilen traten vor einem oder mehreren Anfällen typische Dämmerzustände
«uf, in denen er herumirrte, auf den Boden urinierte, völlig verwirrt sprach.
Nach den Anfällen war er vielfach freier, zeigte sich orientiert, klagte über
die Anfälle, die im 1. Arm jedesmal anfingen. Fieber trat nie auf. Die
Pleuritis war mit Hinterlassung starker Schwarten abgeheilt, ebenso eine
putride Bronchitis, die Pat. ebenfalls viel zu schaffen machte. In diesem
Zustande verblieb Pat. 6 Wochen; während dieser Zeit traten 17 Anfälle
auf. Das Körpergewicht hatte um 4 kg zugenommen. Da veränderte
rieh plötzlich das Krankheitsbild: Pat. wurde unter anfänglichem Er¬
brechen völlig somnolent, die Nahrungsaufnahme stockte, die Lähmung
der 1. Extremitäten nahm zu, die Atmung ging schwer schnarchend in
tiefem Sopor. Dieser Zustand, nur für Momente durch Jammern durch¬
brochen, währte 9 Tage. Am Nachmittag des letzten Tages stieg die
Körperwärme rapid auf 40,4°. Kurz darauf erfolgte der Exitus. Bei
der Sektion fand sich zunächst im r. Vorderhirn bis zur Zentralfurche rei¬
chend ein faustgroßer, mit grüngelbem Eiter prall gefüllter Abszeß. Dieser
lag völlig in der weißen Marksubstanz und war mit einer dünnen Membran
ausgekleidet. Die konvexe obere Wand des Abszesses war die geschwun¬
dene, an einer Stelle bereits dem Durchbruch nahe Hirnrinde. In der
Umgebung dieses Abszesses, aber ebenfalls vor der r. Zentralfurche lagen
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
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noch zwei kleine Abszesse. Offenbar waren auf hämatogenem Wege von
der Pleuritis oder putriden Bronchitis aus Metastasen im Gehirn ent¬
standen, die von vornherein infiziert, allmählich eitrig einschmolzen. Die
Abkapselung verhinderte eine Resorption pyogener Substanzen, daher
die fast anhaltende normale Temperatur. Die epileptiformen Anfälle sind
wohl als Rindenepilepsie aufzufassen, verursacht durch die zunehmende
Vergrößerung des Hauptabszesses und dadurch bedingte Druckatrophie
der Hirnrinde in der Nähe der Zentralfurche. Dafür spricht die konstante
Beteiligung des 1. Armes, des Rumpfes, der Zunge, der Gesichtsmuskulatur.
Die Verwirrtheitszustände sind wohl als epileptische Dämmerzustände
aufzufassen.
3. Fall: Endotheliom der Dura unter dem Bilde einer
Taboparalyse verlaufend.
Hereditär bei der Mutter „Rückenmarksdarre“. Lues. — Die Frau
des Pat. hatte in 9 Jahren 1 Totgeburt und 3 normale Geburten; 1 Kind
idiotisch. — Mit 30 Jahren erkrankte Pat. mit Charakterveränderungen
und nervösem, aufgeregtem Wesen. Wurde 2 Jahre später 4 Monate in
der Gießener Klinik wegen progressiver Paralyse behandelt. Nach einer
kurzen Remission erfolgte Aufnahme in die Andernacher Anstalt. Er
zeigte damals bereits eine Reihe organischer Symptome: Facialisdifferenz
(r. < 1.); Dermographie; Tremor linguae et palpebrarum; träge Pupillar-
reaktion rechts, links Pupillenstarre; Akkomodationslähmung; links be¬
stand Amaurose, rechts */ s Sehschärfe; Patellarreflexe different: rechts
erloschen, links schwach vorhanden; die übrigen Sehnen- und Hautreflexe
leicht erhöht; Romberg angedeutet; Gang schleichend, unsicher; Wasser¬
mann negativ. Intelligenz ohne gröbere Defekte.
Pat. zeigte Krankheitseinsicht, klagte über zeitweise, vom Genick
ausgehende Kopfschmerzen, Gedächtnisschwäche, innere Unruhe, Arbeits¬
unlust. Die subjektiven Beschwerden ließen bald nach, der Kranke be¬
schäftigte sich bei der Hausindustrie, machte 1 Tag lang eine typische
gastrische Krise (mit mehrstündigem Erbrechen und Temperatursteige¬
rung) durch und wurde nach etwa ömonatigem Anstaltsaufenthalt auf
Drängen seiner Ehefrau entlassen. Die organischen Symptome waren im
allgemeinen noch die gleichen wie bei der Aufnahme, doch waren die
Patellarreflexe jetzt gesteigert, die Facialisparese stärker geworden, die
Zunge wich beim Vorstrecken nach rechts ab, rechts bestand Fußklonus. —
Bereits 14 Tage später mußte der Kranke zurückgebracht werden, völlig
stumpf und apathisch. Er wurde zusehends insolenter, erblindete 2 Monate
später auch auf dem rechten Auge, wurde insozial, unrein, überwachung¬
bedürftig, verblödete völlig. In diesem Zustande, stark 4 Jahre nach dem
Beginn der Erkrankung, trat der Exitus letalis ein. — Die Diagnose
„Taboparalyse“ wurde durch die Autopsie haltlos: es fand sich ein faust¬
großer, derber Tumor, um die vordere Sattellehne als Kern herumgelagert.
Die mikroskopische Untersuchung des Tumors ergab ein Endotheliom
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Psychiatrischer Verein der Rheinprovinz.
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der Dura. Im übrigen war die Hirnrinde in toto verschmälert, die weiße
Marksubstanz des Vorderhirns, die N. optici durch Druck geschwunden.
Die Ventrikel waren etwas erweitert, das Ependym jedoch überall glatt.
Der linke Hinterstrang im Brustmark war leicht grau gefärbt.
Wassermeyer-Ponnx Über Selbstmord.
An 169 Personen, 90 Männer und 79 Frauen, der Kieler psychiatri¬
schen und Nervenklinik, die bald nach mißlungenem Selbstmordversuche
zur Aufnahme kamen,. wurden Untersuchungen hinsichtlich der geistigen
Verfassung zur Zeit der Tat angestellt. 27 Männer und 57 Frauen litten
an ausgesprochenen Psychosen. Aber auch bei den als nicht eigentlich
geisteskrank zu bezeichnenden Personen ließ sich fast ausnahmlos nach-
weisen, daß der Versuch in einer nicht als normal zu bezeichnenden geistigen
Verfassung verübt worden war. Es handelte sich meist um Affekthandlun¬
gen bei psychopathischen Individuen. Daraus läßt sich jedoch nicht ohne
weiteres schließen, daß jeder Selbstmörder geistig anormal wäre; die geistig
Gesunden gehen aber wohl planmäßiger zu Werke und kommen dadurch
sicherer zum Ziele. Zu den Fällen von mißglücktem Selbstmord stellen
die jüngeren Lebensalter die Mehrzahl.
(Der Vortrag erscheint in extenso an anderer Stelle.)
Diskussion. — Fo/I-Düsseldorf: Der Auffassung Gaupps und des
Vortragenden, daß der Affekt beim Zustandekommen des Selbstmordes
und vielleicht mehr noch des Selbstmordversuches eine große Rolle
spielt, möchte ich durchaus beipflichten. — Man nahm früher an, daß
die Zahl der Selbstmorde in Rußland sehr gering sei. Diese Annahme
trifft heute nicht mehr zu. Seitdem die Revolution 1905/06 die breite, in
Unbildung erstarrte Masse des russischen Volkes wachgerüttelt, hat die
Zahl der Selbstmorde stark zugenommen. Russische Autoren reden von
einer Selbstmordepidemie, die sich namentlich auch in den
Kreisen der Jugendlichen in der Schule ausbreitet. Popo ff hat die
Schülerselbstmorde aus dem Warschauer Lehrbezirk aus den Jahren 1908
bis 1910 zusammengestellt und kritisch besprochen. Fast ausnahmlos
handelt es sich um psychopathische Kinder, bei denen oft ungünstige
äußere Verhältnisse (Schulkonflikte, häusliche Schwierigkeiten, sogar
N’ahrungsorgen u. ä.) die Veranlassung gaben. Auch hier wird die
Tat meist unter dem Einfluß des Affekts begangen. Die starke Zunahme
der Selbstmorde ist also auch in Rußland als eine Folge der durch die
(gewaltigen politischen Umwälzungen der letzten Zeit herbeigeführten
Anomie ( Dürkheim ) zu betrachten, jenes Zustandes von Halt- und
Steuerlosigkeit, der zuzeiten ganze Völker ergreift und in den Strudel
einer unheilvollen Entwicklung hinabreißt.
Peretti -Grafenberg weist darauf hin, daß die Zahl der Selbstmorde
unter den Volksschülern in den letzten Jahren abzunehmen scheint. Auch
bei den Besuchern der höheren Schulen sind Selbstmorde nicht so häufig.
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276
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Leider hat man keine Anhaltpunkte für die Verhältnisse zwischen Selbst¬
mord und Selbstmordversuch.
Wassermeyer - Bonn macht darauf aufmerksam, daß unter seinem
Material sich Schulkinder nicht befinden. Die Selbstmordversuche, die
er beobachtet, waren jedenfalls recht ernsthafter Natur, so daß es ein
Wunder ist, daß nicht mehr zum Ziele kamen.
Tippei - Kaiserswerth hat beobachtet, daß bei Fürsorgezöglingen
Selbstmorde und Selbstmordversuche sehr selten sind; in mehreren Jahren
ist bei 170 Kindern kein Versuch vorgekommen. Das mag zum Teil
wenigstens begründet sein in einer gewissen geistigen Stumpfheit, welche
den Degenerierten eigen ist.
Hübner- Bonn: Kriminalpsychologisches über das
weibliche Geschlecht.
Vortragender hat an einem etwa 1500 Frauen umfassenden Material,
das er mehreren großen Polizeiverwaltungen und Gerichten verdankt,
eine Reihe von Einzelfragen studiert.
1. Er stellt zunächst fest, daß an dem Anwachsen der Kri¬
minalität, das von allen Statistikern unzweifelhaft erwiesen ist, die
Frauen keinen Teil haben.
2. An der Hand von 300 Strafverzeichnissen hat Vortragender dann
den Beginn der Kriminalität von je 150 Gelegenheits- und
Gewohnheitsverbrecherinnen festzustellen gesucht. Um statistisch einen
Anhaltpunkt für die Unterscheidung dieser beiden Gruppen zu erhalten,
hat er in Anlehnung an den Vorentwurf zum St.*G.-B. als Gewohnheits¬
verbrecherinnen solche Frauen bezeichnet, die mindestens 5 Strafen sich
zugezogen hatten.
Der Beginn der Kriminalität beider Gruppen ist aus der nachstehen-
den Tabelle ersichtlich:
Gelegenheitsverbr.
12—14 3
Gewohnheitsverbr.
18
16—18
36
49
19—22
35
37
23—26
16
21
27—30
13
11
31-34
11
9
35—40
16
2
41—45
10
2
46—60
9
. -
61—66
—
1
66—60
2
—
3. Eine weitere Detailfrage, die Vortragender an der Hand von
220 Akten, die zur Hälfte Diebstähle, zur andern Hälfte Unterschlagungen
und Betrugsfälle betrafen, zu studieren suchte, war die, wie weit wirt-
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Psychiatrischer Verein der Rheinprovinz.
277
schaftliche Not einerseits, Begehrlichkeit andrer¬
seits bei der Entstehung des Deliktes mitgewirkt
hatten. Es ergab sieh, daß wirtschaftliche Not nur in etwa 25 bis 30 %
der Fälle als Motiv in Frage kam. In allen übrigen stand im Vorder¬
gründe die Begehrlichkeit oder andere Momente, unter denen das Ge¬
schlechtsleben (Menstruation, Schwangerschaft, abnorme sexuelle Neigun¬
gen) eine bedeutende Rolle spielte.
Eine weitere Bestätigung fand diese Annahme noch durch Be¬
trachtung der Art der gestohlenen Gegenstände: In nicht mehr als etwa
15 % der Fälle war bares Geld gestohlen worden. Sonst handelte es sich
meist um Kleider, Schmuckgegenstände und ähnliches. In einer geringen
Anzahl von Fällen (etwa 10 %) waren die gestohlenen oder unterschlagenen
Sachen zur Bestreitung des Lebensunterhaltes oder als Ersatz für defekte
eigene Kleidung verwandt worden.
Besonders bei den Jugendlichen spielte das Motiv der Begehrlichkeit
eine große Rolle.
4. Das Hauptdelikt der weiblichen Jugend ist der Diebstahl
und Betrug. Unter 416 genauer studierten Fällen ließen sich die ersten
kriminellen Handlungen in etwa 5 % der Fälle bereits vor dem 12. Lebens¬
jahre nachweisen. Die soziale Prognose der jugendlichen Diebinnen ist eine
äußerst ungünstige. Nach dem Material des Vortragenden werden etwa
75 % derselben rückfällig, und zwar großenteils im ersten, der ersten Ver¬
urteilung folgenden Jahre.
Bei Betrachtung der übrigen Familienmitglieder zeigte sich mehr¬
fach. daß die weiblichen Angehörigen größtenteils Neigung zu Eigentums¬
delikten. die männlichen zu Roheitsdelikten, Arbeitscheu und Vaga-
bondage erkennen ließen. Dies wurde durch Einziehung der Straf Ver¬
zeichnisse, Durcharbeitung von Armen- und Polizeiakten sowie durch
Einholung von Auskünften aus Schulen und Pfarrämtern festgestellt.
5. Besonderes Interesse wurde auch den Rückfälligen zugewandt.
Es ergab sich bei je 150 Gelegenheits-
und Gewohnheitsverbrecherinnen
folgende Rückfallstatistik:
Rückfällig wurden im
1 .
2.
3.—5. Jahr
Zusammen
150 Gewohnheitsverbr.:
119
10
16
145
150 Gelegenheitsverbr.:
43
14
22
79
Die Zahlen der Strafen bei den 300 Frauen verteilten sich folgender¬
maßen :
1 Strafe: 56 6—10 Strafen: 33 41— 60 Strafen: 8
2-4 Strafen: 94 11—20 „ : 74 61—100 „ : 4
5 „ : 6 21-40 „ : 22 101—160 „ : 3
Unter den hohen Zahlen befinden sich viel wegen Sittenkontra¬
vention (§ 361 8 Str.-G.-B.) Bestrafte.
6. Von Spezialdelikten hat Vortragender den Mord und Kindesmord
genauer studiert.
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278
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Was den ersteren anlangt, so konnte er vier Gruppen unterscheiden,
nämlich den Mord 1. aus politischen Motiven, 2. aus erotischen
Motiven, 3. aus Gewinnsucht und 4. aus Rache.
Die erste Kategorie kommt in Deutschland kaum vor. Bei den
Liebesmorden sind psychologisch verschiedene Unterschiede zu machen.
Einmal kann es sich um einen Racheakt an dem ungetreuen Geliebten
handeln, oder das Umgekehrte — der treulose Teil will den andern be¬
seitigen, um freie Bahn zu erhalten — liegt vor. Den Rest stellen Fälle dar,
in denen die Ehegattin sich selbst und die Kinder tötet, um den eigentlich
schuldigen Teil allein zurückzulassen.
Bei den Täterinnen wurden vielfach hysterisch-hypochondrische
Depressionszustände, einige Male auch richtige Melancholien festgestellt.
Unter den Angehörigen der. Gruppe 3 wurden in allen 5 Fällen starke
Degeneration oder hysterische Charakterzüge festgestellt. Sie gingen auch
meist mit raffinierter Grausamkeit vor und waren nach der Tat bestrebt,
die Spuren sorgfältig zu verwischen. Eine lebhafte Phantasie ermöglichte
es zwei Frauen, ein sehr geschicktes Lügengewebe zur Verdeckung der
Spur zu erfinden.
7. Besonderer Betrachtung bedürfen die als Mord aufge¬
faßten Delikte Jugendlicher. Meist handelt es sich nur
um Versuche; in seltenen Fällen endet das Verbrechen mit dem Tode
des Opfers. Psychologisch gleichwertig mit diesen Delikten ist eine Reihe
von Brandstiftungen Jugendlicher, die deshalb mit besprochen werden.
Das Motiv ist Rache, Begehrlichkeit oder der Versuch, ein anderes
Delikt zu verbergen.
Bei den Täterinnen selbst, die häufig gerade in das Erwerbsleben
eingetreten sind, finden sich viel erblich oder sozial Belastete. Vielfach
ist über häufige Krankheiten in der ersten Jugend zu berichten. Die
Schulleistungen erreichten nur in einem Teil der Fälle den Durchschnitt;
die Mädchen wurden oft als faul, dumm, zerstreut, neugierig und verlogen
bezeichnet. Es bestand frühzeitige Neigung zu kleinen Diebereien,
Schwindeleien und Grausamkeiten. Die Affektsphäre war nur dann leicht
ansprechbar, wenn es sich um eigene Interessen handelte, sonst bestand
Gemütsstumpfheit, Daneben wurde einige Male über Neigung zu phan¬
tastischem Lügen und Wichtigtun berichtet.
Diese Fälle kamen auch fast stets zur Begutachtung. Die ge¬
stellten Diagnosen lauteten in 8 von 11 Beobachtungen (von denen keine
aus einer Irrenanstalt stammt!) entweder Imbezillität oder Hysterie.
Über die übrigen drei Täterinnen ist das Aktenmaterial zurzeit noch un¬
vollständig.
Bei der Tat wurde besonders oft Gift bevorzugt. Nur selten hatten
die Täterinnen eine einigermaßen zutreffende Vorstellung von der Wirkung
desselben.
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Psychiatrischer Verein der Rheinprovinz.
279
8. Beim h'indesmord (§ 217 St.-G.-B.) will Vortragender
zwar dem sogenannten „Ehrennotstand“ (vgl. H. Gross, Amsohl, Graf
Gleisbach, Plempel u. a.) nicht jede Bedeutung absprechen, das wichtigste
Moment sieht er jedoch in dem Zustande der Gebärenden zur Zeit der Tat.
Meist handelt es sich um unerfahrene, ohne fremde Hilfe gebärende, noch
junge Mädchen, dazu kommt die Wirkung des Geburtschmerzes an sich.
Vortragender hat die Zustände, welche während der Geburt Vor¬
kommen, genauer studiert (etwa 100 Fälle) und unterscheidet folgende:
a) physiologische: 1. Schwächezustände bis zu Ohnmacht,
2. Erregungszustände.
Daß die letzteren geeignet sind, zu Gewaltakten zu führen, beweist
die klinische Erfahrung. Der Geburtsakt ist für manche Kreissende so
unerträglich, daß sie sich selbst den Tod wünscht. Es sind auch — sogar
in der Klinik — Selbstmordversuche beobachtet worden. Vortragender
hat ferner einen Fall gesehen, bei dem in der ersten Erregung vor dem
Austritt der Placenta eine Primipara ihr eben geborenes Kind in der
Klinik an die Wand werfen wollte.
b) pathologische Zustände: 1. * Gedächtnisstörungen,
2. schnell abklingende manische Zustandbilder, 3. Delirien (eklamptische,
hysterische, epileptische), 4. Dämmerzustände (insbesondere epileptische),
5. beginnende andere Psychosen (Dementia praecox!), 6. Schwachsinn
mit Neigung zu Affekthandlungen.
Zum Schluß weist Vortragender noch darauf hin, daß Kindestötungen
Vorkommen, die zwar nicht meh»* „in oder gleich nach der Geburt“ er¬
folgen, trotzdem aber psychiatrisch den im § 217 St.-G.-B. vorgesehenen
Fällen gleichzusetzen sind. Auch auf die Schwankungen des psychischen
Gleichgewichts während der Laktation (Depressionen bei Erschöpfung)
wird kurz eingegangen. Umpfenbach.
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Kleinere Mitteilungen.
Die nächste Jahresversammlung des Deutschen Vereins
für Psychiatrie findet in Kiel am 30. und 31. Mai statt. I. Re¬
ferate. 1. Die Bedeutung der Symptomenkomplexe in der Psychiatrie,
besonders im Hinblick auf das manisch-depressive Irresein. Ref.: Hoche-
Freiburg und Alzheimer-München. 2. Die Behandlung der Paralyse.
Ref.: E. Meyer- Königsberg und Spielmeyer- Freiburg. — II. Vorträge.
1. Eichelberg -Göttingen: Die Bedeutung der Untersuchung der Spinal-
flüssigkeit. 2. L. W. We&er-Chemnitz: Die Praxis bei der Durchführung
der Pflegschaft nach dem BGB. 3. G. »Sterte-Bonn: Organische Krank¬
heitsymptome am Nervensystem bei Katatonie. 4. ÄiteersAaus-Hamburg:
Zur Psychologie der weiblichen Ausnahmezustände (Menstruation, Schwan¬
gerschaft, Wochenbett). 5. P/öm'nger-Hamburg: Tierversuche über den
erblichen Einfluß des Alkohols (mit Demonstrationen). 6. Äa/Aa-Hamburg:
Über Entstehung, Zirkulation und Funktion des Liquor cerebrospinalis
7. FTej/ga/ieh-Hamburg: Erweiterungen und Reorganisationen in der Ham¬
burger Irrenpflege, ein Beitrag zu der Frage: Umbau oder Neubau (mit
Demonstrationen). 8. Ew. Stier- Berlin: Die funktionelle Differenz der
Hirnhälften und ihre Beziehungen zur geistigen Weiterentwicklung der
Menschheit. 9. P. Schroeder- Breslau: Uber Remissionen bei progressiver
Paralyse. 10. O. Fischer -Prag: Beitrag zur Presbyophreniefrage. 11. Bergl-
Prag: Das Verhalten der Zerebrospinalflüssigkeit bei Luikern. 12. v.Nießl-
Mayendorf-Leipzig: Über den Anteil der beiden Hemisphären an den
motorischen Funktionen (Projektionen). 13. Friedländer- Hohe Mark: Die
Einwirkung fieberhafter Prozesse auf die metaluischen Erkrankungen des
Zentralnervensystems. 14. Runge-Kiel: Pupillenuntersuchungen bei
Geisteskranken und Gesunden. 15. »Stemens-Lauenburg: Die Errichtung
( ines biologischen Forschungsinstitutes über die Grundursachen der
Geisteskrankheiten. 16. F. Stern -Kiel: Über die akuten Situation»-
psychosen der Kriminellen. 17. Bisc&o^-Hamburg-Langenhorn: Unter¬
suchungen über das mittelbare und unmittelbare Zahlengedächtnis.
13. Stargardt- KM: Die Ätiologie des Sehnervenschwundes bei progressiver
Paralyse u. Tabes (Demonstrationsvortrag). 19. Äo/ug-Kiel: Zur Klinik
der menstruellen Psychosen. 20. Alters -München: Beiträge zur Patho-
bv Google
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Kleinere Mitteilungen.
281
Chemie des Gehirns. 21. Goldstein- Königsberg: (Thema noch unbestimmt).
22. Kleist -Erlangen: Über chronische paranoische Erkrankungen des
Rückbildungsalters mit besondrer Rücksicht auf ihre Beziehungen zum
manisch-depressiven Irresein. — Anmeldungen von Vorträgen werden
erbeten an Sanitätsrat Hans Laehr, Schweizerhof zu Zehlendorf-Wannsee-
bahn. Anfang Mai wird eine Einladung mit genauerem Programm ver¬
sandt werden.
Die 37. Wanderversammlung der südwestdeutschen
Neurologen und Irrenärzte wird am 8. und 9. Juni zu Baden-
Baden im Konversationshause abgehalten werden. Anmeldung von Vor¬
trägen bis zum 27. Mai an ÄreAZ-Heidelberg oder La^uer-Frankfurt a. M,
Nekrolog D. W. Reye. — Am 15. Februar d. J. verschied in
Hamburg im 80. Lebensjahre Prof. Dr. Reye, einer der ältesten, wenn
nicht der älteste der deutschen Psychiater.
Reye, geboren den 22. Juni 1833, entstammt einer alten, im Ham-
burgischen Amte Ritzebüttel angesessenen Familie. Er besuchte die
oberen Klassen der hiesigen Gelehrtenschule des Johanneums, ging 1852
nach Heidelberg und von dort 1854 nach Göttingen, wo er am 20. Juni 1855
zum Doktor promovierte. Nachdem er durch Studien in Wien und Prag
«ein Wissen vertieft hatte, kehrte er nach Hamburg zurück und legte vor
der hamburgischen Prüfungskommission sein medizinisches Staatsexamen
ab. Am 20. Juni 1856 wurde Reye Assistent am hiesigen Allgemeinen
Krankenhause; er wurde zuerst auf der chirurgischen und vom Januar
1858 ab auf der inneren Abteilung, der damals die Abteilung für Geistes¬
kranke angegliedert war, beschäftigt. Nach der im November 1858
erfolgten Berufung Ludwig Meyers zur Leitung dieser Abteilung wurde er
dessen Assistent. Als Meyer dann 1864 nach Eröffnung der inzwischen er¬
bauten Anstalt Friedrichsberg hierher übersiedelte, übernahm Reye die Be¬
handlung der vorerst noch in dem Krankenhause verbleibenden Irren-
«iethen. Als externer Sekundärarzt hat er damals eine Zeitlang dem
damaligen Gebrauche entsprechend neben seinem Amte noch freie
Praxis betrieben.
In diesem Wirkungskreise verblieb Reye nur kurze Zeit. Bereits 1866
wurde er, nachdem Meyer die Professur für Psychiatrie in Göttingen über¬
nommen hatte, zu dessen Nachfolger ernannt. Als solcher ist er bis zum
1- April 1908 tätig gewesen.
Welch eine Fülle von Arbeit Reye im Laufe dieser Jahre geleistet
hat, erhellen schon einige Zahlen. Als er die Leitung von Friedrichsberg
übernahm, betrug die Zahl der Kranken 264, im Jahre 1907 dagegen 1412.
Inter ihm ist eine kaum als mittelgroß zu bezeichnende Anstalt eine der
größten Anstalten Deutschlands geworden. Reye hat nicht nur in nie
•“rmüdendem Pflichteifer die von Jahr zu Jahr sich steigernde Arbeitslast
ZeiUehriit für Pgychiatri«. LI IX. 2. 19
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Kleinere Mitteilungen.
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auf sich genommen, sondern auch das von seinem Lehrer Meyer bei der
Behandlung Geisteskranker Erstrebte und Geschaffene in mustergültiger
Weise weiter ausgebaut. So verschwanden unter seiner Leitung, indem
die Wachsaalbehandlung immer weiter ausgedehnt wurde, die Zellen, die
chemischen Beruhigungsmittel traten gegenüber den diätetischen Ma߬
nahmen und den Bädern zurück, und schließlich wurden auch Liegekuren
im Freien eingeführt. Mit besonderen Schwierigkeiten galt es dabei inso¬
fern zu kämpfen, als infolge der schnellen Bevölkerungszunahme Ham¬
burgs die Anstalt beinahe dauernd überbelegt war und sich die alten
Baulichkeiten nur schwer den modernen Ansprüchen anpassen ließen.
Gewiß war Reye kein Heißsporn, kein Stürmer, er war aber auch nicht
der Mann, der etwas annahm, nur weil es neu war, oder weil es von autorita¬
tiver Seite empfohlen wurde. In seiner ruhigen, sachlichen Art prüfte er
alles und übernahm nur das, wus ihm gut erschien, führte es dann aber
auch ganz durch.
Dieselbe ruhige Art war ihm auch in wissenschaftlichen Fragen eigen.
Niemals ließ er sich blenden oder durch Augenblickserfolge hinreißen,
er suchte vielmehr in stiller Gedankenarbeit das Wesentliche zu erkennen,
die Spreu von dem Weizen zu sondern. Dabei hatte er die glückliche
Gabe, in wenigen treffenden Worten ganze Auffassungen, ganze Situationen
zusammenzufassen und in kurzer, prägnanter Weise zu kennzeichnen.
Daß er in seinem Alter bei seiner langjährigen Erfahrung, nachdem er so
viele Meinungen hatte kommen und wieder verschwinden sehen, skeptisch
geworden war, kann wohl kaum wundernehmen, immer aber achtete er
die Überzeugung anderer. So w’ar er denn auch nicht engherzig und ver¬
schloß sich niemals wohlbegründeten Anregungen, von welcher Seite aus
sie ihm auch entgegengebracht wurden.
Reye gehörte eben zu jenen stillen Naturen, die sich niemals hervor¬
drängen und in ruhiger Bescheidenheit ihre Person in den Hintergrund
stellen. Es soll damit aber nicht gesagt sein, daß er, wenn es die Sache
erforderte, nicht auch seinen Mann stand; er wußte dann auch ein recht
kräftig Wörtlein zu sagen. So verstand er denn auch trotz aller Gut¬
mütigkeit, sich durchzusetzen und sich Respekt zu verschaffen.
Diese Bescheidenheit war es auch, die im Zusammenhang mit der
umfangreichen praktischen Tätigkeit Reye nach außen so wenig hervor¬
treten ließ. So ist er, der mit Ausnahme weniger der notwendigsten Er¬
holung gewidmeter Wochen immer im Dienste war, nur einer relativ kleinen
Zahl von Fachkollegen bekannt geworden. Dazu kam, daß er nur wenig
Neigung hatte, die jetzt so zahlreichen Kongresse und sonstigen Ver¬
sammlungen zu besuchen, es geschah dies aber nicht aus Mangel an wissen¬
schaftlichem Interesse. Wie groß dieses war, beweist seine rege Teil¬
nahme an den Sitzungen des hiesigen ärztlichen Vereins, die er so regel¬
mäßig wie nur wenige besuchte.
Hand in Hand mit dieser Bescheidenheit, mit dieser Neigung, stets
hinter der Sache zurückzutreten, ging eine außerordentliche Güte und
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Kleinere Mitteilungen.
283
Liebenswürdigkeit. Sie ist vor allem seinen Kranken und deren Ange¬
hörigen zugute gekommen; er hat die Herzen seiner Kranken gewonnen.
Wie sehr diese an ihm hingen, zeigte sich so recht, wenn er nach seinem
Ausscheiden aus dem Amte die Anstalt besuchte, dann drängten sich die
alten Patienten an ihn heran, wollten ihn sprechen oder ihm wenigstens
die Hand drücken. Dieselbe Güte und liebenswürdige Freundlichkeit
bewies er uns Ärzten und Beamten; er war kein Freund vieler Worte,
aus der Art aber, wie er sprach und handelte, fühlte man sein Wohlwollen
heraus. Durch diese sich stets gleichbleibende Freundlichkeit und Güte
ward ihm auch die Liebe weiterer Kreise, vor allem natürlich die Liebe
und Achtung seiner Kollegen zuteil. So wurden ihm denn auch so manche
Ehrenämter übertragen und so manche Ehrenbezeugungen erwiesen. Be¬
sonders kam diese Anerkennung und Verehrung der Kollegen bei der Feier
seines 50 jährigen Doktorjubiläums zum Ausdruck. Daß auch die Be¬
hörden seine Verdienste zu schätzen wußten, braucht wohl kaum erwähnt
zu werden, sie haben ihm, speziell bei seinem Ausscheiden aus seinem
Amte, für all seine Arbeit und Mühewaltung gedankt und ihm Auszeich¬
nungen zuteil werden lassen.
Reye hat diese Liebe und Anerkennung stets auf das wärmste emp¬
funden, das Bild seines Charakters würde eine Lücke aufweisen, wenn
nicht auch insbesondere noch seiner Dankbarkeit gedacht würde.
Alle diese Eigenschaften verwebten sich bei Reye zu einem außer-
r >rdentlich glücklichen Ganzen; er war eine stille, sonnige Natur. Sein
Glück fand er neben seinem Beruf in seiner Familie. Ein gütiges Geschick
hat ihm eine liebevolle, kluge Gattin beschert, die ihm durch 45 Jahre
hindurch eine treue Gefährtin gewesen ist. Er hat die Freude gehabt,
eine stattliche Kinderschar in seinem Heim in glücklicher Harmonie heran¬
wachsen zu sehen.
Auch im Tode war ihm das Schicksal hold. Die Schwächen und
Leiden des Alters hat er kaum kennen gelernt; nwr hin und wieder klagte
er einmal in der letzten Zeit über Brustbeklemmungen; ohne zu leiden
wurde er dann schnell dahingerafft.
Alle, die Reye gekannt haben, werden ihm ein treues Andenken
bewahren, vor allem alle, die mit ihm und unter ihm gearbeitet haben,
allen wird er ein hehres Beispiel treuer Pflichterfüllung sein.
Buchholz - Friedrichsberg.
Dem Verein zumAustausch der Anstaltberichte
Pt die Landeserziehungsanstalt für Blinde und Schwachsinnige in Chemnitz
beigetreten.
JPersonatnacTvrichten.
Dr. Theod. Ziehen, Geh. Med.-Rat, tritt zu Ostern von der Berliner Pro¬
fessur für Psychiatrie und Neurologie zurück, um sich in Wies-
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Kleinere Mitteilungen.
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baden psychologischen Forschungen zu widmen. An seine
Stelle tritt, nachdem Oamer-Göttingen abgelehnt,
Dr. Karl Bonhöffer, Geh. Med.-Rat, bisher Professor in Breslau, welcher
auch die Redaktion der Monatschrift für Psychiatrie u. Neuro¬
logie übernimmt*
Dr. Sigm. Fries, Geh. San. - Rat, legt aus Gesundheitsrücksichten das
Direktorat der Anstalt Nie Heben nieder. Als sein Nach¬
folger ist
Dr. Berthold Pfeiffer, Prof., Priv.-Doz. in Halle, berufen worden.
Dr. Walter Görlitz aus Stolberg (Rheinl.) hat die Privatanstalt Berg¬
quell-Frauendorf bei Stettin als Besitzer u, ärztlicher Leiter
übernommen.
Dr. Wold. F. Winkler , bisher auf dem Sonnenstein, u.
Dr. Joh. Schlegel, bisher in Großschweidnitz, sind als Oberärzte,
Dr. Karl Lägel, bisher in Kreuzburg, als Anstaltsarzt nach Arnsdorf,
Dr. Josef Geller, bisher in Düren, ist als Oberarzt nach Grafenberg
versetzt worden*
Dr. Henry Wolfskehl, bisher in Weinsberg, ist Oberarzt in der Privat-
anstatt Hohe Mark geworden.
Dr. Karl Wilmanns in Heidelberg ist zum außerordentlichen
Professor,
Dr. Heinr. Neuhaus, Landespsychiater in Düsseldorf, u,
Dr. Ludw. Dercken, Dirig. Arzt in Haus Kannen, zum Geh. Sanitätsrat,
Dr. Otto Hebold, Dir. in Wuhlgarten,
Dr. Franz Falk, Oberarzt in Kortau, und
Dr. Siegfr. Kalischer in Zehlendorf zum Sanitätsrat ernannt worden.
Dr. Karl Knörr, Dir. in Teupitz, hat den Roten Adlerorden
4. Klasse,
Dr. Adolf Friedländer, Hofrat, Dir. der Privatanstalt Hohe Mark, das
Ehrenkreuz des Mecklenb. Greifenordens,
Dr. Rud. Meyer, Dir. in Goddelau, das Ritterkreuz 1. Klasse des Ver¬
dienstordens Philipps des Großmütigen er¬
halten.
Dr. Heinr. Obersteiner, Hofrat, Prof, in Wien, ist Ehrenmitglied des Vereins
der Psychiater zu St. Petersburg,
Dr. Em. Kraepelin, Hofrat, Prof, in München, Mitglied der Gesellschaft
der Wissenschaften in Christiania geworden.
Dr. Sal. Behrendt, San.-R., Dir. der Jakobyschen Anstalt in Sayn, ist
gestorben. Ferner ist
Dr. Mor. Jastrowitz, Geh. Sanitätsrat, konsult. Arzt der Privatanstalt
Berolinum, am 26. Januar, 72 Jahre alt,
Dr. Nik. Länderer , San.-R., Dir« der Prov.-Anstalt Andernach, am 13.
Februar plötzlich an Apoplexie,
Dr. D. W. Reye, Prof. u. em. Direktor der Anstalt Friedrichsberg in
Hamburg, am 15. Februar im 79. Lebensjahre gestorben.
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Gehörstöuschungen bei Ohrerkrankungen. 0
Von
Priv.-Doz. Dr. Otto Klieneberger, jetzt Königsberg, Psych. Klinik.
Es ist bekannt, daß bei Erkrankungen eines Sinnesapparates ent-
?prechende Sinnestäuschungen sich zuweilen einstellen. So sind Ge¬
sichtstäuschungen bei Erkrankungen des Hinterhauptlappens, Ge¬
hörstäuschungen bei Erkrankungen des Schläfenlappens mitgeteilt
werden. In analoger Weise sind Halluzinationen bei Erkrankungen
der peripheren Sinnesorgane beschrieben. Die Gesichtstäuschungen
übertreffen dabei an relativer Häufigkeit solche des Gehörs; die letzteren
sind zudem dadurch besonders interessant, daß sie, obwohl sie meist
nur Symptom einer Psychose sind, doch dieser eine besondere Fär¬
bung geben können, und ferner dadurch, daß es zuweilen gelingt,
sie zu beeinflussen und so den Zusammenhang zwischen Halluzi¬
nationen und Ohrerkrankung deutlich zu illustrieren.
Wir haben in den letzten fünf Jahren dreimal Gelegenheit gehabt,
seiche mit peripheren Ohrerkrankungen in Zusammenhang stehenden
Gehörstäuschungen zu beobachten. Es dürfte sich daher, schon
wegen der Seltenheit der Fälle, ihre kasuistische Mitteilung recht-
fertigen; sie sind aber auch darüber hinaus bemerkenswert wegen
ihres klinischen Verhaltens und wegen gewisser Beziehungen, die sich
aus ihnen für das Wesen der Halluzinationen ableiten lassen.
Es mögen zunächst die Krankengeschichten folgen.
1. Beobachtung. Anna K., Arbeiterfrau, 50 J. alt, suchte
am 14. V. 06 unsere Poliklinik auf.
Befund : Seit fünf Jahren hört Pat. Stimmen, nachdem sie
iuvop i; Jahr wegen Ohrensausen behandelt worden war. Das Sausen
wurde allmählich zu deutlichen Stimmen, die von verschiedenen, der Pat.
*) Aus der Psychiatrischen und Nervenklinik Breslau (Geh.-Rat
Bo nköffer).
Wtaehrift für Psychiatrie. LIIX. S. 20
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286
Klieneberger,
unbekannten Personen stammen. Anfangs hatte Pat. Angst, sie zog
wegen der Stimmen aus zwei Wohnungen aus, weil sie glaubte, „es ginge
um“.
Inhalt der Halluzinationen: Schimpfworte gemeiner Art, die sich
aber nicht auf sie beziehen; ferner Drohungen und Warnungen, die sich
auf sie beziehen: „geh* nicht in den Keller“ oder „geh’ nicht auf den
Boden“.
Anfangs tat Pat., was die Stimmen ihr auftrugen, später kümmerte
sie sich nicht mehr darum. Früher lokalisierte sie die Stimmen in die
Stube, jetzt ins Ohr. Etwa ein Jahr lang lebhafter Angstaffekt, seitdem
frei von Angst. Allmähliches Abklingen.
Auf anderen Sinnesgebieten keine Halluzinationen, nur Funken¬
sehen in der ersten Zeit.
Keine Beziehungs- oder Verfolgungsideen. Keine Erklärungen.
Seit einigen Wochen stärkeres Abblassen der Halluzinationen: sie kann
die Stimmen für gewöhnlich nicht recht verstehen, sondern muß erst
hinhorchen, wenn sie verstehen will. Auch früher waren die Stimmen
stets lebhafter, wenn sie allein war.
Auf die Aufforderung, zu sagen, was sie hört, lauscht sie und gibt
an: „Es nutzt ja doch nichts.“ „Geh nur ins Josefspital.“ „Warum bist
Du nur hierher gekommen ?“
Benehmen geordnet, nichts Auffälliges, nichts Paranoisches. Gibt
sinngemäße Antworten, ist zeitlich und örtlich völlig orientiert. Ver¬
sieht ununterbrochen trotz der nun fünf Jahre bestehenden Er¬
krankung ihre Arbeit als Aufräumefrau im Krankenhaus vollständig und
zur Zufriedenheit.
Macht sich jetzt keinerlei Gedanken über die Halluzinationen. Ist
nach eigenen Angaben „sehr weich“.
In der Schule gut gelernt. Nach der Schulzeit in Stellung. Intelligenz
gut. Rechnen relativ sehr gut.
Vater war „gemütskrank“, kein Trinker, litt an Krämpfen; Mutter
war „sehr nervenkrank“. Pat. heiratete mit 22 Jahren, ihr Mann war
Trinker; 3 Kinder leben, gesund, 1 Kind ist gestorben, die beiden letzten
waren Fehlgeburten. Seit drei Monaten Zessieren der Menses.
Körperlich kein krankhafter Befund.
Ohrenuntersuchung in der hiesigen Ohrenklinik: doppel¬
seitiger trockener Mittelohrkatarrh und Residuen früherer Mittelohr¬
entzündungen. Linkes Trommelfell intakt, Lichtreflex erhalten, Hammer¬
griff verkürzt, Membran eingezogen und getrübt. Rechtes Trommelfell:
kleine, nierenförmige, weiß spiegelnde Narbe im Lichtkegel, fast wie ein
Sehnenfleck erscheinend. Tube beiderseits durchgängig.
Verlauf: Auch weiterhin weder in der Stimmung noch in der
Arbeitfähigkeit beeinträchtigt. Glitt Mitte November 06 bei der Rück¬
kehr von der Arbeit auf der Treppe aus und erlitt einen Schädelbruch,
an dessen Folgen sie am 18. XI. 06 starb.
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Gehörstäuschungen bei Ohrerknuünmgen.
287
2. Beobachtung. Gottlieb M., Zimmermann, 53 J. alt.
Befund bei der poliklinischen Untersuchung am 27. VIII: 07:
Keine erbliche Belastung. Selbst stets gesund. Militärfrei. Verschiedene
Unfälle, zuletzt im Oktober 06. Seitdem Stechen und Quetschen auf der
Brust, Zittern am ganzen Körper, Schwindel- und Angstgefühl, unruhiger,
schlechter Schlaf, Appetitlosigkeit und seit einigen Monaten „Stimmen“.
Summen und ganz monotone, oft rhythmisch sich wiederholende Hallu¬
zinationen: ,,Der wird’s wissen, der wird’s wissen.“ „Du sollst ruhig
sein“, oder „Der soll ruhig sein“, vielmals hintereinander, im gleichen
Tonfall. Hört seinen Namen rufen, auch Schimpfworte: „Verrückter
Kerl“. Keine Bedrohungen. Kein Gedankenlautwerden.
Hört die Stimmen im Ohr. „Ich weiß nicht, wie ich das werde
hineingekriegt haben.“ Eis sei nach dem letzten Unfall „auf einmal“
gekommen. „Manchmal ist es laut, manchmal leiser.“ „Man hat keine
Ruhe.“ „Manchmal macht es einem Angst.“
Links hört er die Stimmen dauernd, rechts seltener. Links sind es
grobe Stimmen wie von Männern, rechts feine Frauenstimmen.
Kein Beziehungswahn. Keine Erklärungsideen. Keinerlei Beein¬
flussungen. Legt alle Beschwerden dem Unfall zur Last. Keine rechte
Einsicht. Indolent, macht defekten Eindruck.
Dilatatio cordis. Hochgradige Arteriosklerose.
Ohrbefund (Kgl. Ohrenklinik): Linker Gehörgang deutlich
gerötet, Trommelfell sehr stark eingezogen, getrübt. Rechtes Trommel¬
fell stark getrübt und eingezogen. Pharyngitis chronica.
Diagnose: Tubenkatarrh. Therapie: Massage, Katheterismus.
Verlauf: Schnelle Besserung. Am 31. VIII. 07 keine Angst
mehr, kein Schwindel; Appetit. Stimmen haben allmählich mehr und
mehr nachgelassen, ist seit gestern vollständig frei, hat auch kein Sausen
mehr im Kopfe. Auch jetzt ohne rechte Einsicht. „Es war keine Krank¬
et, ich hab* ja immerfort gearbeitet.“ Ist dann zu einer Nachunter¬
suchung nicht mehr erschienen. Wurde nach polizeilichem Bericht am
16. III. 08 vormittags gegen 10% Uhr in einem Bretterschuppen erhängt
aufgefunden.
3. Beobachtung. Luise G., Arbeiterfrau, 52 J. alt, suchte die
Poliklinik am 16. II. 09 auf; stand aber auch schon früher, 1892, im Alter
von 35 J. in Behandlung der hiesigen Poliklinik. Damals (1892) klagte sie
über ziehende Schmerzen im linken Arm, die im Anschluß an Influenza
aufgetreten seien, über Stechen im Rücken, Schwindel, Herzklopfen, Be¬
klemmung und Angst, Appetitlosigkeit und starkes Durstgefühl. Sie
befand sich im dritten Monat der Gravidität. Erst nach der Entbindung
im August trat eine Besserung ein, dann verschlimmerte sich der Zustand
wieder, die hypochondrischen Beschwerden nahmen zu; sie wurde ver¬
drießlich und hatte viel traurige Gedanken. Allmähliche Besserung und
Heilung.
20 *
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288
Klieneberger,
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Befund am 16. II. 0 9. Seit Herbst 08 vorübergehend, hin
und wieder einmal, in beiden Ohren Rauschen und Pfeifen, „wie es bei
der Bahn zu Anfang oder Ende der Arbeit pfeift.“ Nach einiger Zeit,
etwas vor Weihnachten, Singen auf dem linken Ohr, das allmählich stärker
wurde, häufiger kam und sich schließlich auch auf dem rechten Ohr ein-
stellte. Es klingt einmal, als ob eine Orgel spiele, dann wieder mehr wie
eine Harmonika, mitunter wie eine Posaune, auch wie ein Phonograph.
Hört richtige Melodien „O Tannebaum, o Tannebaum“, Kirchenlieder
und alle möglichen ihr bekannten Lieder, zum Teil solche aus ihrer Mädchen¬
zeit, an die sie gar nicht mehr gedacht habe. Sie höre das Singen haupt¬
sächlich und besonders deutlich, wenn sie unbeschäftigt und w T enn sie
allein sei, besonders beim Einschlafen. Habe nur ganz im Anfang gedacht,
es könnte außerhalb, etwa im Hofe sein, habe aber bald gemerkt, daß es
im Kopfe sei. Es klinge, als ob es aus den Ohren herauskomme; lokalisiert
die Halluzinationen in die Ohren, beziehungweise in den Hinterkopf
dicht hinter den Ohren. Sie sei niemals dadurch irgendwie beein¬
flußt worden, habe sich keine Gedanken darüber gemacht, keine Angst
empfunden; höchstens gelacht, denn es sei ihr komisch vorgekommen,
daß ihr vorgesungen wurde; auch die anderen, denen sie es erzählt habe,
hätten gelacht. Sie habe die ganze Zeit fleißig weiter gearbeitet, die
Arbeit gehe ebenso flott vonstatten wie sonst. Keine Geräusch- oder
Lichtempfindlichkeit. Erbliche Belastung besteht nicht. Pat. gibt an.
sie sei immer sehr lebhaft und lustig, aber leicht erregbar und schreckhaft
gewesen, ab Kind habe sie sich leicht einmal gefürchtet. Sie sei nie ernst¬
lich krank gewesen, sei in der Schule eine der besten Schülerinnen gewesen
und habe immer auf der ersten Bank gesessen. Mit 20 Jahren habe sv
geheiratet. Nach dem ersten Kinde habe sie Wochenbettfieber durchge¬
macht, damals sei sie unruhig und verwirrt gewesen und habe viel phan¬
tasiert. In den letzten Jahren sei sie wegen Unterleibsbeschwerden
wiederholt gynäkologisch behandelt worden. Seit 2 Jahren Menopause.
Psychisch: in keiner Weise auffällig, frisch, lebhaft. Normale Affekt-
läge. Gute Einsicht.
Somatisch: Würgreflex fehlt. Sonst völlig normaler Befund.
Diagnose der Ohrenklinik: Tubenkatarrh; Mittelohr¬
schwerhörigkeit infolge chronischer Trommelfellveränderungen (beide
Trommelfelle getrübt, eingezogen, vorn oben kleine Verkalkung).
Verlauf (Nachuntersuchung im November und Dezember lU
Zahlreiche allgemeine nervöse Beschwerden; dazu dauerndes Klopfen
im Hinterkopf, Herzklopfen, Hitzegefühl im Kopf, Schwindelanfälle, in
denen sie taumele, mit nachfolgendem Erbrechen. Das Sausen und
Rauschen wie von einer Lokomotive oder einem Wasserfall und das
Singen, Spielen und Posaunen bestehe wie früher. Manchmal klinge es
nur „la la la“ oder „hu hu hu“; aber meist höre sie alle möglichen Lieder:
„Mariechen sitzt weinend im Garten“, „Willst Du werden ein Rekrut“ u. a.
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Original fro-m
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Gehörstäuschungen bei Ohrerkr ankungen.
289
Manchmal höre es sich ganz schrecklich an und sei viel lästiger wie früher,
dann bekomme sie auch ziehende Schmerzen im Kopfe; meist sei es aber
nur ganz leise, so daß sie Obacht geben müsse, um es überhaupt zu hören;
es sei wie weit weg, es störe sie nicht mehr so. Ihre Stimmung sei öfter
niedergedrückt, zuweilen sei 1 sie geradezu lebensüberdrüssig, „so traurig,
daß sie flennen könnte“. Sie rege sich noch leichter auf als früher; sei
auch viel reizbarer geworden, „kampele“ sich oft schon wegen geringster
Kleinigkeiten und vertrage keinen Widerspruch; wenn sie aufgeregt sei,
werden die Stimmen lauter. Im Sommer sei es gewöhnlich besser als im
Winter; sie fühle sich überhaupt im Sommer besser, so viel freudiger.
Sprechen habe sie nie gehört. Sie wisse genau, daß es krankhaft sei „von
den Nerven oder vom Blut“. Zuweilen fürchte sie, daß sie noch einmal
krank im Kopf werde, geisteskrank, schwermütig. Ihr Interesse habe nicht
nachgelassen, ihr Gedächtnis sei gut. Aber sie könne nicht mehr so ange¬
strengt arbeiten wie früher und ermüde leicht, sie besorge nur noch ihre
Häuslichkeit.
Psychisch: leicht erregt, schreckhaft, redselig; sonst nicht auffällig.
Somatisch: L. Pupille > r. Schwache Schleimhautreflexe. Lebhafter
Kieferreflex. Puls nicht ganz regelmäßig. Blutdruck etwas erhöht.
Ohrbefund unverändert wie früher. Behandlung bringt vor¬
übergehende Besserung.
Im Vordergrund des Erankheitbildes stehen bei allen drei Kranken
Gehörstäuschungen. In den beiden ersten Fällen finden sich neben ihnen
- aber von anscheinend mehr untergeordneter Bedeutung — noch
andere Störungen, bei der zuletzt beschriebenen Kranken imponieren
die Halluzinationen geradezu als isolierte Sinnestäuschungen einer
geistig Gesunden. Es sind hier aus einfachen Akoasmen hervor¬
gegangene Halluzinationen von Musik, Melodien und Liedern,
die fast von Anfang an als krankhaft angesprochen wurden und
in keiner Weise auf das psychische Geschehen, die Stimmung,
die Arbeitsfähigkeit Einfluß gewonnen haben. Auch bei der
ersten Kranken haben sich die Halluzinationen erst allmählich
aus Akoasmen entwickelt. Aber sie wurden zunächst nicht als krank¬
haft erkannt; sie waren so überzeugend, daß die Kranke völlig
unter dem Einfluß der St imm en stand und tat, was sie ihr auftrugen.
Sie lebte in lebhafter Angst; um sich den Stimmen zu entziehen,
wechselte sie zweimal die Wohnung, da sie glaubte, es ginge bei ihr
um. Die Halluzinationen waren nicht wie bei der letzten Kranken
indifferent, sondern kleideten sich in Schimpfworte, in Warnungen
und Drohungen. Daneben bestand und besteht auch wohl jetzt noch
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290 Klieüefcerger,
Gedankenlautwerden. Die Angst klang allmählich ab, es trat eine
Gewöhnung und eine gewisse Einsicht in das Krankhafte ein, die
Kranke „kümmerte sich nicht mehr“ um das, was sie halluzinierte.
Anders liegen die Verhältnisse bei dem Kranken M. Hier sind die
Stimmen angeblich im Anschluß an einen Unfall plötzlich aufgetreten;
ihre krankhafte Natur wird zwar wohl erkannt, aber es besteht keine
rechte Einsicht, der Kranke macht einen indolenten, etwas defekt«!
Eindruck.
Als Lokalisation der Halluzinationen wird von allen Kranken das
Ohr bezeichnet; nur die Kranke K. hat zunächst ihre Stimmen nach
außen projiziert, sie aber dann mit beginnender Einsicht wie die
andern „ins Ohr“ verlegt.
Die Kranke K. unterschied verschiedene, von mehreren Personen
stammende Stimmen, der Kranke M. grobe Männer- und feine Frauen¬
stimmen. Die Halluzinationen schienen unbeeinflußbar und unab¬
hängig vom Willen des Halluzinierenden; es bestand nur insofern
ein Abhängigkeitsverhältnis von der Aufmerksamkeit, als die Hallu¬
zinationen bei allen für gewöhnlich stärker auftraten, wenn sie allein
waren, abends und nachts.
Den Beobachtungen gemeinsam ist der offensichtliche Zusammen¬
hang zwischen Halluzination und Ohrerkrankung. Es finden sich
durchweg chronische Veränderungen der Trommelfelle und Tuben-,
bzw. Mittelohrkatarrh. Die Behandlung des Ohrleidens bringt, soweit
wir das verfolgen konnten, Besserung. Der Kranke M. war schon
nach 4tägiger Behandlung frei von Halluzinationen und Akt asmen.
Woher kommt es nun, daß unsere Kranken halluzinieren? In
Anbetracht der Entstehung und der Art der Sinnestäuschungen sowie
in Hinsicht auf ihre Beeinflußbarkeit durch Ohrbehandlung kann
in den mitgeteilten Fällen den peripheren Einwirkungen eine ursäch¬
liche, beziehungweise auslösende Bedeutung für das Zustande¬
kommen der Halluzinationen nicht abgesprochen werden. Es ist
andererseits klar, daß die Ohrerkrankung nicht die alleinige Ursache
sein kann, sonst müßten ja solche Fälle von Gehörstäuschungen unge¬
mein häufig sein, während doch in der Tat nur ein verschwindend
kleiner Prozentsatz von Menschen auf diese Beize mit Sinnestäuschun¬
gen reagiert. Es handelt sich vielmehr offenbar um Leute, deren
Sinneszentren sich in einem Zustand gesteigerter Erregung befinden,
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Gehörstäosclrangen bei Ohrerkrankungen.
291
und die, je nach der Intensität dieser Erregung, eines mehr oder weniger
großen Zuwachses bedürfen, um Sinnestäuschungen zu empfinden.
Hier scheint die Arteriosklerose eine besondere Bolle zu spielen.
Unsere Patienten sind durchweg bereits ältere Individuen, bei denen
schon allein die übrigen subjektiven Beschwerden den Verdacht der
beginnenden Hirnarteriosklerose erwecken. Die Kranke K. hat
zweifellos einen psychotischen Zustand durchgemacht — wir möchten
am ehesten an eine präsenile HaJluzinose denken —, deren akute
Symptome abgeklungen sind und bei der an die nunmehr chronische
Halluzinose eine gewisse Gewöhnung eingetreten ist. Bei dem Kranken
M. bestand eine Herzverbreiterung, eine hochgradige periphere Arterio¬
sklerose, und auch das gesamte psychische Verhalten bei der Unter¬
suchung wies auf eine Hirnschädigung im Sinne der Arteriosklerose
hin. Sein wenige Monate darauf erfolgter Tod durch Suizid macht
den Verdacht der Geisteskrankheit noch größer. In gleicher Weise
sind bei der Kranken G. die Erhöhung des Blutdrucks, die Unregel¬
mäßigkeit der Herztätigkeit, die Schwindelanfälle, die zunehmende
Reizbarkeit und die sonstigen Stimmungsanomalien zu deuten.
Ich habe bereits früher gelegentlich eines Vortrages über isolierte
Gehörstäuschungen 1 ) erwähnt, daß in der Mehrzahl solcher Fälle
wohl ein arteriosklerotischer Prozeß in Frage kommt. Borihoeffer x )
und Förster 1 ) haben in der Diskussion zu meinem Vortrag ähnliche
Beobachtungen angeführt und sich gleichfalls für den Zusammen¬
hang dieser Gehörstäuschungen mit arteriosklerotischen Vorgängen
ausgesprochen. Zu diesen Fällen gehört auch der Kranke, über den
Stein 2 ) berichtet, ein 78jähriger Mann, der ein wirkliches Gesprächs¬
wort oder einen kurzen Satz etwa 20 mal im Kopfe, allmählich unter
Begleitung von Melodien sich wiederholen hörte; bei der Unter¬
suchung fand sich im rechten Ohr ein Ceruminalpfropf, nach dessen
Entfernung die Halluzinationen innerhalb weniger Tage verschwunden
waren.
Es kann natürlich ebenso durch andere Hirnerkrankungen das
Auftreten von solchen Gehörstäuschungen begünstigt bzw. die Dis-
M Referat, Allg. Zeitschr. f. Psych. Bd. 66, S. 914 u. 915.
*) Stein, Über eine besondere Form von Gehörshalluzinationen bedingt
durch Cerumenpfropf. Prager med. Woch. 07 Nr. 33. Ref. Jahresbericht
t Neurol. u. Psych. Bd. 11, S. 1118.
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292
Klieneberger,
Position zu ihrem Auftreten geschaffen werden. So berichtet Gold¬
stern *) von einer beginnenden Paralyse, bei der als erste psychische
Störung neben einer geringen Gedächtnisschwäche isolierte Gehörs¬
täuschungen bestanden.
„Bei der 49 jährigen Frau W. traten allmählich folgende Gehörs -
halluzinationen auf: sie hörte besonders nachts andauernd Kindergeschrei,
das wie aus der Ferne kommend klang. Andererseits vernahm sie Me-
lodieen singen, deren Text sie nicht verstand, die sie aber der Melodie
nach als ihr bekannte Lieder identifizierte. Die objektive Untersuchung
ergab einen Befund, der für eine incipiente Paralyse sprach, als deren
erstes psychisches Zeichen neben geringer Gedächtnisschwäche die Hallu¬
zinationen angesehen werden konnten. An den Trommelfellen, besonders
dem rechten, befanden sich Veränderungen mit Kalkeinlagerung, die einen
Reizzustand des akustischen Apparates verursachten, der sich auch in
dem Hören von allerlei Geräuschen kundgab.“ „Die Frau, die sonst
psychisch noch ganz intakt und urteilfähig war, .... hielt sowohl das
Schreien wie das Singen zunächst für wirklich." „Erst der wiederholte
Zuspruch und die genaue Erklärung seitens des Arztes, für die die Frau
sehn zugänglich war, überzeugte sie ganz von der Krankhaftigkeit und
der Subjektivität der Wahrnehmungen.“
Es kommen aber offenbar, abgesehen von organischen Hirn-
erkrankungen und von arteriosklerotischen Veränderungen, die viel¬
leicht zu Gehörstörungen besonders disponieren, neben und auch außer
ihnen noch andere disponierende Momente für das Zustandekommen
solcher Gehörstäuschungen in Betracht. So ist es gewiß kein ZufalL
daß sich bei der Kranken K. eine schwere erbliche Belastung findet
(auch bei einem Teil der Uhthoffs chen Fälle von Gesichtstäuschungen
war der Einfluß einer hereditären Belastung nachweisbar), und die
Disposition der Kranken G. zu psychischen Störungen erhellt nicht
nur daraus, daß sie im Anschluß an ein Wochenbettfieber einen
psychotischen Zustand durchgemacht hat, sondern sie geht aus ihrer
ganzen, ans Manisch-depressive erinnernden Veranlagung hervor. Daß
bei solchen disponierten Personen schon geringe Anlässe genügen, um
Halluzinationen hervorzurufen, zeigt nachstehender Fall, den Hudo-
vernig 2 ) aus der psychiatrischen Klinik in Budapest mitgeteilt hat.
•) Goldstein, Zur Theorie der Halluzinationen. Studien über normale
und pathologische Wahrnehmung. Arch. f. Psych. Bd. 44. Heft 2 u. 3.
*) Hudovernig, Ein Fall von peripher entstandener Sinnestäuschung
Ztrbl. f. Nervenheilk. u. Psych. 1906, S. 255.
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Gehöretäuschungen bei Ohrerkrankungen. 293
Es handelt sich um einen neuropathischen erblich stark belasteten
18jähr. Jüngling, welcher angab, seit 14 Tagen „ständig, namentlich aber
des Nachts, unangenehme Akoasmen zu haben, indem er neben einem
ununterbrochenen dumpfen, dem Murmeln ähnlichen Geräusch zeitweise
eine menschliche Stimme hört, welche seine eigenen Gedanken im Momente
des Entstehens sofort mit lauter Stimme wiederholt. Diese Stimme ist
ihm derart unangenehm und quälend, daß sie ihn in seinem Tun und Lassen
störend beeinflußt, ihm selbst die Lust zum Essen raubt und ihn nachts
— wenn die Stimme besonders stark tönt — am Schlafen verhindert.“
..Nach einer Woche haben die Halluzinationen an Intensität nur zuge¬
nommen, mit der Modifikation, daß sie links ausgesprochener wurden;
sonst aber zeigte sich keine Spur einer psychischen Erkrankung.“ „Die
Untersuchung des Ohrs ergab eine große Menge Cerumens im linken äußeren
Gehörgang, ferner fand sich daselbst ein bis an das Trommelfell gepreßter
harter Wattepfropf; außerdem war an den Ohren weder eine organische
noch eine funktionelle Abweichung nachweisbar.“ „Nachdem der Watte¬
pfropf entfernt war, haben die Akoasmen des Kranken sofort bedeutend
nachgelassen, und nachdem es ihm noch einige Tage hindurch schien,
als ob er ein sehr entferntes Murmeln hören würde, hörten dieselben
gänzlich auf.“
In unseren Fällen kommen beide Momente in Betracht, die
Himarteriosklerose und die psychopathische individuelle Disposition.
Die erste Kranke ist erblich belastet und (arteriosklerotisch) psycho¬
tisch, der zweite ist arteriosklerotisch defekt und progredient geistes¬
krank, die dritte hat bereits mehrfach eine psychische Erkrankung
durchgemacht, sie zeigt manisch-depressive Züge und Symptome
einer beginnenden Gefäßverkalkung. In Kombination mit peripheren
Ohrerkrankungen treten bei allen Gehörstäuschungen auf, die im
Krankheitbild dominieren und ihm so eine besondere Färbung ver¬
leihen. Bei Behandlung des Ohrenleidens — wenn es gelingt, die
periphere Störung zu beseitigen — klingen die Gehörstäuschungen ab.
Diagnostisch ist wichtig, daß man sich auch bei isoliert scheinenden
Halluzinationen nicht mit dem Feststellen etwaiger peripherer Er¬
krankungen begnügt, sondern daß man nach anderweitigen krank¬
haften Störungen forscht. Denn es darf aus dem Vorhandensein von
Gehörstäuschungen der Schluß gezogen werden, daß noch andere
Störungen zugrunde liegen, daß es sich um psychopathische oder
psychotische Menschen handelt, oder daß eine beginnende Hirn¬
arteriosklerose oder eine andere Hirnerkrankung im Anzug ist.
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Über die Mechanik der Wahnbildnng 1 ).
Von
Dr. med. et phil. Erwin v. Niessl-Mayendorf, Priv.-Doz. in Leipzig.
Der kühne Vorstoß, welchen Th. Meynert aus dem Gebiete der
Gehirnanatomie und Gehirnpathologie in das der Psychiatrie unter¬
nahm, ist, wenn man von schwächlichen Anläufen absieht, ohne Nach¬
folge geblieben. Wernicke s selbständige Deutung der Psychosen
gründete sich auf Gedankenreihen, welche sich innerhalb der von
Meynert weit gezogenen Grundlinien auf keine speziellere Kenntnis
vom Gehimbau beriefen oder aus dieser neue funktionelle Folgerungen
ableiteten.
Der Grund für das Verlassen gehirnanatomischer Anwendungen
in der Psychiatrie liegt nicht, wie man nach dem schneidig vorge¬
tragenen, aber blanken Unsinn von dem Bankrott der Gehirnanatomie
wähnen möchte, an der Unzulänglichkeit anatomischer Prämissen
und der Unmöglichkeit, die sogenannten psychopathischen Sym¬
ptome aus diesen zu erklären, sondern an einseitiger Methodik
an der fast ausschließlichen Beschränkung der Betrachtung auf die
Hirnrinde, an einer nur ungenügenden und daher wenig präzisen
Analyse und Definition der psychischen Elemente selbst.
So hat Nißl den Gesichtspunkt der pathologischen Veränderung
der kortikalen Ganglienzellen in ihrer feineren und feinsten Struktur
bei einer zu gleichmäßigen Würdigung der Zellindividuen verschie¬
dener Rindenregionen einseitig festgehalten. Die histologische Be¬
schaffenheit des einzelnen Zellbildes kann nie ein klinisches Symptom
erklären, erst der Nachweis dieser Abnormitäten an ganzen Orga¬
nisationen in der gesamten Rindenfläche vermag vage Bezie¬
hungen zu, nicht aber scharf gegenständliche Vorstellungen von dem
Zustandekommen psychopathischer Erscheinungen zu geben. Diese Be¬
ziehungen scheinen eine Antwort auf die Frage, warum sich krank-
x ) Nach einem auf der Jahresversammlung des Deutschen Vereins
für Psychiatrie gehaltenen Vortrage. S. diese Ztschr., Bd. 68, S. 550.
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Original fro-m
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Uber die Mechanik der Wabnbildung. J295
hafte Erscheinungen überhaupt entfalten müssen, nicht aber warum
sie in dieser oder jener symptomatischen Gestalt zu¬
tage treten. Bei dem heute über dem Verhältnis zwischen Ganglien¬
struktur zur Ganglienfunktion schwebenden Dunkel vermag nicht
einmal bezüglich der einzelnen Rindenzelle aus dem scheinbar proto¬
plasmatischen abnormen Bilde, abgesehen natürlich von dem Zerfall,
der weitgediehenen Schrumpfung oder der Verkalkung des Zell¬
körpers, etwas für den Zustand der vollen, der abgeänderten, der
verlorenen Funktion geschlossen werden. Aus der Tatsache, daß
Vergiftungen in ihrer Wirkung auf die Struktur des Ganglienleibes
Veränderungen hervorrufen können, denen ähnlich, welche man
an den Rindenkörpern von Geisteskranken, auch ohne nachweisliche
Intoxikation wahrnehmen kann, schloß man, daß die Veränderungen
der Rinde bei den Psychosen noch unerkannten Ursprungs auf In¬
toxikationen beruhen müßten, wenn man dieselben bisher auch
nicht nachweisen konnte. Man triumphierte in kritikloser Verall¬
gemeinerung mit der Proklamation der nicht auf manifeste Infektion
zurückführbaren Psychosen als auf Intoxikationskrankheiten, als ob
mit dieser willkürlich hingestellten Meinung auch nur ein Schritt in
wirklicher Erkenntnis nach vorwärts getan wäre.
Gelänge es, selbst für jede Geisteskrankheit ein entsprechendes
Virus zu entdecken, so würde mit diesem nicht mehr, nicht weniger
als der ursächliche Faktor für das Auftreten der Geisteskrankheit als
solcher, nicht aber eine Erklärung ihrer speziellen Symptomatologie
gegeben sein. Auch das von Nißl und Alzheimer ja bis zu den
extremsten histologischen Subtilitäten gesteigerte, pathologische,
sowie von Ramm y CajcU für das normale Gebiet geförderte Detail¬
wissen erweist sich in Hinblick auf die Deutung psychischer und
psychopathologischer Erscheinungen als durchaus steril, solange nicht
die anatomischen und funktionellen Beziehungen der
Details zueinander, solange nicht die Z usammenhänge
geklärt werden können, denn aus ihnen sind erst Vorgänge zu
begreifen, die sich als psychische Einheiten darstellen, und erhellt
die funktionelle Bedeutung des einzelnen Elementes.
Im Gegensatz zu der naiven Hoffnungsfreude, mit einer heute noch
ungeahnten Verfeinerung der histologischen Technik den Schleier vom
funktionellen Geheimnis zu lüften, rückt die Erforschung der viel
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296
v. Niessl-Mayendorf,
gröberen Zusammenhänge im Großhimbau schon heute einem Paralle-
lismus zwischen morphologischer Bildung und seelischer Erscheinung
weit näher.
Eine vollkommene Kenntnis der inneren Konstruktion der
Hemisphären würde aber gleichfalls noch nicht hinreichen, um aus
ihrer Betrachtung allein Schlüsse für die Mechanik der psychischen
Vorgänge abzuleiten. Pathologische Anatomie, Psychologie und
Morphologie müssen sich in ihren Ergebnissen ergänzen, um dort,
wo dies der Fall ist, wo es möglich wird, psychologische mit morpho¬
logischen und pathologischen Tatsachen zur Deckung zu bringen,
Gesetze der Gehirnmechanik zu suchen, innerhalb deren
Grenzen Formen und Ablauf des psychischen Geschehens notwendig
gegeben sind.
Im folgenden wird der Versuch unternommen auf Grund der
Voraussetzungen, welche der heutige Stand unseres Wissens in den
beregten drei Forschungsgebieten an die Hand gibt, eine Anschau¬
ung von dem Zustandekommen des Irreseins, welches in Wahnbildung
und Halluzination, diesen beiden einem einzigen Mechanismus ent¬
springenden Phänomenen, klinische Form gewinnt, zu entwickeln.
Die Divergenz der Meinungen über Wesen und Bedeutung der
Großhirnfunktionen schwindet in der Überzeugung von der funk¬
tioneilen Differenz der einzelnen Hemisphärenteile. Die Vulnerabilität
bestimmter Territorien bei umschriebener Hirnverletzung ist zu greifbar,
die ausgelöste Symptomatologie zu grell und konstant, um nicht
einen Zusammenhang zwischen gestörter oder zerstörter Örtlichkeit
und der verlorenen Fähigkeit annehmen zu müssen.
Diesen, nur kleine Areale einnehmenden Großhimabschnitten
steht das übrige Großhirn gegenüber, dessen Zerstörung, selbst in
großem Umfange mit keinen sicher nachweisbaren und regelmäßig
zu erwartenden Krankheitzeichen antwortet, unter der Bedingung,
daß die zu dem Kortex der ersterwähnten Regionen ziehenden Leitungs¬
bahnen unberührt bleiben.
Es ist Broadbents Verdienst in England und nach ihm Flechsig s
in Deutschland gewesen, die funktionellen Unterschiede dieser Rinden¬
zonen als Systeme gewürdigt zu haben, und wenn in den folgenden
Darlegungen der Anschauungsweise genannter Forscher völlig Fremdes,
ja Entgegengesetztes bezüglich ihrer funktionellen Attribute vorge-
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Ober die Meohanik der WahnbUdung.
297
braeht wird, so baut sich diese Erkenntnis auf dem erstgewonnenen
Fundament des funktionellen Unterschiedes auf.
Vor allem drängt sich aber die Frage auf, ob die berührte Gegen¬
sätzlichkeit des Verhaltens bei pathologischen Anlässen in einer Ver¬
schiedenheit des Bindenbaues und dessen Verbindungen oder einer
territorialen Verschiedenheit im Gefüge der Leitungsbahnen im Hemi¬
sphärenmark, in Knotenpunkten und Kreuzungen derselben gegeben sei.
Zur Entscheidung dieser Frage dürfte die auf folgende drei Ge¬
sichtspunkte sich richtende Aufmerksamkeit beitragen: 1. ob reine
Rindenerkrankung der Fokalgebiete sich symptomatisch bemerkbar
mache; 2. ob der Rindenbau der Fokalgebiete ein von der übrigen
Hirnrinde entschieden differenter sei, und ob sich diese histologische
Differenz mit der ausgefallenen Leistung in irgend welche Beziehung
bringen lasse; 3. ob sich aus der anatomischen Betrachtung des
Hemisphärenmarks der Fokalgebiete Anhaltpunkte für eine der¬
artige Anordnung von Leitungen ergäben, wie wir sie zur Erklärung
der hervortretenden Symptome ungeachtet des besonderen Rinden¬
baues zu fordern hätten, v. Monakow stützt sich bei Heranziehung
der Diaschisis als des wesentlich kausalen Momentes neben den nach¬
barlich und weiterhin provozierten Zirkulationsstörungen und dyna¬
mischen Veränderungen hauptsächlich auf die Lösung derartig ge¬
dachter Verbindungen. Während in der Literatur im ersten Auf¬
blühen klinisch-anatomischen Denkens der reine Rindenherd eine große,
»ft ausschlaggebende Rolle gespielt hat, ist man, sobald die Be¬
trachtung am Durchschnitt oder gar am durchsichtigen, gefärbten
Serienschnitte allgemeiner und gründlicher gepflegt wurde, zu der
Einsicht gelangt, daß die früheren Rindenherde, allzu tief in das
Heraisphärenmark eindringend und Verbindungen zwischen ferneren
Rindenpunkten gleichzeitig zerreißend, für die Zuerkennung phy¬
siologischer Attribute an bestimmte Rindenregionen als unbrauchbar
abzulehnen seien.
ln seltenen Fällen sind aber auch in jüngster Zeit noch Läsionen
zur Beobachtung gelangt, welche, der aufgeworfenen Kritik stand¬
haltend, die Rindenschale allein eigriffen hatten und in solcher Distanz
von den subkortikalen langen Assoziationsleitungen sich begrenzten,
daß an eine Einwirkung auf dieselben kaum gedacht werden konnte.
So brachte Bonhoeffer in diesem Jahre eine, nur auf die Rinde der
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298
t. .Niessl-Mayendorf,
linken temporalen Querwindungen und deren nächste Umgebung
beschränkte Erweichung mit dem klinischen Bilde einer ausge¬
sprochenen sensorischen Aphasie zur Sprache, und Oppenheim ge¬
wahrte an einem über der motorischen Sprachregion Trepanierten,
daß, wenn ein Tupfer aufgelegt wurde, welcher die pialen Gefäße
dieser Rindengegend komprimierte, der Kranke nicht mehr sprechen
konnte, welcher Zustand sofort verschwand, wenn der Tupfer wieder
entfernt wurde.
Die Entdeckung der Tatsache von dem histologisch verschiedenen
Aufbau der Fokalrinden fällt mit der Erkenntnis der örtlichen Ver¬
schiedenheiten der Großhirnrinde durch Meynert zusammen. Da?
Gesetzmäßige dieser Verschiedenheit ist in dem Zusammenhang einer
geschlossenen Anschauung über die Funktionen des Großhirns zum
erstenmal von Flechsig betont und auf das Vorhandensein auffallend
großer Pyramiden hingewiesen worden. Mit Unrecht ist dieser Be¬
hauptung Flechsigs widersprochen worden; Pyramiden von der
Größe jener solitären Elemente sind, wie die Messungen GampbeJk
festgestellt haben, nur in den kortikalen Sinneszentren Flechsigs
nachweisbar.
Der charkteristische Bau der Fokalrinden, welche mit den korti¬
kalen Sinnessphären Flechsigs als im großen und ganzen als identisch
betrachtet werden dürfen, kündigt sich im Weigertschen Übersichts¬
bilde ganzer Hemisphärenschnitte durch den intrakortikalen Tan¬
gentialfaserreichtum unverkennbar an. Eine beiläufige Demarkierung
dieser Rindenfelder ist an solchen Präparaten, und zwar an Durch¬
schnitten fast jeder Richtung, dem Kenner möglich.
In proportionalem Parallelismus zu dieser Abundanz horizontaler
Markfäserchen befindet sich das Anwachsen der Zahl jener kleinen
Zellelemente, welche in jeder Rindenregion die vierte Schicht kon¬
stituieren, in der Fokalrinde diese* Schicht jedoch derart verbreitern,
daß sie durch Einreihen jener großen Pyramiden in gewisser Schnitt¬
richtung gleichsam gedoppelt erscheint, um die zwischen den ein¬
dringenden Marksäulen freibleibenden Räume in jeder Rindenhöhe
dicht zu erfüllen. Das zytoarchitektonische Strukturbild verliert
infolge der allörtlichen Vermehrung der kleinen Nervenkörper das
geordnete Aussehen der unschwer erkennbaren Sonderung in Schichten,
wie sie in der Rinde der stummen Himteile hervortritt.
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Uber die Mechanik der WahnbUdtmg.
299
Das wesentlichste Kennzeichen der Fokalrinde ist, sobald die
Grundlinien in der Anordnung der Zellkörper im Strukturbilde durch«
blickt werden, nicht eine Verschiedenheit dieser Anordnung, nicht
das Erscheinen besonderer Zelltypen, sondern eine Steigerung im
Wachstum des gesamten Rindenbaues sowie des einzelnen Elementes,
eine anscheinende Vermehrung dieser, und Vergrößerung jener Nerven¬
körper.
Endlich stellt sich der Leitungsmechanismus des Hemisphären¬
marks unter den Rindengegenden der Foci an Pfeifer!-Präparaten
in klaren, überzeugenden Bildern dar. welche das Einstrahlen kom¬
pakter, kräftiger Faserzüge aus den Stammganglien erkennen,
Knoten- und Kreuzungspunkte langläufiger subkortikaler Assoziations-
biindol jedoch vermissen lassen.
Diese drei, den Erfahrungen der Pathologie und Anatomie ent¬
nommenen Tatsachen weisen auf die H i r n r i n d e, als auf den Ort
des Zustandekommens jener Erscheinungen hin, dessen Ausfälle als
charakteristische Symptome dem Kliniker imponieren.
Es wird nun zu untersuchen sein, welcher psychische Charakter
diesen Erscheinungen eignet, um aus der Betrachtung aller Feinheiten
des inneren Gefüges der Fokalrinde zu einem Schlüsse zu gelangen,
welcher auf die Frage, ob dieses Instrument zu solcher Leistung be¬
fähigt sei, eine mehr minder bestimmte Antwort gibt.
Die älteren Untersucher, welche die bei Läsion der Fokalrinde
aufgetretenen Krankheitzeichen zuerst beobachtet und geschildert
haben, verbanden mit ihnen einen sehr prägnanten Begriff, indem sie
von dem Verluste bestimmter Gedächtnisspuren, Er¬
innerungsbilder und Vorstellungen sprachen.
Eine solche Deutung der Ausfallsymptome erschien Pierre Marie
bei seinem Versuch einer Revision der Aphasielehre als ganz unge¬
nügend, und v. Monakow 1 ) spottete der psychologisch-anatomischen
Betrachtungsweise als einer naiven, welche „zwei einander fremd
segenftberstehende Gesichtspunkte, den anatomisch-physiologischen
und den vorwiegend auf Selbstbeobachtung beruhenden psycholo-
M p. Monakow: „Über Lokalisation der Hirnfunktionen,“ 1910.
(Bei Bergmann) Vortrag, geh. auf der Naturforscherversammlung zu
Königsberg.
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300
v. Niessl-Mayendorf,
gischen, miteinander vermenge“. Fernere Gegenaigumente wider die
aus dem pathologischen Himbefund geschlossene Art der Funktions¬
störungen erblickt v. Monakow in der nur kurzen Dauer des ursprüng¬
lich aufgetretenen Symptomenkomplexes, in dem meist elementaren
Charakter des dauernd zurückbleibenden Restes der Ausfallerschei¬
nungen, in dem Ausfall nur bestimmter Komponenten einer ner¬
vösen Funktion, welcher Ausfall sich niemals auf eine ganze abgerun¬
dete Funktion selbst erstrecke. „Jedenfalls“, schließt v. Monakm .
„sind bei begrenzten kortikalen Zerstörungen unverkennbare psychische
Störungen im Sinne eines Ausfalls von Vorstellungen* als Dauer¬
erscheinungen bis jetzt mit voller Bestimmtheit, d. h. ohne künstliche
Interpretation, nicht zu erkennen.“ Die physiologischen Vorgänge
in den Fokalrinden erscheinen v. Monakow unter den vagen Bildern
„einer ersten Aufreihung von Sinnesreizen“ oder „einer Realisation
nervöser Akte usw.“
Befremdet in diesen Darlegungen die Behauptung, daß, trotz
zweifellosen Erweises Jahre hindurch bis zum Tode bestehender
Aphasien und Asymbolien durch umschriebene Herderkrankung der
fraglichen Rindenbezirke der Fokalrinde nur Funktionen elemen¬
taren Charakters zugeschrieben werden dürfen, so überrascht die
unklare Fassung, welche diesen elementaren Funktionen gegeben wird.
An einer Stelle offenbart uns jedoch v. Monakow durch Hinzufügung
spezieller Zusätze innerhalb einer Klammer die gemeinten elementaren
Ausfallsymptome, welche im Gegensatz zu den Ausfällen „ganzer
abgerundeter Funktionen“, „psychischer Störungen im Sinne von
Vorstellungen“, persistieren sollen. Als solche elementare Störungen
werden „Lähmungen“, „Anästhesien“, „Hemiopien“ genannt. Aber
auch diese Behauptung dürfte den Gehirnpathologen nicht ohne
weiteres einleuchten. Von kortikalen Herderkrankungen abhängige
Bewegungstörungen tragen fast nie den Charakter eines reinen
und unkomplizierten Motilitätdefekts. Dasselbe gilt von den
Anästhesien. Nahezu regelmäßig, ja für den kortikalen Sitz der
Erkrankung geradezu charakteristisch, werden kortikale Paresen oder
Anästhesien von Astereognose und Störungen der Lageempfindung
begleitet, und es ist keineswegs erweisbar, daß die letzteren Symptome
flüchtiger sind als die ersteren. Auch Paresen können, wie uns Ladame
— v. Monakow mit kasuistischem Belege und Horsley nach Exstir-
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Ober die Mechanik der Wahnbildung.
301
pation des linkseitigen kortikalen Armzentrums gezeigt haben, wieder
vollends verschwinden, und auf der anderen Seite stehen zuverlässig
festgestelite, bis zum Tode ungebessert währende Aphasien und
Asymbolien. Die bilaterale homonyme Hemianopsie ist allerdings
ein elementares, unkompliziertes Ausfallsymptom ohne jede Neigung
zu Restitutionen, in stabilen Fällen findet nur ganz selten eine spätere
Erweiterung der lichten Gesichtsfeldhälfte nach der verlorenen Seite
hin und kaum je ein vollkommener Wiederersatz dieser statt 1 ).
Aber eingeräumt, daß zwischen Lähmungen, Anästhesien, Hemio-
pienund aphasisch-asymbolischen Symptomen kein gradueller, sondern
ein prinzipieller Unterschied ihrer Persistierbarkeit bestünde, so würde
der aus dieser Tatsache von v. Monakow gezogene Schluß, daß die
Fofealrinden die eigentlichen Werkstätten der ausgefallenen elemen¬
tareren Funktionen, die aphasich-asymbolischen Erscheinungen
jedoch auf entferntere Funktionsunterbindungen, etwa durch Dia-
sehise, zurückzuführen seien, keinesfalls zwingende Geltung haben.
Eine viel näher liegende Erklärungsmöglichkeit, welche uns der wenig
ermutigenden Aufgabe überhebt, die in das Unbestimmteste führenden
Linien der Diaschisistheorie zu ziehen, wäre in einem von der Er¬
fahrung gefundenen, vielleicht aus dem Bau sich ergebenden physio¬
logischen Gesetz gegeben. Die Pathologie kortikaler Herde lehrt,
daß die Funktionen, deren Schädigung sich in aphasisch-asymbo¬
lischen Symptomen einer Extremitätenhälfte kundgibt, sich in j e
einer Hemisphäre abspielen müssen, während
die elementaren Funktionen nur in einer und
zwar der kontralateralen Hemisphäre ihre
physiologischen Ausgangspunkte besitzen 2 ). Es
gibt ein motorisches Sprachzentrum der linken und rechten Hemi¬
sphäre. ebenso muß der kortikale Sitz der Wortwahrnehmung bei dem
*) Das außerordentlich reichhaltige kasuistische Material über Hemi¬
anopsie bedarf noch vom Gesichtspunkt der Wiederherstellung des Seh-
defekts einer kritischen Sichtung, so daß von der Unmöglichkeit einer Resti¬
tution der Halbseitenblindheit heute noch nicht gesprochen werden kann.
*) Dieser Satz darf nicht dahin mißverstanden werden, daß für die
elementaren Funktionen nur in den kontralateralen Sinnesfoci eine ana¬
tomische Präformalion gegeben sei; es handelt sich im Gegensatz zu den
komplexeren Erscheinungen nur um die Verschiedenheit funktioneller
Grade.
Wiechrift für Psychiatrie. LXIX, 8 . 21
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302
v. Niessl-Mayendorf,
leichten Verschwinden der Worttaubheit sowohl links wie rechts
gedacht werden, und alles spricht dafür, daß die Macula links wie
rechts kortikal repräsentiert sei. Dies schließt natürlich eine gewöhn¬
liche funktionelle Uberwertigkeit der linkshirnigen Fokalgebiete
nicht aus. Die funktionelle Bahnung bei komplizierteren Funktionen
scheint demnach bilateral, für elementarere Leistungen nur
unilateral vorhanden zu sein.
So erklären sich die von v. Monakow angezogenen Erfahrungstat¬
sachen anders, einfacher und ungezwungener, indem die Restituier-
barkeit der aphasisch-asvmbolischen Symptome in der Mög¬
lichkeit eines allmählichen Eingeübt Werdens
der korrespondierenden rechtshemisphärigen
Rinde n felder zu suchen sein wird. Bemerkenswert
ist der Umstand, daß sich rechtseitige Tastblindheit bei der Zer¬
störung der linken kortikalen Handzone fast nie restituiert und so
oft das elementarere Ausfallsymptom der „Parese“ überdauert.
Die motorische Aphasie, als Erscheinung eines sicher kompli¬
zierteren Funktionsausfalls, bleibt stehen, während oft die anfäng¬
liche Zungen- und Lippenlähmung dem Zustand normaler Beweg¬
lichkeit weicht. Dies widerspricht auf den ersten Blick dem oben
von den Befunden der Pathologie abgeleiteten Satz sowie der von
v. Monakow behaupteten Persistenz elementarer Störungen. Ich
glaube, man muß bei der Verwertung der Restitutionserscheinungen
für die Lokalisation von Fähigkeiten zwei Dinge auseinander halten:
1. Die anatomische Anlage, 2. den durch die Gewohnheit bestimmten
Grad der funktionellen Bahnung sowie den Intensitätsgrad der Wider¬
standschwelle. Es ist zwar durch anatomische Anschauung der
Beweis erbracht, daß die rechten Netzhauthälften nur mit der rechten,
die linken nur mit der linken Sehsphäre des Großhirns durch direkte
Leitungen verbunden sind, nicht aber, daß der rechte Arm nur mit dem
mittleren Drittel der linken, nicht aber mit demjenigen auch der
rechten einen unmittelbaren Faserkonnex besitzt, da wir, abgesehen
von dem Hinüberstreichen der Erregungen über die Wege der Rücken¬
markskommissuren, außer einem gekreuzten Pyraraidenseitenstrang
auch einen ungekreuzten Pyramidenvorderstrang kennen. Die Parese
des rechten Armes wird sich daher zurückbilden können, die Hemi¬
anopsie kann durch kein Vikariieren anderer Fasersysteme zumVer-
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Ober die Mechanik der Wahnbildong.
303
schwinden gebracht werden. Unser Gesetz hat demnach nicht eine
absolute anatomische, sondern eine relativ physiologische Gültigkeit.
Dort, wo anatomische Verbindungen fehlen,
ist ein Vertreten natürlich unmöglich, dort,
wo sie jedoch vorhanden sind, kann der Grad
der Leichtigkeit einer solchen Vertretung von
dem Grad der funktionellen Bahnung abhän-
gen. D i e k o rt i k a 1 e n Repräsentationen der pe¬
ripheren Organe für die feinsten und schärf¬
sten Wahrnehmungen sind sicher anatomisch
bilateral angelegt.
Aber die Hypothese des vikariierenden Eintretens der anderen
Hemisphäre wird für v. Monakow zur Undurchführbarkeit und Un¬
möglichkeit, indem er sich Gedankengängen wie diesen hingibt:
„Ohne eine gewisse, in engerem Rahmen sich bewegende Kompensation
gröberer nervöser Mechanismen (durch bessere Ausnutzung bzw.
ergänzendes Auswachsen von Seitenästen mancher Leitungen) in
Abrede zu steUen, muß ich mich der Substitutionshypothese, die
so weit geht, daß sie Bildung neuer funktioneller Werkstätten an
einem der verloren gegangenen Funktion ursprünglich fremden Orte
verlangt, und gleichsam einen retrograden Ersatz von hochwertigen
Leistungen fordert und dies für Leistungen, zu deren Erwerb, wie
z.B. bei der Sprache, langjährige Übung und
ein in bestimmter Weise fortschreitender Ent -
wicklungsgang notwendig war, ablehnend verhal-
t e n.“ x )
Zweitens sei es unzulässig, neuen Ersatz von Funktionen Win¬
dungen zuzumuten, die nicht selten selber durch
Krankheit,Erschöpfung usw. bereits geschwächt
sind. Drittens kehrten hochwertige Leistungen, ohne daß Störungen
irgendwelcher Art zurückblieben, zurück, während man zu er¬
warten hätte, „daß jeder Neuerwerb von seiten anderer als hierzu
speziell befähigter Zentren doch nur auf Kosten der diesen
letzteren ursprünglich zugewiesenen Funk -
*) v. Moonakw: „Über die Lokalisation der Hirnfunktionen“. Wies¬
baden 1910. S. 17.
21 *
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v. Niessl-Mayendorf,
tionen übernommen werden könnte.“ Endlich
müßte der weitere Ausbau der Vikariierungshypothese, statt zur
Stütze, zur Verneinung selbst der phylogenetisch am meisten ge¬
sicherten glied- und sinnestopographischen Lokalisation im Großhirn
führen.
In der Anmerkung zu S. 17 führt v. Monakow weiter aus: „Eine
Reversion von in bestimmter Kontinuität rezipierten Eindrücken,
eine zeitliche Umgestaltung oder ein Umbau der Bestandteile der ver¬
schiedenen Erregungsordnungen ist wohl nicht möglich, es muß
vielmehr jede neue Gedankenverbindung, jede neue Handlung auf
früher eingeübte Erregungskreise sich auf¬
bauen und an solche sich anknüpfen, soll die Einheit der indivi¬
duellen Erfahrungen bzw. der persönlichen Erlebnisse nicht ausein¬
anderfallen. Wie soll da nun der „Verlust von Werkstätten für op¬
tische, akustische und andere Vorstellungen“, wie sollen da aus vielen
Lebensperioden stammende Erregungsprodukte, bzw. der sukzessive
angesammelte Erfahrungsinhalt, die Basis für jede neue Bereicherung
unserer Vorstellungen in so kurzer Zeit nachgeholt werden! Würde
es sich da nicht um einen funktionellen Anachronismus handeln?“
Eine Erklärung für die auf die örtliche Erkrankung folgende
„Funktionseinstellung“ sieht v. Monakow „in einer passiven Hemmung,
welche an selbst gesund gebliebenen, aber mit dem Herd durch Fasern
verbundenen Nervenzellenkomplexen ihren Angriffspunkt hat“. Aus
dem Umstande der funktionellen Hemmung, nicht
organischen Zerstörung, ergebe sich die Möglichkeit
einer Restitution.
Eine Kritik, welche mit der Wucht vierfacher Begründung nieder¬
reißt, wird durch eine positive, jedoch nichts weniger als naheliegende
oder notwendig sich aufdrängende und von klaren Vorstellungen ge¬
leitete Hypothese vervollständigt.
Es leuchtet ein, daß die Berechtigung dieser, ja überhaupt das
Bedürfnis, eine durch Spekulation erkünstelte Annahme so weit
herzuholen, nur dann vorliegt, wenn sich die Gründe des absprechenden
Urteils über die Vikariierungshypothsee als stichhaltig erweisen.
Man betrachte und prüfe daher im einzelnen, welche Anschauungs¬
weise über die Vorgänge der Gehimmechanik von v. Monakows Kritik
getroffen wird.
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Über die Mechanik der Wahnbildung.
305
v. Monakow hat offenbar nur die Substitutionsmöglichkeit durch
anscheinend normale Partien der erkrankten Hemisphäre selbst
vor Augen. Natürlich werden auch die durch den Herd selbst nicht
vollständig vernichteten oder tangierten Großhirnwindungen in ihrer
Funktion als geschädigt zu betrachten sein, und der Gedanke wäre
geradezu absurd, daß Rindengebiete mit ganz anderen anatomischen
Konnexen, als das ausgefallene, einzig durch das Ersatzbedürfnis eine
funktionelle Befähigung erwürben, welche aus ihrem Bau und ihren
Verbindungen nicht erklärbar wäre. Alle dieser Substitu¬
tionshypothese von v. Monakow gemachten Vorwürfe haben daher
ihre volle Berechtigung.
Ganz anders steht aber die Sache, wenn man die zweite Möglich¬
keit einer Substitution in Betracht zieht. Die rechte Hemisphäre
zeigt einen mit der linken durchaus kongruenten Rindenbau und
kongruente Markfaserverhältnisse, sowie ihre leitenden Beziehungen
zur Peripherie den linken durchaus entsprechen. Ist es nicht
das natürlichste Postulat von der Welt, wenn
wir derselben Gestaltung auch die gleiche
Funktion zumuten? Zwischen beiden Hemisphären besteht
kein qualitativer, sondern nur ein quantitativer
Unterschied in den Funktionen. Das erhellt unzweifelhaft aus der
funktionellen Präponderanz der rechten oberen Extremität. Der
zentrale nervöse Mechanismus der linken oberen Extremität kann,
wie die Erfahrung des Tages zeigt, die feineren und feinsten Be¬
wegungskombinationen entwickeln. Es handelt sich aber hier um
einen gewöhnlich und normalerweise niedrigeren funktionellen I n -
tensitätsgrad nervöser Zentren, nicht um die Akquisition von
Leistungen, welche diesen zentralen Werkstätten ursprünglich fremd
waren. Gerade das Beispiel der Sprache, welches v. Monakow heran¬
zieht, beweist, daß eine hochwertige Funktion von Gehirnpartien
geleistet werden kann, welche sicher nicht bei jedem Sprachakte die
Höhe ihrer Funktion entfalten, und es ist durchaus unwahrscheinlich,
ja mit klinischen Beobachtungen geradezu unvereinbar, nur der linken
Hemisphäre eine anatomische Präformation für die Produktion sprach¬
licher Äußerungen zuzusprechen. Rechts und links ist die Anlage
vorhanden, rechts und links wird diese ausgebildet, die Häufigkeit
peripher angesponnener und in der Folge auch assoziativer An-
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306
v. Niessl-Mayendorf,
regungen links übertrifft jedoch die Zahl derjenigen der rechten Seite,
weshalb auch die Erregbarkeitschwelle links eine bedeutend ge¬
ringere ist.
Wenn man die rechte Hemisphäre als ein schwächer funktionie¬
rendes Duplikat der linken auffaßt, dann sind auch alle weiteren
Bedenken v. Monakows, daß die Wiederherstellung der Funktion
Windungen zugemutet würde, die nie zuvor etwas mit dieser zu tun
gehabt hätten, hinfällig. Auch von einer anachronistisch-retrograden
Entwicklung der Funktion kann da natürlich keine Rede sein, denn
die rechte Hemisphäre entwickelt ihre Funktionen ebenso sukzessiv
als die linke. Der Anstoß zu einer Steigerung der Funktion zu jener
Höhe, welche den linkseitigen Zentren eigen ist, wird durch die patho¬
logisch bedingte Einstellung der Funktion in der linken Hemisphäre
gegeben, da sowohl von der linken als der rechten Körperperipherie
die Reize nun in die rechte Hemisphäre gelangen müssen. Es ist da
leicht begreiflich, daß in verhältnismäßig kurzer Zeit die wieder¬
gewonnene Funktion der verlorenen auf ein Haar gleichen kann,
zumal die identisch gebaute Rindenstruktur durch Übung, die ihr
einzig gefehlt hat, nun die ursprünglich nur der linken Hemisphäre
zukommende Funktionshöhe erreicht.
Während für die anscheinend gesunden Windungen der er¬
krankten Hemisphäre der Verdacht funktioneller Erschöpfung in
einer regelmäßig sich einstellenden Atrophie der ganzen Hemi¬
sphäre greifbar morphologischen Ausdruck gewinnt, spricht für die
funktionelle Intaktheit der herdfreien Hemisphäre der Mangel
jeder sichtlich geweblichen Rückbildung, ja
nicht selten eine auffallend sich hervordrängende übermäßige Größe
jener Windungen, welche mit den zerstörten der anderen Seite korre¬
spondieren.
Aus der strengen Rindenlokalisation, die in der rechten wie in
der linken Hemisphäre immer die gleichen kortikalen Felder für die
gleichen Funktionen in Anspruch nimmt, erhellt eine sehr entschiedene,
strikte Bejahung, nicht Verneinung„der phylogenetisch am meisten
gesicherten, glied- und sinnestopographischen Lokalisation im Gro߬
hirn“.
Diese durchaus einfache Anschauung der Großhirntätigkeit ent¬
hebt uns der Annahme, welche zur Aufstellung der Diaschisis ge-
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Ober die Mechanik der Wahnbildung.
307
nötigt hat, daß nämlich die ausgefallene Funktion nicht die Funktion
des anatomisch ausgefallenen Großhimgewebes und mit diesem dauernd
verloren sei, sondern auf einer vorübergehenden Unterbindung, auf
einer Hemmung selbst gesund gebliebener, aber mit dem Herd in
einem anatomischen Kontakt stehender Windungen beruhe. Die
Funktion des zerstörten Großhirnbezirkes kann, trotz ihrer Restitution,
als dauernd verloren betrachtet werden, weil sie ein z w e i t e s Mal
in den korrespondierenden Rindenpartien der
anderen Hemisphäre bereit liegt.
Lehne ich v. Monakom Diaschise als eine von den klinischen
Erscheinungen keineswegs geforderte Grundlage ab, so liegt mir ob,
zu untersuchen, inwieweit die geschmähte klinisch-anatomische
Methode den heute vorliegenden Tatsachen Rechnung trägt, inwieweit
sich die psychologische Definition des Lokalisierbaren bei den Ver¬
tretern dieser von derjenigen, welche v. Monakow gibt, unterscheide.
Lokalisierbar sind, wie gelehrt wurde, Vorstellungen i. e. die Erin¬
nerungsbilder der einzelnen Sinnesgebiete. Nach v. Monakow sind
die Vorstellungen komplizierte psychische Vorgänge und aus diesem
Grunde nicht lokalisierbar. Die Meinungsverschiedenheit beruht
hier offenbar auf einer verschiedenen Fassung des
Begriffs der Vorstellung. Dieselbe bedeutete ihrer
Genese nach im Sinne der herrschenden Lehre nichts weiter als das
funktionelle kortikale Residuum einer bei der ersten Wahrnehmung
der Gehirnrinde zugeführten Summe sinnlicher Reize, deren besondere
Anordnung in dem peripheren Aufnahmeorgan oder in der Zentral¬
stelle als „Lokalzeichen“, deren Vereinigung als Form zum Be¬
wußtsein gelangt. Der physiologische Hergang ist unschwer zu ver¬
sinnlichen. Eine Anzahl von Zellen des Aufnahmeorgans trifft ein
peripherer Reiz, welcher wieder zu einer Anzahl von Ganglienzellen
des kortikalen Zentralorgans geleitet wird, woselbst die gereizten
Elemente durch Fasern verbunden sind. Die Sinnesempfindung hängt
von der Beschaffenheit der peripheren Sinneszellen ab, das Lokal¬
zeichen von der Lage des gereizten nervösen Elementes in der peri¬
pheren Ausbreitung des Sinnesnerven, die Form von der besonderen
Gruppierung der gereizten Elemente. Das sind Postulat«, welchen in
dieser Allgemeinheit wohl kaum widersprochen werden kann. Unge¬
mein klar werden diese Reizvorgänge unter der Voraussetzung einer
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v. Niessl-Mayendorf,
strengen Wiederholung der elementaren Anordnung der Sinnen-
peripherie in der Hirnrinde. Der wesentliche Unterschied zwischen
Peripherie und Kortex läge in der funktionellen und anatomischen
Bindung der gereizten Elemente in letzterem.
Das Wiedereintreffen identischer Wahrnehmungen, welchen iden¬
tische physiologische Veränderungen zugrunde liegen müssen, führt
zu der gesetzmäßig sich einstellenden leichteren Ansprechbarkeit
der gereizten Ganglienzellen, dem Gedächtnis. Die Entwicklung des¬
selben begünstigt die Besonderheit des Großhimbaues durch seinen
Assoziationsmechanismus, indem dieselben einmal von der Peripherie
angesponnenen Beizkombinationen von anderen Stellen der Großhirn¬
rinde her wieder geweckt werden können. Der Unterschied des phy¬
siologischen Vorgangs der Wahrnehmung von dem der Erinnerung
beruht lediglich auf der verschiedenen Richtung des
anlangenden Reizes, nicht aber auf der Reizung verschiedener Zell¬
kombinationen; während die Wahrnehmung von der Peripherie
eingeleitet wird, erwacht die Erinnerung stets von einer anderen Stelle
der Hirnrinde her.
Die Reizung einer Kombination von Rindenganglien ist offenbar
etwas Physiologisches, für das Subjekt das Element seines Bewußt¬
seins. Als Bestandteil desselben ein zweifellos psychisches Phänomen,
isoliert jedoch bewußt 1 o s und darum nicht psychisch. Die Er¬
innerung an einen einzigen Sinneseindruck vermag keinen Bewußt¬
seinsinhalt zu konstituieren, und dem wachen Geistesleben erscheint
sie stets in einer Kette anderer simultaner und sukzessiver Vor¬
stellungen. Für die Richtigkeit dieser Behauptung liefert das kranke
Geistesleben sprechende Belege. Das Gehen, Stehen, Handeln der
Somnambulen sind Zustände von Erregtheit isolierter Vorstellungskreise
und zwar der sensorisch-motorischen Sinnesgebiete. Die retrograde
Amnesie ist Zeugnis für den Mangel an Bewußtsein in diesen Äuße¬
rungen des Seelenlebens. Der auf epileptischer oder hysterischer
Basis spielende Dämmerzustand läßt das kranke Gehirn als „Verbi-
geration“ Wortkomplexe produzieren, welche offenbar ohne jede
Beziehung zu dem vollständig gehemmten Bewußtsein des Indivi¬
duums stehen. Nichtsdestoweniger müssen sprachliche Schöpfungen
des kranken Gehirnes als Symptome wacher Vorstellungen gedeutet
werden. Wie anders könnte denn artikuliertes Sprechen zustande
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Ober die Mechanik der Wahnbildung.
309
kommen? Sollte aber dies automatenhafte Repetieren einzelner
Phrasen bei vollständig mangelnder Orientiertheit, von denen die
Seele hinterher keine Kenntnis hat, psychische Phänomene bedeuten?
Ebenso die Echolalie im Bewußtseinszerfall des Blödsinns. Die Un¬
abhängigkeit einzelner Vorstellungen von dem gesamten Bewußtsein
dokumentiert die Symptomatologie der Herderkrankungen, welche
den Ausfall von Vorstellungen eines Sinnesgebietes bei völliger Klarheit
und Orientiertheit des Bewußtseins aufweist. Die außerordentlich
primitive Bildung des Papageiengehirns ist zur Schöpfung von Sprach-
vorstellungen befähigt, ohne daß ein komplizierter Assoziationsmecha-
nismus in demselben den Gedanken an höchst verwickelte psychische
Vorgänge als deren Grundlagen nahelegte.
Für i?. Monakow ist Vorstellung aber identisch mit einem sehr
verwickelten psychischen Komplex verschieden örtlicher und ver¬
schieden zeitlicher funktioneller Komponenten, nicht aber das
bloße Residuum einer einzelnen Wahrnehmung,
gleichgültig, wann dieselbe, in welcher zeit¬
licher Folge mit anderen gleichartigen und
wie sie mit gleichzeitig auf getauchten Vor¬
stellungen verknüpft ins Bewußtsein tritt.
Hierin wurzelt das fundamentale Mißverständnis. Dasjenige, was
sich überhaupt als lokalisierbar im Großhirn erweist, ist der von
einer Sinnesleitung der Zentralstelle dieses Sinnes übermittelte Reiz-
Vorgang, weiter nichts. Das ist aber kein psychologischer, sondern
ein physiologischer Begriff, zu welchem wir erst durch Analyse, durch
den Schlußprozeß gelangen, denn dieses zentrale Reizbild kann
allein kein Bewußtsein gestalten, sondern erscheint stets in
einem Nebeneinander und Hintereinander anderer Sinnes¬
bilder im Bewußtsein. AU dies faßt nun t>. Monakow in seiner Ein¬
heit der Vorstellung zusammen, und diese ist wahrhaftig nicht lokali¬
sierbar.
Nicht jeder sensorische Reiz, welcher den Untersucher selbst trifft,
i*t, von seinem Standpunkte, also subjektiv betrachtet, ein Bewußt-
>einsphänomen, nicht einmal dann, wenn diese bis in die Hirnrinde gelangt.
Diese ^Tatsache unserer inneren Erfahrung bedarf nicht des Beweises.
Subjektive Reizaufnahme und bewußtes Empfinden folgen einander nicht
mit Zwang. Mithin sind Wahrnehmungen, die durch Ablenkung der Auf¬
merksamkeit unter der Schwelle des Bewußtseins bleiben, keine p s v -
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v. Niessl-Mayendorf,
chischen Tatsachen, obgleich sie sich an dem beurteilenden Subjekt
selbst ereignen.
•
In dieser engen begrifflichen Fassung der „Vorstellung“, welche
die Wiederholung einer Erregung bestimmter Zellindividuen der Peri¬
pherie in der Hirnrinde zur Voraussetzung hat, mit dem alleinigen
Unterschied, daß in dem subkortikalen und intrakortikalen Asso¬
ziationsmechanismus des dem Aufnahmeorgan korrespondierenden
Rindenabschnittes eine substanzielle Grundlage zur Schöpfung von
Einheiten gegeben ist, liegt die Lösung der von v. Monakow mit Recht
als nächstes Bedürfnis aufgeworfenen Frage nach dem „Was“ des
Lokalisierbaren in der Hirnrinde.
Teilt man bei dieser Anschauung den kortikalen Fokalgebieten
sehr bestimmte Funktionen zu, trennt sie also funktionell von der
übrigen Großhirnrinde und präzisiert ihren Anteil an den Bewußt¬
seinsvorgängen, so ergibt sich eine scheinbare Schwierigkeit bezüglich
der nun fraglichen Bedeutung jener Windungskomplexe, welche
zwischen die kortikalen Brennflächen der Sinnesleitungen eingeschoben
sind. Der Terminus „kortikaler Fokus“, dessen sich v. Monakow mit
Vorliebe bedient, dürfte seine Aufstellung der durchaus unbewiesnen,
ja mit den von gefärbten durchsichtig dünnen Schnittpräparaten
abgesehenen Anschauungen in Widerspruch tretenden Hypothese
verdanken, daß die Elemente einer Sinnesbahn nach der Hirnrinde zu
garbenartig divergierend auseinander fahren und auf diese Weise
in die Rinde näherer und entfernterer Windungen, anatomisch unbe¬
stimmbar wohin, gelangen. Da ich an meinen Präparaten eine solche
Aufsplitterung einer Sinnesbahn an ihrem Ende niemals wahrnahm,
hingegen mit Hilfe der Entmarkung durch sekundäre Degenerationen
den kompakten Eintritt der Projektionsbündel in die fraglichen Rinden¬
abschnitte mit überzeugender Deutlichkeit sah, so glaube ich, mit dem
Erweise der Grundlosigkeit der behaupteten anatomischen Verhält¬
nisse, welche offenbar den ersten Anstoß zur Namenserfindung gaben,
basierend auf die hier aufgeführten, sich ergänzenden klinisch-ana¬
tomischen Tatsachen der von Hitzig vorgeschlagenen Bezeichnung
„Vorstellungsphären “ beitreten und an dieser festhalten zu
dürfen.
Die Barheit an greifbaren Symptomen, welche Erkrankung oder
Verletzung der stummen Hemisphärenanteile lokaldiagnostisch kenn-
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Ober die Mechanik der W&hnbildung.
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zeichnet, gibt weder das Recht, an die Unzulänglichkeit unserer
Untersuchungsmethoden zu glauben, noch auf die Möglichkeit ihrer
physiologischen Erkenntnis nach dem Stande psychologischer Er¬
fahrung und derzeit feststehendem anatomischen Wissen zu ver¬
zichten. Die allerprimitivste Unterstellung notwendigster und mithin
nicht des Beweises bedürftiger Lebensbedingungen genügt zu einem
Aufschluß über das Wesen der fraglichen Funktionen.
So ist es sicher keine Hypothese, daß die Ganglien der Rinden¬
schale aus dem Sauerstoff der letzten und feinsten arteriellen Ver¬
zweigungen ihr Emährungsmaterial beziehen und eine je nach deren
Kontraktionsphase, Füllungszustand, je nach der Geschwindigkeit des
fließenden Blutes wechselnde Oxydation erfahren. Meynert sprach
bezeichnend von einem Atmen der Rindenzellen und unterschied von
freier, reichlicher Sauerstoffaufnahme durch arterielle Dilatationen
und Beschleunigung des Blutstromes, der Apnoe, die Dyspnoe
der Rindenzellen, die durch gegensätzliche Gefäßvorgänge bedingte
Gebundenheit des Gasaustausches. Es ist ferner keine Hypothese,
daß die Geschwindigkeit der Verbrennung mit dem Reichtum an
Sauerstoff zunimmt und bei Verarmung an solchem geringer wird.
Ebensowenig kann es einem Zweifel unterliegen, daß in den Erschei¬
nungen des Bewußtseins der wechselnde Chemismus der kortikalen
Ernährung ein psychisches Korrelat besitzt, welches aus einem Pa¬
rallelismus der Eigenschaften zu erschließen sein wird.
Eine von dem Blutreichtum während der Funktion in anderen
körperlichen Organen bereits von Virchoto abgeleitete Erfahrung
spricht auch den tätigen Zentralorganen der Sinne im Gehirn „eine
funktionelle Hyperämie“ im Akte der Wahrnehmung zu, bei der
jedoch nicht die einfache Dilatation des Arterienrohrs, mit welcher
Verlangsamung des Blutstromes einhergehen kann, sondern eine gleich¬
zeitig vermehrte Sauerstoffzufuhr das Wesentliche ist. Apnoe der
Rindenganglien einer Sinnessphäre wäre der durch den von der Peri¬
pherie zugeleitete Sinneseindruck gesetzte Ernährungszustand der
direkt betroffenen Kortexpartie. Mit dieser ganz umschriebenen Er¬
regung kann der peripher angesponnene Vorgang seinen Abschluß
finden. Hierfür sprechen nicht weiter verarbeitete Wahrnehmungen
im normalen Bewußtsein, insbesondere aber gewisse Erscheinungen
im kranken Seelenleben, die, gepaart mit Ausfallsymptomen, eine
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v. Niessl-Mayendorf,
endogen bedingte isolierte größere Ansprechbarkeit einer Sinnes¬
sphäre — Ausfall und leichtere Erregbarkeit desselben pathologischen
Ursprungs — notwendig voraussetzen lassen (die Hypermetamorphose
nach Wemicke).
Wenn man sich demnach den zentralen Hergang der Wahr¬
nehmung an der Hand der oben gegebenen Deduktionen in einem
physiologischen Bilde versinnlicht, so knüpft sich an die Erregung
einer Kombination von Ganglien in der zentralen Endigung des Sinnes¬
nerven eine sekundäre Erregung einer zweiten Kombination von
Ganglien einer anderen Sinnesrinde an, wenn, wie zumeist bei der
erstmaligen Erregung, zwei verschiedene Sinnesrinden erregt wurden.
Vor allem aber knüpft sich an jede Wahrnehmung die subjek¬
tivste aller Erscheinungen unseres Seelenlebens, ein G e f ü h L Der
Name bezeichnet die Färbung, Betonung, welche die geformten Vor¬
stellungen und die sinnlich grellen Wahrnehmungen hintergrundartig,
selbst aber unbestimmt und ohne jede Projektion in das objektive
Weltbild begleitet. Objektiviert wird ein Gefühl nur dann, wenn die
grobe Nervenzerrung, nicht die Vorstellung zur Quelle von Unlust¬
gefühlen wird, der Schmerz. Aber auch da ist es nur die einleitende
und begleitende Tastwahrnehmung, welche die Verlegung des
Schmerzreizes nach außen bedingt. Kälte- und Wärmepunkte an der
Hautdecke sind zweifellos besonders günstige Angriffstellen für peri¬
phere Gefäßverengerung und Gefäßerweiterung, und das Spezifische der
Wirkungen der hier gesetzten Reize läge in den Differenzen der Verbren¬
nungsprozesse durch die Gefäßveränderungen, im Gegensatz zu den
mechanischen Einwirkungen auf die nervösen Aufnahmeorgane der
Haut. Es handelt sich also hier um zwei Formen der Empfindung,
nicht aber hier im Empfindungen, dort um Gefühle. Man spräche
daher korrekter von Wärmeempfindungen. als von Wärme-
gefühlen. Erst die nicht mehr nach außen projizierbaren Lust- oder
Unlustgefühle, welche von dem peripheren Vorgang sekundär ausge¬
löst werden, sind auf Gehimvorgänge zu beziehen. Schmerz, Wärme,
lokalisatorisch unbestimmte Empfindungen der inneren Organe,
sexuelle Sensationen unterscheiden sich von Sinneswahrnehmungen
durch die Besonderheit der Form der peripheren
Erregung, sind daher von Wahrnehmungen nicht wesentlich ver¬
schieden. Mit diesen haben sie auch die gleichzeitige Erweckung der
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Über die Mechanik der Wahnbildong.
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Lust- oder Unlustgefühle gemein, deren Gebundenheit an Wahr¬
nehmungen nur dem unscharfen Denken als psychische Wesenseinheit
imponiert.
Wenn man das von der Pathologie bewiesene Faktum des Mangels
einer direkten physiologischen Verbindung der Rinde der stummen
Himteile mit der Peripherie in Betracht zieht, wenn man die Möglich¬
keit der nur sekundären Erregbarkeit durch in allen Verlaufslängen
ausgespannten Assoziationsbündel von den Sinnessphären hinzunimmt,
so ergibt sich hieraus ein Mechanismus, dessen Spielen die begleitende
Gefühlsbetonung sehr einfach erklären würde.
Es ist mir stets unfaßbar gewesen, wie man an einen subkortikalen
Mechanismus der Affekte denken konnte. Wie wrenig gerechtfertigt eine
solche Annahme, die auf das Schreien großhirnloser Tiere hin gemacht
wurde, sich erweist, zeigt die Willkür der Voraussetzung, welche Schrei
und Schmerzäußerung identifiziert. Jede Reizung sensibler
Nerven hat einen motorischen Effekt zur Folge, dessen Eintreten jedoch
keineswegs von der Empfindung des sensiblen Reizes ab¬
hängt. Daß eine so brutale Beleidigung eines sensiblen Nerven, welche
in unserem wachen Bewußtsein als Schmerz sich kundgibt, auch ohne
diesen, bei normal funktionierenden niederen Hirnzentren, in starken
motorischen Äußerungen, zu denen der Schrei doch sicher zählt, sich
entladen wird, scheint mir keinem Zweifel zu unterliegen. Ebenso un¬
günstig liegen die Struktur- und Ernährungsverhältnisse des Hirnstammes,
um aus ihnen die Gefühlsvorgänge zu erklären.
Jeder Sinneseindruck wird, wie an der Peripherie, so auch an der
kortikalen Endstation der Sirinesleitung eine Erweiterung der Blut¬
gefäße, eine stärkere Blutfüllung, eine Beschleunigung des fließenden
Blutstromes zur Folge haben, wodurch die Emährungsbedingungen
zu einer gewissen Funktionshöhe anschwellen. Dieser physiologische
Zustand muß im Bewußtsein ein psychisches Korrelat haben, wel¬
ches aber nicht als ein Gefühl des Wohlseins,
des Behagens sich äußern kann, weil dieselben Wahr¬
nehmungen bald mit angenehmen, bald mit unange¬
nehmen Gefühlen in uns einhergehen. Dagegen wird der beschränk¬
ten funktionellen Hyperämie in einer Sinnessphäre eine Konzentration
des Bewußtseins in der Beschränkung auf ein Sinnesgebiet entsprechen
müssen, welche uns in der Erscheinung der Aufmerksamkeit
psychologisch klar wird. Dieser Vorgang ist lokalisierbar, weil er die
zentrale Projektion eines einzigen Sinnesnerven aktiv beteiligen muß,
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die übrige Hirnrinde aber in antagonistischer Wirkung funktionell
ausschaltet. Diese Ausschaltung betrifft auch teilweise die Gefühle,
da erfahrunggemäß bei Eintritt stärkerer Affekte die Fähigkeit der
Konzentration schwindet.
Aus den in solcher Allgemeinheit gehaltenen und darum kaum
anfechtbaren Erwägungen erhellt die Tatsache, daß das Rindenareal,
dessen Ernährungszustände nur alssolche dem Bewußtsein faßbar
werden, nicht gleichzeitig einen Sinn zentral reprä¬
sentieren könne, woraus sich das weitere Postulat ergibt,
daß die kortikalen Zentralorgane der Sinneswahrnehmungen auf
zirkumskripte Rindenfelder angewiesen sein müssen, die
übrige Hirnrindenfläche aber jeder funktionellen Beziehung zu einem
Sinne ermangelt. Auch selbst die unerwiesene, mit objektiver Tat¬
sächlichkeit unverträgliche Trennung der kortikalen Substrate für
Wahrnehmung und Erinnerung berechtigte zu keinen anderen
Folgerungen, da die L e i ch t ig k e i t und Intensität der Beleb-
barkeit einer Erinnerung ebensowenig mit dem sie begleitenden ange¬
nehmen oder unangenehmen Gefühl vermischt werden darf, wie die?
bei der Wahrnehmung festgestellt wurde. Die Afunktion eines korti¬
kalen Erinnerungsfeldes könnte sich nicht als unangenehme Gefühls¬
betonung einer Wahrnehmung, sondern bloß als eine Isolierung der
Wahrnehmung von dem Bewußtseinsinhalte, in einem Nicht-
wiedererkennen des sinnlich Geschauten bemerk¬
bar machen 1 ).
Wir gelangen daher zu der Annahme, daß die Oxydationsprozesse
der Rindenganglien im Gebiete der stummen Hemisphärenanteile
im Bewußtsein als Gefühle sich widerspiegeln. Für diese Annahme
spricht: 1. Der erweisliche Mangel anatomischer und funktioneller
Verbindungen mit der Sinnenperipherie, welchem zufolge keine direkte
Beeinflussung ihrer Ernährungsbedingungen von der Peripherie her.
*) Wenn man auch Külpe unbedingt zustimmen wird, daß das Er
kennen eines Gegenstandes nicht auf einer Assoziation zwischen seinem
Sinneseindruck und seinem Erinnerungsbild beruhen müsse, sondern ein
gewisse Beziehungen zwischen den Erinnerungsbildern erschließender
Denkvorgang ohne Erwachen der betr. Erinnerungsbilder ein Erkennen
ermögliche, so wäre ein Denken ohne Erinnerungsbilder- ebenso absurd,
als ein Festhalten an dem angegriffenen Vordersatz.
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Über die Mechanik der Wahnbildung.
315
aber auch keine Projektion derselben im Weltbild des Bewußtseins
möglich wird. Dieser Charakter eignet aber den Gefühlen. 2. Die
bipolare Richtung ihrer Änderung im Sinne der angenehmen Lösung,
der Erleichterung und der unangenehmen Spannung und Hemmung,
sowie der nachweislich plötzliche Eintritt dieser Änderungen bei dem
Erscheinen von mit diesen oder jenen Gefühlen assoziierten Wahr¬
nehmungen und Gedanken, weist mit Entschiedenheit auf dem bestim¬
menden Einfluß vasomotorischer Zustände hin. Nach obiger
Auseinandersetzung vermögen die Folgewirkungen von Vasokonstrik¬
tionen und Vasodilatationen in den Gefäßgebieten der Sinnessphären
auf das Nervengewebe sich n i c h t in der subjektiven Unbestimmtheit
der Gefühle zu offenbaren. 3. Der erweisliche Einfluß endogen soma¬
tischer Zustände auf die Qualität der Gefühle, welche nur auf dem Wege
der symphatischen Nerven reflektorisch gedacht w'erden kann. Dieser
würde auch ohne sensible Projektionsbündel, welche die Reize aus
dem Innern des Körpers in die Rinde der stummen Hirnteile trügen,
im Sympathicus der Carotis interna auf den arteriellen Gefäßbaum
sich entfalten können. 4. Die mit Hilfe sekundärer Degenerationen
bei Jahre hindurch bestehender Herderkra .kung in den Hemisphären
uud zu makroskopisch palpabeln Schrumpfungen gediehenen Atrophien
beweisbaren, aus der Rinde der stummen Hirnteile nach den Stamm¬
ganglien absteigenden Bündel lassen die Möglichkeit kort ikaler Einflüsse
auf automatisch oder reflektorisch ablaufende Bewegungsvorgänge zu,
deren Geltendmachung sich in automatischen Angriffs- und Ab¬
wehrbewegungen als Hemmmungen 1 ) verstehen ließe. Die
Unterdrückung niederer Bewegungsformen durch Gefühle zeichnet
die auf hoher Kulturstufe angelangte menschliche Psyche aus, welche
in dieser Anlage des Gehirnbaues das Instrument zur Entwicklung
solcher Befähigung vorfand. 5. Die Sinneswindungen des Tierge-
himes weisen, abgesehen von ihrer Relation zur Körpergröße, kaum eine
dürftigere Gestalt der Sinneswindungen auf, während man auf die nur
rudimentäre der stummen Zwischengebiete längst aufmerksam ge-
l ) In dieser Vorrichtung präsentiert sich ein Mechanismus, welcher
den unmittelbaren Einfluß der Gefühle auf gewisse kompliziertere
motorische Akte ohne Dazwischentreten von Vorstellungen
als einen Ausdruck der Gemütsbewegungen auch bei primitiveren Hirn-
Organisationen offenbart.
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worden ist. Die scheinbare Unkompliziertheit der tierischen Psyche
beruht nicht auf einer hinter dem menschlichen Reichtum an Vor¬
stellungen zurücktretenden Armut an latenten Spuren d r Sinnes¬
eindrücke. Die Verschiedenheit offenbart sich in der ungleichen
Ausbildung dieses oder jenes Sinnes, weshalb die spezifische
Sinnesqualität, nicht aber die Zahl der Vor¬
stellungen eine verschiedene ist. Es wäre eine sehr willkürliche Be¬
hauptung, dem Tiere eine der menschlichen durchaus verwandte
Denkfähigkeit abzusprechen, welche doch allein die Möglichkeit
gegenseitiger Verständigung erklärt. Worin aber das Tier dem Menschen
zweifellos unterlegen ist, ist der Mangel jener Herrschaft der Gefühle
über das Denken, welche als eine durch die Kultur erworbene Zweck -
mäßigkeitsverriehtung ein eminent sozial-anthropologisches Präro¬
gativ ist, welches aber ein nach dieser Richtung entwicklungfähiges
Gehirn voraussetzt. Die Gewalt des Menschen über das körperkräftigere
Tier entspringt aus seiner psychischen Superiorität, zu welcher er sich
durch das Leben in der Sozietät erhoben hat. Die Befähigung, im
geselligen Vereine sich zu behaupten, postuliert die Macht außer¬
ordentlich stark gefühlsbetonter Vorstellungsreihen, welche hemmend
in den primären Gefühlsmechanismus („primäres Ich“ Meyneris)
eingreifen und als sogenannte höhere Gefühle, als Sitte, das einzelne
Individuum, die Gesamtheit beherrschen. Der naivsten Betrachtung
springt der Schein freier Selbstbest immbarkeit in den Äußerungen der
menschlichen Psyche im Gegensatz zu denen der tierischen in die
Augen. Dem Menschen scheint es vergönnt zu sein, wählen zu können,
weshalb sein Handeln im Gegensatz zum Tiere sich der Voraussicht
leichter entzieht. Der kritischen Analyse stellt sich jedoch das freie
Wollen als Zwang zu demjenigen dar, zu welchem die größte
Lust hindrängt, möge dieselbe auch als subjektiv bewußt werdende
Hemmung anderer Lustgefühle erscheinen. Das Phänomen des Willens
gewinnt in den Betätigungen der menschlichen Psyche die hervor¬
ragendste Bedeutung: dem tierischen Seelenleben nicht fremd, er¬
scheint es dort in einfachen, oft nur rudimentären Formen. Seinem
Wesen nach konstituiert es sich aber aus Gefühlen, zu deren Ent¬
wicklung dem menschlichen Gehirn ein dem tierischen fehlender
oder nur dürftig angelegter Mechanismus eigen sein wird. 6. Der
sieh an Präparaten mit sekundären Markfaserentartungen darbietende
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Ober die Mechanik der Wahnbildung.
317
Anblick berechtigt zu der Annahme, daß alle Windungsgipfel und
deren Abhänge im Rmdengebiete der stummen Hirnteile mit der
Rinde der Sinnsphären durch die Bogenbündel in direkt leitende Ver¬
bindung gesetzt sind. In dieser anatomischen Vorrichtung wäre die
sichtbare Grundlage für das gesetzmäßige Begleiten
jederVorstellung mit Gefühlstönen gegeben, da die
Mitteilung der Oxydationsphasen in den Rindenganglien der st umm en
Himteile an die Rindenganglien der Sinnessphären auf dem Wege
der markbekleideten Konduktoren ein physiologisches Postulat be¬
deutet. Es würde aber auch der ausschlaggebende Einfluß für den
Inhalt und die E n t b i n d b a r k e i t der Gedankengänge, welcher
den Gefühlen innewohnt, durch diesen Mechanismus eine sinnlich
greifbare Stütze finden. In diesem läge das Geheimnis der Stimmung,
das von der Intuition Herbeigelockt-werden oft mühsam oder ver¬
geblich gesuchter Ideenverbindungen.
Hält man an diesen anatomisch-physiologischen Prämissen für
das gesunde Seelenleben fest und betrachtet die Wahnbildung oder
die substituierende Halluzination, welche sekundär und reaktiv den
Wahn entwickelt, im Lichte dieser Voraussetzungen, so werden sich
für die anscheinend so verwickelten krankhaften Erscheinungen, die
nur durch die schwierigste Aufhellung äußerst komplizierter Gehirn¬
vorgänge dem Fernstehenden erklärbar dünken, nicht minder ein¬
lache Folgerungen geltend machen lassen.
Lassen wir bei der Lehre vom Wahn all die subjektiven Deu¬
tungsversuche und Deutungsmöglichkeiten aus dem Spiele, und halten
wir uns an das wesentlich Tatsächliche, das von allen Seiten Zuge¬
standene, dann trifft den Kern der Erscheinung ein Fürwahrhalten
irrealer Vorkommnisse und Zusammenhänge, welches der widerstrei¬
tenden Korrektur des gesamten Erfahrungsinhaltes trotzt. Diese
Paralogik des Gedankengangs tritt am klarsten, aber auch am unbe¬
greiflichsten dort zutage, wo sie scheinbar isoliert die normale Ordnung
des Vorstellungsablauf8 durchbricht, also in Zuständen der Besonnen¬
heit, in welchen sich die ungebundene Assoziationstätigkeit, nicht
in der Korrektur, jedoch in der „Systematisierung“ des wahnhaft
Festgehaltenen bemerkbar macht. Die Ursache dieser verkehrten
Richtung der Assoziationsbildungen ist der springende Punkt in der
Erforschung vom Wesen des Wahnes.
Zeitschrift für Psychiatrie. LXIX. 3.
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Die Entwicklung des chronischen Wahnes bei Abwesenheit aller
Sinnestäuschungen, welche diesen ursächlich bedingen, mag uns ein
geeignetes Paradigma illustrieren, weshalb ich meine ferneren
AusfOhrungen an die Darlegung eines von mir im Sommer 1911
in der Poliklinik der psychiatrischen Klinik beobachteten Falles von
chronischer Verrücktheit knüpfe.
Ein. deutscher Geschäftsmann, anfangs der Dreißig, kehrt aus
Amerika nach Leipzig zurück, nachdem er längere Zeit in China geweilt,
von wo er nach dem Zusammenbruch seines Geschäftes nach Amerika
hinüber in Stellung ging. Hier machte er die Wahrnehmung, daß man
ihn zu homosexuellem Verkehr durch Winke und allerlei Fingerbewegungen
verleiten will, welche ihn zu den leidenschaftlichsten Handlungen der
Abwehr hinreißen und aus allen Positionen treiben. Nicht weniger ab
66mal hat er es, nach eigener Angabe, in Stellungen versucht, bis er
beschließt, sich nach Europa einzuschiffen, um der Gefahr, sexuell mi߬
braucht zu werden, zu entfliehen. Amerika ist ihm das Land der Homo¬
sexuellen, keine Ehe werde geschlossen, wenn der Mann sich weigere,
den widernatürlichen Gelüsten seines künftigen Schwiegervaters gefügig
zu sein. Er habe in der Person des Milliardärs Pierpont Morgan einen
wegen seines großen Reichtums sehr einflußreichen und gefährlichen
Gegner, dessen Haß er sich dadurch zuzog, daß er Europa über die die
amerikanische Gesellschaft allgemein beherrschende Homosexualität publi¬
zistisch aufzuklären bestrebt sei. Die Fäden des Amerikaners Morgan
reichen aber herüber nach Deutschland; auch in Leipzig liest er allüberall
aus ihm verdächtigen Bewegungen und Betastungen Aufforderungen zu
homosexuellem Verkehr heraus. Pierpont Morgan erscheint ihm plötz¬
lich in der Gestalt eines Automobilfahrers, welcher ihn bedeutungvoll
mehrmals umkreist. Er glaubt durch unansehnliche, dürftige Kleidung
seine Verfolger weniger anzulocken. Hinter den meisten Handlungen seiner
Umgebung wittert er Anschläge seiner Feinde, und die dauernde Unruhe
läßt ihn schwer neurasthenisch werden. Es quält ihn eine Überempfind¬
lichkeit der Haut, bei deren Betastung er zu leidenschaftlichster Abwehr
ausbricht. Eine gleiche Hyperästhesie des Gehörs — auf einem Ohr hat
er das Gehör so gut wie eingebüßt — bereitet ihm selbst bei fernen Ge¬
räuschen unerträgliche Kopfschmerzen. Eine Lymphangitis tuberculosa
an der rechten Halsseite, die er als eine krankhafte Folgeerscheinung
heimlicher Vergiftungen ansieht, behindert ihn an der Wendung des
Kopfes. Er ist eine schlanke männliche Erscheinung mit mißtrauischem,
verstörtem Gesichtsausdruck. In der Geschichte der Vorerkrankungen
berichtet er von mehreren Malariainfektionen.
Eine kausale Aufhellung dieses gewiß typischen Falles einer
Paranoia chronica müßte sich, soweit sie das letzte wirkende, krank*
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Uber die Mechanik der Wahnbildung.
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hafte Agens im Auge hat, nur auf die unbestimmtesten Vermutungen
berufen, sobald sie aber von dem letzten Unbestimmten ganz
absieht und nur die abnorme Mechanik aus den oben er¬
schlossenen Korollarien des Zusammenwirkens der einzelnen Hemi¬
sphärenteile betrachtet, welche durch ein unerforschbares Etwas in
Gang gesetzt wird, dann gelangen wir zu einer gesetzmäßigen Deckung
psychopathologischer Symptome mit Insuffizienzerscheinungen be¬
stimmter Großhirnregionen.
Prüfen wir, diesem Ziele zustrebend, das Seelenleben dieses Mannes,
welches sich um Gedankengänge konzentrisch entwickelt, die dem Ge¬
sunden ohne weiteres als krankhaft einleuchten, dasselbe in seine Ele¬
mente zerlegend, so werden wir Intaktheit des Wahrnehmungsvermögens,
des Gedächtnisschatzes und aller assoziativen Vorgänge festzustellen
haben. Gesichts-, Gehörs-, Tastwahmehmungen gehen ganz normal
von statten. Sie wecken aber fast ausnahmlos, soweit sie nicht von
früherher mit starken Lustgefühlen betont sind, immer wieder die¬
selben, vom peinlichsten Gefühle begleiteten Vorstellungsgruppen.
Die Abhängigkeit der eben auftauchenden Gedanken von den eben
anwesenden Gefühlen oder von derlntensitätdereinst
mit ihnen verbundenen Gefühle ist so gesetzmäßig,
daß sie als psychologisches Axiom gelten kann. Es ist daher die ab¬
norm häufige Wiederkehr der Vorstellung, homosexuell mißbraucht
zu werden, auf einen Zustand anhaltender Hyperästhesie der
Sexualorgane und anhaltender Ängstlichkeit, welche psychologisch
nicht motiviert sind und, weil ohne Reizerscheinungen an der Peripherie,
nur endogen zentral bedingt sein können, zweifellos aber auf eine
krankhafte Störung des Gefühlslebens zu beziehen. Diese krankhafte
Störung des Gefühlslebens kann aber nicht jene Hyperästhesie des
Gehörs, der Haut, der Sexualorgane begründen, welche unabhängig
von der permanenten Beängstigung dem Wahne Inhalt gibt, selbst
aber wieder von demselben die Farbe des Gefühlstones erhält. Es
muß demnach ein abnormer funktioneller Reizzustand jener Zentren
vorliegen, durch welche die Wahrnehmung in das Bewußtsein eintritt,
eine Phase der Unterernährung aber, vielleicht eben durch jenen Reiz¬
zustand bedingt, die übrige Großhirnrinde funktionell herabstimmen.
Dieser Antagonismus zwischen einem pathologischen Überschuß an
Nähr- und Funktionsmaterial der niederen Sinneszentren im Gegen-
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satz zu herabgesetzter kortikaler Leistungfähigkeit ist von Meynert in
seiner Lehre von dem funktionellen Gegensatz der Stammganglieo zu
der Großhirnrinde ausgesprochen und durch die besondere Anordnung
und Form der arteriellen Gefäßbäume der Blutspeisung erklärt worden.
Der Unterschied zwischen Meynerta Theorie und der meinigen beruht
im wesentlichen darauf, daß ich statt der funktionellen Gegenüber¬
stellung der Stammganglien und der Hirnrinde die kortikalen
Sinnesfoci selbst mit der der übrigen Gro߬
hirnrinde als in einem gesetzmäßigen funktionellen Antagonis¬
mus stehend betrachte.
Es ist gleichgültig, wie man sich diesen postulierten Zustand
der Unterernährung vorstellen will; sei es unter dem Bilde einer
primären, vielleicht chemischen Veränderung der Rindenganglien,
die sich — daraufhin gerichtete Untersuchungen stehen noch aus —
in konstant wiederkehrenden, wenngleich subtilen Veränderungen der
Ganglien der stummen Großhirnrinde, auch im histologischen Bilde
sich spiegeln würden, sei es, daß Vorgänge chronischer Entzündung
leichterer Art, welche den Ganglienkörper nicht zerstören, nur dessen
Stoffwechsel störend beeinflussen und verändern, die geweblich zweifellos
zarter angelegten und gegen Schädlichkeiten empfindlicheren stummen
Himrindensysteme befallen, sei es, daß eine von Haus aus abnorme
nervöse Innervation der arteriellen Gefäßbäume durch eine im Leben
sich später einstellende Veränderung der Gefäßwand stärker hervor¬
tritt, indem die kortikale arterielle Reizhyperämie jeder Wahrnehmung
antagonistisch bis zu einem Krampf der Ringmuskeln sich steigernde
Kontraktionen in den kortikalen Gefäßgebieten der übrigen Hirnrinde
nach sich zieht und so die Oxydation der Rindenganglien hemmt
Die letzte Möglichkeit ist mir die wahrscheinlichste, weil Jahre hin¬
durch bestehende entzündliche Affektionen zu einer, wenn auch sehr
allmählich sich vollziehenden Rückbildung der nervösen Elemente,
die sich klinisch in einem Niedergang der Intelligenz bekundete,
führen müßten. Das Charakteristische für die Wahnbildungen der
chronischen Paranoia ist jedoch gerade die Intaktheit des formellen
Vorstellungablaufs selbst bis in das höchste Alter. Es ist eine täg¬
liche psychologische Erfahrung, daß ein sehr intensiver Reizvorgang
einer Sinnessphäre Schmerz, in der Folge Unterbindung aller Ge¬
dankengänge, endlich Ohnmacht nach sich zieht, was also schon in
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Über die Mechanik der Wahnbildung.
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physiologischer Breite jenen Antagonismus der funktionellen Er¬
nährungshöhe der beiden Bindensphären anzeigt. Im Gehirn des
am Wahn Erkrankten ändert sich nur die Intensität, nicht die Qualität
des Vorgangs. Die Wahrnehmungen, die mit Lust und Unlust sonst
einhergehen, verbinden sich im Seelenleben der Geisteskranken aus¬
schließlich mit peinlichen Gefühlen dann, sobald die Wahrnehmung
selbst als peinlich empfunden wird. Die Hyperästhesie der Sinnes¬
sphären gibt sich auch durch eine abnorme Anspannung der Aufmerk¬
samkeit auf jeden eintretenden Sinnesreiz kund, eine Erscheinung,
die besonders an jedem Halluzinanten prägnant hervortritt. Aber
auch ohne eigentliche Sinnestäuschungen spricht sich die pathologische
Hyperästhesie in dem Inhalt gewisser Wahnideen, wie in der Berüh¬
rungsfurcht des vorliegenden Falles, dem Vergiftungswahn, der feind¬
lichen Beeinflussung durch elektrische Ströme, in Oppressionsempfin-
dungen und verschiedenartigsten Sensationen hinlänglich klar aus.
Das wache Bewußtsein wird erfüllt von einem Wechsel der Wahr¬
nehmungen verschiedener Sinne, und Gefühle wecken jene Wahr¬
nehmungen, denen die Aufmerksamkeit zugewendet wird. Der patho¬
logische Mechanismus der Wahnbildung wäre nun darin zu suchen,
daß alle diese mit pathologisch geschärfter Aufmerksamkeit aufge¬
nommenen Sinneseindrücke mit unangenehmen Gefühlen sich asso¬
ziieren, woraus ein permanenter Zustand der Beängstigung, der Furcht
mit starken Abwehraffekten resultiert.
Nun fragt es sich aber, ob, wenn für diese allgemein peinliche
Betonung der Vorstellungen ein verhältnismäßig einfacher Mecha¬
nismus gefunden werden kann, derselbe den Kern jedes Wahnes zu
erklären vermag, der eben die Unfähigkeit ist, den aus krank¬
hafter Gefühlsbetonung hervorgewachsenenlrr-
t u m zu korrigieren. Diese funktionelle Lücke hat die Forscher viel¬
fach veranlaßt, auf dem Gebiete der Logik das Pathologische des
sogenannten Vorstellungablaufes zu suchen. Sie vergaßen hierbei
ganz, daß nicht nur der Inhalt, sondern auch der Eintritt bestimmter
Gedankengänge ganz von dem eben herrschenden Gefühle abhängt.
Die gebundenen Affekte hemmen auch das Denken.
Dem widerspricht aber die Tatsache, daß bei dem Paranoiker
von einer Denkhemmung nicht die Rede sein kann. Er ist nicht ängst¬
lich oder traurig, weil der Gedankenablauf stockt, sondern nur be-
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v. Niessl-Mayendorf,
stimmte Wahrnehmungen ängstigen ihn und all sein qual¬
voller Gemütszustand knüpft am Wahrnehmen an. Dieser funda¬
mentale Gegensatz zu der melancholischen Angst, welche sich allen
Eindrücken der Außenwelt am liebsten ganz verschließt, stützt gleich¬
falls die Annahme des von uns aufgewiesenen Mechanismus für das
Entstehen einer Wahnidee.
Wenn aber der kortikale Assoziationsmechanismus des Para¬
noikers tadellos funktioniert, wofür der formell vollkommen korrekte
Ablauf der Gedankengänge Zeugnis gibt, wie ist dann der Mangel
derKorrektur, der pathologische Kern jeder Wahnbildung zu
erklären? Diese Lücke ist das Problem. Dem naiven Erklärer ist
es eine Alogik, ein Fehlen notwendig eintretender Vorstellungen, eine
intellektuelle Störung, unabhängig von dem Zustand der Gefühle.
Ein richtiges Verständnis für die mangelhafte Korrektur einer
Wahnidee eröffnet der Einblick in die Korrektur eines physiologischen
Irrtums. Nicht nur der Inhalt der korrigierenden Gedankengänge
vollbringt die Korrektur, sondern es verbindet sich mit ihnen stets,
sobald diese vollzogen wird, normalerweise ein Gefühl innerer
Befriedigung. Der Paranoiker ist nun zweifellos fähig, die der
Möglichkeit seiner Wahnidee entgegenstehenden Gedankengänge zu
produzieren, er vermag einzusehen, fühlt sich aber durch diese
Einsicht nicht befriedigt und sucht, um die ihm sich auf¬
drängenden Einwendungen, welche ihm sein logischer Apparat ein¬
gibt, zu beseitigen, andere, unwahrscheinlichere Gedankengänge zur
Befestigung seiner Wahnidee, weil ihm diese Gefühle größere Be¬
friedigung gewähren, als die den normalen Menschen vollauf be¬
friedigenden der Korrektur.
Es ist ein durch einfache Krankenbeobachtung leicht zu wider¬
legender Irrtum, wenn man meint, daß die korrigierenden Gedanken¬
gänge im Bewußtsein des Verrückten fehlen, sie selbst fehlen
nicht, sondern die mit ihnen normalerweise
befreienden, erlösenden Wohlgefühle fehlen.
Diese vermögen von dem kranken Großhirn nicht produziert zu
werden. Daher die Gedankengänge selbst für den Kranken nicht nur
mit peinlicher Gefühlsbetonung, sondern auch mit einem Gefühl des
Fremdartigen verbunden sind.
Wenn ein Geistesgesunder von einem Eisenbahnunglück erfährt
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Über die Mechanik der Wahnbildung.
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und befürchtet, durch dieses den Verlust einer geliebten Person be¬
klagen zu müssen, dann wird er mit dem leibhaftigen Erscheinen der
verloren Geglaubten von seiner Befürchtung befreit. Wenn ein Ver¬
rückter aber an der Wahnidee leidet, daß ihm der Tod einen Angehörigen
entriß, dann wird seine Gemütsverfassung wenig dadurch geändert,
daß ihm der vermeintlich Gestorbene körperlich entgegentritt. Er
wird die sinnlichen Kennzeichen der Persönlichkeit zwar als bekannte
wiederfinden und zugeben, denn er leidet an keiner Asymbolie, aber es
wird ihn die ganze Gestalt fremd anmuten, denn die normale Gefühls¬
betonung des normal Wahlgenommenen hat sich geändert, es ist
ihm infolge einer primären Störung das Gefühlsleben das „Bekannt¬
heitsgefühl“ (Arnold Pick) abhanden gekommen. Es soll mit dieser
Auffassung keineswegs behauptet werden, daß alle Wahrnehmungen
unterschiedlos von einem unangenehm peinlichen Gefühlston be¬
gleitet werden, dies trifft vielmehr bei der melancholischen Gefühls-
Störung zu. Es bezieht sich diese abnorme Gefühlsbetonung nur auf
jene Wahrnehmungen, welche mit den wahrhaften Vorstellungskreisen
einen inneren Zusammenhang besitzen.
Haben wir im obigen dargetan, daß pathologisch intensive Wahr¬
nehmungen vermöge einer gewissen physiologischen Gesetzmäßigkeit
mit peinlichen Gefühlen sich vereinigen, dann werden auch alle jene
Wahrnehmungen mit peinlichen Gefühlen wieder einhergehen, welche
mit den Erinnerungen der ersten Wahrnehmungen, dem Wieder¬
aufflackern der Sinnesbilder von einer anderen Stelle der Hirnrinde
her, von dem Subjekt in irgendeine Beziehung gebracht werden
können.
Es erhellt aus diesen Erörterungen, dnß die nächste pathologische
Voraussetzung für das Entstehen einer Wahnidee in einer krankhaften
Vbertreibung eines bereits physiologisch vorhandenen funktio¬
nellen Antagonismus zwischen den kortikalen Sinnessphären und
der stummen Hirnrinde zu suchen sein würde, daß eine Hyperfunktion
dieser mit ihren vasomotorischen Konsequenzen eine Hypofunktion
jener, vielleicht infolge vasomotorischer Einflüsse, nach sich ziehen
muß. Es erhellt ferner, daß es sich selbst bei einer durch langjährige
Systematisierung fixierten Wahnidee nicht um eine dauernde und
auch histologisch nachweisbare Ernährungstörung der Bindenganglien
handeln kann, da die Fähigkeit des Großhirns, Wahrnehmungen auch
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mit angenehmen Gefühlen zu assoziieren, durchaus nicht schwindet,
sondern in dem weitgehendsten Vertrauen, in der Liebe des Para¬
noikers zu gewissen Personen unzweideutigen klinischen Ausdruck
gewinnt. Die pathologische Intensität einzelner kortikaler Sinnes¬
sphären, welche der von uns vertretene Mechanismus fordert, be¬
gründet und erklärt gleichzeitig die pathologische Inten¬
sität der Erinnerungen, welche wie die ersten die Wahn¬
idee anregenden Wahrnehmungen von sehr starken Gefühlen
betont sind. Hieraus ergibt sich die Allgegenwart der überwertigen
Idee, die Superiorität der wahnhaften Vorstellungen in dem Umfange
des Bewußtseins.
All dies führt aber noch nicht auf die letzten organischen Ver¬
änderungen, welche diesem pathologischen Mechanismus zugrunde
liegen. Es kann sich nach den obigen Auseinandersetzungen nur um
eine Veränderung der arteriellen Gefäßrohre oder der diese inner¬
vierenden Nerven in den beiden antagonistisch wirkenden Großhim-
gebieten handeln, weil diese allein eine auf Wahrnehmungen hin
plötzlich eintretende Herabsetzung oder Steigerung der Er¬
nährungsbedingungen herbeizuführen befähigt sein können. Es kann
eine abnorme Anlage im Gefäßbau von Haus aus bestehen, welche
in gewissen Altersperioden — die Gefäßwand nimmt an den Ent¬
wicklungstufen der Gewebe den augenfälligsten Anteil — immer
stärker zum Ausdruck gelangt, hierdurch würde auch der im Keim
angelegte Antagonismus ausgeprägter und als pathologische Erschei¬
nung palpabel. Diese Annahme gerät mit der Tatsächlichkeit nicht
in Widerspruch, wenn man die von kundigen Histologen gemachte
Versicherung, daß selbst innerhalb physiologischer Breite die geweb¬
liche Zusammensetzung der Großhirnrindengefäße den größten Ver¬
schiedenheiten unterliegt, berücksichtigt, wenn man die schon bei
Lupenvergrößerungen normalerweise sich aufdrängende Größenver¬
schiedenheit zwischen den Arterien der Sinnessphären und der stummen
Hirnteile miteinander vergleicht, und wenn man die nach neueren
und neuesten Befunden sichergestellte Prominenz der Gefäßerkrankung
bei der progressiven Paralyse, deren pathologischer Prozeß nach den
Wägungen von Sepilli und Tamburini , nach den rinden-histologischen
Untersuchungen Binswangers und den Studien Schaffers am gesamten
Hemisphärenmark in ersterLinie und am intensivsten
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Über die Mechanik der Wahnbildong.
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die stummen Himteile befällt, als einen Beweis der geringeren Wider¬
standkraft der arteriellen Gefäße dieser Hirngegenden in Rechnung
zieht. Eine chronische Infektionskrankheit des Großhirns dürfte
sicher auszuschließen sein, da wie bei der Paralyse nicht nur die Rinde
der stummen Großhirnteile, sondern auch die der Sinnessphären im
weiteren Verlaufe Schaden leiden, ja ein Fortschreiten des Prozesses
mit einem allmählichen Schwinden der Großhirnfunktionen in einem
endlichen Blödsinn sich klinisch offenbaren müßte.
Ich bin mir vollkommen bewußt, mit der Aufstellung dieses Ge-
himmechanismus nichts weiter als eine Möglichkeit für das
Zustandekommen einer Wahnidee gefunden zu haben, diese stützt
sich aber auf eine geschlossene Kette von Folgerungen aus und
eine Kombination von Tatsachen.
Die einzelne Tatsache im anatomischen Bilde, der elementare
Vorgang, welchen einzig das Experiment nach Fechner zu bieten ver¬
mag, steht heute im höchsten Ansehen und Werte. Niemals wird es
aber gelingen, durch diese anscheinend objektivste Methodik, bei
welcher der subjektive Faktor der Wahrnehmung so leicht übersehen
wird, den Zusammenhang des Einzelnen in so komplexen Er¬
scheinungen wie den psychischen zu entdecken, ohne dessen Findung
jedoch jeder Versuch in das Gesetzmäßige der Gehirnmechanik ein¬
zudringen, illusorisch ist.
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Nahrungsverweigerung hei Geisteskranken. 1 )
Von
Dr. Hermann Krneger, jetzt Königslutter (Braunschweig).
Die Ernährung Geisteskranker ist eine der schwierigsten Aufgaben
ihrer Pfleger. Wie beim Gesunden psychische Einflüsse den Appetit
in hohem Grade beeinflussen, so tun es auch die psychischen Erkran¬
kungen. Dabei ist andererseits bei vielen Psychosen die Prognose
teilweise vom Stande der Ernährung abhängig, besonders bei den
akuten, heilbaren Geistesstörungen.
Eine Beduktion des Kräftezustandes kann zweierlei Ursachen
haben. Entweder ist die Ausgabe der Körperkräfte wie bei den mit
Erregungszuständen verbundenen Geisteskrankheiten eine derartig
große, daß auch bei guter Nahrungsaufnahme die Stoffwechselbilanz
mit einem Minus abschließt, oder aber es ist die Einnahme von Nähr¬
stoffen eine zu geringe. Die Nahrungsverweigerung bildet bei Geistes¬
kranken immer ein höchst bedrohliches Symptom, und sie ist mehr
wie ein Symptom, denn mit dem Kräftezustand steigt und fällt sehr
oft die Prognose.
Die Nahrungsverweigerung kann eine vollständige oder eine
teilweise sein. Die letztere ist die dem Kranken bei weitem gefähr¬
lichere. Bei völliger Abstinenz ist das Handeln des Arztes klar. Eine
bestimmte Zeit wird er je nach dem Kräftezustand des Kranken
zuwarten, dann mit künstlicher Ernährung beginnen. Die Gründe
für diese Art der Abstinenz sind meist plötzlich aufschießende, von
denen man annehmen darf, daß sie ebenso schnell in den günstig
verlaufenden Fällen verschwinden. Weit schlimmer sind die Fälle,
in denen die Kranken Wochen und Monate lang immer etwas, aber
1 ) Aus der psychiatrischen Klinik der Universität Rostock. Direktor:
Geh. Med.-Rat Professor Dr. Schuchardu
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Nahrungsverweigerung bei Geisteskranken.
327
nie genügend Nahrung zu sich nehmen, wo die Kranken mit den
Speisen schmieren und so nicht einmal schätzungweise die tatsäch¬
liche Nahrungsaufnahme feststellen lassen und besonders der Arzt
verführt wird, sich abwartend zu verhalten. Diese Fälle erliegen am
ersten den akut fieberhaften wie den kachektischen Krankheiten.
Immer ist die Prognose dabei abhängig von dem Standpunkte, den
der behandelnde Arzt zur Frage der künstlichen Ernährung, vor
allem der Ernährung durch die Schlundsonde, einnimmt. Die Er¬
gebnisse einer Durchsicht des hiesigen Materials auf Ursachen der
Nahrungsverweigerung Geisteskranker, ihre Wirkung auf den Aus¬
gang und ihre Behandlung seien im folgenden niedergelegt.
Lohnt es sich denn überhaupt, Untersuchungen über die Nahrungs¬
verweigerung bei Geisteskranken zu machen?
Bei meinen Erhebungen über diesen Punkt habe ich nur die Fälle
genommen, deren Anstaltaufenthalt sich mindestens über Monate
hinzog; ferner habe ich die Fälle, in denen interkurrierende körperliche
Erkrankungen zu zeitweiser Appetitlosigkeit führen mußten, ausge-
geschaltet, soweit sich der Grad der mangelhaften Nahrungsaufnahme
in physiologischen Grenzen hielt, und schließlich habe ich die mangel¬
hafte Nahrungsaufnahme in den ersten Tagen des Anstaltaufenthaltes
unbeachtet gelassen.
In den ersten Tagen des Anstaltaufenthaltes läßt der Appetit
der Kranken meist wesentlich zu wünschen übrig. Schon beim geistig
normalen Menschen wirkt ein Aufenthaltwechsel, der ihn von seinen
Angehörigen trennt, besonders auch der Eintritt in eine Kranken¬
anstalt, appetitvermindernd. Wieviel mehr muß es die Versetzung
in eine Irrenanstalt tun, wo doch der größere Teil unserer Kranken
sich für gesund hält, den Anstaltaufenthalt also für einen unerträg¬
lichen Zwang. Eine derartige Appetitlosigkeit hält meist 2—3 Tage
an, dann überwindet der Hunger zusammen mit der Gewöhnung den
depressiven oder Zornaffekt. Nicht betroffen werden von dieser Appe¬
titverminderung einmal die mit starker Exaltation einhergehenden Fälle,
weiter die Fälle mit massenhaften Sinnestäuschungen und endlich die
Falle, wo die Demenz schon wesentlich fortgeschritten ist. Der¬
artigen Kranken ist ihre Umgebung eben gleichgültig.
Unter 400 geisteskranken Frauen verschiedenster Art, wie sie in
den letzten sieben Jahren hier verpflegt wurden, habe ich 146, d. h.
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36,6% gefunden, bei denen längere Zeit oder wiederholt kürzere Zeit
mangelhafte Nahrungsaufnahme verzeichnet stand. Unter diesen
erreichte die Nahrungsverweigerung in 30 Fällen, d. h. 7,5%, einen
so hohen Grad, daß die Ernährung mit der Schlundsonde eintreten
mußte.
Unter 300 Männern, die in dem gleichen Zeitraum hier verpflegt
wurden, ist eine längere mangelhafte Nahrungsaufnahme nur in
73 Fällen, = 24,33%, vermerkt, davon mußten 11 = 3,66% mit der
Schlundsonde gefüttert werden.
Im ganzen sind seit dem Bestehen der hiesigen Klinik 67 weibliche
und 20 männliche Patienten wegen völliger Nahrungsverweigerung
mit der Sonde gefüttert worden, d. h. jährlich etwa 1,65% der Kranken-
zahl. Ähnliche Zahlen habe ich auch in den Jahresberichten anderer
Anstalten verzeichnet gefunden.
Eigentümlich an diesen Zahlen ist das starke Überwie¬
gen des weiblichen Geschlechtes in der Zahl der
Zwangsfütterungen. Dabei verteilen sich die Zahlen auf die verschie¬
denen in Betracht kommenden Ursachen der Nahrungsverweigerung
wie auch auf die verschiedenen Psychosen ziemlich gleichmäßig. Auch
der Prozentsatz der kurzdauernden Fütterungen bei beiden Ge¬
schlechtern ist annähernd gleich (bei Männern 70, bei Frauen 64%).
Es scheint also der weibliche Organismus eine unzureichende Er¬
nährung weniger lange ertragen zu können, ohne daß bedrohliehe
Erscheinungen auftreten, als der männliche.
Die Frage nach den Ursachen der Nahrungsverweigerung hat
je nach der Auffassung der verschiedenen psycho-pathologischen
Zustände eine wechselnde Beantwortung erfahren.
Eickholt stellte nach Emminghaus einer instinktiven eine psychisch
motivierte, d. h. auf Sinnestäuschungen und Wahnvorstellungen beruhende
Nahrungsverweigerung gegenüber. Es wurde die Nahrungsverweigerung
bei der Melancholie und beim Blödsinn als instinktive aufgefaßt, da sie
,,aus dem hohen Grade von Passivität, Reaktions- und Energielosigkeit“
resultiere. In diesen Fällen war die Abstinenz das Symptom einer Krankheit,
zur Komplikation derselben wurde sie in den Fällen, in welchen neben
der Psychose Verdauungstörungen einhergingen.
Ich möchte die Fälle von Nahrungsverweigerung in solche ein¬
teilen, die psychisch, und solche, die somatisch bedingt sind. Zwischen
beiden würden dann noch die Fälle stehen, in denen unangenehme
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Nahrungsverweigerung bei Geisteskranken.
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somatische Beschwerden zu einer illusionären Verfälschung führen und
so Anlaß zu einer Abstinenz aus psychischen Gründen geben. Dabei
kann man die psychisch bedingte Nahrungsverweigerung als Symptom,
die somatisch bedingte als Komplikation auffassen, sofern nicht das
die Nahrungsverweigerung bedingende körperliche Leiden die Ur¬
sache für die ganze Geisteskrankheit bildet.
Unter den psychischen Ursachen kommen sowohl die krankhaften
Äußerungen unseres Affektlebens wie krankhafte Vorstellungen und
Empfindungen in Betracht.
Von den Affekten haben die depressiven schon beim
psychisch normalen Menschen einen appetitvermindernden Einfluß.
Kummer und Sorge, ebenso wie die physiologischen Grade der Angst
machen den Menschen mehr oder weniger appetitlos. Aber, wie die phy¬
siologische Niedergeschlagenheit und Angst nur bis zu einem bestimmten,
allerdings individuell sehr verschiedenen Grade ansteigt, erreicht auch die
Appetitlosigkeit und damit die mangelhafte Nahrungsaufnahme nur
•>ine bestimmte Grenze. Das natürliche Nahrungsbedürfnis wird stärker
als der Affekt, und eine reichliche Nahrungsaufnahme pflegt auch die
Wiederherstellung des seelischen Gleichgewichts zu fördern. Anders beim
geistig erkrankten Individuum. Wie sich der Affekt in einem der Ursache
gar nicht entsprechenden Maße steigert, so vermindert sich auch die
Nahrungsaufnahme weit unter die Grenze des Physiologischen. Die
Kranken nehmen nichts aus dem Gefühl völliger Appetitlosigkeit und
lassen sich auch nur widerwillig füttern. Die vorhandene Hemmung
unterstützt die Widerstrebenden dabei. Geht die Drepression noch weiter,
5« werden auch die Versündigungs- oder hypochondrischen Ideen nie
fehlen, und gerade in diesen schweren Fällen treten dann auch Halluzi¬
nationen und Illusionen auf. Endlich kann bei hochgradiger Depression
auch der Gedanke des Lebensüberdrusses Ursache für die Nahrungs¬
verweigerung sein.
Die Hemmung als solche beeinflußt auch ohne Depression die
Nahrungsaufnahme sehr ungünstig, wenn auch in den meisten Fällen
»las Hungergefühl schließlich obsiegt. Auch die Apathie vermindert in
ihren höheren Graden die Nahrungsaufnahme, doch wird es zu schwererer
Abstinenz meist nicht kommen, da die vegetativen Funktionen lange
Zeit gut erhalten bleiben. Allerdings wird ein solcher Kranker immer
gefüttert werden müssen. Seine Affekte und sein Handeln gleichen eben
denen der jüngsten Kindheit in allem.
Ebenso wie eine frohe und heitere Gemütstimmung physiologisch
die Eßlust steigert, auch tatsächlich zu vermehrter Nahrungsaufnahme
führt, so tut es auch die pathologische heitere Verstimmung.
Die Nahrungsaufnahme ist bei mäßiger Hyperthymie eine recht gute,
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steigert sich auch bis zu einem gewissen Grade im Verhältnis zur Stärke
des Affekts. Dann aber, bei noch weiterer Steigerung der Exaltation,
sinkt die Nahrungsaufnahme. Der Appetit mag gleichbleiben, aber der
Kranke wird von tausend anderen Dingen in buntem Wechsel in An¬
spruch genommen, so daß er zum Essen keine Zeit mehr hat; seine Hyper-
vigilität läßt ihn den Löffel auf dem Wege zum Munde wieder senken
oder den Inhalt desselben verschütten. In den höchsten Graden der Tob¬
sucht ist er dann auch nicht mehr mit dem Löffel zu füttern, er nimmt
keinerlei Nahrung, speit die genommene oft wieder aus. Sein heiterer
Affekt läßt ihn dabei in diesem Stadium jeden Zwang doppelt stark
empfinden, und aus Zorn darüber widersetzt er sich der Nahrungsaufnahme
vollständig.
Von den Störungen des Vorstellens sind die Zwangsvorstel¬
lungen für die Nahrungsaufnahme kaum jemals von Bedeutung.
Wenn ein Kranker an der Vorstellung leidet, er schneide, wenn er das
Fleisch zu seiner Mahlzeit schneidet, in den Körper seines Bruders, so
wird das nie Ursache einer Nahrungsverweigerung werden; er wird sich
einfach sein Fleisch geschnitten geben lassen, im Notfall sich einmal mit
Vegetabilien begnügen.
Von großer Bedeutung sind dagegen die Wahnvorstellungen.
Der Größenwahn schaltet dabei aus. Bei ihm wird im Gegenteil meist
eine gute Nahrungsaufnahme gemäß seiner krankhaft heiteren Affekt¬
lage stattfinden. Es kommt ja vor, daß der Kranke die Speisen für seine
Person zu schlecht hält, sie deshalb verschüttet, dem Pfleger ins Gesicht
schleudert, aber meist wird ihn der Hunger die nächste Mahlzeit um so
gieriger verzehren lassen. Dagegen können Verfolgungsvorstellungen
ebenso wie alle Formen des Kleinheitswahnes Nahrungsverweigerung
bedingen.
Unter den Verfolgungsvorstellungen sind es naturgemäß die Ver¬
giftungsvorstellungen, die die Nahrungsaufnahme am meisten beein¬
flussen. Daß man mühelos einen Menschen dadurch aus der Welt schaffen
kann, daß man seinen Speisen Gift zusetzt, weiß jeder. Es ist deshalb
ein gelegener Anknüpfungspunkt für persekutorische Wahnvorstellungen.
Geschmacks- und Geruchshalluzinationen wie krankhafte oder normale
Organgefühle geben meist den Anlaß dazu. Bald sind die Vorstellungen
ganz unbestimmt; der Kranke glaubt, man wolle ihn vergiften oder durch
Betäubungsmittel schädigen, bald nehmen sie bestimmte Form an: Phos¬
phor, Arsenik, Lysol, sehr häufig bei Paralytikern mit Vergiftungsideen
auch Quecksilber und Sublimat werden ins Essen getan, um sie aus dem
Wege zu schaffen. Daß ein Mensch mit solchen Wahnvorstellungen nichts
ißt, ist ganz verständlich, und man muß sich eher wundern, daß er trotz
solcher Vorstellungen meist doch ißt. Es ist das daraus zu erklären, daß
die Wahnideen häufig nur eine geringe Lebhaftigkeit haben, daß
das instinktive Gefühl des Hungers sie überwindet. In einem meiner Fälle
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Nahrungsverweigerung bei Geisteskranken.
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war es auch so, daß die Vergiftungsfurcht immer erst nach der Mahlzeit
auftrat, wahrscheinlich hervorgerufen durch gastro-intestinale Sensa¬
tionen; in einem anderen Falle gab der Kranke, der längere Zeit mit der
Schlundsonde gefüttert war, als Grund für seine spontane Nahrungsauf¬
nahme an, daß wohl immer noch Gift im Essen sei, aber dasselbe könne
ihm jetzt nicht mehr schaden. Es hatte also eine leichte Größenidee die
Vergiftungsfurcht kompensiert. Schwerwiegend werden diese Ideen in
den Fällen, in denen neben ihnen eine Störung der Empfindungen, d. h.
besonders der Empfindung des Hungers vorhanden ist, sei es, daß eine
schwere Depression den Kranken beherrscht, sei es, daß eine organische
oder funktionelle Lähmung des Vago-Akzessorius die Psychose kompli¬
ziert, weiter endlich bei vorgeschrittener Demenz.
Die Verarmungsideen beeinflussen die Nahrungsaufnahme eben¬
falls. Die Vorstellungen, das Essen nicht bezahlen zu können, all ihr Hab
und Gut zu verzehren, so daß ihre Angehörigen darben müßten, haben oft
deletären Einfluß auf die Kranken. Dazu kommen dann noch die Depres¬
sion über dieses traurige Schicksal, die besonders bei wohl situierten
Geisteskranken groß ist, und schließlich häufig Versündigungsvorstellungen.
Vorstellungen der letzteren Art sind bei Kranken, die das Symptom
der Nahrungsverweigerung bieten, sehr häufig. Es ist durchaus logisch,
daß bei einem Geisteskranken, dessen Vorstellungskreis wesentlich einge¬
engt ist, zu dem Gefühl, eine schwere Sünde begangen, gar die ganze Welt
zugrunde gerichtet zu haben, der Gedanke hinzukommt: Du bist nicht
mehr wert, die Luft zu atmen, Nahrung zu Dir zu nehmen. Maßlos wie
die Versündigungsideen sind auch die Reaktionen auf dieselben. Aber
auch der psychisch Gesunde, der aus Fahrlässigkeit ein Unglück ver¬
schuldet hat, verübt oft Selbstmord. Dasselbe Gefühl leitet sicher oft
auch den Geisteskranken, nur, daß er mangels anderer Möglichkeit den
Tod durch Verhungern sucht. Daß die Depression eine große Rolle dabei
spielt, ist selbstverständlich.
Von noch größerer Bedeutung ist der Krankheitswahn. Wie phy¬
siologisch bei jeder körperlichen Krankheit, besonders jeder Krankheit
der Verdauungsorgane, der Appetit sich verringert, so geschieht es auch
bei den Geisteskrankheiten mit hypochondrischen Wahnvorstellungen.
Nur ist hier die Appetitlosigkeit und damit der Widerstand gegen die
Nahrungsaufnahme weit stärker, weil auch die hypochondrischen Ideen
weit maßloser als die natürlichen Störungen sind. Diese Gruppe steht
sicher in fließenden Übergängen zu den somatischen Ursachen der Nah¬
rungsverweigerung. Eis ist wohl anzunehmen, daß in den Fällen, wo ein
Kranker an Magenkrebs zu leiden glaubt, wenigstens ein leichter Magen-
katarrh besteht, daß leichte Sensationen von seiten des Gastrointestinal-
traktus durch illusionäre Auslegung die Vorstellungen vom Abfaulen der
Eingeweide, Verschluß des Darmes usw. wachrufen. Die hypochon¬
drischen Wahnideen sind jedenfalls von größtem Einfluß auf die Nahrungs-
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aufnahme. Es kommt bei ihnen besonders gerade zu der teilweisen Nah¬
rungsverweigerung, die die Kranken langsam, aber stetig dem Kräfte¬
verfall näher bringt.
Von den Störungen der Empfindung sind die Illusionen weit
häufiger Ursache von Nahrungsverweigerung als die Halluzinationen.
Von den letzteren sind es hauptsächlich die mit Wahnvorstellungen auf¬
tretenden und weiterhin die im Gebiete des Geschmacks- und Geruchs¬
nerven, die zu Abstinenz führen. Wenn einem Kranken alles bitter schmeckt
wenn jede Speise den Geschmack von Rattengift, Kot usw. hat, so wird
er sie ebensowenig essen, als in den Fällen, wo Phosphor- oder Schwefel¬
dämpfe oder allgemein „üble Gerüche“ von den Speisen aufzusteigen
scheinen. Nur dem Umstande, daß diese Art der Halluzinationen ver¬
hältnismäßig selten ist, ist es zu danken, daß die schwere Nahrungs¬
verweigerung nicht noch häufiger bei unseren Geisteskranken ist.
Von großer Bedeutung ist die Zahl der Sinnestäuschungen. Ein
massenhaftes Einstürmen läßt den Kränken ebenso wie die Tobsucht
gar keine Zeit zum Essen. Nur mit Mühe wird man einem derartigen
Kranken die Nahrung einlöffeln können, meist wird er den Bissen im Munde
behalten, die Flüssigkeit wieder herauslaufen lassen, weil er inzwischen
schon wieder von neuen Erscheinungen in Anspruch genommen ist und
das Schlucken vergessen hat. Weiter sind wichtig die imperativen
Gehörstäuschungen. Wenn ein Kranker hört, wie Gott, Christus, der
Kaiser ihm zuruft: „Du sollst nichts essen“, so wird ihm sicher nichts
beizubringen sein. Den Grad der Nahrungsverweigerung wird auch hier
die Stärke der Erscheinungen bestimmen. Ebenso wird jede Fütterung
bei Kranken mit faszinierenden Visionen erfolglos sein.
Die Illusionen führen hinüber in das Gebiet der somatischen
Ursachen der Nahrungsverweigerung. Diese liegen häufig schon im
Munde. Stomatitiden, Anginen, besonders auch Zahnschmerzen sind bei
Geisteskranken sehr häufige Erscheinungen und beeinflussen die Nahrungs¬
aufnahme sehr. Die Kranken beißen dabei die Zähne fest aufeinander,
und der Mangel einer Behandlung läßt das zugrunde liegende übel nur
noch schlimmer werden. Die mannigfachen Magendarmkrankheiten, die
bei den Geisteskrankheiten, besonders den mit Defekten einhergehenden
Formen, infolge der mangelhaften Einsicht in das, was zuträglich und
unzuträglich ist, infolge der häufig direkt tierischen Art, alles Eßbare,
ob verdorben oder unverdorben, zu verschlingen, sehr häufig sind, geben
naturgemäß zur Nahrungsverweigerung häufig Anlaß.
Weiter kann eine mangelhafte Nahrungsaufnahme durch orga¬
nische Erkrankungen der Nervengebiete, die den Schluckakt
auslösen, bedingt sein. Das ist unter den mit psychischen Alterationen
einhergehenden Krankheiten hauptsächlich bei der Dementia paralytica
und bei den Schlaganfällen der Fall. Die Störungen sind meist nur vor¬
übergehende. Wenn das Leben überhaupt erhalten bleibt, so sind diese
Störungen meist die ersten, die sich wieder ausgleichen.
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Nahrungsverweigerung bei Geisteskranken.
333
Schließlich ist noch des Eigensinnes vieler Geisteskranker als
Grandes für die Nahrungsverweigerung zu gedenken.
Ein Kranker, der nebenbei Vergiftungsideen äußerte, verlangte
binnen 24 Stunden seine Entlassung, sonst würde er keine Nahrung mehr
zu sich nehmen. 5 Tage beschränkte er sich auf ganz geringe Quantitäten
Flüssigkeit. Als dann zur Sondenfütterung geschritten werden sollte,
trank er die Ernährungsflüssigkeit aus, nahm dann 2 Tage wieder nichts,
wurde hierauf 2 Tage mit der Schlundsonde gefüttert und aß seitdem mit
gutem Appetit. Die Vergiftungsideen bestanden weiter.
In anderen Fällen erklärten die Kranken: „Ich will aus Trotz nichts
essen“, oder „Jetzt will ich gerade nicht essen“. Wieweit andere Ur¬
sachen der Nahrungsverweigerung in diesen Fällen unterstützend wirken,
ist fraglich. Bei einer Kranken mit Dem. praecox auf 'dem Boden
einer Hysterie erleichterte die ausgebreitete Analgesie, die sich auch auf
den Magen erstreckt haben dürfte, die Ausführung des Vorhabens sehr,
sonst dürften wohl meist Verfolgungsideen mit den Grund für die Ab¬
stinenz bieten.
Der von Schule vertretenen Ansicht, daß die Nahrungsverweigerung
bei Delirium acutum und bei der Manie in einer außerordentlich
gesteigerten Reizbarkeit des motorischen Systems ihre Ursache habe,
und daß der Reflexkrampf der Schlingmuskeln die Aufnahme der
Nahrung hindere, bedürfen wir heute nicht mehr. Wir kommen
mit den Erklärungen aus dem Affekt und den Empfindungsstörungen
bei beiden Krankheiten vollkommen aus.
Was die Häufigkeit der einzelnen Ursachen
der Nahrungsverweigerung betrifft, so sind natürlich genaue Zahlen
nicht zu geben, da die Gründe dafür bei vielen Kranken öfter wechseln.
Unter 87 Fällen künstlicher Ernährung wurden 39 mal im Zusammen¬
hang mit der Nahrungsverweigerung Wahnvorstellungen geäußert,
davon 7 mal allgemeine Verfolgungsideen, 13 mal Vergiftungsvorstel¬
lungen, 9 mal Versündigungs- und 10 mal hypochondrische Ideen.
In 24 Fällen ließ die allgemeine Hemmung, sei es, daß dieselbe mit
Depression einherging, sei es, daß sie das Bild der Katatonie oder des
Stupors zeigte, die Kranken die Nahrungsaufnahme verweigern. Es
ist selbstverständlich, daß in vielen dieser Fälle nicht geäußerte Wahn¬
ideen vorhanden gewesen sind. In 8 Fällen war starke Tobsucht das
einzig sichere Moment für die Nahrungsverweigerung. In 7 Fällen
beherrschten Halluzinationen den Kranken, darunter 4 mal Ge¬
schmacks-, 3 mal Gehörstäuschungen. In 4 Fällen bildete die krank-
Zeitschrift für Psychiatrie. LXLX. 3. 23
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hafte Eigenwilligkeit den direkten Grund für die Abstinenz. In
2 Fällen wurden Selbstmordideen geäußert, in 3 Fällen endlich waren
es rein körperliche Zustände (2 mal Lungenentzündung, 1 mal Darm¬
tuberkulose), die Ursache für die Anwendung der Schlundsonde in
den letzten Lebenstagen wurden.
An Häufigkeit der Nahrungsverweigerung steht allen Krank¬
heiten voran die Dementia praecox mit 35 von 87 Fällen.
Der Beweggrund für die Abstinenz war 18 mal die katatonische Hem¬
mung, 15 mal hinderten Wahnideen die Nahrungsaufnahme, 2 mal
Halluzinationen; in 2 Fällen schien der krankhafte Eigensinn den
direkten Grund zu bilden, in einem anderen Falle wurden Selbst¬
mordgedanken geäußert. In 16 Fällen kam es bei a k u t e m h a 11 u -
zinatorischem Irresein zu Nahrungsverweigerung, da¬
runter 4 mal bei gänzlicher Verwirrtheit, die übrigen Male unter dem
Einfluß bestimmter Sinnestäuschungen. An dritter Stelle steht die
Dementia senilis mit 11 Fällen. Wahnvorstellungen beein¬
flußten 8 mal die Kranken, 2 mal ließ sich nur der hochgradige Stupor
als Ursache feststellen, einmal bestand tobsüchtige Erregung. Die
Melancholie stellt 8 Fälle von Abstinenz; unter ihnen sind
7 mal Wahnideen (3 mal Versündigungs-, je 2 mal Vergiftungs- und
Krankheitswahn) die Ursache, 1 mal wurde nichts derartiges geäußert,
dagegen bestand sehr starke Depression. Bei Manischen wurde
2 mal die Schlundsondenfütterung notwendig; beide Male handelte
es sich um hochgradige Tobsucht. Ferner wurden öParanoiker
gefüttert. Außer bei einem Fall, bei dem ein körperliches Leiden
die Ursache abgab, handelte es sich um Verfolgungsvorstellungen, zu
denen in 2 Fällen die krankhafte Eigenwilligkeit als dominierendes
Symptom hinzukam. Dabei war bei allen bereits eine sekundäre
Demenz leichteren Grades vorhanden. Bei Imbezillen mußte
7 mal zur Schlundsonde gegriffen werden, dabei war bei 2 Idioten
der allgemeine Stupor die Ursache, in einem Falle wurden hypochon¬
drische Ideen geäußert, in einem anderen bestand hochgradige Tob¬
sucht, 1 mal waren Selbstmordgedanken die Ursache, in 2 Fällen
bestand ein schweres körperliches Leiden. Von 2 Fällen von Hy¬
sterie, die jedenfalls beide auf Dem. praecox sehr verdächtig sind,
wurden 1 mal Gcschmackshalluzinationen geäußert, im zweiten war
ein stuporöser Zustand die Ursache der Nahrungsverweigerung. Be-
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Nahrungsverweigerung bei Geisteskranken.
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denkliche Nahrungsverweigerung bei Paralytikern hat sich
unter meinen Fällen nicht gefunden.
Die Dauer der schweren Abstinenz schwankt zwischen wenigen
Tagen und Monaten. Während in 57 Fällen nach einer Sonden¬
fütterung bis zu 6 Tagen die natürliche Nahrungsaufnahme wieder
eintrat, mußte in 11 Fällen die künstliche Ernährung 1 bis 8 Monate
angewandt werden. Von den Fällen mit kurzdauernder Fütterung
genügte in 19 Fällen eine eintägige, oft nur eine einmalige Anwendung
der Schlundsonde, um den Kranken zur selbständigen Nahrungs¬
aufnahme zu bringen. Dabei ist die Zahl der Fälle ziemlich hoch,
die einige Tage gefüttert wurden, dann wieder Nahrung zu sich nahmen,
nach einiger Zeit wieder abstinierten, abermals gefüttert wurden usw.
Es handelte sich in fast allen Fällen der letzterwähnten Art um Dem.
praecox mit Katatonie.
Was die Art der Krankheit anbetrifft, so waren unter den 57 Fällen,
in denen die künstliche Ernährung weniger als eine Woche dauerte,
19 akute Psychosen ohne Intelligenzdefekt (Manie, Melancholie,
akutes halluzinatorisches Irresein). Die Fälle, die über 2 Wochen
gefüttert werden mußten, gehörten zu den mit Intelligenzdefekt ver¬
bundenen Geistesstörungen (Dem. praecox, Dem. senilis, Imbezillität)
mit Ausnahme eines Falles von Paranoia, der aber schon Zeichen
von sekundärem Schwachsinn bot, ebenso wie 2 Fälle von seniler
Melancholie.
Daß die Prognose der Krankheitfälle mit Nahrungsverwei¬
gerung schlechter ist als die ohne dieselbe, ist einleuchtend. Die durch
die mangelhafte Nahrungsaufnahme hervorgerufene Verringerung der
Widerstandkraft läßt die Kranken schädigenden Einflüssen eher er¬
liegen. Ferner handelt es sich bei den mit länger dauernder Nahrungs¬
verweigerung einhergehenden Krankheitfällen meist um „schwere“
Fälle ihrer Art. So sind von den mir zu Gebote stehenden Fällen
etwa die Hälfte (bei den Frauen 48,71%, bei den Männern 60%)
gestorben. Dabei war unter 87 Fällen einer, in dem die künstliche
Ernährung als solche indirekt den Tod herbeiführte, insofern ein
längere Zeit gefüttertes junges Mädchen, das absichtlich die Speisen
neben der Sonde wieder herauspreßte, einer Lungengangrän erlag.
Welche Mittel haben wir nun zur Bekämpfungder Nah¬
rungsverweigerung, welche stehen uns zu Gebote, dem
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Kranken während der Abstinenz Nahrung zuzuführen, welche, ihn
wieder zur selbständigen Nahrungsaufnahme zu veranlassen?
Unsere Tätigkeit muß sich hierbei stets darauf richten, zuerst die
Ursachen für die mangelhafte Nahrungsaufnahme zu ergründen und
darnach zu entscheiden, wie man dieses unangenehme Symptom
beseitigen will.
Wie die Abstinenz meist psychisch bedingt ist, muß man zuerst
immer versuchen, durch psychische Beeinflussung Abhilfe zu schaffen.
Vor allem gehört dazu gutes Zureden und Nötigen. Viele Kranke,
die das Essen, stellte man es ihnen einfach hin, nicht anrühren würden,
essen es unter gutem Zuspruch zu Ende auf, eine Wirkung, die ja auch
jeder geistig gesunde Mensch an sich beobachten kann. Es sind
besonders die Kranken, bei denen die mangelhafte Nahrungsaufnahme
in einem leichten depressiven Affekt und der allgemeinen Hemmung
begründet ist. Große Geduld muß auch dabei Eigenschaft jedes Pflegers
von Geisteskranken sein.
Während bei dem einen Kranken gutes Zureden hilft, wird es
bei dem anderen das Gegenteil hervorbringen; jeder, auch der leiseste
Zwang wird das Motiv, „sich gegenüber der schmerzlich und feindlich
empfundenen Außenwelt in Opposition zu setzen ( Krafft-Ebing)'\
nur noch verstärken. Aber glücklicherweise ist in diesen Fällen meist
das Hungergefühl in den Momenten jedenfalls, wo zum Hervorkehren
der Opposition kein Grund vorliegt, stärker als die letztere. Man
wird in diesen Fällen dadurch zum Ziele kommen, daß man die Nah¬
rungsverweigerung scheinbar unbeachtet läßt, den Kranken weiterhin
das Essen ans Bett stellen und dort bis zur nächsten Mahlzeit stehen
läßt. In Augenblicken, wo sie sich unbeobachtet glauben (die Einzel¬
zimmerbehandlung ist dafür sehr geeignet), werden diese Kranken
schnell einen Teil oder das Ganze zu sich nehmen, was ebenso wieder
weder vom Arzte noch vom Pflegepersonal beachtet werden darf.
Wichtig ist dabei immer, über die Menge der tatsächlich genossenen
Speisen Kontrolle zu führen.
Den Kranken mit Vergiftungsfurcht wird man das Essen vor¬
kosten lassen, unter Umständen ohne ein Wort der Erklärung. Die
Kranken selber bringen uns oft auf diesen Ausweg. Einer unserer
Patienten verlangte es direkt, oder er nahm anderen Kranken ihr
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Nahrungsverweigerung bei Geisteskranken.
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Essen weg und ließ sein eigenes stehen, ein Umstand, den man sich
eventuell ruhig zunutze machen kann.
Hierher gehört auch ein im Jahresbericht der Pflegeanstalt Tost
(1910) veröffentlichter Fall, wo ein Kranker sich 4 Monate mit der Schlund¬
sonde ernähren ließ, dann aber beurlaubt wurde, als sich herausstellte,
daß er die Lebensmittel, die ihm von seinen Angehörigen geschickt wurden,
oder die er sich selber kaufen konnte, mit Appetit verzehrte. Eine schwere
Nahrungsverweigerung kann also sogar die Entlassung aus der Anstalt
bedingen; in der Regel macht sie allerdings die letztere erst nötig.
Bei hypochondrischen Kranken kann man bis zu einem ge¬
wissen Grade auf ihre Klagen eingehen und nach gründlicher Unter¬
suchung eine etwas abweichende Diät aufstellen; man wird dann oft
den gewünschten Erfolg haben. Allerdings ist dies Verfahren bei den
Fällen mit vorgeschrittenem Intelligenzdefekt nutzlos.
In den leichteren Fällen, wo mangelnder Appetit ohne Wahn¬
vorstellungen oder Sinnestäuschungen vorliegt, läßt sich, worauf
besonders Emmvnghaus hinweist, die Abstinenz z. T. verhüten durch
diätetische Maßnahmen und die Art der Servierung. Es handelt sich
damit gerade um die Therapie der teilweisen Nahrungsverweigerung,
die ja die weitaus häufigere ist. Auswahl und Zubereitung der Speisen
wie Gesellschaft beim Essen und angemessene Servierung sind ja
schon beim Gesunden sehr geeignete Mittel, die Nahrungsaufnahme
zu steigern.
Das größte Gewicht ist auf die Behandlung selbst der gering¬
fügigsten körperlichen Störungen, vor allem derjenigen des Ver¬
dauungskanales, zu legen. Dazu gehört einmal die Mundpflege und
besonders die Zahnpflege. Zahnschmerzen sind infolge des überaus
häufig defekten Gebisses unserer Geisteskranken, das seinerseits wieder
aus der mangelhaften Zahnpflege resultiert, ein sehr häufiges Leiden,
und in vielen Fällen, wo die Kranken mit Aufbietung aller Kräfte
die Zähne aufeinanderpressen und völlig abstinieren, vermag eine
Zahnextraktion die Nahrungsverweigerung zu heilen. Endlich ist
die Behandlung der mannigfachen Krankheiten des Verdauungskanales,
besonders auch die Sorge für den Stuhlgang, häufig zugleich die Be¬
handlung der Abstinenz.
Bei den höheren Graden ungenügender Nahrungsaufnahme wird
man, soweit das durchführbar ist, den Kranken durchweg Bettruhe
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verordnen, um den Aufbrauch der Kräfte nach Möglichkeit zu ver¬
zögern. Auch mit Beruhigungsmitteln darf man aus demselben Grunde
noch weniger sparsam sein wie bei den übrigen Kranken, ganz abge¬
sehen davon, daß dieselben die Fütterung solcher Patienten wesent¬
lich erleichtern. Man muß eben den Verbrauch der Nährstoffe mit
allen Mitteln einschränken in der Hoffnung, daß die psychische Kon¬
stellation beizeiten einer spontanen genügenden Nahrungsaufnahme
wieder günstig wird.
Was die Nahrung betrifft, die bei Abstinierenden am Platze ist,
so muß sie zwei Bedingungen erfüllen, sie muß leicht verdaulich sein,
und dabei möglichst viel ausnutzbare Nährstoffe enthalten. Dabei
wird man Flüssigkeiten den Vorzug geben, da erfahrunggemäß Flüs¬
sigkeiten noch häufig in genügender Menge genommen werden, wo die
Aufnahme fester Nahrung nicht mehr zu erreichen ist. Souveränes
Nahrungsmittel ist darum die Milch, die man mit den verschiedensten
Zutaten, Eiern, Kognak, Portwein, vor allem auch Kaffee den Kranken
angenehmer machen muß, da reine Milch meist bald Widerwillen
erregt. Häufig werden auch frische Gemüse noch reichlich genommen,
w o Fleischnahrung völlig verweigert wird. Von den künstlichen Nähr¬
mitteln, besonders den Eiweißpräparaten ist weitgehendster Gebrauch
zu machen. Die günstige Wirkung kleiner Alkoholdosen auf die
Eßlust pflegt auch bei Geisteskranken einzutreten.
In schwereren Fällen der Abstinenz ist der Kranke nicht mehr
zur selbständigen Nahrungsaufnahme zu bringen, wohl aber schluckt
er noch, wenn er gefüttert wird. Die Fütterung mit dem Löffel führt
hauptsächlich bei gehemmten Kranken und solchen, die durch stärkere
Exaltation oder massenhafte Halluzinationen am Essen gehindert
werden, oft zum Ziele. Natürlich wird ein mehr oder weniger starker
Widerstand gegen die Fütterung zu überwinden sein. Ich kenne eine
Kranke, die spontan zeitweise nichts nimmt, von zwei Wärterinnen
gehalten werden muß, während eine dritte ihr das Essen in den Mund
stopft. Dann nimmt sie ganz willig und kaut es gut durch. In solchen
Fällen kann man sieh die Fütterung erleichtern, wenn man kurz vor¬
her ein Beruhigungsmittel gibt; meist wirken wenige Dezimilligramm
Hyoszin am besten.
Solange der Kranke noch kaut und schluckt, ist die Fütterung
noch einfach, schwieriger wird sie. wenn er die Zähne aufeinander-
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Nahrungsverweigerung bei Geisteskranken.
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beißt. Man kann dann versuchen, durch eine Zahnlücke Flüssigkeit
einzugießen, aber man muß sich der Gefahr bewußt sein, daß diese
Manipulation bei widerstrebenden oder Kranken mit völliger Reso-
lution leicht zum Eindringen der Flüssigkeit in den Kehlkopf führen
kann. Man muß immer erst mit geringen Quantitäten versuchen, ob
der Kranke schluckt, und muß diesen Versuch bei jeder Fütterung
wiederholen. Zu solchem Eingießen eignet sich besonders die Schnabel¬
tasse.
Auf diese Weise kann man oft lange Zeit den Kräftezustand eines
Kranken einigermaßen auf der Höhe erhalten, besonders, wenn der
Kranke noch mit dem Löffel zu füttern ist. Nur zu häufig aber muß
man zu dem letzten Mittel greifen, um derartigen Kranken Nahrung
zuzuführen, der künstlichen Ernährung. Von den Arten derselben
kommen für unsere Zwecke zwei in Betracht, die Ernährung per
rectum und die Schlundsondenfütterung.
Nährklystiere können beim psychisch Gesunden die Er¬
nährung per os ersetzen oder wenigstens ergänzen. Aber der Wert
der Nährklystiere ist von einem Faktor abhängig, auf den wir bei
unseren Geisteskranken meist verzichten müssen, vom guten Willen
der Patienten. Unsere Kranken werden den Einlauf einfach laufen
lassen. Bis zu einem gewissen Grade kann man dem durch hohe
Eingießungen nur geringer Mengen von Nährflüssigkeit unter Zusatz
von Opium event. nach vorangegangenem Reinigungsklysma ent¬
gegenarbeiten. Für dauernde Ernährung reichen die Klystiere jeden¬
falls nicht aus. Das Nährklystier muß in vielen Fällen versucht werden,
bevor man zur Schlundsonde greift, meist wird der Versuch erfolglos
bleiben.
Als letztes Hilfsmittel bleibt die Fütterung mit der Schlund-
sonde.
Die Schlundsonde hat seit ihrer ersten Anwendung viele An¬
feindungen durchmachen müssen. Besonders zu der Zeit, als das
No-restraint-System aufkam, wollte man jeden Zwang abschaffen,
auch die Zwangsfütterung; der unästhetische Anblick, den die An¬
wendung der Sonde bei widerstrebenden Kranken bietet, hat ihr
erbitterte Gegner geschaffen; endlich wurde auf den verschlimmernden
Einfluß hingewiesen, den die Zwangsfütterung auf manche Geistes¬
krankheiten, vor allem die Melancholie haben sollte. So kam es,
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Krueger,
daß 1881 Eickholdt die Schlundsonde nur bei den Fällen von Para¬
lyse, die mit Schluckstörungen einhergehen, angewendet wissen
wollte, nie bei Nahrungsverweigerung auf psychischer Grundlage.
Heutzutage wird wohl niemand den hohen Wert der Schlundsonde
für die Praxis der Irrenärzte bezweifeln, und, wenn wir auch heute
Vorsicht in ihrer Anwendung üben, so geschieht es, um dies letzte
Hilfsmittel nicht zu früh anzuwenden, und weil die Anwendung der
Sonde auch in den geübtesten Händen Gefahren mit sich bringt.
Von der Gefahr einer Verschlimmerung der Psychose sehe ich ab.
Wohl kann die zwangweise Fütterung zu neuen Wahnvorstellungen
Anlaß geben, wohl kann sie das Widerstreben des Kranken noch
vermehren, aber diese Verschlimmerung wird in bezug auf den Allgemein¬
zustand, der die Zwangsfütterung bedingt, nicht in Betracht kommen.
Die Gefahren der Schlundsonde liegen darin, daß die Sonde einen
falschen Weg nimmt und besonders, daß bei der Fütterung auf irgend¬
eine Weise Speiseteilchen in die Luftwege gelangen.
Die Schlundsondenfütterung wird in der Regel so ausgeführt,
daß eine mittelstarke Gummisonde mit verstärkter Spitze, die mit
seitlichen Öffnungen versehen ist, bei etwas vorgebeugter Kopf¬
haltung durch ein Nasenloch in den unteren Nasengang eingeführt
und vorsichtig durch Rachen und Speiseröhre in den Magen vorge¬
schoben wird. Zur Einführung durch den Mund mit Hilfe eines Mund¬
sperrers, die auf viel größeren Widerstand stößt, wird man sich nur
dann entschließen, wenn die Einführung durch die Nase infolge patho¬
logischer Verhältnisse nicht möglich ist. Zu beachten ist, daß der Weg
durch die Nase etwas länger als durch den Mund ist, die Sonde also
etwas weiter geschoben werden muß, um sicher im Magen zu sein.
Die Nährflüssigkeit wird dann unter mäßigem Druck eingegossen,
der Schlauch abgeklemmt und vorsichtig, aber ohne Zögern heraus¬
gezogen.
Eine unrichtige Lage der Schlundsonde kann dadurch eintreten,
daß dieselbe in die Mundhöhle gelangt und sich hier aufrollt. Ein
derartiges Mißgeschick wird bei vorsichtiger Handhabung nie unbe¬
merkt bleiben. Kann man einen Schluckakt zum Vorschieben der
Sonde über das Gaumensegel benutzen, um so besser; es geht auch
ohne denselben. Weiter war früher die Gefahr gefürchtet, in den
Kehlkopf und die Luftröhre zu gelangen. Das ist, ohne daß ein
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Nahrungsverweigerung bei Geisteskranken.
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krampfhafter Husten und die Dyspnoe es sofort verrät, nur möglich
bei Kranken mit Anästhesie des Kehlkopfes, und auch bei diesen
wird eine Veränderung der Atmung sich nach kürzester Zeit einstellen.
Ein kurzes Zuwarten wird also diese Gefahr erkennen lassen. Weiter
bewährt sich sehr das Mittel, den Kranken zum Anlauten zu bringen,
da dann die Sonde sicher nicht zwischen den Stimmbändern liegt.
Endlich vermag man sich, um ganz sicher zu gehen, durch Einblasen
von Luft von der richtigen Lage der Sonde zu überzeugen.
Größer ist eine andere Gefahr. Die Fütterung eines geistig Ge¬
sunden ist ungefährlich, weil er dieselbe unterstützt; die Fütterung
eines Bewußtlosen ist, sofern man sich von der richtigen Lage der
Sonde überzeugt und nicht zu große Mengen eingießt, so daß ein
Überfließen erfolgt, kaum mit Gefahr verbunden; die Fütterung vieler
Geisteskranker ist deshalb gefährlich, weil sie bei ihrem Widerstreben
die Flüssigkeit neben der Sonde herauspressen und damit die Gefahr
der Aspiration herbeiführen, die mit Rücksicht darauf, daß ein Fremd¬
körper, eben die Sonde, den Abschluß des Kehlkopfes erschwert,
weit größer ist als beim gewöhnlichen Erbrechen. Dieser Gefahr kann
man durch vorherige Beruhigung des Kranken Vorbeugen, sie aber
nie sicher verhindern.
Ein Beispiel dafür: Ein 17jähr. Mädchen mit Dem. praecox ver¬
weigerte nach mehrmonatiger Anstaltpflege die Nahrung. „Ich will aus
Trotz nichts essen“ wurde als Grund geäußert. Die Schlundsondenfütterung
wurde 3 mal täglich vorgenommen, zuerst ohne Schwierigkeiten. In der
letzten Zeit hatte Pat. aber gelernt, neben der Sonde zu erbrechen, so daß
wiederholt die Fütterung unterbrochen werden mußte. Nach etwa einem
Monat erfolgte plötzlich wieder spontane Nahrungsaufnahme; wenige
Tage später ließen sich die ersten objektiven Zeichen einer Lungengangrän
feststellen, nach 3 Wochen erfolgte der Tod. Die Obduktion erwies zwei
gangränöse Herde in der rechten Lunge.
Nur dringende Anzeichen mangelhafter Ernährung sollen uns
deshalb zur Anwendung der Schlundsonde leiten. Dabei wird uns
einmal der deutlichste .Maßstab für den Grad der Ernährung, das
Körpergewicht, unterstützen. Besonders in den Fällen mit teilweiser
Nahrungsverweigerung wird man durch wöchentliche Wägungen
feststellen, inwieweit die Nahrungsaufnahme zu wünschen übrig
läßt. Aber auch ohne exakte Wägungen wird es meist möglich sein,
ans der Welkheit und Blässe der Haut, der Müdigkeit und Schlaff-
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heit der Bewegungen, kurz der allgemeinen Hinfälligkeit einen Schluß '
auf den Grad der Mangelhaftigkeit der Nahrungsaufnahme beim
Fehlen sonstiger Erkrankungen zu ziehen, so daß nicht erst eine
Verschlechterung des Pulses und der drohende Kollaps zur Schlund¬
sonde greifen lassen. Die Herztätigkeit wird immer ein sicheres Maß
des Kräftezustandes abgeben. Die Kontrolle des Pulses ist deshalb
bei abstinierenden Kranken ein Haupterfordernis der ärztlichen Auf¬
sicht. Sobald der Puls kleiner und frequenter wird, muß unbedingt
künstliche Ernährung eintreten. Wertvoll ist auch das Auftreten
des Azetongeruches und des Azetons im Urin.
Unter Berücksichtigung dieser Momente kann man in der Regel,
wie von den meisten Autoren angegeben wird, 5—6 Tage bei völliger
Abstinenz und mittlerem vorherigen Ernährungszustand mit der
künstlichen Ernährung warten. Wird, wie es vorkommt, Wasser in
hinreichender Menge genommen, so kann sich diese Zeit bei ruhigen
Kranken auf 10—14 Tage erhöhen; bei unruhigen Kranken wird man
natürlich früher mit der Zwangsfütterung beginnen müssen.
Greift man nun zur Schlundsonde, so erlebt man häufig, daß
der Kranke auf die bloße Drohung hin die Nährflüssigkeit austrinkt,
in anderen Fällen hat eine einmalige Fütterung denselben Effekt.
Es empfiehlt sich deshalb, nach der ersten Fütterung stets zu ver¬
suchen, den Kranken zur selbständigen Nahrungsaufnahme zu bringen.
Man wird deshalb, sofern der Gesamtzustand das noch erlaubt, eine
Pause von 24 Stunden machen und erst dann regelmäßig füttern.
Aber auch während der weiteren Fütterungszeit muß man mindestens
alle Woche einen Tag aussetzen, wie man überhaupt während der
Fütterung nie nachlassen darf, dem Kranken Nahrung anzubieten
in derselben Weise, als wenn keine Zwangsfütterung stattfände, um
den Moment, der die natürliche Nahrungsaufnahme wieder bringt,
nicht zu verpassen.
Die Fütterung erfolgt 2 oder 3 mal täglich. Bestimmend ist
dafür, ob der Kranke würgt oder nicht. Im ersten Falle wird man
dreimal geringere Mengen füttern, im letzten zweimal größere Mengen
geben. Dabei kann man im letzten Falle v 2 1 überschreiten (% —11),
im ersten wird diese Quantität das Maximum darstellen.
Was die Zusammensetzung der Nährflüssigkeit betrifft, so ist
auch hier die Milch das Hauptnahrungsmittel. Zu derselben wird
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Nahrungsverweigerung bei Geisteskranken.
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man Eier, Wein, event. auch künstliche Präparate geben; nie darf
das Kochsalz vergessen werden. Nach langer Sondenfütterung hat
man bisweilen Skorbut auftreten sehen. Dieser Gefahr zu entgehen,
ist vorgeschlagen worden, zeitweise auch frische Gemüse zu füttern.
Es wird sich dabei wohl meist um Gemüsesuppen handeln müssen.
Die Nährflüssigkeit wird lauwarm eingegossen. Man kann ihr ohne
Schwierigkeit nach Bedarf Beruhigungsmittel zusetzen, auch empfiehlt
sich, einige Tropfen Digalen oder Strophantustinktur hinzuzufügen.
Zum Schluß ist noch auf die direkt lebensrettende Wirkung
hinzuweisen, die subkutane Kochsalzinfusionen be¬
sonders bei solchen Kranken hervorbringen können, die nach langer
Abstinenz in häuslicher Pflege oft zum Skelett abgemagert, in diesem
Zustande der Pflegeanstalt überwiesen werden. Daß man in solchen
Fällen daneben von den Herzreizmitteln ausgiebigen Gebrauch macht,
ist selbstverständlich.
Die subkutane Einverleibung von Nährstoffen, die für unsere
Kranken von größtem Wert sein würde, ist ja leider auch heute noch
trotz mannigfacher Versuche ein unerreichtes Ziel.
I
Literatur.
Eickholt, über die Ätiologie und Behandlung der Nahrungsverweigerung
bei Geisteskranken. Allg. Zeitschr. !. Psych. Bd. 37, 1881.
Emminghaus, Abteilung IX in Penzoldt-Stinzing: Handbuch der spezi¬
ellen Therapie.
Klein, Über den heutigen Stand der Schlundsondenfütterung bei Geistes¬
kranken und das Auftreten von Skorbut bei lange fortgesetzter
einseitiger Ernährung. Monatsschr. f. Psych. 1898.
Lehrbücher der Psychiatrie von Kirchkoff, Kraepelin, Krafft-Ebing,
Ziehen.
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Phantastik und Schwachsinn,
(Gerichtliches Gutachten.) 1 ).
Von
Dr. Gustav Blume, Assistenzarzt.
Am 10. XII. 1910 wurde der 22jährige Kaufmann X. zur Beob¬
achtung seines Geisteszustandes unserer Irrenanstalt zugeführt. Es
wurden ihm eine Reihe von Strafhandlungen vorgeworfen, die alle
in ziemlich analoger Weise ausgeführt worden waren:
X. hatte sich gegenüber Handwerkern, Geschäftsleuten, Zimmer-
vermieterinnen u. a. als Referendar, Postbeamter, Dr. med., Kranken¬
hausarzt u. dgl. ausgegeben, hatte irgendeinen Tatbestand fingiert
und auf diese Weise von den Leuten geringfügige Geldbeträge (5 bis
10 Mk.), ferner Gebrauchsgegenstände, Musikinstrumente, photo¬
graphische Apparate u. a. m. erschwindelt, um dann seine Beute
meist noch an demselben Tage zu versetzen. Wegen derartiger Ver¬
gehen war X. schon wiederholt bestraft worden, zuletzt im Jahre
1909 mit sechs Monaten Gefängnis, die er bis zum Juni 1910 verbüßt
hatte. Unmittelbar nach seiner Entlassung — noch in demselben
Monat Juni — hatte er nun trotz eifrigster Bemühungen seiner Eltern,
ihn abzulenken und zu beschäftigen, dieses seltsame Treiben von neuem
begonnen, war im Oktober verhaftet und abermals dem Gericht über¬
geben worden. Dieses hatte ihn dann auf Antrag des Verteidigers
und nach Anhörung des Gerichtsarztes uns zur Beobachtung über¬
wiesen.
Es ergab sich nun vom Wesen des Angeklagten und seinem
bisherigen Schicksale folgendes Bild:
J ) Aus der Irrenanstalt der Stadt Berlin zu Dalldorf. Direktor:
Geh. Rat Dr. W. Sander.
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Phantastik and Schwachsinn.
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X. wurde am 10. VII. 1888 als Sohn eines Weinhändlers geboren,
ln seiner Familie sind Geistes- und Nervenkrankheiten vorgekommen:
die Großmutter mütterlicherseits ist 1892 in Dalldorf gestorben. Der
Vater soll 1873 einen schweren, „epileptischen“ Krampfanfall gehabt
haben, wobei er 5 Stunden ohne Bewußtsein lag. Endlich ist eine Schwester
des Angekl. zurzeit geisteskrank, eine andere schwer nervös und auf¬
geregt. Die Geburt des Angekl. soll normal gewesen sein. Es mag hierbei
erwähnt werden, daß der Vater aus Freude über die Geburt dieses Sohnes
eine Flasche Portwein ( s /4 1) in das Badewasser des Neugeborenen goß
Als kleines Kind soll X. geweckt und klug gewesen sein. Es ist jedoch
schon aus der Kindheit eine Reihe von Tatsachen bekannt, die den Ver¬
dacht auf eine krankhafte Veranlagung erwecken müssen. Wenn er z. B.
als Junge Soldaten geschenkt bekam, so köpfte und zerschlug er sie alle
binnen 10 Minuten und ruhte nicht eher, als bis „alle tot seien“. Die Mutter
erzählt, daß er „tolle Spiele gespielt habe“. So habe er die Sophakissen
zerklopft, die Zähne gefletscht und sich ganz eigentümlich gebärdet.
Gern errichtete er kleine Scheiterhaufen auf dem Tisch, die er dann an-
zündete. Beim Spielen mit dem Puppentheater schoß er alles kurz und
klein.
Bis zu seinem 12. Jahre war X. auf einer Volksschule, wo es angeblich
noch ganz gut ging. Alsdann kam er auf eine Realschule (höhere Bürger¬
schule), und hier blieben seine Leistungen alsbald sehr wesentlich hinter
dem Durchschnitt zurück. Sein Platz war beständig unter den letzten.
Seine Schulzeugnisse weisen in fast allen Fächern das Prädikat „mangel¬
haft“ auf, und beim Verlassen der Schule im Herbst 1903, also im Alter
von 15 Jahren, befand er sich in der IV. Klasse.
Mit 13—14 Jahren trat er in die gerade bei Naturen seiner Art doppelt
hcdeutungvolle Periode der Pubertät ein. Er wurde jetzt „großmann-
‘üchtig“ und begann kleine Schwindeleien. Körperlich entwickelte er sich
«■hr rasch, so daß er meist für älter gehalten wurde, als er war. Er ver¬
kehrte schon mit den Primanern seiner Schule und wurde von ihnen zu
Kneipereien mitgenommen, wahrscheinlich auch zu sexuellem Verkehr
verleitet.
Bald nach dem Verlassen der Schule wurde er von seinem Vater
zwecks weiterer Ausbildung zu einem französischen Geschäftsfreunde
nach Bordeaux geschickt. Seine Schwester meint, daß er dort „ganz
verdorben“ sei. Besonders verhängnisvoll war für ihn die dortige Sitte,
?roße Mengen schwerer, geistiger Getränke zu sich zu nehmen (Absinth
und Kognak), eine Sitte, die er sich lebhaft zu eigen machte. Ist er doch
noch heute ein ernsthaft überzeugter Anhänger der Gewohnheit, in den
Morgenkaffee ein Glas französischen Kognaks zu gießen. Auch in sexu¬
eller Beziehung scheint er in Frankreich manchen Gefahren ausgesetzt
gewesen zu sein. Jedenfalls brachte er eine spezifische Infektion mit nach
•Hause, über deren Charakter allerdings nichts Sicheres in Erfahrung
zu bringen war.
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Über seine Leistungen im Geschäft seines Wirtes ist ebenfalls nichts
Sicheres bekannt, allem Anschein nach aber waren sie recht mangelhaft
Jedenfalls lehnte ein anderes Geschäft eine Bewerbung X.s nach Er¬
kundigung an der ersten‘Stelle ab.
1905 ist X. wieder in Berlin. Je weiter er nun im Alter vorrückt,
desto mehr häufen sich in seinem Wesen und in seiner Lebensführung
Momente, die den Gedanken an eine krankhafte Geistesbeschaffenheit
nahelegen müssen. Mit 17 Jahren schloß er sich in seine Stube ein und zer¬
schoß mittels eines Revolvers die Wände und die Zimmereinrichtung.
Zur Rede gestellt, lachte er „ganz blödsinnig“ ! Ein anderes Mal warf er
sich mit dem Ausruf: „ich bin ein schlechter Mensch!“ lang in die Stube
und lag steif wie ein Stock. Dergleichen kurze Anwandlungen von Reue
und Selbsterkenntnis sind anscheinend noch öfter vorgekommen, wie
er denn überhaupt im Grunde weichen und lenksamen Charakters war
und leicht weinte. Nichtsdestoweniger machte er im Alter von 16 bis
18 Jahren „kolossale Dummheiten“. Die wenigen Jahre seit der Rück¬
kehr aus Frankreich sind ausgefüllt von einer fast ununterbrochenen Kette
törichter und sinnloser Streiche, die ihn, trotz unaufhörlicher Opfer und
Bemühungen seines Vaters, schließlich mit den Gerichten in Konflikt
bringen. So gibt er sich z. B. für großjährig aus, kauft mehrere Male
eine Nähmaschine auf Abzahlung, um sie alsbald zu versetzen, so daß
der Vater genötigt ist, sie wieder einzulösen. Solche Fälle kamen fort¬
während vor. Einmal stellte ihn der Vater ernsthaft zur Rede. X. „ge¬
bärdete sich dabei wie toll“, kniete vor dem Vater nieder und küßte ihm
die Hände. Am nächsten Tage war alles vergessen. Im Januar 1905
— kurz nach dieser Vermahnung — mietete X. einen großen Laden, den
er von dem Besitzer nach seinen Angaben für 2—300 Mk. umbauen und
einrichten ließ. Er machte dann große Warenbestellungen bei Brauereien
und Schokoladenfabriken und kündigte auf großen roten Plakaten, die
mit seinem vollen Namen unterschrieben waren, die Eröffnung einer
Konditorei an.
Sehr charakteristisch ist auch, daß X. nach Angabe der Mutter stets
mit einer großen Aktenmappe umherlief, in der ein halbes Jahr lang
nichts weiter lag, als ein paar alte Schulzeugnisse. Damit wollte er an¬
geblich „Stellung suchen“.
Die Mutter hebt ferner seine maßlose Verschwendungsucht, sowie
seinen Hang zum Trinken hervor. So hat er sich in einer Woche vier
Paar neue Stiefel bestellt, obwohl er erst kurz vorher vom Vater drei
Paar bekommen hatte. Er verkaufte alle seine Kleidungstücke, um
trinken zu können.
Neben solchen, vielleicht noch mit Unreife und Leichtsinn zu er¬
klärenden Streichen sind nun aber einige Vorkommnisse bekannt, die
auch mit gutem Willen kaum noch in den Rahmen des Physiologischen
zu zwängen sind. So kam er eines Abends verkleidet nach Hause, mit
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Phantastik und Schwachsinn.
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langer Perrücke und schwarzem Bart, warf sich vor seiner Schwester zu
Boden und machte ihr eine Liebeserklärung. Er sagte dann, er sei Detektiv
und müsse noch heute Nacht im Aufträge des Ehemannes eine Frau
des Ehebruchs überführen. Ein anderes Mal ging er in angetrunkenem
Zustande vormittags zu seinem Friseur und gab ihm den Auftrag, ihm
Kopf und Gesicht zu verbinden, damit er unkenntlich sei. Er sei nämlich
Detektiv und müsse in einer wichtigen Sache Recherchen anstellen. Mit
dem verbundenen Kopf fuhr er dann nach Hause zu seinen aufs höchste
erschrockenen Eltern. Am nächsten Tage wußte er von der ganzen Sache
nichts mehr. Diese von X. stammenden Angaben wurden mir von seiner
Mutter vollkommen bestätigt. Sie berichtete noch, daß er zu Hause auf
ihre bestürzten Fragen äußerte, er habe sich seiner Schulden wegen er¬
schießen wollen. Wenn man ihn später wegen solcher Geschichten zur
Rede stellte, so habe er nie einen vernünftigen Grund angeben können,
sondern immer nur „blöde gelacht“.
Ferner sind noch folgende Angaben der Vorgeschichte bemerkens¬
wert: X. teilte mir auf Befragen mit, daß er früher häufig an plötzlichem,
ruckweisem Emporschrecken kurz vor dem Einschlafen gelitten habe.
Auch Bettnässen sei bis vor einigen Jahren hin und wieder vorgekommen.
Häufig habe er aus heiler Haut die Empfindung, als ob jemand mit Glas
über eine Schiefertafel hinfahre, oder auch, als ob „ein Bleisoldat langsam
zerbrochen würde“. Beides sei geradezu fürchterlich. Von Kopfverletzungen
ist nicht viel Sicheres bekannt. Einmal sei er als Kind beim Spielen mit
der Stirn aufgeschlagen. Später habe er beim Fechten einen stumpfen
Hieb über den Kopf erhalten und mehrere Tage darnach an Kopfschmerzen
gelitten.
Die Eltern versuchten das Menschenmögliche, ihren Sohn auf den
rechten Weg zu bringen, doch immer mit demselben trostlosen Ergebnis.
Wo er auch untergebracht wird — stets begeht er nach kurzer Zeit irgend¬
eine Dummheit, bleibt unentschuldigt von seiner Arbeitstelle fort oder
dergleichen und w r ird alsbald entlassen.
Und nun ist eine Episode zu erwähnen, die für seine ganze Ent¬
wicklung ohne Frage von der allergrößten Bedeutung geworden ist, ein
Ereignis, wie es bei der Veranlagung dieses Menschen fast mit Natur¬
notwendigkeit eintreten und ihm den letzten und entscheidenden Antrieb
auf der schiefen Bahn geben mußte. X. verliebt sich. Mit 18 Jahren
lernt er die Inhaberin einer Konditorei kennen, und obwohl sie 10 Jahre
älter ist als er, dazu (nach Angabe seiner Schwester) eine durchaus unbe¬
deutende und ungebildete Person, die auch bereits ein Kind hatte, so
gerät er doch in einen Taumel ebenso ehrlicher, wie unreif-romantischer
Verliebtheit, die ihn für jede normale, schlichtbürgerliche Beschäftigung
vollends unbrauchbar macht. Und weil die Angebetete in ihrem Geschäft
den Gästen gegenüber liebenswürdig ist, überkommt ihn eine maßlose
Eifersucht, er läßt jede Berufsarbeit im Stich und setzt sich mit einem
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Revolver bewaffnet den ganzen Tag in die Konditorei, um „seine Braut“
zu bewachen. Denn er meint es natürlich äußerst ernsthaft und will
sobald als möglich heiraten. Zu diesem Zwecke stellt er beim Vormund¬
schaftsgericht den Antrag auf Großjährigkeitserklärung, wird allerdings
infolge des Einspruchs seiner Eltern und des Hausarztes damit abge¬
wiesen. Da ihn nun trotz seiner Wachsamkeit dauernde Eifersucht plagt,
veranlaßt er seine Braut die Konditorei aufzugeben und richtet ihr eine
Wohnung von drei Zimmern ein. Wie es nicht ausbleiben kann, stellen
sich sehr bald Zahlungschwierigkeiten ein, und der Vater muß wiederum
für den Sohn einspringen. Das hindert diesen aber nicht, seiner Braut
noch zwei andere Wohnungen zu mieten. Schließlich findet er eines Abends
bei ihr einen Offizier, einen „früheren Bekannten aus der Konditorei“.
Darüber kommt es nun zunächst zum Bruch.
Ich habe diese Geschichte etwas ausführlicher erzählt, weil sie erstens
für die Schicksale X.s von erheblicher Bedeutung ist und zweitens in
Entstehung, Verlauf und Ausgang m. E. zur Charakteristik des Ange¬
klagten einen sehr wichtigen Beitrag liefert.
Wie bereits erwähnt, ist es der Familie des X. auf die Dauer nicht
möglich, ihn vor einem Konflikt mit den Gerichten zu schützen. Die
Art seiner Delikte ist bereits eingangs kurz erläutert worden, es sei nur noch
bemerkt, daß X. in der kurzen Zeit von Ende Juni bis zu seiner Ver¬
haftung am 11. X. 10 nicht weniger als neun Leute schädigt, während er
in einem zehnten Falle sich damit begnügt, sich als Referendar auszugeben,
mit dem Aufträge, „Ermittlungen anzustellen“ und ein „Protokoll auf¬
zunehmen“.
Ich wende mich nunmehr zur Schilderung des Befundes, den X.
während seines sechswöchigen Anstaltaufenthaltes darbot.
X. ist ein gut mittelgroßer Mensch, von derbem Knochenbau, in
sehr gutem Ernährungs- und Kräftezustand. Er hat ein rundes, dick-
wangiges, etwas imbezilles Kindergesicht. Der Kopfumfang beträgt fast
58 cm. Bemerkenswert sind seine hochgradige Kurzsichtigkeit, sowie
sehr defekte Zähne. Die inneren Organe bieten keinen pathologischen
Befund, dagegen ergab die Untersuchung des Nervensystems eine deut¬
liche Herabsetzung der Berührungs- und Schmerzempfindlichkeit, be¬
sonders an den Armen, sowie eine leichte Unsicherheit in der Lokalisation,
der Konjunktivalreflex war herabgesetzt, dagegen der Kornealreflex von
normaler Stärke, der Würgereflex sehr lebhaft.
Sein äußeres Verhalten war während der ganzen Beobachtunsgsdauer
klar, geordnet und ruhig. Erst in der letzten Zeit änderte sich dies etwas.
Wenn er auch dem Arzt gegenüber gleichmäßig höflich blieb, so zeigte er
doch sonst eine deutlich schwankende Stimmung, war häufig deprimiert,
dann wieder heiter und gesprächig.
Es wurde zunächst mit X. seine frühere Geschichte durchgesprochen.
Er betonte hierbei mit großem Nachdruck, sein Vater sei ein unehelicher
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Phantastik und Schwachsinn.
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Sohn des Fürsten Pückler, also in seinen Adern fließe blaues Blut. Dazu
gab mir seine Schwester an, daß es sich um eine ganz vage Familienüber¬
lieferung handle, die vielleicht auf den Großvater oder noch früher zu¬
rückgehe.
Auf die Frage, warum er den ganzen Tag in der Konditorei gesessen
habe, wird X. sehr erregt und fängt an zu weinen: „Das ist doch ganz
logisch, Herr Doktor. Wenn ein Mann seine Geliebte in den Armen eines
anderen findet-da schieße ich eben erst sie und dann mich über den
Haufen!“
Pat. hat aber damals, wie er selbst zugibt, seine Braut durchaus nicht
„in den Armen eines anderen gefunden“, sondern sie nur in der Konditorei
beobachtet. Pat. weist bei dieser Unterredung alle Zeichen ehrlicher,
lebhafter, innerer Beteiligung auf. Sein Kinn und seine Lippen zittern,
er ist fortwährend dem Weinen nahe. Er berichtet dann von seinem Ver¬
such, seine Braut sofort zu heiraten und von den Maßnahmen seiner Eltern
zur Vereitelung dieser Absicht. Pat. beklagt sich sehr erregt darüber,
beteuert, daß er doch „ganz logisch“ und normal gehandelt habe.
Die Frage, ob er denn jetzt für geisteskrank erklärt werden wolle,
verneint er mit großer Entschiedenheit. Er sei ganz normal und habe
nicht das geringste Unrecht begangen.
(Warum er sich als Besitzer eines Zigarrengeschäfts ausgegeben
habe?) „Ja, ich persönlich bin wohl imstande, ein solches Geschäft zu
leiten. Und man ist doch berechtigt, sich als das auszugeben, als was
man sich fühlt.“
Dasselbe Argument bringt X. als Motivierung seiner übrigen Schwin¬
deleien vor. Er habe sich sehr viel „mit Medizin beschäftigt“, deshalb
könne er sich Doktor nennen. Es ist dem Pat. auf keine Weise die Straf¬
barkeit seiner Handlungen plausibel zu machen. Er beruft sich immer
wieder darauf, daß er wohl fähig sei, derartige Stellungen auszufüllen, daß
er infolgedessen ein Recht auf den Titel habe, daß er sich nicht anders
nennen konnte, weil ihn die Leute sonst zu „proletenhaft“ (sein Lieblings¬
wort) behandelt hätten, daß im übrigen niemand geschädigt werden sollte,
da — sein Vater schon alles bezahlt hätte.
(Wieso das Protokollaufnehmen so interessant sei? vgl. X.s Brief
aus der Untersuchungshaft, weiter unten.) „Ich habe mich eben für alles
interessiert. Das sehen wir jaauch an Nicolaus Lenau, daß man sich mit
mehrerem beschäftigen soll. So habe ich mich auch mit Jura viel abge-
?rben, und es ist doch sehr interessant, wieweit die Sache eigentlich so geht.“
Pat. schreibt in zwei Briefen:.„in allernächster Zeit
hoffe ich dem Lokalanzeiger einen EröfTnungsartikel meiner Arbeiten
rinsenden zu können“ .... „auch für mich ist in einer Beziehung
rin kleines Glück geschaffen, da ich ein Problem meines Buches gelöst
habe, und hoffe, das (sic) es eine Grundlage zum wahren Glück vieler
Menschen sein wird.“
Zeitschrift für Psychiatrie. LUX. 3. 24
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Aus der Intelligenzprüfung seien folgende Proben angeführt:
(Haeckel?) „Ein Philosoph, der sich hauptsächlich mit der Erforschung
der Bibel befaßt hat.“
(Antike Dichter?) „Homer“ (X. betont auf der ersten Silbe).
(Was geschrieben?) .,so .... Oden?“ (Verwechs¬
lung mit Horaz?)
(Aristoteles?) „Ein sehr redegewandter Dichter.“
(Philosophen?) „Kant, H. v. Kleist, A. v. Humboldt, Sophokles.“
(Verwechslung mit Sokrates?)
(Aus der älteren Zeit!) ,,Nietzsche.“(!)
(Wann gelebt?) „So 17. Jahrhundert.“ (!!)
(Unterschied von Preußen und Deutschland?) „Preußen ist ein
Kaiserreich, es heißt doch Preußen oder Deutschland. Im Fall eines Krieges
vereinigen sich dann noch mehr Länder.“
(Auf Befragen, mühsam:) „Bayern, Österreich, Strelitz.“
Vom Wesen der Zinsen hat X. keine Vorstellung, glaubt, der durch¬
schnittliche Zinsfuß sei 10% und vermag 4% von 100 000 Mk. nicht aus¬
zurechnen.
(Das höchste Gebirge in Europa?) „Die Schneekoppe.“
(Zentrumspartei des Reichstages?) „Da sind hauptsächlich Juden
drin.“
(Kreislauf des Wassers?) Pat. glaubt, das Wasser fließe vom Meere
in unterirdischen Kanälen zu den Alpen zurück und steige dann „durch
den Druck“ empor.
Es muß hierbei betont werden, daß X. diese kümmerlichen Ant¬
worten nicht etwa simulierte, im Gegenteil war ihm die ganze Prüfung
sichtlich unangenehm, er wurde rot und verlegen und suchte bei jeder
Gelegenheit mit einigen allgemeinen Phrasen vom Thema abzulenken.
Von sonstigen Eintragungen in die Krankengeschichte sind noch
folgende von Interesse:
Pat. betont, daß er stets philosophische Studien getrieben habe,
Schopenhauer, Kant, Haeckel usw. Er sei stets ein Zweifler gewesen und
habe das Bedürfnis gehabt, „alles zu ergründen“.
Pat. erklärt im Gespräch, er habe vollkommen die Bildung eines
Abiturienten. Damit begründet er in einer seiner obigen Argumentation
entsprechenden Weise die Berechtigung, Mitglied einer Studentenverbindung
gewesen zu sein.
Pat. schreibt in einem Brief an einen Gläubiger: „Sie selbst wissen
doch, daß ich ein genialer Debatteur war“. In einem anderen Brief:
„Durch irgend welche Intrigien (sic), von denen ich noch nicht weiß,
woher sie stammen, hat man mich hier nach Dalldorf, in das Beobach¬
tungsinstitut gebracht,.das ganze Leben ist nicht lebenswert.
aber für meine Ideale werde ich kämpfen bis aufs Messer.“
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Phantastik and Schwachsinn.
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Pat. droht ..... mit Selbstmord, für den Fall, daß er ins
Gefängnis oder in die Irrenanstalt gesteckt würde. (Unterdrückt weinend:)
„Der preußische Staat hat mir nichts als Kummer bereitet, hier erkennt man
mich ja nicht an, das ist ja ein alter Satz, daß der Prophet nichts in seinem
Vaterlande gilt.“ Pat. hofft, daß er nach Verbüßung der Strafe eine staat¬
liche Stellung bekommt, und daß er auf Grund seiner Schriften mit der
Einrichtung des Hypnotisier-Institutes (s. unten) betraut wird. Der
erste Schritt wäre dann der, daß er vom Staate bei einer angesehenen
Zeitung, z. B. bei der „Vossischen“, angestellt würde.
X. bringt alle diese grotesken Ideen mit absolutem Ernst hervor
und hat auf jeden Einwand ein Gegenargument. Z. B. (Wieso soll der
Staat bei der „Voß“ Leute anstellen?) „Ja, wenn das im Interesse des
Staates geschieht, dann wird das so vermittelt. Die „Voß“ arbeitet doch
nur im Interesse des Staates.“
(Sie sind doch mehrfach vorbestraft?) „Man wird dann einsehen,
daß meine Strafen unberechtigt waren. Napoleon war auch in Haft!“
Weiß heute um etwa 11 Uhr vormittags nicht mehr, daß der Arzt
heute morgen etwa 9 Uhr bei ihm gewesen sei und Anordnungen getroffen
habe. Behauptet auf Vorhalt steif und fest, das sei gestern gewesen.
Schreibt unaufhörlich Briefe, Novellen, „Beobachtungen“, „An¬
schlußmitteilungen“ usw.; droht öfter mit Suizid, spricht häufig von
Intriguen gegen ihn. „Man will mich unschädlich machen, irgend etwas
muß im Gange sein, das ist ganz klar — vielleicht von Marthas Seite.“
(Auf weitere provokatorische Fragen:) „Das ist der Staat — —
ganz einfach! Meine Ideen sind vielleicht dem Staat unbequem. Leute,
die in den unteren Stellungen sind, wollen mich unterdrücken, da sie
sonst aus ihren Stellungen herausgedrängt werden könnten.“ Wenn er
in Preußen nicht durchdringe, werde er sich nach Frankreich wenden.
Bei der Leibesvisitation, die vor seiner Rückführung in. die Unter¬
suchungshaft vorgenommen wurde, fand sich bei ihm eine scharfe Por¬
zellanscherbe in der Hand verborgen, sowie ein Stückchen geschliffenen
Stahls lose in der Tasche.
Neben den Ergebnissen der direkten, mündlichen Exploration sind
nun X.s schriftliche Produktionen ganz besonderer Beachtung wert. Schon
während der Untersuchungshaft beweist er eine hervorragende Schreib¬
freudigkeit, von der hier ein paar Proben folgen mögen:
So schreibt er aus dem Untersuchungsgefängnis am 23. X. 10 an
das Gericht, daß er nie die Absicht gehabt habe, jemanden zu schädigen.
Wenn er sich ab Referendar, Dr. med. und dgl. ausgegeben habe, so
stecke ein ganz andrer Grund dahinter. Sein Ideal sei stets „ein höherer
Beamtenberuf“ gewesen. „Um nun wenigstens minutenlang in meinem
Ideale zu leben, um nicht so proletenhaft behandelt zu werden,
darum gab ich den Leuten alles dies an. Mein innigster Wunsch war,
beim Gericht oder der Kriminalpolizei anzukommen. Es bt so interessant,
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ein Protokoll aufzunehmen. (!) Daher bin ich öfter einmal zu jemand
gegangen und habe ein Protokoll aufgenommen, ob dieser oder jene
beschäftigt sei, ohne jede weitere Absicht. Alles dies wäre
vielleicht nicht so gekommen, wenn mich das Schicksal nicht mit seiner
mächtigen Hand so gepackt hätte. — Vor einigen Jahren lernte ich ein
Mädchen kennen, für die ich alles geopfert hätte und habe. Es war im Jahre
1906. Ich, der noch nie vorbestraft war, ich, dessen Eltern und
ganze Familie bis auf den heutigen Tag nie mit dem
Gerichtzutun hatten, ich, dessen Vater im Besitze vieler Orden ist
und auch beim Gericht als Schöffe gewählt war, .... ich wurde damals
das erste Mal bestraft, wer war der treibende Punkt .... sie, deren
Namen jedoch nie vor Gericht über meine Lippen kam. — Wer von meinen
Herren Richtern sie sehen würde, der würde mir eher verzeihen. — Wer
diese geliebten blauen Augen sah, denen man nichts abschlagen konnte,
der würde mich eher verstehen. — Und dann kam die schreckliche Eifer¬
sucht. — Sie hinterging mich mit einem Offizier, so mußte ich annehmen.
Und wie im Rausche, um mich zu betäuben, beging ich Sachen, die ich
nachher bitter büßen mußte.
Wer begreift ein von Qualen bitterster Eifersucht heimgesuchtes
Herz? — Und ich wurde bestraft und kehrte heim zu meinen Eltern,
zu meiner geliebten Mutter, die nun alles tat, um mir das Vergan-
gene vergessen zu machen. — Ich aber hatte vor mir selbst Angst,
das (sic) es mich wieder packen könnte, wenn ich durch die Straßen ging,
in denen ich mit ihr so glücklich und doch auch so unglücklich war . . .
Und es geschah wie ich ahnte, ich sah sie im Besitze eines andern.
Ich war wie betäubt, und dann malte ich mir wieder aus, wie der
andere sie besitzen würde, und ich raste wie wahnsinnig durch
dieStraßen, nur Betäubung, nur nicht daran denken,
und nun.bin ich hier im Gefängnis.“ Wenige Tage später ruft
er in einem anderen Briefe an dieselbe Adresse aus: „Ich konnte mir
die herzinnige Liebe zu dem Mädchen nicht aus dem Herzen reißen, ha,
wer einmal dieses liebe Gesicht gesehen hatt (sic), der wird mich ver¬
stehen können . . . Ha, wie hatte ich mich darauf gefreut, das (sic)
ich nun zum Regiment nach Thorn kommen sollte, alles wäre gut gemacht
worden, wenn die Leute noch einige Zeit gewartet hätten, doch man
läßt mich Armen schuldig werden, dann übergibt man mich der Pein,
doch jede Schuld rächt sich auf Erden.“
Und am Schlüsse eines damals angefertigten Lebenslaufes schreibt
er wehmütig: „Die Liebe ist meine Sünde ... Es ist schwer mein Herz
zu verstehen. — Ich liebte so glühend, so durchdrungen von
allem Guten und Schönen, in jedem Liede, was ich auf der Violine
spielte, lag ein Stück meiner Liebe, — alles Schlechte ist und war mir
widerwärtig und niemals habe ich Schlechtes gewollt. Das
Schicksal hat alles so gewollt. — Zwar hat mir ein Wahrsager ein gutes
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Phantastik und Schwachsinn.
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Jahrende prophezeit, doch es kam anders. — Ich habe nun an den Kaiser
geschrieben, und gebeten, das (sic) er dem Gericht (Landgericht II)
befiehlt, daß ich nicht wieder in Strafschaft komme, sondern zu
meinem Regiment nach Thorn. Und wie verzweifelt bin ich über mein
zerstörtes Glück, danach fragt keiner.
Noch einmal, du erste Liebe,
Kehr einen Augenblick
In mein verbranntes Herze
Mit deiner Jugend zurück.
Dies ist mein Schicksal.“
X. entfaltete nun auch in der Anstalt eine geradezu fabelhafte, im
Verlauf der Beobachtung immer mehr sich steigernde schriftliche Pro¬
duktivität. Zu den einfachsten Mitteilungen an den Arzt oder Ober¬
pfleger, die sich ohne weiteres hätten mündlich erledigen lassen, verfaßt
er förmliche Eingaben, wie z. B. die vom 15. I. 11 an den Oberpfleger:
„Sehr geehrter Herr! Hierdurch ersuche ich ergebenst, mir zum Tragen
im Zimmer eine Litewka (neu) zu gestatten, wie sie die Leute im Garten
tragen, da sie
ad 1. wärmer ist,
ad 2. die andern Sachen doch zu proletenhaft aussehen.“
X. wurde nun von mir angeregt, seine Mitkranken zu beobachten
und diese Beobachtungen zu Papier zu bringen. Er ging mit freudigster
Bereitwilligkeit auf diese Anregung ein und lieferte mir u. a. folgende
„Krankengeschichten“:
„Name: Bruno. Alter: ca. 42 Jahre. Gesichtsfarbe: veränderlich.
Benehmen: auffällig. Diagnose: Nachts Anfälle von Verfolgungswahn -
sinn. Glaubt mit Majestät zu sprechen und meint, seine Familie wäre
erschossen. — Dies deutet auf Paralyse, da jedoch dieser Zustand fort¬
dauernd, muß angenommen werden, daß B. an Idiosynkrasie erkrankt
M. — Das Wesen des B. deutet auf den Kampf der contrairen Mächte
hin, sein Körper war nicht imstande, bei Zeiten, d. h. im Moment des
Gltickes/die Quintessenz eines schnellen Todes zu ziehen. Er ist der Macht
II unterlegen. Die stieren Augen lassen auf einen baldigen Tod schließen.
B. ist unheilbar und muß ständig in einer Anstalt bleiben.“ (Es handelte
sich um eine Alkoholparanoia, die inzwischen längst entlassen ist.)
„Name: Neumann, Hermann. Alter: ca. 40 Jahre. Gesichtsfarbe:
Krankhaft. Benehmen: Eigenartig. Diagnose: N. ist nach seinem Be¬
nehmen ein Prolet. Leidet an Idiosynkrasie. Spricht manchmal ganz
vernünftig, ist aber mindestens nervös überreizt. Heilung ist durch kalte
Brausen etc. möglich. Er läuft hin und her in Gedanken. Auch hier ge¬
wisse Anzeichen der contr. Macht II. Nähere Beobachtung unmöglich,
da Pat. fortgekommen ist.“ (N. war ein potator maxime strenuus.)
„Name: Schermer, Wilhelm. Alter: 50—54 Jahre. Gesichtsfarbe:
Rot. Benehmen: Komisch proletenhaft, manchmal still. Diagnose:
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Paralyse verbunden mit schwerer Idiosynkraisie. Spricht brockenweise.
Leicht erregbarer 9. (?) Nervenzustand. Weiteres Vorbehalten.“ (S. litt
an motorischer Aphasie.)
„Welche Quintessenz ziehe ich aus den beigefügten Gutachten für
die philosophischen Betrachtungen meines Werkes? Was der Mensch
als geisteskrank bezeichnet, ist in Wirklichkeit keine „Krankheit des
Geistes“. — Nach Vollendung meines Gesamtwerkes wird dies und vieles
Andere der gesamten Ärztewelt klar werden. — Es handelt sich in Tat¬
sache eigentlich um Folgendes: Die beiden Mächte, nämlich die schaffende
und die zerstörende, stehen sich auch im Leben des Menschen gegenüber.
— Der Kampf dieser Mächte zeitigt im Menschen einen eigentümlichen
Zustand, den man als Idiosynkrasie, aber im erschwerenden Falle als
Paralyse bezeichnet. — Gegen diese Mächte ist nicht anzukämpfen, es
gibt nur den einen Ausweg, den Tod. Die angewandten Hilfsmittel können
Linderung, niemals Heilung bringen, daher sollten dort, wo die contraire
Macht bereits zu weit wirkte, dem Menschen durch die Ärzte der Tod ge¬
geben werden.“
An der Spitze des kraftvollen Namenszuges, mit dem diese Abhand¬
lungen unterschrieben waren, stand häufig ein unleserlicher Schnörkel,
der unverkennbar das ärztliche Dr.-Zeichen nachahmen sollte.
Schriftstücke dieser Art hat X. wie gesagt, zu vielen Dutzenden
angefertigt. Aus der Schar aller dieser „Novellen“, Abhandlungen, Ge¬
suche usw. sei nur noch folgender Aufsatz angeführt, der sich betitelt: „Die
Errichtung der Hypnose-Suggestions-Anstalt. Denkschrift für den Staat
Preußen.“ In mehreren Kapiteln legt X. dar, daß zur Erhöhung der
allgemeinen Glückseligkeit ein staatliches Institut gegründet werden
müsse, in welchem den Menschen in der Hypnose die Erfüllung aller
ihrer Wünsche vorgespiegelt werden solle. „Eis muß ein großes Institut
eröffnet werden, wo sich der Mensch von Zeit zu Zeit suggieren (sie)
lassen muß. Die Leute müssen gesetzlich dazu gezwungen werden. Da¬
durch hörte alle Unzufriedenheit auf, und es gäbe nur Glückfühlige.“
X. skizziert nun in einem höchst ergötzlichen Grundriß, wie er'sich die
Einrichtung dieses Institutes, ferner „die Wirkung des Lichtes“ und
endlich „die Wirkung des Auges“ denkt. Er gibt dann folgende Erläu¬
terung dazu:
„ad 1. ist das Schema des zu erbauenden Hypnose -Suggestions-
Hauses. Dieses muß fest aus Sandstein gebaut werden, und nur die in
der Zeichnung angeführten Fenster dürfen sich darin befinden. Das Haus
muß einen großen und einen kleinen Vorraum für geheime Zwecke haben.
Das Hauptportal führt zum Vorraum I. Dasselbe muß durch einen großen
Eingang verschlossen werden (!), welcher mit zwei eisernen Türen ver¬
sehen ist. Vor dem Tor müssen zwei kommandierte Posten von einem
Garderegiment stehen. Auch hinter dem Tore müssen im Vorraum auf
jeder Seite sechs Mann stehen, damit das Suggestions-Geheimnis bewahrt
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wird. Erbauer und Eigentümer ist der Staat, der auch das Personal stellt.
Es muß eine stille Straße gewählt werden, um jede Störung zu vermeiden.
Der Vorraum wird mit weißen Kacheln belegt, auch die Wände. Die
Temperatur muß immer kühl sein. Einige Karaffen Wasser (magnetisiert)
dürfen zur Erfrischung des Mediums dienen. Der Raum ist nur mit einem
Fenster versehen, das andere ist verkleidet, mal wird dies, einmal das
andere Fenster benützt, aber immer nur eines. Die Aussicht auf den Hof
vom Fenster aus ist die Hauptsache. Der eine Hof soll den Eindruck eines
deutschen Waldes machen, monoton. Der andere soll aber eine nordische
Felsen-Grotten-Landschaft darstellen, rötlich beleuchtet, erhaben ideal,
seelenzerschmetternd. Der zweite Vorraum ist ohne jedes Fenster, daran
schließen sich zwei geheime Präparations-Räume, der zweite Vorraum
ist dunkel und mit rotem Samt ausgeschlagen. Durch einen dicken Vor¬
hang vom Suggier-Raum getrennt. Es darf immer nur ein Medium diesen
Raum betreten und muß dort 28 Minuten verweilen. Der eigentliche
Suggier-Raum besteht aus Glaswändentäflung. Rotes, blaues, grünes
Glas. Der Fußboden ist Marmor mit dicken Teppichen belegt. Alles
muß in diesem Raum angenehm sein. Die Temperatur muß 30° Cls.
betragen. Vor dem Fenster-Vistebul (!) befindet sich der grünseidene
Vorhang. Rechts steht eine Brause, die durch ewiges Rauschen an die
einsamen Gesänge eines süßen, idyllischen Gebirgsbaches erinnert. Links
steht hinter einem Vorhang ein schöner Flügel, wo jemand (hier würde
auch Verfasser dieses Buches sehr dazu geeignet sein) eine ganz gedämpfte,
leise und langsam verhallende, tragisch traurige Melodie
spielen muß, die zur Seele spricht. Im Raum selbst befinden sich zwei
Sessel (I und II). Der Suggeur den am Fenster.
Die Mediums-Behandlung.
Der Mensch wird vom Staat gezwungen mit allen Zwangs¬
mitteln, sich suggieren zu lassen. Er tritt in den ersten Vorraum von der
Straße aus. Kommt er gutwillig, so wird am Posten vorne seine Quittungs¬
karte geknipst. (Das von X. hierfür entworfene Modell ist etwa in der Art
eines Rasierabonnements gehalten.) Anbei ein Muster. Unpünktlich¬
keiten werden gerächt. Er tritt nun in den Empfangsraum No. 1 morgens
«m 9 Uhr an. Er muß sich nun hinsetzen. Er darf sich nicht beschäftigen.
Seine Gedanken müssen sich mit Nichts beschäftigen. Jetzt kommt er
in den Geheimraum und der Suggeur spricht zwölf Worte mit ihm. Nun
kommt er in den Vorraum II. Hier verbleibt er genau 28 Minuten, damit der
Kampf der Macht I und Macht II sich in ihm beruhigt. Nun kommt er in
den Hypnotisier-Raum. Er setzt sich auf den Stuhl. Sofort fängt ganz ganz
ferne die Musik an zu spielen, eine süße, geliebte, herzergreifend tragische
Melodie. Jetzt beginnt der Gebirgsbach zu plätschern und zu rauschen.
(Ein versteckter Diener muß pünktlich die Brause auf drehen.) Jetzt
tritt der Suggeur ins Werk. Er schleicht hinter das Medium, und mag-
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netisiert es. Nun tritt er nach vorn. Die Musik wird etwas wilder, das
Rauschen des Baches (Brause mehr auf drehen) wird stärker, es beginnt
.die Hypnose. — Menschenherz zittere vor der geweihten
Kraft, die durch die Macht I dir verliehen wurde. Es kommt nun ganz
auf das Medium an, welche Art man anwenden muß. Es muß in zehn
Minuten schlafen, — und nun kommen die Einflüsse des Suggeurs, die
Geheimnis sind. — Langsam läßt die Musik und das Rauschen nach,
ganz ganz gedehnt hallen die Töne aus.um dann plötzlich
einen rasenden Galopp anzuschlagen, wovon das Medium langsam er¬
wachen muß. — Dies ist das Programm pro Person. Jeder hat vom beim
Posten Mark drei zu bezahlen.Das Personal der Anstalt
muß ein vorzügliches sein, insbesondere das des Suggeurs. Auch müssen
Detektive angestellt werden, die das Leben des Menschen beobachten.
.Der erste Suggeur muß monatlich mindestens 500 Mark
Gehalt bekommen.“
Mit einer längeren Erörterung der Frage, ob es möglich sei, daß ein
Weib ohne Geschlechtsverkehr nur durch Suggestion schwanger werden
kann (einer Frage, die er ausdrücklich bejaht), schließt X. seine tief¬
gründige Abhandlung. —
Gutachten : Eine Beurteilung der psychischen Eigenart X.s
geschieht zweckmäßig nach drei Seiten hin. Eis sind zu berücksichtigen
1. die Voraussetzungen, aus denen sich sein psychischer Organismus
entwickelt hat, also die Gesamtheit der ererbten und erworbenen Ein¬
flüsse. 2. Seine ethische und intellektuelle Befähigung, so wie sie dem
vorurteillosen Beobachter erscheint. 3. Die Auffassung und Vorstellung,
die X. selbst von seinen Qualitäten hat, und die Handlungsweise, die sich
aus dieser seiner Auffassung ergibt.
Ad 1. Wir hatten bereits eingangs gesehen, daß X. aus einer be¬
lasteten Familie stammt, daß eine ganze Reihe seiner Angehörigen Sym¬
ptome nervöser und geistiger Erkrankung aufweist. Zu diesem Erbschaden
gesellt sich nun aber ferner ein sehr bedeutsamer Schädlichkeitsfaktor
des extrauterinen Lebens, der dem X. von Jugend auf anerzogene Alko¬
holmißbrauch.
Er, dessen Vater Weinhändler ist, der sofort beim Eintritt in das
Leben mit einer eigenartigen alkoholistischen Zeremonie begrüßt wird,
der sozusagen unter Wein- und Kognakflaschen aufwächst und später in
Frankreich weiterhin zum Alkoholgenuß erzogen wird, er muß schon in
jungen Jahren dem Alkoholismus verfallen. Es ist, als habe er nie etwas
von den Gefahren dieses Lasters gehört. Mit naiver Selbstverständlichkeit
gibt er zu, daß er seit Bordeaux meist des Morgens ein kleines Weinglas
voll französischen Kognaks getrunken habe, in Frankreich auch viel
Absynth, daß er sich in den Morgenkaffee ein Gläschen Kognak zu gießen
pflege. Das brauche man unbedingt, erst dann seien die Gedanken so recht
klar und lebendig.
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Es handelt sich also um ein vom Keim an minderwertiges Nerven¬
system, das im Verlauf des Lebens nicht nur nicht die erforderliche Scho¬
nung und sachverständige Pflege findet, sondern im Gegenteil noch unter
den verderblichen Einfluß des Alkohols gerät.
Ad 2. Die psychische Befähigung paßt nun durchaus zu den ange¬
gebenen Momenten. Der Angekl. zeigt von Kindheit an zahlreiche Merk¬
male pathologischer Wesensart. Seine Aufgeregtheit, seine Zerstörung¬
sucht, die sich manchmal zu wahren Wutanfällen mit Zähnefletschen
und sinnloser Erregung gesteigert zu haben scheint, die auffällige Neigung
mit dem Feuer zu spielen, alles dies sind Symptome, wie wir sie bei patho¬
logischen Kindern sehr häufig antreflen.
Während nun zunächst — wie es im kindlichen Alter begreiflich ist —
das Abnorme besonders auf dem Gebiete gefühlsmäßiger Reaktionen zu¬
tage tritt, zeigen sich mit fortschreitender Entwicklung alsbald auch
in intellektueller Beziehung deutliche Störungen. Die ersten Schul¬
anforderungen werden noch — wie so häufig in derartigen Fällen — im
ganzen erfüllt. Sobald jedoch diese Anforderungen nur einen geringen
Höhegrad erreicht haben, tritt der Defekt in voller Deutlichkeit zutage.
X.. der in die kritische Periode der Pubertät eintritt, besitzt weder In¬
telligenz noch Energie genug, um sich weiter zu bringen, und verläßt
schließlich mit 15 Jahren die Quarta einer höheren Bürgerschule.
Dem Anfang aber entspricht der Fortgang. Wir sehen in seiner
Entwicklung nirgends einen vernünftigen Plan, ein seinen gesamten
Lebensumständen angemessenes, erreichbares Ziel, nirgends ein ernst¬
haftes, dauerndes Streben, in einer ordentlichen Berufstätigkeit Tüchtiges
zu leisten; statt dessen vielmehr ein völlig ziel- und planloses Herum¬
probieren, ein absurdes und phantastisches Dilettieren auf allen möglichen
Obieten, von deren Ausdehnung und Bedeutung X. keine Ahnung hat,
ein Anfängen ohne Fortsetzung, ein Aufhören, noch ehe ein rechter An¬
fang gemacht war.
Freilich läßt er es nicht an Versuchen fehlen, sich selbständig zu
machen und Geld zu erwerben, allein, er bringt es nicht über sich, in
finer seinem Alter und seiner jnangelhaften Vorbildung entsprechenden
Stellung anzufangen, mit dem Vorsatz, sich später einmal emporzuarbeiten.
Dergleichen ist ihm zu „geisttötend“, zu „proletenhaft“. „Er, der von
Adel war, wenn auch indirekt, er, in dessen Adern blaues Blut fließt,
sollte sich in die proletenhafte Rolle eines Angestellten fügen.“ ....
So schreibt er in seiner „Autobiographie“. Und damit komme ich zum
dritten der oben skizzierten Punkte, zu seiner eigenen Auffassung seiner
Gaben und Fähigkeiten.
Ad 3. Für X.s geistige Physiognomie ist nun dies charakteristisch:
Die Dürftigkeit der intellektuellen und moralischen Veranlagung und die
dazu im schreienden Gegensatz stehende, durchaus pathologisch zu deutende
Selbsteinschätzung, der naive Dünkel, der zuweilen eine geradezu groteske
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und lächerliche Höhe erreicht. So erzählt er io seinem Lebenslauf von
seiner Geburt und weiteren Entwicklung in folgenden Worten: „Ein
Knäblein erblickte das Licht der Welt, der Vater weiß, daß der Knabe
ein großer Geist, ein Genie wird . . .ein Genius gießt einen großen Geist
in ihm aus.er, der für alles Edle und Gute empfänglich war,
der die Musik und sein Studium, sowie den Verkehr mit durchgeistigten
Menschen über alles liebte, der das Menschenstudium betrieb und Philo¬
sophie, Medizin, juris-Studien (!) machte, er sollte sich dazu hingeben
Angestellter zu sein.“
Dieser Mensch, der Preußen für ein Kaiserreich und die Schnee¬
koppe für das höchste Gebirge in Europa hält, erklärt völlig ernsthaft,
er habe ja vollkommen die Bildung eines Abiturienten. Er, der von Kind¬
heit an seinen Eltern nur Kummer gemacht hat, der bisher überall ver¬
sagt hat, der im Alter von 23 Jahren bereits mit mehreren empfindlichen
Strafen belegt ist, er hält sich für ein Genie, einen Geisteshelden, einen
begnadeten Musiker, vergleicht sein Schicksal mit dem Napoleons und
verlangt staatliche Anstellung und Unterstützung.
Erst aus dieser Selbsteinschätzung heraus finden seine Handlungen
ihre volle psychologische Erklärung und damit die ihnen gebührende Be¬
urteilung.
In X. vereinigt sich eine hochgradige angeborene Geistes- und
Urteilschwäche mit einer krankhaften Stärke des Phantasielebens. Seine
Mutter gab mir folgende sehr glaubwürdige Schilderung: „Er fühlt sich
gar nicht schuldig, fühlt sich nicht ausgestoßen, rechnet sich vollständig
zur Familie wie ein guter Sohn, schämt sich nicht im geringsten, wenn
Besuch kommt und bei ähnlichen Gelegenheiten.“ Dem entsprach sein
Verhalten während der Beobachtungszeit vollständig. Mit keiner Regung
zeigte er ein Bewußtsein seiner Situation, eine Empfindung für das Bedenk¬
liche seiner Handlungen, eine Verlegenheit oder gar Scham bei Durch¬
nahme seines bisherigen verfehlten Lebens. Er vergaß vollkommen Ver¬
anlassung und Art seines augenblicklichen Aufenthaltes und lebte auch
hier in einer Welt der Phantastik und Romantik, in der ihm selbst eine
außerordentliche und entscheidende Rolle zufällt. Dafür ist folgendes
Schreiben höchst charakteristisch: „Anschluß-Mitteilung in der Beob¬
achtungsache Schneider, Emil. Der Pat. Schneider stößt Drohungen des
Mordes und des Totschlags gegen die Ärzte aus und schimpft proletenhaft.
Diese Mitteilung ist als geheime zu betrachten. Es müssen zur Sicherung
der Ärzte besondere Vorsichts-Maßregeln getroffen werden. Beob¬
achter X.“
Wie man sieht, hat er vollständig vergessen, daß er selbst als Beob¬
achtungskranker hier ist, er fühlt sich vielmehr auf einem verantwortung¬
vollen Posten, als eine Art Vertrauensperson, deren bedeutsame Mit¬
wirkung die Ärzte nicht entbehren können. Dabei handelte es sich um
einen Kranken im letzten Verblödungstadium der Dementia praecox,
dessen völlig sinnlose Bemerkungen den übrigen Pat. Spaß machten.
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An diesem Beispiel erkennen wir neben der Nebenwertigkeit des
X.schen Phantasielebens zugleich auch dessen Inhalt. Das Unheimliche,
Mystische, Übernatürliche zieht ihn an. Das, was der Laie „so interessant“
zu nennen pflegt. Deshalb ist es sein Ideal, Detektiv zu werden, deshalb
seine Vorliebe für das „Menschenstudium“, für Hypnose und Suggestion,
die sich zu der grotesken Idee einer staatlichen Zwangshypnotisieranstalt
versteigt. Daher auch sein unklarer Drang, „alles zu ergründen“,, und
sein Kokettieren mit Wissenschaft und Philosophie.
Und dieser von Jugend auf haltlose und pathologische Mensch
gerät nun unter den Einfluß einer objektiv kindischen, subjektiv da¬
gegen sicherlich ehrlichen und tiefgehenden Leidenschaft. Wenn der Ge¬
sunde in solchem Zustande sich häufig an der Grenze des Normalen bewegt,
«o Ist es klar, daß ein Mensch wie X. durch diesen Affekt vollends aus dem
'relisohen Gleichgewicht kommen mußte.
So klar das Seelenleben des Ang. vor Augen liegt, so schwierig
ist es. dasselbe mit einem kurzen diagnostischen Schlagwort zu kenn¬
zeichnen.
X. gehört in die große Gruppe der „Minderwertige n’’.
Zunächst weist die Untersuchung das Vorhandensein eines erheblichen
angeborenen oder jedenfalls sehr frühzeitig erworbenen Intelligenz¬
defektes nach. Neben diesem lassen sich nun noch eine Reihe mehr
•der weniger charakteristischer Einzelzüge erkennen. X zeigt deut¬
sche manische Symptome, trotz seines äußerlich geordneten Ver¬
haltens. Ich finde dieselbe in seiner Ruhelosigkeit, seinem rastlosen
Betätigungstriebe, wie ersieh in den unaufhörlichen, meist von Größen-
deen zeugenden Streichen der letzten Jahre äußert, und vor allem
a der Quantität und Qualität seiner schriftlichen Produktionen.
Ferner finden sich deutliche hysterische Stigmata. Zu ihnen ge¬
hört das bereits oben geschilderte Überwiegen des Phantasielebens,
•he Eitelkeit und Selbstbeweihräucherung, mit der er sich in seinen
Triaaen stets in möglichst erhabene und bedeutungvolle Posen und
>3Mt>.«en versetzt, dahin gehört ferner die Suggestibilität, die sich
am aessprieht. daß X durch mein scheinbares Eingehen auf seine
zu einer immer maßloseren Ausgestaltung seines Traum-
veranlaßt wird, die abnormen Erinnerungslücken, die bei ihm
ad den Gedanken an pathologische Bewustseinszuständc
•Tagträumen), und endlich nicht zum wenigsten die Ano-
sai«. o*r Sensibilität. Nur kurz sei noch auf ein Symptom hinge-
tau in seinen Briefen mehrfach zeigt, nämlich eine Neigung
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Go^ 'gle
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zu seltsamen Wortneubildungen. So spricht er einmal von der „In-
sichglücksbefähigung“, ein anderes Mal von der „dishironisch-kalosti-
schen Lebensqual“, dann wieder von der Nacht des „marvisierenden
Winters“. X. weigerte sich, letzteres Wort zu erläutern; es gehöre zu
einer Sprache, die er jetzt ausbilde zur ausschließlichen Verständigung
zwischen Hypnotiseur und Medium. Z. T. stammen diese Bildungen
wohl aus mystisch-spiritistischen Schriften, z. T. aber erinnern sie
doch auch an die Silbenkombination, wie man sie bei der Dementia
praecox findet.
Es war unverkennbar, daß X. im Verlaufe der sechs Beobach¬
tungswochen kränker wurde. Er lebte sich immer mehr in die Rolle
des verkannten Genies und Menschheitbeglückers hinein, er begann
dann von „Intrigien“ zu sprechen, und es bedurfte nur einer kleinen
expiratorischen Provokation, um ihn zu weiterer Ausarbeitung dieses
paranoiden Systems zu bringen. Zunächst denkt er noch für einen
Augenblick an seine frühere Braut, dann aber geht er ins Allgemeine:
der Staat ist es, der ihn nicht aufkommen lassen will, die unteren
Beamten fürchten für ihre Stellungen, deshalb muß er zum Schweigen
gebracht werden. Freilich handelt es sich hier nicht um das uner¬
schütterlich eingewurzelte Wahnsystem eines Paranoikers. Immerhin
aber ist es bedeutsam und steht im Einklang mit unseren sonstigen Er¬
fahrungen, wie wenig bei X. zu einem akuten psychotischen Auf¬
flammen des bei ihm vorliegenden geistigen Grundübels gehört.
Nach alledem ergibt sich folgende ärztliche Beurteilung des Angekl.
und seiner Handlungen: X. leidet an einem hochgradigen Defekt
auf ethischem und intellektuellem Gebiet, verbunden mit einem
krankhaft gesteigerten Trieb- und Phantasieleben. Dieser Zustand
macht ihn unfähig, die Tragweite seiner Handlungen wie ein Normaler
zu übersehen, beraubt ihn auch der physiologischen „Hemmungen“,
mit denen ein gesunder Intellekt Versuchungen zu widerstehen ver¬
mag. Er hat sich bisher trotz empfindlicher Strafen als völlig unver¬
besserlich erwiesen, und seine Mutter erklärte mir gegenüber, als von
seiner eventuellen Entlassung die Rede war, „da vergehen keine
drei Tage, dann macht er wieder irgendeinen Unsinn“.
Seine Strafhandlungen zeigen bei genauer Betrachtung dieselben
Charaktere, auf die wir bei der Analyse seines Seelenlebens stießen:
es fehlt ihnen eine normalpsychologische Motivierung, denn X wird
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von seinen Eltern völlig ausreichend unterstützt, und andererseits
sind sie — eine Notlage X.s vorausgesetzt — zwecklos, denn die
erschwindelten Vermögensvorteile sind so gering, daß von einem
wirklichen Nutzen nicht gut die Rede sein kann. Sie werden mit
so läppischem Ungeschick ausgeführt — X. gibt sich zwar meist
einen faschen Titel und Namen, nennt aber seine richtige Adresse —,
daß die Entdeckung alsbald auf dem Fuße folgt. Sie zeigen endlich
den Einfluß seines krankhaften Phantasielebens, wie er besonders
im Falle S. zutage tritt, wo X. keinerlei bösartige Absichten hegt,
sondern sich damit begnügt, sich als Referendar auszugeben und mit
dem verblüfften Geschäftsmann ein „Protokoll aufzunehmen“.
Zusammenfassend äußerte sich das Gutachten dahin, daß X.
mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zur Zeit der Tat geisteskrank
im Sinne des § 51 StGB, gewesen sei. Das Gericht erkannte dem¬
entsprechend* auf Freisprechung, überwies jedoch den Angeld, als
gemeingefährlich einer Irrenanstalt.
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Königliche Landesanstalt für bildungunfShige
Kinder zu Groß-Hennersdorf i. Sa.
Von
Anstaltsvorstand Oberarzt Dr. Meitzer.
Die Landesanstalt liegt inmitten des etwa 1300 Einwohner
zählenden Marktfleckens Großhennersdorf, 6 km entfernt von der
nächsten Bahnstation Herrnhut der Strecke Löbau—Oberoderwitz
in der sächsischen Ostlausitz. Die Gegend hat einen rein ländlichen
Charakter, die Bevölkerung treibt meist Landwirtschaft und ver¬
einzelt auch Hausweberei.
Im Jahre 1721 war durch eine Besitzerin des Rittergutes und Schlosses
Großhennersdorf, Freiin Sophie v. Gersdorf, Großmutter des durch die
Gründung der benachbarten Herrnhuter Brüdergemeine bekannt ge¬
wordenen Grafen Zinzendorf, eine „Armen- und Waisenhausstiftung zu
Nutz und Frommen der Hennersdorfer Inwohner und insonderheit der
aufwachsenden Jugend und daneben zum Besten des gemeinen Wesens 1-
eingesetzt worden. Soweit sich aus den spärlichen Nachrichten aus jener
Zeit ergibt, rentierte sich die Stiftung für den kleinen Ort viel zu wenig:
die Rittergutsherrschaft mußte sie daher immer wieder finanziell stützen.
Da die letztere nun immer mehr Beziehungen zur Herrnhuter Bruder¬
gemeine gewann, so wurde die Stiftung ihren Zwecken mit dienstbar ge¬
macht, um ihr auf diese Weise Einnahmen zu verschaffen. Die Anstalts¬
gebäude, die wiederholt Um - und Neubauten erlebten, wurden damals teils
zu Asyls-, teils zu Erziehungszwecken verwendet. In den 30er Jahren
vorigen Jahrhunderts ließen sich aber auch diese Institute nur mit Mühe
und Kosten aufrecht erhalten; die Herrnhuter Unitätsdirektion beschloß
daher ihre Auflösung. Da sich gerade damals im Lande die Notwendig¬
keit eines Landwaisenhauses fühlbar machte, so übernahm die Kgl. Sachs.
Staatsregierung im Jahre 1838 die ehemaligen Stiftsgebäude aus den
Händen der Herrnhuter Schwester Gräfin Charlotte v. Einsiedel unter
der Bedingung, sie zu irgendeinem staatlichen Zweck zu verwenden,
andernfalls sie an die Gutsherrschaft, die seit 1841 auch nominell immer
die Herrnhuter Brudergemeine gewesen ist, zurückfallen sollte. — Die
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Nutzung der Stiftungskapitalien verblieb der Gemeinde Großhennersdorf
für Kirchen* und Schulzwecke.
Aus dem staatlichen Landwaisenhaus wurde spater eine Besserungs¬
anstalt für verwahrloste Knaben und im Jahre 1889 eine Erziehungs¬
anstalt für schwachsinnige Knaben, die im Jahre 1905 mit der analogen
Anstalt für schwachsinnige Mädchen in Nossen und den sächsischen
Blindenanstalten in der Landeserziehungsanstalt für Blinde und Schwach¬
sinnige zu Chemnitz-Altendorf vereinigt wurde.
Aus der Geschichte der ehemaligen Hennersdorfer Erziehungsanstalt
für schwachs. Knaben (über deren Organisation s. Meitzer, „Die staat¬
liche Schwachsinnigenfürsorge im Kgr. Sachsen“. Allg. Ztschr. f. Psych.
1903, und Päd. Studien, Bleyl u. Kämmerer, Dresden, 1904) ist wegen
der nachfolgenden Entwicklung der sächsischen Schwachsinnigenfürsorge
von Wichtigkeit, daß schon damals die wohl durch die pädagogische Lei¬
tung beeinflußte Tendenz bestand, die bildungunfähigen Elemente von
den bildungfähigen zu trennen. Sie wurde dadurch besonders nahegelegt,
daß erstens ein Zusammenleben der ersteren mit den letzteren in einem
blockartig gebauten Anstaltsgebäude manche Nachteile mit sich bringen
mußte, und daß zweitens wohl gerade damals, als Folge des Aufschwungs
der Heilpädagogik am Ende des Jahrhunderts, der Andrang der Auf zu¬
nehmenden ein größerer wurde, so daß bald der Platz in der Anstalt nicht
mehr genügte. Es wurden daher jene bildungunfähigen Elemente, die
nur der Pflege bedurften, die auch in hohem Maße Morbidität und Mor¬
talität beeinflußten und höchstens noch ein wissenschaftlich-medizinisches
Interesse boten, in die große Landesirrenanstalt Hubertusburg wieder ab¬
geschoben. Dort war, wie ja bekannt, als eine der ersten deutschen An¬
stalten für Schwachsinnige im Jahre 1846 die Abteilung für schwach¬
sinnige Kinder gegründet worden, die bis 1889 bestanden hat. So wurde
die ursprüngliche Mutteranstalt der sächs. Schwachsinnigenfürsorge
wieder zur Hilfstation für die beiden Tochteranstalten Großhennersdorf
und Nossen, und sie blieb es auch nach der Errichtung der gemeinsamen
Landeserziehungsanstalt Chemnitz-Altendorf. Denn obgleich dort ein
recht umfangreiches Haus für Blöde erbaut worden war, zeigte es sich
doch sehr bald, daß dieses wohl genügte, um die allmählich aus dem
zugeführten Material als bildungunfähig Ausfallenden zu beherbergen,
aber nicht noch jene Hubertusburger Abteilung. Je mehr sich ferner Chem¬
nitz-Altendorf als eine Erziehungsanstalt auswuchs, deren Einrichtungen
bildungfähigen Blinden und Schwachsinnigen mehr zugute kommen mußten
als bildungunfähigen, je größer endlich der Zugang aus allen Landesteilen
in die neue Anstalt wurde, desto weniger konnte noch an eine Vereinigung
der beiden Abteilungen gedacht werden. Jene Hubertusburger „Abteilung
einstweilig versetzter bildungunfähiger Zöglinge“ bestand also bis zur
Eröffnung der hiesigen Anstalt am 30. September 1911, an dem ihr Be¬
stand von 36 Knaben und 46 Mädchen hierher überführt wurde.
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So erklärt sich aus der geschichtlichen Entwicklung erstens die
etwas abseitige Lage hiesiger Anstalt und zweitens die sonst vielleicht
Verwunderung erregende Tatsache, daß wir hier in Sachsen eine
besondere Anstalt für bildungunfähige neben der Erziehungsanstalt
für bildungfähige Schwachsinnige haben. — Dem ursprünglichen
Gedanken der Stiftung ist sie bis jetzt treu geblieben, insofern sie
wie ehedem teils Asyl-, teils Erziehungszwecken dient, daß sie in
Sonderheit der Jugend zugute kommt, und daß sie nicht nur den
Hennersdorfern Inwohnern einen direkten und auch einen ganz be¬
trächtlichen indirekten Nutzen bringt, sondern auch „dem Besten des
gemeinen Wesens“, dem Staatswohl dient, da sie alle jene bildung¬
unfähigen Idioten aus dem ganzen Königreich aufnimmt, die für ihre Um¬
gebung besonders störend und gefährlich sind. Um Gesagtes nicht zu
wiederholen, kann Verf. hier auf seine Ausführungen in der Rede hin-
weisen, die bei der Weihe der Anstalt am 5. November gehalten wurde
(Ztschr. f. Behdlg. Schwache. Jg. 32, Nr. 5). Daneben soll sie später,
wenn der Ausbau vollendet ist, geisteskranke Kinder, deren gemeinsame
Verpflegung mit Erwachsenen in den Heil- und Pflegeanstalten immer
gewisse Schwierigkeiten macht, aufnehmen. Die Zahl geisteskranker
Kinder, selbst in einem so volkreichen Lande wie Sachsen, ist nicht
groß. Es wird daher für diese Art Kinder immer nur eine kleine Ab¬
teilung nötig werden, die abseits von dem Hauptgebäude mit dem
Krankenhaus verbunden werden wird.
Zu erwähnen bleibt hier noch, daß die hiesige Anstalt genau
wie alle anderen sächsichen Landes-Heil- und Pflege-, Erziehungs¬
und Strafanstalten unter der direkten Verwaltung des Ministeriums
des Innern stehen. Diese direkte Unterstellung unter das Ministerium
ist ein Beweis dafür, daß die Sächsische Regierung den Anstalten
von jeher eine besondere Fürsorge und Bedeutung beigemessen hat.
Sie ist auch für die Anstalten von Vorteil, weil der Geschäftsgang
rascher ist, und weil in sämtlichen Landesanstalten besser nach einheit¬
lichen Gesichtspunkten verfahren werden dürfte.
War die frühere Landeserziehungsanstalt für schwachs. Kinder ein
schmuckloses Gebäude mit plattem Dach, das in der hiesigen lieblichen
Berggegend wie ein großer, häßlicher Fremdkörper wirkte und von den
meisten für eine Fabrik gehalten werden mußte, so steht jetzt an der¬
selben Stelle ein schmucker Bau, der hauptsächlich durch die schöne
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Gliederung des Daches und die Krönung mit einem Uhrturme, der zu¬
gleich der Ventilation dient, außerordentlich gefällig anmutet. Alle
Tageräume sowie ein Teil der Schlafräume und der Garderoben sind
nach Südwest orientiert. Neun von elf Schlafräumen haben an zwei
Seiten Fenstern, so daß sie gut durchlüftbar sind und das Sonnenlicht von
zwei Seiten hineinfluten kann. Daß ein Teil der Garderoben nach Süden
liegt, entspricht nicht nur dem praktischen Zwecke, die Räume einer
Abteilung möglichst nebeneinander zu haben, um Lauferei und Personal
für die Aufsicht zu ersparen, sondern auch der hygienischen Absicht,
diese Räume, die immer eine Brutstätte von Dünsten nach Kleider- und
Lederzeug sind, möglichst der reinigenden Wirkung des Sonnenlichtes
zugänglich zu machen.
Vier der zentral gelegenen Schlafsäle grenzen direkt an große Ve¬
randen. von denen die eine im zweiten Geschoß offen, die andere im ersten
Geschoß geschlossen ist. Sie gestatten im Winter und bei ungünstiger
Witterung, die Kinder an die frische Luft zu bringen, ohne daß das Schuh¬
werk naß und schmutzig wird, und sie sollen im Sommer in ausgedehntem
Maße zur Lüftung des Lagermateriales benutzt werden. Eis mag hier gleich
vorweg genommen werden, daß teils aus Sparsamkeits-, teils aus hygie¬
nischen Gründen für die Kinder nur Strohsäcke in Gebrauch sind. Ihr
Inhalt läßt sich leicht und billig ersetzen und das Überzeug völlig keimfrei
machen, wenn Unreinigkeiten irgendwelcher Art herangekommen sind.
Die übrigen Lagerungsbestandteile sind Wolldecken und Federkopfkissen,
beides in weißem Halbleinen- bzw. Baumwollüberzug, für Unreinliche
überdies eine Gummi- und Barchentunterlage. Die letztgenannten Unter¬
lagen werden genügend groß gewählt und bei sehr unreinlichen und un¬
ruhigen Kindern mit langen Wolistreifen (Überresten aus in Abgang
gekommenen Wolldecken) um den Unterkörper befestigt, so daß für
gewöhnlich Bettuch und Strohsack nicht beschmutzt werden. — Matratzen
sind für diese Kinder unzweckmäßig und teuer. Dasselbe gilt von den
Federkopfkissen, deren Inhalt man allmählich aufbrauchen und mit der
Zeit durch Roßhaar ersetzen wird, das zwar teurer im Ankauf, aber
besser rein zu halten, gut zu desinfizieren, unverwüstlich und die beste
Kopflagerung ist, die es überhaupt gibt. Als Bettstatt werden hölzerne
Bettstellen verwendet, die aus der früheren Anstalt noch in reichlicher
Anzahl und guter Beschaffenheit vorrätig waren. Obgleich man als Arzt
wohl immer mehr Freund der eisernen Bettstellen sein wird, so haben
jene, besonders wenn die Seitenteile hoch sind, den Vorzug, daß das Kind,
selbst wenn es sehr unruhig schläft, nicht herausfallen kann, daß es sich
weniger hart stößt, was besonders bei der merkwürdig häufigen Tendenz
tiefstehender Idioten zu Selbstverletzung in Betracht kommt, und
daß sie die Wärme besser Zusammenhalten. Bei einer Infektion, die
für eine ganze Anstalt bedenklich ist, z. B. bei Typhus, wird man die
Bettstatt restlos durch Feuer vernichten, was nicht schlimm in die Wag-
Zeitschrift für Psychiatrie. LX1X. 3, 26
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schale fällt, wenn sie aus einfachem Holze gebaut ist. Bei unbedenklicheren
Infektionen kann man auch die hölzernen Bettstellen mit desinfizierenden
Flüssigkeiten abreiben, durchlüften, durchsonnen und schließlich frisch
streichen lassen. — Gegen Festsetzung von Ungeziefer schützen auch
eiserne Bettstellen nicht. Weil sie schwerer auseinander zu nehmen sind,
sind ihre Fugen sogar schlechter zugänglich und weniger zu kontrollieren.
Die Dampfdesinfektion dürfte für eiserne wie für hölzerne Bettstellen
gleich verderblich sein, für die ersteren durch den entstehenden Rost und
durch Verbiegungen, die bei starker Hitze eintreten.
In jedem Schlafsaale steht ein fahrbarer leichter Kleiderständer,
der abends beladen mit Kleidern und Schuhwerk aus dem Saale und früh
zum Ankleiden wieder hereingeschoben wird. Am Tage hängt daran für
jedes Kind ein Handtuch. Da die hiesigen Kinder sich zum kleinsten Teile
selbst waschen können, so ist nur auf jede Personalkraft ein Waschbecken
im Schlafsaal gerechnet, in dem sie nacheinander die von ihr zu ver¬
sorgenden Kinder wäscht. Dagegen hat jedes Kind seinen Mundspül¬
becher, seine Zahnbürste und seinen Waschfleck. Falls gröbere Verun¬
reinigungen vorgekommen sind, so wird das Kind gleich in der bereit-
stehenden Badewanne abgewaschen. Hier wie über allen Waschbecken
befindet sich ein Hahn für Kalt- und Warmwasserleitung. Endlich be¬
finden sich in jedem Schlafsaal wie in jedem Tagesraume zwei Wasser¬
klosettsitze. — Die Aufstellung fester Klosettsitze in den Tagesräumen
dürfte vielleicht nicht jedermanns Geschmack entsprechen. Wenn man
aber bedenkt, daß unter den bildungunfähigen Idioten eine sehr große Zahl
solcher sich befindet, die beständig unter sich lassen, wenn man weiß, wie
unangenehm die Aufstellung und Handhabung von Nachtstühlen ist, und
wieviel sie Personalkraft absorbiert, dann wird man diese Einrichtung
bald für sehr nützlich erkennen, um so mehr, da die Beseitigung des Ge¬
ruchs und der Abgänge hierbei die denkbar gründlichste und schnellste
ist. Direkt oberhalb der Klosettsitze sind die Ventilationsöflnungen
angebracht, die dazu beitragen, die Gerüche im statu nascendi zu ent¬
fernen. Verf., der diese, wohl anderweit noch nicht übliche Einrichtung
für die hiesige Anstalt empfohlen hat, glaubte erst diese Sitze durch
irgendeine Vorrichtung dem Auge des Besuchers entziehen zu müssen.
Davon ist er aber ganz abgekommen. Eine Anstalt für tiefstehende Idioten
wird nie ein Schmuckkästchen sein können, mit dem man vor Fremden
renommieren kann. Ihre Einrichtungen müssen in erster Linie praktisch
und ihr Betrieb muß möglichst billig sein, damit diese Unglückskinder
nicht dem Lande allzu teuer zu stehen kommen. Je übersichtlicher aber
ein Tageraum ist, je mehr Pfleglinge eine Personalkraft gleichzeitig im
Auge haben kann, desto weniger wird man Personal brauchen, ohne Unfälle
zu riskieren.
Übrigens gibt es für die größeren und reinlichen Idioten auch noch
Aborte, die, leicht vom Tageraum zu erreichen, nach Norden gelegen sind.
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Die beiden für die Pfleglinge dort vorgesehenen Sitze sind durch eine
Zwischenwand getrennt und nach vorn offen, damit die Kinder im Auge
behalten werden können.
Leider kommt man trotz aller dieser Einrichtungen in einigen Ab¬
teilungen nicht ohne gepolsterte Nachtstühle aus. Sie werden namentlich
bei den Gelähmten verwendet, die nicht gehen können, und die man doch
auch nicht den ganzen Tag im Bette liegen lassen will.
Die Tageräume sind ebenso wie die Schlafräume weiß getüncht bis
auf einen 1 y, m hohen Ölsockel. Die Dielen sind oder werden zum Teil
noch mit Linoleum belegt. Auch in jedem Tageraurfle befindet sich ein
fester Waschtisch mit 2 bis 3 Kippbecken. Sonst sind sie nur ausgestattet
mit niedrigen hölzernen Tischen, Bänken und Stühlchen mit Seitenlehnen.
Die Räume sind so berechnet, daß die Kinder dabei noch reichlich Platz
haben, sich frei zu bewegen, und daß größere Kinderspielsachen wie Schau¬
keln, Pferde, Puppenwagen u. dgl. benutzt werden können, ohne daß
sie die Bewegungsfreiheit hemmen.
Im Laufe der Zeit werden die jetzt noch kahlen Wände mit ein¬
fachem, aber gutem und wenigstens noch für einige Kinder verständlichem
Bilderschmuck versehen werden. Auch muß jeder Tägeraum ein Ar¬
rangement von Blumen erhalten. Diese Dekoration wird nicht nur viel¬
fach von den Kindern, ebenso wie von unruhigen Geisteskranken respek¬
tiert, sie gibt auch jedem Raume etwas Freundliches und verschafft den
Eltern die tröstliche Gewißheit, daß ihr Kind gut aufgehoben ist, —
denn wo für solche kleinen Dinge gesorgt wird, da geschieht dies auch
im großen und ganzen, — und sie ist endlich eine Annehmlichkeit für
das Personal, dessen Auge gern einmal darauf ruht, und dessen Hand
die kleine Mühe der Pflege der Blumen nicht scheut. — Endlich gibt
es für mehrere Abteilungen zusammen einen nach Norden gelegenen
Putzraum, in dem Hader, Besen usw. aufgehoben und Arbeiten wie
Schuhputzen u. ä. verrichtet werden. Sie sind wie die Korridore mit
Fliesen bedeckt. Im Kellergeschoß befindet sich ein Baderaum mit 8
emaillierten Eisenwannen, in denen das wöchentliche Reinigungsbad
genommen wird.
Das völlig ausgebaute Dachgeschoß enthält die Wohnzimmer für das
Personal, das sind 1 Oberpflegerin für den Küchen-, 1 für den Aufsichts-
dienst und für 7 in dem staatlichen Pflegerinnenhaus Hubertusburg aus¬
gebildete Pflegerinnen, die die zurzeit bestehenden 7 Abteilungen mit je
2—3 Wärterinnen versorgen, und einen großen Schlafraum und einen
Tageraum für die Wärterinnen. Im anderen Teil der Mansarde befindet
sich ein größerer Raum, der zur Abhaltung der Gottesdienste und der Fest¬
lichkeiten für das Personal dient, ein Raum für Unterrichtstunden,, die
der Arzt und der Seelsorger dem Personal erteilen, und die Wohnung des
Arztes. Eine Familienwohnung in einem solchen großen Anstaltgebäude
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hat nicht nur gewisse hygienische, sondern auch manche ästhetische Nach¬
teile für den Inhaber. Auf der anderen Seite ist es aber für die Anstalt,
besonders im Beginn ihres Betriebes, ein großer Vorteil, wenn der Arzt
im Gebäude selbst wohnt, daher schnell zu haben ist und immer und
überall ein eigenes Interesse an der Reinhaltung bzw. an der Hygiene
des Hauses hat.
Es ist früher "davon die Rede gewesen, die Anstalt nur durch einen
Arzt im Nebenamt versorgen zu lassen, um das Gehalt eines haupt¬
amtlich angestellten Arztes für eine solch unproduktive Anstalt zu sparen.
Man kann sich schon nach dem oben Gesagten denken, daß dies ein Un¬
ding sein würde, und daß nicht nur binnen kurzem das Gebäude ver¬
seucht und ruiniert wäre, sondern auch dem unterhaltenden Fiskus aus
falscher Behandlung des ja meist sehr untraitabeln Krankenmaterials oder
gar aus Mißhandlung und Übergriffen des Personals ein Rattenkönig von
Beschwerden erwachsen würde. In einer solchen Anstalt kann daher nur
ein psychiatrisch und hygienisch vorgebildeter und auf dem Spezial¬
gebiet der Idiotie erfahrener Arzt Gutes wirken und die Interessen des
Staates sowohl wie der Kranken richtig vertreten, ganz abgesehen davon,
daß auch hier noch eine wissenschaftliche Tätigkeit Früchte zeitigen kann.
(Zu vgl. Verf.s „Zur Weihe der Kgl. Landesanstalt Großhennersdorf“, s.
Ztschr. f. d. Bhdlg. Schwachs. Nr. 5 Jg. 32. Herausg. v. Gürtler u. Meitzer.
Marhold, Halle.)
Das Erdgeschoß enthält Aufnahme-, Vorstandzimmer, die Expe¬
ditionsräume und die sehr geräumige Küche mit angrenzendem Vorrats-,
Anrichte- und Zuputzraum. Ein Raum ist für wissenschaftliche Photo¬
graphie vorgesehen. Die Photographie soll zuweilen auch den sehr
praktischen Zweck haben, allzu sorglichen Eltern ad oculos zu demon¬
strieren, daß sich ihr Kind in Anstaltpflege besser befindet, wie in der
häuslichen. — Das ärztliche Inventar und Instrumentarium ist nach dem
Grundsatz ausgewählt worden, daß man bei dem hiesigen Material mit
dem einfachsten und billigsten durchzukommen suchen muß, damit sich
nie eine Stimme erheben kann, die solche Aufwendungen als hinausge¬
worfenes Geld bezeichnen kann. Auf der anderen Seite muß aber auch
den Terroristen, die in einer solchen Anstalt überhaupt einen Luxus
sehen und am liebsten mit den Kindern nach spartanischer Art und Weise
verführen, immer wieder entgegengetreten werden. Auch in dieser Hinsicht
kann auf die Ausführungen des Verf.s in der obengenannten Abhandlung
verwiesen werden.
In dem früheren Ökonomiewirtschaftsgebäude an der Nordwestfront
des Hofes, das jetzt nur noch zum kleinsten Teil zu ökonomischen Zwecken
Verwendung finden dürfte, wird zurzeit noch ein kleines Krankenhaus
mit Isolierabteilung für infektiöse Kranke hergerichtet, ferner ein Des¬
infektionsofen nach Budderbergschem System, ein Sektions- und ein
Leichenraum und endlich ein Raum zur Spülung stark beschmutzter
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Wasche und ein anderer zur Sortierung der gereinigten zurückkommenden
Wäsche eingebaut.
Die eigentliche Wäschereinigung wird in der benachbarten Königl.
Heil- und Pflegeanstalt Großschweidnitz besorgt, wohin die Wäsche nach
Auswaschen des gröbsten Schmutzes teils per Achse, teils per Bahn be¬
fördert wird.
Die Anstalt bekommt das Licht von der Überlandzentrale in Zittau
und bezahlt für die Kilowattstunde 25 Pfg.
Sie besitzt eigene Wasserleitung. Das Wasser kommt aus vornehm¬
lich waldigem Gebiet und wird auf eigenem, vor wenigen Jahren käuflich
erworbenem Grund und Boden, der mit Bäumen bepflanzt ist, gefaßt.
Das Reservoir liegt so hoch, daß das Wasser durch den eigenen Druck
bis in die Dachwohnungen gelangt. Damit auch das hohe Dach des Gebäudes
bei Feuersgefahr geschützt werden kann, werden noch Anschlußhydranten
an die Ortswasserleitung, die höheren Druck besitzt, geschaffen. Die
Qualität des Wassers der Anstaltleitung hat seit der käuflichen Erwerbung
des Quellfassungsgebietes nie zu Ausständen mehr Veranlassung gegeben.
Die Ergiebigkeit beider Leitungen dürfte auch für alle Notfälle ausreichend
sein.
Die Abwässer einschließlich der Wasserklosettabgänge werden
nach biologischem Verfahren geklärt.
Was nun den inneren Betrieb der Anstalt anlangt, so dürfte zunächst
Zahl und Art der Beamten und Bediensteten interessieren. Es sind vor¬
handen:
a) folgende Staatsbeamte: 1 Anstaltsarzt (zugleich Anstaltleiter),
t Expeditions Vorstand (Sekretär), 1 Kassen- und Wirtschaftsbeamter
(Sekretär), 1 Oberpfleger, 1 Heizer, 1 Küchen Vorgesetzte, 1 Oberpflegerin
: Abteilungspflegerinnen;
b) folgende Nichtstaatsbeamte: 1 Diätist zu Hilfsarbeiten in Expe¬
dition, Wirtschaft und Kasse, 1 Hausarbeiter, 23 Wärterinnen, 4 Küchen-
mädchen, 1 Nachtwächter.
Das Verhältnis des Pflegepersonals zum Pflegematerial ist also bei
dem gegenwärtigen Bestand von 150 Idioten, 7 Pflegerinnen und 23 Wärter¬
innen = 5:1.
Wer darüber orientiert Ist, wie unreinlich, hilfs- und aufsichtbedürftig
bildungunfähige Idioten sind, und weiß, daß das Personal sich nicht wie
in Krankenhäusern und Irrenanstalten mancher Kranker zu Hilfsdiensten
oder wenigstens zu einigen Handreichungen bedienen kann, daß sich fast
keins dieser Kinder selbst an- und ausziehen kann, der wird einsehen,
daß das Prozentverhältnis 1 : 5 nicht hoch ist, zumal wenn, wie hier,
auch alle Hausarbeiten und das Auswaschen der stark beschmutzten
Wäsche mit von demselben Personal besorgt werden muß. Das gleiche gilt
von der Küche, die hier auch über keine nennenswerten Hilfskräfte verfügt
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und daher auch alle Zuputz- wie Aufwascharbeiten allein machen muß.
Auf 1 Küchenkraft kommen 35 Esser. Es essen nämlich außer den 150
Kindern das gesamte Personal, die unverheirateten Beamten und die
26 erwachsenen Schwachsinnigen, die in der benachbarten Kolonie, einer
Wohltätigkeitseinrichtung der Unterstützungskasse für entlassene Schwach¬
sinnige, gegen Bezahlung mit aus der Anstaltküche. Es muß endlich
bei dem obengenannten Prozent Verhältnis 1 : 5 bedacht werden, daß
dem Personal regelmäßig freie Tage zur Erholung gegeben werden müssen,
und daß oft einmal Krankheit eine Pflegekraft dem Dienst auf längere
Zeit entzieht. Dadurch sinkt das tatsächliche Verhältnis disponibler
Pflegekräfte pro Tag auf 1 : 6—7 Pfleglingen, was in anbetracht des
hiesigen Krankenmaterials sogar sehr niedrig ist. Da man sich aber bei
einer solchen Anstalt wie der hiesigen, deren Pflegeanstaltcharakter natur¬
gemäß mehr vorwiegt, immer vor Augen halten muß, daß die Kosten nicht
in das Ungemessene wachsen, so wird man eben auf alle Fälle versuchen,
mit diesem Verhältnis auszukommen.
Sparsamkeitserwägungen entspringt es auch, wenn hier nicht wie
in den übrigen sächs. Landes-Heil- und Pfleganstalten vorwiegend in dem
staatlichen Pflegerinnenhaus geschultes Personal angestellt ist, sondern
ungeschultes Wärterinnenpersonal. Obgleich erst befürchtet werden
mußte, daß sich in hiesiger Gegend wenige Mädchen zu diesem Dienste
bereit finden würden, und der Zuzug erst ein recht spärlicher war, besteht
jetzt ein Überangebot. Das ist wohl hauptsächlich dem Umstande zu
danken, daß sich sehr bald bei den hier Bediensteten die Überzeugung
Bahn gebrochen hat, daß sie hier nicht nur für eine saubere Haushaltung
— trotz aller Beschmutzungen, die Vorkommen —, sondern auch in der
Pflege der Kinder und in der Krankenpflege etwas lernen können. Sie
erhalten hier wöchentlich vom Arzt eine Unterrichtstunde in Kranken¬
pflege und praktischen Übungen. Neben diesen ideellen Seiten werden
natürlich auch die materiellen geschätzt. Ein gutes und billig zu ver¬
gütendes Essen wird immer ein Anziehungspunkt bleiben. Die Wärte¬
rinnen erhalten anfänglich pro Monat 40,50—43,50 Mk. Lohn, wovon etwa
18 Mk. (täglich 60 Pfg. für Kost) und 2 Mk. Versicherungsbeiträge in
Abzug gebracht werden. Sie steigen bei Bewährung bis zu 58,50 Mk. —
Selbst bei diesem höchsten Satz kommt der Fiskus natürlich weit billiger,
als wenn er geschulte Pflegerinnen anstellt, die hier Staatsdienerinnen sind
und bis zu einem Monatsgehalt von 100 Mk. kommen. Während ferner das
Wärterinnenpersonal fluktuiert, teils weil es sich verheiratet, teils weil
es anderweit noch günstigere Stellen findet, wobei es die in der Anstalt
erworbenen Kenntnisse und Fertigkeiten nutzen kann, verbraucht sich
das Pflegerinnenpersonal in dem doch für sie recht eintönigen Anstalt -
leben verhältnismäßig zeitig und muß oft vorzeitig pensioniert werden.—
Im Anstaltleben sind Festtage und Anregungen nötiger als anderswo,
weil hier die Sonntage in dienstlicher Beziehung den Wochentagen völlig
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gleichen. Es ist daher eine besondere Beamten- und eine besondere
Pflegerinnenbibliothek geschaffen worden; der Geistliche (im Nebenamt)
halt wöchentlich eine Unterhaltungsstunde ab, dreimal im Monat für die
Pflegerinnen, einmal für die Wärterinnen. Alle vier Wochen findet Gottes¬
dienst für das Personal im Festraume der Anstalt statt, alle 14 Tage
eine gemeinsame Singstunde und etwa jedes Vierteljahr ein Festabend,
an dem Aufführungen, Vorträge usw. gehalten werden. Außerdem ist
es dem Personal, soweit es am Sorfntage frei haben kann, möglich, zum
sonntäglichen Gottesdienst zu gehen und sich an Festlichkeiten solcher
Vereine des Ortes zu beteiligen, die keine staatsfeindliche Tendenz haben.
Die Pflegerinnen haben wöchentlich einen ganzen freien Tag und jährlich
einen Urlaub von 14 Tagen, die Wärterinnen wöchentlich einen halben
und alle 4 Wochen einen ganzen freien Tag und im Jahre einen Urlaub
von 7 Tagen, in denen der Lohn weiter gewährt wird. Da die Kinder
hier beizeiten, nämlich schon um 7 Uhr zu Bett gebracht werden, so haben
alle diejenigen, die nicht Schlafsaaldienst haben, etwa von 8 Uhr an Zeit,
für sich zu arbeiten oder zu lesen. — Diese geistige Hygiene ist hier etwas
breiter behandelt worden, weil sie vielerorts über der Pflege der Kranken
vernachlässigt wird. Es würde aber ein ganz besonderer Nonsens sein,
alles zu tun, um bildungunfähige Idioten zu hegen und zu pflegen, und
darüber gesundes Personal geistig und körperlich zugrunde zu richten.
Es erübrigt endlich noch, einen Überblick über die Verpflegung der
Kinder, über ihre Beschäftigung und über den Tageslauf zu geben. Da
die Anstalt erst ein Vierteljahr in Betrieb ist, da die Bau- und Einrichtungs-
arbeiten selbst im Hauptgebäude noch nicht ganz vollendet sind, so kann
er nur lückenhaft sein, da Verf., der nicht nur Leiter, sondern auch zugleich
einziger Arzt ist, vorläufig wenig Zeit hatte, sich diesen Dingen zu widmen.
Die Kinder werden früh y 2 7Uhr aus dem Bette genommen, gereinigt,ge¬
waschen und inTagesräume gebracht.wo ihnen zu einem recht beträchtlichen
Teil das Frühstück, bestehend aus Milchmalzkaffee und 3 Semmeln, durch
die Wärterinnen gereicht werden muß, weil sie nicht selbst essen und trinken
können. Um V 2 IO Uhr erhalten sie das Frühstück, 3 /4l2 I hr das Mittag¬
essen, um 3 Uhr das Vesper und um Vö7 Uhr das Abendessen.
Das Frühstück besteht aus einer Butterschnitte, dem je nach der
Jahreszeit Obst und bei Bedürftigen etwas Milch hinzugefügt wird,
das Vesper aus Milchmalzkaffee und einer mit Butter oder Zuckerhonig
oder Marmelade gestrichenen Schnitte, das Mittagessen und Abendessen
für solche, die festere und krümelige Speisen nicht essen können, aus einer
nahrhaften breiigen Suppe und event. Kompot, für die anderen aus Ge¬
müse mit Fleischmachselung und Zugabe von reichlich Brot, damit auch die
Zähne genügend in Anspruch genommen werden und genügende Speichel¬
absonderung stattfindet. Dreimal in der Woche wird Milch- oder
Mehlspeise gegeben, die übrigen Male pro Tag etwa 50 g Fleisch. Abends
wird meist kein Fleisch oder Fleischware und wenig Flüssigkeit verabreicht.
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um Nerven und Nieren nicht durch Gewürze oder durch Wasserballast
zu reizen. — Bei der jetzt eingehaltenen Qualität und Quantität wird ebenso
eine Überfütterung wie eine Unterernährung vermieden und dabei der
Etatsatz von 50 Pfg. pro Kopf nicht überschritten. — In den Zeiten
zwischen den Mahlzeiten werden die Kinder vorläufig mit Spielzeug be¬
schäftigt und, soweit sie dazu fähig sind, angehalten, sich durch einzelne
Handgriffe nützlich zu machen. Einige bessere Elemente bringen es dazu,
anderen Kindern beim An- und Ausziehen zu helfen und sich selbst zu be¬
dienen, manche lassen sich als Wächter neben solche stellen, die beständig
vom Platze fortstreben, manche wischen Staub oder Unreinigkeiten von
der Diele weg, manche helfen mit Essen tragen, einige wenige sogar Kar¬
toffelschälen. — Wie überall so wird natürlich auch hier differenziert
und diejenigen, die nach Alter, Geschlecht und psychischer Eigenart am
besten zusammenpassen, in einer Abteilung vereinigt. Das hindert nicht,
in mancher Abteilung Knaben und Mädchen nebeneinander zu haben.
Es gibt, wie oben erwähnt, immer auch einige', die sich zu Hilfsdiensten
eignen. Solche findet man daher auch in Abteilungen, wohin sie nach
ihrer geistigen Beschaffenheit nicht gehören. Zweifellos lernen sie aber
hier mehr als in der für sie sonst in Betracht kommenden Station.
Es versteht sich von selbst, daß auch diese Kinder nie ohne Aufsicht
sind, damit sie nicht gelegentlich garstig mit den andern Pfleglingen
sind oder ihnen das Essen wegnehmen. Wir haben hier einige
sehr gutmütige Mädchen im Alter bis zu 14 Jahren, die sich in
der Chemnitzer Anstalt allen Erziehungsversuchen gegenüber re¬
fraktär verhielten, und die hier bei diesen bescheidenen Anforderungen
doch eine kleine nützliche Wirksamkeit entfalten. Ist nicht auch schon
etwas gewonnen, wenn der Wärterin, die doch nicht überall gleichzeitig
sein kann, solche Handgriffe, wie sie oben angedeutet wurden,
abgenommen werden? Wenn solch ein Kind andere, die durchaus dem
Hange fröhnen, sich in der Stube herumzusiehlen oder automatische Be¬
wegungen zu machen, daran hindert? Wenn solche Kinder, die fort¬
während die Hände in den Mund stecken, was das lästige Geifern nur noch
vermehrt, von zwei bessern Kindern an der Hand in der Stube herum¬
geführt werden, wenn solche, die beständig vom Klosett herunterdrängen,
dort mit leichter Gewalt zurückgehalten werden? Solche kleine Hilfs¬
kräfte darf man selbstverständlich nur gutem, vertrauenswürdigem Per¬
sonal anvertrauen, wenn man nicht durch Unliebsamkeiten überrascht
werden will. Auch dann ist es noch unumgänglich, daß Arzt und Ober¬
pflegerin ein wachsames Auge überall haben, damit es nicht zu Übergriffen
oder dazu kommt, daß es sich das Personal zu leicht macht. Mißhand¬
lungen der Pfleglinge durch das Personal werden, wie hier jeder Wärterin
beim Eintritt gesagt wird, mit sofortiger Entlassung bestraft, aber auch
solche Handlungen, die nur entfernt wie jene aussehen, dürfen nicht unge¬
ahndet bleiben. Denn sowie hier die Zügel locker gelassen werden, dürfte
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Königliche Landes&nstalt za Groß-Hennersdorf i. S.
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in einer Anstalt wie der hiesigen mit den wehrlosen blöden Kindern der
Gefahr grober Mißgriffe Tür und Tor geöffnet sein.
Aus dem jetzt vorhandenen Material werden sich vielleicht auch
noch solche Kinder herausfinden lassen, bei denen eine Fröbelbeschäf-
tigung oder solche Bewegungspiele, wie Ballspiel, die in hervorragendem
Maße Geschicklichkeit und Aufmerksamkeit üben, nicht nutzlos sind,
damit das mehr ziellose Spielen mit Spielsachen nicht über den ganzen
Tag ausgedehnt werden muß. Die Wärterinnen sollen daher, nachdem
sie das Wichtigste über die pflegliche Behandlung der Idioten gelernt haben,
auch einen Begriff von den Fröbelschen Arbeiten erhalten.
Zu erwähnen bleibt noch eine Abteilung, auf der hier die unruhigsten
und unreinsten Elemente vereinigt sind, damit nicht alle Abteilungen
durch diese leiden. Hier befinden sich auch diejenigen, die am Tage wie
in der Nacht oft Krampfanfälle haben. Neben dem Tagesraum und mit
ihm durch eine offenstehende Tür verbunden ist hier ein kleineres Zimmer,
in dem 5—6 Betten aufgestellt sind, die gestatten, ein solches Kind,
wenn nötig, einzubetten und doch gleichzeitig ohne Personalvermehrung
mit unter Aufsicht zu haben, was bei dem anliegenden großen Schlafsaal
nicht möglich wäre, ganz abgesehen davon, daß dann der Schlafraum
nicht so durchgelüftet werden könnte, wie es erwünscht ist. Ein gleiches
Zimmer mit derselben Einrichtung hat die Abteilung, auf der solche ge¬
lahmten ruhigen Kinder sind, die gar nicht oder nicht dauernd sitzen können.
Auf der ersterwähnten sog. „unruhigen Abteilung“ ist nachts Wache;
diese hat die Pflicht, den Krampfkranken im Anfalle Hilfe zu leisten, die
Unruhigen in das Bett zurückzubringen oder ihnen die verordneten Medi¬
kamente zu reichen und durch die im Nebenraume schlafende Hilfs¬
wärterin eventuell Meldung an die Oberpflegerin über besondere Vor¬
kommnisse erstatten zu lassen. Auch hat sie die Kinder, die wach sind,
nachts abzuführen oder trocken zu legen. In den anderen Abteilungen
?eschieht dies nur bis 10 Uhr abends ein- bis zweimal bei allen denjenigen,
die regelmäßig oder vereinzelt einnässen, um ihnen nicht zu sehr den
Nachtschlaf zu verkümmern und im Saale zu große Unruhe zu schaffen.
— Jede Abteilungspflegerin hat der Oberpflegerin früh Bericht zu erstatten,
wozu sie ein Buch mit eingezeichnetem Schema (I) zu benutzen hat.
Die tägliche Eintragung macht nur sehr wenig Mühe und ermöglicht dem
Arzt, sich rasch einen Überblick über die Abteilung zu verschaffen und
darnach bei der Visite Weisungen zu geben, wie bei den einzelnen Kindern
zu verfahren ist, um die Unreinheit zu bekämpfen, wie die Unruhe und
die Krämpfe zu beseitigen sind u. dgl. mehr. Auch sind darin oft Notizen,
die für die Krankengeschichte zu verwerten sind. — Die Oberpflegerin
faßt diese Einzelberichte in einen Gesamtbericht nach Schema II
zusammen, den sie dem Arzt früh vorlegt. Die Visite findet nicht sche¬
matisch zu derselben Zeit und immer in derselben Art statt, sondern un¬
regelmäßig und ungleichmäßig. Zuweilen erstreckt sie sich nur auf eine
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bez. Abteilungswärterin:
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Meitzer
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376
Meitzer,
einzelne Abteilung. Es wird dann dem Personal praktisch vorgeführt,
wie es sich mit den Kindern und wie es diese unter sich zu beschäftigen
hat, wie es sie zum Sprechen, zur Übung der Aufmerksamkeit und des
Gedächtnisses, zum Selbstbedienen und zur Reinlichkeit anzuregen hat
Es ist selbstverständlich, daß über jedes Kind eine Krankengeschichte
angelegt wird, in der zuvörderst der Aufnahmebefund und dann die fort¬
laufenden Beobachtungen niedergeschrieben werden. Sehr häufig ver¬
langen die Eltern, die meist sehr an diesen elenden Kindern hängen,
brieflich Auskunft über Gesundheit und event. Fortschritte. Da ist es
gut, wenn bestimmte Beobachtungen festgelegt sind. Erkrankungen
werden, wenn sie den Verdacht auf eine schwerere Verlaufsart offen lassen,
stets an die Eltern gemeldet, dann aber, um unnötige Schreiberei zu ver¬
meiden, nur wenn Verschlimmerungen eintreten. Besuche der Kinder
durch Eltern und Anverwandte sind jederzeit gestattet und gern gesehen,
weil sie die Vorurteile, die manche gegen die Anstalten haben, zerstreuen.
Je besser die Angehörigen den ganzen Betrieb kennen lernen, desto ver¬
trauensvoller überlassen sie ihre Kinder der Anstalt, und desto mehr wissen
sie den Segen der Anstalt zu schätzen.
Mechanische Beschränkungen werden nur angewendet, wenn ein
Kind, wie dies bei tiefstehenden Idioten recht häufig vorkommt, gegen
sich selbst wütet, oder dann, wenn Verletzungen vorhanden sind, die von
dem Kinde fortwährend wieder aufgerissen werden oder sich durch üble
Angewohnheiten verschlimmern können. Die Beschränkung besteht aber
nur darin, daß die Arme gewöhnlich durch eine weiche Mullbinde so banda¬
giert werden, daß ein Abreißen des Verbandes oder ein Zerbeißen oder
In-den-Mund-stecken unmöglich wird. Am gefährlichsten sind die Augen¬
leiden, die in Gestalt skrofulöser Phlyktänen äußerst hartnäckig sein und
bei mangelhafter Überwachung leicht zu Verunstaltungen des Auges,
ja zu Erblindungen führen können. Solche Kinder Tag und Nacht durch
eine Personalkraft überwachen bzw. halten zu lassen, würde eine nutz¬
lose und kostspielige Quälerei sein, die nur ein starrer Verfechter des
Norestraint-Prinzipes fertig bringen kann. — Jede Beschränkung dieser
Art wird vom Arzt angeordnet und der Abteilungspflegerin besonders
schriftlich bescheinigt. — Die Türen sind in den meisten Abteilungen
offen und werden nur dort (zurzeit in zwei Abteilungen) geschlossen
gehalten, wo sich Kinder befinden, die triebartig fortlaufen. Von der
Anbringung von Gittern an den Fenstern ist beim Bau abgesehen
worden. Doch werden voraussichtlich noch solche angebracht werden
müssen, da die Fensterbrüstungen überall ziemlich niedrig sind und
daher ein allzu rasches Klettern auf die Fenster durch die oft ganz
unberechenbaren Kinder selbst bei bester Aufsicht und tüchtigem Per¬
sonal nicht mit absoluter Sicherheit verhütet werden kann. — Bei starker
Erregung werden Dauerbäder und feuchtwarme Packungen in Anwendung
gezogen; oft muß von Beruhigungs- oder Schlafmitteln, oft von solchen
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Königliche Landes amtalt sn Groß-Hennersdorf i. S.
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Medikamenten Gebrauch gemacht werden, die antiluisch, antiskro¬
fulös, antimyxödematös wirken. So liegt dem Arzte, der zugleich Erzieher
des Personals und der Kinder sein muß, ein gar nicht undankbares Feld
teils therapeutischer, teils prophylaktischer, teils hygienischer Wirksam¬
keit offen.
Es wäre verfrüht nach 1 / t — 1 /, Jahr von Erfolgen zu reden. In
welcher Richtung sie zu erzielen sein werden, das ist, um Wieder¬
holungen zu vermeiden, aus der schon oben zitierten Arbeit zu er¬
sehen. Es w&re ebenso verfehlt und dem gesunden Menschenverstand
zuwiderlaufend, wollte man diese bildungunfähigen Idioten mit allen
Mitteln medizinischer Kunst „aufpäppeln“, wie es unchristlich und un¬
moralisch wäre, die Kinder hilflos den sie überziehenden Krankheiten
als Beute zu überlassen. Die aus der letzteren Konsequenz entsprin¬
genden Nachteile würden zweifellos nicht nur auf die gesunden, im
Dienste dieser Kinder stehenden Pflegekr&fte fallen, sondern auch
mit der Zeit dem Ansehen der Anstalt und damit des Staates schaden.
Wenn aber einer Anstalt seitens des Publikums kein Vertrauen mehr
entgegengebracht wird, dann verfehlt sie ihren Hauptzweck, der hier
bei einer Anstalt für bildungunfähige Idioten darin besteht, diese
asozialen Elemente der Familie, der sie meist enormen materiellen und
psychischen Schaden bringen, abzunehmen und sie im Sinne christ¬
licher Liebe zu pflegen und zu bewahren.
Vorläufig beherbergt die Anstalt nur Kinder bis zu 14 Jahren.
Wenn dies Alter erreicht ist, dann müssen diejenigen, die unbedenklich
in der Familie verpflegt werden können, dieser wieder zurückgegeben
werden, während die gefährlichen an eine Abteilung für ältere Idioten,
die noch in Hubertusburg besteht, abgegeben werden. Wahrschein¬
lich wird aber auch diese Abteilung einmal hierher verlegt werden,
am dort Platz für Geisteskranke zu schaffen und um gleichartige
Kranke auf einer Scholle zu vereinigen.
Zudem besteht in Großhennersdorf als eine Schöpfung der pri¬
vaten Unterstützungskasse für entlassene Schwachsinnige die sog.
.landwirtschaftliche Kolonie“, in der harmlose erwachsene, nicht
ganz arbeitsunfähige Idioten männlichen Geschlechts gegen einen
Verpflegungssatz von 60 Pfg. bis 1,25 Mk. Unterkunft und Beschäf¬
tigung finden.
Hoffentlich eihält diese Wohltätigkeitskasse aus privaten Kreisen
einmal eine solche finanzielle Stärkung, daß es möglich wird, auch
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H GAN
378 Meitzer, Königliche Landesanstalt zu Groß-Hennersdorf i. S.
ein Gebäude für ebensolche weibliche Schwachsinnige, die, wenn sie
der Erziehungsanstalt entwachsen sind, oft noch viel mehr dem Elend
preisgegeben sind und überall als überflüssig empfunden werden, zn
errichten. Manche von ihnen könnten recht wohl als halbe Kräfte
in der Anstalt, die dadurch noch billiger wirtschaften würde, Ver¬
wendung finden.
Um vorzeitige Überfüllung der Anstalt und kostspielige Er¬
weiterungsbauten zu verhüten, dürfte wahrscheinlich schon bald an eine
Organisation der Familienpflege im Orte gedacht werden müssen.
Wie für manche erwachsene Geisteskranke, so würde sie auch für
viele Idioten durchaus angängig sein. Falls die Bevölkerung von der
Pflege solcher Kinder materielle Vorteile hat, wird sie mit der Zeit
auch Verständnis für diese Liebestätigkeit, die es trotzdem bleibt,
gewinnen und auch dem Anstaltsarzt, der natürlich die Überwachung
der Pfleglinge zu übernehmen hätte, das Aufsichts- und Beratungs¬
recht gern zugestehen.
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine,
3. Jahresversammlung der Pommerschen Vereinigung
für Neurologie und Psychiatrie am 17. Februar in
Stettin.
Vorsitzender: Herr Mercklin -Treptow a. R.
Anwesend die Herren: Bendixsohn, Rra«unmg-Stettin, Coüa-Finken-
walde, Deutsch, üncAe-Ückermünde, ürmiscA-Treptow a. R., Gundlach-
Üekermünde, i/aec/cel-Stettin, Halbey - Ücker mü nde, Horstmann -Stral¬
sund, Mangelsdorf -Stettin, Marcus - Eckerberg, Mercklin -Treptow a. R.,
Neumeister, Niesei, Samuel, Schnitzer, «ScAutee-Stettin, Tomaschny, VoU-
Aeim-Treptow a. R.
Haeckel- Stettin: Über die Foer«<ersche Operation
Die spastischen Lähmungen bei Störungen in der Pyramidenbahn,
also besonders bei der Little sehen Krankheit, setzen sich aus zwei Kom¬
ponenten zusammen, einer paretischen und einer gesteigerten Reflex¬
erregbarkeit; letztere kommt zustande durch Unterbrechung der reflex¬
hemmenden, inhibitorischen Fasern, welche mit den motorischen zu¬
sammen in der Pyramidenseitenstrangbahn verlaufen. Die paretische
Komponente kann man nicht beeinflußen, wohl aber die gesteigerte Re¬
ilexerregbarkeit, dadurch, daß man die Maße der andauernd ins Rücken¬
mark einströmenden sensiblen Reize vermindert. Das geschieht mit
Durchschneidung von hinteren Wurzeln der Spinalnerven. — Da eine
Anästhesie in einem bestimmten Bezirk erst entsteht, wenn drei neben¬
einanderliegende Wurzeln durchschnitten sind (Sherrington), so durch-
trennt man zwei Wurzeln nebeneinander, läßt dann eine stehen usw.
ln dieser Weise durchschneidet man bei spastischen Lähmungen der
Beine die II., III., V. Lumbal- und II. Sakralwurzel. Foerster übertrug
diese seine Ideen auch auf die Behandlung von gastrischen Krisen der
Tabiker, von der Ansicht ausgehend, daß denselben ein primär sensibler
Reizzustand zugrunde liege, und empfahl die Durchschneidung der VII.
bis IX. hinteren Dorsalwurzeln.
Wenn irgend möglich, soll man die Operation einzeitig vollenden ;
denn wenn auch die schwere Schockwirkung durch die zweizeitige Operation
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
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vermieden wird, so wird doch die Asepsis dabei gefährdet. Durch Modi¬
fikationen der ursprünglichen Methode: Ersatz der Allgemeinnarkose durch
Lokalanästhesie, Herabsetzung der Blutung aus der dicken Bücken¬
muskulatur durch Einspritzen von Adrenalin, Vermeidung des gefähr¬
lichen Liquorausflusses durch Nichteröffnung des Duralsackes und Durch¬
schneidung der Wurzeln außerhalb des letzteren {Guleke), Durchschneidung
der Wurzeln nicht am Austritt aus dem Duralsack, sondern der einzelnen
Wurzelfasern unmittelbar am Austritt aus dem Rückenmark (Wilms).
ist es gelungen, die Schwere der Operation erheblich herabzumindern.
Bisher sind 83 Operationen in der Literatur niedergelegt worden,
dazu kommen 2 vom Vortragenden ausgeführte. Von diesen 85 Operierten
sind 12 gestorben, d. i. eine Mortalität von 14%.
Bei weitem die besten Erfolge erzielt man bei der Little sehen Krank¬
heit; Kinder, die elende Krüppel waren, hat man zum Gehen gebracht:
von großer Wichtigkeit ist die Nachbehandlung mit ganz systematischen
Bewegungsübungen. — Weniger gut sind die Resultate bei gastrischen
Krisen der Tabiker. Die Erfahrung lehrte, daß man mehr W’urzeln durch-
schneiden muß als die 7.—9. dorsale, da das Einstrahlungsgebiet der
in Betracht kommenden Nerven ins Rückenmark größer ist, als man ur¬
sprünglich annahm. — Am wenigsten befriedigend sind die Erfolge bei
spondylitischen Lähmungen und der multiplen Sklerose. Ähnlich wie
bei den Kranken mit gastrischen Krisen hat man es hier mit sehr herunter¬
gekommenen Menschen (Morphium!) und mit progressiven Erkrankungen
zu tun, während die Littlesche Krankheit ein abgeschlossener Prozeß ist.
Von 6 wegen multipler Sklerose Operierten starben 3.
Vortragender selbst hat zweimal operiert; beide Male wurde die
Operation gut überstanden. Das eine Mal handelte es sich um eine
31jähr. Kranke mit schwersten gastrischen und intestinalen Krisen, welche
durch Nikotin und Morphium (40 Spritzen zu 1 cgr. pro Tag) sehr her¬
untergekommen war. Nach Durchschneidung der 7.—11. Dorsalwurzel
(extradural nach Guleke) wurde das Erbrechen sehr viel seltener, die
Magen- und Rückenschmerzen schwanden. — Die andere, 35jährige
Kranke mit multipler Sklerose litt an äußerst lästigen, sehr schmerzhaften
Spasmen der Beine. Die Wurzeldurchschneidung nach der Wifmsschen
Modifikation beseitigte die Spasmen ganz; Gehen und Stehen war zunächst
schlechter als vor der Operation, besserte sich aber bedeutend durch
systematische Bewegungsübungen.
Die ingeniös ausgedachte, mit der Exaktheit eines physiologischen
Experimentes wirkende Operation Foersters stellt eine sehr wesentliche
Bereicherung unserer Therapie sonst kaum einer erfolgreichen Behand¬
lung zugänglicher Zustände dar.
Diskussion. — «ScAnifzcr-Stettin bemerkt, daß er an dem Vortrage
des Herrn Haeekel ein besonderes Interesse habe, weil in den Kücken-
mühler Anstalten eine erhebliche Anzahl von Kranken mit zerebraler
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ßiplegie behaftet sei. Er fragt in bezug auf die Indikation, ob auch solche
Kranke zur Operation empfohlen werden können, vieren Pyramiden -
bahnen völlig zerstört sind, sodann, ob die Mitbewegungen endgültig
verschwinden, und ob nicht zur vollen Ausnutzung des Erfolges eine nor¬
male Intelligenz erforderlich sei. Redner habe beobachtet, da 11 bei schwach¬
sinnigen Hemiplegikern und Diplegikern orthopädische Operationen
keinen Dauererfolg brachten, weil die betreffenden Kranken bei vier
Nachbehandlung infolge ihrer Intelligenzschwäche versagten.
Haeckel: Bei den meisten Fällen besteht wohl eine vollkommene
Unterbrechung der Pyramidenbahn, trotzdem sind die Resultate gut.
Die Mitbewegungen werden durch die Unterbrechung des Reflexbogens
aufgehoben. Intelligenzdefekte können unüberwindliche Schwurigkeiten
machen, so daß die Übungstherapie nutzlos ist.
Halbey- Ückermünde: über die Kombinationen narko¬
tischer und Schlafmittel und ihre Anwendung in
der Behandlung der Geisteskrankheiten.
Ausgehend von den wissenschaftlichen, experimentellen Unter¬
suchungen Bürgis (Dtsch. med. Wschr. 1910), der bewiesen hat, daß der
pharmakologische Effekt eines Medikamentes durch hintereinander ge¬
reichte Teildosen verstärkt wird, und daß die Kombination von verschiedenen
narkotischen Mitteln eine noch größere Wirkung erzielt, betrachtete der
Vortragende die klinischen Erfahrungen, die von anderen Autoren und
von ihm selbst mit zahlreichen Kombinationen von narkotischen und
Schlafmitteln gemacht worden sind, die er zur Bekämpfung der Auf¬
regungszustände und der Schlaflosigkeit der Geisteskranken empfiehlt.
(Der Vortrag wird an anderer Stelle in extenso veröffentlicht werden.)
Diskussion. — 6o//a-Finkenwalde: Ich hatte die Absicht, zum
heutigen Vortrage meine Erfahrungen über die gleichzeitige Verabreichung
von verschiedenen Schlafmitteln zusammenzustellen, bin aber leider nicht
dazu gekommen und will mich begnügen, einiges aus dem Gedächtnis
mitzuteilen. Den ersten Anlaß zu Versuchen nach dieser Richtung gab
mir vor etwa 12 Jahren die Erfahrung bei einem schweren Deliranten,
•ten ich mit allen gebräuchlichen Mitteln nicht beruhigen konnte. Ghloral
in großer D'r-is war hier ausg. hlo-sen. Ich versuchte schließlich auf
Anregung des Bruders d—- P. Brornidia, da- früher in einem Alkohol-
•blirium gut gewirkt haben .sollte. ,.\uf einen Teelöffel B. schlief p. -e<h-,
•Stunden. Mit kleineren Do--r, g< !.«/:g e-, ihn ruhig zu halten, und unter
hadern. Packungen Beruhigte er -i n dann völlig, wahrend Bromid»;»
täglich dreimal zu 1-V, ah-;.:- 4.0 verabreicht wurde. Da die
Zusammensetzung des B. r,i• h* bekannt war. kombinierte i* h mir
für ähnli' he F-lle er. Mi* * -1 a .- Chloralh ydrat \.T, ».d-r Odoralarnid 2.0,
Tinct opii spL 1.0. Hy~ i. und wandte <- mit E;fc;g h-; ’•*.
l'rigkeit. die al \-zz. - -• r. ;• ne Unruhe bewirkt war, an. Ab-r
teaärii *Ir rrr-urs* LI.VX.
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als Mixtur halt sich diese Mischung nicht, namentlich mit Chloralamid.
Später kombinierte ich die Mittel erst vor der Darreichung mit Hilfe der
jetzt gebräuchlichen Tabletten. Nebenbei bemerkt, habe ich für Chloral
auch Eglatolkapseln angewandt, und zwar 1 bis 2 Kapseln zu 0,5, aber
ohne befriedigendes Resultat.
Inzwischen hatte ich aber die neueren Schlafmittel benutzt, ohne daß
ich die Kombination verschiedener Mittel prinzipiell anwandte oder
erprobte. Meist kam ich mit Veronal, Veronalnatrium, Trional usw. aus.
Erst ein Fall von Paraldehydismus führte mich wieder darauf, syste¬
matisch Beruhigungsmittel zu kombinieren. Es handelte sich um einen
degenerativen Neurastheniker, der über 70 g Paraldehyd täglich nahm;
zum Schlafen brauchte er abends 15 g. Ich erzielte nach verschiedenen
vergeblichen Versuchen mit anderen Mitteln Schlaf durch 1,0 Veronal
und 0,06 Codein. In geteilter Dosis am Tage gereicht (0,25 und 0,015)
gestattete die Vereinigung dieser Mittel auch eine schnelle Entziehung
des gesamten Paraldehyds. Eine sehr gute Wirkung hatte ich kürzlich
noch bei einem schweren Neurastheniker, der durch zügelloses Leben
total erschöpft zu mir kam. Er verfiel in einen großen Aufregungszustand
mit Halluzinationen, schlief aber mit 1,0 Veronal, 0,06 Codein und 0,0003
Scopolamin. In zwei Fällen von Paralysis agitans mit hartnäckiger Schlaf¬
losigkeit wirkten 0,5 Veronal mit 0^0005 Scopolamin sicher Schlaf er¬
zeugend. Beiläufig gesagt, habe ich einen Einfluß von Scopomorphin auf
den Tremor bei der Paralysis agitans nie gesehen. In einem Falle von
Morphinismus (Tagesdosis 0,6) gelang die sofortige Entziehung unter An¬
wendung von öfteren Dosen von 0,25 Veronal, 0,05 Codein, abends 1.0
Veronal, 0,06 Codein neben hydriatischen Verordnungen und selbstver¬
ständlich Bettruhe. Eine Täuschung ist ausgeschlossen; doch gebe ich zu, daß
ein Zurall mitsprechen kann. Neuerdings hat Robert ein Schlafmittel
kombiniert, aus 0,5 Veronalnatrium und 0,3 Phenacetin, das sehr ge¬
rühmt wird. Interessant ist ja, daß auch dieNervina die sedative Wirkung
verstärken. Ich möchte besonders zu Versuchen mit Lactophenin auf¬
fordern, das ja an sich schon eine geringe sedative Wirkung hat.
Auch die Tatsache habe ich bestätigen können, die der Vortragende
erwähnt hat, daß viele Schlafmittel, refracta dosi gereicht, besser wirken.
Das gilt übrigens auch für andere Mittel, z. B. Aspirin.
Ich glaube, daß wir, was die Kombination von Mitteln betrifft, vor
unbegrenzten Möglichkeiten stehen, und es empfiehlt sich dringend, hier
weitere therapeutische Versuche zu machen und die physiologisch-pharma¬
kologischen Gesetze der Wirkung zu erforschen. Zur Erzeugung von
Schlaf, zur Beruhigung erregter Kranker und auch bei Entziehungskuren
ist uns hier die Möglichkeit geboten, sicher und gefahrlos zu helfen.
Mangelsdorf- Stettin: Das Dormiol, das in dem Referate gewisser¬
maßen mit einem Fragezeichen versehen wurde, ist von uns viel verwandt
worden. Es ist besonders dadurch interessant, daß das Prinzip der gleich-
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zeitigen Darreichung zweier verschiedener Mittel bei ihm auf die Spitze
getrieben ist durch Zusammenschweißung der beiden Bestandteile, Amylen -
hydrat und Chloralhydrat, zu einem neuen Moleküle; ob dies sehr zweck¬
mäßig ist, erscheint diskutabel, da ja nun der Körperzelle die Arbeit zu¬
fallen dürfte, dies Molekül erst wieder in seine Komponenten zu spalten
und diese dann den eigenen Rezeptoren zuzuführen. Eis kommt dabei
noch in Betracht, daß beide Einzelstoffe der gleichen Gruppe, den
Körpern der Fettreihe, zuzurechnen sind; in unserer Praxis hat sich
dementsprechend stets gezeigt, daß das D. seiner Wirkung nach in der
Mitte zwischen Chloral und Amylen steht, und etwa, wie von früheren
Beobachtern schon beschrieben, 1 g Chloral = 2 g Dormiol = 3 g Amylen
zu werten sind.
In dem Referat wurde das Isopral (Bayer) nicht erwähnt, das von
uns nach seiner Einführung ausgedehnt erprobt und ebenso wie von
anderen Beobachtern als vorzüglicher Ersatz des für Gefäß-, Herz- und
Lungenkranke nicht ungefährlichen Chloralhydrats erfunden wurde; da
die Dosen desselben nur halb so groß sind und die Toxizität eine um das
vielfach geringere, so kann es für solche Fälle nur warm empfohlen werden,
zumal es sehr gute und gefahrlose Kombinationsmöglichkeiten mit anderen
Mitteln gewährt. Ausgedehntem Gebrauch steht für gewöhnliche An¬
staltverhältnisse leider ein sehr hoher Preis im Wege.
Mercklin -Treptow warnt vor der Anwendung des Chloralhydrats in
jedem Falle, wo eine genaue körperliche Untersuchung nicht vorgenommen
werden kann.
Horstmann - Str alsu n d demonstriert und erläutert den Bauplan der
neuen Provinzialheilanstalt zu Stralsund.
iVeumeisfer-Stettin: Zur Kasuistik der Epilepsie.
Es erscheint mir fast vermessen, wenn ich als einfacher Praktiker
in Ihrem Kreise zur Kasuistik der Epilepsie das Wort ergreife. Betrachten
Sie es zunächst als ein Zeichen von Interesse, welches ich von Anbeginn
an Ihrer Vereinigung nehme. Vielleicht ist es aber doch auch für Sie
interessant, die Sie vorwiegend in Anstalten tätig sind, von einem Fall,
der sich ganz außerhalb der Anstaltbehandlung mitten im praktischen
Üben entwickelt hat und einen eigenartigen Verlauf zeigt, Bericht zu
erhalten. Die Pat., um die es sich handelt, ist jetzt 41 Jahre alt und steht
auch heute noch in voller geschäftlicher Tätigkeit an leitender Stelle,
wo an ihre körperliche und geistige Spannkraft (Disponieren, Verkehr mit
dem Publikum, Telephonieren, Bücher führen und Einkassieren) unge¬
wöhnlich hohe Anforderungen gestellt werden. Trotz des immerhin
schweren Krankheitbildes hat sie denselben bis heutigen Tags vollauf
genügen können.
Ich behandele die Pat. seit etwa 18 Jahren, wo sie zuerst mit einem
Lungenspitzenkatarrh und Hämoptoe zu mir kam. Ich behandelte sie
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
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damals mit Tuberkulin und schickte sie im Anschluß daran nach Reinerz.
Sie reagierte prompt und erholte sich durch diese Kur zusehends. Bazillen
wurden übrigens nicht gefunden. Der Prozeß in der Lunge ist zur Aus¬
heilung gekommen oder doch zum Stillstand. Wiederholt fuhr sie in den
nächsten Jahren zu ihrer Erholung nach Reinerz und bekam dort vor etwa
acht Jahren den ersten leichten epileptischen Anfall, der sich dann hier
nach etwa sechs Wochen unter meiner Beobachtung wiederholte. Ich
habe nun — gewiß ein seltener Fall — in diesen acht Jahren nahezu
jeden einzelnen Anfall selbst zu beobachten vermocht. Gewöhnlich merkt
die Pat. das Herannahen des Anfalls, so daß sie sich meist noch recht¬
zeitig zu Bett begeben kann. Die Anfälle haben sich im Laufe der Jahre
etwas gesteigert. Meist fand ich die Pat. bereits völlig bewußtlos im
vollkommen ausgebildeten Krampfzustand. In der Regel bildeten sich
im Gesicht und am Halse Blutaustritte unter der Haut. Ich pflege ihr
eine Morphiuminjektion zu machen (1—2 ctg), worauf sich in der Regel
nach einigen Stunden ein Nachlaß des Krampfes zeigt. Am nächsten
Tage finde ich sie dann völlig erschöpft und über Gliederschmerzen klagend,
oft mit zerbissener Zunge, im Bett liegen. Am dritten Tage nimmt sie
ganz regelmäßig ihre volle Tätigkeit wieder auf. Diese Anfälle sind nun
in den letzten fünf Jahren, über welche ich genaue Aufzeichnungen be¬
sitze, in Intervallen von 14 Tagen bis höchstens sechs Wochen, meist
aber alle drei Wochen — übrigens völlig unabhängig von den Menses —
aufgetreten. In der ganzen Zeit habe ich fast regelmäßige, tägliche Tempe¬
raturmessungen vornehmen und aufzeichenn lassen. Dabei hat sich er¬
geben, daß die Temperatur in den Tagen vor den Anfällen, oft auch un¬
mittelbar nachher, erhöht war.
Ein äußerer Anlaß für die Entstehung der Anfälle war nicht zu
finden. Der zyklische Verlauf in Verbindung mit der Temperaturerhöhung
brachte mich namentlich mit Rücksicht auf das Fehlen aller zerebralen
Erscheinungen auf den Gedanken, die Ursache der Anfälle im Blute zu
suchen. So gut wie es ein Praktiker eben vermag, habe ich zahlreiche
Blutuntersuchungen vorgenommen und namentlich auch in Verbindung
mit dem damaligen Bakteriologen am hiesigen Garnisonlazarett, Stabsarzt
Hähnel, Kulturversuche mit Blutproben vor, in und nach dem Anfall
gemacht. Sämtliche Proben blieben steril. Ab und zu zeigten sich an¬
scheinend Zei fallprodukte in den Blutproben, die während des Anfalls
entnommen waren. Auch schien nach dem Anfall eine Vermehrung der
Leukozyten vorhanden zu sein.
Es ist wohl verständlich, wenn ich im Laufe der Jahre dir
verschiedensten therapeutischen Versuche eingeschlagen habe. Ich will
Sie mit den Einzelheiten nicht ermüden und bemerke nur, daß auch
die Bromtherapie keinen bemerkenswerten nachhaltigen günstigen Ein¬
fluß hatte. In der ganzen Zeit ist es wohl nur einmal vorgekommen, daß
die Anfälle einige Tage über sechs Wochen ausblieben. Die sehr intelligente
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Pat. lehnte schließlich jedes Medikament und namentlich auch Brom
entschieden ab, da sie unter der Nachwirkung desselben ihre Leistung¬
fäigkeit beeinträchtigt fühlte.
Im Monat Mai (9. V.) dieses Jahres hatte sie nun im Anschluß an
einen therapeutischen Eingriff, den ich gleich näher bezeichnen will,
seit acht Jahren zum erstenmal einen freien Zeitraum von 17 Wochen.
Ich halte diese Tatsache in Anbetracht des sonstigen regelmäßigen Auf¬
tretens der Krämpfe für wichtig genug, um sie Ihnen mitzuteilen. Im
Anschluß an eine im vorigen Jahr mir zur Kenntnis gekommene Behand¬
lung von Bluterkrankheit durch Injektion von artfremdem Eiweiß kam
ich auf die Idee, auch in diesem Falle, wo ich die Ursache der Krankheit
im Blute vermutete, es mit einer Injektion von Diphtherieheilserum zu
versuchen. Auch bei den Blutern nimmt man aus Bequemlichkeit dieses
Serum. Am 9. Mai war der letzte Anfall. Am 22. Mai machte ich eine In¬
jektion von 1500 I. E ca. 4 ccm Serum. Der momentane Effekt war
insofern ein sehr stürmischer, als die Pat. am nächsten Tage ein heftig
juckendes Erythem über den ganzen Körper bekam und im Gesicht
sowie am Halse geradezu elefantiastisch anschwoll. Die Erscheinungen
dauerten 5—6 Tage und schwanden dann völlig. Interessant ist dabei,
daß gerade die Körpergegenden am meisten Schwellung zeigten an denen
sich auch bei den Anfällen die Blutaustritte fanden. Weiterhin ist be¬
merkenswert, daß die Pat. fast drei Monate völlig fieberfrei war. In den
letzten Tagen des August trat das Fieber wieder auf, und am 31. August
kam ein neuer Anfall, der von da ab in Zeiträumen von 3—4 Wochen in
alter Weise wiederkehrte. Trotzdem die Pat. sich in jenen 17 Wochen
ungewöhnlich erholt hatte, ist sie mit Rücksicht auf die schweren Er¬
scheinungen nach der Serumeinspritzung zunächst nicht mehr zu einer
Wiederholung des Versuchs zu bewegen. Es war vielleicht ein Fehler von
mir, daß ich damals gleich 15001. E. nahm, und ich würde in einem zweiten
Falle, da es mir ja nicht auf die I. E. ankam, sondern nur auf das artfremde
Eiweiß, die schwächste Lösung von Heilserum in einer Menge von etwa
4 ccm einspritzen.
Es ist mir natürlich nicht fremd, daß im vielgestaltigen Verlauf
<ier Epilepsie mit und ohne Therapie oft lange Remissionen beobachtet
werden. Aber im vorliegenden Fall scheint mir der kausale Zusammenhang
zwischen Eingriff und der Remission doch kaum zu bezweifeln. Ich bin
mir auch wohl bewaißt, daß mein therapeutisches Verfahren in diesem
Falle auf krasser Empirie beruht. Aber gerade in einem Krankheitzustand
wie die Epilepsie, der sowohl nach seiner Genese und seinem ganzen
Verlauf recht viele Rätsel birgt, als auch in therapeutischer Hinsicht
so wenig beeinflußbar ist, muß es dem Praktiker gestattet sein, gewisser¬
maßen instinktmäßig Heil versuche anzustellen. Es würde mich freuen,
wenn einer oder der andere unter Ihnen unter den exakteren Bedingungen
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Verhandlung psychiatrischer Vereine.
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der Anstaltbeobachtung in einem geeigneten Falle meinen therapeutischen
Versuch mit der Heilserumeinspritzung wiederholen würde.
Schnitzer• Stettin ist der Ansicht, daß der Fall, über den Herr JWit-
l
meister berichtet hat, zur derjenigen Epilepsiegruppe zu rechnen sei,
welche auf Stoffwechselstörungen beruhe und toxischen Ursprungs sei.
Der Erfolg sei hier zu vergleichen mit denjenigen Fallen, wo nach Erysipel¬
erkrankungen oder nach Einspritzungen von Erysipelasserum längeres
Ausbleiben der Krampfanfälle beobachtet wurde.
Tomaschny -Treptow a. R.: Über Gehörshalluzinati¬
onen bei progressiver Paralyse.
Angeregt durch die in der neueren Literatur vertretene Ansicht,
daß die Halluzinationen der Paralytiker in letzter Zeit in der Zunahme
begriffen seien, und auf Grund ähnlicher eigener Erfahrungen hat Vortr.
die in der Heilanstalt zu Treptow a. R. in den Jahren 1910 und 1911
aufgenommenen männlichen Paralytiker besonders auf das Vorkommen
von Gehörstäuschungen beobachtet und dabei im ersten Jahre bei etwa
35%, im zweiten Jahre bei etwa 60% dieser Kranken echte Gehörs¬
täuschungen nach weisen können. Ihrem Inhalte nach unterschieden sich j
die Gehörstäuschungen der Paralytiker in nichts von den bei den übrigen
Geisteskranken vorkommenden Gehörshalluzinationen. Sie bilden meist
eine mehr oder minder rasch vorübergehende Erscheinung im Verlaufe
der Krankheit, zuweilen wurde ein sog. halluzinatorisches Stadium beob¬
achtet. Einmal traten die Gehörstäuschungen auf im Anschluß an einen
mit aphasischen Störungen verbundenen paralytischen Anfall. Im Beginn
des Krankheitprozesses sind Halluzinationen selten, sie treten in der Regel
erst später in die Erscheinung. In den beobachteten Fällen waren die
Gehörstäuschungen nicht mit etwaigen früheren Alkoholexzessen in Zu¬
sammenhang zu bringen, sie waren offenbar durch den paralytischen
Krankheitprozeß als solchen ausgelöst worden.
Die Frage, ob—wie behauptet wird—die Halluzinationen bei Para¬
lyse in der letzten Zeit zugenommen haben, läßt sich nach Ansicht des
Vortr. nicht von einer Stelle aus generell entscheiden. Denn in der Litera¬
tur finden sich von den zuverlässigsten Autoren derartig entgegengesetzte
Angaben über die Häufigkeit der Halluzinationen bei Paralyse, daß wir
hier offenbar irgendwelche territoriale oder durch den Volkscharakter
bedingte Unterschiede voraussetzen müssen. Für Pommern glaubt Vortr.
in Rücksicht auf seine in 14jähriger psychiatrischer Tätigkeit gemachten
Erfahrungen eine Zunahme der Gehörstäuschungen bei Paralyse an¬
nehmen zu dürfen. Nieset
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Psychiatrischer Verein za Berlin.
387
137. Sitzung des Psychiatrischen Vereins zu Berlin
am 16. März 1912.
Die Sitzung ist zahlreich besucht. Der Vorsitzende Ziehen gedenkt
zunächst der verstorbenen Mitglieder Jastrowitz und Skierlo, zu deren
Ehren sich die Versammlung erhebt. Dann wird in die Tagesordnung
eingetreten.
Weifer-Westend und Dr. jur. Werthauer (a. G.): Die Rechte
der Ansta 111 eit er gegenüber internierten Gei¬
steskranken, insbesondere bei eingeleitetem Ent¬
mündigungsverfahren.
1. Weiler- Westend: Die Mitteilungen, welche Herr Rechtsanwalt
Dr. Werthauer und ich uns gestatten Ihnen heute zu machen, knüpfen
sich an Ereignisse an, welche Ihnen wohl aus den seinerzeit in den Tages -
blättern gebrachten Gerichtsverhandlungen größtenteils bekannt sind. Ich
will Ihnen diese Vorgänge, welche den Ausgangspunkt für die heutige
Besprechung geben sollen, kurz schildern.
Der Krankheitfall selbst, welcher zu verschiedenen Gerichtsbe¬
schlüssen und Gerichtsverhandlungen Anlaß gegeben hat, bietet kein be¬
sonderes psychiatrisches Interesse. Ein an Paranoia leidender 25jähriger
unverheirateter Kranker, welcher wiederholt in den letzten Jahren in
offenen Sanatorien behandelt worden, dann in eine geschlossene Anstalt
gebracht, aus derselben entwich, wurde im Juni vorigen Jahres auf An¬
trag seines Vaters in die geschlossene Abteilung der Westender Kur¬
anstalten aufgenommen, und zwar, nachdem der Kreisarzt seines Wohn¬
sitzes vorher das amtliche Attest ausgestellt hatte. Da der Kranke ein
größeres eigenes Vermögen hatte, beantragte der Vater das Entmündi¬
gungsverfahren und Einsetzung einer vorläufigen Vormundschaft auf
Grund eines Kreisarztattestes und eines Gutachtens eines Professors
der Psychiatrie. Der Kranke erhielt die gerichtliche Zustellung, die vor¬
läufige Vormundschaft betreffend, mit der üblichen Aufforderung, Be¬
weismittel dagegen innerhalb 14 Tagen beizubringen.
Obwohl es keine Gesetze und Bestimmungen gibt, nach denen ein
Geisteskranker im Entmündigungsverfahren ein Recht auf den Beistand
eines Anwaltes hat, oder ein Anwalt Zutritt zu einem Geisteskranken
erzwingen kann, so ist doch bei mir — wie vermutlich in allen Irrenan¬
stalten — der nachgesuchte Rechtsbeistand fast immer gewährt worden.
Dieser Kranke bestand auf den Beistand eines Rechtsanwalts E., welchen
ich ihm aus bestimmten Gründen nicht gewähren konnte. Alle diesbe¬
züglichen Beschwerden des Kranken an die Behörden wurden abgeschickt.
Das für die Entmündigung zuständige Amtsgericht Schöneberg ant¬
wortete dem Kranken: Es habe keine Einwirkung auf die Anstaltleitung
betreffs Zulassung des Rechtsanwalts E.
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388 Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Es spielt sich nun folgender Vorgang ab. Rechtsanwalt E. erwirkt
bei dem für die Westender Kuranstalten zuständigen Amtsgericht Char¬
lottenburg einen Gerichtsbeschluß, welcher mir bei einer fiskalischen Strafe
von 300 Mark für jeden Fall der Zuwiderhandlung aufgibt, seine Besuche
beim Kranken zu dulden und seine Briefe an ihn auszuhändigen. Ich
lehne beides ab, der Gerichtsbeschluß gelangt zur Vollstreckung, ich
werde mit 900 Mark bestraft und zwar mit 300 Mark wegen Nichtzulassung
des Anwalts und mit 600 Mark, weil ich zwei verschlossene Briefe, welche
der Anwalt in der Hand hält, nicht entgegennehme. Die Polizei wird vom
Gerichtsvollzieher zu Hülfe gerufen, und Anwalt, Gerichtsvollzieher und
Schutzmann dringen in das Zimmer des Kranken. Mein Widerspruch
mit der Begründung, daß der Internierte infolge von Geisteskrankheit
prozeßunfähig und der Rechtsweg nicht gangbar sei, hat zunächst keinen
Erfolg. Nach verschiedenen Terminen hebt das Amtsgericht Charlotten¬
burg die einstweilige Verfügung, soweit Rechtsanwalt E. Antragsteller
ist, auf, bestätigt aber die Verfügung, soweit der Kranke Antragsteller,
mit der Maßgabe, daß ich den Besuch des Rechtsanwalts bei dem Kranken
zweimal wöchentlich zu dulden habe, bei Vermeidung einer fiskalischen
Strafe von 300 Mark für jeden Fall der Zuwiderhandlung. Das Amtsgericht
hielt also den Rechtsweg für zulässig, da Streitigkeiten zwischen Inter¬
nierten und Anstaltleiter die individuelle Rechtssphäre einer einzelnen
Person beträfen, und meinte, die Prozeßfähigkeit des Kranken sei ge¬
geben. Denn im Entmündigungsverfahren gelte der zu Entmündigende
als prozeßfähig und müsse infolgedessen die Mittel haben, diese Proze߬
fähigkeit ausüben zu können. Dies alles ereignet sich, obwohl bereit«
ein vorläufiger Vormund in der Person eines Schöneberger Rechtsan¬
walts ernannt worden war. Dieser erhebt keinen Widerspruch, läßt sich
jedoch dazu bestimmen, daß der Kranke nur in seiner oder meiner Ärzte
Gegenwart Besuche des Rechtsanwalts E. empfangen darf. Bald dar¬
auf gelingt es dem Rechtsanwalt E., die vorläufige Vormundschaft über
den Kranken beim Landgericht aufzuheben, obwohl sie auf Grund moti¬
vierter Gutachten ausgesprochen war. In dem betreffenden Landgerichts¬
beschluß heißt es: Nach dem gegebenen Sachverhalte erscheint der Be¬
schluß des Amtsgerichts nicht ausreichend begründet. Das Amtsgericht
ist in eine Beweisaufnahme überhaupt nicht eingetreten. Es hat sich an¬
scheinend darauf beschränkt, die Gutachten des Prof. H. und des Kreis¬
arztes G. seinen Beschlüssen als Grundlage zu geben. Ein derartiges Ver¬
fahren erscheint unzulässig. Soll eine Person unter vorläufige Vormund¬
schaft gestellt werden, so erfordert es das Recht auf persönliches Gehör,
daß eine so wichtige und überaus tief in die persönliche Selbstbestimmung
eingreifende Maßregel nicht getroffen wird, ohne daß die Ermittlung
sich besonders auf eine persönliche Vernehmung des zu Entmündigenden
zu richten habe. Die bisherigen Ermittlungen haben keinen Anhalt ge¬
geben, daß der zu Entmündigende nicht vernehmungfähig ist, noch auch,
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Psychiatrischer Verein zu Berlin.
389
daß die Person oder das Vermögen desselben so erheblich gefährdet ist,
daß die persönliche Vernehmung nicht abgewartet werden kann.
Gestützt auf diesen Landgerichtsbeschluß, welcher aus formellen
Gründen die vorläufige Vormundschaft aufhebt, verlangt Rechtsanwalt
F.. die Entlassung des Kranken. Diese wird selbstverständlich verweigert,
und nun geschieht etwas ganz Seltsames. Die Aufhebung der vorläufigen
Vormundschaft und vermutlich die Behauptung des Anwalts, daß sein
Kranker gesund und widerrechtlich interniert, genügen für das Amts¬
gericht Charlottenburg, um einen Gerichtsbeschluß zu erlassen, welcher
mir und jedem meiner Ärzte je 300 Mark Strafe androht für jede Stunde
der Zurückhaltung des Kranken in der Anstalt.
Durch schnelles Handeln gelingt es, diesen gesetzwidrigen Beschluß
nicht zur Vollstreckung kommen zu lassen. Eine erneute Untersuchung
des Kreisarztes konstatiert die noch bestehende gemeingefährliche Geistes¬
krankheit, das Charlottenburger Polizeipräsidium sichert mir zunächst
zu, keine polizeiliche Hülfe zu gewähren, wenn sie vom Gerichtsvollzieher
verlangt wird, ändert aber korrekterweise diese Zusage (weil die Polizei
bei der Vollstreckung eines Gerichtsbeschlusses ihre Hilfe nicht versagen
kann) dahin ab: der Kranke ist aus den Westender Anstalten zu ent¬
lassen, wird aber dann als gemeingefährlich Geisteskranker durch die
Polizei in die zuständige öffentliche Irrenanstalt überführt. Am nächsten
Tage schon bringt Herr Rechtsanwalt Dr. Werlhauer diesen Entlassungs-
Peschluß zur Aufhebung. Damit ist die Periode der Gerichtsbeschlüsse
zu Ende, und es setzt das ordentliche Gerichtsverfahren im Instanzen¬
wege bei Landgerichten und beim Kammergericht ein. Nebeneinander
laufen zwei Verfahren: Die Klage gegen mich auf Zulassung des Rechts-
Anwalts E. zum Kranken und die Klage auf Entlassung des Kranken
unter Beantragung schwerer Freiheitstrafen.
Bei der Landgerichtsverhandlung wird leider nicht entschieden,
daß die Frage der Aufnahme eines Geisteskranken in eine Irrenanstalt,
't'ine Behandlung und Entlassung ausschließlich dem öffentlichen Recht
angehört, und daß der Rechtsweg an sich daher unzulässig war. Das Ge¬
richt beschränkt sich darauf, die Prozeßfähigkeit des Antragstellers zu
prüfen, und weist die Entlassungsklage ab, weil der Antragsteller infolge
von Geisteskrankheit im Sinne des § 104 Ziffer 2 BGB. prozeßunfähig
^i. ln der schriftlichen Urteilsbegründung heißt es: Der Antrag war
hiernach, da es an einer wesentlichen Prozeßvoraussetzung fehlte, von
vornherein abzuweisen, ohne daß es eines Eingehens auf den Antrag
selbst und darauf bedurfte, ob nicht die den Gegenstand des Rechtsstreites
bildenden Fragen dem öffentlichen Recht angehören und der ordentliche
Rechtsweg deshalb unzulässig ist. Vier Wochen später findet vor dem
Landgericht die Verhandlung der zweiten Klage statt: Zulassung des
Anwalts zu dem Kranken. Das Landgericht weist die Klage ab, weil der
Antragsteller als geisteskrank und nicht prozeßfähig erachtet wird.
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Es hebt also die Verfügung des Amtsgerichts Charlottenburg auf, auch
soweit der Kranke Antragsteller ist. Im Urteil heißt es: Es handele sich
hier um einen durch das Entmündigungsverfahren zwar veranlaßten,
im übrigen jedoch ganz selbständigen Rechtsstreit, um ein Einschreiten
gegen jemand, der den Antragsteller in der Ausübung des ihm angeblich
zustehenden Rechts auf freie Willensbetätigung hindert. Für diesen
Rechtsstreit müssen die allgemeinen Regeln des Prozeßrechts gelten.
Mithin hatte das Prozeßgericht vom Amts wegen zu prüfen, ob die Par¬
teien prozeßfähig sind (§ 56 der ZPO.).
Nun spricht allerdings im allgemeinen eine tatsächliche Verfügung
dafür, daß, wer im Verkehrsleben steht, geistig gesund und prozeßfähig
sein wird. Hier aber ist der Antragsteller auf formell ordnungmäßigem
Wege in eine Irrenanstalt aufgenommen, mithin kann ihm eine tatsäch¬
liche Vermutung dafür, daß er geistig gesund ist, nicht zur Seite stehen.
Prozeßunfähig ist, wer geschäftsunfähig ist. Geschäftsunfähig ist aber,
wer sich in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustande
krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet. Der Rechtsweg sei
für bürgerliche Rechtsstreitigkeiten gegeben (§ 13 des Gerichtsverfassungs¬
gesetzes). Eine bürgerliche Rechtsstreitigkeit liegt vor, wenn sie um das
Rechtsgut und die individuelle Rechtssphäre eines einzelnen geht
oder auf privatrechtlicher Grundlage beruht, im Gegensatz zu einem Streit,
der von einem Gegenstand des öffentlichen Interesses, des Gemeinwohls
handelt.
Bald darauf wird der Kranke erneut unter vorläufige Vormundschaft
gestellt nach persönlicher Vernehmung durch den Richter, unter Hinzu¬
ziehung von zwei psychiatrischen Sachverständigen. Auf Grund der
ausgesprochenen Vormundschaft erledigt sich dann von selbst vor dem
Kammergericht die Klage auf Entlassung des Kranken und Zulassung
des Rechtsanwalts, um so mehr, da der Vormund des Kranken seine Ein¬
willigung zu jeglicher Prozeßführung für sein Mündel versagt.
M. H., für die Irrenanstalten sind ausschließlich die Vorschriften
der Ministerialanweisung maßgebend. Absatz 4 des § 10 dieser Anweisung
lautet:
„Beantragt ein volljähriger Kranker, der weder entmündigt noch
unter vorläufige Vormundschaft gestellt ist, schriftlich seine Entlassung,
so hat der Vorstand der Anstalt, wenn er dem Anträge nicht, stattgeben
will, den Antrag unter Darlegung der für die Ablehnung maßgebenden
Gründe unverzüglich dem für die Stellung des Entmündigungsantrages
zuständigen Ersten Staatsanwalt mitzuteilen.“
Es ist also in unserem Falle einem Anwalt gelungen, ungeachtet
der klaren Bestimmungen der Ministerialanweisung ein Amtsgericht zu
einstweiligen Verfügungen zu veranlassen und ein Streitverfahren über
Zulassung eines Anwalts und Entlassung eines Geisteskranken aus der
Irrenanstalt bei den Zivilgerichten anhängig zu machen. Die Gerichte
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Psychiatrischer Verein zu Berlin.
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haben sich für ein derartiges Prozeßverfahren als zuständig erklärt; mit
welchem Rechte, werden Ihnen die Ausführungen des Herrn Dr. Wert-
Hauer zeigen.
Ich möchte meine Mitteilungen nicht schließen, ohne besonders her¬
vorzuheben, daß es mir fern liegt, die Grundsätze der Humanität und
Toleranz, auf denen seit vielen Jahrzehnten die Anstaltbehandlung be¬
ruht, nur in der geringsten Welse erschüttern zu wollen. Wir wollen aus
den modernen Irrenanstalten keine Zwingburgen machen, welche gegen
die Außenwelt abgeschlossen und nicht eingenommen werden können.
Die uns anvertrauten Kranken sollen, soweit nicht ärztliche Bedenken
dem entgegenstehen, nach wie vor Gelegenheit haben, ihre Beschwerden
in weitestem Maße den Behörden zur Kenntnis zu bringen, sollen
nach wie vor sich einen juristischen Beistand erwählen dürfen, wenn
sie sich für unrechtmäßig interniert halten, oder wenn gegen
sie eine vorläufige Vormundschaft oder das Entmündigungsverfahren
beantragt worden ist. Wir wollen sogar in manchen Fällen über die be¬
stehenden Vorschriften hinausgehen und in großzügigster Weise unsern
Kranken die Wahrung ihrer wirklichen oder vermeintlichen Rechte zu-
gestehen, wir müssen aber andererseits auf Grund der bestehenden An¬
weisungen und Gesetze in der Lage sein, unsere Kranken vor Schädigungen
bewahren zu können, um gegebenenfalles Persönlichkeiten von ihnen
fernzuhalten, welche in unverständigerWeise oder böswillig
mit ihren Interessen ein frivoles Spiel treiben.
2. Dr. jur. Werthaueri Die rechtliche Stellung der in Irrenanstalten
internierten gemeingefährlich Geisteskranken ist auf historisch-politischer
Grundlage geordnet, welche aus der früheren Organisation des Staates
hervorgegangen ist, deshalb zum Teil der Konstruktion moderner Gesetz¬
gebung nicht mehr entspricht und aus diesem Grunde dem Theoretiker
und Praktiker vielfach nicht geläufig ist. Hinzu kommt, daß das Streben
nach Trennung der Verwaltung von der Rechtspflege und nach Umklei¬
dung behördlicher Anordnungen mit verwaltungsrechtlichen Schutzma߬
regeln nach Einführung von Verfassungen in den einzelnen Ländern
immer mehr hervortritt und deshalb frühere Vorschriften zur Regelung
gewisser Zustände in Tragweite und Inhalt teils in Vergessenheit geraten
sind, teils nicht immer verstanden werden und daher vielfachen Anfein¬
dungen ausgesetzt sind. Zunächst wird auf dem hier fraglichen Gebiet
übersehen, daß das staatliche und gesellschaftliche Zusammensein von
Menschen oft eine schleunige Hilfe durch die Staatsgewalt erfordert und
deshalb alle jene Garantien, welche gegen staatliches Eingreifen sonst
berechtigt sein mögen, mit Fug hier unmöglich sind, weil einerseits ein
gewisser Grad von Vertrauen zu der Staatsbehörde, d. h. zu dem eigenen
Staate, in diesen äußersten Grenzfällen nötig ist und andererseits die Natur
so vielgestaltig in das Leben eingreift, daß es unmöglich ist, für jeden
Fall von vornherein stets schützende Rechtsgarantien aufzustellen.
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
In dies Gebiet des selbständigen sofortigen Eingreifens der staatlichen
Exekutive gehörte von jeher der Schutz gegen Epidemien, drohende
Seuchen, die sofortige Isolierung von Kranken und die sichere Verwahrung
bei plötzlich eintretender Geisteskrankheit. Es gibt keinen zivilisierten
Staat, in welchem nicht eine derartige Befugnis dem Staate zustande,
und es wird nie einen solchen geben, in welchem bei plötzlich eintretender
Geisteskrankheit abgewartet werden dürfte, daß etwa in Form eines Zivil¬
prozesses die Krankheit festgestellt und dann die Internierung beschlossen
werde. Auch die schleunigsten Arten des Zivilprozesses, wie einstweilige
Verfügung, Arrest, summarisches Verfahren, und was immer die mo¬
dernen Prozeßordnungen hierüber enthalten, sind unbrauchbar gegenüber
den Gefahren, die eine hereinbrechende Seuche oder ein ausbrechender
Wahnsinn der Allgemeinheit bieten. Es bleibt stets nur übrig, die staat¬
liche Verwaltungsmacht mit der Befugnis zu versehen, in solchen Fällen
sofort einzugreifen und höchstens nachher dem Gericht oder sonstigen
Organen die Bestätigung oder Aufhebung der Maßregel zu über
lassen.
Schon diese allgemeine Erwägung ist in sehr vielen Fällen nicht
beachtet worden, es ist in schriftstellerischen Abhandlungen das Gegen¬
teil ausgeführt und insbesondere das Eingreifen eines Zivilprozeßgerichts
oder des Entmündigungsgerichts verlangt, ehe jemand einer Anstalt
überwiesen werden solle.
Aus diesem Grunde wird in der Presse oft behauptet, das Verfahren
betr. die Unterbringung von Geisteskranken sei gesetzlich bei uns nicht
völlig geregelt, es liege eine sogenannte Lücke in der Gesetzgebung vor.
und was dergl. Dinge mehr sind. Dies ist absolut unrichtig. Unsere Gesetz¬
gebung bietet in dieser Beziehung keine Auslassung. Es ist auf das ein¬
gehendste und sorgfältigste durch die Gesetze selbst die hier fragliche
Angelegenheit geregelt. Es sind die Gesetze durch Ausführungsanweisungen
ergänzt. Es sind nur oft beide denen nicht bekannt oder geläufig, welche
eine Lücke in der Gesetzgebung konstatieren.
Die hier in Betracht kommenden Bestimmungen sind folgende:
Nach der Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat vom 31. Januar
1850, Art. 5, ist die persönliche Freiheit gesetzlich gewährleistet, indem
die Bedingungen und die Formen, unter welchen eine Beschränkung
derselben zulässig ist, durch Gesetz bestimmt werden müssen.
Es wird nun oft in juristischen Gutachten, Schriftsätzen und Ab¬
handlungen behauptet, daß mangels diesbezüglicher gesetzlicher
Bestimmungen die Einsperrung in eine Irrenanstalt unter allen Umständen
objektive Freiheitsberaubung sei. Insbesondere hat ein Entmündigungs¬
richter des Königlichen Amtsgerichts Marburg, Geh. Justizrat Box¬
berger, eine Reihe von Artikeln in der Zeitschrift ,,Das Recht“ veröffent¬
licht, auch in einer konkreten Sache einen Beschluß gefaßt, durch den
er tatsächlich feststellt, daß die Unterbringung in einer Irrenanstalt ob-
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Psychiatrischer Verein za Berlin.
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jektive Freiheitsberaubung sei, so daß „nur noch zu untersuchen sei, ob
auch die subjektiven Voraussetzungen vorliegen“.
Diese An- und Ausführungen sind völlig gegenstandlos. Das all¬
gemein gewährleistete Recht der „Freiheit“ ist im Einzelfall begrifflich
nur denkbar, wenn gewisse Einschränkungen dem Begriff selbst erst Be¬
deutung verleihen, ebenso wie das Eigentum an einem Baugrundstück nie¬
mals die Freiheit gibt, darauf aufs Geratewohl Bauten auszuführen, weil die
Freiheit des Eigentümers gewährleistet sei. Die Ausführung, daß wenig¬
stens objektiv der Tatbestand der Freiheitsberaubung vorliege, ist ebenso
abwegig, als wenn man von einem Operateur, welcher eine Fingerampu¬
tation vornimmt, ausführen wollte, es liege wenigstens der objektive Tat¬
bestand der Körperverletzung vor. Der Tatbestand eines Strafgesetzes,
wie der der Freiheitsberaubung, liegt entweder vor, indem alle Tatbestand-
merkmale gegeben sind, oder er liegt überhaupt nicht vor, wenn ein solches
fehlt. Das Vorliegen einiger Tatbestandmerkmale ist niemals iden¬
tisch mit dem Vorliegen eines Teiles des Strafdeliktes. Das Vorliegen
einzelner Tatbestandmerkmale ist vollständig gleichgültig, da nur das
Zusammentreffen der tatsächlichen Ereignisse, welche den Tat¬
bestand ausmachen, eine Handlung strafbar machen.
Das preußische Gesetz, welches die Verfassung vorsieht, und
welches das Recht zur Beschränkung der Freiheit mit Rücksicht
auf die allgemeine Sicherheit gegenüber gemeingefährlich Geistes¬
kranken gibt, ist am 11. März 1850 erlassen. Es ist das Gesetz
über die Polizeiverwaltung. Es beruht auf der Erwägung, daß
in einem geordneten Staatswesen fortgesetzt plötzliche Ereignisse auf-
treten, bei denen ein zielbewußtes Eingreifen der Staatsgewalt notwen¬
dig ist, bezüglich deren es widersinnig wäre, erst einen Rechtsstreit in der
Form eines Prozesses darüber zuzulassen, ob die Voraussetzungen
des Eingreifens gegeben sind, da durch derartige Zögerungen der Schaden
in der Regel sich vergrößert, um dessen Verhütung es sich handelt, ln dem
§ 5 dieses preußischen Gesetzes über die Polizeiverwaltung vom 11. März
1850 ist ausdrücklich bestimmt, daß die mit der örtlichen Polizeiverwaltung
betrauten Behörden befugt sind, ortspolizeiliche Vorschriften zu erlassen.
Im § 6 ist gesagt, daß zu den Gegenständen der ortspolizeilichen Vor¬
schriften der Schutz der Person und des Eigentums gehört. Nach §11,
12,13 a. a. O. in Verbindung mit den §§ 136, 138 des Landesverwaltungs-
gesetzes, hat eventuell die Ministerialinstanz diese Anordnungen zu treffen.
Dieselben sind Aasfluß der gesetzlichen Legislative, welche durch
das gedachte Gesetz den Regierungsbehörden übertragen ist. Diese
Eingriffe in die Freiheit des einzelnen bewegen sich deshalb durchaus
im Rahmen des Artikels 5 der preußischen Verfassung mit Rücksicht
auf ihre durch das Gesetz garantierte Anordnung und Regelung.
Nicht hierher gehört das an dieser Stelle, insbesondere auch von
Schriftstellern wie Boxberger, in Verkennung der Rechtslage zitierte Ge-
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
setz vom 12. Februar 1850, welches zum Schutz der persönlichen Freiheit
erlassen ist. Dieses bestimmt über das Eingreifen der Verwaltungs¬
behörden aus politischen oder verwaltungsrechtlichen Gründen und ge¬
stattet z. B. die Sistierung politisch verdächtiger Personen bei Anwesen¬
heit fremder Souveräne auf einen Tag und dergl. Es betrifft den Eingriff
aus politischen Gründen. Dagegen ist der Sitz der gesetzgeberischen Ma¬
terie für Maßregeln gegen Störungen von Eigentum und Personen das
Gesetz vom 11. März 1850.
Auf Grund dieser Bestimmungen sind nun für öffentliche und
atepriv Irrenanstalten eine große Anzahl von Verordnungen ergangen,
die ihre Ergänzung finden in dem Gesetz über die Bestellung von Kreis¬
ärzten, in deren Dienstanweisungen, in den Bestimmungen über die Er¬
teilung der Konzession für Privatanstalten nach der Gewerbeordnung
und ähnlichen Vorschriften. Hier interessiert, soweit es sich um die Auf¬
nahme, Behandlung und Entlassung von Geisteskranken handelt, im
wesentlichen nur die gemeinschaftlich erlassene Verfügung des Justiz -
ministers, des Ministers der Medizinalangelegenheiten und des Ministers
des Innern, betreffend den Erlaß einer Anweisung über Unterbringung in
Privatanstalten für Geisteskranke, Epileptische und Idioten, vom 26. März
1901. Diese Verfügung richtet sich an die Regierungspräsidenten und den
Polizeipräsidenten von Berlin, damit diese Sorge dafür tragen, daß die
Anweisung bei allen Privatanstalten des Bezirks an Stelle der früheren
Anweisung vom 20. September 1895 zur Anwendung gelange. Im § 1
und 4 ist Bestimmung getroffen über die Voraussetzungen zur Aufnahme
in eine Anstalt. Im § 10 ist von der Entlassung und im § 5 von der Behand¬
lung der Kranken die Rede. Diese Bestimmung steht im engen Zusammen¬
hang mit dem Gesetz über die Bestellung von Kreisärzten und deren
Dienstanweisung. Es mag deshalb in dieser Beziehung darauf hingewiesen
sein, daß durch das Gesetz vom 16. September 1899 Kreisärzte angestellt
sind und gemäß § 2 zu deren Befugnissen auch die Vorsorge für alle Kran¬
kenangelegenheiten ihres Bezirkes gehört, dieselben auch verpflichtet er¬
scheinen, von Amts wegen dafür Sorge zu tragen, daß eventuell die Organe
des Staates eingreifen, das ist im vorliegenden Falle der Regierungspräsi¬
dent, unter welchem der Kreisarzt steht, und die demselben untergeord¬
neten Polizeiorgane. Nach den §§ 1 und 4 der Verfügung vom 26. März 1901
erfolgt die Aufnahme, wenn ein Kreisarztattest oder ein gleichgestelltes
Attest vorliegt, nach § 4, wenn in dringenden Fällen das Attest eines
approbierten Arztes vorliegt, das innerhalb vier Tagen durch ein Kreis¬
arztattest zu verifizieren ist. Bei Entmündigten hat nach allgemein recht¬
lichen Grundsätzen natürlich der gesetzliche Vertreter den Aufenthalts¬
ort zu bestimmen, ebenso wie Selbständige den eigenen Aufenthalt be¬
stimmen können. Der gesetzliche Vertreter und der selbständige Kranke
können auch in dem geschlossenen Teil einer Irrenanstalt den Aufenthalt
wählen, es ist aber auch für diesen Fall gemäß $ 6 und 15 ff. eine ein-
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Psychiatrischer Verein zu Berlin.
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gehende Anweisung ttber Aufnahme, Behandlung und Entlassung erfolgt.
Zu der Behandlung gehört insbesondere auch die Bestimmung der Art
des Aufenthaltes, zu letzterer wiederum die Isolierung, und zu dieser der
Verkehr mit der Außenwelt durch Besuche, Rücksprachen, brieflichen
und ähnlichen Verkehr. Die zur Einhaltung der vorstehenden Vorschrif¬
ten bestimmten Garantien bestehen darin, daß gewissen Behörden von
der Aufnahme Mitteilung zu machen ist, andere Behörden Revisionen der
Anstalten vorzunehmen haben und die Anstalten der jederzeitigen Auf¬
sicht von Behörden unterliegen.
Diese Ministerialverfügung ist speziell für die geschlossenen Ab¬
teilungen von Privatanstalten gegeben, es bestehen aber genau ent¬
sprechende Bestimmungen für die geschlossenen Abteilungen öffentlicher
Anstalten bzw. geschlossene öffentliche Unternehmungen. Der Unter¬
schied in der Aufnahme, Behandlung und Entlassung ist deshalb kein
wesentlich davon abhängiger, ob die in Frage kommende Anstalt durch
einen öffentlichen Rechtsverband gegründet oder unterhalten ist, oder
ob ein Privatmann gemäß der Reichsgewerbeordnung eine Konzession
zum Betriebe erhalten hat und daraufhin die Anstalt betreibt. Es darf
deshalb die Frage nach der Rechtslage des einzelnen Individuums, das
in einer Anstalt ist, nicht entschieden werden oder auch nur in Verbindung
gebracht werden mit der Frage, ob die Anstalt auf öffentlicher oder pri¬
vater Grundlage organisiert ist, es ist vielmehr die Stellung des Anstalt -
leiters der öffentlichen und der Privatanstalt gegenüber dem Kranken
bzw. dessen Vertreter in allen ihren Konsequenzen rechtlich grundsätz¬
lich nach den gleichen Vorschriften geordnet und zu beurteilen.
Die tatsächliche, nicht die rechtliche Unterbringung geschieht
entweder gemäß dem insoweit noch vorhandenen Willen des Kranken
oder auch ohne dessen Willen durch Hingeleitung, oder auch wider
dessen Willen durch äußeren Zwang, mag dieser Zwang ausgeübt
werden durch Privatpersonen oder durch die dazu berufenen Polizei-
organe. Der Unterschied, wer die Aufnahme veranlaßt hat, ist
für die Entscheidung der in Betracht kommenden Frage der rechtlichen
Behandlung gleichgültig. Dies mag besonders hervorgehoben werden
gegenüber einer Entscheidung des Königlichen Landgerichts III Berlin
Z.-K. 2t vom 4. Oktober 1911, in welcher die diesbezügliche Klage eines
Kranken zwar wegen dessen Prozeßunfähigkeit abgewiesen ist, aber,
ohne daß ein äußerer Grund dazu zwang, doch Ausführungen gemacht
sind, welche darauf hinauslaufen, daß es einen Unterschied mache, ob
auf private oder polizeiliche Veranlassung die Aufnahme erfolgt sei. Dieser
Unterschied ist gesetzlich unbegründet. Der hier in Betracht gezogene
tatsächliche Konsens des Kranken ist kein rechtlich in Betracht kom¬
mender Wille, sondern eine in nicht genauer Verwendung des Wortes
gebrauchte Bezeichnung für eine Seelenregung, die keineswegs einem
rechtlich in Betracht zu ziehenden Willen gleichkommt. Es ist bei einem
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
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Geisteskranken unerheblich, ob derselbe selbst in die Anstalt „will“ oder
nicht, denn auch das erstere würde, wenn Anstaltbedürftigkeit nicht
vorliegt, die Unterbringung nicht rechtfertigen, während der mangelnde
Wille oder der Zwang auf den Willen die Aufnahme nicht hindert, wenn
deren Voraussetzungen vorliegen. In das reine Gebiet der Tatsachen ge¬
hört auch, ob die Initiative auf Privatpersonen zurückzuführen ist, die
nicht gesetzliche Vertreter sind, mögen diese direkt oder durch Anrufen
der Polizeibehörde die Aufnahme bewirkt haben, unerheblich ist auch,
ob die Polizei sie von selbst, oder auf Anlaß des Kreisarztes oder des Ver¬
wandten herbeiführte. In jedem Fall ist die Aufnahme ein Akt des An¬
staltleiters, der gegenüber einem gemeingefährlichen Geisteskranken er¬
folgt und nur dann, aber dann auch stets erfolgen darf, wenn dessen ge¬
setzliche Voraussetzungen vorliegen. Er ist kein Rechtsgeschäft, das
zwischen Anstaltleiter und Kranken oder gesetzlichem Vertreter des Kran¬
ken geschlossen wird, soweit „die Aufnahme“ erfolgt. Selbst wenn ein
Privatvertrag mit irgendeinem Dritten, einer Behörde, einer unterstützung¬
pflichtigen Vereinigung über die Aufnahme geschlossen wird, so hat dieser
Vertrag nur gegenseitige zivilrechtliche Verpflichtungen zur Folge. Er
hat mit dem „Akt der Aufnahme“ nichts zu tun. Es ist vielmehr die Auf¬
nahme ein Akt, dessen Vollziehung auf Grund der Gesetzgebung gewissen
Personen anvertraut ist. Diese Gesetzgebung regelt den Akt der Auf¬
nahme, indem sie dafür Normativbestimmungen gibt. Es greift hier
privates Recht in seinen Folgen in das öffentliche Recht ein, wie sich dies
oft findet, z. B. bei der Herstellung einer Vaterschaftsbeziehung durch
Rechtsakt, nämlich Adoption, oder die Schaffung eines rechtlich aner¬
kannten neuen Subjekts durch Gründung einer Aktiengesellschaft, oder
die Vornahme staatshoheitrechtlicher Akte, welche Privatpersonen
gestattet sind. Es wäre nicht einmal nötig, diese rechtliche Qualität
des Aufnahmeaktes in Hinsicht auf öffentliches und privates Recht
zu erörtern, da sich alle Konsequenzen, welche an den Aufnahme¬
akt geknüpft sind, ohnedies direkt aus den oben angegebenen Rechts¬
quellen regeln, so daß es der analogen Begründung zur Entscheidung
etwaiger Zweifelsfragen gar nicht bedarf. Es ist aber die vorstehende
Erörterung angeführt, weil fortgesetzt von Schriftstellern mangels rich¬
tiger Rechtsqualifizierung der Aufnahme unrichtige Meinungen aus der
angeblichen Vertragsnatur der Privataufnahme aufgestellt werden.
Ganz deutlich zeigt sich der Rechtsfehler, welcher aus dem Durchein¬
anderbringen des zivilrechtlichen Vertrages mit dem Rechtsakt der Auf¬
nahme folgt, in den Entscheidungsgründen des oben erwähnten Urteils
vom 4. Oktober 1911, obwohl schon das Gegenüberstellen der Personen
des Pflegschaftsvertrages gegenüber den zur Aufnahme nur interessierten
Personen vor solcher Verwechselung hätte bewahren müssen.
Die Erörterung der Rechtsnatur des Aufnahmeaktes ist von grund¬
legendem Nutzen ferner in den neueren Prozessen, in welchen ein auf¬
genommener, nicht entmündigter, großjähriger Geisteskranker gegen seine
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Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Psychiatrischer Verein zu Berlin.
397
eigene Aufnahme bei den Zivilprozeßgerichten eine Klage auf Entlassung
nebst dazu gehörigem Antrag auf Erlaß einer diesbezüglichen einstweili¬
gen Verfügung erhebt. In früherer Zeit ist kaum ein derartiger Versuch
gemacht worden, weil man früher den historisch gewordenen Rechts -
quellen näherstand, und ein Mißverständnis der nach Gründung des Deut¬
schen Reiches erlassenen großen Prozeßgesetzgebungswerke kaum denk¬
bar war. Der Gebrauch der deutschen Sprache in diesen Gesetzen gegen¬
über den festgeprägten technischen Begriffen der früheren Praxis, die
dadurch mit bewirkte etwas verschwommene Sprechweise, welche zu
Mißverständnissen dem historisch nicht Vorgebildeten Anlaß gibt, das
allmähliche Verbleichen der strikten Konstruktion des alten Rechts,
haben in der letzten Zeit wiederholt dazu geführt, daß derartige prozeß-
widrige Versuche unternommen worden sind, um auf Grund der neueren
allgemeinen Prozeßgesetze unter völliger Verleugnung der historisch ge¬
wordenen Spezialgesetzgebung auf dem hier fraglichen Gebiete mit Hilfe
von Zivilprozeßanträgen vorzugehen. Es sind namentlich im letzten Jahre
solche Prozesse in der Presse wiederholt erörtert worden, indem auch zu¬
gleich fast stets trotz der klar hier vorliegenden, wenn auch nicht jedem
geläufigen Gesetzgebung von einer angeblichen „Lücke“ in der Gesetz¬
gebung gesprochen wurde. Die Prozesse sind nicht immer und nicht
sofort richtig entschieden worden, ja auch die schließlichen zutreffenden
Urteile sind nicht immer mit richtigen Entscheidungsgründen versehen
worden. Zwar sagt das Empfinden meist schon dem Juristen, daß ein
derartiges Eingreifen rechtlich unmöglich ist, doch fehlt oft das Vertraut-
sein mit den etwas abseits liegenden Rechtsquellen. Es mag deshalb
folgendes ausgeführt sein.
Nach § 13 des Gerichtsverfassungsgesetzes gehören bürgerliche
Rechtsstreitigkeiten vor die ordentlichen Gerichte. Hierdurch soll die
Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte, soweit bürgerliche Rechtsstreitig¬
keiten vorliegen, sichergestellt werden, da vor Erlaß dieser Bestimmungen
eine Reihe von Sondergerichten, wie z. B. adlige Gerichte, Patrimonial-
ge ichte, und dergl. existierten, deren Jurisdiktion soweit nicht aufrecht
erhalten, abgeschafft werden sollten. Die Bestimmung enthält aber nichts
darüber, was eine bürgerliche Rechtsstreitigkeit ist. Den Gegensatz zur
bürgerlichen bildet die öffentliche Rechtsstreitigkeit, und die Grenze
beider hat die Landesgesetzgebung der Einzelstaaten bestimmt. Es würde
rin Eingriff in die Landeshoheit sein, wenn die deutsche Reichsgesetz¬
gebung das Gebiet der bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten bestimmt hätte,
weil sie dadurch indirekt Sachen des öffentlichen Rechtes der Einzelstaaten
batte anders ordnen können, als der Einzelstaat kraft seiner Souveränität
dies will. Es ist natürlich für die deutsche Reichsgesetzgebung möglich,
solche Bestimmungen zu treffen; sie hat es aber absichtlich bisher ver¬
mieden, und weil sie es nicht getan hat, bestimmen die Landesgesetze,
Was öffentlichen Rechtes ist.
Zwtwhiift für Psychiatrie. LXLX. 3. 27
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398 Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
In Preußen speziell ist öffentlichen Rechtes alles, was in irgendeiner
Beziehung der öffentlichen Ordnung überlassen ist; privates Recht sind
nur die Rechtsbeziehungen der einzelnen auf zivilrechtlichem Gebiete.
Danach gibt es ein großes Gebiet von Grenzfällen, in welchen öffentliches
und privates Recht sich mischen. Für diese sind grundlegende Gesetze
geschaffen, die darin gipfeln, daß alle diese Gebiete als Zivilrecht nur zu
erachten sind, soweit der Rechtsweg eigens zugelassen ist, da das öffent¬
liche Recht der Disposition von Zivilparteien auch nicht indirekt über¬
lassen werden soll. Es ist deshalb aus dem § 13 der Gerichtsverfassung
für die hier fragliche Angelegenheit ebensowenig etwas zu gewinnen, als
aus der oben erwähnten Bestimmung der preußischen Verfassung. Es
muß vielmehr die Frage, ob öffentliches Recht vorliegt, und damit die
Frage der Zulässigkeit des Rechtsweges entschieden werden allein auf
Grund der Gesetzgebung des Preußischen Staates über öffentliches Recht,
und dies bestimmt in den oben angegebenen Gesetzen und Anweisungen
auf Grund öffentlichen Rechts, wie die Aufnahme, Behandlung und Ent¬
lassung gemeingefährlich Geisteskranker erfolgen solle, so daß der Rechts¬
weg hierüber unzulässig ist. Aus diesem Grunde kann niemals ein Zivil¬
gericht zur Entscheidung dieser Angelegenheiten in Streitfällen herange¬
zogen werden. Die diesbezüglichen Eingaben der Interessenten haben
sich vielmehr zu beschränken auf Anträge bei der zuständigen Staats¬
anwaltschaft, welche auch nicht als Strafgerichtsbehörde, sondern als
Verwaltungsbehörde tätig wird, und auf Anträge von Behörden, welche
den öffentlichen und Privatanstalten übergeordnet sind.
Zur Vermeidung von Mißverständnissen mag noch hervorgehoben
werden, daß diese Erwägungen für diejenigen großjährigen, nicht entmün¬
digten, geisteskranken Personen, welche wegen Gemeingefährlichkeit in
öffentliche oder Privatanstalten aufgenommen sind, Geltung haben. Sie
beziehen sich auch auf andere Personen, wenn und soweit sie wegen Ge¬
meingefährlichkeit in die Anstalt gekommen sind; es treten bei diesen,
wie namentlich Entmündigten, Minderjährigen, auf Grund behördlicher
Anordnung der gesetzlichen Vertreter in Anstalten Aufgenommenen
aber noch andere Bestimmungen in die Erscheinung, welche hier nicht
in Betracht kommen.
Ebenso treten für Personen, die auf Antrag von Strafbehörden
oder Polizeibehörden in Anstalten untergebracht sind, noch anderweite
erschwerende Bestimmungen in Kraft, die gleichfalls nicht in den Rahmen
<ier hier zu erörternden Fragen gehören.
Ebenso mag noch darauf hingewiesen werden, daß häufig in Ab¬
handlungen und Prozeßschriften Bestimmungen aus anderen rechtlichen
Gebieten dazu benutzt werden, um eine Lösung der hier aufgeworfenen
Fragen zu suchen. Insbesondere wird das Verfahren betreffend die Ent¬
mündigung, die vorläufige Vormundschaft einer großjährigen Person
herangezogen; durchaus zu Unrecht. An sich gehören auch diese Ange-
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Psychiatrischer Verein zu Berlin.
399
legenheiten natürlich dem öffentlichen Recht an. Es würden also auch
hierfür niemals Zivilgerichte zuständig sein. Gerade deshalb hat die
deutsche Reichsgesetzgebung durch die deutsche Reichszivilproze߬
ordnung eine positive Bestimmung dahin getroffen, daß diese
Verfahrensarten den Zivilgerichten besonders übertragen werden, um
eine Einheitlichkeit für Deutschland zu schaffen. Diese Bestim¬
mungen waren nötig, weil sonst die Gerichte nicht zuständig gewesen
wären. Um diese Verfahren dem Zivilprozeß ähnlich zu machen, bedurfte
es einer ganzen Reihe besonderer Vorschriften, da in den Rahmen des
Zivilverfahrens ein Entmündigungsverfahren nicht paßt. Die Vorschriften
waren möglich, weil es sich um Untersuchung und Entscheidung von Zu¬
ständen handelt. Das erste Stadium des Entmündigungsverfahrens ist
dem Amtsgericht übertragen. Der zu Entmündigende ist dabei reines
Objekt des Verfahrens, nicht etwa Prozeßpartei. Er kann deshalb niemals
einen „Prozeßbevollmächtigten“ bestellen. Er kann sich nach der Judi¬
katur eines Beistandes bedienen. Dieser Beistand hat nur das Recht,
gehört zu werden. Die Quellen, aus denen er seine Kenntnis nimmt, sind
ihm überlassen. Er kann Urkunden und Akten eventuell einsehen, er
kann Rücksprachen mit Dritten und dem zu Entmündigenden halten,
soweit dies angängig ist; er kann aber niemals deshalb, weil er zum Bei¬
stand bestellt ist, etwa seinerseits verlangen, daß er zu dem internierten
Kranken zugelassen wird, wenn nach gewissenhafter Ansicht des An¬
staltleiters die Zulassung aus medizinischen Gründen nicht zulässig ist.
Er muß dann die Quellen für seine Äußerung anderweit sich suchen.
Nachdem der Entmündigungsbeschluß erlassen ist, gibt es eine
Anfechtungsklage. Diese Klage ist in den direkten Formen eines Prozesses
dahin geordnet, daß der Entmündigte als Kläger fingiert wird, der Staats¬
anwalt als Beklagter. Hier zeigt sich deutlich, daß es sich um künstliche
Konstruktionen handelt, indem ein Gegenstand des öffentlichen Rechtes
dem Zivilgericht übertragen ist. Innerhalb dieser beiden Parteien kann
das Gericht vorläufige Verfügungen treffen, die aber selbstverständlich
den Anstaltleiter nichts angehen. So wie das Kind gegen die Eltern
unter Umständen Prozesse führen kann, indem ein Pfleger ihm bestellt
wird, ebenso kann endlich ein Vormundschaftsgericht einem Entmündigten
einen Pfleger bestellen, und dieser Pfleger kann gegen den Vormund
zivilprozessuale Anträge auf Freilassung und dergleichen stellen. Dringt
er damit durch, so ist der Vormund verpflichtet, diesbezügliche Anträge
dem Anstaltleiter zu unterbreiten. Dieser hat aber denselben nur in¬
soweit zu entsprechen, als nicht etwa auf Grund der oben ausführlich
erörterten Bestimmung über die Aufnahme und Entlassung gemein¬
gefährlicher Geisteskranker nach seinem eigenen medizinischen pflicht¬
gemäßen Ermessen Hinderungsgründe entgegenstehen. Soweit die Auf¬
nahme auf Grund der Anordnung eines gesetzlichen Vertreters in Betracht
kommt, hat er, soweit nicht Gemeingefährlichkeit dem entgegensteht,
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
den diesbezüglichen Anträgen natürlich zu entsprechen. Es ist deshalb
aus diesen Bestimmungen der Zivilprozeßordnung über das Entmün¬
digungsverfahren für die hier vorliegende Frage der Aufnahme, Entlassung
und Behandlung großjähriger, nicht entmündigter Personen überhaupt
nichts zu entnehmen.
Ebenso unerheblich für die vorliegende Frage sind die Bestimmungen
des Bürgerlichen Gesetzbuchs in Verbindung mit der Zivilprozeßordnung,
welche die Geschäftsfähigkeit, Prozeßfähigkeit regeln, und die Aus¬
führungen, welche aus dem Rechte der Persönlichkeit, dem Recht aul
persönliche Freiheit und dergleichen in meist mehr allgemein gehaltenen
Redewendungen entnommen werden, wie sie insbesondere ein Gutachten
des Professors Dr. Köhler heranzieht. Eis ist richtig, daß nicht jeder
Geisteskranke willensunfähig ist. Wer aber so geisteskrank ist, daß er im
Sinne des Bürgerlichen Rechts als willensunfähig zu erachten ist, ist
eben nicht geschäftsfähig, und wer nicht geschäftsfähig ist, ist auch nicht
prozeßfähig. Die gerichtlichen Entscheidungen haben dies durchweg
trotz des Kohlerschen Gutachtens glatt anerkannt; es ist ferner davon
gesprochen worden, daß aus dem Recht der Persönlichkeit trotz mangeln¬
der Geschäftsfähigkeit ein Klageantrag auf Entlassung gestellt werden
könnte, weil ja gerade der Geisteskranke den besonders energischen „Willen“
habe, aus der Anstalt entlassen zu werden und dieser Wille insoweit Ge¬
schäftsfähigkeit mit sich bringt. Auf die Unrichtigkeit dieses sich ira
Kreise drehenden Gedankenganges einzugehen, verlohnt nicht; der krank¬
hafte Wille wird eben, wenn er zu solcher Steigerung gelangt ist, daß eine
Geschäftsfähigkeit nicht mehr im Sinne des Gesetzes vorliegt, überhaupt
im Rechtswege nicht mehr beachtet, er ist kein „Rechtswille“. Auch
die Erwägung, daß die Entlassung, die so sehr dem Willen des Kranken
entspräche, ja außerdem eine zu seinem Vorteil gereichende Handlung
sei, ist durchaus unrichtig, denn diese Entlassung würde ein tatsächlich
ihn sogar schädigender Akt, übrigens überhaupt keine Rechtshand¬
lung sein.
Ein Verwaltungsstreitverfahren ist ganz undenkbar, denn es handelt
sich ja nicht um eine Polizeiverfügung, deren Rechtsgültigkeit oder Be¬
gründetheit bestritten wird, sondern um einen Aufnahme- und Festhaltungs¬
akt, der auf Grund öffentlich rechtlicher Bestimmung von den dazu ge¬
ordneten Personen, nämlich der Anstaltleitung, vorgenommen wird. Daß
in dem Gutachten von Köhler sogar der Fehler untergelaufen ist, daß er
an Stelle der gültigen Anweisung von 1901 die abgeschaffte von 1895
noch als in Geltung befindlich betrachtet, kann vielleicht nur mit der
besonderen Eile erklärt werden, mit der das Gutachten abgegeben ist
Eis gibt auch sonst keine Rechtsbestimmung, welche als richtige
Grundlage einer Entscheidung unterlegt werden könnte oder einer Prü¬
fung standhält, die auf Grund der vorstehenden Erwägungen angestellt
wird.
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Psychiatrischer Verein za Berlin-
401
Es ist demnach völlig unzulässig, über die Frage der Aufnahme,
Behandlung und Entlassung eines großjährigen, nicht entmündigten,
wegen Gemeingefährlichkeit in eine öffentliche oder private Anstalt auf-
genommenen Geisteskranken die Zivilgerichte anzugehen, damit sie,
sei es auf Klage, sei es durch Erlaß einer einstweiligen Verfügung,
irgendeine Bestimmung treffen. Wenn gleichwohl ein solcher Beschluß
oder ein Urteil unzulässigerweise ergangen war, ja wenn er rechtskräftig
geworden wäre, so würde doch noch in der Zwangsvollstreckungsinstanz
die Unzulässigkeit des Rechtsweges geltend zu machen sein, es würde
jede Behörde den Beistand zur Vollstreckung inhibieren bzw. verwei¬
gern müssen. Da die Zivilgerichte für die Entscheidung der Kernfrage
unzuständig sind, so sind sie auch für die Entscheidung der Nebenfragen,
wie Zulassung von Personen zum mündlichen oder schriftlichen Verkehr,
unzuständig.
Wenn in den vorstehenden Ausführungen von gemeingefährlicher
Geisteskrankheit gesprochen wird, so soll unter diesem abgekürzten Be¬
griff dasselbe verstanden werden, was die gemeinsame Anweisung der
Minister vom 26. März 1901 im § 12 mit den Worten ausdrückt, indem
sie sagt, „ein Kranker, welcher als für sich oder für andere gefährlich oder
als für die öffentliche Ordnung störend anzusehen ist“. Es sei dies hervor¬
gehoben, weil auch der Begriff der Gemeingefährlichkeit sich erst langsam
in historischer Entwickelung herausgebildet hat. Ursprünglich war darunter
nur verstanden der Zustand de-jenigen Kranken, der etwa wie der Amok¬
läufer auf offener Straße mit einem Messer umherläuft und die Leute
anfällt. Die feinere wissenschaftliche Unterscheidung ist mit dem Fort¬
schritt der wissenschaftlichen Bildung dazu übergegangen, als gemein¬
gefährlichen Zustand nicht nur zu erachten eine derartige, offensichtlich
zutage tretende Gefahr, sondern auch die oft viel größere Gefahr, welche
in anderer Weise Unsicherheit hervorruft. In Zeiten, in denen die Brow¬
ningpistole in der Form eines Taschenfeuerzeuges jederzeit mitgeführt
werden kann und durch krankhaften Drang eines Gehirns mit einer ein¬
zelnen Patrone mehrere hintereinander stehende Personen tödlich durch¬
bohrt werden können, ist auch die Voraussetzung der Gemeingefähr¬
lichkeit in psychiatrischer Hinsicht nicht nach den Erfahrungen früherer
Zeiten, sondern nach den furchtbaren Wirkungen der jetzigen gesteigerten
Technik zu beurteilen. Eis ist weiter anerkannten Rechtes, daß eine Ge-
meingefährlichkeit auch in der eigenen Gefährdung liegen kann. Wer
selbst jeden Augenblick bereit ist, aus irgendwelchem unbedeutenden
Anlaß infolge geistiger Erkrankung sich zum Fenster hinauszustürzen,
nimmt auch nicht Rücksicht darauf, daß unten andere Vorbeigehen, die
er tödlich treffen kann. Es füllt deshalb auch die Gefährdung der
eigenen Person durch Selbstmordgedanken und dergleichen den Tat¬
bestand der gemeingefährlichen Erkrankung aus. Genau ebenso bildet die
Störung der öffentlichen Ordnung eine allgemeine Gefahr, indem die
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Anerkennung und Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung auch im
sozialen Leben der einzelnen erforderlich ist, um überhaupt ein geordnetes
Staatswesen aufrecht zu erhalten. Es entspricht deshalb die erläuternde
Umschreibung, wie sie vorstehend im § 12 gegeben ist, den wissenschaft¬
lich technischen Anforderungen des Tatbestandmerkmals der Gemein -
gefährlichkeit.
Wenn in vorstehenden Ausführungen eine große Selbständigkeit
den Dispositionen eines Anstaltleiters vindiziert ist, so wird deren recht¬
liche Bedeutung in keiner Weise dadurch beeinträchtigt, daß es Rechts¬
mittel gegen diese Dispositionen gibt, für welche übergeordnete Behörden
zuständig sind. Es ist zum Beispiel in dem § 10 erwähnt, daß, wenn ein
volljähriger, nicht entmündigter Kranker seine Entlassung beantragt,
der Anstaltvorstand diesen Antrag der Staatsanwaltschaft weiterzugeben
hat, die nunmehr über dieses Rechtsmittel Entscheidung zu treffen hat.
Die Stellung dieser übergeordneten Behörde gegenüber der vorhergehenden
Entscheidung des Anstaltleiters ist durchaus kein Indiz dafür, daß der
Anstaltleiter nicht selbst entscheidende Dispositionen getroffen hat, denn
in allen Fällen, in welchen gegen eine Entscheidung Appellation mög¬
lich ist, geht die Entscheidung der oberen Behörde der Vorentscheidung
vor und hebt diese auf; diese besteht aber gerade bis zu dem Augenblick
der Aufhebung, und eine zeitliche Beendigung hat nichts mit der quali¬
tativen Kraft zu tun. Ebenso beruht auf demselben Gedanken die Vor¬
schrift der §§ 4, 11 und 12 der Anweisung.
Zutreffend ist die Ausführung, daß es nach den gegenwärtigen gesetz¬
lichen Grundlagen nicht möglich ist, einen Kranken, der nur zu H e i 1 u n gs-
zwecken der Anstaltpflege bedürftig ist, wider seinen Willen dieser Heilung
zu unterwerfen. Es könnte von einer künftigen Gesetzgebung gefordert
werden, daß vielleicht auch eine solche Bestimmung Gesetz würde. Eine
Notwendigkeit hierfür ist nicht anzuerkennen, denn es ist auch sonst
bisher in dem geltenden Rechte nirgends vorgesehen, daß jemand, dessen
Heilung für ihn selbst wünschenswert ist, wider seinen Willen zur Heilung
gezwungen werden kann. Soweit eine Ausnahme für Trinker, für Mit¬
glieder von Krankenkassen und dergleichen getroffen ist, ist die Bestim¬
mung deshalb aufgehoben, weil im Interesse der Allgemeinheit die Heilung
des betreffenden Individuums erforderlich erscheint, nicht weil im Inter¬
esse des Individuums selbst es wünschenswert ist. Von diesem Gesichts¬
punkte aus aber wird, wenn eine Geisteskrankheit die Allgemeinheit ge¬
fährdet, voraussichtlich auch schon auf Grund der gegenwärtigen Bestim¬
mungen die Internierung gefordert werden können, wobei dann zugleich
auch der Heilungsprozeß mit berücksichtigt werden kann.
Wenn sonach die Notwendigkeit einer neuen gesetzlichen Regelung
nicht anerkannt werden kann, wenn insbesondere entschieden bestritten
werden muß, daß in diesen Dingen die Gesetzgebung irgend eine Lücke
enthalte, so soll doch auf der anderen Seite nicht geleugnet werden, daß
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Psychiatrischer Verein zu Berlin.
403
aus Zweckmäßigkeitgründen es dringend wünschenswert wäre, wenn der
gegenwärtige Rechtszustand durch ein einheitliches neues Gesetz kodi¬
fiziert würde. Es würde sich dabei nicht um irgendwelche Einführung
neuer Bestimmungen handeln, sondern um eine klare Wiederholung der
in verschiedenen gesetzgeberischen Teilen bisher bereits in Preußen gel¬
tenden Anordnungen, und es würde auch nichts im Wege stehen, dieses
neue Gesetz als Reichsgesetz zu erlassen. Es würde in dieser Beziehung
eine einheitliche Regelung sogar einen großen Vorzug bedeuten. Es ist
bekannt, daß in einzelnen Fällen die erheblichsten Schwierigkeiten dadurch
entstanden sind, daß die Anordnungen in den einzelnen Staaten ver¬
schiedenartig getroffen sind. Die Übernahme der preußischen Bestimmun¬
gen erscheint hierbei durchaus wünschenswert, weil sie dem Leben, der
Praxis und dem Rechte durchaus gerecht werden. Solch neues Reichsge¬
setz würde im Abschnitt 1 den BegrifT der anstaltbedürftigen Geistes¬
krankheit entwickeln und die Legitimation des Bundesrats bzw. der
Staatsbehörde zum Erlaß der erforderlichen Vorschriften bei plötzlich
ausbrechender Krankheit betreffend die Aufnahme, Verwahrung und
Entlassung vorschreiben. Im Abschnitt 2 würden diejenigen Änderungen
enthalten sein, welche für minderjährige, unter Vormundschaft gestellte
Entmündigte, freiwillig Aufnahmesuchende gelten sollen, und im Ab¬
schnitt 3 würden die Garantien für die Aufnahme im Falle des Ab¬
schnittes 1 und die Rechtsmittel gegen die Anordnung betreffend die
Aufnahme, Verwahrung und Entlassung enthalten sein.
Wenn schließlich eine sachliche Probe darauf gemacht werden soll,
ob die vorstehend gefundenen Rechtsgrundsätze hinsichtlich der öffent¬
lich rechtlichen Qualität der hier in Frage kommenden Dispositionen
richtig ist, indem gefragt w T ird, ob dieselben den Anforderungen der medi¬
zinischen Wissenschaft entsprechen, so dürfte diese Frage zu bejahen sein,
da auch diese Wissenschaft zu den gleichen Resultaten führt. Für den
Mediziner ist es undenkbar, daß ein Amtsgericht bestimmen soll, ob der
Zustand eines Kranken so ist, daß er in eine Anstalt plötzlich aufgenom-
men oder aus ihr entlassen werden soll, oder daß er diesen oder jenen
Besuch empfangen dürfe. Nur der Mediziner kann hier entscheiden, für
etwaige Beschwerden hinsichtlich einer Entscheidung ist nur eine be¬
hördliche Rechtsmittelinstanz denkbar. Eis bedeutet eine Utopie, daß es
im praktischen Leben vorgekommen ist, daß ein Amtsgericht einem An¬
staltleiter aufgibt, bei Vermeidung einer fiskalischen Strafe von 300 Mark
für jeden Fall der Zuwiderhandlung einen Mann auf seinen Antrag zu ent¬
lassen, nachdem in den Akten sich das Attest angesehener Ärzte und
des Kreisarztes befindet, daß dieser Mann geisteskrank sei. Jede andere
Betrachtung der Sache führt aber zu solchen unhaltbaren Konsequenzen.
Die Rechtserörterungen, wie sie vorstehend gegeben sind, weisen auf die
Unmöglichkeit solchen Erkenntnisses mit zwingender Sicherheit hin.
Von dem Standpunkt der medizinischen Wissenschaft sind deshalb
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
in völliger Übereinstimmung mit juristischer Rechtsanwendung die
vorstehender Ergebnisse als richtig zu erachten.
Diskussion. — A. Leppmann- Berlin: Der Vorredner hat uns
bewiesen, daß die Unterbringung gemeingefährlicher Geistes,
kranker, gleichviel ob dieselbe durch Behörden oder durch Angehörige,
ob in öffentlichen oder Privatanstalten stattfindet, auf gesetzlicher Grund¬
lage steht. Das gleiche gilt aber nicht von den ungefährlichen,
welche um ihrer selbst willen, namentlich zu Heilzwecken, oder um nicht
zu verwahrlosen oder ausgebeutet zu werden, oder um durch Auffällig¬
keiten sich nicht zu kompromittieren, ihre Zukunft nicht zu gefährden,
in Anstalten kommen. Für sie fehlt der gesetzliche Boden, man müßte
denn den Begriff der Gemeingefährlichkeit so dehnen, wie er‘s nicht
verdient, indem man dem Staat, der die Pflicht hat, seine Bürger vor
Schaden zu bewahren, auch diesen Pflichtenkreis, die Wahrung aller
Lebensinteressen des Erkrankten als eines Staatsbürgers, zuweist.
Klarer und sicherer wäre es, diese Lücke durch ein Gesetz auszu¬
füllen, welches uns namentlich gegen solche Überraschungen schützt,
wie wir sie jüngst erfahren haben, und gegen welche wir im Interesse
unserer Kranken und unseres Standes raschen und sicheren Schutz haben
müssen.
Der Grundzug des Gesetzes müßte dahin gehen: 1. für die Überwei¬
sung und Festhaltung in der Anstalt ist nicht die Gemeingefähriichkeit
allein, nein, auch das Interesse des Kranken maßgeblich.
2. Der Anstaltaufenthalt bedingt neben der Beschränkung der
Bewegungsfreiheit im allgemeinen eine Beschränkung der Besuche und
des Briefverkehrs.
3. Gegen alle den Anstaltaufenthalt betreffenden Anordnungen ist
ein Widerspruch nur durch Beschwerde bei der zuständigen Regierung
oder durch ein Verwaltungsstreitverfahren möglich.
Dabei können die bestehenden Rechte des Vormundschafts- und
Entmündigungsrichters unberührt bleiben.
EmanueZ-Charlottenburg: Ich bin nicht der Ansicht des Herrn
Dr. Werthauer, daß nach den bestehenden gesetzlichen Bestimmungen
die Machtbefugnis des leitenden Arztes ohne weiteres ausreicht, um einen
Kranken, den er als für sich oder für andere gefährlich erachtet, gegen den
Willen des gesetzlichen Vertreters des Kranken in der Anstalt zurück¬
zuhalten. Für diesen Fall umgrenzt nämlich § 12 der Ministerialverord-
nung vom 26. März 1901 die Befugnis des Anstaltleiters in ganz bestimm¬
ter Weise: wird nämlich die Entlassung eines solchen Kranken gefordert
so hat lediglich die Ortspolizei des künftigen Aufenthaltsortes die Ent¬
scheidung über die Entlassung des Kranken zu treffen.
Ziehen sieht die Hauptschwierigkeit darin, daß ein gemeingefähr¬
licher und deshalb anstaltbedürftiger und auch in einer geschlossenen
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Psychiatrischer Verein zu Berlin.
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Anstalt internierter Patient noch dispositionsfähig sein kann ; dann
fehlt eine sichere Richtschnur für den Anstaltleiter, wie weit er befugt
ist, die Rechtshandlungen des Patienten zu beschränken.
Dr. Werthauer erkennt eine gewisse Lücke an, sofern es sich
uro nicht gemeingefährliche Geiteskranke handelt. Es werde aber der
Begriff der Gemeingefährlichkeit meist weiter gefaßt; es werde auch ein
Kranker, der sich selbst gefährde, zu der bezeichneten Kategorie ge¬
rechnet, so daß nur wenig Ausnahmen anzuerkennen seien. Wird durch
Irrtum des Zivilgerichts in einem bestimmten Fall die Entmündigung
aufgehoben, so kommt das aufgestellte Prinzip zu Recht, daß ein gemein¬
gefährlicher Geisteskranker nicht entlassen werden darf. In bezug auf
die Dispositionsfähigkeit sei darauf hinzuweisen, daß eine Geistes¬
krankheit stets auf das geschäftliche Leben einwirke. So habe in einem
bestimmten Falle ein an Eifersuchtwahn erkrankter Ehemann zwar, so¬
weit sich ermitteln ließ, seine Geschäfte tadellos geführt, aber große Sum¬
men Geldes für Detektivs ausgegeben, um die vermeintliche Untreue der
Ehefrau zu ermitteln.
EmanuW-Charlottenburg: Wenn der Anstaltleiter das Recht hätte,
einen gemeingefährlichen Geisteskranken zurückzuhalten, dann brauchte
er sich nicht nach den Verwandten oder Vormund zu richten.
Weiter-Westend betont im Schlußwort, daß unberechtigten An¬
griffen gegen die .Irrenanstalten energisch entgegengetreten werden müsse.
Eine gesetzliche Regelung der ganzen Materie sei zu wünschen.
Herr Ziehen demonstriert Präparate eines Falles, in dem zum ersten¬
mal während des Lebens die Wahrscheinlichkeitsdiagnose auf die zuerst
von Dejerine und Thomas beschriebene „Atrophie olivo-ponto-
c6r6belleuse“ bzw. eine Ubergangsform zwischen ihr und der
Friedreich-Marie sehen Krankheit gestellt wurde (Nouv. Iconogr. de la
Salp. 1900, S. 330; vergl. auch Marie u. Guillain, Rev. neurol. 1903).
Es handelte sich um eine 33jährige Tischlerfrau. Der Vater soll an Krämpfen
gelitten haben, die Mutter früher geisteskrank gewesen sein. Ein Bruder
soll ähnlich krank sein wie die Pat. selbst, so namentlich auch beim Gehen
taumeln. Sein Arzt hat uns mitgeteilt, daß er die Diagnose auf Tabes
gestellt hat, daß Rombergsches Schwanken, lanzinierende Schmerzen in
den Beinen und Ataxie bestehen, und daß Lues bestritten wird. Eine
Schwester soll früher einmal irre gesprochen haben, eine andere Schwester
ist an Schwindsucht gestorben.
Entwicklung in der Kindheit normal. Menstruation stets unregel¬
mäßig, blieb manchmal 3 Monate aus. Heirat mit 23 Jahren. Keine
Aborte, 5 normale Geburten. 1 Kind ist an Brechdurchfall gestorben,
die übrigen sind gesund. Syphilis wird durchaus bestritten.
Mit 27 Jahren plötzlich Ausgleiten in der Stube (infolge Taumelns?).
Sie schlug mit dem Kopf auf den Herd. Keine Kommotionssymptome.
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
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Spater noch wiederholt Hinfallen (stets ohne Kommotion). Alkoholismus
usw. liegt nicht vor.
Schon vor 6 Jahren wurde die Pat. auf der Straße darauf aufmerk¬
sam gemacht, sie taumele, sie „gehe wie eine Betrunkene“. Als sie ihrem
Manne dies mitteilte, erwiderte er, „sie gehe schon lange so“. Bei starkem
Wind konnte sie daher auch nicht gegen den Wind angehen. Ganz all¬
mählich nahm das Taumeln zu. Mit 23 Jahren oft plötzlich ziehende
(nicht lanzinierende), sehr heftige Schmerzen im linken Bein, die in An¬
fällen von wenigen Minuten Dauer auftraten. Seit 6 Wochen statt deren
ganz analoge anfallweise Schmerzen im linken Arm (und zwar tief in
den Knochen). Wegen der letzteren Aufnahme in die Nervenklinik
der Charitd am 7. Juli 1911. Seit einigen Wochen auch Sprach Verschlech¬
terung. Beim Urinlassen muß Pat. gelegentlich pressen, beim Husten
geht gelegentlich Urin unwillkürlich ab.
Untersuchungsbefund (zusammenfassend für die ganze
Zeit der Beobachtung und unter Weglassung vieler normaler und unwe¬
sentlicher Befunde): Herz und Lungen normal. Keine Anämie. Leichte
Skoliose. Urin normal. Wassermannsche Blutuntersuchung negativ.
Augenhintergrund normal.
Pupillen mittelweit, gleich; alle Reaktionen prompt, Augenbewe¬
gungen ausgiebig (außer nach oben), aber in den Endstellungen verbleiben
die Bulbi nicht, sondern gehen unter groben Nystagmus bewegungen
bald wieder zurück.
In der Ruhe fortwährendes, ziemlich schnellschlägiges, rhythmisches
Kopfschütteln (meist im Sinne eines Verneinungsschütteins). Fort¬
gesetzt auch unwillkürliche Bewegungen in beiden Ar¬
men, namentlich im linken; es handelt sich dabei vorzugweise um
Bewegungen und Streckungen des Vorderarms, oft aber gleichen die
Bewegungen bezüglich ihrer Mannigfaltigkeit und Zusammengesetzt¬
heit auch in hohem Maß choreatischen. Seltener erinnern sie an einen
kortikalen klonischen Krampf.
Keine Trigeminusstörungen.
Flüstersprache durch den verfügbaren Rtum gehört. Rinne rechts
negativ, Weber (c“) nach links lateralisiert.
Gaumen- und Fazialisinnervationen symmetrisch; später starkes
Zurückbleiben der rechten Gesichtshälfte bei Stirnrunzeln und Zähne¬
fletschen. Leichte Zungenabweichung nach rechts, später nach links.
Sprache langsam, skandierend.
Trizepsreflex rechts erhalten, links wegen des starken Schütteins
nicht sicher zu prüfen.
Dynamometer, r. max. 55, links 40 (rechtshändig).
In den gespreizten Fingern nur links feinschlägiges Zittern (neben
den oben erwähnten groben unwillkürlichen Bewegungen in den pro¬
ximalen Gelenken).
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Psychiatrischer Verein za Berlin.
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Fingernasenversuch: beiderseits, namentlich links schwere
Ataxie. Schreiben unmöglich: „der Griffel fliegt immer weg“.
Pronatorisches und supinatorisches Handschütteln (Diadocho-
k i n e s e) beiderseits sehr unbeholfen, namentlich links.
Antagonistenhemmung bei dem Ellenbogenversuch beiderseits
prompt.
Bauchdeckenreflex beiderseits schwach.
Aufrichten aus der Rückenlage ohne Hilfe der Arme gelingt nicht.
Leichte Hypotonie der Beine.
Knie - und Achillessehnenphänomene nicht er¬
hältlich.
Fußbildung normal.
Plantarreflex neutral.
Mendelscher und Oppenheimscher Reflex normal.
Grobe mot. Kraft der Beine erhalten.
Spiel der Zehenbewegungen unbeholfen.
Bei Steh- und Gehversuchen starkes Taumeln,
das teils durch ataktische Beinbewegungen (spinale Ataxie), teils durch
schwere, von Beinbewegungen unabhängige Rumpfschwankungen (zere¬
bellare Ataxie) bedingt ist. Dabei auch Zunahme des Kopfzitterns.
Kniefersenversuch: beiderseits schwere Ataxie.
Unwillkürliche Bewegungen treten nur hin und wieder auch im
linken Bein auf.
Sensibilität :
Passive Großzehenbewegungen werden zuweilen falsch angegeben.
Stereognose im allgemeinen erhalten, doch werden Geldstücke rechts
und links oft verwechselt.
Prüfung des Raumsinns nach der vom Vortr. kürzlich angegebenen
Methode (Ztschr. f. päd. Psychol. Bd. 1, S. 216) ergibt rechts und links
nur leichte Störungen.
Im übrigen keine sicheren Sensibilitätstörungen.
Lumbalpunktion : mäßiger Druck, wasserhelle Flüssig¬
keit, Phase 1: null bis Spur Opaleszenz, Phase 2: leichte Trübung; Lym¬
phozytose 0, Wasserm. Reaktion negativ (0,2 bis 1,0 Extrakt).
Intelligenz intakt. Stimmung sehr labil.
Der Verlauf änderte an dem Krankheitbild kaum etwas.
Erwähnt sei nur noch, daß später im linken Arm der statische Tremor
den lokomotorischen überwog und daß beim Spreizen der Finger regel¬
mäßig der 4. und 5., zuweilen auch der 3. Finger unter dem Niveau des
1. und 2. Fingers zurückblieb.
Am 21. Februar 1912 traten klonische Krampfanfälle auf, zunächst
im linken Arm und in der linken Schulter. Die folgenden Anfälle be¬
gannen regelmäßig mit Drehung des Kopfes und des Rumpfes nach links.
Keine konjugierte Deviation der Augen. Auf Anruf keine Reaktion, auf
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Stiche Schmerzverziehen des Gesichts und Abwehrbewegungen. Bei den
späteren Anfällen ist auch der rechte Arm beteiligt. Im ganzen Ober
20 Anfälle. Einnässen, Zungenbiß. Links ausgesprochenes Babinskisches
Phänomen (22. Februar). Am folgenden Tag, 23. Februar, morgens 38,5,
abends 39, 3. Kein Anfall. Fortgesetzt Tremor und Klonus im linken
Arm. Der Arzt wird morgens falsch bezeichnet. Keine Schluckstönwg.
Mehrmals Einnässen. Abends ein allgemeiner klonischer Krampf¬
anfall mit Einnässen.
24. II. Temp. Morg. Rectum 40,1°, linke Achsel 39,8, rechte
Achsel 38,9; Ab. „ 39,8, „ „ 40,2, „
„ 38,6; 26. II. „ 41,0, „ „ 40,8,
„ 39,7 Vorm. Tod.
Sektionsbefund (pathol. Institut) makroskopisch: Graue
Verfärbung des GolLschen Strangs im ganzen Rückenmark, mäßiges
ödem der weichen Rückenmarkshaut. Gallertiges Aussehen der Oliven.
Die mikroskopische Untersuchung ist noch nicht abgeschlossen, der
Vortr. demonstriert vorläufig nur einen Schnitt durch die Med. oblongata
und zum Vergleich Schnitte eines Falles der Marie sehen Krankheit und
weist — vorbehaltlich einer weiteren Untersuchung —
auf die außerordentliche Ähnlichkeit des Bildes mit dem von Dejerine
und Thomas veröffentlichten hin.
Die Diagnose schwankte im wesentlichen zwischen multipler Skle¬
rose, Tabes, Friedreichscher Krankheit und Marie scher Krankheit (der
sog. hereditären Kleinhirnataxie).
Gegen multiple Sklerose sprach die Intaktheit des Augen¬
hintergrundes, das Fehlen eigentlicher Augenmuskellähmungen und das
Fehlen aller Seitenstrangsymptome (mit Ausnahme des Auftretens des
Babinskischen Phänomens im Anschluß an die Krampfanfälle). Ein¬
zeln genommen, ist natürlich keines dieser Momente irgendwie ausreichend,
um eine multiple Sklerose auszuschließen oder auch nur unwahrscheinlich
zu machen. In ihrer Gesamtheit mußten sie erhebliche Zweifel an der
Diagnose einer multiplen Sklerose wachrufen.
Äußerst unwahrscheinlich war eine Tabes, wie sie der Arzt bei
dem Bruder diagnostiziert hat. Der negative Ausfall der Wassermannschen
Reaktion im Blut und in der Zerebrospinalflüssigkeit (ohne vorausge¬
gangene spezifische Kur), das Fehlen der Lymphozytose, der so gut wie
negative Ausfall der 1. Phase der Nonne-Apeltschen Reaktion, die aus¬
geprägt zerebellare Komponente der Gehstörung sprechen mit Bestimmt¬
heit gegen eine tabische Erkrankung.
Demgegenüber sprachen sehr viele Momente zugunsten einer Fried¬
reich sehen oder einer Marie sehen Krankheit. Vor allem
schien schon die Erkrankung des Bruders, die wohl nicht ohne Bedenken
mit dem Arzt als Tabes aufgefaßt werden kann, auf eine solche oft fami-
lial auftretende Krankheit hinzudeuten. Dazu kam die gemischte spinal-
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sehe Varietät wiesen in der Tat auch einige Symptome hin, wahrend
die starke Ataxie der Arm- und Beinbewegungen (auch unabhängig vom
Gehen und Stehen) den Fall von dem Dejerine-Thomasschen unterscheidet
und auf eine sehr erhebliche Beteiligung der Hinterstränge im Sinne der
Friedreichschen Krankheit hinwies.
Die Sektion hat in der Tat bestätigt, daß die Hinterstränge schwer
erkrankt sind, und daß außerdem wohl eine Sklerose der Olivengegend
vorliegt. Das Kleinhirn war makroskopisch nicht verkleinert. Die mikro¬
skopische Untersuchung wird nachweisen müssen, wie weit auch das Klein¬
hirn im Sinne der Jlfarieschen Varietät beteiligt ist, ferner inwieweit der
Prozeß auch das Brückensystem und die Seitenstränge des Rücken¬
marks in Mitleidenschaft zieht. Die Analen Krampfanfälle fordern auch
zu einer Untersuchung der motorischen Region auf, doch ist zu bedenken,
daß nach manchen neueren Beobachtungen (Weber, eigenen des Vortr.)
auch vom Kleinhirn aus ausnahmweise Jackson -ähnliche Anfälle aus¬
gelöst werden können. Endlich bedarf auch die histologische Natur des
Prozesses (systematische abiotrophische Veränderungen im Sinne von
Gotvers oder primäre neurogliöse Sklerose) der Aufklärung durch die weitere
Untersuchung. Unter den psychischen Symptomen war nur die eigen¬
tümliche Stimmungslabilität der Pat. sehr bemerkenswert.
Kutzinski -Berlin stellt eine 26jährige Kranke vor, deren erste Geburt
und jetzige Schwangerschaft normal verlief, bei der keine Belastung,
keine hysterische oder epileptische Disposition nachweisbar ist, und bei
der ein im Verlauf der EröfTnungsperiode der Geburt aufgetretener mehr¬
stündiger Dämmerzustand bestanden hat. Die Pat. war motorisch er¬
regt, dabei ohne sprachliche Äußerungen; der Gesichtsausdruck war ge¬
spannt, nicht ausgesprochen ängstlich. Meist hielt sie die Augen geschlos¬
sen. Auf Anrufe oder Nadelstiche reagierte sie mit Abwehr- oder Zornbe¬
wegungen. Auch ihre sonstige motorische Unruhe war durch derartige
Bewegungen charakterisiert. Über Halluzinationen war nichts feslzusteilen,
nur Ael es auf, daß sie oft deutende Bewegungen nach der Wand und
der Decke hin ausführte. Eine Viertelstunde nach der Geburt sprach sie
spontan. Dabei zeigte sie sich räumlich unorientiert, verkannte die Um¬
gebung. Nach einer weiteren halben Stunde zeigte sie sich bereits orien¬
tiert, hat aber Amnesie für die Geburt und für ihr Verhalten. Die Er¬
innerungslücke erstreckt sich auch noch einige Stunden weiter zurück.
Das letzte, was sie genau wissen will, ist, daß ihr Abendbrot gereicht
wurde, daß sie um 7 Uhr des Abends Wasser verlangte. Für die Zeit von
7—12 y 4 bleibt auch bei einer erneuten Exploration, die am übernächsten
Tage nach der Geburt stattfand, die Ausdehnung der Amnesie unverändert.
Für die Beurteilung des Zustandes ist es wichtig, daß deutliche psychische
Störungen zu einer Zeit bestanden, in der die Blutungen noch sehr un¬
erheblich waren. Daß Erschöpfungen, Fieber keine Rolle spielten, sei
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noch besonders betont, auch Medikamente waren nicht verabfolgt. Ebenso
sei auf die Tatsache hingewiesen, daß die Aflekterregungen, die bei heim¬
lich Gebärenden, namentlich Erstgebärenden so bedeutsam sind, wie
Sorge um die Zukunft, Scham über die verlorene Geschlechtsehre, Schrecken
bei der Geburt, Reue wegen des Fehltritts bei unserer Kranken nicht in
Frage kommen. Es handelte sich um eine Zweitgebärende. Die Ange¬
hörigen waren über ihren Zustand orientiert. Sie brauchte nichts zu ver¬
bergen, sie hatte keine Nahrungsorgen.
Bei der Spärlichkeit derartiger einwandfrei beobachteten Fälle er¬
scheint die Mitteilung gerechtfertigt. Daß es sich um eine Ohnmacht nicht
gehandelt hat, zeigt das Fehlen der typischen Prodomalsymptome einer
solchen und die retrograde- Amnesie. Die Ätiologie des Zustandes
ist schwierig: Erschöpfung, starker Blutverlust und ähnliches lag nicht
vor. Hysterische Stigmata fehlten. Auch sonst bot der körperliche Befund
keine Besonderheiten. Eine psychische Erklärung ist vielleicht möglich,
wenn man berücksichtigt, daß es sich um ein von jeher gegen Schmerz
empfindliches Individuum handelte, und daß die Schmerzwellen bei der
Pat., deren Geburt nur^ Stunden dauerte, sehr schnell aufeinander folgten.
Es scheint also ein Schmerzdämmerzustand bestanden zu haben, (aus¬
führliche Veröffentlichung folgt). Hans Laehr.
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Nekrolog Jastrowitz. — Am 25. Januar d. J. wurde
der Geheime Sanitätsrat Dr. Moritz Jastrowitz unerwartet aus segens¬
reicher Tätigkeit abgerufen. Nur in engem Rahmen sei es mir verstattet,
seinen äußeren Lebensgang zu skizzieren, wenn ich mir auch wohl bewußt
bin, selbst mit diesem kurzen Gedenken weder dem Wunsche, noch dem
schlichten Sinne des Verstorbenen zu entprechen.
Jastrowitz wurde im Dezember 1840 zu Löbau geboren. Unbefrie¬
digt vom kaufmännischen Berufe, für den er bestimmt war, studierte
er nach absolviertem Abiturium mit gereiftem Ernste Medizin. Nach
einem mit Auszeichnung abgelegten Staatsexamen trat er als Assistent
in die Charitö ein und war dort zunächst in der inneren Abteilung bei
Traube und sodann in der Psychiatrischen und Nervenklinik eine Zeit¬
lang mit Westphal zusammen unter Griesinger tätig. Von diesem empfing
er die wertvollsten Anregungen für sein späteres Sondergebiet. Da ihm
eine staatliche Anstellung nicht vergönnt war, wurde er Ausgang der 70er
Jahre leitender Arzt an der Maison de Santd in Schöneberg, um schlie߬
lich im Jahre 1892 dem Direktorium der Privat-Heil- und Pflegeanstalt
Berolinum-Lankwitz beizutreten, dem er bis zu seinem Tode angehörte.
Wenn er auch auf psychiatrisch-neurologischem Gebiete seine volle
Befriedigung fand, blieb er doch mit allen übrigen Zweigen der Heilkunde
in dauerndem Kontakt, namentlich widmete er sein Interesse den inneren
Krankheiten. Jahrzehnte hindurch war er Schriftführer des Vereins für
innere Medizin und folgte ihren Verhandlungen stets mit gleicher Regsam¬
keit.
Sein besonderes Augenmerk richtete er von jeher auf die patholo¬
gischen Ausscheidungen des Harns. Er übte bis zur letzten Stunde eine
umfangreiche, zumeist konsultative Praxis, wie auch eine hervorragende
gutachtliche Tätigkeit aus. Seit geraumer Zeit schon litt er an gesundheit¬
lichen Störungen, die er mit stoischer Ruhe ertrug, ohne in seiner Be¬
rufsfreudigkeit nachzulassen. So überraschte ihn auch der Tod mitten
in der Arbeit.
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413
Jastrowitz war ein Mensch von seltenen Geistesgaben und Charakter¬
eigenschaften. Überaus sprachgewandt, belesen auch in der ausländi¬
schen Literatur, von leichter Auffassung und unterstützt von einem
ungewöhnlichen Gedächtnis, offenbarte er eine scharfe Beobachtungs¬
gabe. Naturwissenschaftlich auf das beste vorgebildet und ausgerüstet
mit reichen Kenntnissen in allen medizinischen Sonderfächern, fand er
in seinen Kundgebungen allenthalben Zustimmung. Dabei war er von
bewundernswerter Bescheidenheit und persönlicher Anspruchlosigkeit;
er blieb stets im Hintergründe und verzichtete gern für sich auf jede An¬
erkennung.
Von lauterer und wahrer Gesinnung, wohlwollend und milde in der
Beurteilung der Schwächen anderer, konnte er selbst als ein Vorbild
strengster Pflichterfüllung und hingebender Hilfsbereitschaft gelten.
Der unzähligen Kranken, die ihn vertrauensvoll suchten, nahm er sich
mit wahrer Herzensgüte an.
Bestimmt im Urteil, suchte er aus dem großen Schatze seiner Er¬
fahrungen willig zu raten und zu helfen. Er war vielseitig und unermüd¬
lich tätig, die Stunden der Erholung nur zu wissenschaftlichen For¬
schungen nutzend. Abgesehen von zahllosen längeren oder kürzeren
Bemerkungen in den Diskussionen der Sitzungen, verdanken wir ihm eine
Keihe von Veröffentlichungen:
1865 De fistula vesico-vaginali, Diss. Berlin.
1868 Multiple Erweichungsherde vorwiegend in der Gehirnrinde. Arch.
f. Psych. I, 478.
1870 Über Encephalitis der Neugeborenen. Arch. f. Psych. II, 239. —
Über die therapeutischen Wirkungen des Chloralhydrats. Berl.
klin. Wchnschr. S. 414 u. 425. — Studien üb. d. Encephalitis u.
Myelitis des ersten Kindesalters. Arch. f. Psych. II. u. III.
1872 Entgegnungauf Arndt, Histologie des Gehirns. Arch.f.Psych. III.S.483.
1874 Fall von Geistesstörung nach Kopfverletzung. Arch. f. Psych. IV,
S. 257.
1875 Beitrag zur Pathologie der Hemiplegieen. Berl. klin. Wchschr.
S. 428. — Historische Notiz über Aphasie. Berl. klin. Wchschr.
S. 323.
1876 Über die Bedeutung des Großhirns für die Sinneswahrnehmung.
Arch. f. Psych. VI, 616. — Versuche über das Ausreichen einer
Hemisphäre für die Motilität, sensorielle Tätigkeit und Intelligenz
des ganzen Körpers. Arch. f. Psych. VI, S. 612, u. VII, S. 638.
1877 Tumor im I. Hinterlappen, Aphasie, rechtseitige Hemianopsie.
Zentralbl. f. prakt. Augenheilkunde. — Der gegenwärtige Stand¬
punkt der staatlichen Oberaufsicht über die Irren- und Pflege¬
anstalten in Preußen und Vorschläge zur Verbesserung derselben.
Vierteljahrschr. f. ger. Med. u. öffentl. Sanitätswesen. Jan. S. 93
u. April S. 327.
Mteehrift für Psychiatrie. LXIX. 3 . 28
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414
Kleinere Mitteilungen.
1879 Bemerkungen zur Therapie der Angstzustände. Allg. Ztschr. f.
Psych. Bd. 36, S. 602.
1880 Über den Tod durch Verbrennen vom gerichtsärztlichen Stand¬
punkte aus. Vierteljahrschr. f. ger. Med. Bd. 32, S. 1.
1882 Über die Beurteilung des Schwachsinns und Blödsinns im allge¬
meinen u. in foro insbesondere. Allg. Ztschr. I. Psych. Bd. 39, S. 271.
— Disk, zum Vortr. Jacusiels über Encephalitis interstit. Med. Ges.
8. Nov.
1883 Ein Fall von Thrombose der Pfortader aus luetischer Ursache.
Vortrag. Dtsche. med. Wchschr., Nr. 47 u. V. f. innere Med..
Okt. — Disk, zum Vortr. v. Virchow üb. Encephalitis cor gen., V. f.
inn. Med., Okt.
1884 Über einen Fall von Zwangsvorstellungen vor Gericht nebst
einigen Bemerkungen über Zwangsvorstellungen. Dtsche. med.
Wchschr. Nr. 31 u. 32. — Demonstr. einer Herzvergrößerung mit
großer Thrombose an d. Herzspitze. V. f. inn. Med., 15. Dez.
1885 Zerebraltumor am Fuße d. r. mittleren Stirnwindung. V. f. inn.
Med., 15. Juni.
1887 Über einen Fall von Lues universalis, insbesondere des Zentralnerven¬
systems. Dtsche. med. Wchschr. Nr. 15 u. V. f. inn. Med., 7. Febr.
— Einiges über das jetzige Provokationsverfahren. Allg. Ztschr.
f. Psych. Bd. 43, 134.
1888 Beiträge zur Lokalisation im Großhirn und über deren praktische
Verwertung. Dtsche. med. Wchschr. Nr. 5 (u. V. f. inn. Med 7. Nov.)
— Zur Kenntnis des jetzigen Entmündigungsverfahrens. Allg.
Ztschr. f. Psych. Bd. 44, S. 667.
1889 Über die Behandlung der Schlaflosigkeit. Ebenda Nr. 31
1892 Über den besonderen und praktischen Wert der gänzlich durchge-
führten Trommers chen Probe. Dtsche. med Wchschr. Nr. 7 u. 8.
— J. u. Salkowski, Über eine bisher noch nicht beobachtete Zucker -
art im Harn. Med. Centralbl. Nr. 19. — Über Influenza (Psychosen
danach) (Leyden und S. Guttmann). Wiesbaden, J. F. Bergmann.
— Über ein Verfahren zur Entfernung von Fremdkörpern aus dem
Verdauungskanal. Allg. Ztschr. f. Psych. Bd. 48, S. 532.
1895 Über die ministerielle Anweisung vom 20. September 1895, betr.
die Privatirrenanstalten. Ztschr. f. Psych. Bd. 52, S« 1182. — Über
Bitartrate of Lithion. V. f. inn. Med 1. JulL — Nachruf auf J. H.
Heymann, ibid., Okt.
1896 Die Röntgenschen Experimente mit Kathodenstrahlen und ihre
diagnostische Verwertung. Dtsche. med Wchschr. XXII 5.
1898 Zur Kenntnis und Behandlung der Neuralgia occipitalis. Dtsche.
med. Wchschr. Nr. 14.
1899 Akute rheumatische Chorea nebst Bemerkungen über die Natur
der choreatischen Bewegungen. Dtsche. med. Wchschr. S. 557. —
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415
Verschwinden der Ataxie bei Tabes. Allg. med. Zentralztg., Nov.
— Demonstration eines Falles v. Tabes dors. V. f. inn. Med., 30. Okt.
1900 Heilung und Nichtheilung der Syphilis. Medizin. Woche, S. 361.—
— Disk, zum Vortr. Bial üb. zwei Fälle v. Pentosurie. V. f. inn.
Med. 5. Febr. — Nachruf auf Pionski u. Fr. Rubinstein, ibid. 18. Juni.
1902 Disk, zum Vortr. F .Krause über Gehirnchirurgie, ibid. 24. März,
u. zum Vortr. Stadelmann üb. Späterkrankungen d. Gehirns nach
Schädeltraumen, ibid. 1. Dez.
1903 Einiges über das Physiologische und über die ärztliche Beurteilung
der außergewöhnlichen Handlungen im Liebesieben des Menschen.
Dtsche. med. Wchschr. Vereinsbeilage Nr. 33.
1904 Morphinismus. Deutsche Klinik VI. Abtlg. 2.
1905 Demonstration einiger Fälle von Dementia praecox. Neurolog.
Zentralblatt XXIV (Psych. Verein). — Eine Modifikation zur Ver¬
deutlichung der Gerhardtschen Eisenchloridprobe auf Azetessig-
säure im Harn. Berl. klin. Wchschr. Nr. 5. — Nachruf Wernicke,
v. Wegener, Croner , V. f. inn. Med. 19. Juni.
1906 Disk, zum Vortr. Bönniger über Pathologie d. Herzschlages. V. f.
inn. Med. 17. Dez.
1907 Disk, zum Vortr. von Goldseheider über die psychoreflektorischen
Krankheitsymptome. Dtsche. med. Wchschr. 905.
1911 Disk, zum Vortrage Gutzmann über Aphasie u. Anarthrie. V. f.
inn. Med. 1. Mai. — Disk, zum Vortr. Leppmann über irrenärztliche
Tagesfragen. Berl. Med. Ges. 8. Nov.
Jastrowitz wird nicht nur allen denen, die sein sympathisches Wesen
kennen zu lernen Gelegenheit hatten, unvergeßlich bleiben: er wird auch
dauernd einen ehrenvollen Platz, namentlich in der Geschichte der Psy¬
chiatrie, einnehmen. Fraenkel- Lankwitz.
Nekrolog Tauben. — Am 7. April 1912 starb plötzlich
Dr. Fr. Tauben, Oberarzt an der Provinzial-Heilanstalt zu Lauenburg
i. Po., im 37. Lebensjahre. Er hat sieb in der Lite/atur durch eine wert¬
volle Arbeit über die periodischen Psychosen (insbes. Ausgang und Sek¬
tionsbefund, Arch. f. Psychiatr. Bd. 47 S. 66) und durch seinen Danziger
Vortrag über periodische Indikanurie beim manisch-depr. Irresein (Allg.
Zisch, f. Psych. Bd. 66 S. 941) bekannt gemacht. Ehe er zur Psychiatrie
kam, hatte er umfassende philosophische Studien getrieben, besonders
über Kant. In der Anstalt machte er physiologisch-chemische Arbeiten,
für welche ihm ein besonderes Laboratorium eingerichtet worden war.
Im letzten Winter halte er sich in Berlin in StofTwechseluntersuchungen
ausgebildet. Nun hat der Tod alles vernichtet. Siemens.
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Über die Zulassung von Rechtsanwälten zu Be¬
suchen bei Pfleglingen der Heil- und Pflegean¬
stalten hat anläßlich eines strittigen Einzelfalles das Großh. badische
Ministerium der Justiz in Verbindung mit dem Großh. Ministerium des
Innern die in den folgenden Erlassen ausgedrückte Stellungnahme prä¬
zisiert :
Ministerium des Innern. — Wir übersenden im An¬
schlüsse Abschrift der von uns erhobenen Äußerung des Großh. Mini¬
steriums der Justiz, des Kultus und Unterrichts vom 24. März 1911
Nr. B 2675 zur Kenntnisnahme und mit dem Aufträge, künftig hiernach
zu verfahren. Dabei ist zu beachten, daß nur die wegen Geisteskrankheit
entmündigten Personen nach § 104 Ziff. 3 BGB. geschäftsunfähig sind,
während die wegen Geistesschwäche, Trunksucht oder Verschwendung
entmündigten Personen nach § 114 BGB. in der Geschäftsfähigkeit nur
beschränkt und zum Einspruch und zur Klage nach dem Irrenfürsorge-
gesetz befugt sind.
Soweit die Zuziehung eines Rechtsanwalts hiernach nicht verhindert
werden kann und dieselbe nicht im Aufträge der zahlungpflichtigen An¬
gehörigen oder des gesetzlichen Vertreters des Kranken erfolgt, sind diese
von der Zuziehung zu verständigen mit dem Bemerken, daß die Anstalts-
verwaltung nicht in der Lage sei, die Zuziehung zu verhindern.
gez. I. V.: Glöckner.
Ministerium der Justiz, des Kultus undUnter-
r i c h t s. — Der Verkehr von in Heil- und Pflegeanstalten untergebrachten
Kranken, soweit dieselben nicht geschäftsunfähig sind (vgl. § 104 BGB.),
mit auf ihre Veranlassung und ihren Wunsch hin sie besuchenden Rechts¬
anwälten findet unseres Erachtens nur in den Vorschriften der Haus¬
ordnung und dem Gesundheitszustand der Kranken selbst, sofern dieser
etwa einen Verkehr mit dritten Personen als für sie schädlich erscheinen
läßt, eine Schranke. Abgesehen davon, daß diese Kranken unter Um¬
ständen zur Besorgung der verschiedenartigsten Rechtsangelegenheiten
eines juristischen Beistandes bedürfen, steht ihnen nach §§ 4, 5, 9 des
Irrenfürsorgegesetzes auch ein Recht auf Klage bzw. Einspruch gegen
ihre Unterbringung bzw. Zurückbehaltung in der Anstalt zu, und, soweit
sie auch zur Geltendmachung dieser Rechte der Zuziehung eines Rechts¬
anwaltes nicht unbedingt bedürfen sollten, so kann ihnen doch die Zu¬
ziehung eines solchen nicht versagt werden.
Anders wird die Frage bei geschäftsunfähigen, insbesondere also
bei entmündigten Personen sich gestalten, da diese im allgemeinen keine
Rechtshandlungen ohne ihren gesetzlichen Vertreter vornehmen können,
ein Verkehr des Rechtsanwalts mit ihnen daher in der Regel nicht nötig
fallen, sondern der Verkehr zwischen dem Rechtsanwalt und dem gesetz¬
lichen Vertreter des Entmündigten genügen wird.
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Kleinere Mitteilungen.
417
Aber auch hier kommt in Betracht, daß, insoweit der Entmündigte
seine Entmündigung bekämpfen will, die Zivilprozeßordnung ihm hierfür
verschiedene Rechtsbehelfe an die Hand gegeben hat (vgl. §§ 664, 675, 679
Abs. 3 ZPO.), deren er sich in eigener Person ohne Zuziehung seines
gesetzlichen Vertreters bedienen kann, und daß, sofern er behufs Geltend¬
machung dieser Rechte sich eines Rechtsanwalts bedienen will, ihm dies
nicht versagt werden kann. Eis wird daher auch der Verkehr entmündigter
Geisteskranker mit Rechtsanwälten nur insoweit gehindert werden können,
als es sich dabei nicht um die Aufhebung der Entmündigung handelt,
sondern um die Wahrnehmung anderer Rechte, welche der Entmündigte
überhaupt nicht selbständig, sondern nur durch seinen gesetzlichen Ver¬
treter geltend machen kann.
gez. I. V.: Hübsch.
Die Junisitzung des psychiatrischen Vereins zu Berlin
findet mit Rücksicht auf die Jahresversammlung des Deutschen Vereins
für Psychiatrie erst Sonnabend, 29. Juni, statt.
Die Jahresversammlung Bayerischer Psychia¬
ter findet am 29. und 30. Juni 1912 in Regensburg und Wöllershof bei
Neustadt a. d. Waldnaab statt. Referat: Psychiatrische Jugendfürsorge
(Prof. Dr. Gudden und Priv.-Doz. Dr. Isserlin- München). Am 29. Juni
Sitzungen in Regensburg, am 30. Juni Besichtigung der neueröffneten
zweiten oberpfälz. Heil- und Pflegeanslalt Wöllershof. — Anmeldung
von Vorträgen bis 31. Mai er. erbeten an Prof. AfzAeimer-München,
Nußbaumstraße 7 oder Med.-Rat KocAe-Eglfing bei München.
Die 84. Versammlung deutscher Naturforscher und
Ärzte wird vom 15. bis 21. September in Münster stattfinden. Vorträge
in den allg. Sitzungen: Czerny-Heidelberg: Die nichtoperative Behand¬
lung der Geschwülste; 2?ecÄer-Münster: Leib und Seele; Graf Arco- Berlin:
Über drahtlose Telegraphie; v. Wettstein- Wien, Czerny-Straßburg, v. Hann¬
slein-Berlin und Kerp- Berlin: Die Wissenschaft vom Leben in ihrer Be¬
deutung für die Kultur der Gegenwart; Correns - Münster und Gold-
schmidl-Miinchen: Vererbung und Bestimmung des Geschlechts; Straub-
Freiburg: Über die Bedeutung der Zellmembran für die Wirkung che¬
mischer Substanzen; Nernst- Berlin: Zur neueren Entwicklung der Ther¬
modynamik; Sarasin- Basel: Uber den gegenwärtigen Stand des Welt-
naturschutzes; Kültner- Breslau: Moderne Kriegschirurgie.— Vorträge und
Demonstrationen für die psychiatrisch -neurologische Abteilung sind bis zum
16. Mai anzumelden bei einem der Einführenden: Geh.-Med.-R. Dr.
Gerlach Heerdestr. 13, Dir. Dr. Kleffner, Prov.-Heilanstalt, Dr. Többen,
Ludgeristr. 72.
Zeitschrift (Qr Psychiatrie. LXIX. 3. -9
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418 Kleinere Mitteilungen.
PersonabuicJirichten.
Dr. Joh. Köhler, Oberarzt in Gabersee, ist in dauernden Ruhestand
getreten.
Dr. Franz Blachian, Oberarzt in Werneck, ist zum Direktor der
neuen Kreisanstalt bei Haar,
Dr. Friedr. Utz zum Oberarzt der Kreisanstalt Ansbach,
Dr. Ernst Rüdin , Priv.-Doz., zum Oberarzt der psychiatr. Klinik in
München,
Dr. Ernst Jeß in Eberswalde,
Dr. Herrn. Riemann, gleichfalls in Eberswalde, und
Dr. Wilh. Plaskuda in Lübben sind zu Oberärzten ernannt worden.
Dr. Karl v. Ehrenwall in Ahrweiler ist Geh. Sanitätsrat geworden.
Dr. Jos. Peretti, Geh. San.-Rat, Dir. von Grafenberg und Dozent an der
Akademie für prakt. Medizin in Düsseldorf, hat den Titel Pro¬
fessor erhalten.
Dr. Th. Ziehen, Prof, und Geh. Med.-Rat, jetzt in Wiesbaden, ist der
Rote Adlerorden 3. Klasse mit Schleife,
Dr. H. F. Rubarth, Geh. San.-Rat in Marsberg, der Kronenorden
3. Klasse verliehen worden.
Dr. Ad. SeeligmüUer, ao. Prof, und Geh. Med.-Rat in Halle, ist ge¬
storben.
Dr. Friedr. Skierlo, Oberarzt der Prov.-Anstalt in Potsdam, ist am 5. März,
Dr. Friedr. Taubert, Oberarzt der Prov.-Anstalt in Lauenburg, am
7. April gestorben.
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Die Bedeutung der Anstalt Zwiefalten für das
Irrenwesen Württembergs 1 ).
Von
Oberarzt Dr. A. Schott, leit. Arzt der Heil- und Pflegeanstalt
Stetten i. R.
Die ersten Anfänge der Irrenfürsorge Württembergs gehen auf
das Jahr 1746 zurück, in welchem Jahre der damals regierende Herzog
Karl, der Begründer der hohen Karlsschule, eine Verfügung erließ,
welcher zufolge „zur besseren Besorgung der im Land hier und da
sich befindenden unbemittelten melancholischen und blöden Leute,
auch der maniaci und furiosi“ ein eigenes Institut errichtet werden
sollte. Schon im Jahre 1749 war das für 11 Kranke berechnete „Toll¬
haus“ fertig gestellt und mit dem schon in Ludwigsburg be¬
stehenden Fürstl. Zucht- und Arbeithause vereinigt worden. Aus
der steigenden Zahl der anstaltbedürftigen Geisteskranken und aus
der Verbindung des Irrenhauses mit dem Zucht- und Arbeithaus
ergaben sich für die Dauer Unzuträglichkeiten und störende Unvoll¬
kommenheiten. Durch Kgl. Verordnung vom 14. Mai 1811 wurde
bestimmt, daß das Irrenhaus in die Bäume des ehemaligen Benedik¬
tinerklosters Zwiefalten verlegt werden solle, welches im Jahre
1802 an Württemberg gekommen und 1803 aufgehoben worden war.
Schon im Jahre 1812 wurden die 46 geisteskranken Insassen des Toll¬
hauses von Ludwigsburg nach Zwiefalten überführt und damit die
erste Heil- und Pflegeanstalt des Landes eröffnet. Zwiefalten sollte
nicht nur unheilbare Geisteskranke verwahren, sondern auch dem
Heilzwecke dienen. Die Zahl der zur Verfügung stehenden Plätze
belief sich auf 70—80. Die steigende Nachfrage nach Anstaltplätzen
J ) Am 29. Juni d. J. feiert die K. Württ» Heilanstalt Zwiefalten
ihr hundertjähriges Jubiläum. Im Hinblick hierauf sind die ersten
7 Aufsätze dieses Heftes geschrieben, mit denen unsere Zeitschrift an
der festlichen Begrüßung der Hundertjährigen teilnimmt.
Zeitschrift für Psychiatrie. LXIX 4. 30
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Schott.
führte im Jahre 1829 zu dem Beschlüsse, eine besondere Heilanstalt
zu errichten. Als geeignet für diesen Zweck wurde das Schloß zu
Winnental erkannt, welches früher eine Deutschordenskommen-
thurei gewesen war und sich damals im Besitze der Krone befand.
Es wurden dort durch bauliche Veränderungen zunächst Plätze für
90 heilbare Kranke geschaffen. Die Anstalt wurde am 1. März 1834
unter dem Anstaltsarzt Albert Zeller eröffnet und erfreute sich bald
infolge der hervorragenden ärztlichen wie persönlichen Eigenschaften
ihres Leiters eines großen Rufes weit über die Grenzen des Landes
hinaus. Zwiefalten trat jetzt mehr in den Hintergrund; es wurde zur
Pflegeanstalt bestimmt und übernahm in der Folgezeit einen großen
Teil seiner Kranken von Winnental, wo von 1840 bis 1842 der spätere
berühmte Berliner Psychiater W. Griesinger als Assistenzarzt tätig
war und Erfahrungen für sein erstmals 1845 erschienenes Lehrbuch der
Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten sammelte.
Trotz der Eröffnung von Winnental mußte auch in Zwiefalten die Ver¬
mehrung der Anstaltplätze in rascher Folge vor sich gehen. Während
im Juni 1835 nur 71 Pfleglinge in der Anstalt untergebracht waren,
stieg ihre Zahl in den Jahren 1838—1852 auf durchschnittlich 150
im Jahre und in den Jahren 1853—1865 auf einen Bestand von 165
bis 170. Durch vielfache bauliche Veränderungen sowie durch das
Hinauslegen von Wohnungen konnten in der ersten Hälfte der 70er
Jahre 300 Plätze geschaffen werden. Durch den Einbau großer Dach-
stockräume und Überbelegung erreichte die Krankenzahl in den
Jahren 1888/39 eine Höhe von über 500 Pfleglingen. Diese erhebliche
Steigerung der Belegung erfolgte, obwohl im Jahre 1875 eine dritte
Staatsirrenanstalt eröffnet worden war. Die Wahl fiel auf die ehe¬
malige Prämonstratenser-Abtei zu Schussenried, wo sofort
für 300 Kranke Plätze geschaffen wurden, welche jedoch bald besetzt
waren und Erweiterungsbauten notwendig machten. Schussenried
wurde ebenfalls, ähnlich w>e Winnental, in erster Linie als Heil¬
anstalt errichtet, so daß nunmehr Zwiefalten gezwungen war, aus
den beiden Heilanstalten des Landes unheilbare Kranke zu über¬
nehmen. Dieser Aufgabe konnte es auf die Dauer nicht mehr ge¬
nügen, zumal die örtlichen Verhältnisse eine nennenswerte Ver¬
größerung nicht zuließen. Dieser Notlage verdankt Weißenau
seine Entstehung. Diese Pflegeanstalt wurde am 1. April 1892 er-
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Die Bedeutung der Anstalt Zwiefalten für das Irrenwesen Württembergs. 421
öffnet, ebenfalls in einem froheren Klostergebäude, dem ehemaligen
Prämonstratenserkloster zu Weißenau im Schussental, 20 Minuten
von der Stadt Bavensburg entfernt, an der Bahnlinie Ulm-Friedrichs-
hafen gelegen.
Im Jahre 1899 erhielt Zwiefalten, wie die übrigen Staatsirren¬
anstalten, die Bezeichnung „K. Heil- und Pflegeanstalt“ und einen
kleinen Aufnahmebezirk zugewiesen, aus welchem auch heilbare
Geisteskranke aufgenommen werden durften. Im Jahre 1903 ist
anläßlich der Eröffnung der neuen Anstalt Weinsberg — der
einzigen neuerbauten des Landes — sämtlichen Staatsirrenanstalten
die Bezeichnung „K. Heilanstalt“ gegeben worden. Im Jahre 1905
hat jede der Anstalten einen entsprechend großen Aufnahmebezirk
erhalten, aus welchem die Anstalt die Geisteskranken ohne Unter¬
schied aufzunehmen hat. Die Zahl der Aufnahmen betrug in den
Jahren 1906 bis 1910 durchschnittlich jährlich 102, der Abgang
96 Kranke. Der Krankenstand in der Hauptanstalt beläuft sich der¬
zeit auf etwa 520 Pfleglinge.
Dies ist in äußeren Zügen nach Camerer der äußere Werdegang
der Anstalt, wie er sich ergibt im Verein mit den Fortschritten der
Irrenfürsorge Württembergs. Dieser geschichtliche Bückblick war
nötig, um die Bedeutung Zwiefaltens für die einzelnen Abschnitte des
württembergischen Irrenwesens zu beleuchten.
Die Eröffnung der Irrenanstalt Zwiefalten bedeutet für Württem¬
berg die Anerkennung des Grundsatzes, daß Geisteskranke besonderer
Anstalten und Einrichtungen bedürfen. Daß diese damaligen Ein¬
richtungen heutzutage vielfach Kopfschütteln erregen, teilt Zwie¬
falten mit allen Anstalten jener Zeit. Schon der Umstand, daß Sträf¬
lingen die Wartung der Kranken noch eine Beihe von Jahren anver¬
trant war, erregt unser Befremden.
Dem Geiste der damaligen Zeit und der herrschenden irren-
ärztlichen Ansicht entspricht es durchaus, daß auch in Zwiefalten
an Geisteskranken körperliche Züchtigungen vorgenommen worden
sind. Demgegenüber verdient hervorgehoben zu werden, daß anderer¬
seits schon zu jener Zeit der freien Behandlung und der Arbeitstherapie
in weitem Maße Bechnung getragen worden ist. Die Arzneibehandlung
kam ebenfalls nicht zu kurz. Der Hydrotherapie wird schon bei den
Plänen zur Einrichtung der Irrenanstalt in Zwiefalten Erwähnung
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Schott,
getan, indem gefordert wird, daß „auf ein Badzimmer und auf die
in dem Klinikum zu Tübingen vorhandenen Einrichtungen zu einem
Sturzbad, einem Tropfbad und einem Dampfbad“ Rücksicht ge¬
nommen werden solle. Die räumliche Trennung der ruhigen von den
unruhigen Kranken war von Gründung der Anstalt an stets im Auge
behalten und nach Möglichkeit durchgeführt worden. Wir können
also mit Befriedigung feststellen, daß schon die ersten Jahrzehnte der
Irrenbehandlung in Zwiefalten durchaus den Stempel der Humanität
trugen und auf damals modernen irrenärztlichen Grundsätzen be¬
ruhten. Dazu mag nicht zum wenigsten beigetragen haben, daß der
zweite Hausarzt der Anstalt, Dr. Elser (1817—1837), um die Mitte
der zwanziger Jahre eine Instruktionsreise nach Paris und kurze Zeit
darauf eine solche auf den Sonnenstein ausführen konnte.
Letztere Anstalt wurde im Jahre 1811 als erste in Deutschland ge¬
gründet, welche die Heilung der Kranken als ihre Aufgabe in den
Vordergrund stellte. Dr. Elser legte großen Wert auf die Beschäf¬
tigung der Kranken im Freien; ferner beantragte er die Anschaffung
eines galvanischen Apparates, um auf die verstimmte und herab¬
gesunkene Muskeltätigkeit einwirken zu können, und einer Schaukel,
um das Gehirn und den Unterleib, den gewöhnlichen Sitz der Geistes¬
und Gemütskrankheiten, wohltätig und mit Kraft zu erschüttern.
Einen erheblichen Schritt in der Entwicklung vorwärts tat die
Anstalt unter ihrem ersten ärztlichen Direktor Dr. v. Sehäffer (1838
bis 1874), welcher es meisterhaft verstand, aus den Unheilbaren zu
machen, was irgendwie noch zu machen war. Er hob sie durch er¬
sprießliche erzieherische Maßnahmen sozial, machte sie äußerlich
geordnet und vielfach wieder gesellschaftfähig, weckte in ihnen schlum¬
mernde Interessen und ruhenden Tätigkeitstrieb. So gelang es ihm
manchen Kranken aus dem Stumpfsinn zu erwecken und zu nutz¬
bringender Beschäftigung zu veranlassen. Seine Erfolge auf dem Ge¬
biete der Arbeitstherapie können auch heute noch in mehr als einer
Richtung als musterhaft bezeichnet werden. Daneben wurde Dr.
v. Sehäffer in der ganzen Umgegend als der geschickteste und hervor¬
ragendste Arzt geschätzt und aufgesucht. Seine großen Verdienste
um die Anstalt wurden auch höheren Ortes gewürdigt und ihm Aus¬
zeichnungen mehrfach zuteil Wissenschaftlich ist Dr. v. Sehäffer
kaum hervorgetreten; es liegt von ihm nur ein Bericht über die Brech-
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Die Bedeutung der Anstalt Zwiefalten für das Irrenwesen Württembergs. 423
ruhrepidemie im Jahre 1854 vor, welcher in der Allg. Ztschr. f. Psych.
zum Abdruck gelangt ist.
Den Höhepunkt in wissenschaftlicher Hinsicht erreichte Zwie¬
falten unter seinem zweiten ärztlichen Direktor Dr. J. L. A. Koch
(1874—1898); sein Name hat die Anstalt Zwiefalten außerhalb des
engeren Vaterlandes erst bekannt gemacht. Sein umfassendes Wissen,
sein Verständnis- und liebevolles Entgegenkommen, sein klarer Blick
und seine Menschenkenntnis befähigten Dr. J. L. A. Koch dazu, bei
seinen Assistenzärzten den wissenschaftlichen Sinn zu wecken, sie
vielseitig anzuregen und zu fördern. Seine Lehre von den psycho¬
pathischen Minderwertigkeiten wird ihm in der psychiatrischen Lite¬
ratur dauernd einen Ehrenplatz sichern. Die praktischen Konse¬
quenzen dieser Lehre treten jetzt mehr und mehr zutage und zeigen,
wie fruchtbar die Anregungen gewesen sind, welche Dr. J. L. A. Koch
gab und noch weiterhin geben wird.
Wenn wir uns den Vorentwurf zu einem deutschen Strafgesetz¬
buch vergegenwärtigen, so können wir uns nicht der Überzeugung
entsehlagen, daß gar manches aber die verminderte Zurechnungs¬
fähigkeit, über die Beurteilung der jugendlichen Straffälligen sowie
über den Strafvollzug an Jugendlichen und Psychopathen auf die
Lehren Koch s zurückgeht und von ihm inspiriert worden ist. Ähn¬
liches gilt auf dem Gebiete der Pädagogik und der Psychotherapie;
auch hier finden wir auf Schritt und Tritt Beziehungen zu Kochs
Anschauungen und Abhandlungen. Es dürfte nicht ein Zufall sein,
daß die heutige Psychiatrie wieder mehr sich diesem überaus wich¬
tigen Gebiete zuwendet, auf welchem insbesondere Ziehen in letzter
Zeit tätig ist. Für Württemberg bedeutet Kochs Lehre die Wieder¬
aufnahme kriminalpsychologischer Studien und Untersuchungen von
ärztlicher und juristischer Seite, deren sozial einschneidende Be¬
deutung das neue deutsche Strafgesetzbuch dereinst dartun wird.
Hat so Dr. J. L. A. Koch in wissenschaftlicher Beziehung bahn¬
brechend gewirkt, so ist ihm andererseits der Blick für die praktischen
Aufgaben der Anstalt dadurch nicht getrübt worden. Hier galt es
viel unter erschwerenden Umständen und Hindernissen zu leisten.
Bei einem Krankenstand bis zu 560, lange Zeit mit einer ärztlichen
Hilfskraft nur arbeitend, war die Arbeitslast eine gewaltige und auf
die Dauer unerträgliche, seine Gesundheit erschütternde. Als die lang
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Schott,
ersehnten und erstrebten Änderungen und Reorganisationen endlich
zur Tat werden sollten, da war die Kraft Dr. J. L. A. Kochs gebrochen,
so daß er den größten Teil der praktischen Durchführung seinem
1. Oberarzt Dr. P. Kemrüer , einem Schüler Wemickes und Kräpdm,
überlassen mußte. Kemmlers hervorragender organisatorischer Be¬
gabung gelang es, in den Jahren 1895—1898 grundlegende Verände¬
rungen im inneren und äußeren Ausbau der Anstalt teils einzuleiten,
teils durchzuführen. Die Zellenbehandlung wurde, soweit irgend
möglich, eingeschränkt und in umfassendem Maße die Bettbehand-
lung eingeführt, es wurden Wachabteilungen und Dauerbäder einge¬
richtet, Kostformen geschaffen und der Genuß geistiger Getränke
verdrängt. Die freie individualisierende Verpflegungsform war der
Leitstern der ärztlichen Behandlung und Tätigkeit geworden. Durch
zahlreiche Entlassungen und durch Einführung der familialen Ver¬
pflegung wurde für Beschaffung von Anstaltplätzen Sorge getragen.
Im Frühjahr 1898 mußte Dr. J. L. A. Koch aus Gesundheitsrück¬
sichten um Enthebung von seinem Dienst bitten. Ihm folgte als
dritter ärztlicher Direktor Dr. 0. Binder , welcher leider schon im Jahre
1901 einer Blutvergiftung zum Opfer fiel. Dr. 0. Binder suchte den
weiteren inneren Ausbau der Anstalt der Vollendung zuzuführen;
insbesondere ließ er es sich angelegen sein, die individuelle Kranken¬
behandlung möglichst zu vervollkommnen und die Kranken¬
pflege zu heben. Daneben fand er noch Zeit, sich wissenschaftlich zu '
betätigen. Alle seine Abhandlungen zeugen von einem umfassenden \
Wissen, einer scharfen Beobachtung und trefflichen Darstellung.
Von seiner Arbeitskraft und Schaffensfreude hätte die württem-
bergische Psychiatrie noch manche schöne Frucht erhoffen dürfen.
Seit 1901 steht die Anstalt unter dem ärztlichen Direktor Dr.
Krimmd , welcher in zielbewußter Weise sowohl die bauliche Vervoll¬
kommnung der Anstalt, als auch die verwaltungstedmische Moderni¬
sierung des Betriebes und die Weiterentwicklung der praktischen Irren¬
pflege in Angriff genommen und bedeutend gefördert hat. Ihm ist es
heute zu danken, daß die Anstalt sowohl nach außen wie nach innen
den Vergleich mit keiner andern Anstalt zu scheuen hat, und daß
sie nach 100 Jahren noch die regen Triebe des Vorwärtsstrebens und
der Aufwärtsentwicklung in unverminderter Kraft besitzt und be¬
tätigt.
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Die Bedeutung der Anstalt Zwiefalten für das Irrenwesen Württembergs. 425
Daß in einem Lande von der Größe Württembergs mit nunmehr
fünf staatlichen Irrenanstalten Zwiefalten jederzeit eine bedeutende
Rolle gespielt hat, ist ohne weiteres verständlich. Schon ihre Stellung
als Mutteranstalt der lange Jahre überragenden Anstalt Winnental
verbürgt ein gewisses Ansehen. Die Bedeutung ihrer ärztlichen Leiter,
sei es in praktischer, sei es in wissenschaftlicher Beziehung, hat die
Anstalt Zwiefalten während 100 Jahren ehrenvoll bestehen lassen.
Ihr Einfluß auf die anderen Anstalten ist in vieler Richtung ein sehr
nennenswerter; dazu trägt schon der Umstand bei, daß frühere Zwie-
faltener Ärzte sich an sechs Anstalten des Landes befinden und als
lebendige Vermittler dort gesammelter Anschauungen und Erfahrungen
wirken. Die gerichtliche Psychiatrie des Landes hat von Zwiefalten
den stärksten und nachhaltigsten Anstoß erhalten. In der Moderni¬
sierung der Einrichtungen und des Betriebes ist Zwiefalten den An¬
stalten Schussenried und Winnental vorangegangen. Die in Zwie¬
falten bewährten Reformen haben sich bei der Errichtung Weißenaus
und noch mehr beim Neubau Weinsbergs nicht verleugnet und ihre
Früehte getragen.
Alles in allem dürfen wir wohl sagen, die Anstalt Zwiefalten ist
der Ursprung der württembergischen Psychiatrie, sie bildet auch jetzt
noch ein Bindeglied zwischen den anderen Anstalten und hat es trotz
ihrer 100 Jahre verstanden, den neuzeitlichen Forderungen, soweit
es die Verhältnisse gestatten, vollauf gerecht zu werden.
Möge ihr auch das zweite Jahrhundert ihres Bestehens reiche
Erfolge bescheren!
Literatur.
Medizinalrat Dr. Camerer, Die Entwicklung der Irrenfürsorge im Kgr.
Württemberg. Carl Marhold. Halle a. S. 1911.
Med.-Räte Dr. Camerer und Krimmel, Geschichte der Kgl. württ. Heil¬
anstalt Zwiefalten 1812—1912.
Med.-Rat Dr. J. Z* A. Koch, Zur Geschichte des Irrenwesens in Württem¬
berg. Württ. Med. Korrbl. 1879.
Marquart, Zur Geschichte des Irrenwesens in Württemberg. Württ.
Med. Korrbl. 1905, 1906, 1907.
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Die Lungenheilstätte der Kgl. Heilanstalt
Zwiefalten.
Von
Medizinalrat Dr. Krlmmel, Direktor der Anstalt.
Die Bekämpfung der Tuberkulose in den Irrenanstalten ist
ebenso wichtig als schwierig; wichtig, weil die Tuberkulose die Sterb¬
lichkeit in den Irrenanstalten in hohem Grade beeinflußt, schwierig,
weil die Zerstreuung der Krankheitserreger nur schwer zu verhüten
und andererseits die Widerstandfähigkeit der Geisteskranken gegen
Ansteckung und deren Folgen vielfach erheblich vermindert ist.
Erste Voraussetzung einer wirksamen Bekämpfung der Tuberkulose
in den Irrenanstalten ist die Trennung der tuberkulösen Kranken
von den anderen Pfleglingen. Hiezu stehen den neuen, im Pavillon¬
system erstellten Anstalten besondere Häuser zur Verfügung. Un¬
gleich weniger günstig liegen die Verhältnisse in den adaptierten
Anstalten wie Zwiefalten, die aus einem großen Gebäudeblock be¬
stehen. Die Absonderung tuberkulöser Kranken begegnet da mancher¬
lei Schwierigkeiten.
Auch in Zwiefalten Üeß sich die Trennung der Kranken nur un¬
vollkommen durchführen. Deshalb wurde im Jahr 1903 zur Unter¬
bringung tuberkulöser Männer auf dem Gebiet der 1897 eingerichteten
Männerkolonie Loreto eine Döckersche Baracke aulgestellt. Die
Baracke, die Baum für 9 Kranke und 2 Wärter bot, wurde, nachdem
sich deren versuchweiser Betrieb gut bewährt hatte, im Jahr 1905
durch eine größere und fester gebaute Döcker-Unmacksche Baracke
ersetzt. Die Lungenheilstätte liegt etwa 710 m über dem Meer und
160 m über der Talsohle am Südabhang des Bergrückens, auf dessen
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Die Lungenheilstätte der Kgl. Heilanstalt Zwiefalten.
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Höhe die Wirtschaftgebäude der Kolonie Loreto stehen, eines in das
zum Gebiet der Donau gehörige Aachtal vorspringenden Ausläufers
der schwäbischen Alb. Sie lehnt sich unmittelbar an den Berg an
und ist durch ihn gegen Nord- und Nordostwinde, gegen Westwind
durch einen Buchenwald geschützt. Die Lage ist durchaus ruhig
und völlig staubfrei.
Vor der Baracke, die ein kleines Gärtchen ziert, breiten sich bis an
die weiter unten sich anschließenden Wälder duftige Bergwiesen aus.
Ein schöner Blick Über die umgebende Landschaft und eine herrliche
Fernsicht erhöhen den Reiz der Lage. Das Klima von Loreto entspricht
etwa dem Klima des als Kurort für Lungenkranke bekannten Schömberg
auf dem Württ. Schwarzwald; die Schwankungen der Temperatur scheinen
auf Loreto noch etwas geringer zu sein, wie in Schömberg. Die hohe und
gegen Süden offene Lage sichert der Lungenheilstätte eine lange und
starke Sonnenbestrahlung, die gleichwohl selbst im Hochsommer nie
lästig wird. Dichte Nebel sind selten. Die Entfernung von der Anstalt
beträgt etwa 40 Minuten.
Die Baracke bietet in zwei lichten und behaglichen Räumen Platz
für 16 Kranke. In der Mitte befinden sich zwei mit den Krankenräumen
durch ein kleines Fenster verbundene Gelasse für je einen Wärter, ein
Geräteraum und eine Spülküche, sowie zwei Aborte. Besondere Venti¬
lationseinrichtungen ermöglichen auch bei geschlossenen Fenstern gründ¬
liche Entlüftung, zwei Mantelöfen gehörige Erwärmung der Baracke;
zur Beleuchtung dienen Petroleumlampen. Die Doppelfenster haben
Dorn Verschluß, aber keine Vergitterung; die unteren Flügel der Fenster
werden wie die Eingangtüre meist geschlossen gehalten, dagegen können
die oberen Flügel, ohne die Sicherheit der Kranken zu gefährden, geöffnet
werden. Unmittelbar neben der Baracke befindet sich eine Liegehalle
für 10 Kranke, sowie ein kleines Gartenhaus. Den Dienst in der Lungen¬
heilstätte besorgen zwei Wärter; die Verköstigung erfolgt von dem wenige
Minuten entfernten Wirtschaftgebäude der Kolonie. Der Gesamtaufwand
für die Erstellung der Baracke betrug etwa 12 000 Mk. Der Aufwand
für ein Krankenbett kam sonach auf 750 Mk. zu stehen.
Die so eingerichtete Lungenheilstätte bietet nicht nur Gelegenheit,
tuberkulöse Kranke, soweit sie nicht dauernder Überwachung oder
besondrer Pflege bedürfen, von den anderen Kranken zu trennen,
ja sie ganz aus dem Bereich der Anstalt zu entfernen, sondern auch
die Möglichkeit, ihnen eine den neusten Anforderungen der Phthiseo-
therapie entsprechende Heilstättenbehandlung angedeihen zu lassen.
Die in der Heilstätte verpflegten Kranken werden, so oft es nur die
Witterung gestattet, von morgens bis abends in die Liegehalle verbracht:
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Krimmel,
und dies ist dank der günstigen Lage den ganzen Winter hindurch
möglich. Unterstützt wird die Freiluftkur durch kr&ftige Ernährung,
abhärtende und anregende Abwaschungen sowie durch Verabreichung
von Kreosotpräparaten, neuerdings in geeigneten Fällen auch durch
Behandlung mit Tuberkulin. Die Kranken erhalten die gewöhnliche
Kost der III. Verpflegungsklasse, dazu aber noch Zulagen von Milch
und Butter. Um den Kranken eine möglichst gute und bekömmliche
Milch bieten zu können, wurde auf Loreto Ziegenhaltung und Ziegen¬
zucht eingeführt.
Der Betrieb der Heilstätte verlief bisher .ohne Störung und ohne
Unfall. Die Baracke hat sich als dauerhaft und wetterbeständig
erwiesen. Die Heilstättenbehandlung wirkte äußerst günstig. Die in
der Heilstätte behandelten Kranken nehmen zumeist und zum Teil
erheblich an Körpergewicht zu. Das Allgemeinbefinden der Kranken
erfährt in der Hegel eine auffallende Besserung; bei der Mehrzahl
ließ sich auch eine Besserung des Lungenleidens selbst feststellen.
Fast durchweg gewinnen die Kranken nach kurzer Zeit ein frischeres
und gesünderes Aussehen; Appetit und Nahrungsaufnahme bessern
sich. Die Kranken selbst fühlen sich in der Heilstätte recht wohL
Rechtfertigt der Betrieb der Heilstätte sonach alle Erwartungen,
so bleibt nur zu bedauern, daß die Einrichtung der Heilstätte eine
Beschränkung in der Auswahl der Kranken insofern nötig macht,
als unruhige, sowie besonderer Überwachung und Pflege bedürftige
Kranke nicht in der Heilstätte untergebracht werden können. Leider
ist ein weiterer Ausbau der Heilstätte wegen der Schwierigkeit der
Beschaffung von Trink- und Nutzwasser auf Loreto kaum möglich.
Dagegen könnte wohl eine nahe gelegene Domäne, Mochental, einst
ein herrlicher Sommersitz der Äbte des Klosters Zwiefalten, leicht
und ohne allzu große Kosten als Zweiganstalt von Zwiefalten zu
einer Heilstätte für lungenkranke Geisteskranke beiderlei Geschlechts
und jeder Zustandform eingerichtet werden, die nicht nur für die
absonderungbedürftigen Kranken Zwiefaltens, sondern auch der
beiden andern oberschwäbischen Staatsirrenanstalten Schussenried
und Weißenau Raum genug böte. Damit bekäme Württemberg eine
Anlage, um die es allerorts beneidet werden müßte. Der Plan, Mochen¬
tal für Zwecke der Irrenpflege einzurichten, ist schon wiederholt,
erstmals in den 40er und dann in den 70er Jahren des vergangenen
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Die Lungenheilstätte der Kgl. Heilanstalt Zwiefalten. 429
Jahrhunderts, sowie erst wieder in den letzten Jahren aufgegriffen,
aber immer wieder auigegeben worden. Sollten die guten Erfahrungen
mit der Lungenheilstätte Loreto den Gedanken aufs neue zu beleben
oder gar zu der endlichen Verwirklichung des Planes Anlaß zu geben
vermögen, so gäbe die Anstalt Zwiefalten damit für die Weiterent¬
wicklung der württembergischen Irrenfürsorge im folgenden Jahr¬
hundert eine in ihren Folgen höchst segensreiche Anregung.
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Die Entwickelung der familialen Verpflegung der
Königl. Heilanstalt Zwiefalten.
Von
Oberarzt Dr. Gatekunst, Zwiefalten.
Schon in den sechziger Jahren haben sich Boiler und Griesinger
mit der Frage der familialen Irrenpflege beschäftigt. Griesinger hat
damals die Worte ausgesprochen, daß die familiäre Verpflegung für
einen gewissen Teil der Irren die eigentlich und einzig richtige sei.
Sie gewähre, was die prachtvollste und bestgeleitete Anstalt der
Welt niemals gewähren könne, die volle Existenz unter Gesunden,
die Rückkehr aus einem künstlichen und monotonen in ein natür¬
liches und soziales Medium, die Wohltat des Familienlebens. Zu
praktischen Versuchen ist es jedoch lange nicht gekommen, Griesinger 1 )
wurde wegen seiner Reformideen sogar vielfach heftig angegriffen, und
jahrelang wurden über die Frage der familialen Verpflegung Geistes¬
kranker in zum Teil leidenschaftlicher Weise Erörterungen gepflogen.
Allmählich ist jedoch eine Ruhe in den Erörterungen über dieses
Thema eingetreten, man machte Versuche, und die Praxis hat gelehrt,
daß die Familienpflege als eine Ergänzung der therapeutisch not¬
wendigen Verpflegungsformen, als ein wichtiger therapeutischer
Faktor in der Irrenpflege anzusehen ist.
Der Einführung der familialen Irrenpflege in Württemberg hat
Medizinalrat Dr. Rank 2 ) inWeißenau, damaliger Oberarzt der Provinzial¬
irrenanstalt Niet eben bei Halle a. S. in seiner Abhandlung über „Die
familiale Irrenpflege mit besonderer Berücksichtigung der öffentlichen
1 ) Von 1840—1841 Assistenzarzt der K. Heilanstalt Winnental.
*) Von 1879—1883 Assistenzarzt der K. Pflegeanstalt Zwiefalten.
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Die Entwicklung der fainilialen Verpflegung usw.
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Irrenfürsorge in Württemberg“, Juli 1891, warm das Wort geredet.
Er wies darauf hin, „daß sich Württemberg ja schon an und für sich
vermöge des konservativen Charakters seiner Bevölkerung und deren
vorzugweisen Beschäftigung mit Kleinlandwirtschaft mehr als irgend¬
ein anderes Land zu einem derartigen Versuche eigne. H
Im Jahre 1895 wurde in Schussenried der erste Versuch mit der
familialen Verpflegung zweier Kranker gemacht. Der Versuch schlug
in beiden Fällen fehl Der erste nach 5 Tagen „durch Eintritt eines
unerwarteten schweren Exaltationsstadiums“ des Kranken, der
andere „ohne Nachteil für die Kranke dadurch, daß diese sich in die
Verhältnisse der Pflegefamilie weniger zu schicken wußte, als in die
der Anstalt“, ln Zwiefalten war es nun, wo im Jahre 1896
die familiale Verpflegung zuerst in ausgedehntem Maße
eingeführt worden ist. Besondere Verdienste hat sich um ihre Ein¬
führung Med.-Rat Dr. Kemnüer 1 ) in Weinsberg, damaliger Sekundär¬
arzt in Zwiefalten, erworben, er hat die familiale Verpflegung in
Zwiefalten gewissermaßen ins Leben gerufen.
Bevor ich auf ihre Installation i. J. 1896 zu sprechen komme, dürfte
•■s interessieren, daß in Zwiefalten unter der Direktion des Ober-Med.-Rat
Dr. Schaeffer *) schon in den Jahren vor und um 1870 verschiedene Kranke
••ine Verpflegungsform genossen haben, welche der familialen Verpflegung
in gewissem Sinne nahegekommen war. So arbeiteten 2—3 Kranke bei
hiesigen Handwerkern. Sie verließen morgens die Anstalt, beschäftigten
-ich tagüber bei den betreffenden Handwerkern, in deren Familie sie ver¬
köstigt wurden, und kehrten abends zum Nächtigen in die Anstalt zu¬
rück. Etwa 6—8 Kranke halfen im Sommer und im Herbst den Land¬
wirten der Umgebung bei ihren landwirtschaftlichen Arbeiten. Sie kehrten
lum Teil abends in die Anstalt zurück, zum Teil genossen sie über diese
Zeiten Wohnung und Verpflegung im Hause der betreffenden Landwirte.
Einige Kranke betätigten sich in dem der Anstalt gegenüberliegenden
Bräuhaus, sie besorgten das Geschäft des Einschänkens. Allmählich
•-oheint diese freie Art der Behandlung, welche den jetzigen Idealen auch
nur wenig zu entsprechen vermag, zu Unzuträglichkeiten geführt zu
haben. Sie wurde im Jahre 1874 eingeschränkt und verschwand in den
folgenden Jahren ganz.
Die Familienpflege im eigentlichen Sinne ist, wie schon erwähnt,
in» Jahre 1896 in Zwiefalten eingeführt worden. Über den Mechanismus
’) Von 1895—1901 Sekundär- bzw. Oberarzt der K. Heil- und
Pfleganstalt Zwiefalten.
’) Von 1838—1874 Direktor der K. Pfleganstalt Zwiefalten.
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ihrer Einführung und ihren praktischen Betrieb hat Oberarzt Dr. Schot ;'».
zurzeit dirig. &nl in SteHen, damaUgar der hiesigen An*ty.U,
i.ii. «einer Mitteilung iih«i*'ndi* Erfahrungen mit di'r faÄiiUal«‘A Verpflegung
von im Jahre 1904
ausführlich bericht ei. Der praktisch»; Betrieb der Famihrnpflege ist auch
heute noch derselbe gehiicbciu pü <k.ß es .4ich eröhr»gt, hierauf ndch cinmAJ
des näheren •einzugehen.-
In der Z’jit vü.ö 1890—1911 gind iin gäuzen 191 Kranke (UM)
Frauen uod 91 Männer) m faihüiaie Verpieguog geg»i^i wurden,
•die . wtalerholl m Famdiftiejpfiege. gegebenen' Kranken emgecechuet.
der Tabelle I s, b and e ergichtlM'it, Diese. Tabelle ilittsiFjdrt zugleich
die Zahl der in dem jeweiligim Jahre wieder aus der Farn dien pflege
ausgetretenen Kranken iipd den Bestand der FaiuiliehpftfgÜBge am
Ende des Jeweiligen Jahres.
ThIvÜo i
—- ♦ Zahl "der. in dem j@W« Jahr iu di« Farmlsenpflege einge-
tr*-t o o* n. Krank-uv.
. . . Zahl der in dem Jahr aus der Faimlienpflege aus¬
getretenen Kranken*
-—_- Zahl der Fainitieitpflegiings am Ende des jcw. Jahres.
a) Männer.
k) : Von ;4S96r-:T89? ^ssBteozarit und ron tOOl
K. lieitanstäb Zw•iefalteu.
x ) Würft. Med. Korrespondeuzbl' 1904 .
J 90 U Oberarzt der
ÖfijitizMtfyy,
.* \ • Oridiraificdv? , - "
ÜNiVEftSft VQf/Mck\G
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Die Entwickelnd der famiisaleti usw
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c) Männer und Frauen zusammen
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»ritt, ‘ ? f • i t f \ ivti, • ■ f ;.** \\
434
Gutekunst,
Überblickt man diese zahlenmäßige Entwicklung der familialen
Verpflegung, so sieht man, daß die Zahl der Familienpfleglinge in den
Jahren 1897 (damal. Sekundärarzt Dr. Kemmler), 1899 (Direktor
Dr. Binder l )), 1902 (Direktor Dr. Krimmel *)) die höchste Höhe erreicht
hat. Mit dem Steigen der Zahl der in Familienpflege Eingetretenen
steigt auch in der Regel schon in demselben Jahre oder in den dm
Anstieg zunächst folgenden Jahren die Zahl der aus der Familien¬
pflege Ausgetretenen, was sich leicht aus dem Umstand erklärt, daß
Tabelle II.
Zahl der Familienpfleglings am Ende des jeweiligen Jahres.
Männer-
Frauen .
Männer u. Frauen zus.-
1 ) Von 1898—1901 Direktor der K. Heil- und Pfleganstalt Zwiefalten.
*) Seit 1901 mit der Leitung der K. Heilanstalt Zwiefalten betraut.
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Die Entwicklung der familialen Verpflegung usw.
435
von der in jenen Jahren nicht unerheblichen Zahl der Familienpfleg¬
linge manche beurlaubt wurden, sich als ungeeignet erwiesen, körper¬
lich erkrankten oder aus anderen später noch zu erwähnenden Gründen
wieder in die Anstalt zurückgenommen worden sind.
Der Bestand der Familienpfleglinge berechnet auf das Ende des
jeweiligen Jahres hat deshalb zunächst wohl einen Aufstieg erfahren
und hat in den Jahren 1897,1899 und 1902 die höchste Zahl erreicht,
er vermochte sich jedoch nicht auf dieser Höhe zu erhalten. Dies ist
sowohl aus den Tabellen I bzw. Ic, als auch aus den Kurven der
Tabelle II deutlich ersichtlich, welche über den Bestand der Familien¬
pfleglinge am Ende des jeweiligen Jahres Aufschluß gibt. Der höchste
derart berechnete Bestand wurde im Jahre 1902 mit 41 Familien¬
pfleglingen (22 Männern und 19 Frauen) erreicht — bei einem Ge¬
samtkrankenbestand von 567 Pfleglingen (826 Männern und 241
Frauen). Vorübergehend war in diesen Jahren ab und zu
eine höhere Zahl von Kranken in Familienpflege, im Jahre 1902 haben
sich einmal kurze Zeit 45 Kranke in familialer Pflege befunden.
Tabelle III.
—-Zahl der in dem jeweiligen Jahr erstmals in die F.-Pflege
eingetretenen Kranken.
-Zahl der in dem jeweiligen Jahre erstmals und wiederholt in
<iie F.-Pflege eingetretenen Kranken, d. h. Gesamtzahl der in F.-Pflege
gegebenen Kranken in dem jeweiligen Jahre.
a) Männer.
liwtekunst
l.»> Fr.wn.
x) Mäiuier and Frauen zwsarnm?«
Die Entwicklung der familialen Verpflegung usw.
437
Unter den Familienpfleglingen waren nun schon vom Jahre 1897
ab Kranke, welche nicht zum ersten Male, sondern wiederholt in
familiale Verpflegung gegeben worden sind. Wie sich die Zahl der
erstmals in dem jeweiligen Jahre in die Familienpflege eingetretenen
Kranken zu der Zahl der in dem jeweiligen Jahre erstmals und wieder¬
holt in Familienpflege Eingetretenen, also zu der Gesamtzahl der in
dem jeweiligen Jahre in Familienpflege hinausgegebenen Kranken
verhält, bringt die graphische Darstellung Tabelle III a, b und c zum
Ausdruck.
Aus diesen Tabellen geht hervor, daß es schon nach der ersten
Auslese der für die Familienpflege geeigneten Kranken in den Jahren
1896 und 1897 recht schwierig war, weitere geeignete Pfleglinge aus
dem Gesamtkrankenbestand herauszufinden. So darf es nicht über¬
raschen, daß bei dem nochmaligen Ansteigen der Zahlen der Familien-
Pfleglinge in den Jahren 1899 und 1902 in dem ersteren Jahre von 26
nur 19 und im Jahre 1902 von 23 nur noch 7 solcher Kranker waren,
welche zum ersten Male familiale Verpflegung genießen durften.
Den Grund des Austritts aus der familialen Verpflegung
bzw. deren Unterbrechung bildeten bei den 91 Männnern:
Entlassung bzw. Beurlaubung.
Entweichung und Beurlaubung.
Abgang durch Tod.
Rückkehr in die Anstalt auf eig. Wunsch ..
Körperliche Erkrankung .
Vorübergehende psychische Erregung teilw.
infolge Wirtshausbesuches .
Drang zum Weglaufen .
Unbotmäßigkeit, sexuelle Erregung, Neigung
zu Betteln.
Unreinlichkeit .
Unzweckmäßige Behandlung durch die Pflege-
familie.
Sonstige Gründe (Krankheit und Verziehen
der Pflegeeltern, Brandfall im Hause der
Pflegeeltern) .
15 Fälle
6 „
3 „
10
19 „
11 „
4 „
6 „
4
Zusammen 86 Fälle
Am Ende des Jahres 1911 befanden sich 5 Männer in Familienpflege.
Den Grund des Austritts aus der familialen Verpflegung bzw. deren
Unterbrechung bildeten bei den 100 Frauen :
Bl*
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438
Gutekunst,
Entlassung bzw. Beurlaubung.
Entweichung und Beurlaubung.
Abgang durch Tod...
Rückkehr in die Anstalt auf eigenen Wunsch
Wunsch nach Wechsel der Pflegestelle.
Körperliche Erkrankung .
Vorübergehende psych. Erregung .
Drang zum Weglaufen .
Unverträglichkeit, sexuelle Erregung, Pflege-
bedürftigkeit .
Unreinlichkeit.
Unzweckmäßige Behandlung durch die Pflege«
familie .
Sonstige Gründe (Erkrankung, Verziehen der
Pflegefamilie) .
6 Fälle
0
1 „
12 „
5 „
23 „
13 „
16 „
13 „
4 „
2
4
Zusammen 99 Fälle
Am Ende des Jahres 1911 befand sich 1 Frau in Familienpflege.
Die absolute Zahl der Kranken, welche von 1896—1911 im
Genuß der familialen Verpflegung gestanden sind abzüglich der wieder¬
holt in Familienpflege Untergebrachten, beläuft sich auf 116 Pfleg
linge (65 M. und 51 Fr.).
Von den 65 Männern konnten 21 entlassen bzw. beurlaubt werden,
wovon 3 später wieder aufgenommen werden mußten. 10 erwiesen sich
trotz mehrfacher Versuche als ungeeignet zur familialen Verpflegung.
3 Kranke starben. Die anderen Kranken wurden aus den oben erwähnten
Gründen in die Anstalt zurückgenommen. Von den 5 männlichen Kranken,
welche Ende 1911 noch in familialer Pflege untergebracht waren, befindet
sich 1 Kranker seit 1897, 1 Kranker seit 1899, 1 Kranker seit 1900,
1 Kranker seit 1902 ununterbrochen in Familienpflege. Bei 1 Kranken
mußte die seit 1897 bestehende familiale Verpflegung wegen eines im
Hause der Pflegefamilie entstandenen Brandfalles auf kurze Zeit unter¬
brochen werden.
Von den 51 Frauen wurden 6 entlassen bzw. beurlaubt. 13 erwiesen
sich trotz wiederholter Versuche als ungeeignet zu familialer Verpflegung.
1 Kranke ist gestorben. Die anderen Kranken kamen aus den oben er¬
wähnten Gründen in die Anstalt zurück. Die Kranke, welche Ende 19H
in F.-Pflege untergebracht war, befindet sich seit 1903 in familialer Ver¬
pflegung.
Was die psychischen Krankheitformen der in
Familienpflege hinausgegebenen Kranken betrifft, verteilen sie sich
auf die 116 Familienpfleglinge wie folgt:
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Die Entwicklung der famiiialen Verpflegung usw.
439
Von den 65 männlichen F. -Pfleglingen litten bzw. leiden an
Dementia praecox
Hebephrenie . 26
Katatonie . 4
Halluz. Demenz . 2 32
Chron. paran. Erkrankung . 17
Idiotie, Imbezillität. 14
Konstitutionelle Entartung . 1
Senile Demenz . 1
Von den 51 weiblichen F.-Pfleglingen litten bzw. leiden an
Dementia praecox
Hebephrenie .22
Katatonie . 3
Halluz. Demenz . 2 27
Chron. paranoische Erkrankung.15
Idiotie, Imbezillität. 5
Senile Demenz . 2
Chron. Alkoholismus . 1
Akute halluzinatorische Verwirrtheit .... 1
Zu den Pflegestellen sind für die 191 in Familienpflege
Untergebrachten insgesamt 94 verschiedene Pflegefamilien in Anspruch
genommen worden. Von diesen 94 Pflegestellen wurden 89 ihrer Aufgabe
gerecht, 5 erwiesen sich als ungeeignet. Den einen mangelte das Verständ¬
nis für die Kranken, die anderen ließen es an der nötigen Beaufsichtigung
und Reinlichkeitspflege fehlen. Ein Kranker wurde von dem Pflegevater
geschlagen.
Die Pflegestellen verteilen sich auf folgende Orte in der Umgebung
Zwiefaltens:
Name
Entfernung von
des Ortes:
Zwiefalten:
Aichstetten .
Baach .
. 2 „
Emeringen .
. 6 „
Friedingen .
.10 „
Gauingen .
Geisingen .
. 6 „
Georgenhof .
. 10 „
Hayingen .
. 8 .,
Hochberg .
. 4 ..
Huldstetten .
. 6 ..
Ittenhausen .
. 13 ,.
Moersin gen .
Oberwilsingen
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440
Gutekunst,
Name Entfernung von
des Ortes: Zwiefalten:
Pflummern .40 km
Sonderbuch . 4 „
Wimsen . 4 „
Zwiefalten .— „
Seit Jahren wurde der Kreis dieser Ortschaften immer enger gezogen,
und Ende 1911 waren die Familienpfleglinge ausschließlich in den Zwie¬
falten naheliegenden Ortschaften Baach, Gauingen, Hochberg unter¬
gebracht.
Das Vorhergehende sollte ein Versuch sein, ein Bild vod der
äußeren Entwicklung der Familienpflege der K. Heilanstalt Zwie¬
falten zu geben. Welche Erfahrungen haben wir nun mit der familiaSen
Verpflegung bisher gemacht, und was dürfen wir aus ihrer bisherigen
Entwicklung folgern?
Von schwereren Unglücksfällen sind die Familienpfleglinge bisher
verschont gebliebeu. Einmal erlitt ein Kranker durch einen Pferde¬
hufschlag eine Verletzung im Gesicht, die sich jedoch nicht als sonder¬
lich schwer erwies. Die in Familienpflege Verstorbenen starben eines
natürlichen Todes: 2 Männer an akuter Herzinsuffizienz, 1 an einer
rasch zum Tode führenden Hirnblutung. Bei der in Familienpflege
verstorbenen Frau bildete ein Leberkrebs die Todesursache. Die
Kranke setzte der Absicht, sie wegen ihrer Erkrankung in die Anstalt
zurückzuverbringen, energischen Widerstand entgegen. Sie wurde
von ihrer Pflegefamilie mit großer Aufopferung bis zu ihrem Tode
gepflegt.
Auch sonst hat die familiale Verpflegung zu keinen erheblichen
Unzuträglichkeiten geführt. Gewaltakte von seiten der Kranken sind
nicht vorgekommen, wenn manche Familienpfleglinge sich zuweilen
auch als unbotmäßig und gereizt erwiesen. Uber solche Zeiten vor¬
übergehender Erregung wurden sie in die Anstalt zurückgenommen.
Im Oktober 1897 belästigte ein an angeborenem Schwachsinn lei¬
dender Kranker ein sechsjähriges Mädchen. Er soll es in den Arm genom¬
men und geküßt haben. Der Kranke wurde daraufhin sofort in die An¬
stalt zurückgenommen. Einmal wurde zur Anzeige gebracht, daß Kinder
durch eine Kranke bedroht worden seien. Nachforschungen ergaben die
völlige Harmlosigkeit dieser Bedrohungen.
Im Jahre 1905 wurde in der Finanzkommission der Kammer der
Abgeordneten zur Sprache gebracht, „daß schon von dritter unbeteiligter
Seite beobachtet worden sei, wie sog. Familienpfleglinge den Kindern der
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Die Entwicklung der familialen Verpflegung usw.
441
Familie, in welcher sie untergebracht waren, durch ihr Verhalten (schlechte
Manieren oder gar sexuelle Ausschreitungen) gefährlich geworden seien“.
Die damals angestellten umfangreichen Erhebungen haben nichts
ergeben, was für dergleichen Vorkommnisse gesprochen hätte. Zwei
weibliche Kranke mit Neigung zu obszönen Schimpfereien auch sexuellen
Inhalts waren schon 1904 wegen ihres ungeeigneten Verhaltens in die ge¬
schlossene Anstalt zurückgenommen worden.
Im Jahre 1907 ist über einen Kranken in einem anonymen Briefe
berichtet worden, daß er für Kinder gefährlich sei. Die angestellten Nach¬
forschungen ergaben ebenfalls die völlige Haltlosigkeit dieser Beschul¬
digung. Das Motiv der Anzeige waren offenkundig Neid und Mißgunst
eines nicht mit einem Familienpllegling bedachten Bauern.
Im April 1911 verursachte ein Familienpflegling versehentlich einen
belanglosen Waldbrand. Die Pflegefamilie hatte es in diesem Falle an der
gehörigen Beaufsichtigung fehlen lassen. Der Kranke wurde in die An¬
stalt zurückgenommen.
Dies sind die störenden Zwischenfälle, die bisher in der Familien¬
pflege vorgekommen sind. Man darf wohl sagen, daß sie bei der hohen
Zahl der Versuchsfälle und bei der immerhin schon langen Dauer der
Ausübung der familialen Verpflegung in Zwiefalten gegen diese Ver¬
pflegungsform kaum ins Gewicht fallen dürften. Bleiben wir doch in der
geschlossenen Anstalt selbst keineswegs von unliebsamen Vorkommnissen
und Unfällen bewahrt. Immerhin weisen diese Fälle darauf hin, daß die
Auswahl sowohl der Familienpfleglinge als auch der Pflegefamilien be¬
sonderer Sorgfalt und Vorsicht bedarf.
Der Boden für die Ausführung der Familienpflege erwies sich in
Zwiefalten als denkbar günstig. Die Erfahrung bestätigte durchaus
die Hoffnungen, welche in dieser Hinsicht vor Ausübung der Familien¬
pflege auf die hiesige Gegend gesetzt wurden sind. Die Albdörfer und
Höfe der hiesigen Umgebung bieten in ihrer idyllischen, abgeschiedenen
Lage den Kranken Ruhe und die für sie wünschenswerten einfachen
Verhältnisse. Größere Städte sind nicht in der Nähe, Fabriken fehlen,
die Dörfer haben wenig Verkehr. Die Dorfbewohner sind bei einfacher,
bescheidener, nicht an große Bedürfnisse gewöhnter Lebensweise
ehrbar und mäßig. Sie treiben außer wenigen Handwerkern aus¬
schließlich Landwirtschaft in der Form des landwirtschaftlichen
Kleinbetriebes und stehen seit Jahrzehnten in geschäftlicher Ver¬
bindung mit der Anstalt. Die Umgebung, welche die Entwicklung der
Anstalt seit einem Jahrhundert miterlebt hat, steht dem Umgang
mit Geisteskranken mit viel weniger Voreingenommenheit und Mi߬
trauen gegenüber, als andere Gegenden. Die Bevölkerung hat sich
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UNIVERS1TY OF MICHIGAN
442
Gutekunst.
an den Umgang mit Geistesgestörten gewöhnt. Von besonderem Werte
ist die Tatsache, daß schon seit Jahrzehnten männliche und weibliche
Angehörige zahlreicher Familien der hiesigen Umgebung eine Ehre
darein s:tzen, in den Anstaltdienst treten zu dürfen. Sie bleiben zu¬
meist mehrere Jahre im Dienst der Anstalt, eignen sich gewisse Kennt¬
nisse in der Irren- und Krankenpflege an und machen sich mit dem
Wesen und der Behandlung Geisteskranker einigermaßen vertraut.
Eine ansehnliche Zahl dieser Wärter und Wärterinnen haben sich zu
allen Zeiten, besonders auch in den letzten Jahren, in der hiesigen
Umgebung niedergelassen, so daß zahlreiche Pflegefamilien vorhanden
sind, deren erwachsene Mitglieder als Pflegepersonal im Dienste der
Anstalt gestanden haben. Gerade diese Pflegefamilien erhielten aus
Zweckmäßigkeits- und aus BilTgkeitsgründen den Vorzug, zumal
da sie häufig der Anstalt und den Ärzten große Anhänglichkeit be¬
wahren, mit Stolz von ihrer Anstaltzeit sprechen und es als Ehren¬
sache betrachten, nicht nur einen Familienpflegling zu erhalten,
sondern auch den an sie gestellten Anforderungen in dem Verständnis
und in der Sorge für den Kranken gerecht zu werden. Die Erfahrung
hat gelehrt, daß man solchen Pflegefamilien oft schwierige Aufgaben
zumuten durfte. Sie brachten auch schwer zu behandelnden Kranken
gutes Verständnis entgegen. Aus wohl verständlichen Gründen war
die Nachfrage nach Kranken, welche im landwirtschaftlichen Betrieb
beschäftigt werden konnten, ziemlich groß. Dieser Gesichtspunkt
war jedoch nicht allein maßgebend zur Aufnahme von Familien-
Pfleglingen. So erwähnt Schott z. B. folgenden Fall: Eine vermögliche
Bauernfamilie, deren erwachsene Kinder sich auswärts befanden,
nahm lediglich der Unterhaltung wegen eine Kranke bei sich auf und
verpflegte sie in „so üppiger Weise“, daß die Auslagen für die Ver¬
köstigung usw. die Höhe des für die Kranke bezahlten Verpflegungs¬
geldes sicherlich erheblich überschritten. — Manchen Pflegefamilien
war es Ehrensache, durch das Alter gebrechlich gewordene Kranke,
die zu keinerlei Arbeit mehr fähig waren, in ihrem Hause mit großer
Sorgfalt und unter Aufwendung einer besonders geeigneten Be¬
köstigung solange zu pflegen, bis die weitere Verpflegung außerhalb
der Anstalt aus ärztlichen Gründen nicht mehr angängig war. Ego¬
istische Motive dürften bei solchen Familien schließlich keine Rolle
mehr gespielt haben. Das Verhältnis der Pflegefamilien zu den Kranken
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UNIVERStTY OF MICHIGAN
Die Entwicklung der familialen Verpflegung usw.
443
wurde eben, nachdem sich beide Teile aneinander gewöhnt hatten,
häufig ein herzliches und fürsorgliches, die Kranken nahmen all¬
mählich die Stellung von Familienmitgliedern im Hause ein.
Mit den Wohnungsverhältnissen durfte man zufrieden sein. Die
Wohnungen entsprechen kleinbäuerlichen, jedoch keineswegs ärm¬
lichen Verhältnissen. Sie sind zumeist gut gelüftet, die Pflegefamilien
kommen auch den Forderungen der Sauberkeit und Reinlichkeit nach.
Die Betten sind gut und reinlich gehalten.
Über die Art und Weise der Verköstigung wurden den Pflege-
familien keinerlei Vorschriften gemacht. Klagen über die Verköstigung
sind trotz der liberalen Handhabung dieser Frage nach Ausweis der
Akten weder früher noch in der letzten Zeit von Familienpfleglingen
eingegangen. Die Kost ist einfach und ländlich. Sie sagt jedoch dem
Geschmack manches aus bäuerlichen Verhältnissen hervorgegangenen
Familienpfleglings vielleicht mehr zu, als die in der Anstalt gereichte
auch dem verwöhnteren Gaumen Rechnung tragende Nahrung.
Die Kranken waren mit ihren Pflegestellen in der Regel auch
zufrieden außer einigen nörglerischen, unzufriedenen Elementen, deren
Wünsche nirgends zu befriedigen sind. Diese Art von Kranken war
es auch vorwiegend, die auf eigenen Wunsch in die Anstalt zurück¬
verlangten oder, wie besonders einige weibliche Familienpfleglinge,
einen Wechsel der Pflegestelle anstrebten.
Grobe Behandlung Kranker von seiten der Pflegefamilie kam nur
einmal vor. Im Jahre 1897 wurde ein Pflegling von seinem Pflege¬
vater geohrfeigt. Der Kranke wurde in die Anstalt zurückgenommen;
in jener Pflegefamilie wurden keine Familienpfleglinge mehr unter¬
gebracht.
Daß die meisten Pflegefamilien es nicht an der nötigen Beauf¬
sichtigung der Kranken fehlen ließen, dafür spricht deutlich die Tat¬
sache, daß von 94 Familien nur 4 in dieser Beziehung ihrer Aufgabe
nicht gewachsen waren. Im ganzen standen also 89 brauchbare Pflege -
familien zur Verfügung, eine Zahl, die der beste Beweis dafür sein
dürfte, daß für die familiale Verpflegung in dieser Hinsicht hier die
denkbar besten Verhältnisse gegeben sind. Wurde doch auch schon
nach kurzer Zeit der Ausübung der Familienpflege erreicht, was von
Anfang an angestrebt worden ist, daß die Annahme eines Pfleglings
nicht als eine Gefälligkeit der Bevölkerung gegen die Anstalt, sondern
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
444
Gutekunst,
als eine Vergünstigung der Anstalt der Bevölkerung gegenüber auf¬
gefaßt wird.
Die therapeutischen Erfolge der freien Behandliwgs-
form der familialen Verpflegung sind nach der bisherigen Erfahrung
recht gute. Die meisten Kranken sind in ihrem psychischen Verhalt®
weitergekommen. Sie lebten in dem ihnen von Haus aus gewohnt®
ländlichen Milieu auf und zeigten bald für alles Mögliche Interesse.
Viele Pfleglinge, die in der Anstalt zu keiner Betätigung zu beweg®
waren, griffen zur Arbeit und entwickelten sich allmählich zu wohl
brauchbaren landwirtschaftlichen Kräften.
So arbeitet ein Kranker, welcher sich in der Anstalt nie zu einer
Beschäftigung herbeigelassen und sich gegen die Unterbringung in Fa¬
milienpflege geradezu gewehrt hatte, heute tüchtig und selbständig in
der Landwirtschaft mit. Er fühlt sich sehr wohl in seiner Pflegestelle,
ist durchaus zufrieden und unterhält freundliche Beziehungen mit seiner
Pflegefamilie und den Dorfbewohnern, während er sich in der Anstalt
stets von seiner Umgebung zurückgezogen und gegen Ärzte und Personal
ablehnend verhalten hatte, ein Verhalten, das sich auch den Ärzten gegen¬
über seit langem geändert hat.
Intellektuell nicht mehr sonderlich hochstehende Pfleglinge ließen
sich wenigstens zu mechanischen Arbeiten (Holztragen, Wasserholen usw.)
gerne heranziehen und fühlten sich wohl bei dieser wenn auch einfachen
Beschäftigung. Ein mutazistischer Katatoniker, welcher sich heute
noch in Familienpflege befindet, hat sich in der Ortschaft, in welcher
seine Pflegefamilie wohnt, über die örtlichen Verhältnisse und auch über
die einzelnen Familien wohl orientiert. Er besorgt Aufträge, welche ihm
schriftlich mitgegeben und welche auf schriftlichem Wege auch wieder
erledigt werden, richtig und prompt. Während dieser Kranke seiner Pflege¬
familie gegenüber zumeist willig und freundlich ist, zeigt er gegen den Arzt
in der Regel ein ablehnendes Verhalten und hört häufig über die Zeit
der Anwesenheit des Arztes mit der Arbeit auf.
Die Kranken haben die Freiheit der familialen Verpflegungsform
stets angenehm empfunden und sie schätzen gelernt. Auch blöderen Fa¬
milienpfleglingen kam die größere Freiheit und Selbständigkeit wohl
zum Bewußtsein. So versäumte z. B. ein Kranker, welcher allmählich
eine erhebliche intellektuelle Einbuße erlitten hatte, nie, wenn er zum
regelmäßigen Bad in die Anstalt geführt wurde, seinen Pflegeeltern auf¬
zutragen, daß sie ihn auch wieder mit nach Hause nehmen sollten.
Daß die familiale Verpflegung von günstigem Einfluß auf die Kranken
war, geht auch daraus hervor, daß von 116 Pfleglingen 27 = 23% ent¬
lassen bzw T . beurlaubt werden konnten, nachdem sie sich nach den mit
ihnen in der Familienpflege gemachten Erfahrungen den normalen Lebens¬
bedingungen gewachsen gezeigt hatten.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die Entwicklung der famiiialen Verpflegung usw.
445
Zur Unterbringung in Familienpflege eig¬
neten sich nach unseren Erfahrungen, wie aus der früher ge¬
gebenen Zusammenstellung ersichtlich ist, am besten die an Dementia
praecox Leidenden und unter ihnen vorzugweise die hebephrenischen
Kranken, welche durch die mancherlei Anregungen der Familie und
des landwirtschaftlichen Betriebes aus ihrer Apathie aufgerüttelt
wurden. Auch Imbezille und chronisch-paranoische Kranke stellten
ein etwas größeres Kontingent. Die an anderen Krankheitformen
Leidenden konnten nur vereinzelt in familiale Behandlung gegeben
werden. Versuche mit manisch-depressiven, periodisch-manischen usw.
Kranken wurden hier nie gemacht. Sind bei solchen Pfleglingen die
freien Intervalle nur kurz, so eignen sie sich nicht zur Unterbringung
in Familienpflege; haben die freien Zeiten längere Dauer, so kommen
die Kranken in der Hegel schon so frühzeitig zur Entlassung, daß sie
die Zwischenstufe der Familienpflege nicht mehr zu passieren ver¬
mögen.
Fassen wir das über den therapeutischen Wert der famiiialen
Verpflegungsform Gesagte zusammen, so können wir mit den hier
gemachten Erfahrungen nur die recht guten Erfolge bestätigen,
welche auch andere Anstalteü innerhalb und außerhalb Württem¬
bergs in dieser Hinsicht mit der Familienpflege gemacht haben.
Wie kommt es nun, daß trotz des für die Familienpflege hier so
günstigen Bodens und trotz der guten therapeutischen Erfolge die Zahl
der Familienpfleglinge langsam aber stetig zurückgegangen ist?
Die Ursache für diesen Rückgang ist nicht in inneren, sondern
lediglich in äußeren Gründen zu suchen. Zur Zeit der Einführung der fami-
lialen Verpflegung im Jahre 1896 war es bei der Art der damals in Zwie¬
falten untergebrachten Kranken — Zwiefalten war damals noch Pflege¬
anstalt und beherbergte in der Hauptsache chronisch Kranke — wohl
möglich, aus dem Gesamtbestand eine erkleckliche Anzahl für Familien¬
pflege geeigneter Kranken auszulesen. Schon in den der ersten Auslese
folgenden Jahren war es erheblich schwieriger, weitere für die Familien -
pflege geeignete Kranke ausfindig zu machen, was in Berichten der
Direktion im Jahre 1899 bei der zweiten Auslese schon zum Ausdruck
gebracht worden ist. In Wirklichkeit war auch unter den in späteren
Jahren in die Familienpflege hinausgegebenen Kranken ein großer Teil
solcher Kranker, welche — wie aus den Tabellen III hervorgeht — nicht
zum ersten Male, sondern wiederholt in familialer Verpflegung unter¬
gebracht worden waren. Trotzdem wurde im Jahre 1902 durchMed.-Rat
Dr. Krimmel noch einmal eine sorgfältige Auswahl getroffen, und manche
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446
Gatekunst.
früher mißglückten Versuche wurden wiederholt, so daß sich die Familien*
pflege damals einer hohen Blüte erfreute. In den folgenden Jahren jedoch
setzte der langsame aber stetige Rückgang ein. Die Zahl der Familien¬
pfleglinge wurde durch Entlassungen, Tod, Erkrankung, Zurücknahme
von Kranken in die Anstalt aus den anderen früher erwähnten Gründen
allmählich nicht unerheblich gelichtet. Die Zahl der in die Familienpflege
Eintretenden vermochte aber mit der Zahl der aus der familialen Ver¬
pflegung Austretenden nicht mehr Schritt zu halten, denn nach der drei¬
maligen Auslese in den Jahren 1896/97, 1899, 1902 war es nachgerade
nicht mehr möglich, aus dem alten Krankenbestand neue für die Familien¬
pflege geeignete Kräfte zu finden. Der Bestand mußte also vorwiegend
aus den Neuaufnahmen ergänzt werden. Dies wird durch äußere Ver¬
hältnisse jedoch außerordentlich erschwert.
Im Jahre 1899 bzw. 1903 wurde Zwiefalten des Charakters einer
reinen Pflegeanstalt entkleidet. Seither mehrten sich die Aufnahmen
Neuerkrankter, während vorher in der Hauptsache nur chronisch Kranke,
unter welchen sich eher zur F.-Pflege geeignete Pfleglinge finden ließen,
zur Aufnahme gelangt bzw. von anderen Anstalten nach Zwiefalten ver¬
setzt worden waren. Nach Zuteilung eines bestimmten Aufnahmebezirks
an Zwiefalten im Jahre 1905 nahm der Andrang Neuerkrankter immer
mehr zu, so daß es bald zur Überfüllung der Anstalt kam. Infolge der
Überfüllung aber vermochte man seit Jahren nur die Schwerkranken
aufzunehmen, die für F. -Pflege auch späterhin zumeist nicht in Betracht
kamen.
Nach der Bekanntmachung des KgL Medizinalkollegiums vom
27. V. 1907 sind die Verpflegungsgelder der Staatsirrenanstalten neu
geregelt bzw. erhöht worden. Infolge dieser Erhöhung der Verpflegungs¬
gelder haben sowohl die zahlungpflichtigen Armenbehörden, welche
seither häufiger in Anspruch genommen werden, ein vermehrtes Interesse
daran, einmal, daß die Kranken möglichst frühzeitig, sobald es ihr Zustand
einigermaßen erlaubt, zur Beurlaubung kommen, zum andern, daß chro¬
nische Kranke, welche infolge ihres psychischen Verhaltens nicht mehr
unbedingt irrenanstaltbedürftig sind, wohl aber noch eine sachver¬
ständige Pflege brauchen, in Pflege- und Bewahranstalten um ein billigeres
Verpflegungsgeld untergebracht werden. Diese letzte Tendenz der Armen¬
behörden usw. wird aus Gründen der Evakuierung der überfüllten An¬
stalten von den Anstalten selbst energisch unterstützt.
Unter diesen Verhältnissen war und ist es nahezu nicht mehr
möglich, in den letzten Jahren gebesserte Kranke vor der Entlassung
die Zwischenstufe der Familienpflege passieren zu lassen und von
dieser wohl bewährten Verpflegungsform trotz besten Willens und
eifrigsten Bestrebens der Ärzte ausgiebigen Gebrauch zu machen.
Die familiale Verpflegung kam, wie die Erfahrung imm er mehr gelehrt
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Die Entwicklung der fainilialen Verpflegung usw.
447
hat, in der Regel nur noch für Kranke in Betracht, welche infolge
Fehlens von Angehörigen überhaupt oder infolge ungünstiger sozialer
Verhältnisse in der eigenen Familie keine Unterkunft finden konnten.
Und nicht einmal solche Kranke blieben immer im Verband der An¬
stalt. So haben in einigen Fällen die zahlungpflichtigen Armen¬
behörden aus pekuniären Gründen bei Kranken, welche in Familien-
pflege untergebracht waren, die Beurlaubung aus dem Anstalts¬
verband erwirkt und haben diese Kranken auf ihre eigene Verant¬
wortung hin Pfiegefamilien der hiesigen Umgebung zur Verpflegung
übergeben.
Dies sind die Gründe, welche den Rückgang der Familienpflege
in Zwiefalten erklären. Und verfolgt man die Entwicklung der fami-
iialen Verpflegung anderer württembergischer Anstalten, so will
mir scheinen, als ob auch sie ähnliche Erfahrungen wie Zwiefalten
gemacht hätten.
Zum Schluß fasse ich die Erfahrungen, welche
seither mit der familialen Verpflegung in Zwiefalten gemacht worden
sind, dahin zusammmen:
Der Boden für die Entwicklung der Familienpflege ist in der Um¬
gebung der hiesigen Anstalt ein sehr günstiger.
Die Familienpflege hat sich bisher aufs beste bewährt und hat
sich als ein wertvoller therapeutischer Apparat unter den Behand¬
lungsformen der Irrenfürsorge erwiesen.
Aus äußeren Gründen vermag zurzeit die familiale Verpflegungs-
fonn zur Entlastung der Anstalt kaum zu dienen.
Die bisherigen guten Erfolge der Familienpflege befestigen und
fördern uns jedoch in dem Bestreben, diese bewährte Verpflegungs-
form soweit als möglich dem Wohl der Kranken zugute kommen
zu lassen.
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Original from
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Drei Fälle von Spätgenesung.
Mitgeteilt von Medizinalrat Dr. Kreuser in Winnental.
Während des größeren Teils ihres jetzt hundertjährigen Bestehens
hat die Kgl württ. Heilanstalt Zwiefalten die wenig dankbare Auf¬
gabe zu erfüllen gehabt, der Aufnahme und Verpflegung von Geistes -
* krankheiten zu dienen, bei denen von anderer Seite zuvor die Hoff¬
nungen auf Wiedergenesung aufgegeben gewesen waren. Aus dieser
bescheidenen Stellung ist Zwiefalten in gleiche Linie mit den übrigen
Kgl Heilanstalten des Landes eingerückt. Auf den dorthin verbrachten
Kranken lastet nicht von Anfang an mehr die Voraussetzung der Un-
heilbarkeit; die Anstalt ist in der Lage, die Erwartungen zu über-
treffen, auf die sie lange Zeit hindurch beschränkt geblieben war.
Als kleine Festgabe zum Jubiläum dieser Anstalt diene daher
eine psychiatrische Erfahrung, die ihrem Lose einigermaßen an die
Seite treten darf: Wiederherstellungen zu vollwertigen Leistungen
im bürgerlichen Leben bei Kranken, deren lange Leidensdauer die
HoSnung auf solche kaum hatte aufrechterhalten lassen.
Von Spätgenesungen habe ich schon im Jahre 1900 l )
eine Anzahl bekannt gegeben, veranlaßt durch ihre praktische Be¬
deutung für die seit Einführung des BGB. unter bestimmten Voraus¬
setzungen in Deutschland allgemein zulässig gewordene Ehescheidung
wegen Geisteskrankheit von wenigstens dreijähriger ununterbrochener
Dauer. Einen weiteren Beitrag zu dieser Frage hat aus meinen per¬
sönlichen Erfahrungen 1905 Sigel 2 ) gegeben. Aber auch sonst ist
ihr seither in der psychiatrischen Literatur mancherlei Bedeutung
zuteil geworden; besonders eingehend und kritisch 1908 durch Petren *).
M Kreuser, Allg. Ztschr. f. Psych. LVII S. 543 u. 771.
*) Sigel, Allg. Ztschr. f. Psych. LXII 8. 325.
*) Petrin, über Spätheilung von Psychosen; eine monographische
Studie. Stockholm. In.«Diss.
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Drei Fälle von Spätgenesung.
449
In der differentialdiagnostischen Auffassung, wie in der Beurteilung
der Genesung nimmt dieser Autor einen anderen Standpunkt ein,
als ich dies getan hatte. Ohne hier auf die früher veröffentlichten Fälle
and ihre diagnostische Bezeichnung zurückkommen zu wollen, möchte
ich nur nochmals die Wichtigkeit auch der nicht ganz einwandfreien
Wiederherstellungen betonen und dem anfügen, daß man meines
Erachtens an die Krankheiteinsicht nicht immer allzu strenge An¬
forderungen stellen darf. Gibt es doch Fälle, in denen die Unvoll¬
ständigkeit der Erinnerungen an die Vorgänge während der Kr nkheit
die Gewinnung vollkommener Einsicht erschwert, andere, in denen
die Rekonvaleszenten glauben, durch nichts besser ihre Genesung zu
zeigen, als wenn sie von allen Gedankengängen während der Krankheit
nichts mehr wissen wollen, wie endlich gewisse Naturen, die unter
der Herrschaft einer von ihrer Krankheit unabhängigen Voreinge¬
nommenheit ihr eigenes Verhalten viel lieber in der gezwungensten
Weise aus allerlei äußeren Umständen ableiten, als aus inneren und
krankhaften Vorgängen. Bewähren sich trotzdem Personen nach
schwerer und langdauemder Geisteskrankheit in keineswegs ein¬
fachen Lebensstellungen über Jahr und Tag, so haben wir das Recht
and die Pflicht, ihnen die Anerkennung ihrer Genesung nicht vorzu¬
enthalten, wenn auch zu wünschen gewesen wäre, daß sie sich den
Anforderungen der psychiatrischen Wissenschaft gegenüber noch etwas
gefügiger gezeigt hätten. — Bis zu einem gewissen Grade gilt dies
auch von den drei weiteren Fällen von Spätgenesung, die hier folgen.
1. N. N., geboren 1863. Von mütterlicher Seite indirekt belastet.
Als Kind zart, gute geistige Entwicklung, wegen Kurzsichtigkeit railitär-
frei. Akademisches Studium von gutem Erfolge begleitet; strebsamer,
tüchtiger Beamter, seit 1895 in selbständiger Stellung. Heiratet 1891,
drei gesunde Kinder. In dem sehr geschäftsreichen Amt bald überarbeitet.
Migräneanfälle, an denen er schon als Student gelitten, häufen sich von
1895 an. Vor Ostern 1898 aufgeregtes Wesen mit gehobenem Selbstbe-
wußtsein; von Ostermontag an deprimiert; sucht dies seiner Umgebung
zu verbergen, besorgt sein Amt weiter, wenn auch mit subjektiver Er¬
schwerung und bei zeitweise recht gereizter Stimmung. Von Juni 1898
wird der Schlaf sehr mangelhaft, weitere Tätigkeit unmöglich. Ein Urlaub
bringt nur unvollständige Erholung; ist nach Wiederaufnahme des Amts
mit seinen objektiv einwandfreien Arbeiten selbst stets unzufrieden.
Seit Ende Oktober vollständig melancholisch. Aufenthalt bei einem ver¬
wandten Arzte. Nach 3 % Monaten entschiedene Besserung, so daß er
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Kr euser,
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nach einem weiteren Erholungsaufenthalt am 1. V. 1899 ins Amt zurück -
kehrt. Erweist sich dabei bald als ungenügend erholt, so daß er im No¬
vember 1899 wieder aussetzen muß. Die anfängliche Besserung des Be¬
findens kehrt sich nach einem Anfalle von Influenza bald zu wesentlicher
Verschlimmerung, so daß er am 7. VI. 1900 selbst in die Anstaltsaufnahme
willigt. Bietet hier bei blassem Aussehen, aber gutem Ernährungszustand
vorzugweise neurasthenische Erscheinungen: Kopf druck, Schlaflosigkeit,
Empfindlichkeit gegen Geräusche, mäßig gedrückt, mutlose Stimmung,
allgemeine Mattigkeit. — Mit Dormiol etwas besserer Schlaf, anscheinend
freier; macht Spaziergänge außerhalb der Anstalt mit anderen Patienten.
Auf einem solchen entspringt er am 6. VII. seinem Begleiter. Wird ver¬
geblich gesucht. In der Frühe des folgenden Tages findet er sich in be¬
freundetem Hause ein mit Schnitt- und Stichwunden am Halse, den Hand¬
gelenken und in der Herzgegend, die er sich im Walde selbst beigebracht
hatte. Wachabteilung. Bereut den Suizidversuch; schwere Selbstvor¬
würfe. Gute Wundheilung. Ende Juli schwere Angstzustände mit beun¬
ruhigenden Gehörshalluzinationen; zunehmend ungenügendere Nahrungs¬
aufnahme. Obstipation. Hypochondrische Wahnvorstellungen: es gehe
nichts mehr durch seinen Körper hindurch. L. facialis stärker innerviert
als der rechte, langsame, leise Sprache. — Dieser Zustand bleibt fast
zwei Jahre lang unverändert; allgemeiner Ernährungszustand dürftig,
blasses Aussehen, zunehmende Arteriosklerose, gebückte, schlaffe Haltung,
verharrt stundenlang in denselben Stellungen. Einförmige Klagen be¬
sonders hypochondrischen Inhalts, zeitweise auch über Heimweh. Sonst
ganz apathisch. Bettbehandlung bringt keine Besserung. Im März 1902
veranlaßt eine nachweisbare Gast~ektasie Magenspülungen. Auch nach
Besserung dieser Affektion psychisch unverändert, Ernährung kaum
gebessert. Erst von Juli 1902 an erscheint er etwas weniger gedrückt,
liest er wieder Zeitungen, gibt er etwas bereitwilliger Antwort; bald
bessert sich auch das Aussehen. Wird überrascht über der Anfertigung
einer kleinen Zeichnung. Kann im September von der Wachabteilung
weggenommen werden. Wird im Verkehr mit der neuen Umgebung bald
lebhafter, gewinnt die früheren Interessen zurück, erholt sich körperlich
und erlangt Krankheiteinsicht. Im November und Dezember leichte
hypomanische Erregung, fährt noch im Mondschein Schlittschuh, wird
vielgeschäftig und pfeift, kann aber am 22. XII. 1902 als genesen ent¬
lassen werden. — Nachdem er sich zu Hause noch weiter erholt hatte,
seit Juli 1903 zunächst als Hilfsarbeiter verwendet. Hat im Laufe des
nächsten Jahres, besonders bei stärkerem Geschäftsandrang, noch mit
Stimmungsschwankungen zu kämpfen, die aber bei wohlwollender Rück¬
sichtnahme der Behörde überwunden werden. Im Jahre 1906 wird er
wieder mit einem selbständigen Amte wie früher betraut, das er seither
zur vollen Zufriedenheit besorgt. Von einer gelegentlichen Animosität
gegen die Anstalt scheint er indessen nicht ganz frei geworden zu sein.
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Drei Fälle von Spätgenesung.
451
Es liegt also eine Erkrankung vor, die au! endogener Veranlagung
beruht, durch geistige Überanstrengung aber zum Ausbruch gekommen
ist. Nach dreijährigen nervösen Beschwerden setzt mit kurzem hypo¬
manischem Vorläufer um Ostern 1898 ein neurasthenischer Depres¬
sionszustand ein, der im Oktober zur ausgesprochenen Melancholie
wird. Von Frühjahr bis Herbst 1899 Remission, dann erneute Depres¬
sion, die im Sommer 1900 zu vollem Ausbruch kommt und nach
mißglücktem Selbstmordversuch in äußerst schwere hypochondrische
Melancholie übergeht unter Begleiterscheinungen, die an Katatonie
erinnern und Ausgang in Verblödung befürchten lassen müssen. Fast
zwei Jahre lang bleibt dieser Zustand stationär. Dann allmähliche
Besserung und Wiederherstellung zur früheren beruflichen Leistung¬
fähigkeit, nachdem nochmals ein leicht hypomanisches Stadium
durchgemacht worden war. Krankheitseinsicht ist erlangt worden,
aber keine Anhänglichkeit an die Anstalt. Nichtsdestoweniger darf
von Genesung gesprochen werden. Die Krankheitsdauer kann je nach
Bewertung der Remission im Jahr 1899 zu drei oder zu vier Jahren
gerechnet werden. — Diagnostisch ist der Fall bei der Melancholie
einzureihen oder wenn man dies vorzieht, beim „Manisch-depressiven
Irresein“. Den Rahmen der Neurasthenie hatte er jedenfalls über¬
schritten.
2. N., geb. 1857 in Indien als Sohn eines deutschen Missionars;
in Deutschland aufgewachsen. Keine Heredität. Kräftig entwickelt und gut
veranlagt. Tüchtiger Rechtsanwalt. In der Lebensweise zu schroffen Wech¬
seln, aber nicht zu Exzessen geneigt; verheiratet, acht gesunde Kinder.
Großer Naturfreund; den Ärzten stets abgeneigt.
Im September 1901 unerwartet außergewöhnliche und verantwor¬
tungvolle Berufsarbeit, die zu viel Reisen nötigt. Fühlt sich auf einer
solchen Reise der Sache plötzlich „entrückt“; überträgt sie einem anderen,
um sich zu erholen. Erscheint diesem, wie der eigenen Ehefrau sofort
krank. Überschätzt die eigenen Vermögensverhältnisse, fährt 1. Kl.;
nimmt im Hotel 3 Stunden lang ein „mystisch-elektrisches“ Bad. De¬
peschiert an den König, trinkt ziemlich viel Wein. Läßt sich schließlich
bestimmen, mit der Frau einen Landaufenthalt aufzusuchen; setzt dort
zahlreiche Telegramme auf und geht ohne Hut nach der nächsten Stadt.
Wegen der rasch zunehmenden Erregung am 28. IX. Aufnahme in Schüssen -
ried. Hier zunächst heiter erregt, sehr ruhelos, völlig verwirrt: spricht
nur in abgerissenen, zusammenhanglosen Silben und Worten, verweigert
die Nahrung, duldet keine Kleider, gewalttätig, spuckt um sich. Nach
einigen Tagen klarer; „froh, wieder auf der Erde zu sein“. Bald vor-
Zeitschrift für Psychiatrie. LXIX. 4. 32
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Kreuser.
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wiegend gereizt; Speisen und Bäder sind vergiftet; ignoriert die Ärzte,
„magnetisiert“ andre Pfleglinge. Dann äußerlich ruhiger, aber einsichtlos.
Beschwerdeschrift an das Ministerium über widerrechtliche Freiheits¬
beraubung, beantragt seine Entmündigung, um gerichtliches Einschreiten
zu bewirken. Beim Besuche der Frau am 31. X. gute Selbstbeherrschung,
verlangt seine Entlassung und setzt diese durch, nachdem er teilweise
Krankheitseinsicht geäußert, aber seinen Rechtsstandpunkt gewahrt und
sich weitere Schritte gegen die Ehefrau Vorbehalten hatte. — Reist mit
der Frau nach M., wobei er sie als Geisteskranke so „behandelt“, daß sie
unterwegs erschöpft Zurückbleiben muß, während er nach Hause reist,
mißtrauisch alles nach rechtswidrigen Eingriffen durchsucht und gegen
die Schwiegermutter eine so drohende Haltung einnimmt, daß polizeiliche
Hilfe in Anspruch genommen und er am 15. XI. in die Tübinger psychia¬
trische Klinik gebracht werden muß. Dort starke, bald mehr heitere,
bald mehr gereizte Erregung, besonders über die Ärzte erbost, wiederholte,
formell ziemlich geordnete Beschwerdeschriften. Am 30. IV. 1902 Über¬
lieferung nach Winnental. Verwahrt sich sofort gegen die Unterstellung
unter den inzwischen von Schussenried hierher übergesiedelten Direktor
und bleibt gegen diesen völlig abweisend, während er mit einem ihm noch
fremden Arzte der Anstalt freundlich verkehrt. — Anhaltende Erregung,
die nur im Grade wechselt. Beständiger Bewegungs- und Rededrang
teilweise in lautem, kaum artikuliertem Aufschreien, bei Nacht mit Vor¬
liebe in „Bauchrednerkunststücken“, in denen er Abwesende und Ver¬
storbene reden läßt. Beschäftigt sich in „mystisch-asketischen“ Übungen
mit religiösen Fragen, will das Christentum mit den indischen Religionen
in Einklang bringen. An ruhigeren Tagen des Eingreifens der Gerichte
gewärtig, da er nie geisteskrank, sondern nur zeitweise in begreiflicher
Erregung gewesen sei. Außer gegen die Ärzte besonders auch gegen die
Ehefrau aufgebracht, die ihm nur noch die „Mutter seiner Kinder“ und
„Gegenpartei“ ist. Wenig Interesse für die Außenwelt; seinen sonstigen
Gewohnheiten entgegen viel Verlangen nach Tabak. Auf sein Verlangen
wird ein Entmündigungsverfahren eingeleitet mit Vernehmung am 18.
VIII., wobei er sich ziemlich korrekt zu verhalten vermag. Zeiten etwas
ruhigeren Verhaltens werden immer wieder unterbrochen durch mehr¬
tägige Erregungszustände, in denen er allerlei Erinnerungen phantastisch
ausbaut und mit seinen Größenideen durchflicht; singt sinnlose Silben¬
zusammenstellungen mit eigener Melodie.
Dieser Zustand erhält sich wesentlich unverändert über Jahr und Tag.
wobei im Laufe des Jahres 1903 das Körpergewicht beträchtlich steigt
Läßt die Erregung nach, so tritt eine demonstrative Gleichgültigkeit in
den Vordergrund; nachdem seine Sache einmal gerichtlich anhängig
geworden, werde er schon zu seinem Rechte kommen; der zu gewärtigende
Schadenersatz verspreche reichliche Entschädigung für den Ausfall an
Einnahmen; je länger die Sache sich hinziehe, desto günstiger für ihn.
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Drei Fälle von Spätgenesung.
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Wird nachlässiger in seinem Äußeren; die lauten Selbstgespräche gehen
mehr und mehr in geräuschvolles Brummen und Grunzen über. Während
er bisher den Gartenausgang nie mißbraucht hatte, entweicht er am
6. VI. 1904 nach St., wo er in seinem saloppen Anzug sofort erkannt und
zurückgebracht wird. Reist am 12. VII. mit einem Wärter zum gericht¬
lichen Termin, wo er seine Sache formell korrekt führt, während er unter¬
wegs die Leute öfters durch sein Brummen erschreckt. In der Folge
wieder mehr ablehnendes Verhalten. Erhebt gerichtliche Klage gegen die
Ehefrau, worauf vom Gericht anderweitige Beobachtung angeordnet wird.
Deshalb mehrere Wochen in E. Nach seiner Rückkehr von dort 1905
auf die Abteilung für gesellschaftfähige Kranke (die er bisher abgelehnt
hatte) verbracht, etwas zugänglicher als seither, will geduldig das Gut¬
achten abwarten, das sicher zu seinen Gunsten lauten werde; fährt mit
..Bauchrednereien“ fort, bleibt fast ganz untätig meist auf seinem Zimmer.
Einen Besuch seiner Frau lehnt er schroff ab (Juli 05). Im Herbst etwas
freundlicher, genießt jetzt auch mehr Bewegungsfreiheit. Will nur noch
durch das Gericht befreit werden; entsprechend schroffes Verhalten gegen
einen Kollegen, der ihm Hilfe anbietet (Oktober 1906). Bleibt ganz auf
dem Standpunkt, gegen die angebliche Geisteskrankheit zu protestieren,
bewegt sich dabei vollkommen frei, befindet sich körperlich wohl; für
Besuche der Söhne zugänglicher; verkehrt viel mit den Mitkranken.
Gegen die Frau immer gleich schroff; doch schreibt er ihr wenigstens ab
und zu. Gegen den Anstaltsdirektor formell korrekter, doch grundsätz¬
lich ablehnend gegen sein Urteil. Von Herbst 1907 an wird ein manie¬
rierter Stil mit besonderer Orthographie auffällig, was sich während der
folgenden Monate in gehäuften sinnlosen Zuschriften mit allerlei ver¬
worrenen Größenideen an den Sohn immer mehr vordrängt. Derlei ge¬
suchte Schreibkunststücke dauern bis in den Sommer 1908 fort, während
sich die Bauchrednereien verlieren. Im August 1908 mehrere Wochen
zu Besuch bei einem Verwandten in der Nähe. Dort nimmt er auch den
Besuch der Frau an. Im September 1908 versuch weise nach Hause beur¬
laubt.
War nun zunächst einige Monate bei einem befreundeten Kollegen
tätig, wobei sich das Familienleben leidlich gestaltete. Im Februar 1909
erhielt er eine Stellung angeboten, die seinem Wunsche, sich möglichst
aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen, entsprach. Er hat sich nun auch
mit der Anstaltsleitung in brieflichen Verkehr darüber gesetzt, ob im
Hinblick auf seine Erkrankung Bedenken gegen diese Stellung zu erheben
seien, und dankbar hat er über das zu diesem Zwecke ausgestellte ärztliche
Zeugnis bescheinigt. Seit drei Jahren versieht er seine neue Stelle zur
vollen Zufriedenheit, und auch das Familienleben hat sich wieder wie
früher gestaltet.
Es liegt also vor: eine ganz akut aus geistiger Überanstrengung
bei einem nicht Belasteten entstandene Psychose, die erst als akute
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Verwirrtheit auftritt, weiterhin als schwere Manie verläuft. Dabei
flechten sich ausgesprochene paranoide Züge ein, die schließlich einen
so manierierten Charakter annehmen, wie man ihn sonst nur bei Ver¬
blödungsprozessen zu Anden pflegt. Trotzdem kommt es nach sieben¬
jähriger ununterbrochener Dauer der Krankheit, die nur in ihrer
Heftigkeit schwankt, zu weitgehender Besserung, und wenn jetzt seit
drei Jahren nicht nur volle Leistungsfähigkeit in neu gewonnener
Lebensstellung, sondern auch die Wiederherstellung des so
gründlich gestörten Familienlebens wieder erreicht worden ist,
so wird man auch hier eine Genesung anzunehmen haben,
selbst wenn die Krankheiteinsicht noch etwas verklausuliert ge¬
blieben sein mag, wie den Briefen vom Februar 1909 immerhin zu
entnehmen ist. Diagnostisch kann der Fall wohl nur bei der Manie
eingereiht werden, wenn auch deren typisches Krankheitbild nach
mehr als einer Richtung überschritten wird.
3. Frau Y, geb. 1860; stammt aus schwer belasteter Familie. War als
Kind schwächlich, mit 14 Jahren Scharlach; in den Entwicklungsjahren
viel Kopfschmerzen. Begabung mäßig; zu Mißtrauen und Zornmütigkeit
stets geneigt. Im elterlichen Hause viel Mißgeschick. Heiratet 1888
einen verwitweten Beamten; verträgt sich schlecht mit dem Stiefsohn:
vier eigene Kinder, wovon eines bald nach der Geburt gestorben ist. —
Seit 1896 häufig verstimmt; im Jahr 1900 melancholische Depression mit
Suizidgedanken ohne eigentliche Selbstvorwürfe, die nach */ 4 Jahr wieder
schwindet. Im Dezember 1901 labiler, vorwiegend reizbarer Stimmung,
Beziehungswahn, einzelne Halluzinationen; im Januar 1902 verwirrt,
am 30. I. Aufnahme in die Tübinger psychiatrische Klinik. Hier stark
manisch erregt, ideenflüchtig; allerlei Personenverkennungen; vereinzelte
Sinnestäuschungen (das Bad ist elektrisiert); starker Stimmungswechsel,
bald liebenswürdig aufdringlich, bald abweisend und gereizt. Seit März
steigende motorische Unruhe, lärmend, aggressiv, unrein.
Am 30. V. 02 erfolgte die Überführung nach Winnental. Hier ober¬
flächlich orientiert, stark gehobene Stimmung, ideenflüchtig, spricht Deutsch
und Französisch durcheinander, tut vornehm herablassend und neigt zu
Witzeleien. Große Neigung, sich in die Angelegenheiten anderer Kranker
zu mischen; starker Bewegungsdrang, besonders auch bei Nacht, viel
lautes Schreien. Neigung zu höhnischen, wie zu obszönen Redewendungen.
Sehr reizbar und leicht tätlich. Trotz reichlicher Dauerbadbehandlunt:
hat sich dieser Zustand mehr als 6 Jahre lang mit nur ganz geringen
Schwankungen wesentlich unverändert erhalten, ist sie eine der schwierig¬
sten Kranken der Anstalt geblieben. Überlaut und brutal gewalttätig
war sie ebenso störend als gefährlich; wiederholt konnten bedenkliche
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Drei Fälle von Spätgenesung.
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Unfälle nur eben noch verhütet werden. Gegen die Ihrigen blieb sie völlig
ablehnend; der Ehemann wurde bei jedem Besuche mit den niedrigsten
Beschimpfungen wieder fortgejagt; von irgendwelchen gemütlichen Be¬
ziehungen auch zu den Kindern war gar keine Rede mehr. Auch für jede
sonstige Annäherung war sie völlig unzugänglich geblieben, während sm
gelegentlich aus ihrer Erinnerung vollkommen Zutreffendes Vorbringen konnte
und in boshaften Bemerkungen aller Art nicht Unzutreffendes anzu-
bringen verstand. Erst im Juli 1908 ist im Anschluß an einen heftigen
Kolikanfall infolge eines Diätfehlers einige Beruhigung eingetreton, war
sie wieder zu besserer Konzentration ihrer Aufmerksamkeit fähig. Von
Herbst 1908 deutliche Besserung, beginnt zu arbeiten, wieder Interesse
für die Ihrigen zu zeigen und bessere Manieren anzunehmen. Von Dezember
an ganz ruhig und geordnet, aber noch leicht ermüdbar und dann auch
zerfahren; knüpft aber die alten Beziehungen wieder an und weiß sich,
als bei einer Spazierfahrt im März 1909 ein Zusammenstoß mit einem Auto
erfolgt, wobei der Kutscher verunglückt, dieses sehr besonnen arizunchmcn.
In der weiteren Rekonvaleszenz ab und zu gedrückte Stimmung. Am
13. September nach Hause entlassen mit durchaus befriedigender Krank¬
heiteinsicht. Nicht so ganz leicht hat sie sich dort wieder eingelebt.
Sohn und Töchter waren inzwischen erwachsen, die Hausfraueupfüchten
waren von anderer Seite besorgt worden. Bis sie sich damit einigermaßen
abgefunden und den veränderten Verhältnissen angepaßt hatte, ist noch
mehr als ein Jahr vergangen. Seither kann sie als genesen gelten, ist sie
nur etwas zurückhaltender als früher geblieben.
In diesem Falle ist es bei eine* - endogen veranlagten Person nach
vorübergehendem Depreseionsizurtjuad zu schwerer Manie gekommen,
die nach nahezu siebenjähriger Dauer ihre Lösung gefunden hat.
nicht ohne aber j'aligre leichte Depression in ihrem Gefolge, ein Spiegel¬
bild des ersten Falles. Trotz aller Schwere der Lr&cheinungeu war
die Möglichkeit eines günstigen Verlaufs stets au frech terhalten ge¬
blieben. Mit der Gefahr späterer Wieder erkrat ■ i:ung muh natürlich
gerechnet werden.
Allen drei Fällen gemeinsam ist die Herkunft der Kranken aus
besseren Familien, in denen die Ansprüche an die Wiederherstellung
flieht unerheblich sind. Ist dir Probezeit dafür in den beiden letznt
Fällen noeb eine verhähmsmätiig kurze, so beträgt sie doch zwe und
drei, im ersten Falk über neun Jahre seit dein Austritt am der Anstalt.
l>aÄ die Wiederanpassung an die Verhältnisse des bürgerlicher Lebern
nicht ganz ohne Schwierigkeiten erfolgt ist. wird niemand beiiemdei
Gehmpen ist sie in aller Fähen und haben wir darum auci voi G e
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nesungen zu sprechen, selbst wenn die Krankheitseinsicht den
allerstrengsten Anforderungen nicht genügen sollte.
Alle drei Patienten waren noch in der Vollkraft der Jahre ge¬
standen und hatten während dieser bemerkenswerte Leistungen aul-
zuweisen, deren Überspannung im zweiten Falle akut, im ersten und
dritten allmählich zur Erkrankung geführt hatte; nur im 3. Falle
war dafür erbliche Belastung in Betracht gekommen. Sowohl die
depressiven Erscheinungen im ersten, wie die exaltativen in den beiden
anderen sind als ungewöhnlich schwer zu bezeichnen. In allen drei
Fällen hat es nicht an Anzeichen gefehlt, die für prognostisch an¬
günstig gelten. So im ersten Falle die schwere und anhaltende Apathie,
im dritten die ungewöhnlich starke Verkehrung aller gemütlichen
Empfindungen, während im zweiten mehrere äußerst bedenkliche Züge
Zusammentreffen: die nur teilweise aus der Berufsstellung abzuleitende
hartnäckige Bechthaberei, die ausschweifenden Phantastereien, die
stereotype Wiederholung sinnloser Gewohnheiten, die Manieriertheit
und Zerfahrenheit der Geistesprodukte!
Trotzdem und trotz der ungewöhnlich langen, fast unveränderten
Dauer der Krankheiterscheinungen war in allen Fällen die Möglich¬
keit einer günstigen Prognose stets aufrechterhalten worden; waren
doch unzweideutige Anzeichen geistigen Zerfalls nicht nachweisbar
gewesen; nicht unwichtige Seiten der geistigen Tät ; gke ; t waren imm er
noch leidlich erhalten geblieben, scheinbar am meisten im ersten Falle.
Der Ausbruch der Krankheit war jeweils unter Umständen und unter
Erscheinungen erfolgt, welche ihren Wiederausgleich nicht aus¬
schließen lassen durften. Diesen letzteren Gesichtspunkt möchte ich
auch heute wieder erneut hervorheben im Gegensatz zu der Richtung
in der Psychiatrie, durch welche den Endzuständen vorzugweise
differentialdiagnostische Bedeutung beigelegt wird. Sie hat nur allzu
leicht zur Folge, daß im Interesse der Diagnostik auf positive Zeichen
des geistigen Zerfalls der Schwerpunkt bei der Untersuchung unserer
Kranken gelegt wird, daß diese dann vorzeitig angenommen werden
und daß darüber ungenügend berücksichtigt bleibt, worin die Krank¬
heit wurzelt und was nej)en bedenklichen Anzeichen etwa noch ver¬
hältnismäßig gut erhalten ist. Nicht nur unser therapeutisches Ver¬
halten hat an letzterem Punkte anzugreifen, sondern auch unsere
Diagnostik und unsere Prognostik haben ihm eingehende Beachtung
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Drei Fälle von Spätgenesung.
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za schenken. Auch dürfen die individuellen Züge des Einzelfalls nicht
unterschätzt werden über den Bestrebungen der Systematik. Wird
doch die letztere unvollkommen bleiben müssen, solange die anato¬
mischen Vorgänge der Untersuchung am Lebenden noch so wenig
zugänglich sind, solange wir auch über sichere Beziehungen der Ver¬
änderungen an der Leiche zu den Krankheitsursachen nicht verfügen.
Unbefangen durch irgendwelche Lehrmeinung haben wir unseren
Kranken gegenüber zu bleiben. Mehr als irgendwelcher andere Zweig
der Medizin hat es die Psychiatrie nicht so sehr mit Krankheiten zu
tun, als mit erkrankten Personen. Ihre Geschicke haben wir im Auge
zu behalten, und sind uns dabei weniger glänzende Erfolge beschieden
als den Kollegen auf anderen Spezialgebieten, so wollen wir uns desto
mehr freuen über die Wiederherstellungen, die nach so langer Zeit
erst fast wider Erwarten noch erfolgen. Es dürften deren doch wohl
mehr Vorkommen, als es nach einer Literatur den Anschein haben mag,
die sich nicht so gern mit Fällen befaßt, für die der endgültige Ab¬
schluß noch fehlt. Doch kann ich kaum glauben, daß anderen solche
Beobachtungen, wie ich sie jetzt doch schon mehrfach mitzuteilen
in der Lage gewesen bin, nicht in ähnlichem Maße zur Verfügung
stehen sollten. Ihre praktische Wichtigkeit in sozialer Hinsicht sollte
weniger damit zurückhalten lassen!
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Die Behandlung psychopathisch minderwertiger
Strafgefangener jetzt und nach dem Vorentwurf
zu einem deutschen Strafgesetzbuch.
Von
Sanitätsrat Dr. Steiger, Hohenasperg.
Die erheblichen Änderungen, die der Vorentwurf zu einem neuen
Strafgesetzbuch in der strafrechtlichen Behandlung der vermindert
zurechnungfähigen Verbrecher bringt, mögen es gerechtfertigt er¬
scheinen lassen, zu untersuchen, ob und wieweit diese Änderungen
als Fortschritte und Verbesserungen anzusehen sind.
Bisher enthielt das Strafgesetzbuch, das den Begriff der ver¬
minderten Zurechnungfähigkeit nicht kannte, auch keinerlei Be¬
stimmungen über die Behandlung psychopathisch minderwertiger
Gefangener; es war daher Sache der einzelnen Justizverwaltungen,
in ihrem Bereich dahingehende Verordnungen zu treffen.
Daß die Lösung dieser Frage ein dringendes Bedürfnis war und
bleiben wird, erhellt am deutlichsten aus der Tatsache, daß nach
Ansicht aller derjenigen, die einen Einblick in diese Verhältnisse
haben, die Zahl der psychopathisch minderwertigen Strafgefangenen
eine außerordentlich hohe ist. So berechnet Asehafferiburg unter
200 SittlichkeitsVerbrechern die Zahl der Degenerierten auf 75%.
Bonhöffer hat unter den Bettlern und Vagabunden ebenfalls 75° 0
Minderwertige gefunden, ebenso Leppmann unter den Sittlichkeits-
Verbrechern des Zuchthauses. Gewiß variieren diese Zahlen je nach
der Kategorie, dem Alter usf. der Verbrecher; man wird sich aber
keiner Übertreibung schuldig machen, wenn man sagt, die geistig
Minderwertigen sind in den Strafanstalten nicht die Ausnahme; geht
doch PoUitz, der als Psychiater und Strafanstaltsvorstand zur Beur¬
teilung dieser Frage gewiß besonders zuständig ist, so weit, zu erklären.
bv Google
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Die Behandlung psychopathisch minderwertiger Strafgefangener usw. 459
daß der geistig Minderwertige bei sorgfältiger Analyse zum mindesten
die Mehrheit des Strafanstaltbestandes bilden wird.
Was sind Degenerierte?
Es ist nicht der Zweck dieser Zeilen, eine Schilderung der psycho¬
pathischen Degeneration zu geben; auch scheint es zweifelhaft, ob
bei dem fließenden Übergang zwischen gesund und minderwertig
und zwischen .minderwertig und geisteskrank eine scharfe Definition
überhaupt möglich ist. Immerhin kann die Definition Kocks, des
ehemaligen Direktors von Zwiefalten, des Begründers der wissen¬
schaftlichen Lehre der psychopathischen Minderwertigkeit und ihres
besten Kenners, auch heute noch Anspruch auf allgemeine Zust immung
erheben. Koch faßt unter dem Ausdruck psychopathische Minder¬
wertigkeiten „alle sei es angeborenen, sei es erworbenen, den Menschen
in seinem Personenleben beeinflussenden psychischen Regelwidrigkeiten
zusammen, welche auch in schlimmen Fällen doch keine Geistes¬
krankheiten darstellen, welche aber die damit beschwerten Personen
auch im günstigsten Falle nicht als im Vollbesitze geistiger Normalität
uud Leistungfähigkeit erscheinen lassen“.
Die psychopathisch Minderwertigeil sind die große Gruppe von
Menschen, die das weite Gebiet zwischen geistiger Gesundheit und
Geisteskrankheit ausfüllen, und wie das geistige Leben von unend¬
licher Mannigfaltigkeit ist, so sind die Abweichungen von der Norm
unendliche. Wir können Abweichungen nach der quantitativen und
solche nach der qualitativen Seite hin unterscheiden, es gibt Störungen
mehr auf dem Gebiete des Intellekts und solche mehr auf dem Gebiete
des Empfindens und Wollens. Charakteristisch aber für den Minder¬
wertigen ist die abnorme Reaktion auf die Reize des
Lebens; und diese abnorme Reaktion ist letzten Endes das wich¬
tigste Kriterium für die Intensität und die Bedeutung der pathologischen
Abweichung.
Es liegt nun nahe, auf Grund der oben angeführten sehr großen
Zahl der Minderwertigen im Strafvollzug anzunehmen, daß diese in
den Strafanstalten nur sehr schwer unterzubringen seien, daß ihre
Behandlung, zumal soweit sie hie und da ein Abgehen von der straffen
Hausordnung notwendig macht, zu weitgehenden Schwierigkeiten führe,
und daß der vielfach gehörte Ruf nach „Sonderanstalten für Minder¬
wertige“ wohl begründet sei. Von all dem ist nach unseren Erfahrungen
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Staiger,
keine Hede. Nicht als ob die Minderwertigen keine Schwierigkeiten
machen würden, aber diese sind nicht unüberwindlich. Voraussetzung
zur Überwindung der Schwierigkeiten ist das Erkennen der Minder¬
wertigen, ihre zweckmäßige Unterbringung und Behandlung.
Das Erkennen der Minderwertigen ist Sache des Arztes, der über
die notwendigen psychiatrischen Kenntnisse verfügen muß. Weiter¬
hin ist erforderlich, daß auch die Oberbeamten mit dem Wesen der
geistigen Anomalien hinreichend vertraut sind. Gewiß sind Minder¬
wertige — sofern sie nicht schon im gerichtlichen Verfahren einer
psychiatrischen Beobachtung unterworfen waren und dort als Minder¬
wertige erkannt und bezeichnet worden sind — nicht sofort und ohne
weiteres — auch vom Arzte nicht — zu erkennen. Doch läßt sich aus
dem verständnisvollen Zusammenarbeiten von Vorstand, Arzt, Geist¬
lichem und Lehrer, aus hinreichender Anamnese und genauer Unter¬
suchung, aus guten Beobachtungen des Personals über Arbeit¬
fähigkeit, Verhalten bei der Arbeit, Benehmen den Mitgefangenen
gegenüber, aus Disziplinarstrafen, Verhalten im Arrest und dergleichen
mehr unschwer ein Bild der geistigen Verfassung des Gefangenen
gewinnen. Schließlich muß — und davon wird hier reichlich Gebrauch
gemacht — die Beobachtung auffallender Gefangener in der lrreu-
abteilung tunlichst leicht gemacht werden. Unter diesen Voraus¬
setzungen ist die Erkennung der minderwertigen Gefangenen nicht
allzu schwierig. Ihr weiteres Verhalten hängt fernerhin von der rich¬
tigen Behandlung und ebensosehr von der richtigen Unterbringung
in der Strafanstalt ab. Letzteres hat sich uns mehr und mehr als
Kardinalpunkt in der Behandlung der Minderwertigen erwiesen.
Es gibt kein Schema, das für alle paßt. Eine individualisierende
Behandlung verträgt sich sehr wohl mit dem Strafvollzug, sie ist
eigentlich selbstverständlich überall da, wo wie in jeder großen Straf¬
anstalt langzeitige und kurzzeitige, alte und junge, kräftige und
weniger widerstandfähige Gefangene sich finden. Nachteile für den
Strafvollzug haben sich uns daraus nicht ergeben. Daß auch gegen
minderwertige Gefangene Disziplinarstrafen verhängt werden, ist
selbstverständlich. Voraussetzung ist nur, daß der Gefangene als
psychisch abnorm bekannt ist, daß der Arzt vor dem Vollzug der Strafe
gehört wird, und daß einem etwaigen Bedenken des Arztes Rechnung
getragen werden muß.
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Die Behandlung psychopathisch minderwertiger Strafgefangener usw. 461
Die Übertragung des Disziplinarrechts und der Strafmilderung
bei Minderwertigen an den Arzt, wie dies Aschaffenburg verlangt,
scheint uns undurchführbar. Es würde dadurch ein unheilvoller,
zu Reibungen und Differenzen schlimmster Art Anlaß gebender Dua¬
lismus in den Betrieb der Anstalt eingeführt werden. Dazu kommt,
daß der Arzt, da die Minderwertigen in der Strafanstalt wohl die
Mehrzahl sind, auch die Mehrzahl der Disziplinarfälle zu entscheiden
hätte. Wer hätte, wenn ein Gefangener sich etwas zuschulden kommen
läßt, zu bestimmen, ob der zu Bessernde dem Direktor oder dem
Arzt zuzuführen ist? Schließlich liegt m. E. der Vorschlag Aschaffen-
burgs auch gar nicht im Interesse des Arztes, seiner Stellung und
Tätigkeit.
Was die vielbesprochene Frage der Einzelhaft anlangt, so wäre
?s falsch, anzunehmen, daß Minderwertige grundsätzlich
davon auszuschließen seien. Wir haben im Gegenteil die Erfahrung
gemacht, daß gerade schwer zu behandelnde Degenerierte, solche mit
epileptoider Reizbarkeit und Empfindlichkeit sich in Einzelhaft viel
besser gehalten und sich dort auch wohler gefühlt haben, als in Ge¬
meinschaftshaft, wo die strenge Beaufsichtigung, die Reibung mit
und an anderen Gefangenen immer wieder zu hausordnungwidrigem
Verhalten Anlaß gegeben haben. Daß Degenerierte mit ungünstigem
Einfluß auf andere, Hetzer, Aufwiegler, Ausbruchverdächtige um der
Ordnung der Anstalt willen isoliert werden und isoliert werden müssen,
bedarf wohl keiner besonderen Begründung. Die Mehrzahl der Minder¬
wertigen eignet sich indes nicht für die Einzelhaft; insbesondere
nicht Nervöse, Neurastheniker mit Angstgefühlen, Hypochonder, Leute
mit Schlaflosigkeit, ebensowenig naturgemäß Gefangene mit zahlreichen
und schweren epileptischen Krampfanfällen. Alle diese müssen in
Gemeinschaftshaft untergebracht werden. Sie hier zweckmäßig und
ihrer besonderen Art entsprechend unterzubringen, gehört zu den wich¬
tigsten Aufgaben eines rationellen Strafvollzugs. — Der Betrieb einer
großen und gut eingerichteten Strafanstalt bietet eine solche Fülle
von Möglichkeiten, die Minderwertigen zweckmäßig unterzubringen,
daß es in der Regel nicht allzu schwer fällt, einen Platz ausfindig
zn machen, wo solche Gefangene ihren Fähigkeiten und auch ihrer
geistigen Besonderheit entsprechend beschäftigt werden. Eine große
Strafanstalt verfügt in ihrem Betriebe über leichte und schwere
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462
Staiger,
Arbeitmöglichkeiten, vom Dütenkleben der Buchbinderei, Flechterei
an bis zu Schreinerei, Schuhmacherei, Flaschnerei, Schlosserei osi.
Viele Minderwertige, insbesondere Neurastheniker eignen sich mehr
für häusliche Arbeiten, in Küche, Bäckerei, Wäscherei, Gärtnerei,
andere werden zweckmäßig in der Außenarbeit beschäftigt.
Weiterhin besitzt das Zuchthaus Ludw'gsburg in der Filialstraf-
anstalt Hohenasperg eine Abteilung für sozial weniger gefährliche,
speziell erstmals mit Zuchthaus bestrafte Gefangene. Auch diese
Abteilung verfügt über verschiedene Werkstättenbetriebe, ebenso
auch über Außenarbeit im Garten, Weinberg, Steinbruch und in der
Landwirtschaft. Für Unterbringung in der Filialstraf anstatt — in
der nebenbei bemerkt auch die Abteilungen für tuberkulöse Gefangene
sämtlicher Strafanstalten sich finden — eignen sich insbesondere solche
minderwertige Gefangene, bei denen aus gesundheitlichen Gründen
mehr Aufenthalt in frischer, staubfreier Luft angezeigt ist. Auf einer
dieser zahlreichen Abteilungen, sei es in Ludwigsburg oder auf Hohen*
asperg, sei es in Einzelhaft oder in Gemeinschaftshaft, findet sich für
die Mehrzahl der Minderwertigen immer ein Platz, an dem sie zweck¬
mäßig untergebracht werden können. Der größere Teil der Minder¬
wertigen kann, das ist unsere Erfahrung, im geordneten Strafvollzug
mitgeführt werden, ohne diesen zu stören und ohne andererseits
Schaden zu nehmen. Für sehr viele ist der Emst des Strafvollzugs,
die Unterwerfung unter die Anstaltordnung, das Angehaltensein zu
regelmäßiger strenger Arbeit, zu Gehorsam und Selbstbeherrschung
von erzieherischem Wert.
Nun gibt es aber, darüber ist kein Zweifel, unter den Minder¬
wertigen eine große Anzahl von Gefangenen, die nicht im geordneten
Strafvollzug mitgeführt werden können; sie finden sich insbesondere
unter den Nervösen, Neurasthenikern, Hypochondern, manchen Se¬
nilen, insbesondere Epileptikern mit zahlreichen Anfällen und speziell
Rekonvaleszenten der Trrenabteilung, kurz bei solchen geistig minder¬
wertigen Gefangenen, denen der volle Strafvollzug allzu beschwerlich
ist und zu einer Steigerung ihrer Beschwerden führt. Für solche
Gefangene besteht seit dem Jahre 1888 auf dem Hohenasperg eine
Invalidenabteilung, die bestimmunggemäß dazu dient, solche Ge¬
fangenen aufzunehmen, denen gegenüber „wegen durch Alter oder
körperliche Gebrechen herbeigeführter Arbeitunfähigkeit, wegen
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Die Behandlung psychopathisch minderwertiger Strafgefangener nsw # 463
geistiger Schwäche oder sonstiger geistiger De¬
fekte eine den Grundsätzen der Hausordnung entsprechende Be¬
handlung nicht durchführbar erscheint, mit Ausschluß der Geistes¬
kranken“. Zunächst sind der Invalidenstrafanstalt im wesentlichen
körperlich gebrechliche Gefangene zugeführt worden. Bald aber diente
sie weiterhin zur Aufnahme der Epileptiker sämtlicher Strafanstalten
und allmählich, zumal seit Errichtung der Irrenabteilung, nimmt sie
mehr und mehr psychopathische Minderwertige, Senile und Rekon¬
valeszenten nach überstandener geistiger Erkrankung auf. Eine auf
26. März d. Js. gemachte Zusammenstellung der Insassen der In¬
validenstrafanstalt eigab unter einem Bestand von 80 Gefangenen:
Epileptiker.11
Nach abgelaufener Geisteskrankheit aus der Irrenabteilung
entlassen.10
Früher in Irrenanstalten gewesen.5
An organ. und funkt. Gehirnkrankheiten leidend .... 5
Zusammen: 31
Fast zwei Fünftel des Bestandes der Invalidenstrafanstalt fällt
somit unter den Begriff der psychopathischen Minderwertigkeit im
engeren Sinne, ohne daß die zahlreichen Senilen — jenseits des
70. Lebensjahres, bei denen die körperliche Gebrechlichkeit im Vorder¬
grund steht, mitgerechnet worden sind. Diese 31 Gefangenen sind
vorwiegend solche, die im ordentlichen Strafvollzug nicht oder nur
mit Mühe und unter mehr oder weniger großen Schwierigkeiten hätten
mitgeführt werden können. Die Vorteile der Invalidenstrafanstalt
für die geistig minderwertigen Gefangenen beruhen in kürzerer Arbeit-
und längerer Erholungszeit, Wegfall des Arbeitpensums und in häu¬
figerem und in vielen Fällen regelmäßigem ärztlichem Besuch, der
insbesondere dadurch erleichtert und gewährleistet wird, daß die
Spitalabteilung für körperlich Kranke, die von dem auf Hohen-
asperg selbst wohnenden Arzt täglich mehrmals besucht wird, sich
in der Invalidenstrafanstalt befindet und auf diese Weise ein häufiges
Begehen der Invalidenabteilung und Besuchen ihrer Insassen durch
den Arzt ermöglicht ist. Wenn die intern, krimin. Vereinigung auf
ihrer Versammlung im Jahre 190& den Beschluß gefaßt hat, daß
Minderwertige im Strafvollzug mit Rücksicht auf diesen geistigen
Zustand zu behandeln und unter besondere Aufsicht des Arztes zu
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Staiger,
stellen sind, so sind diese Forderungen m. E. bei uns insofern erfüllt,
als dank dem Entgegenkomemn des Anstaltvorstandes alle wichtiges,
die Behandlung und Disziplinierung der Minderwertigen dieser Ab¬
teilung betreffenden Fragen unter Würdigung ihrer geistigen Eigen¬
art und im Benehmen mit dem Arzte entschieden werden. Irgend¬
welche Gegensätze haben sich hiebei noch n i e ergeben. Auf diese
Weise ist die Behandlung der Minderwertigen in der Invalidenstraf¬
anstalt ohne besondere Schwierigkeiten möglich. Daß erregte Epi¬
leptiker zuweilen Störungen machen, läßt sich naturgemäß nicht voll¬
ständig vermeiden. Immerhin kann — und das ist vom ärztlichen
Standpunkt aus besonders dankbar anzuerkennen — ein nicht geringer
Teil von hausordnungwidrigem Verhalten (besonders bei erregten
Epileptikern) in der ärztlichen Sprechstunde erledigt werden durch
Aufnahme ins Spital oder aber auch durch Antrag auf Versetzung
in die Irrenabteilung. Der Betrieb verläuft zumeist glatt und ohne
ernstere Störung, was um so bemerkenswerter ist, als die Invaliden¬
strafanstalt keine Isolierräume besitzt. In der Mehrzahl der Fälle
ist es gelungen, kurzdauernde epileptische Erregungs- oder Ver-
stimmungszustände an Ort und Stelle durch Bettbehandlung zu über¬
winden. In schwereren Fällen ist vorübergehende Aufnahme in die
Irrenabteilung notwendig geworden, die dank den bestehenden Vor¬
schriften und den hiesigen Verhältnissen in dringenden Fällen auf
Grund telephonischer Anfrage bei der Direktion sofort vollzogen werden
kann. Zwei Momente sind es, die uns in der Behandlung der Minder¬
wertigen schwereren Grades und der Epileptiker besonders wertvoll
scheinen; das ist einmal die nahe räumliche und organische Ver¬
bindung der Irrenabteilung mit der Invalidenstrafanstalt, die einen
gegenseitigen Austausch der Gefangenen im Bedarfsfälle erleichtert,
dann aber auch die Tatsache, daß die Invalidenstrafanstalt eben nicht
nur geistig minderwertige Insassen enthält. Gerade die Anwesenheit
zahlreicher körperlich gebrechlicher, siecher Gefangener erleichtert
die Unterbringung geistig Minderwertiger. Sie finden unter den übrigen
Gefangenen keinen geeigneten Resonanzboden für ihr Hetzen und
Aufwiegeln. Eine Abteilung, die nur degenerierte und geistig minder¬
wertige Gefangene beherbergen würde, müßte, darüber sind wohl alle
einig, die auf diesem Gebiete Erfahrung haben, zu Mißständen aller¬
schlimmster Art Anlaß geben. Das hat uns die Erfahrung in der
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Die Behandlung psychopathisch minderwertiger Strafgefangener usw. 465
hiesigen Irrenabteilung, wo wir in der ersten Zeit zahlreiche Degene¬
rierte aufgenommen hatten, handgreiflich genug gelehrt. Gerade die
in der Invalidenstrafanstalt mögliche Verdünnung des Materials der
Degenerierten durch körperlich Gebrechliche und Sieche erleichtert
deren Behandlung in hohem Grade. Immerhin soll nicht geleugnet
werden, daß auch in der Invalidenstrafanstalt gelegentlich Fälle Vor¬
kommen, in denen — bei nicht geisteskranken Degenerierten und Epi¬
leptikern — feste Bäume, insbesondere Einzelräume sich als wün¬
schenswert erwiesen haben. Demzufolge ist in neuester Zeit von der
Anstaltdirektion der Antrag auf Errichtung einer eigenen Abteilung
gestellt worden, die in eigenem Gebäude, unmittelbar anschließend
an die Invalidenstrafanstalt, im wesentlichen Epileptiker und solche
Degenerierte beherbergen soll, die in der relativ freien Invaliden-
abteilung stören und andererseits für die Irrenabteilung noch nicht
in Betracht kommen. Diese Abteilung — für 15—20 Gefangene be¬
rechnet — soll mit allem hiezu Nötigen, insbesondere mit einigen
festen Einzelräumen ausgestattet sein. Nach Errichtung dieser Ab¬
teilung werden die drei auf Hohenasperg befindlichen Sonderabtei¬
lungen (Invalidenstrafanstalt, Epileptiker- und Degenerierten- und
Irrenabteilung) imstande sein, alle diejenigen Minderwertigen und
Degenerierten aufzunehmen, denen gegenüber ein modifizierter Straf¬
vollzug angezeigt ist, und wir glauben nicht zu weit zu gehen, wenn
wir hoffen, so allen Eventualitäten gewachsen zu sein.
So kann das Ergebnis vorstehender Ausführungen dahin zusam-
mengefaßt werden, daß die Mehrzahl der geistig minderwertigen Ge¬
fangenen im geordneten Strafvollzug belassen werden kann, ohne
diesen zu stören und ohne andererseits Schaden dadurch zu erleiden.
Ein kleiner Teil benötigt insofern eine gewisse Berücksichtigung, als
er der Unterbringung in Invalidenstrafanstalten und Epilektiker-
anstalten bedarf; ein sehr kleiner Prozentsatz kommt
für die Irrenabteilung in Betracht. Ein Bedürfnis nach Sonder-
abteilungen für geistig minderwertige Gefangene, etwa mit der Be¬
stimmung, alle oder auch nur den größten Teil der geistig Minder¬
wertigen aufzunehmen, liegt nach unserem Ermessen und nach unserer
Erfahrung nicht vor. Schwierigkeiten besonderer Art sind uns
nicht erwachsen.
Diese entstehen in der Regel erst mit Schluß der Strafzeit, wenn
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die Degenerierten entlassen werden. Für den einmal kriminell ge¬
wordenen geistig Minderwertigen bringt der Aufenthalt in der Freiheit
in der Mehrzahl der Fälle wieder neue Konflikte mit dem Strafgesetz¬
buch. Deshalb wird als ganz besonders unzweckmäßig der Umstand
empfunden, daß die Strafzeit der Degenerierten und geistig Minder¬
wertigen in der Regel viel zu kurz ist. Unser auf dem Boden der
Vergeltung beruhendes Strafgesetz bestimmt die Strafe nach der
Schuld; geringere Widerstandfähigkeit gegen verbrecherische An¬
triebe bedingt geringere Schuld, hat also auch geringere Strafe zur
Folge. So kommt der Degenerierte fast immer mit kürzeren Strafen
weg, und diese Strafen haben für manchen, da sie in der Invaliden¬
strafanstalt oder in der Irrenabteilung verbüßt, viel von ihrer Schärfe
verloren; an der ihnen zuerkannten psychopathischen Minderwertig¬
keit tragen sie nicht schwer, sehen vielmehr hierin nur einen gewissen
Freibrief zu weiteren strafbaren Handlungen. Nicht im Straf¬
vollzug, sondern in der unzweckmäßigen kur¬
zen Strafzumessung liegt die Hauptschwierig¬
keit in der Behandlung der geistig Minder¬
wertigen. Man mag über die Vergeltungstrafe denken wie man
will, daß sie den kriminellen vermindert Zurechnungfähigen gegenübe.
vollständig versagt und versagen muß, steht außer Zweifel. Sie läßt
den Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung außer acht.
Nicht mildere, sondern andere Strafe bzw. Behandlung der Minder¬
wertigen ist angezeigt. Ihre abnorme geistige Verfassung, die sie zu
verbrecherischen Handlungen geradezu verleitet, ist nach dem geltenden
Recht ein Grund, sie kürzer zu bestrafen, m. a. W. sie bälder wieder
zu verbrecherischem Tun hinauszulassen; während diese geistige
Minderwertigkeit umgekehrt große Sicherheitsmaßregeln förmlich
herausfordert.
Schutz der öffentlichen Sicherheit vor den kriminellen Degene¬
rierten und ebenso vor den gewerb- und gewohnheitmäßigen Ver¬
brechern, das ist es, was wir vom neuen Strafgesetzbuch erwarten.
Bringt uns der Vorentwurf zum neuen Strafgesetzbuch diesen
erhofften Schutz?
Es war nicht anzunehmen, daß der Entwurf zum neuen Straf¬
gesetzbuch den Vergeltungstandpunkt verlassen und sich ganz den
neuen Strafrechtstheorien anschließen würde. Das hat er auch nicht
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Die Behandlung psychopathisch minderwertiger Strafgefangener usw. 467
getan. Er hat eben in Würdigung des Umstandes, daß den geistig
minderwertigen Rechtbrechern gegenüber eine schärfere Betonung
des Schutzes der öffentlichen Ordnung notwendig ist. für diese nach
Ablauf der gegen sie erkannten Strafe eine Sicherheitsverwahrung
vorgeschlagen.
Der Vorentwurf bringt in § 63 die Bestimmungen über die durch
geistige Mängel bedingten Strafausschließungs - und Milderungsgründe.
Er lautet:
§ 63. Nicht strafbar ist, wer zur Zeit der Handlung geisteskrank,
blödsinnig oder bewußtlos war, so daß dadurch seine freie Willensbestim¬
mung ausgeschlossen wurde.
War die freie Willensbestimmung durch einen der vorbezeichneten
Zustände zwar nicht ausgeschlossen, jedoch in hohem Grade vermindert,
jo finden hinsichtlich der Bestrafung die Vorschriften über den Versuch
(§76) Anwendung. Zustände selbstverschuldeter Trunkenheit sind hiervon
ausgenommen.
Freiheitstrafen sind an den nach Abs. 2 Verurteilten unter Berück¬
sichtigung ihres Geisteszustandes und, soweit dieser es erfordert, in be¬
sonderen, für sie ausschließlich bestimmten Anstalten oder Abteilungen
zu vollstrecken.
§ 65. Wird jemand auf Grund des § 63 Abs. 1 freigesprochen
«der außer Verfolgung gesetzt oder auf Grund des § 63 Abs. 2 zu einer
milderen Strafe verurteilt, so hat das Gericht, wenn es die öffentliche
Sicherheit erfordert, seine Verwahrung in einer öffentlichen Heil- oder
Pflegeanstalt anzuordnen. War der Grund der Bewußtlosigkeit selbst¬
verschuldete Trunkenheit, so finden auf den Freigesprochenen oder außer
Verfolgung Gesetzten außerdem die Vorschriften des § 43 über die Unter¬
bringung in einer Trinkerheilanstalt entsprechende Anwendung. Im Falle
des § 63 Abs. 2 erfolgt die Verwahrung nach verbüßter Freiheitstrafe.
Auf Grund der gerichtlichen Entscheidung hat die Landespolizei¬
behörde für die Unterbringung zu sorgen. Sie bestimmt auch über die
Dauer der Verwahrung und über die Entlassung. Gegen ihre Bestimmung
ist gerichtliche Entscheidung zulässig.
Die erforderlichen Ausführungsvorschriften werden vom Bundes-
rate erlassen.
Diesem von der hiezu bestellten Sachverständigenkommission
im Jahre 1909 ausgearbeiteten Vorentwurf ist inzwischen in neuester
Zeit ein von der Strafrechtskommission bearbeiteter weiterer Ent¬
wurf gefolgt, der in seinen Grundzügen in der Juristenzeitung ver¬
öffentlicht ist. Auch er bringt für die wegen verminderter Zurech-
Zeitschrift für Psychiatrie. LIIX. 4. oo
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nungfähigkeit milder zu bestrafenden Rechtbrecher die nach erfolgter
Strafe in einer öffentlichen Heil- oder Pflegeanstalt zu vollziehende
Sicherheitsverwahrung. Auch er verlangt bei Vollstreckung von
Freiheitstrafen gegen vermindert Zurechnungfähige Berücksichtigung
ihres Geisteszustandes und, soweit dieser es erfordert, Unterbrngung
in besonderen Anstalten oder Abteilungen.
Es unterliegt keinem Zweifel, daß mit diesen Bestimmungen des
Vorentwurfs ein bedeutsamer Schritt nach vorwärts geschehen ist
in der rationellen Bekämpfung des Verbrechens.
Die Forderung nach Berücksichtigung des Geisteszustandes der
vermindert Zurechnungfähigen beim Strafvollzug ist etwas Selbst¬
verständliches und geschieht wohl jetzt auch schon in den meisten
Strafanstalten. Zu begrüßen ist die gesetzliche Fixierung
dieser Forderung, weil damit zugleich psychiatrisch vorgebildete Ärzte
an allen Strafanstalten notwendig werden, denn nur dann läßt sich die
Voraussetzung dieser gesetzlichen Bestimmung, nämlich Feststellung
des Geisteszustandes der auf psychopathische Minderwertigkeit ver¬
dächtigen Gefangenen erfüllen.
Von größerer Bedeutung für die Allgemeinheit ist die neu aufge¬
nommene Bestimmung, wonach kriminelle geistig Minderwertige,
wenn es die öffentliche Sicherheit erfordert,
nach Ablauf der gegen sie erkannten Strafe in einer öffentlichen Heil¬
oder Pflegeanstalt untergebracht werden sollen, ln dieser Bestimmung
dürfen wir einen Fortschritt von grundsätzlicher Bedeutung erblicken.
Es wird damit im Prinzip gebrochen mit der bisherigen Anschauung,
wonach die Tat als solche vergolten wird; in Zukunft wird bei der
Strafe auch die verbrecherische Gesinnung, die soziale Gefährlichkeit
des Verbrechers berücksichtigt. Damit wird einem längst als drückend
empfundenen Mißstand, der kurzen Detinierung des kriminellen
Minderwertigen, abgeholfen.
So sehr man aber an sich von dem Standpunkt der öffentlichen
Sicherheit aus die Verwahrung der kriminellen Degenerierten auch
über die Zeit der Strafe hinaus begrüßen muß, so schwere Bedenken
erheben sich gegen die Bestimmung, daß diese Degenerierten in
öffentlichen Heil- oder Pfleganstalten verwahrt werden müssen. Die
Begründung zum Vorentwurf enthält nichts darüber, warum kriminelle
Minderwertige nach Ablauf ihrer Strafzeit nun gerade in Heil- oder
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Die Behandlung psychopathisch minderwertiger Strafgefangener usw. 469
Pfleganstalten verwahrt werden sollen. Alles spricht eigentlich da*
gegen, Verbrecher, von denen man weiß, daß sie — zwar vermindert
zorechnungfähig — aber nicht geisteskrank sind, und die zu bestrafen
das Gericht keinen Anstand genommen hat, nach Ablauf der Strafe
nun in eine Anstalt für Geisteskranke einzureihen. Es ist eine In¬
konsequenz, einen Verbrecher, deD’man für zurechnungfähig und für
strafvollzugfähig hält, nach der Haft in eine Irrenanstalt zu sperren.
In der Strafanstalt steht hinter dem Gefangenen die straffe Disziplin
und die Macht und der Wille des Vorstandes, ihn unter die Hausordnung
zu beugen. Die Irrenanstalt verfügt über keinerlei Disziplinarmittel.
Dazu kommt, daß die auf diesem Wege eingewiesenen Verbrecher
nicht geisteskrank sind. Dem Irrenanstaltsvorstand sind aber, auch
wenn er noch so sehr die Überzeugung hat, daß der Eingewiesene
nicht geisteskrank und, wie die unmittelbar vorausgegangene Strafe
dargetan hat, straffähig ist, doch die Hände gebunden: er muß einen
Menschen, den er nicht für geisteskrank hält, behalten. Dazu kommt
als weiterer empfindlicher Mißstand, daß solche Insassen erfahrung-
gemäß zum Teil zu den unangenehmen Patienten gehören, daß sie
iu die Irrenanstalt Gewohnheiten und Eigenschaften mitbringen,
die in einer Irrenanstalt außerordentlich störend sind, und die vor allem
nur sehr wenig wirksam und jedenfalls nur mit Mitteln bekämpft
werden können, die nach den in der Psychiatrie allgemein gültigen
Anschauungen in einer Irrenanstalt nicht verwandt werden (Arrest
und andere Disziplinarmittel). Nur wenn diese degenerierten Ver¬
brecher so untergebracht sind, wie in der Strafanstalt, nur dann wird
man mit ihnen verhältnismäßig leicht fertig. In eine Irren¬
anstalt gehören und passen sie nicht. So hat
auch der Deutsche Verein für Psychiatrie in seiner letzten Jahres¬
versammlung in Stuttgart (April 1911) auf Grund eines Vortrags
von Cramer-Göttingen über den Vorentwurf zu einem Deutschen
'Strafgesetzbuch sich dahin ausgesprochen, daß, soweit es sich bei
den vermindert Zurechnungfähigen um Unterbringung in Anstalten
bandeln würde, Anstalten für Geisteskranke nicht in
Frage kopimen könnten. Die vom Vorentwurf vorgeschlagene Art
der Verwahrung der geistig minderwertigen Kriminellen wird am
einmütigen Widerstand der Irrenanstalten scheitern. Es bleiben als
Art der Unterbringung dieser kriminellen Minderwertigen zwei Mög-
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lichkeiten: entweder ihre Verwahrung in Zentralanstalten oder ihre
Belassung in den Strafanstalten bzw. in Adnexen der Strafanstalten.
Wer viel mit kriminellen Degenerierten zu tun hat, wird Zentral¬
anstalten kaum das Wort reden. Die Anhäufung dieser Elemente
gibt Anlaß — darüber ist man wohl einig — zu den größten Schwierig¬
keiten. Ein mehr oder weniger großer Teil der Degenerierten gehört
zu den gewalttätigen, komplott- und fluchtbereiten Verbrechern.
Die Sicherungshaft nach verbüßter Strafhaft wird von ihnen zweifel¬
los als himmelschreiendes Unrecht angesehen, dem sie sich mit allen
Mitteln werden zu entziehen versuchen. Ausbruchversuche werden
an der Tagesordnung sein, so daß, obwohl diese Anstalten ein Zwischen¬
ding zwischen Straf- und Irrenanstalten sein sollen, viel schärfere
Sicherheitsmaßregeln notwendig sein werden, als in Strafanstalten. ,
wo die Möglichkeit eines Milieuwechsels und damit eine individuali¬
sierende Behandlung weit eher gegeben ist, als in den Zentralanstalten. ,
die ein im wesentlichen doch mehr gleichartiges Material beherbergen, j
An das Personal müßten sehr große Anforderungen gestellt werden.
Anforderungen, denen es auf die Dauer nicht gewachsen sein dürfte.
Wir haben hier bei der Ansammlung einer viel geringeren Zahl von
Degenerierten in der Irrenabteilung so erhebliche Schwierigkeiten
erwachsen sehen, daß wir uns nur durch Rückversetzung dieser Ver-
brecher, die nun einmal nicht in Irrenabteilungen passen, in die Straf¬
anstalt helfen konnten. i
So bleibt als einzige zweckmäßige Art der Unterbringung übrig:
die Strafanstalt, bzw. ein der Strafanstalt
angegliederter Adnex. In den Adnexen würden die mehr
harmlosen und die nicht gefährlichen Degenerierten untergebracht
werden, und es ließen sich für solche Abteilungen, in denen dem Straf¬
anstaltsarzt besondere Befugnisse zu erteilen wären, ohne Schwierig¬
keiten Bestimmungen treffen, die zum Ausdruck bringen, daß es
sich bei den Insassen nicht um Strafgefangene, sondern um verwahrung-
bedürftige Degenerierte handelt, Erleichterungen und Vergünstigungen,
die geeignet wären, den Aufenthalt dort zu erleichtern. Gefährliche
und ausbruchverdächtige Degenerierte müßten wie in der Strafanstalt
untergebracht bleiben; ihre Versetzung in die Verwahrungsabteilung
würde nur erfolgen bei tadelloser Führung und als Belohnung für
Wohlverhalten. In der Belassung der Degenerierten in der Strafanstalt
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UMIVERS1TY OF MICHIGAN
Die Behandlung psychopathisch minderwertiger Strafgefangener usw. 47 1
auch Aber die Dauer der ungeordneten Verwahrung kann weder ein
Unrecht noch eine besondere Härte erblickt werden. Einmal handelt
es sieh in der Mehrzahl der Fälle um Gewohnheitsverbrecher, die
ohnehin sich in der Freiheit nur kurze Zeit halten und mit kurzen
Unterbrechungen jeweils bald wieder der Strafanstalt zugeliefert
werden; dann aber ist es nicht sowohl der Strafvollzug, als vielmehr
die Freiheitsentziehung, die sie schwer empfinden, und diese ist in
der Irrenanstalt, in der Zentralanstalt für Degenerierte und in der
Strafanstalt die gleiche. Zudem würden die in der Strafanstalt ver¬
wahrten Degene rierten durch Wohlverhalten eine Versetzung in die
Yerwahrungsabteilung für Minderwertige erreichen können.
Diese Lösung der Verwahrungsfrage der vermindert Zurechnung'
lihigen Verbrecher scheint uns die zweckmäßigste. In der Straf¬
anstalt sind, das haben wir im ersten Teil unserer Darstellungen
auszuführen versucht, die Degenerierten gut untergebracht, sie machen
haue besonderen Schwierigkeiten, und mit den schlimmen Elementen
unter ihnen wird man hier am leichtesten fertig. Auf diese Weise,
durch Verwahrung der geistig minderwertigen Verbrecher in der
‘itrifminiMlt bzw. in einer der Strafanstalt angegliederten Abteilung,
wird allen Seiten geholfen. Die Öffentlichkeit ist gesichert gegen diese
Schädlinge, die Irrenanstalten sind befreit von Insassen, deren An¬
wesenheit sie — und das mit Recht — als störend und lästig empfinden,
besondere Zentralanstalten sind überflüssig.
Wenn in der Begründung zum Vorentwurf die Ansicht vertreten
ist, „daß die Verwahrung bloß gemindert Zurechnungfähiger, die zu¬
nächst ihre Strafe zu verbüßen haben, verhältnismäßig selten Vor¬
kommen wird, schon weil die Strafe dazwischen liegt, deren Wir¬
kungen eine demnächstige Verwahrung oft erübrigen werden“, so ist
dies eine Anschauung, der wir uns nicht anzuschließen vermögen;
wir hoffen vielmehr zuversichtlich, daß es
recht viele sind, deren verbrecherischem Tun
auf diese Weise ein Riegel vorgeschoben wird.
Nun bringt der neueste von der Strafrechtskommission ausgearbeitete
Vorentwurf nicht nur für die geistig Minderwertigen die Verwahrung,
er ordnet auch für gewerb- oder gewohnheitmäßige Verbrecher nach
erstandener Strafzeit eine Sicherheitshaft an. Degenerierte Verbrecher
und gewerb- oder gewohnheitmäßige Verbrecher sind zwei Begriffe.
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Staiger,
die sich nicht ganz decken; aber gerade in den schweren Fällen werden
sie es tun, und so ist zu hoffen, daß in all den Fällen, wo die geistige
Minderwertigkeit nicht genügt, die Verwahrung anzuordnen, die
Merkmale^ des Gewohnheitsverbrechers gegeben sind, so daß der
Degenerierte auf diese Weise verwahrt werden kainn.
Wenn so nach dem Willen des neuesten Vorentwurfs sowohl die
geistig minderwertigen als auch die unverbesserlichen gewohnheit¬
mäßigen Verbrecher auf lange Zeit in den Strafanstalten zurück- und
von verbrecherischem Tun abgehalten werden, dann wird wieder ein
bedeutsamer Schritt vorwärts getan sein in der Bekämpfung des
Verbrechens, ein Schritt vorwärts auf dem Wege, den der VII. Inter¬
nationale Kongreß für Kriminalanthropologie in Köln gewiesen hat.
wo er den Antrag angenommen hat, „die unbestimmte Verurteilung,
d. h. die Verurteilung zu einer Strafe, deren Dauer (die sich in den
weitesten Grenzen ziehen ließe) von dem Anpassungsvermögen des
Subjekts an die sozialen Vorschriften abhängig gemacht würde, zu
empfehlen für diejenigen Verbrecher, deren Verbrechen im Prinzip
auf einer mangelhaften Anpassung an die Gesellschaft beruhen.“
Wir begrüßen die vom Vorentwurf vorgeschlagene Verwahrung
und Sicherungshaft der Degenerierten und Unverbesserlichen als
bedeutsamen Fortschritt. Letzten Endes aber versprechen wir uns
von der Strafe einen vollen Erfolg erst dann, wenn sie, losgelöst vom
Vergeltungsgedanken, nichts anderes sein wird, als die Abwehrma߬
regel der Allgemeinheit gegen Schädlinge am Volkskörper.
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Psychiatrie und Fürsorgeerziehung in Württemberg.
Von
Oberarzt Dr. Schott, leit. Arzt der Heil- und Pflegeanstalt Stetten i. R.
Das psychiatrische Interesse an den Fürsorgezöglingen hat sich
in den letzten Jahren in zunehmendem Maße betätigt und dank
sorgfältiger und umfangreicher Untersuchungen viel Bedeutungvolles
zutage gefördert. In Württemberg liegen die Verhältnisse für irren-
ärztliche Durchuntersuchung des gesamten Materials an Fürsorge-
Zöglingen aus äußeren Gründen nicht günstig. Die Wichtigkeit und
Vielseitigkeit der Beziehungen, welche zwischen den Fürsorgezög¬
lingen einerseits, dem Gebiete der Irrenheilkunde andererseits bestehen,
lassen es dringend wünschenswert erscheinen, daß in nicht zu ferner
Zeit eine einheitliche Durchnntersuchung der gesamten Fürsorge¬
zöglinge unserer 38 württembergischen Rettungsanstalten mit 656
männlichen und 386 weiblichen, also insgesamt 1042 Fürsorgezög-
lingen bewerkstelligt werden kann. Daß eine derartige umfassende
Erhebung große Anforderungen an Zeit und Mühe stellt, bedarf
keiner besonderen Ausführung, zumal bei der großen Zahl der An¬
stalten und ihrer Zerstreutheit über das ganze Land. Unsere größte
Rettungsanstalt mit 206 Insassen, darunter 60 Fürsorgezöglingen,
ausschließlich weibliehen Geschlechts ist Untermarchtal. dann folgt
Heiligenbronn O.-A. Horb mit 131, darunter 15 Fürsorgezöglingen
männlichen Geschlechts, dann Schelklingen mit 128 bzw. 96 und Schoen-
bühl mit 114 bzw. 113 Knaben. An letzterer Anstalt konnte ich unter
liebenswürdiger Unterstützung und Beratung des Herrn Inspektors
Fi «eher im Laufe des Jahres 1910 im ganzen 80 Zöglinge eingehender
untersuchen. Ehe ich auf das Ergebnis meiner Untersuchungen übergehe,
dürfte es sich empfehlen, einen kurzen Einblick in das Gesetz 1 über die
Fürsorgeerziehung Minderjähriger in Württemberg vom 29. Dezember
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1899 /11. November 1905 zu geben. Die Fürsorgeerziehung (Zwangs¬
erziehung) ist der auf Staatskosten erfolgende Eingriff des Staats
in das persönliche Elternrecht der Kindererziehung. Verfolgt wird
dabei immer ein sozialer Zweck: Besserung oder Vorbeugung, zu¬
nächst zugunsten des Minderjährigen, in letzter Linie aber zum Schutze
der Gesellschaft. Die Fürsorgeerziehung ist eine notwendige Er¬
gänzung der Strafrechtpflege. Über den Erfolg der Fürsorgeerziehung
in Württemberg liegen zurzeit noch keine abschließenden Aufstellungen
vor. Die fortschreitende Abnahme der Zahl jugendlicher Gefangener
in Württemberg läßt keinen Schluß darauf zu, ob das Fürsorge-
erziehungsgesetz (F. E. G.) einen Rückgang der Kriminalität Jugend¬
licher herbeigeführt hat, da die seit 24. Februar 1896 in Württemberg
eingeführte bedingte Begnadigung immer mehr zur Anwendung ge¬
langt 2 , Jugendlichen gegenüber sogar fast regelmäßig. Die An¬
wendung des F. E. G. bringt es ferner mit sich, daß fortwährend
eine nicht geringe Anzahl verwahrloster Elemente sich in sicherer
Hut befindet, also zu Straftaten fast gar keine Gelegenheit hat. Nach
drei Anstaltberichten sind von etwa 60% die Ergebnisse als zufrieden¬
stellend zu bezeichnen. Für Preußen liegt eine Statistik über das Nach¬
leben aller früheren Fürsorgezöglinge, welche in der Zeit vom 1. April
1904 bis zum 31. März 1909 aus der Fürsorgeerziehung ausgeschieden
sind, vor 4 .
Es sind 9931 Zöglinge gewesen. Von diesen waren verstorben,
geisteskrank, ausgewandert usw. 480 Zöglinge, nicht ermittelt wurden
984 männliche und 348 weibliche Zöglinge, so daß tatsächlich 8155 Zög¬
linge ermittelt worden sind. Über diese sind sehr genaue Erkundigungen
eingezogen worden. Polizeiorgane wurden dabei nicht in Anspruch
genommen. Nur die früheren Fürsorger, Anstaltvorsteher, Familienväter.
Lehrmeister usw. wurden befragt. Etwaige gerichtliche Verurteilungen
wurden durch Anfrage bei den Strafregisterbehörden festgestellt. Diese
amtliche Statistik lehrt uns, daß die Erfolge der staatlichen Fürsorge¬
erziehung außerordentliche sind. Aus den ausführlichen 29 Tabellen,
welche vom Kgl. Preuß. Ministerium des Innern ausgearbeitet worden
sind, ergibt sich, daß von den 8155 ermittelten ehemaligen Zöglingen
sich zurzeit führen:
männliche weibliche
genügend bis gut 3177 (70% )
zweifelhaft bis gut 489 (10,8% )
ungenügend bis schlecht 872 (19,2% )
2484 (68,7%)
433 (11,9%)
700 (19,4% )
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Psychiatrie und Fürsorgeerziehung in Württemberg. 47^
Diese Durchschnittsziffern werden bei den im Alter bis zu 14 Jahren
in Fürsorgeerziehung Überwiesenen übertroffen: von ihnen haben 85,1%
der männlichen und 88% der weiblichen, von den im Alter von 14 bis
16 Jahren Zugeführten 75,1% der männlichen und 75,4% der weiblichen
Personen eine genügende bis gute Führung aufzuweisen. Selbst bei den
erst im Alter von 16—18 Jahren Überwiesenen sinkt die Ziffer der mit
befriedigender Führung Ermittelten nur wenig unter den Durchschnitt,
nämlich auf 64% bei den männlichen und auf 65% bei den weiblichen
Personen.
Diese Ergebnisse lassen erkennen, daß die geleistete Arbeit nicht
vergeblich war. Je früher die Fürsorgeerziehung einsetzt, desto
bessere Erfolge werden im allgemeinen zu erwarten sein.
Es ist eine leidige Tatsache, daß, ähnlich wie bei der Anstaltunter¬
bringung Geisteskranker oder der Entmündigung Trunksüchtiger,
die entsprechenden Maßnahmen vielfach reichlich spät getroffen
werden. Es ist damit der fürsorgliche Zweck des Gesetzes nicht ge¬
nügend gewahrt.
Geschichtlich interessant 1 ist die Feststellung, daß schon die
zweite württembergische Landesverordnung vom 10. April 1515 eine
Strafbestimmung gegen denjenigen enthält, welcher sein Vermögen
verpraßt und Weib und Kind betteln läßt. Die Armenordnung vom
27. März 1531 enthält die allgemeine Ermahnung, man solle Kinder
and Dienstboten in die Kirche schicken, damit sie von Unarten und
Verbrechen abgehalten werden.
Die Unterbringung in einer Erziehungs- oder
Besserungsanstalt ist erstens möglich, „wenn der Minderjährige
vor Vollendung des 12. Lebensjahres eine Handlung begangen hat, welche
im Fall der Begehung durch einen Strafmündigen sich als Verbrechen
oder Vergehen oder als eine Übertretung im Sinne des § 361 Ziff. 3 oder
| 4 StrGB. (Landstreicherei oder Bettel) darstellen würde, und die Für¬
sorgeerziehung mit Rücksicht auf die Beschaffenheit der Handlung, auf
die Persönlichekit des Minderjährigen, seiner Eltern oder sonstigen Er¬
zieher und auf seine übrigen Lebensverhältnisse zur Verhütung weiterer
sittlicher Verwahrlosung erforderlich ist“. (F. E. G. Art. 1, Abs. 1, Ziff. 1.)
Also nicht eine strafbare Handlung an sich genügt zur Anordnung der
Unterbringung, sondern die gesamten Verhältnisse des Minderjährigen
und seiner Umgebung müssen so beschaffen sein, daß die Unterbringung
zur Verhütung weiterer sittlicher Verwahrlosung
erforderlich ist. Demnach ist, wie Landsberg sich ausdrückt, nicht die
Tat, sondern der Zustand maßgebend.
Der zweite Fall, welcher zur Einleitung der Fürsorgeerziehung führt.
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ist vom Gesetz sehr allgemein gefaßt (Art. 1, Ziff. 2 F. E. G.): „wenn
sonstige Tatsachen vorliegen, welche die Fürsorgeerziehung zur Verhütung
des völligen sittlichen Verderbens notwendig machen“. Ziff. 1 und 2 ist
also gemeinsam, daß die bloße in den Verhältnissen der Umgebung, der Er¬
ziehung des Minderjährigen liegende Gefahr der Verwahrlosung
nicht zum Eingreifen genügt, sondern daß ein gewisser Grad
von Verwahrlosung schon vorliegen muß. Bei
Verschulden der Eltern im Sinn der §§ 1666, 1838 BGB.
genügt diebloßeGefahr zur Anordnung der Fürsorgeerziehung;
die gesetzlichen Bestimmungen sind hier rein vorbeugend.
Die Fürsorgeerziehung erstreckt sich nur auf die sittliche Ver¬
wahrlosung; körperliche Verwahrlosung als solche kann die Einleitung
der Fürsorgeerziehung nicht begründen.
Einverständnis der Eltern ist keine Voraussetzung für die Ein¬
leitung der Fürsorgeerziehung, welche nur anzuordnen ist, wenn der Minder¬
jährige das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Württemberg hat
diese Altersgrenze mit einer Reihe von kleineren Bundesstaaten fest¬
gesetzt, während z. B. die Gesetze von Preußen, Baden und Hessen erst
mit Vollendung des 18. Lebensjahrs die Einleitung der Fürsorgeerziehung
axisschließen. Eine untere Altersgrenze hat das Gesetz nicht bestimmt.
Die Zahl der im Alter unter 6 Jahren eingewiesenen Zöglinge betrug in
Württemberg im Jahre 1906 immerhin 13,3% der Gesamtzahl.
Die Anwendbarkeit des F. E. G. erleidet eine bedeutende Ein¬
schränkung durch den Abs. 3 des Art. 1;
„Die Anordnung der Fürsorgeerziehung kann in den Fällen des
Abs. 1 Ziff. 1 und 2 nur erfolgen, wenn die Erziehungsgewalt der Eltern
oder sonstigen Fürsorger und die Zuchtmittel der Schule, sowie ander¬
weitige, der Gefahr sittlicher Verwahrlosung des Minderjährigen vor¬
beugende Maßregeln sich als unzulänglich erweisen, und wenn dem Bedürf¬
nis nach einer geordneten Erziehung nicht auf anderem W T eg (durch die
öffentliche Armenpflege oder die Vereinstätigkeit) ausreichend ent¬
sprochen wird.“
Die Anordnung der Fürsorgeerziehung soll das letzte Auskunfts¬
mittel sein, wenn auf andere Weise dem Bedürfnis nach einer geordneten
Erziehung nicht ausreichend entsprochen werden kann (Vollzugsver¬
fügung vom 14. II. 1900).
Zuständig für das Fürsorgeerziehungsverfahren ist nach Art.!
F. E. G. das Vormundschaftsgericht. Art. 2 bestimmt dazu:
„Vormundschaftsgericht im Sinn der §§ 1666 Abs. 1 und 1838 des BGB.
sowie des Art. 1 Abs. 1 Ziff. 1 und 2 dieses Gesetzes ist das Amts¬
gericht“. Das Vormundschaftsgericht beschließt von Amts wegen
oder auf Antrag (Art. 4Abs. 1 F. E. G.). Eine Antragpflicht
statuiert das Gesetz selbst nicht. § 3 Abs. 2 der Vollzugsverfügung vom
14. II. 1900 macht den antragberechtigten Behörden ausdrücklich zur
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Psychiatrie und Fürsorgeerziehung in Württemberg.
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Pflicht, den Antrag auf Fürsorgeerziehung zu stellen, wenn entsprechende
Tatsachen zu ihrer Kenntnis gelangen. Diese Tatsachen sollen nebst
den Beweismitteln im Antrag spezifiziert werden. Die Behörden werden
noch besonders daraufhingewiesen, den Antrag rechtzeitig, d. h.
vor Eintritt weitgehender sittlicher Verwahrlosung des Kindes zu stellen.
Zur Stellung des formellen Antrags sind gemäß
Art. 4 Abs. 2 F. E. G. zunächst folgende Einzelpersonen be¬
rechtigt : die Eltern, die Großeltern, der Vormund, Gegenvormund
oder Pfleger des Minderjährigen und der Beistand seiner Mutter. Von
diesem Antragrecht wird nicht häufig Gebrauch gemacht: im Jahr 1906
ist die Einweisung nur in 19 von 316 Fällen auf Antrag einer dieser Per¬
sonen erfolgt. Bei Antragstellung seitens der Eltern oder Großeltern
hat der Richter besonders zu prüfen, ob es sich nicht nur um einen Versuch
derselben handelt, der Sorge für das Kind sich zu entledigen.
Weiterhin sind antragberechtigt „diejenigen Behörden,
welche von der Verwahrlosung eines Minderjährigen Kenntnis erhalten“.
Das sind in erster Linie die Gemeinde-, Kirchen- und Schulbehörden;
im Jahr 1906 veranlaßten deren Anträge 68° * sämtlicher F'ürsorge-
erziehungsbeschlüsse. Ferner kommen in Betracht die Staatsanwaltschaften
schäften, die ordentlichen Vormundschaftsgerichte, die Polizeibehörden,
>owie die amtlichen Ärzte. Diese Befugnis der amtlichen Ärzte
*etzt die Kenntnis der hauptsächlichsten Punkte des Fürsorgeerziehung»-
gesetzes voraus; daraus rechtfertigt sich auch die vorstehende summarische
Geset zesübersicht.
Schott* 3 verdanken wir eine Übersicht über die Fürsorge¬
erziehung Minderjähriger in Württemberg im Rechnungsjahr 1909.
Die Gesamtzahl der 1909 in Fürsorgeerziehung gestandenen Zöglinge
betrug 2053, davon entfallen 61,4% auf Knaben und 38,6% auf Mädchen
Am 1. Dezember 1909 waren in den württembergischen Rettungs¬
anstalten (22 evangelische und 12 katholische) 863 Für»orgezöglinge
und zwar 515 männliche und 348 weibliche untergebracht. 793 Zöglinge
= 43,1% genossen Familienerziehung. Ein Wechsel von der
Familien- zur Anstaltserziehung fand bei 64, ein solcher von der Anstalt*-
lur Familienerziehung bei 6 Zöglingen statt. Es sei ferner noch bemerkt,
daß die Durchführung der Fürsorgeerziehung in Württemberg ausschlie߬
lich von Wohltätigkeitsanstalten bewerkstelligt wird. Die nach dem
Gesetz nur in außergewöhnlichen Fällen zulässige Ausdehnung der Für¬
sorgeerziehung über das 18. Jahr hinaus wurde im Jahr 1909 bei 35 Zög¬
lingen (darunter 21 Mädchen), im Jahre 1908 bei 42 Zöglingen (darunter
25 Mädchen) ausgesprochen¬
en den 2053 Fürsorgezöglingen de» Jahre» 1909 waren ehelich
geboren: 1608 = 78,3% ; unehelich geboren: 445 = 21.7%.
Bei Beginn der Fürsorgeerziehung standen die meisten, 1823 —
88,8%. in einem Alter unter 14 Jahren. Die Zahl derer, welche das
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14. Lebensjahr schon überschritten hatten, betrug 230 = 11,2% der
Gesamtheit.
Dem Religionsbekenntnisse nach teilen sich die Zöglinge
in 1423 = 69,3% mit evangelischer Konfession,
627 = 30,6% „ katholischer „
3 = 0,1% „ sonstiger „
Nach der Volkszählung vom 1. Dezember 1905 entfielen von der
Bevölkerung auf Evangelische 68,7%, auf Katholische 30,2% und son¬
stige Konfessionen 1,1%. Die vorstehenden Zahlen entsprechen also
ziemlich genau der allgemeinen Bevölkerungstatistik.
Die Ursachen, welche zur Anordnung der Fürsorgeerziehung
genötigt haben, sind verschiedener Art, häufig wirken mehrere zusammen.
Bald ist es die Unzulänglichkeit der häuslichen Zucht, die Verwahrlosung
und Gefährdung der Kinder durch die Eltern, bald die eigene Verderbtheit
und Verkommenheit der ersteren, bald sind es Mängel und schlechte Nei¬
gungen (Trunksucht, Stehlen, Gewerbsunzucht, Betteln usw.) bei Eltern
und Kindern zugleich.
Der ganze Erziehungsaufwand auf die Fürsorgezöglinge hat sich
seit 1900 mehr als verdreifacht, er ist von 71 604 Mk. im Jahr 1900 auf
244 924 Mk. im Jahr 1909 gestiegen, der Aufwand des Staates und der
Landarmenverbände von je 28 553 Mk. auf je 97 036 Mk.
Der durchschnittliche Aufwand für 1 Fürsorgezögling belief sich
im Jahr 1900 auf 96,50 Mk.
,, „ 1905 „ 104,62 „
„ „ 1908 „ 117,57 „
„ „ 1909 „ 119,30 „
Gegenüber den gesunden Zöglingen sind nach Schott * 3 die in
geistiger oder körperlicher Beziehung Anormalen in auffallender Minder¬
heit. Im Jahr 1909 war die Zahl der letzteren nur 15 = 4,5%, im Jahr
1908 11,2%. Dabei ist die Zahl der geistig Minderwertigen 5, die der kör¬
perlich Bresthaften 10.
Vorbestraft wären, in der Hauptsache wegen Betteins und
Diebstahls, 76 Zöglinge.
Je mehr sich die Psychiatrie mit der Frage des Verbrechers
als Individualität befaßt hat, um so lebhafter wurde ihr Interesse
an den Jugendlichen der Verbrecherwelt. Die verbrecherische Jugend
ist es, welche den überwiegenden Bruchteil der erwachsenen Recht¬
brecher darstellt und aus welcher sich der sog. „geborene Verbrecher“
rekrutiert. Die Kriminalpsychologie hat richtig erkannt, daß es
leichter -ist, in das Seelenleben der jugendlichen Verbrecher einen
Einblick zu erlangen, als bei Erwachsenen. Es lag die Vermutung
nahe, daß entsprechende Untersuchungen einen wertvollen Anhalt-
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Psychiatrie and Fürsorgeerziehung in Württemberg.
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punkt für die psychologische bzw. psychopathologische Bewertung
des Verbrechers bilden werden. Daraus muhten sich Folgerungen
ergeben sowohl hinsichtlich der Entstehung und Verhütung des Ver¬
brechens, ab auch in bezug auf die gerichtliche und irrenärztliche
Beurteilung der hierher gehörigen Individuen mit Rückwirkung auf
den Strafvollzug. Der Vorentwurf zu einem Deutschen Strafgesetz¬
buch gibt Zeugnis davon, daß die Erfahrungen und Beobachtungen
der Richter und Strafvollzugbeamten, der Erzieher und Fürsorger
sowie die eingehenden irrenärz liehen Untersuchungen und Er¬
hebungen Werte gezeitigt haben, welche für das soziale Leben der Zu¬
kunft von weittragender Bedeutung sind und noch sein werden.
Mönkemoller * hat im Jahre 1898 durch seine Arbeit „Psychiatrisches
aus der Zwangserziehungsanstalt“ erneut auf die große Anzahl geistig
Abnormer unter den in Zwangserziehung befindlichen Zöglingen
hingewiesen und dadurch die Aufmerksamkeit für diese aktuellen
Fragen frisch entfacht. Nach Einführung des Fürsorgeerziehungs¬
gesetzes in Preußen 1901 ist die Zahl der Fürsorgezöglinge erheblich
gewachsen. Seit dieser Zeit sind zahlreiche Untersuchungen an diesem
Material nach den verschiedensten Gesichtspunkten angestellt worden.
Es seien hier ‘nur Laquer 7 , Seelig *, Kluge *, Tippei 10 , Wilmanns 11
u. a. gennant. Kluge 11 hat auf der Versammlung des Deutschen Vereins
für Psychiatrie am 29. IV. 1907 ein Referat „über die Mitwirkung des
Psychiaters bei der Fürsorgeerziehung“ erstattet. Er fand 45—50%
defekter und abnormer Fürsorgezöglinge. Der Schwachsinn — vom
tiefsten Idiotismus bis zum leichtesten Grad der Debilität — herrscht
vor. Es erscheint nach Kluge ** geboten, den sachkundigen Arzt schon
bei der E i n 1 e i t u n g des Fürsorgeerziehungsverfahrens heranzuziehen,
um hier schon Aufschluß über den Geisteszustand des seiner Umgebung
zu entziehenden Kindes oder Jugendlichen zu geben und danach schon die
weitere Untersuchung anzuraten. Kluge 11 empfiehlt fernerhin die Ein¬
richtung einer Beobachtungstation für alle bei der ersten
Untersuchung nicht ganz einwandfrei festgestellten Fälle, am besten im
Anschluß an eine ärztlich geleitete Idioten* oder Epileptikeranstalt.
Meister 13 betont unter anderem, daß der Staat Vorkehrungen treffen
sollte, damit die mit der Fürsorgeerziehung berufmäßig betrauten Er¬
zieher, namentlich aber die Leiter größerer Anstalten, sich mit den Er¬
gebnissen der einschlägigen Sonderforschungen und Erfahrungen auf
pädagogischem, kriminalistischem, psychologischem und psychiatrischem
Gebiete vertraut machen, und daß zu diesem Zwecke neben anderem
auch Unterrichtkurse eingerichtet werden sollten.
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Schott
Wie schon gesagt, bilden die Schwachsinnigen das Gros der
abnormen Fürsorgezöglinge; sie bieten, falls der Defekt vorherrschend
die intellektuelle Seite betrifft, der Erziehung die geringsten Schwierig*
keiten. Das Gegenteil in dieser Richtung bilden die konstitutionellen
Psychopathen. An dritter Stelle stehen die Epileptiker mit meist
sehr vereinzelten Anfällen, aber epileptischen Äquivalenten und Ent¬
artungsäußerungen. Ihnen folgen dann nach Thoma 14 die Hyste¬
rischen an Zahl. Eigentliche Psychosen in Form von manisch-depres¬
sivem Irresein, Hebephrenie sowie schwere Formen von Idiotie
werden seltener erwähnt.
Thoma 14 fand bei einem Untersuchungsmaterial von 620 Zöglingen
(357 Knaben und 263 Mädchen) im ganzen 322 = 51,9% als geistig
abnorm : schwerer S c h w a c h s i n n in 5, mittlerer in 9 und leichter
in 156 (25,2% ) Fällen. Ausgesprochener sittlicher Mangel konnte nur
in 4 Fällen (0,6% ) angenommen werden. Den intellektuell Minderwertigen
kamen die Psychopathen an Zahl am nächsten, von denen wieder
eine größere Anzahl auch Intelligenzdefekte aufwies und zum Teil ah
imbezill angesehen werden mußte — im ganzen 95 Individuen (15,3% V
Ausgesprochene Hysterie fand sich 36 mal (5,8% ).
Epilepsie lag 13 mal vor (2%). 13 Zöglinge (2,1%) waren
geistesgestört oder hatten Anfälle von geistiger Störung durch¬
gemacht.
Eigene Untersuchung: Das Material stützt sich auf
80 Insassen der Rettungsanstalt Schoenbühl 0. A. Schorndorf. Diese
Anstalt beherbergt durchschnittlich 110 männliche Zöglinge im Alter
von 8 bis 18 Jahren.
Von den untersuchten Individuen waren rund 26% unehe¬
lich geboren (Reichsdurchschnitt 10,3%). Bei 2 Zöglingen war die
Geburt vorehelich, was sozial bedeutungvoll ist. Erb¬
liche Belastung in nervöser Hinsicht fand
sich sicher bei 48%; dieselbe bestand fast ausschließlich
in Trunksucht der Erzeuger, nämlich bei 42%. Erb¬
liche Belastung in krimineller Hinsicht ist in
66% erwiesen; bei 16% sind beide Eltern vorbestraft.
Diese Zahlen erhöhen sich voraussichtlich noch, wenn man be- i
rücksichtigt, daß in 8 Fällen die Akten keinen genauen Aufschluß
über die Erzeuger geben. Wir werden wohl nicht fehlgehen, wenn
wir die erbliche Belastung in nervöser Hinsicht auf 60% und solche
in krimineller Richtung auf 60% als Minimum annehmen. Da die
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Psychiatrie und Fürsorgeerziehung in Württemberg.
481
Erhebungen von nervöser Belastung nicht von ärztlicher Seite und von
ärztlichen Gesichtspunkten ausgehend angestellt worden sind, so ist
naturgemäß auf diese Komponente der Verbrechernatur kein besonders
großer Wert gelegt worden. Die erbliche Belastung in krimineller
Hinsicht dürfte sich schon mehr den tatsächlichen Verhältnissen
nähern, obgleich auch hier einige Lücken vorliegen. Nur in 3 Fällen
= 3,7% war Geistesstörung bei einem der Erzeuger vermerkt.
Was die sozialen Verhältnisse betrifft, denen die
Zöglinge entstammen, so sind in rund 75% dieselben in den Akten
als „schlecht, traurig, trostlos“ und ähnlich charakterisiert; es handelt
sich hierbei im wesentlichen um verbrecherische bzw. trunksüchtige
Familienglieder und deren Leben und Treiben. Unter Berücksich¬
tigung der trunksüchtigen Erzeuger, sonstiger trunksüchtiger Um¬
gebung (Stief-, Pflegeeltern, Geschwister u. a. m.) sowie eigener
Trunkliebe, muß bei 65% dem Alkohol eine verhäng¬
nisvolle, Verbrechen befördernde Wirkung zu¬
gestanden werden.
Bei 7 Fürsorgezöglingen werden die häuslichen Verhältnisse als
„geordnet“ bezeichnet; 5 mal werden die Eltern „ordentlich“ be¬
nannt, 4 mal heißt es ausdrücklich, daß die allein stehende Mutter
trotz guten Willens „zu schwach“ zur Erziehung sei. In 3 Fällen be¬
standen ungünstige Verhältnisse insofern, als die Eltern teils krank,
teils durch ihre Arbeit tagüber von Hause abwesend waren.
Auf Groß-Stuttgart entfallen 34% unserer Zöglinge,
während die übrigen sich ziemlich über das Land verteilen. Groß-
Stuttgart, das etwa den achten Teil der Landesbevölkerung ausmacht,
überragt also hier fast um das Dreifache.
27% der Fürsorgezöglinge entstammen Handwerkerkreisen, 22%
sind aus Taglöhnerfamilien hervorgegangen, 15% rekrutieren sich
aus dem Fabrikarbeiterstande. Die übrigen 36% verteilen sich auf
verschiedene Berufe, wovon streng genommen 10% eigentlich ohne
festen Beruf sind.
Von besonderem Interesse sind die Aufzeichnungen aus
der Schule, welche ziemlich vollständig vorliegen.
Was die Begabung im allgemeinen anbetrifft, so
wird nach den vorliegenden Schulzeugnissen die „Fähigkeit“ bei 7
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als „gut“, bei 19 als „befriedigend“, bei 30 als „genügend“ und bei
24 als „ungenügend bzw. schlecht“ geschätzt.
Unter den Letzten, bzw. der Letzte saßen 28, 12 davon kamen
mit ihren Altersgenossen überhaupt nicht mit.
Es stehen also, nach dem Maßstabe der Schule gemessen, 35%
unter dem Durchschnittmaß der Begabung. Wenn wir die Note
„genügend“ als den Durchschnitt annehmen, so entfallen hierauf
37,5%. Über den Durchschnitt erheben sich 26 bzw. 7 oder rund
33% bzw. 9%. Von 9% („gut“) kann man jedenfalls sagen, daß
sie ü b e r der Durchschnittbegabung stehen. Hinsichtlich der Durch*
Schnittbegabung dürfte es richtiger sein, die Noten „befriedigend“
und „genügend“ zusammenzufassen, womit wir einen Prozentsatz
von 61% erhalten. Letztere Zahl dürfte den tatsächlichen Verhält¬
nissen mehr entsprechen.
Was die in den Akten aufgeführten Eigenschaften der
Fürsorgezöglinge betrifft, so wäre darüber folgendes zu sagen: An
der Spitze aller schlimmen Eigenschaften steht der Hang zum
Stehlen; in nicht weniger als 64 Fällen = 80% liegen Eigen¬
tumsdelikte vor. Es stimmt diese Feststellung mit der bekannten
kriminalistischen Erfahrung überein, daß der Diebstahl das weitaus
vorherrschende Delikt der Jugendlichen ist. Bei 60% der Fürsorge¬
zöglinge wird die Neigung zum Lügen hervorgehoben und
in einzelnen Fällen als „unglaublich“ bezeichnet. Ein unbezwing¬
barer bzw. ungezügelter Freiheitstrieb spricht
aus der Erscheinung, daß 40 = 50% unserer Fürsorgezöglinge, sei
es des öfteren „die Schule geschwänzt“, sei es einmal
oder mehrfach aus „ihrer Lehrstelle entlaufen“ sind.
Diese Eigenschaft erklärt auch die zahlreichen Entweichungen
aus der Erziehungsanstalt.
Diesen drei Charakterzügen gegenüber fallen die anderen in den
Akten erwähnten schlechten Neigungen nicht so sehr in das Gewicht:
meist finden sich natürlich mehrere derselben bei einem und demselben
Individuum aufgeführt, wie z. B. „lügt, stiehlt, schwänzt Schule“
oder „frech, unfolgsam, arbeitscheu und diebisch“ u. a. m.
An vierter Stelle kommt die F a u 1 h e i t bzw. Arbeitscheu,
nämlich in 46%.
Als frech werden 17, als widerspenstig bzw. unbotmäßig 16,
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Psychiatrie und Fürsorgeerziehung in Württemberg.
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als verschlagen 15, als leichtsinnig 9, als gleichgültig 8, als verschlossen
7. als gutmütig und haltlos 5, als reizbar und gewalttätig je 4, als roh
3 und als schüchtern 2 bezeichnet.
Den Anlaß zur Einleitung der Fürsorge¬
erziehung bildeten in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle
Straftaten, voran Eigentumsdelikte, nämlich in 61 Fällen.
Wegen mehrfachen Weglaufens aus der Lehre wurden 6, wegen hart¬
näckigen Schulschwänzens 4 in Fürsorgeerziehung gegeben. Bettel
und Landstreicherei haben 4, Sittlichkeitsverbrechen und Urkunden¬
fälschung je 2 und Körperverletzung 1 Zögling der Anstalt zugeführt.
Bei 5 Fürsorgezöglingen lag außer Diebstahl noch Brandstiftung vor.
Der Antrag auf Anordnung der Fürsorgeerziehung ging nur
in den seltensten Fällen, nämlich in 9 = 11,2% von den Eltern aus.
Vorbestraft bei der Einweisung in die Erziehungsanstalt
waren 32%; wegen strafbarer Handlung in Untersuchung
standen 58%.
Bei 29 kriminellen Vorfahren fand sich 22 mal beim Nachfahre
dasselbe Delikt. Bei krimineller Belastung von seiten beider Erzeuger
überwog der Einfluß der Mutter.
Bei der ärztlichen Untersuchung legten 16 ein
schüchtern-verlegenes, 16 ein ruhiges und überlegtes, 9 ein freches,
7 ein stumpfes, 16 ein verschlossenes und 16 ein munteres Wesen an
den Tag. Nach dem Lieblingsfach in der Schule befragt,
gaben 57 = 71% an, ein solches oder mehrere zu haben; 23 erklärten,
kein Lieblingsfach zu besitzen. An der Spitze der Lieblings fächer
stehen Geographie und Geschichte bei je 10, dann Rechnen 8, Zeichnen
und Schönschreiben je 7, Lesen und Diktat je 4, Aufsatz 3, Singen
und Auswendiglernen je 2.
Befragt, ob sie einen Freund in der Anstalt besäßen, stellten
dies 37 = 46,2% in Abrede.
Auf körperlichem Gebiete sind zu erwähnen: Entartungs¬
zeichen bei 80%. Die Asymmetrie des Gesichtschädels war be¬
sonders häufig. Linkshänder waren 5 — 6,2%. Farbenstörung
ließ sich in 2 Fällen nachweisen. Bettnässen bestand bei 10 = 12,5%;
darunter befanden sich 4, welche auf Epilepsie verdächtig waren.
Stottern wiesen 3 auf. Tätowierungen zeigten 8 = 10%, davon waren
3 psychiatrisch verdächtig und 3 besonders kriminell veranlagt. In
Zeitschrift für Psychiatrie LXTX. 4 34
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Schott,
gegen 40% konnte eine Schwellung der Schilddrüse festgestellt werden,
welche wohl mit der Entwicklung der geschlechtlichen Reife in Zu¬
sammenhang stehen dürfte. In nur 3 Fällen konnte von einer Struma
gesprochen werden. Vasomotorisches Nachröten und mechanische
Muskelerregbarkeit erwiesen sich in 60% lebhaft, davon in einem
Drittel der Fälle entschieden gesteigert. Ein ähnliches Verhalten
zeigten die Sehnenreflexe. Ein Drittel der Individuen war im Längen¬
wachstum gegenüber dem Durchschnitt ihres Lebensalters zurück.
4 Individuen waren verdächtig auf Tuberkulose; bei 6 bestanden
Erscheinungen einer Mittelohreiterung. Ausgesprochene Herzfehler
kamen bei den untersuchten 80 Fürsorgezöglingen nicht zur Beob¬
achtung, ebensowenig Lues.
Psychiatrisch verdächtige Fälle waren es
19 = r u n d 2 4%; eine besondere kriminelle Anlage zeigten 12
= 15 %.
Unter den psychiatrisch verdächtigen Fällen befanden sich 7 mit
dem Verdacht auf E p i 1 e p s i e. Bei keinem derselben bestanden
ausgesprochene Krampfanfälle. Die Personalien derselben sind in
Kürze:
1. F. B. aus B., 15 J. alt, Schulschwänzer. Vater Trinker, Mutter
Dirne. Zahlreiche Narben auf dem behaarten Kopf. Demographie, mecha¬
nische Muskelerregbarkeit und Sehnenreflexe erhöht. Periodische Ver¬
stimmungen. Nach dem Bericht des Inspektorats „ein schwieriger Knabe,
der gute Tage und Wochen hat, aber der auf einmal wieder trotzig und
unbotmäßig sein kann“. Degenerationszeichen.
2. P. K. aus H., 14 J. alt, mehrfache Diebstähle begangen. Vater
vorbestraft wegen Körperverletzung und Urkundenfälschung. Mutter zu
nachgiebig, soll an „Krämpfen“ leiden. Im J. 1909 Kopfverletzung mit
Bewußtlosigkeit und nachfolgender Wundeiterung. Druckempfindliche
Narbe, öfteres Auftreten von Übelkeit. Ein Ohnmachtanfall in der
Erziehunganstalt. Degenerationszeichen.
3. G. R. aus B., 16 J. alt, Brandstiftung. Vater P., Stiefmutter
Dirne. Drei Brüder ganz verkommen, „unsittlich, zündeln, stehlen und
betrügen“. Bettnässer zeitweise. Starker sittlicher Defekt. Zuzeiten
sehr erregbar; viel Kopfweh. Degenerationszeichen.
4. A. L. aus H., 18 J. alt, Sittlichkeitsvergehen. Vater P., Mutter
Dirne. Verschlagen und frech. Verdacht auf Tb. Reflexe, vasomotorisches
Nachröten und mechanische Muskelerregbarkeit gesteigert. Zeitweise
mürrisches und gereiztes Wesen. Viel Kopfweh. Bettnässen. „Ohn¬
machtanfälle“. Degenerationszeichen. Tätowierung.
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Psychiatrie und Fürsorgeerziehung in Württemberg.
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5. P. \L aus M.. 19 J. alt. Raub und Diebstahl i. R. Vater P., Mutter
geistig schwach, f. Lügt und betrügt, stiehlt und ist roh. Periodisch
mürrisch-aufgeregtes Wesen. Fünfmal in diesen Zeiten aus der Anstalt
entwichen. Erhöhte Reilexerregbarkeit. R. Schilddrüsenlappen vergrößert.
Trigeminuspunkte I u. II L druckempfindlich. Zeitweises Bettnüssen.
Mehrfache Tätowierungen.
6. G. R. aus M-. 16 J. alt, Diebstahl. Eltern ordentlich. Zeitweise
Schwindelgefühl mit Erbrechen. Gesteigerte Reflexerregbarkeit. Zeiten
mürrischer Verstimmung. Gelegentliches Einnässen. Degeneration; -
seichen.
7. F. Zw. aus L.. 17 J. alt. Diebstahl. Stiefmutter P. und Unzucht.
Zwei Schwestern sittlich verkommen. Schlechter Schüler. Narben am
Kopf. Ausgesprochene Verstimmungen reizbaren Charakters. Ab und
zu Klagen über Kopfweh. Otitis med. 1. Zeitweises Einnässen. Reflex¬
erregbarbeit erhöht. Entartungszeichen.
In 6 weiteren Fällen besteht ein Schwachsinn mittleren
Grades. 4 Fürsoigezöglinge sind starke Psychopathen,
darunter 1 mit homosexuellen Neigungen.
Bei einem Fall besteht Verdacht auf eine organische Ge¬
hirne r kr ankung:
J. N. aus H., 17 J. alt. Diebstahl. Vater P., vorbestraft. Faul
und unbotmäßig, lügnerisch und heimtückisch; bedroht und mißhandelt
die Mutter. Schlechter Schüler gewesen. Doppelts. Otitis med. purul.
Strabismus diverg. 1. R. Pupille stark erweitert und von geringer Reak¬
tion. Konsensuelle Reaktion von R. nach L. gut, von L. nach R. wenig.
Puls verlangsamt und gespannt. Reflexsteigerung. Zeitweises Schwindel¬
gefühl.
In 1 Fall wurde das Vorhandensein einer manisch-depres¬
siven Anlage angenommen.
Es handelt sich hierbei um einen 14jähr. Knaben, E. S. aus R.
Diebstahl. Vater P. Wenig begabt. Sehr wechselnd in Stimmung und
Leistungfähigkeit. „Oft könnte ich in der Schule der Erste werden,
ein anderes Mal weiß ich wieder fast gar nichts.“ Mehrfache Degenerations-
zeichen. Lebhafte Reflexe. Bald träumt der Knabe vor sich hin, bald
ist er heiter und gesprächig.
12 Individuen =16% der Gesamtzahl zeigen
eine beson ders ausgesprochene kriminelle.An-
l *g«.
1. W. B. aus L., 10 J. alt, EinbruchsdiebstahL Vater wegen Betteins
vorbestraft, Mutter mehrfach wegen Diebstahls und Hehlerei bestraft,
gilt für händel- und streitsüchtig. Der Lehrer äußert sich über B. wie
folgt: B. ist ein in jeder Beziehung durchaus verwahrloster, verdorbener
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und roher Mensch; lügt, betrügt und stiehlt, quält Menschen und Tiere,
schwänzt die Schule und hat selbst dem Lehrer schon mit Erschießen
gedroht. Hang zum Diebstahl außerordentlich stark entwickelt. Schul¬
zeugnis: Fähigkeit befriedigend — Betragen ungenügend — Fleiß unge¬
nügend — Kenntnisse ungenügend — 58/58.
Die Anstaltleitung berichtet über den Zögling: B. ist ein Knabe
von ungewöhnlicher Verdorbenheit und schwieriger Charakteranlage . . .
Der Knabe ist so lügenhaft, verschlagen, heuchlerisch, boshaft und diebisch,
daß es ganz unmöglich erscheint, ihn in einer Familie vor Ausschreitungen
zu bewahren. Die Fortsetzung der Anstaltzucht ist unbedingtes Er¬
fordernis.
Noch nicht konfirmiert. Körperlich außer Entartungszeichen und
erhöhter Reflexerregbarkeit nichts Besonderes. Orientiert, Stimmung
vergnügt. Kenntnisse gering. Gesteht seine Straftaten unumwunden ein.
Keine Reue.
2. K. C. aus H., 16 J. alt; Diebstähle, Unterschlagungen und Ur¬
kundenfälschung. Familie sittlich tiefstehend, Kinder werden zum Betteln
angehalten. Vater vorbestraft. Mutter hat uneheliche Kinder. Bei der
Untersuchung albernes Wesen. Keine Organerkrankung. Residuen über¬
standener Rachitis. Entartungszeichen und Tätowierung. Urteilskraft
gering. Sittliche Vorstellungen oberflächlich. Schlechter Schüler, dürftige
Schulkenntnisse.
3. K. E. aus L., 14 J. alt, wiederholt gerichtlich bestraft (Mund
raub, Sachbeschädigung, Diebstahl). Vater arbeitscheu und trunkliebend.
Nach Auskunft des Lehrers gut begabt, aber faul und frech; lügt, betrügt
und stiehlt, wegen Tierquälerei angezeigt, Fähigkeit genügend, Betragen
ungenügend, Fleiß befriedigend, Kenntnisse ungenügend — 57/58. Bei
der Untersuchung ist das Verhalten auffällig ruhig und sicher. Der Blick
hat etwas Lauerndes und wird meist gesenkt gehalten. Residuen von
Rachitis. L. otitis med. chron. Reflexe lebhaft. Mehrfache Entartungs¬
zeichen. Schulkenntnisse ordentlich. Beschönigt seine Handlungen nicht.
Keine Reue. Er macht einen sozial recht ungünstigen Eindruck; hat bis
jetzt in der Anstalt sich ordentlich geführt.
4. A. F. aus H., unehelich geb., 10 J. alt. Diebstahl. Mutter steht
in schlechtem Ruf. Nach Angabe des Lehrers ist p. F. verschlossen,
hinterlistig, unter Aufsicht duckmäuserisch, ohne solche ausgelassen,
lügnerisch. Fleiß gering, doch nicht faul. Kenntnisse gering — 55/57.
p. F. befand sich zuerst in der Anstalt Stammheim, wurde aber wegen
fortgesetzter Diebereien in die Anstalt Schoenbühl versetzt. Bei der
Untersuchung scheues, ängstliches Wesen. Antworten erfolgen zögernd.
Blasses Aussehen, mürrisch-verdrießlicher Gesichtsausdruck. Verdacht
auf Tb. Lebhafte Reflexe. Mehrfache Entartungszeichen. Orientiert.
Antworten zutreffend. Klagt über Schmerzen in der Herzgegend und gibt
noch von sich aus an, er habe Zeiten, wo es ihm so schwer ums Herz sei.
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Psychiatrie und Fürsorgeerziehung in Württemberg.
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zu anderen Zeiten fühle er sich leichter. Beschönigt seine Handlungen
nicht. Reue nicht zu erkennen.
5. P. G. aus O., 17 J. alt, 5mal wegen Betteins bestraft; Vater
wegen Körperverletzung 2mal bestraft, hat sich an P. G. des öfteren ver¬
griffen. Nicht unbegabt. Zu wiederholten Malen seinem Lehrherrn ent¬
laufen und sich arbeitlos und bettelnd in Württemberg und Bayern herum -
getrieben. Bei der Untersuchung gewandtes Auftreten, etwas Lauerndes
im Blick. Körperlich kein krankhafter Befund. Feine Gesichtszüge.
Vollständiges Gebiß. Tätowierung. Entartungszeichen. Orientiert. Ant¬
worten prompt und zutreffend. Schulkenntnisse befriedigend. Sittlicher
Tiefstand.
6. K. H. aus K., unehel., 18 J. alt, Unterschlagung und Betrug.
Mutter ist gut prädiziert, hat selbst den Antrag gestellt. Das Pfarramt
bezeichnet den p. H. als einen abnorm veranlagten, zu allem
Unfug aufgelegten, mit gewöhnlichen Mitteln nicht zu bändigenden
Schlingel. Der Klassenlehrer hat den Eindruck erhalten, daß K. H. ein
durchaus verlogener, zu allen Verstellungen fähiger Mensch sei, der durch
die Zuchtmittel der Schule und des Elternhauses auf den Weg der Ordnung
nicht gebracht werden könne und namentlich einen unüberwindlichen
Hang zum Vagabundieren zeige. Bei der Untersuchung langsam und wort¬
karg, stottert etwas. Gehör und Gesicht gut. Reflexe erhöht. Links.
Kopfweh soll zeitweise bestehen. Mehrfache Entartungszeichen. Blick
dauernd zu Boden gesenkt. Wesen scheu, unaufrichtig. Orientiert.
Antworten zutreffend. Kentnisse gering, ebenso das sittliche Empfinden.
7. W. J. aus S., 14 J. alt, Diebstahl. Häusliche Verhältnisse so
zerfahren, daß eine Besserung durch die Eltern ausgeschlossen erscheint,
zumal der Vater als Reisender häufig auswärts ist. Der Lehrer urteilt
wie folgt: W. J. ist durch das Lesen von Indianerbüchlein verwildert,
*r nahm an einer Verbrecherbande teil. Seiner Mutter hat er Geld unter¬
schlagen; später war er bei einem Onkel im Laden unehrlich, dann in
einer Lehrstelle. Ein Bruder von ihm ist Lehrer; seine Geschwister sind
wohlerzogen. Häufige Schulversäumnisse gehabt, gefälschte Briefe ge¬
schrieben. Aus dem Konfirmationsunterricht ausgewiesen. Bei der Unter¬
suchung ruhiges, sicheres Benehmen. Antworten erfolgen prompt. Geistig
lebhaft. Befriedigende Schulkenntnisse. Körperlich nichts Besonderes
mit Ausnahme mehrfacher Entartungszeichen. Geringes sittliches
Empfinden, macht einen sozial recht ungünstigen Eindruck.
8. B. K. aus L., 13 J. alt, Raub und mehrfach Diebstahl. Vater f.
Mutter wird nicht mehr fertig mit ihm. Sie äußerst sich über ihren Sohn,
wie folgt: Mein Sohn lügt gern, folgt mir nicht, geht trotz Ermahnung
nicht mehr in den Knabenhort. Der Lehrer bezeichnet Iv. als ein Ärgernis
und schlimmes Beispiel für seine Mitschüler; seit der Sommervakanz 1909
ist er ein unverbesserlicher Schulschwänzer, ein frecher, trotziger Bursche
mit einer vielleicht vom Vater angeborenen Neigung zu Roheiten und
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Ausschweifungen. Begabung gut, Fleiß in jüngster Zeit unbefriedigend,
früher befriedigend. Betragen ungenügend — 34/53. In früheren Jahren
war K. ein ordentlicher Schüler, kam später in schlechte Gesellschaft.
Während der Untersuchung häufl g lachend und kichernd. Blasses Aus¬
sehen, unruhiger und mißtrauischer Blick. Leicht hydrozephaler Schädel;
linkshändig; lebhafte Reflexe; mehrfache Entartungszeichen. Antworten
prompt und zutreffend. Orientiert. Ordentliche Kenntnisse. Beschönigt
nicht. Geringes sittliches Empfinden. Gebahren sozial ungünstig.
9. F. K. aus S., 17 J. alt, Diebstahl. Vater hitzig und jähzornig.
Eltern selbst haben den Antrag gestellt, da ihr Sohn ein Tunichtgut sei,
mit dem sie nicht mehr fertig werden. Der Lehrer gibt folgende Charak¬
teristik; Verhalten ganz ungenügend, frech, lügnerisch, vollständig ver¬
lottert; hat durch seine Unarten fortwährend dqp Unterricht gestört und
sich nichts sagen lassen. Sein früherer Lehrmeister mußte ihn wegen
seines bösartigen, herausfordernden und losen Wesens aus der Lehre ent¬
lassen; auch aus einer anderen Stelle wurde K. wegen Frechheit und
Unbrauchbarkeit fortgeschickt. Wiederholt schon mit Dirnen geschlecht¬
lich verkehrt. Seinen Eltern Geld gestohlen. Bei der Untersuchung freches
Wesen. Antworten prompt. Robuster Körperbau. Lebhafte Reflexe.
Keine Organerkrankung. Mehrfache Entartungszeichen. Schulkenntnisse
befriedigend. Will Chauffeur werden und trinkt am liebsten Sekt! Sozial¬
prognose schlecht. Keinerlei sittliche Hemmungsvorstellungen.
40. A. K. aus L., 46 J. alt, mehrfache Diebstähle. Vater Potator,
mehrfach bestraft. Mutter wegen Diebstahls und Nachtruhestörung
bestraft. Eltern sind mit der Fürsorgeerziehung einverstanden; ihr Sohn
sei faul und arbeitscheu, habe schon dreimal die elterliche Wohnung
verlassen und sich tageweise und die Nacht über umhergetrieben, in einer
Badeanstalt Kleider und Schuhe gestohlen. Das Stadtpfarramt hat den
Antrag auf F.E. gestellt und begründet wie folgt: K. ist ein Schwachbe¬
gabter, übelgearteter Knabe, der unmittelbar nach seiner Schulentlassung,
noch vor der Konfirmation, zu vagabondieren angefangen hat. Seinen
Eltern hat er Geld gestohlen und seine Lehrstelle verlassen. Der Lehrer
bezeichnet ihn als faul und gleichgültig. Während der Untersuchung
lebhaftes, etwas freches Wesen. Antworten prompt und zutreffend. Schul¬
kenntnisse mäßig. Orientiert. Beschönigt kaum; keine Reue. Reflex¬
erregbarkeit erhöht. Mehrfache Entartungszeichen. Mitunter links.
Kopfweh. Gehör und Gesicht gut. Nur oberflächlich haftende sittliche
Vorstellungen.
44. W. S. aus B., 47 J. alt, unehel., Diebstahl. Unterschlagung und
Hehlerei. Mutter nervenleidend, ein Bruder epileptisch. Das Pfarramt
bezeugt, daß der Knabe schon während der Schulzeit üble Eigenschaften
zeigte; Trotz, Frechheit, Bummelei. Die Mutter hat ihm immer sehr den
Kopf gehalten. Er trieb sich viel in verrufenen Wirtschaften umher.
Bei der Untersuchung ruhig und sicher, räumt seine Straftaten in aller
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Psychiatrie und Fürsorgeerziehung in Württemberg.
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Seelenruhe ein, zeigt keine Reue. Kenntnisse mäßig. Sittliches Empfinden
schwach. Urteilskraft beschränkt. Orientiert. Keine Organerkrankung.
Reflexe lebhaft. Mehrfache Entartungzeichen. Sozialprognose: schlecht.
12. H. W. aus T.,14 J. alt, Einbruchdiebstahl. Vater Trinker und
Blutschänder. Schwester leichtsinnig. Mutter zu schwach zur Erziehung.
Gemeindewaisenrat gibt an: traurige Familienverhältnisse; seltene Ge¬
riebenheit und ganz erstaunliche Lügenhaftigkeit. Der Lehrer äußert
sich über W., daß er schmutzig und in zerrissenen Kleidern zu spät in
die Schule kommt und dieselbe oft versäumt. Boten fanden ihn singend
an der Hecke liegen. Gering begabt und faul, der Letzte unter 68. Strafen
fruchten nichts. W. ist eigensinnig und trotzig, manchmal unbotmäßig.
Bei der Untersuchung weinerliches Benehmen, daneben hat sein Wesen
etwas Verstecktes und Unaufrichtiges. Keine Organ er krankung. Reflexe
lebhaft. Schulkenntnisse gering. Orientiert. Mehrfache Entartungs¬
zeichen. Geringe Urteilskraft und sittliche Entwicklung. Haltlos und
leicht beeinflußbar.
Es unterliegt keinem Zweifel, daß es sich bei diesen stark kri¬
minell Veranlagten größtenteils um erhebliche Psychopathen handelt,
von denen nicht wenige zu den leichteren Formen des Schwachsinns
gehören. Was vor allem in die Augen springt, ist ihre sittliche Defek-
tuosität und moralische Frigidität. Diese beiden Eigenschaften haben
ja zur Aufstellung des Symptomenkomplexes der „moral Insanity“
geführt und die Charakteristik des geborenen Verbrechers, des delin-
qnente nato, begründet. Über die Berechtigung zur Aufstellung
eines besonderen Krankheitbildes aus diesen Charaktereigenschaften
ist viel geschrieben und gestritten worden. Wertvoller als diese theo¬
retischen Ausführungen ist das tatsächliche Vorherrschen dieser
Züge bei schwer kriminell Veranlagten. Von weitgehender praktischer
Bedeutung ist fernerhin der Umstand, daß diese Individuen es waren,
welche Psychiatrie und Rechtspflege bald entzweit, bald zusammen¬
geführt haben. Nachdem sich der Furor psychiatricus auf diese Indi¬
viduen geworfen und sie der rächenden Hand des Richters zu ent¬
ziehen gesucht hatte, tauchte bald die bittere Erkenntnis auf, welche
die Worte charakterisieren: „Die Geister, die ich rief, werd’ ich nicht
mehr los“. Jetzt haben sich die Wogen der gegenseitigen Erregung ge¬
legt, und ruhige Erwägung, gepaart mit wechselseitiger Wertschätzung,
verspricht für die Zukunft Ersprießliches. Als äußeres Zeichen der
Zusammenarbeit ist der Vorentwurf zu einem deutschen Strafgesetz¬
buch zu begrüßen; hoffentlich wird es auch gelingen, die praktischen
Schlußfolgerungen in befriedigender Weise zu ziehen.
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Schott,
Wenn wir auch zugeben, daß 60—70% der Fürsorgezöglinge
Psychopathen sind, und daß etwa 40% unter dem Durchschnitt der
Begabung stehen, so ist es deshalb durchaus nicht nötig, daß alle
diese Individuen ausschließlich irrenärztlicher Behandlung bedürfen.
Die Rettungsanstalten Württembergs mögen weiterhin ihre schwere
Aufgabe mit anerkennenswerter Geduld und Hingabe bewältigen. Die
geringe Größe der einzelnen Anstalten bringt mehr Vor- als Nachteile.
Gerade die Schwierigkeit der erzieherischen Tätigkeit erfordert es.
daß der Leiter der Anstalt in der Lage is f , das einzelne Individuum
genau kennen zu lernen und sich dessen Vertrauen durch Fürsorge
und Verständnis zu erwerben und zu erhalten.
Wenn wir vom Juristen und Erzieher verlangen, daß er in die
Grundzüge der Psychiatrie einen Einblick besitzt, welcher ihn befähigt,
rechtzeitig den Psychiater zu Rate zu ziehen, so erfordert es die Billig¬
keit, zu erwarten, daß auch der Irrenarzt sich mit Kriminalistik und
Kriminalanthropologie, mit Pädagogik und Heilpädagogik insoweit
vertraut macht, um der Gegenseite mit ihrem Wirken und Streben
gerecht werden zu können. Die bedeutungvolle Auf¬
gabe, welche so viele Probleme in sich schließt,
kann nur von allen Beteiligten erfolgver¬
sprechend in Angriff genommen und gelöst
werden. Wenn irgendwo, so gilt hier der Satz:
in der Beschränkung zeigt sich der Meister
— es gibt für alle genug zu tun.
Was wir für Württemberg von irrenärztlicher Seite wünschen
würden, wäre:
1. Die Möglichkeit, das gesamte Fürsorgezöglingsmaterial
psychiatrisch durchuntersuchen und im Auge behalten zu können;
2. die Einrichtung von psychiatrischen Einführungs- und
Fortbildungskursen für das Erziehungspersonal der Rettungs-
anstalten;
3. Kriminalistische Einführungs- und Fortbildungskurse, ge¬
leitet von Strafvollzugbeamten und Strafanstaltärzten gemein-
s a m für Juristen, beamtete Ärzte und die Vorstände der Rettungs¬
anstalten;
4. die Schaffung einer unter psychiatrischer Leitung stehenden
Beobachtungsabteilung für Fürsorgezöglinge beiderlei Geschlechts
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Psychiatrie und Fürsorgeerziehung in Württemberg.
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Meine Darlegungen haben zur Genüge bewiesen, wieviel au! dem
Gebiete der Fürsorgeerziehung zu tun ist. Diese Arbeit wird nur ge¬
lingen, wenn alles herbeigezogen wird, was dazu beiträgt, das Er¬
ziehungsobjekt nach allen Richtungen hin zu erkennen und verstehen
zu lernen. Der Schutz der Allgemeinheit und das Wohl des Staates
erheischen gebieterisch, die Ursachen des sittlichen Niederganges mit
allen uns zu Gebote stehenden Mitteln zu bekämpfen!
Literatur.
1. Dr. jur. Schneider, Die Fürsorgeerziehung Minderjähriger in Württem¬
berg. Stuttgart 1909. J. B. Metzlersche Buchhandlung.
2. Finanzrat Dr. Schott, Statistik über die Zwangserziehung Minder¬
jähriger in Württemberg. Württ. Jahrbücher Jg. 1905.
3. Derselbe, Die Fürsorgeerziehung Minderjähriger in Württembrg im
Rechnungsjahr 1909. Mitt. des Kgl. Statist. Landesamts. Nr.2
vom 28. I. 1911.
4. Statistik über die Erfolge der Fürsorgeerziehung usw. Kgl. Ministerium
des Innern. Rawitsch 1911.
5. Landsberg, Das Recht der Zwangs- und Fürsorgeerziehung. Berlin
und Leipzig 1908.
6. Mönkemöller, Psychiatrisches aus der Zwangserziehungsanstalt. Allg.
Ztschr. f. Psych. Bd. 56.
7. Laquer, Mitwirkung des Arztes bei der Ausführung des preußischen
Fürsorgegesetzes. Viertelj. f. gerichtl. Med. 3. Folge, Suppl. 11.
8. See/ig-Herzberge, Psychiatrische Erfahrungen an Fürsorgezöglingen.
Allg. Zeitschr. f. Psych. Bd. 63, 1906, S. 506.
9. Kluge, Uber Wesen und Behandlung der geistig abnormen Fürsorge¬
zöglinge. Samml. d. Abhdlgen. a. d. Gebiete der pädagog.
Psychologie und Physiologie. Berlin 1905.
10. Tippe/-Kaiserswerth, Fürsorgeerziehung und Psychiatrie. Allg. Ztschr.
f. Psych. Bd. 62, S. 583.
11. Wilmanns, Das Landstreichertum, seine Verhütung und Bekämpfung.
Monatsschr. f. Kriminalpsychol.
12. Kluge, über die Mitwirkung des Psychiaters bei der Fürsorgeerziehung.
Allg. Ztschr. f. Psych. Bd. 64, S. 473.
13. Dr. CI. Neisser, Psychiatrische Gesichtspunkte in der Beurteilung der
Fürsorgezöglinge. Halle a. S. Carl Marhold.
14. E. Thoma, Untersuchung an Zwangszöglingen in Baden. Allg. Ztschr.
f. Psych. Bd. 68, S. 699.
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Beitrag za der Lehre vom Querulantenwahnsinn.*)
Von
Oberarzt Dr. Buder.
Der Begriff der Paranoia als einer Krankheit sui generis ist unter
dem Einfluß der KräpelimcAien Lehre mehr und mehr eingeengt
worden. Der Querulantenwahnsinn, wie ihn Hitzig und Kräpdm
definieren, galt aber noch immer als das Prototyp der chronischen
Verrücktheit, und noch in der siebenten Auflage seines Lehrbuchs
konnte Kräpdvn schreiben, der Querulantenwahnsinn sei diejenige
klinische Form, deren Zugehörigkeit zur Paranoia am wenigsten
umstritten sei. Das ist in den letzten Jahren anders geworden. Der
Best der Paranoia, der nach Abspaltung der Kräpelinschen Dementia
paranoides noch geblieben ist, droht sich zu verflüchtigen.
Specht*) spricht der Paranoia die Daseinsberechtigung als selb¬
ständige Krankheit überhaupt ab und will sie als ein Zustandbild des
manisch-melancholischen Irreseins aufgefaßt wissen.
Maßgebend für diese Auffassung war für Specht gerade das Studium des
Querulantenwahnsinns: nicht nur die Stimmungsanomalie, sondern das
ganze Inventarium der Manie lasse sich beim Querulantenwahn fest -
stellen. „Der Querulantenwahn verdient darum nicht den klinischen
Namen Querulantenparanoia, sondern Querulantertmanie“.
Zu einer wesentlich anderen Auffassung des Querulantenwahnsinns
und seiner nosologischen Stellung kommen Heilbronner, Bonhöffer.
Siefert, Wilmanns, Rüdin u. a.
Heilbronner 3 ) will den Querulantenwahn von der Paranoia trennen.
Die Unterscheidung Kräpelins zwischen echten Querulanten und Pseudo-
*) Aus der K. Heilanstalt Winnental (Direktor Medizinalrat Dr.
Kreuser .)
*) Specht , Über die klinische Kardinalfrage der Paranoia. Gaupps
Centralblatt 1908.
*) Heilbronner, Hysterie und Querulantenwahn. Gaupps Central¬
blatt 1907.
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Original from
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Beitrag za der Lehre vom Querulanten Wahnsinn.
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querulanten, von denen nur die ersteren zur Paranoia gerechnet werden,
halt er nicht für stichhaltig. Nicht Verlauf und Ausgang, der mit Sicher*
heit nie vorher gesagt werden könne, sondern Beginn und psychopatho-
logische Entwicklung seien das Wesentliche; beim Paranoiker, zum min¬
desten in den für die Beurteilung wichtigen Beginnstadien, finde sich eine
ganz diffuse, krankhafte Eigenbeziehung, beim Querulanten ein wirk¬
licher Beziehungswahn im Sinne einer überwertigen Idee.
Beobachtungen, die in der Hauptsache an Strafgefangenen gemacht
worden sind, haben zu der Auffassung des Querulantenwahns als einer
Form der Entartung geführt. Nach Bonhöffer *) handelt es sich beim
Querulantenwahn in den meisten Fallen lediglich um paranoische Episoden
bei abnorm veranlagten Individuen, die infolge äußerer Verhältnisse
entstanden sind und wieder verschwinden können. Sie stehen der Kräpelin-
schen Paranoia im engsten Sinne nahe, sind aber doch nur als äußerlich
ausgelöste Reaktionen eines paranoischen, zur Bildung überwertiger Ideen
disponierten Temperaments zu betrachten. Einen ähnlichen Standpunkt
vertritt Siefert *): der Querulantenwahn ist keine Erkrankung im eigent¬
lichen Wortsinn, sondern eine künstliche Bildung aus Artung und äußeren
Umständen, wie sie das freie Leben nur selten, die Haft um so häufiger
und in wechselnder Form hervorbringt.
Wilmann8 *) 4 ) schließt sich dieser Auffassung an. Auch er hält den
Querulantenwahnsinn nicht für eine endogene, aus inneren Ursachen
heraus sich entwickelnde geistige Störung von unter allen Umständen
progredientem Charakter, sondern für die durch ein affektbetontes Er¬
eignis bewirkte krankhafte Entwicklung einer bestimmten degenerativen
Anlage.
Ist es richtig, diese Anschauungen, die aus Beobachtungen an den
vorwiegend degenerativen Insassen der Strafanstalten hervorgegangen
sind, zu verallgemeinern ? Sind die Formen des freien Lebens und die der
Strafhaft tatsächlich klinisch gleichwertig, sind jene die Entwicklung
meist schwererer Grade der Entartung als diese, die das Resultat von Ent¬
artung und der Wirkung eines anerkannt schädlichen Milieus sind? Wil-
manns selbst zweifelte an der Richtigkeit dieser seiner Ansicht, als er
einen in der Freiheit erkrankten Querulanten beobachtete, bei dem sich
im Laufe der Zeit neben einem gespreizt schrulligen Wesen und einer
entschiedenen Abnahme der geistigen Regsamkeit Einschränkung der
Interessen, Verlust jeder Neigung zu nutzbringender Tätigkeit, Abblassen
*) Bonhöffer , Klinische Beiträge zur Lehre von den Degenerations-
psychosen. Halle 1907.
*) Siefert, über die Geistesstörungen in der Strafhaft. Halle 1907.
*) Wilmanns, Gaupps Centralblatt 1907, S. 417.
*) Derselbe, Zur klinischen Stellung der Paranoia. Gaupps Central¬
blatt 1910.
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494
Buder,
der Beeinträchtigungsideen und eine Fülle von Größenideen und gleich
sinnigen Erinnerungsfälschungen eingestellt hatte. Allein auf Grund von
Beobachtungen, die Rüdin 1 ) mitgeteilt hat, daß nämlich bei zu
lebenslänglichem Zuchthaus Verurteilten die Fälle von Querulantenwahn¬
sinn eine gleich ungünstige Entwicklung nehmen, wenn ihnen keine Ge¬
legenheit zur Heilung gegeben ist, weil die Schädigungen der Haft chro¬
nisch werden, hält Wilmanns doch an seiner Ansicht der Gleichwertigkeit
solcher Fälle fest.
Wir haben im Laufe der letzten Jahre einen Fall von Queru¬
lantenwahnsinn beobachten können, der gerade im Hinblick auf die
eben skizzierte Frage nicht ohne Interesse ist. Mit Rücksicht auf den
mir zur Verfügung stehenden Raum kann ich die sehr ausführliche
Krankengeschichte nur im Auszug wiedergeben.
P. K., geboren am 2. April 1861, ist erblich nicht belastet; als Kind
soll er kränklich gewesen sein und an Gichtern gelitten haben; mit zwei
Jahren habe er eine Gehirnentzündung durchgemacht. Er war ein mittel¬
guter Schüler und schon als Knabe nervös und reizbar: er hat einmal einem
Lehrer, der ihn zu Unrecht geschlagen habe, ein Buch an den Kopf ge¬
worfen. Er litt längere Zeit an Bettnässen und einige Male an Nacht¬
wandeln; er habe viel an Kopfweh gelitten. Getrunken habe er wie andere
auch. Sein ältester, bei der Aufnahme 12 Jahre alter Knabe leidet an
Anfällen, in denen er bewußtlos vom Stuhle fällt.
1896 fiel er von einem Baum 10 Meter hoch herab, war 10 Minuten
bewußtlos; er war zw r ei Jahre lang nicht mehr recht arbeitfähig und bekam
eine Unfallrente, die er auf Veranlassung seines Schultheißen verloren habe;
dieser habe angegeben, daß er wieder alles arbeiten könne, was bewußt
gelogen gewesen sei. Verklagt habe er den Schultheißen nicht, weil er
gefürchtet habe, dann noch mehr gedrückt zu werden. Mit der Familie
des Schultheißen stehe seine Familie schon lange in Streit. Seit er vor
fünf Jahren bei einer Gemeinderatswahl gegen den Schultheißen agitiert
habe, werde er von diesem überall gedrückt.
Seit 1905 lebt K. in Streit mit seiner Nachbarin. Vor etwa 12 Jahren
hatte er ein Haus mit einem Hofraum gekauft und den Hofraum als sein
ausschließliches Eigentum betrachtet, bis es seiner Nachbarin einfiel.
ein Wegerecht an diesem Hofraum geltend zu machen. Es kam darüber
zu einem Prozeß, den K. verlor. Aus den gerichtlichen Akten geht hervor,
daß nach den Kaufverträgen der Platz zwischen den beiden Häusern
dem K. gehört, daß aber im Jahre 1841 der damalige Besitzer des Hauses
des K. dem Besitzer des Nebenhauses erlaubt hat, durch den Zwischen¬
raum zu gehen. Das Gericht ließ es in seiner Entscheidung dahingestellt.
*) Rüdin. Über die klinischen Formen der Seelenstörungen bei zu
lebenslänglichem Zuchthaus Verurteilten. München 1909.
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Beitrag zu der Lehre vom Querulantenwahnsinn.
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ob der Raum zwischen den Häusern dem K. gehört, und ob das Recht
des Durchgehens nur dem damaligen Nachbarn eingeräumt wurde. Es
hat aber den Beweis durch verschiedene eidliche Aussagen als erbracht
angesehen, daß in den letzten 30 Jahren der Zwischenraum öfter von den
jeweiligen Nachbarn als Durchgang benutzt und damit ein Wegerecht
ergangen worden sei.
Daß ihm sein jahrelang unbestrittenes Eigentum nun plötzlich
von Gerichts wegen nicht mehr unbeschränkt gehören sollte, daran konnten
nur die Zeugen schuld sein, die samt dem Schultheißen Meineide geschworen
hätten. K. verlor den Prozeß auch in der Berufungsinstanz. Als er die
Zeugen wegen Meineid verklagen wollte, tat sein Rechtsanwalt nicht mehr
mit, er wandte sich daher an Winkeladvokaten und wurde von der Staats¬
anwaltschaft abgewiesen und um 100 Mk. bestraft; noch zweimal wurde
erbestraft, weil er nicht nachgeben wollte. Nun glaubte er, daß die Staats¬
anwaltschaft vom Amtsrichter beeinflußt sei; dieser habe es wohl bemerkt,
»laß er ihm Unrecht getan habe, und wolle es jetzt verhüten, daß es auf-
komme. Die Richter seien von vornherein gegen ihn eingenommen ge¬
wesen und hätten nur die Zeugen der Gegenpartei vernommen; deshalb
habe sein Prozeß so ausgehen müssen. Weil er sein vermeintliches Recht
nicht linden konnte, ging K. zum Justizminister. Weil dieser ihn damit
begrüßt habe: „Sie sollen, scheint es, ein etwas mißtrauischer Mensch sein“,
schloß er daraus, daß der Justizminister schon unterrichtet sei. Wahr¬
scheinlich sei der Schultheiß vor ihm beim Minister gewesen; auch alle
Rechtsanwälte habe jener beeinflußt; beweisen könne er es nicht, aber
er fühle es eben. K. ging zu einer ganzen Anzahl von Rechtsanwälten, die
c eine Vertretung ablehnten; das habe seinen Grund darin, daß sie einen
Verein, einen Bund miteinander hätten. Er habe auch gemerkt, daß sein
Rechtsanwalt mit dem der Gegenpartei unter eine Decke stecke.
Jetzt nahm K. seine Sache selber in die Hand, er machte Eingabe
um Eingabe, weil er sicher gewußt habe, daß er im Recht sei. Es folgten
Meineidsanzeigen an die Staatsanwaltschaft, an den Justizminister.
1000 Mk. allein an Geldstrafen mußte K. bezahlen, im ganzen verlor er
»■twa 6000 Mk. Er kam Zahlungsbefehlen nicht mehr nach und mußte
gepfändet werden. Er verlor schließlich fast sein ganzes Hab und Gut,
vernachlässigte Haus und Familie, schickte die Kinder nicht mehr zur
fkhule und kam darüber auch mit seinem Pfarrer in Konflikt.
Im Februar 1908 kam er von selbst in die psychiatrische Klinik T.;
dort gab er an, krank zu sein, er könne nicht mehr recht arbeiten und
wolle dafür ein Zeugnis. Mit diesem wolle er zum König und beweisen,
daß das Gericht gegen ihn als kranken Mann unrecht vorgegangen sei. Wenn
ihm niemand mehr helfe, wende er sich an den König oder werde katho¬
lisch und gehe zum Papste, weil ja der evangelische Pfarrer gegen ihn sei.
Nach Hause zurückgekehrt, schloß er sich ein, weil die jungen
Burschen des Orts ihm nachstellten. Da man jetzt nicht mehr an einer
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
496
Buder,
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geistigen Störung zweifelte, wurde er unter Anwendung von Zwangs¬
mitteln in die Anstalt gebracht (am 12. Mai 1908).
Hier gab er zunächst nur ungern und kurz Auskunft über sein
Schicksal; er beschwerte sich vor allem (und anscheinend nicht ganz mit
Unrecht) über die Art seiner Behandlung im Bezirksirrenlokal; er erklärte,
zu Unrecht in die Anstalt verbracht worden zu sein, und verweigerte anfangs
hartnäckig die Nahrung: in der Anstalt wolle er nicht essen, zu Hause
habe er genug zu essen. Später gab er an, er habe nichts gegessen, weil er
geglaubt habe, daß er dann bälder wieder fortkomme; und wenn er einmal
etwas sage, dann bleibe er auch dabei, e i n Wort von ihm sei wie tausend.
Er mußte wochenlang mit der Sonde ernährt werden, bis er im Anschluß
an einen Besuch seiner Frau wieder spontan Nahrung nahm. Er war
immer zurückhaltend; auch über seine Prozeßangelegenheiten hat er erst
auf Befragen Auskunft gegeben. In der Anstalt habe er gleich gemerkt,
daß man es gut mit ihm meine. Er erzählte weiter, daß die Nachbarin
einmal unter seinen Salat im Garten Gift getan habe, so daß seine ganze
Familie an diesem Tag Erbrechen gehabt habe. Er beklagte sich auch
hin und wieder, daß die Kranken seiner Umgebung ihm keine Ruhe ließen:
wie er es auch mache, werde er verhöhnt. Einmal beschwerte er sich dar¬
über, daß er nicht auch, wie ein neben ihm liegender Katatoniker, mit
der Sonde durchs linke Nasenloch ernährt werde, sondern durchs rechte.
Ob auch Sinnestäuschungen vorhanden waren, ließ sich nicht sicher fest-
stellen. Seine Stimmung war anfangs mehr weniger gereizt. Später wurde
die Stimmung gleichmäßiger. Gegen die Ärzte war er immer freundlich
und dankbar. Intelligenzdefekte ließen sich nicht nachweisen, ebenso
wenig war von einer gemütlichen Stumpfheit etwas zu bemerken.
Unbelehrbar und unerschütterlich hielt er aber daran fest, daß ihm
Unrecht geschehen sei, auch als er am 4. November 1908 versuchweise
nach Hause entlassen wurde. Anfangs schien es, als ob er sich Mühe gebe,
wieder hochzukommen; bald aber dehnte er seine Verfolgungsideen weitei
aus: der Vertrauensmann des Vereins für rekonvaleszente Geisteskranke, mit
dessen Hilfe seine Verhältnisse geordnet werden sollten, wolle ihn um sein
Vermögen bringen, der Pfarrer sei die Triebfeder, daß es seinen Kindern
schlecht gehe. Die Stimmung wurde immer gereizter, so daß K., um
Unheil zu vermeiden, am 4. Februar 1910 abermals in die Anstalt auf-
genommen werden mußte, wo er sich seither befindet.
Von selbst spricht er auch jetzt selten von seinen Beeinträchtigungs-
ideen, die er aber bei jedem Anlaß mit mehr weniger starkem Affekt
vorbringt. Sie bestehen unverändert fort, und er hat sie auch auf seine
neue Umgebung übertragen, wenn sie auch nur gelegentlich geäußert
werden; so ist er gegen den Direktor stark gereizt, weil der schuld daran
sei, wenn seine Kinder verhungern; die Leute um ihn herum beobachten
ihn, sprechen über ihn heimlich. Gerichtliche Zustellungen nimmt er nicht
an, da er mit dem Gericht nichts zu tun habe. Das Testament der Mutter,
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Beitrag zu der Lehre vom Querulantenwahnsinn. 497
durch welches er zugunsten seiner Kinder enterbt wird, will er sich nicht
gefallen lassen; dieses sei auch nur zustande gekommen, weil der Schult¬
heiß die Mutter betrogen habe; wenn er einmal entlassen werde, dann
werde das Recht schon zutage treten; Tyrannen, göttliche und mensch¬
liche Erbteilfresser und Gottesverächter müssen sehen, daß Gott
Richter ist.
Neben diesen Verfolgungsideen werden seit seiner zweiten Auf¬
nahme aber auch phantastische Größenideen vielfach religiösen Inhalts
geäußert und namentlich in seinen zahlreichen, umfangreichen Schrift¬
stücken in breiter Ausführlichkeit entwickelt. Er fühlt sich in besonderem
Maße berufen zur Auslegung der Bibel, in der er eine Menge Beziehungen
auf seine Person und seine Abstammung findet. Schon vor 30 Jahren
sei ihm von einer Zigeunerin sein ganzes Leben vorausgesagt worden,
er werde vor Gericht kommen, er werde noch der frömmste Mann und
gehöre zum auserwählten Korps. Am Schluß werde ihm Glück auf Glück
zuteil werden, gerade das Gegenteil des jetzigen Zustandes. Er habe die
Gabe, alles vorauszusehen; schon sein Vater habe diese Gabe gehabt;
es werden ihm Dinge eingegeben, die andern Tags wahr werden; auch
das habe er voraxisgesehen, daß er wieder in die Anstalt müsse. Vor drei
Tagen habe er die ganze Luft voll Menschengestalten gesehen, Milliarden
von Geistern auf Pferden. Auch Stimmen höre er, vielerlei, namentlich
wenn er sich mit keinem Gedanken gegen Gott oder Menschen verfehlt
habe. Das seien keine Sinnestäuschungen, sondern göttliche Eingebungen.
Auch die heilige Dreieinigkeit habe er in voller Klarheit gesehen. Wenn
andere Leute so etwas nicht sehen oder hören, so liege das daran, daß
es ihnen am rechten Glauben fehle. Er könne durch Naturkunde einen
Blinden sehend und einen Taubstummen hörend und sprechend machen.
Geisteskranke, die menschliche Weisheit bis dato noch blindlings als
unheilbar erklärt, könne er heilen. Er habe eine geistige Wiedergeburt
durchgemacht u. a. m.
Intelligenzdefekte sind auch heute noch nicht nachzuweisen. Die
Stimmung ist im allgemeinen gleichmäßig, wird aber gereizt und zorn¬
mütig, wenn er auf seine Beeinträchtigungsideen zu sprechen kommt.
Zu einer nützlichen Tätigkeit hat er keinerlei Lust; sein Hauptinteresse
konzentriert sich auf die Lektüre von Bibel und Gesangbuch. Aus dem
körperlichen Befund ist nichts von Bedeutung hervorzuheben.
Bemerkenswert ist, daß die, übrigens beschränkte, Ehefrau des K.
ihren Mann nicht für krank hält; die Stimmen, die er hört, sind nach
ihrer Ansicht keine Sinnestäuschungen, sondern Eingebungen von oben,
Daß ihrem. Manne Unrecht geschehen ist, daß er von schlechten Menschen
gedrückt worden ist, daß der Schultheiß daran schuld sei, daß es
so gegangen ist, davon ist sie ebenso fest überzeugt, wie ihr
Mann. Sie hat darüber die Erziehung ihrer Kinder derart ver¬
nachlässigt, daß Fürsorgeerziehung angeordnet werden mußte.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
498
Bader,
Der Wert einer länger dauernden Beobachtung für die Beurteilung
des mitgeteilten Falles liegt auf der Hand. Hätten wir den Kranken
nach seiner Entlassung aus der Anstalt aus den Augen verloren, so
wäre eine gegensätzliche Auffassung gegenüber der oben skizzierten
Wümcmns nicht zu begründen gewesen. Der erste Beginn im Anschluß
an den Entzug einer Unfallrente nach einer nicht unerheblichen
Kopfverletzung, eine gewisse Besserung nach Entfernung aus dem
schädlichen Milieu durch Aufnahme in die Anstalt, endlich die psy¬
chische Infektion der Ehefrau: lauter Züge in dem Krankheitsbild,
in denen Wilmams eine Bestätigung seiner Anschauung sieht.
Bei der zweiten Aufnahme aber hatte sich das Krankheitsbild
wesentlich geändert: neben den Querulantenwahnsinn, ihn teilweise
überwuchernd und zeitweise verdrängend, sind phantastische Größen -
ideen besonders religiösen Inhalts und Sinnestäuschungen getreten.
Intelligenzdefekte oder eine gemütliche Abstumpfung sind jetzt so
wenig vorhanden, als früher. Eine gewisse Einengung seiner Interessen
freilich ist nicht zu verkennen, was vielleicht doch schon den Beginn
einer, geistigen Schwäche andeutet. Zu einer irgendwie nützlichen
Beschäftigung ist K. nicht zu bewegen, daran ist auch die Absicht,
wieder einen Versuch mit seiner Entlassung zu machen, gescheitert,
weil er es ablehnte, draußen zu arbeiten; die ihn zu unrecht um Hab
und Gut gebracht haben, sollen ihn auch jetzt erhalten. Zum Teil
sind wohl die jetzt geäußerten Wahnvorstellungen schon während
der ersten Aufnahme vorhanden gewesen, nur sind sie damals nicht
in Erscheinung getreten; zum Teil scheint es sich dabei auch um
Erinnerungsfälschungen zu handeln.
Ich kann mir nun nicht vorstellen, daß eine derartige Entwick¬
lung mit phantastischen Größenideen und Sinnestäuschungen mit der
Annahme einer psychologisch verständlichen krankhaften Entwicklung
eines Psychopathen vereinbar sein soll. Um ihre Entstehung zu er¬
klären, kann doch wohl nicht die degenerative Anlage und ein affekt¬
betontes Ereignis genügen, selbst wenn, was bei K. nicht der Fall
ist, ein schädigendes äußeres Milieu dazu käme. Vielmehr „spricht
eine solche Beobachtung für die Existenz einer Form des Queru-
lantenwahnsinns, die, von der heilbaren der Haft verschieden, ans
inneren Ursachen fortschreitend zu einem eigenartigen Schwächezu¬
stand führt“ (Wümanns). Ist diese Annahme richtig, werden der-
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Beitrag za der Lehre vom Querulantenwahnsinn.
499
artige Fälle von Querulanten Wahnsinn wie seither zur Paranoia ge¬
rechnet werden müssen.
Man wird gegen diese Auffassung einwenden können, daß es
sich im Fall K. nicht um echte Paranoia handle, sondern um Dementia
paranoides. Nun ist es immerhin mißlich, gerade im gegenwärtigen
Augenblick, wo wir in Erwartung des zweiten Bands seines Lehrbuchs
Kröpelins neueste Ansicht noch nicht kennen, auf diese Frage ein¬
zugehen, zumal da Kröpelin selbst die Einordnung der Dementia
paranoides in die Gruppe der Dementia praecox nur als eine vor¬
läufige bezeichnet hat. Aber soviel kann doch gesagt werden, daß
der Fall K. durch seine Entwicklung wieder einmal die Schwierigkeit
einer grundsätzlichen Trennung von Paranoia und Dementia para¬
noides aufs deutlichste zeigt. Im ersten Stadium der Definition der
Kräpelin&chen Paranoia entsprechend (die Nahrungsverweigerung ist
keine selbständige Willensstörung, kein katatonisches Symptom,
sondern psychologisch erklärt), weist die zweite Phase, in der phan¬
tastische Wahnvorstellungen und zahlreiche Sinnestäuschungen das
Krankheitbild beherrschen, die Merkmale der Dementia paranoides
auf. Aber eine Demenz ist nicht vorhanden, wenn man nicht die
phantastische Wahnbildung als ein Defektsymptom bezeichnen will.
Solange wir kein allgemeines befriedigendes Einteilungsprinzip kennen,
wird man auf die symptomatologische Beobachtungsweise nicht ganz
verzichten können, und der mutmaßliche Verlauf und Endzustand,
ein Produkt nicht bloß der pathologischen Affektion, sondern ebenso
sehr der individuellen Veranlagung, wird nicht allein maßgebend
für die systematische Stellung einer Psychose sein dürfen. Durchaus
zutreffend erscheint Heilbronners Vorschlag, unter die Dementia para¬
noides nur diejenigen Fälle mehr oder weniger systematischer Wahn-
bildung zu rechnen, bei denen von Anfang an Defektzustände
auftreten, wie sich das bei den typischen Fällen der Dementia para¬
noides des Jugendalters tatsächlich zumeist feststellen läßt.
Zeitschrift für Psychiatrie. LXIX. 4.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Statistische und klinische Beobachtungen über
Veränderungen im Vorkommen und Verlauf der
progressiven Paralyse in Elsaß-Lothringen 1 ).
Von
Oberarzt Dr. Hans Joachim.
Die Frage, ob die progressive Paralyse im Laufe der letzten Jahr¬
zehnte in ihrem Vorkommen überhaupt, wie in ihrem Verlaufe einem
Wandel unterlegen ist, ist in neuerer Zeit wiederholt aufgeworfen
worden und von verschiedenen Autoren verschieden beantwortet
worden. Und ebenso wie schon die Ansichten darüber auseinander¬
gehn, ob eine Zu- oder Abnahme der Paralyse stattgefunden hat,
ebenso unterschiedlich sind auch die Angaben, ob und welche Ände¬
rungen in der Erscheinungsweise zur Beobachtung gelangt sind.
Die Schwierigkeit, diese Fragen mit einiger Sicherheit zu beantworten,
ist einmal dadurch gegeben, daß uns erst die letzten 20 Jahre eine
überall gleichmäßige und stetige Diagnosestellung gebracht haben,
so daß wir bei Kurvenschwankungen diagnostische Schwankungen
ausschließen können, dann aber auch darin, daß das Interesse an
dem weiteren Verlauf dieser Krankheit, soweit es wenigstens in den
Krankengeschichten zum Ausdruck kommt, nach der definitiv ge¬
stellten Diagnose, dem Todesurteil des Patienten, in der Regel grade
eine Zunahme nicht erfährt. Einige kurze Beispiele mögen das Für
und Wider der gegebenen Antworten beleuchten.
Eine ältere Statistik von Althaus läßt in dem langen Zeitraum von
1838—1871 eine Steigerungder Zahl der Paralytiker in England
von 12,61% auf 18,11% erkennen; Regis bekundet für französische
Anstalten eine Zunahme um 33,3%. Und in Deutschland sprechen die
*) Aus der elsässischen Bezirksanstalt Stephansfeld (Direktor
Sanitätsrat Dr. Ransnhoff.)
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Original fro-rri
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Statistische and klinische Beobachtangen über Veränderungen usw. 501
Zahlen der Berliner Charitö, der Anstalten Eberswalde, Deggendorf für
ein Anwachsen der Erkrankungen an Paralyse.
Ein entgegengesetztes Resultat ergeben dafür die Unter¬
suchungen Stewarts, Sommers für die Anstalt Allenberg, Eickholt für
Grafenberg, Stark und Baer für Stephansfeld; andere (Sprengeler für
Göttingen) können weder das eine noch das andere bestätigen; und während
Kröpelin noch 1899 sagt, die Häufigkeit dieser Krankheit scheine ihm
in stetiger Zunahme begriffen zu sein, äußert er sich 1910 dahin, daß
eine gewisse Zunahme der Paralyse als sehr wahrscheinlich zu gelten habe,
betont jedoch dabei, daß er aus den statistischen Angaben verschiedener
Beobachter nicht ohne weiteres vergleichende Schlüsse ableiten möchte,
und verweist darauf, daß die Aufstellung seiner Klinik sogar zu der
trügerischen Annahme einer erheblichen Abnahme führen müßte.
Ähnlich gehn auch die Angaben über eine eventuelle Änderung
in dem Verlauf und der Erscheinungsweise der progressiven Paralyse
auseinander. Das allmählich stärkere Überwiegen der dementen
Form, das Zurücktreten der typischen expansiven und agitierten
Form, das häufigere Vorkommen von Remissionen wird von den
einen ( Mendel , Behr , Oberstemer ) mehr betont als von den andern
(Kröpelin). Die von diesem konstatierte Abnahme der Anfälle fanden
hingegen Behr und Obersteiner nicht bestätigt.
Ein abschließendes Urteil mithin scheint über diese Seite der
Krankheit, so sehr wir sonst über sie orientiert sind und unser Interesse
anderen Gebieten zuzuwenden pflegen, noch nicht gewonnen zu sein.
Und doch verdient sie gerade jetzt vielleicht eine größere Beachtung
als früher, wo die Hauptursache der Paralyse, die Lues, Gegenstand
einer neuen Behandlungsweise geworden ist, deren günstige Erfolge
immerhin die Möglichkeit nicht von der Hand weisen lassen, daß
auch die metaluischc Paralyse einst auf dieser Basis gewissen Än¬
derungen ihres Vorkommens und ihrer Erscheinungsweise unter¬
liegen könnte. Schon jetzt vor solcher Einwirkung vor sich gehende
Wandlungen als vorhanden oder nicht vorhanden nachzuweisen und
gegebenenfalls deren Richtlinien anzugeben, kann für einstige spätere
Untersuchungen von Wert sein und es rechtfertigen, das große schon
bearbeitete Paralysenmaterial noch zu vermehren.
Die Aufgabe, die ich mir gestellt, derartige Untersuchungen
unter den Paralysen von Elsaß-Lothringen vorzunehmen, fand ich
erleichtert durch zwei frühere statistisch-klinische Arbeiten, die ähn¬
liche Zwecke verfolgten, es sind dies ein Vortrag des Direktors der
35*
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
502
Joachim,
Anstalt Stephansfeld, Stark, „Zur Frage der Zunahme der progressiven
Paralyse 4 ’ aus dem Jahre 1890 und die Arbeit von Baer „Die Para¬
lyse in Stephansfeld 44 aus dem Jahre 1900. Beide zusammen um¬
fassen zeitlich den Abschnitt von 1872—1900 und örtlich die Bezirke
Unter- und Oberelsaß mit Ausschluß der Fälle, die in der Straßburger
psychiatrischen Klinik Aufnahme fanden, ohne in die Anstalt Stephans¬
feld weiter zu gelangen. Diese, sowie die lothringischen Paralysen
der Anstalt Saargemünd, die elsässischen aus den Jahren 1901-1910
und endlich die oberelsässischen, die in den Jahren 1909 und 1910
der neuen Anstalt Bufach zugeführt wurden, galt es hinzuzufügen
und zu einem gemeinsamen Bilde zu vereinen. Dabei bin ich zur
Beurteilung von etwa 1000 Krankengeschichten gelangt, aus denen
ich 730 als sichere Fälle von progressiver Paralyse ausscheiden und
einzeln verwerten konnte. Alle nicht einwandfreien Fälle habe
ich nicht berücksichtigt. Für die sonstigen statistischen Berechnungen
boten mir die Jahresberichte der Anstalten genügende Unterlagen.
Im einzelnen möchte ich noch vorweg bemerken, daß ich auch
die aus dem Ausland id est die nicht aus Elsaß-Lothringen erfolgten
Aufnahmen in die Anstalten des Landes mitgezählt und verwertet
habe, um einen Ausgleich zu schaffen für diejenigen eisaß-lothringischen
Paralytiker, die außer Landes gegangen sind. Fenier werde ich die
Resultate zunächst stets getrennt für die verschiedenen Aufnahme¬
bezirke geben, da sie nicht unerheblich voneinander abweichen und
erst so auch die Erkennung feinerer Verschiebungen innerhalb des
Landes ermöglichen. Und endlich sollen die eingefügten Tabellen
einen schnellen Überblick gewinnen lassen.
Wenn Obersteiner in seiner Monographie schreibt: „es lautet
also die Anschauung vieler Anstaltsärzte der verschiedenen Länder
dahin, daß die Paralyse in bedeutender Zunahme begriffen sei, 44 so
sind zunächst die Zahlen, die uns die Anstalt Stephansfeld an die
Hand gibt, doch von einigem Interesse. Sie umfassen die Jahre 1872
bis 1910 und setzen sich aus Aufnahmen des Unterelsasses und Ober-
elsaßes zusammen mit Ausschluß der in die Straßburger Klinik ge¬
kommenen und nicht überführten Paralysen, freilich nur bis zum
Jahre 1908, doch habe ich in diesem Falle die Resultate aus der Anstalt
Rufach (1909/10) zu den obigen hinzugeschlagen, um eine für beide Be¬
zirke fortlaufende Statistik zu erhalten. Gewissermaßen als historische
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Original fro-rri
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Statistische und klinische Beobachtungen über Veränderungen usw. 503
Tabelle L
Jahrg.
Gesamtaufnahme
Darunter
Paralytiker
% -Verhältnis der
Paralytiker.
M.
Fr.
S.
M.
Fr.
S.
M.
Fr.
S.
1872
92
107
199
21
2
23
22,8
1,8
11,5
1873
111
114
225
17
4
21
15,3
3,5
9,3
1874
75
73
148
15
4
19
20,6
5,4
12,8
1875
97
81
178
21
1
22
21,6
1,2
12,3
1876
92
86
178
17
4
21
18,3
4,6
11,7
1877
89
84
173
21
4
25
23,5
4,7
14,3
1878/9
123
117
240
30
7
37
24,3
5,9
15,4
1879/80
115
97
212
17
5
22
14,7
54
10,3
1880/1
123
92
215
31
11
42
25,2
11,9
19,5
1881/2
114
90
204
27
5
32
23,6
5,5
15,6
1882/3
103
77
180
19
4
23
18,4
5,2
12,7
1883/4
100
94
194
22
3
25
22,0
3,1
12,8
1884/5
106
78
184
18
1
19
16,9
1,2
13,2
1885/6
97
95
192
17
0
17
17,5
—
8,8
1886/7
114
102
216
19
5
24
16,6
4,9
11,1
1887/8
117
117
234
7
6
13
5,9
5,0
5,5
1888/9
92
102
194
18
2
20
19,5
1,9
10,3
1889/90
107
95
202
20
6
26
18,6
6,3
12,8
1890/1
126
112
238
23
3
26
18,2
2,6
10,9
1891/2
143
132
275
21
2
23
14,6
1,5
8,3
1892/3
136
152
288
18
7
25
13,2
4,6
8,6
1893/4
127
109
236
18
7
25
14,1
6,4
10,5
1894/5
139
132
271
19
9
1 28
13,6
6,8
10,3
1895/6
158
150
308
17
8
! 25
10,7
5,3
8,1
1896/7
179
144
323
17
8
25
9,5
5,5
7,7
1897/8
151
126
277
17
3
20
11,2
2,3
7,2
1898/9
157
: 141
298
31
9
40
19,1
6,3
13,5
1899/00
162 1
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25
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32
15,4
j 4,8
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161
317
i
39
10
49
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15,5
1901/2
176 !
165
i 341
20
16
36
11,4
9,7
10,6
1902/3
189
208
397
27
19
46
14,2
9,1
11,6
1903/04
179
210
389
23
8
31
12,9
3,8
8,0
1904/05
193
196
3^9
25
8
33
12,9
4.1
8,5
1905/06
198
| 214
412
26
10
36
13,1
4,7
8,7
1906/07
230
230
460
36
10
46
15,6
4,4
10,0
1907/08
228
271
499
22
12
34
9,6
4,4
6,8
1908/09
230
214
444
27
16
43
11,6
7,5
9.7
1909/10
371
307
678
46
10
56
12,4
5,6
8,3
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504
Joachim,
Reminiszenz aber möchte ich drei Prozentzahlen aus der Zeit der ersten
Stephansfelder Paralysediagnosen, aus den Jahren 1856, 57 und 59
voranstellen, die ich Berichten Dagonets verdanke, der in dem Jahres¬
berichte von 1856 eine erste und zutreffende Schilderung der „Para-
lysie gönörale“ gibt: Damals machten die Paralytiker 2,3%, 6,8%
und 7,8% der Gesamtaufnahmen aus; selbstverständlich drückt
dieses wachsende prozentuale Verhältnis wohl nur die wadisende
diagnostische Erkenntnis aus, auch fallen unter den Begriff der pro¬
gressiven Paralyse damals wie auch noch geraume Zeit später andre
organische Himerkrankungen. Und nun zu dem 38jährigen Zeitraum
von 1872—1910. Wie es meist geschieht, habe ich der größeren Ver¬
gleichsmöglichkeit halber die Zahl der Paralytikeraufnahmen in Ver¬
hältnis gesetzt zur Zahl der Gesamtaufnabmen und folgende Tabelle
für diese Zeit aufstellen können (1. Tab. I auf S. 503).
Überblickt man diese Zahlen, so sieht man ohne weiteres, wie er¬
heblich die einzelnen aufeinanderfolgenden Jahrgänge voneinander ab¬
weichen und wie weit die Minima und Maxima voneinander gelegen
sind. Wir begegnen bei den männlichen Paralysen 25,2% und 5,9%
und bei den weiblichen 11,9% und 0%. Läge auch für die ersten
beiden Dezennien noch die Möglichkeit vor, diese großen Schwan¬
kungen zu erklären durch solche der Diagnosenstellung, so kann
das gleiche für die letzten beiden sicher nicht mehr in Betracht kommen,
und die schon von Stark gegebene Begründung — sein Hinweis auf
die wechselnde Intensität der wirkenden Ursachen und auslösenden
Momente — erscheint mir durchaus plausibel Kehren nun auch
Prozentzahlen aus den 70 er Jahren im neuen Jahrhundert wieder,
so ist doch die Tendenz einer Abnahme ersichtlich. Eine zweite Tabelle,
die den Durchschnitt von vier zusammengefaßten Zeitperioden wieder¬
gibt, läßt diese deutlich erkennen:
M.
Fr.
Total
1872—80/81
20,7%
4,9%
12,8%
1880/81—88/89
18,4%
4,3%
12,1%
1888/89—99/00
14,8%
4,5%
9,6%
1899/00—09/10
13,5%
5,5%
9,5%
Noch anschaulichergibt dies die Kurve I wieder (s. folgende S.).
Die obere Kurvenlinie bezeichnet die Prozentzahlen der para¬
lytischen Männer, die untere die der paralytischen Frauen, die mittlere
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Gck gle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Kurvn
Statistische und klinische Beobachtungen über Veränderungen usw. 505
Digitized by Gougle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
,-Verhältnis der Paralyse-Aufnahmen zu den Gesamtaufnahmen in Stephansfeld 1872—1910 (1909/10 + Rufach).
506
Joachim,
die beider Geschlechter zusammen. Die männliche Kurve ist zunächst
die höherwertige, sie steigt und fällt rapider, aber s*e zeigt in ihrem
ganzen Verlauf doch eine fallende Tendenz. Nicht so die weibliche
Kurve. Sie bewegt sich in niederen Werten, zeigt geringere Schwan¬
kungen und hält sich im allgemeinen auf gleicher Höhe mit einer
mäßigen Neigung im letzten Dezennium zu steigen. Tabellen und
Kurven ergeben somit für den angezogenen Aufnahmebezirk, daß
die Totalsumme und der Prozentsatz der paralytischen Männer ständig
abgenommen hat, die Ziffer der paralytischen Frauen sich ziemlich
gleichgeblieben und erst in den letzten 10 Jahren etwas gestiegen ist.
Vergleichen wir damit die Zahlen, die uns der Aufnahmebezirk
Lothringen gibt; seine Anstalt Saargemünd nimmt leider erst seit dem
Jahre 1898 eine Trennung der progressiven Paralyse von einer para¬
lytischen senilen Gruppe vor und nur die Angaben Stössnm, die sich
aber summarisch auf die Jahre 1887—1896 erstrecken, lassen das prozen¬
tuale Verhältnis der Paralytikeraufnahmen zu den Gesamtaufnahmen
für diesen Zeitraum berechnen; es ergeben sich dabei die Zahlen
18,9% für die Männer, 6,1% für die Frauen und 12,9% für beide
Geschlechter zusammen. Ich lasse nunmehr die Zahlen folgen, wie
ich sie für die Jahre 1898—1909 gefunden habe.
Tabelle HL
Jahrg.
I. Gesamtaufn.
M. Fr. , Tot.
II. Paralyt.
Aufn.
M. | Fr., Tot.
III. % -Aufnahme
von II/I
M. | Fr. ] Total
1898
83
92
175
13
1
4 1
17
15,7 i
4,4
9,7
1899
90
76
166
12
2 ,
14
13,3 j
2,6
8.4
1900
86
78
164
16
2 i
18
18,6 j
2,8
11,0
1901
108
70
178
10
4
14
9,3 ;
5,7
7.8
1902
109
61
170
24
2 j
26
22,0 i
3,3
15,3
1903
128
87
215
24
8 1
32
20,3 1
9,2
15,6
1904
100
49
149
10
2
12
10,0 '
4,1
8.1
1905
113
77
190
20
2
22
i7,7 ,
2,6
11,6
1906
97
49
146
11 1
: 1
12
11,3
2,0
! 8,2
1907
94
70
164
17
3
20
18,1 1
4,3
12,2
1908
101
73
174
18 1
**
J ;
25
17,8
9,6
14,4
1909
107
62
169
22
1
23
20,6 |
1,6
13.6
Auch die Saargemünder Prozentziffem schwanken zwischen den
Extremen 9,3% und 22,0% bei den Männern und 1,6% und 9,6%
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Statistische und klinische Beobachtungen über Veränderungen usw. ö07
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Kurve II.
08 09 00 01 OS 03 04 03 06 07 OS 09 10
_ M.
. Fr.
-Tot.
H—h ++ M. Stph.
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
508
Joachi ni,
bei den Frauen, und auch hier will ich zwei Jahrperioden einander
gegenüberstellen:
M.
Fr.
Total
1898—1903 . .
. . . 16,9
4,8
11,8
1904—1909 . .
. . . 16,0
4,2
11,5
Eine wesentliche Verschiebung innerhalb dieser Zeit ist mithin
nicht zu verzeichnen, wohl aber, wenn wir den gesamten Zeitraum
mit den von Stössner gefundenen Werten vergleichen.
M. Fr. Total
1887/96 . 18,9% 6,1% 12,9%
1898/09 . 16,2% 4,5% 11,6%
Es ergibt sich dann, daß auch Lothringen einen Rückgang seiner
Paralyseaufnahmen zu verzeichnen hat. Im Gegensatz zum Elsaß
aber halten sich die Prozentziffera seiner männlichen Paralytiker,
die in den 80er und 90er Jahren ungefähr mit den elsässischen Zahlen
übereinstimmen, im neuen Jahrhundert auf größere Höhe wie diese,
eine Erscheinung, die ich mir durch das Anwachsen der lothringischen
Industriezentren zu erklären suche, worauf ich noch später zu sprechen
komme. Diesen Unterschied veranschauliche ich durch eine Kurven¬
tabelle (II, auf voriger S.), in der einmal die lothringischen Zahlen
eingezeichnet sind, dazu aber auch die Kurvenlinie der elsässischen
männlichen Paralytiker des gleichen Zeitraumes.
Wesentlich anders und nicht ohne weiteres vergleichbar sind
endlich die Verhältnisse, wie sie uns die Straßburger Klinik bietet
Der größte Teil aller Paralytiker des Elsasses (des Oberelsasses wenigstens
bis zur Eröffnung der Anstalt Rufach) benutzt sie ja nur als Durch¬
gangstation und erscheint in den Prozentzahlen der Bezirksanstalten
wieder. Um nun so eine doppelte Buchführung zu vermeiden, habe
ich nur die Paralysen der Klinik gezählt, die nicht sofort oder später
in unseren Landesanstalten Aufnahme fanden, also die, die in der
Klinik starben, nach Haus entlassen wurden, ohne später in den
Bezirksanstalten wieder aufzutauchen, und die, die in ausländische
Anstalten überführt wurden; ihre Zahlen (B) habe ich dann auch nur
in Verhältnis (C) setzen können zur Summe aller der Aufnahmen (A),
die das gleiche Schicksal mit ihnen teilten. Auf diese Weise erhielt
ich für die Straßburger Klinik folgende Ziffern:
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Gck igle
Original fro-rri
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Statistische und klinische Beobachtungen über Veränderungen usw. 509
Tabelle IV.
Jahrg.
M.
A
Fr.
| Tot.
M.
B
Fr.
Tot.
M.
C
Fr. iTot.
1897
118
142
260
11
1
12
9,3
0,7
4,6
1898
125
136
261
11
1
12
8,8
0,7
4,6
1899
133
136
269
16
3
19
12,0
2,2
7,1
1900
148
144
292
12
2
14
8,0
1,4
4,8
1901
167
173
340
8
3
11
4,8
1,7
3,2
1902
153
124
277
8
4
12
5,2
3,2
4,3
1903
191
143
334
10
1
11
5,2
0,7
3,3
1904
207
143
350
8
2
10
3,9
1,4
2,9
1905
246
200
446
13
1
14
5,3
0,5
3,1
1906
255
172
427
18
0
18
7,1
—
4,2
1907
267
267
534
17
2
19
6,4
0,7
3,6
1908
272
257
529
14
5
19
5,1
1,9
3,6
1909
217
242
459
6
3
9
2,8
1,2
2,0
Die Extreme liegen hier zwischen 2,8% und 12,0% bei den Männern
und 0% und 3,2% bei den Frauen, also wesentlich niedriger als z. B.
in Saargemünd. Doch möchte ich diesen Werten keine besondere
Beachtung schenken, da die andersartige, aber notwendige Art ihrer
Berechnung vergleichende Schlüsse nicht einfach erlaubt. Für den
Unterschied möchte ich den Umstand verantwortlich machen, daß
ja die wenigsten Paralysen nur Aufnahmen der Klinik bleiben, wäh end
umgekehrt dies bei einem größeren Teil der übrigen Psychosen der
Fall ist. Dies muß notwendigerweise auch in ihrem Verhältnisse
zum Ausdruck kommen.
Aber auch so läßt sich ein mäßiges Sinken desAufnahmeverhält-
nimes feststellen. Durchschnittlich verhalten sich drei einzelne Jahr¬
perioden wie folgt:
Tabelle V.
Digitized by
Jahrperiode
M.
Fr.
Tot.
1898—01 ....
. 8,2%
1,5%
4,8%
1902—05 ....
4,9%
1,3%
3,3%
1906—09 ....
. 5,4%
1,1%
3,3%
»y Google
U
Original fro-m
510
J oachim,
Das gleiche zeigt auch die Kurventabelle:
Kurve HI.
98 M 00 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10
-M.
-Fr.
. Total
Paralyt.-Aufn. in # / 0 der Gesamt-Auf d.
So verschieden sich auch für unsre in Betracht kommenden
Anstalten somit die Stärke der Abnahme verhält, die Tendenz zu
einer solchen ist überall deutlich. Dies tritt am besten in Erscheinung,
wenn ich durch Addition der einzelnen Zahlen mir eine Tabelle für
ganz Elsaß-Lothringen aufstelle, die in Bücksicht au! die schon ge¬
machten Ausführungen keines besonderen Kommentars mehr bedarf:
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Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Statistische und klinische Beobachtungen über Veränderungen usw. 511
Tabelle VI.
Jahrg.
M.
Fr.
Jahrg.
M.
Fr.
1898
11,4%
2,3%
1904
8,4%
2,8%
1899
15,5%
4,2%
1905
mm
2,3%
13,4%
4,1%
1906
ESU
2,5%
1901
13,2%
5,6%
1907
11,8%
i 2,6%
1902
11,9%
6,3%
1908
1903
12,2% |
6,4%
1909
9,9%
3,8%
Die Durchschnittswerte für drei einzelne Jahrperioden lauten'dann:
1898/1901 13,4% M. — 4,0% Fr.
1902/1905 10,7% „ — 4,4% „
1906/1909 10,0% „ — 3,3% „
Und endlich soll eine Kurventabelle das Bild für ganz Elsaß-
Lothringen vervollständigen:
Kurve IV.
98 99 DO 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10
20
19
18
17
16
15
14
13
12
11
10
9
8
7
6
5
4
3
2
1
0
o
i
to
s
£
tu
+
+
+
+
Digitized by
v Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
512
Joachim,
Hier zeigt die obere Kurvenlinie durch ihr langsames Fallen
die allmähliche Abnahme der Paralytikeraufnahmen männlichen
Geschlechts, die rote untere läßt erkennen, daß die weiblichen Para¬
lysen sich ziemlich auf gleicher Höhe halten, zum mindesten aber keine
Zunahme erfahren. Es ist somit für das Reichsland erwiesen, daß
des Prozentsatz der an Paralyse erkrankten Männer allmählich abge¬
nommen, der der Frauen weder nennenswert zu- noch abgenommen hat.
Dieses letztere Ergebnis, die Häufigkeit weiblicher Paralyse
betreffend, ist insofern interessant, als es sich nicht ganz mit den
Resultaten anderer Untersuchungen deckt. Eine große Reihe von
Autoren spricht von einer Zunahme der weiblichen Paralyse und
folgert sie aus der Verschiebung in dem Verhältnis der Prozent-
Ziffern der paralytischeu Männer und Frauen. Eine solche Ver¬
schiebung hat nun freilich auch bei uns stattgefunden; es lauten
nämlich die Verhältniszahlen der beiden Geschlechter z. B. für die
Anstalt Stephansfeld (+ Rufach) n dem Zeitraum
1872—1880/81 = 4,2 :1,0
1881—1888/89 = 4,3 : 1,0
1890—1899/1900 = 3,25 :1,0
1900—1910 - 2,5 :1,0.
Das ganze Land weist in dem Zeitraum 1898—1901 und 1906—09
das Verhältnis 3,3 :1,0 und 3,0 :1,0 auf, also eine geringere Ver¬
schiebung in den aber auch jüngeren Zeiträumen. Doch ist bei
diesen Verhältniszahlen zu bemerken, daß diese Verschiebung zu¬
ungunsten der weiblichen Paralyse mehr durch die Abnahme der
männlichen Paralyse als durch die Zunahme der weiblichen zu erklären
ist. Eine faktische Zunahme dieser können wir nicht nachweisen,
sie ist höchstens eine ideelle, relative. Diese Erscheinung entspricht
wohl auch dem Charakter von Elsaß-Lothringen, dessen weibliche
Bewohner noch nicht wie anderswo der Industrialisierung verfallen
sind.
Die bisherigen Zahlen und Tabellen gebe nun wohl einen Umriß
über das Vorkommen der Paralyse in Elsaß-Lothringen, doch sagen
sie uns nichts über die Verschiedenartigkeit, mit der die Paralyse
innerhalb der einzelnen Landesteile beobachtet wird. Auch hier
Veränderungen zu begegnen, müssen wir gefaßt sein. Die Bevölkerung
des Landes überhaupt stellt in ihren Lebensbedingungen kein ein-
Digitized by
Gck gle
Original fro-rri
UNIVERSITY OF MICHIGAN
| Statistische and klinische Beobachtangen über Veränderungen usw. 513
|
heitliches Ganze dar. Bezirken mit ausgesprochener, hochentwickelter
Industrie wie den lothringischen Kreisen Saargemünd, Diedenhofen
Wert, Metz Ld., den obereis ässischen Kreisen Kolmar, Mülhausen
stehen vorwiegend ländliche, acker- und weinbautreibende gegenüber
wie die Kreise Weißenburg, Erstein, Wolsheim, Schlettstadt, Rap¬
poltsweiler, Bolchen, St. Avold, Saarburg, und es gewährt einen
großen Reiz, zu untersuchen, wie sich die Paralyse auf die einzelnen
Kreise verteilt, und ob eingetretene Wandlungen sich durch den
im Laufe der Zeit veränderten Charakter des betreffenden Landes -
teils erklären lassen.
fiine derartige statistische Bearbeitung haben die Kreise des
Elsaß bereits im Jahre 1900 in der mehrfach zitierten Baer sehen
Arbeit gefunden. Den dort niedergelegten Prozentzahlen (1872 bis
1900) stelle ich die von mir für die Zeit von 1900—1910 berechneten
an die Seite; um vergleichen zu können, beschränkte ich mich in
diesem Falle auf die männlichen Aufnahmen der Anstalt Stephansfeld.
0 Q-Verhältnis der Paralytiker zu den männlichen Gesamtaufnahmen.
Kreise
1872—1900
1900—1910
Straßburg (Stadt) ....
39,0
22,1
Straßburg (Land) ....
10,8
9,3
Erstein.
11,4
5,6
Hagenau.
13,9
11,1
Molsheim.
11,8
5,9
Schlettstadt.
9,8
6,4
Weißenburg.
7,9
2,4
Zabern .
9,8
! 5,3
Altkirch .
12,4
! 4,4
Colmar.
15,0
12,4
Gebweiler.
14,2
l 6,0
Mülhausen.
23,3
j 15,7
Rappoltsweiler.
17,5
7,7
Thann .
11,6
7,9
Unterelsaß.
15,9
15,7
Oberelsaß.
17,0
15,9
Elsaß.
16,4
15,7
In dieser Tabelle tritt naturgemäß ebenfalls die relative Ab¬
nahme der männlichen Paralysen hervor, die sich auf alle Kreise er-
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
514
Joachim,
streckt. Doch ist dieser Rückgang nicht überall ein gleichmäßiger,
vielmehr unterscheiden sich die einzelnen Kreise nicht unwesentlich
voneinander; so schwanken die Differenzen zwischen 1,5% und 16,9%
Abnahme. Auffällig ist dabei die Erscheinung, daß gerade der Kreis
mit der höchsten Prozentziffer auch die höchste relative Abnahme
aufweist, die Stadt Straßburg (von 39,0% auf 22,1%), während z. B.
der benachbarte Kreis Straßburg Land nur um 1,5% zurückgeht.
Man ist versucht, dabei an die Entwicklung der Straßburger Vor¬
orte zu denken, die ja in den Landkreis fallen. Hervorzuheben sind
ferner die großen Unterschiede bei den Kreisen Mülhausen, Gebweiler,
Rappoltsweiler, Altkirch, doch möchte ich es nicht wagen, dies
mit einem Rückgang der dortigen Textilindustrie in Verbindung zu
bringen, denn so einfach liegen ja die Dinge nicht bei der progressiven
Paralyse.
Ich habe es mir nicht versagen können, auch für Lothringen eine
ähnliche Kreistabelle anzulegen, um den Unterschied zwischen den
einzelnen Landstrichen auch hier zu verfolgen. Um aber einen noch
besseren Maßstab für die Schätzung zu gewinnen, habe ich in einer
gemeinsamen Tabelle für das letzte Jahrzehnt alle Paralytiker, männ¬
liche und weibliche, von Elsaß (mit Einschluß der Aufnahmen der
Straßburger Klinik) und Lothringen kreisweise zusammengestellt und
ihre Summe in Verhältnis gesetzt zur Einwohnerzahl des betreffenden
Kreises, so daß die erhaltenen Ziffern sich auf je 10 000 Einwohner
beziehen. Damit erhalte ich zugleich auch eine mehr absolute Zahl
für das Vorkommen der Paralyse in diesen Kreisen (s. Tab. VIII).
Der fundamentale Unterschied zwischen Stadt und Land springt
sogleich in die Augen. Die Kreise Straßburg Stadt, Metz Stadt und
in weiterem Abstande Mülhausen, Colmar, Saargemünd erheben sich
zum Teil erheblich über den Durchschnitt von Elsaß bzw. Lothringen,
es sind die Kreise mit den großen, industriereichen Städten des Landes;
interessant ist, daß die beiden Hauptstädte in ihrer paralysenfördernden
Tätigkeit sich fast völlig gleichen. Weiterhin ist zu bemerken,daß zwischen
den weinbautreibenden Kreisen Straßburg Ld., Mölsheim, Schlett-
stadt, Gebweiler, Rappoltsweiler, Metz Ld. und Chäteau-Salins und
den weinbaufreien sich wohl Unterschiede ergeben, die es aber kaum
rechtfertigen lassen, daraus weitergehende Schlüsse zu ziehen. Eher
ist dies vielleicht angängig bei Berücksichtigung der Bevölkcrungs-
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Go^ 'gle
Original fro-rri
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Statistische and klinische Beobachtungen über Veränderungen usw. 515
Tabelle VIII.
Kreise
Anzahl der
Paralyt.
0 /
/ 000
Verhältnis
1. Straßburg (Stadt) . .
146
8,71
2. Straßburg (Land). . .
27
2,86
3. Erstein.
11
1,72
4. Hagenau.
23
2.87
5. Molsheim.
10
L47
6. Schlettstadt.
15
2,21
7. Weißenburg.
3
0,53
8. Zabern.
12
1,36
9. Altkirch.
4 |
0,79
10. Colmar.
31
3,21
11. Gebweiler.
17
2.75
12. Mülhausen.
72
3,95
13. Rappoltsweiler ....
16
2.66
14. Thann .
12
1,97
15. Metz (Stadt) ....
51
8,5
16. Metz (Land).
21
1,88
17. Bolchen.
2
0,47
18. Chäteau-Salins ....
6
1,29
19. Diedenhofen 0. . . .
5
0,87
20. Diedenhofen W. ...
8
1,07
21. Forbach.
13
1,58
22. Saarburg.
9
1,36
23. Saargemünd.
23
3,14
24. Unterelsaß ......
247
3,6
25. Oberelsaß.
152
2,97
26. Elsaß.
399
3,3
27. Lothringen.
138
2,24
28. Ausland.
53
—
dichte. Die Kreise mit der größeren Dichtigkeit haben auch die
höheren Zahlen aufzuweisen, Straßburg Ld., Hagenau, Erstein, Schlett-
stadt, Gebweiler, Rappoltsweiler, Forbach, Saargemünd mit 100,
200 und mehr Einwohner pro qkm übertreffen die Kreise Molsheim,
Weißenburg, Zabern, Altkirch, Bolchen, Diedenhofen 0. u. W.,
Chäteau-Salins mit 50—100 Einwohnern pro qkm. Dies sind zugleich
auch die mehr agrarischen Kreise. Im einzelnen ist der Unterschied
zwischen den benachbarten Diedenhofen 0. u. W. charakteristisch,
bei ungefähr gleicher Dichte hier Minen- und Eisenindustrie, dort
Aekerbau. Überhaupt bietet Lothringen mit seiner noch schärferen
Zeitschrift für Psychiatrie. LX1X, 4 36
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Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
516
Joachim,
Abgrenzung von Industrie- und Ackerbaukreisen als das Elsaß ein
noch besseres Beispiel für den Einfluß, den die äußeren Lebens¬
bedingungen wohl für das Zustandekommen der Paralyse ausüben.
Die Bedeutung, die diese „Zivilisation“ für die Entstehung der
progressiven Paralyse hat, kommt nun aber auch noch in einer anderen
Erscheinung zu deutlichem Ausdruck, ich meine, in der Verteilung
der Paralyse auf die verschiedenen Schichten der Bevölkerung, auf
die Berufe. Oberstemer sagt hierzu: „Die Krankheit ist relativ häu¬
figer in höheren als niederen Ständen“.
Nach Baer waren unter 563 paralytischen Männern der Anstalt
Stephansfeld (1872—1900):
a) höhere Beamte, Gelehrte, Künstler 11,5%
b) Offiziere.2,7%
c) Kaufleute.13,7%
d) Niedere Beamte .16,0%
e) Handwerker, Gewerbetreibende . . 32,5%
f) Landwirte.8,7%
g) Tagelöhner, Fabrikarbeiter .... 14,9%
Es bildeten also die mittleren Stände das Hauptkontingent der
Paralytiker, besonders gering war der Anteil der Landwirte im Ver¬
gleich zu dem von Müller (31,2%) und Kundt (37,8%) berechneten.
Das gleiche Ergebnis haben im allgemeinen für das letzte Dezennium
des gleichen Aufnahmebezirks meine Untersuchungen gehabt, wenn
auch vielleicht die Neigung eines gewissen Vordringens in die niederen
Bevölkerungsschichten erkennbar wird. Eine relative Verringerung
ihres Anteils erfahren dabei die höheren Stände, eine merkbare Ver¬
mehrung die Arbeiter und Tagelöhner, während die Landwirte keine
wesentliche Änderung zeigen. Ähnlich liegen auch für den gleichen
Zeitraum die Verhältnisse bei den Lothringern; ihre Zahlen weichen
nicht sehr von denen der Anstalt Stephansfeld ab. Im Gegensatz zu
beiden steht dafür die Straßburger Klinik, deren Lage und Aufnahme¬
verhältnisse zwanglos die höheren Werte bei den höheren Ständen
erklären lassen; für das Sinken des Anteils der Handwerker und Ge¬
werbetreibenden freilich weiß ich ohne weiteres keinen plausiblen
Grund; beträchtlich ist auch die relative Abnahme der Landwirte hier,
und gleich bleibt sich der Anteil der Arbeiter.
Folgende Tabelle erläutert und veranschaulicht die gemachten
Angaben:
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Gck igle
Original fro-rri
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Statistische und klinische Beobachtungen über Veränderungen usw. 517
Tabelle IX.
Saarg.
00-10
Klinik
94—00
1
Eis. |
900—10
Lothr.|Els.-L.
Höhere Beamte,
Künstler, Gelehrte
11,5
4,9
2,6
2,1
5,8
5,2
2,6
4,6
Offiziere.
2,7
0,8
2,6
14
2,9
1,4
2,6
1,7
Kaufleute .
13,7
11,9
13,2
15,8
21,4
14,8
13,2
14,3
Niedere Beamte . .
16,0
12,7
13,2
16,8
22,3
15,6
13,2
15,0
Gewerbetreibende
Handwerker . . .
32,5
37,7
34,2
40,o
28,2
34,9
34,2
34,7
Landwirte.
8,7
7,0
7,9
6,3
1,0
5,2
7,9
5,9
Tagelöhner, Arbeiter .
14,9
25,0
26,3
17,9
18,4
23,1
26,3
23,9
Berufsanteil in Prozent ausgedrücl
ct.
Den so gern und oft zitierten „fehlenden“ katholischen Geist¬
lichen habe auch ich bei meinen Untersuchungen nicht entdecken
können, ebenso hat sich noch nicht trotz zahlreicher Aufnahmen von
Ordensschwestern die paralytische Nonne gezeigt. Für die weib¬
lichen Paralysen habe ich es unterlassen, eine besondere Tabelle zu
konstruieren, da die meisten beruflos sind, die wenigen Berufs¬
angaben sich aber nur auf die niederen Stände erstrecken. Eine
Paralyse der höheren habe ich nicht konstatieren können.
Daß bei dem Lebensalter, in dem Paralyse vorzukommen pflegt,
in weitaus stärkerem Maße die Verheirateten betroffen sein müssen,
ist ja nur natürlich. Doch ist die Zahl der Ledigen relativ hoch,
Mendel zählt 27,1% Ledige, Obersteiner 31,2%. So hoch sind unsere
Ziffern nicht, doch zeigen die Beispiele der folgenden Tabelle, daß all¬
mählich ein Anwachsen des Anteils der Ledigen stattgefunden hat. Dies
könnte damit Zusammenhängen, daß im Laufe der Zeit der Beginn der
Erkrankung früher fällt oder der Termin der Verheiratung später oder
beides zusammen wirksam ist. Die Tabelle gibt die Prozentzahlen an:
Tabelle X.
Steph. + Ruf.
Klinik
Saargem.
Eis.
Loth.
EIS. "Li*
97/00
01/05
06/10
97/00)01/10
01/10
Verheiratet
75,9
74,6
71,1
75,0
72,0
83,0
77,8
75,8
72,5
76,8
73,4
Ledig . .
20,3
15,3
21,9
20,8
22,9
10,6
17,5
19,4
19,9
18,4
19,5
Verwitwet
2,5
9,9
5,3
4,1
2,0
6,4
4,8
3,2
6,2
4,0
5,7
Geschieden
1,3
0,7
1,8
—
2,0
—
—
1,6
1,7
0,8
1,5
36*
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Gck gle
Original fro-rri
UNIVERSITY OF MICHIGAN
518
Joachim,
Die Frage nach dem Lebensalter beim Ausbruch der Paralyse
findet im allgemeinen dahin eine Beantwortung, daß der größte
Prozentsatz in die Periode vom 40. bis 45. Lebensjahre fällt, daß
vom 30. Lebensjahre ab ein allmähliches Ansteigen, nach dem 50.
ein rapides Sinken statthat.
Bei meinem Material (Bezirksanstalten und Klinik, aus der
Zeit nach 1900) habe ich nur einen einzigen Fall von juveniler Paralyse
feststellen können. Die Frühformen zwischen dem 20. und 30. Lebens¬
jahr halten sich für alle drei Aufnahmebezirke auf ungefähr gleicher
Höhe, die Zunahme, die sie bei dem einen (Klinik) gefunden haben,
wird durch die Abnahme bei dem andern (Saargemünd) ausgeglichen.
Das vierte Lebensjahrzehnt zeigt in Saargemünd eine beträchtliche
Zunahme, während es in der Klinik auf derselben Höhe sich hält
und in Stephansfeld nicht unbedeutend abfällt. Dabei sind die Ziffern
der Klinik wesentlich höher als die der Bezirksanstalten. Umgekehrt
verhält sich grad das nächste fünfte Jahrzehnt mit den höchsten
Prozentzahlen. Hier zeigen die Bezirksanstalten die höheren Werte;
im einzelnen steigen die Stephansfelder Ziffern, sinken etwas die der
Klinik und unter erheblicher Schwankung die von Saargemünd. Im
sechsten Dezennium fallen nur die Zahlen dieser Anstalt, während
sie sonst ziemlich unverändert bleiben. Jenseits des 60. Lebensjahres
konnte ich im ganzen nur 7 Fälle zählen.
Übersieht man jedoch die Resultate des ganzen Landes, so er¬
gibt sich, daß die Schwankungen, die im einzelnen die Dezennien
im Verlauf der Jahre zeigen, sich zusammen ausgleichen und sich über¬
haupt erhebliche Veränderungen in dem Anteil der verschiedenen
Jahrzehnte nicht nachweisen lassen.
Leider hat Baer , der Bearbeiter der Zeit vor 1900, sich nur sum¬
marisch ausgesprochen.
Tabelle XI (s. folgende S.) enthält die Prozentzahlen der ein¬
zelnen Dezennien, innerhalb deren die Paralyse zum Ausbruch gelangte.
Bemerkenswert bleibt, daß die Prozentzahlen des v ; erten Jahr¬
zehnts im ganzen Lande nicht sehr unter denen des fünften sich halten
im Gegensatz zu Resultaten anderer Länder.
Die Dauer der Erkrankung zu bestimmen, begegnet gewissen
Schwierigkeiten, da die Angaben über den Beginn der Erkrankung
oft unzuverlässig, unsicher und unbestimmt sind. Wenn ich auch
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Original fro-rri
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Statistische und klinische Beobachtungen über Veränderungen usw. 519
Tabelle XL
Lebens¬
jahre
Steph. u.
97 — oo|oi— 06
Ruf.
[(»—10
Si
07—00
aargei
01—06
n.
05—10
96-00
Klinik
|oi—oojoe —10
Elsaß -Lothr.
97— 00 01—05 jo»— 10
0-20
20-30
i
2,8
1 |
3,1
3,2
0
9,1
3,1
0
2,9
7,7
1,4
4,8
0,4
4,0
30-40
41,7
| 38,3
1 31
29,8
48,5
45,3
51,4
50
51,9
38,4
42,9
38,3
40-50
37,5;
40,6
48,1
53,2
28,8
40,6
37,8
32,3
,32,7
43,8
35,9
43,4
50-60
16,7
15,6
15,8
14,9
13,6
9,3
8,1
14,7
14,4
14,9
12,9
60 und
darüber
1*4
j 2,3
1,9
2,1
0
1,6
2,7
0
• 0
2,0
1,3
1,5
versucht habe, f&r die letal geendeten Fälle die Dauer der Erkran¬
kung zu bestimmen, so bin ich mir wohl bewußt, daß die erhaltenen
Resultate doch nur einen sehr beschränkten Wert haben können.
Und wenn ich gar finde, daß Baer für die Paralysen in Stephansfeld
als durchschnittliche Dauer der Männer 2 Jahr 9 Monate, der Frauen
3 Jahr 11 Monate berechnet hat, ich dagegen für jene 2 Jahr 7 Monate,
so kann ich doch nicht so recht glauben, daß tatsächlich eine Ver¬
kürzung im letzten Dezennium sich ergäbe, es widerspräche zu sehr
den allgemeinen Erfahrungen und auch eigenen Eindrücken der Praxis.
Hier muß es sich meines Erachtens um subjektive Fehlerquellen
handeln. Immerhin will ich meine gefundenen Werte in einer Tabelle
folgen lassen, deren Ziffern prozentualiter ausdrücken, wieviel der
aufgenommenen Paralysen 1, 2 usw. Jahre gedauert haben:
Tabelle XU.
Dauer
0—1
1—2
2—3
3-4 j
4—5 |
5—10 ;
10 Jahre u. m.
1897—00
25,5
| 21,4 |
18,4
12,2
10,2
i 11,2 1
1,0
1901—05
13,8
20,4
26,9
15,6
8,9
: 13,2
1,2
1905—09
27,3
, 25,3
22,0
13,3
6,0
6,0
0
Dazu möchte ich bemerken, daß das letzte Quinquennium, dessen
Aufnahmen ja zum Teil noch leben, naturgemäß in den Kolumnen
0—3 hohe Zahlen aufweisen muß, also nicht gut zu irgendwelchen
Schlüssen verwandt werden kann. Im übrigen läßt sich aus der Tabelle
innerhalb des beurteilten Zeitraums vielleicht eine geringe Verlängerung
der Dauer herauslesen.
Eine statistische Prüfung der ätiologischen Faktoren, die für die
Entstehung der Paralyse verantwortlich zu machen sind, hat heute
nicht mehr die Bedeutung wie früher, wo es galt, gegebenenfalls auf
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Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
520
Joachim,
diesem Wege die Frage zu lösen. Es besteht wohl zurzeit kein Zweifel
mehr darüber — das haben die Wassermmn-Plautschen Untersuchungen
ergeben —, daß ohne Syphilis keine Paralyse entsteht. Ob wir nun¬
mehr bei so oder soviel Prozent unsrer Paralytiker Lues als sicher
oder wahrscheinlich nachweisen können, hat eigentlich nur noch den
Zweck, uns erkennen zu lassen, wie schlecht unsere an mnestischen
Angaben beschaffen sind. Und daß sie herzlich dürftig sind, das
lehren die Zahlen, die ich bei 505 Paralysen der letzten 10 Jahre in
Elsaß-Lothringen fand; nur 109 mal konnte ich Lues als sicher an¬
nehmen (21,6%) und 95 mal als wahrscheinlich (18,8%). Es lohnt
sich nicht, im einzelnen hier nach Veränderungen zu suchen.
Unter der gleichen Zahl von Paralysen konnte ich 83 mal Alkohol¬
mißbrauch verzeichnet finden, also 16,4% Potatoren, für die Anstalt
Stephansfeld allein gar nur 13,8%. Bei ihren Gesamtaufnahmen des
gleichen Zeitraums (1901—1910) waren dagegen 20,5% Trinker zu
finden. Diese Tatsache der geringeren Alkoholantezedentien.bei Para¬
lytikern im Vergleich zu den Gesamtaufnahmen hat schon Stark an
unsrer Anstalt ebenfalls für einen zehnjährigen Zeitraum feststellen
können, nur mit dem Unterschied, daß damals höhere Zahlen sich
ergaben, für die Paralytiker 22,7% und für die Gesamtaufnahmen
29,4% Potatoren. Auch Baer berechnet bei 23,2% der Paralytiker
Alkoholmißbrauch. Wir haben es also in Elsaß-Lothringen mit einem
geringen Prozentsatz von Potatoren unter unsern Paralytikern zu
tun, zudem noch mit einer Abnahme desselben, die freilich auch mit
einem allgemeinen Rückgang der Trunksucht Hand in Hand zu gehen
scheint. Ähnlich wie Stark nachgewiesen hat, daß kein Parallelismus
zwischen Paralytiker- und Alkoholikeraufnahmen in den einzelnen
Kreisen des Elsasses besteht, habe ich schon an früheren Stellen gezeigt,
daß sich keine Gesetzmäßigkeit zeigt zwischen dem Auftreten der
Paralyse und der Betätigung des Weinbaus.
Das Trauma, dem die gleiche ätiologische Rolle wie dem Potus
zugeschrieben wird, fand ich unter 505 Fällen 17 mal erwähnt als
direkte Ursache, also bei 3,4%. Baers Statistik gibt fast das Doppelte,
6%. Der Unterschied erklärt sich wohl aus dem größeren Tnteresse,
das damals diesem ätiologischen Faktor zuteil wurde.
Eine ähnliche Differenz wie beim Alkoholmißbrauch zwischen den
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Statistische und klinische Beobachtungen über Veränderungen usw. 521
Prozentzahlen der Paralytiker und der Gesamtaufnahmen ergibt
auch die Berechnung der Heredit&t. Für die Anstalt Stephansfeld
fand ich bei den Paralytikern der Jahre 1901—1910 nur in 9,8% der
Fälle hereditäre Belastung verzeichnet im Gegensatz zu 37,3% bei
den Gesamtaufnahmen. Bur fand 17% erblich belastete Paralytiker.
Für Elsaß und Lothringen erhielt ich in den Jahren 1901—1905
13,7% und in den Jahren 1906—1910 10,7%. An und für sich haben
diese Zahlen keinen so hohen Wert, da der Begriff der Heredität
ganz verschiedener Auffassung unterliegt; daher auch die großen
Unterschiede bei den Angaben der meisten Autoren (Ziehen 40%,
Kräpelin 50%, Siemerling 11%, Westphal 5,4%).
Unstreitig das interessanteste Kapitel bildet die Beantwortung
der Frage, ob die progressive Paralyse heute eine andere ist wie vor
Jahren, ob sich eine Änderung ihres Charakters, kenntlich durch eine
solche der Verlaufsform, bemerkbar macht. Bevor ich dieser Frage
mit statistischem Material nähertrete, kann ich es mir nicht ver¬
sagen, etwas von dem Eindruck wiederzugeben, den ich beim Lesen
von Krankengeschichten erhielt, deren Abfassung nicht mehr als
10 Jahre zurücklag, und deren Einträge ich nun verglich mit unsren
heutigen. Ich muß sagen, der Unterschied war ein so sinnfälliger
— nicht nur bei einzelnen Fällen —, daß man am liebsten ohne weiteres
die Frage nach einem Wechsel mit Ja beantwortet hätte.
Schon äußerlich tritt dieser Unterschied zutage. Die älteren Kranken¬
geschichten waren interessanter gewissermaßen, weil sie mehr Abwech¬
selung boten, aus demselben Grunde wohl auch umfangreicher. Ihre
Schilderungen farbiger, ihre Einträge häufiger, durch den öfteren Wechsel
«les Zustandbildes veranlaßt, und ihr Inhalt nicht so oft durch die
•Stereotypie des Stat. idem verunziert. Ein weiteres Merkmal, daß die
einzelnen Verlaufsbilder bei weitem nicht so oft sich ähnlich sahen wie
heute. Nur eins haben sie im Gegensatz zu den heutigen gemeinsam,
die so oft, so viele Mal wiederkehrende Bemerkung: ,,Erregt, ins Einzel¬
zimmer“ oder tobt, zerreißt, Injektion von 0,001 Hyoscin“ und deren
beliebig zu vermehrende Varianten. Bei uns in Stephansfeld sehn wir
damals meist den neuaufgenommenen Paralytiker in die .»Loge“ (unruhige
Abteilung) wandern, Morphium- und Hyoscininjektionen bleiben im
weiteren Verlaufe wohl keinem erspart. Und doch beweist die Schilderung
des Erregungszustandes, daß diese Maßnahmen durchaus am Platze.
Bis zu Wochendauer müssen einzelne in mehrfacher Wiederkehr in der
Zelle isoliert werden, und erst spät nach ihrer Aufnahme treten sie den
Weg zur Pflegeabteilung an. Mein persönlicher Eindruck aus der Praxis
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Original fro-m
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522
Joachim,
der letzten Jahre ging ja schon dahin, daß unsre Paralytiker jetzt ruhiger
sein müßten als früher; so bedeutend, wie er mir hier entgegentrat, hatte
ich mir jedoch den Unterschied nicht vorgestellt. Was mich Stephans-
feld lehrte, fand ich auch ähnlich in Saargemünd bestätigt, wenn auch
nicht so augenfällig. Anders stellte sich die Straßburger Klinik dar.
naturgemäß, da sie ja meist nur relativ kurze Zeit und in den ersten Stadien
die Paralytiker beherbergt; hier ließen sich derartige greifbare Unter¬
schiede nicht feststellen.
Das häufigere und protrahierte Auftreten von Erregungszuständen
verschiedenster Art also kennzeichnet die früheren Paralysen im all¬
gemeinen. Im einzelnen kam es ferner damals eher zu ausgedehnten
Anfallserien als heute, aber die Häufigkeit der Anfälle selbst konnte
natürlich erst eine statistische Zusammenstellung entscheiden.
Wesentlich anders aber spiegelt sich die heutige Paralyse in den
Krankengeschichten wieder. Schon die Aufnahmen erfolgen—in Ste¬
phansfeld — in überwiegender Zahl sofort in die Pflegoabteilung, die
gewissermaßen Paralytikerabteilung geworden. Das dort zur Ver¬
fügung stehende eine Einzelzimmer wird meist nur aus Gründen
der Überfüllung belegt; die Notwendigkeit seiner Belegung aus inneren
Gründen macht sich bei unsern Paralytikern äußerst selten geltend;
geschieht es, so ist die Isolierung doch nur von kürzerer Dauer. Auch
das seit dem Jahre 1908 in Betrieb befindliche Dauerbad wird nur in
geringem Umfange und für kurze Zeit von Paralytikern benützt.
Die Erregungszustände klingen meist rascher ab, rezidivieren nicht
so häufig und anhaltend und erreichen auch nur selten noch ihre frühere
Heftigkeit. So kommt es, daß die Morphium- oder Hyoscininjektion
eines Paralytikers ein seltenes Ereignis darstellt, so selten, daß — bei
dem auch sonst seltenen Bedarf — die trockengewordene Spritze
ihren Dienst versagt. Kurz, die Paralytiker sind heute vielmehr
Gegenstand der Pflege als der Überwachung geworden. Deshalb er¬
scheinen auch die Krankheitschilderungen eintöniger, überein¬
stimmender, uninteressanter.
Nach diesem Bilde, das mehr einen rein persönlichen Eindruck
wiedergibt, sollen nunmehr die Zahlen objektiv die Frage beleuchten,
die ich gewonnen habe aus dem Einzelstudium von 652 Paralysen.
Ich habe dabei versucht, mich frei zu machen von der Einwirkung
einer leitenden Vorstellung, wie sie etwa das subjektive Vorurteil
geben konnte.
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Statistische und klinische Beobachtungen über Veränderungen usw. 523
Der Form nach unterschied ich dem allgemeinen Beispiel folgend
die vier Gruppen der dementen, expansiven, agitierten und depres¬
siven Paralyse; Fälle, die mir nach dieser Richtung dauernd unklar
blieben oder wegen der Kürze der einmaligen Beobachtung bleiben
mußten, schied ich gänzlich aus. Das untersuchte Material umfaßt
sämtliche Paralysen aller in Betracht kommenden Anstalten Elsaß -
Lothringens vom Jahre 1897—1910. Dabei kam ich zu dem in Ta¬
belle XIII niedergelegten Resultat. Sie gibt die Zahlen der Klinik
und der drei Anstalten des Landes zusammen an, während die drei
folgenden Tabellen XIV—XVI nur die einzelnen Anstalten umfassen.
Tabelle XIII.
Jahr¬
periode
Zahl d.
Fälle
de
Zahl
m.
! %
exp.
Zahl ! %
agit.
Zahl | «/o
depr.
Zahl | «/o
1897-1900
147
78
53,1
43
29,3
13
8,8
13
8,8
1901-05
233
137
58,8
53
22,7
21
9,0
22
9,4
1906-1910
272
185
68,0
57
20,9
21
7,7
10
3,7
In den drei Jahrperioden begegnen wir also einem stetigen An¬
wachsen der dementen Form von 53,1% auf 68,0%, also um 14,9%.
einer dauernden Abnahme der expansiven Form um 8,4% (von 29,3%
auf 20,9%); im Gegensatz dazu weist geringe Schwankungen auf die
agitierte Form mit dem Endresultat einer kleinen Abnahme, so die
depressive Form mit dem einer etwas größeren. Die einzelnen Faktoren,
die dieses Ergebnis zeitigen, verhalten sich nun aber keineswegs
ebenso, vielmehr differieren sie nicht nur quantitativ, sondern auch
qualitativ, indem sie da Abnahme zeigen, wo die Gesamtziffer auf
Zunahme weist. Dies erläutern die Einzeltabellen für die Anstalten
Stephansfeld und Rufach zusammen (Tab. XIV), für Saargemünd
(Tab. XV) und für die Straßburger Klinik (Tab. XVI).
Tabelle XIV (Stephansfeld und Rufach).
Jahrg.
IlBfl
HgQ
dem.
Zahl | %
■ 1■
agit.
Zahl! %
depr.
Zahl! %
1897—1900
73
36
48,5
21
28,8
9
12,3
7
9’6
1901—1905
133
83 !
62,4
27 i
20,3
13
9.8
10
7.5
1906—1910
164
114
1
69,4
33
20,1
13
| 7,9
4
2.4
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Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
524
Joachim,
In Stephansfeld zeigt sich also eine ganz erhebliche Zunahme der
dementen Form (um 20,9%) und eine gleichmäßige Abnahme der
anderen Formen.
Tabelle XV (Saargemünd).
Jahrg.
Zahl d.
dem.
exp.
agit.
depr.
Fälle
Zahl
%
Zahl
%
Zahl
%
Zahlj
<y
,x>
1897—1900
47
26
55,3
13
28,0
3
6,3
5 1
10.6
1901—1905 !
70
39
55,7
18
25,7
6
8,6
7 i
10,0
1906—1910
64
49
76,6
9
14,1
5
7,8
2
3,1
Ebenfalls finden wir bei den Saargemünder Paralysen ein be¬
trächtliches Anwachsen der dementen Form um 21,3%, ferner ein
Zurückgehen der expansiven um 13,9%, der depressiven um 7,5%.
dagegen eine geringe Zunahme der agitierten um 1,5%.
Tabelle XVI (Straßburg).
Jahrg.
Zahl d.
dem.
exp.
agit.
depr.
Fälle
Zahl | %
Zahl
%
Zahl
%
Zahl
1 0 /
i A b
1895—1900
38
25 ! 67,5
10
26,3
1
2,6
2
' 5,3
1900—1905
34
15 | 50,0
8
26,7
2
6,7
5
16,7
1905—1910
52
22 50,0
15
34,1
3
6,8
4
1
9,1
Die Straßburger Klinik weist im Gegensatz zu den Landesanstalten
ein ganz anderes, fast umgekehrtes Bild aut Hier nimmt die demente
Form um 17,5% ab, die übrigen nehmen um 7,8%, 4,2% und 3,8%,
zu. Dieser Gegensatz erklärt sich dadurch, daß die Fälle der Klinik
— es handelt sich bekanntlich um solche, die nicht später in die Landes¬
anstalten Aufnahme fanden, nur relativ kurze Zeit beobachtet wurden,
so daß die später vielleicht den Verlauf beherrschende Demenz noch
nicht so zum Ausdruck gelangen konnte. Je schneller Entlassungen
erfolgten, desto eher sind die erregten Formen vorherrschend.
Folgende drei Kurventabellen endlich sollen diese Unterschiede
noch anschaulicher darstellen. Die schwarzen Linien bezeichnen die
Entwicklung der dementen Form, die gestrichelten die der expansiven,
die punktierten die der agitierten und die durch Kreuze gebildeten
die der depressiven.
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Statistische and klinishhe Beobachtangen über Veränderungen usw. 525
Kurve V.
Stpb. & Ruf ach
97 98 99 00 01 02 03 04 05 06 07 08 09
»9900 01 Ö2Ö3Ö405Ö6Ö708Ö9iÖ
%
80
75
70
65
60
55
50
45
40
35
30
25
20
15
10
5
0
-dem.
-exp.
. agit.
+ + + + depr.
Die dauernde Tendenz der Zunahme der dementen Form in den
beiden ersten (S. 525 u. 526), der Abnahme in der dritten Kurve
(S. 527) tritt dabei sehr deutlich hervor.
Kürzer kann ich mich fassen bei der weiteren klinischen Beob¬
achtung. Taboparalyse kam im Zeitraum von 1897 bis 1900 im ganzen
Land in 2,7% der Fälle vor, von 1901 bis 1905 in 4,3% und von 1906
bis 1910 in 6,3%.
Paralysen, in deren Verlauf sich paralytische Anfälle einstellten,
zählte ich 1897—1900 21,8%, 1901—1905 21,9% und 1906—1910
17,6%, mithin läßt sich eine geringe Abnahme des Auftretens von
Anfällen konstatieren.
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Original fro-m
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526
Joachim,
Kurve VI.
Saargemünd
97 98 99 00 01 02 03 04 05 06 07 08 09
85
80
75
70
65
60
55
50
45
40
35
30
25
20
15
10
5
0
Deutliche Remissionen zeigten sich in denselben Zeitabschnitten
in 1,4%, 1,7% und 4,0% der Fälle. Es wäre also jetzt das Vorkommen
dieser ein häufigeres Ereignis.
Zum Schluß möchte ich noch einmal die wesentlichsten
Punkte zus ammenf assen , in denen sich Än¬
derungen in dem Vorkommen und Verlauf der
progressiven Paralyse feststellen ließen. Im
allgemeinen ist die Frage nach solchen Veränderungen mit einem
J a zu beantworten, und zwar zeigten sich solche:
1. bei der Zahl der aufgenommenen männlichen Paralytiker. Sie
ist im Verhältnis zu den Gesamtaufnahmen allmählich gesunken;
2. bei der Verteilung der männlichen Paralysen auf die einzelnen
Kreise des Landes. Es ließen sich nicht unwesentliche Verschiebungen
hier nachweisen;
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Original fro-m
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Statistische und klinische Beobachtungen über Veränderungen usw. 527
Kurve VH.
Klinik.
Jahrg. 94 95 90 97 98 99 00 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10
80
75
70
65
60
55
50
45
40
$5
30
25
20
15
10
5
0
3. bei der Verteilung der männlichen Paralysen auf die Berufe;
ein wenn auch geringes Vordringen in die niederen Schichten ist
unverkennbar;
4. bei dem Anteil der Ledigen an der Erkrankung, der eine Stei¬
gerung erfahren hat;
5. bei der Dauer der Erkrankung, die eine aber nur geringe Ver¬
längerung aufweist;
6. bei dem ätiologischen Faktor, dem Potus, der deutlich seltener
in der Anamnese erscheint;
7. bei der Erscheinungsweise der Paralyse; die dementen Formen
Qberwiegen mehr und mehr die übrigen;
8. Anfälle scheinen seltener aufzutreten;
9. Remissionen sind ein häufigeres Vorkommnis geworden;
10. Tabes scheint sich häufiger mit der Paralyse zu vergesell¬
schaften.
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Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
528 Joachim, Statistische und klinische Beobachtangen usw.
Literatur.
1 . Allgemeine Zeitschrift f. Psych. Bd. 37, 41, 50, 54, 56.
2. Archiv f. öffentl. Gesundheitspfl. in Els.-Lothr. XIV, 1.
3. Arch. f. Psych. 26 ( Wollenberg ).
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5. Baer, Die Paralyse in Stephansfeld. Dissertation Straßburg 1900.
6 . Jahresberichte d. Anstalten Stephansfeld und Saargemünd.
7. Journ. of ment. sc. Bd. 47 (Stewart).
8 . Kröpelin, Lehrbuch f. Psych. 1899 u. 1910.
9. Med. Times and Gazette 1876.
10 . Neurol. Zentralbl. 1898.
11. Obersteiner, Die progress. allgem. Paralyse.
12. Rtgis, Sur la paralysie etc. L’Encdphale 1883.
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Ein Fall yon akuter Psychose nach chronischem
Yeronalgehranch.
Von
Dr. Hans Laehr in Schweizerhof.
Ein Fall von akutem Irresein nach 6%jährigem Veronalgebrauch
scheint mir der Veröffentlichung wert, weil er auf der Höhe große
Ähnlichkeit mit dem alkoholischen Delirium und in den letzten Tagen
mit dem halluzinatorischen Wahnsinn der Trinker zeigte, dabei aber
doch bemerkenswerte Abweichungen darbot. In der Literatur habe
ich ähnliche Fälle nicht gefunden, vielleicht weil ein so langer und
dabei regelmäßiger Veronalgebrauch überhaupt selten Vorkommen
dürfte. Ich bringe die Krankengeschichte ohne wesentliche Ab¬
kürzung, da so der Vergleich der äußeren Beobachtung mit den nach¬
träglichen schriftlichen und mündlichen Angaben der Pat. über die
Zeit der Krankheit ermöglicht wird. Man sieht daraus, daß die
Erinnerung namentlich für die letzten Tage der Krankheit ver¬
hältnismäßig gut erhalten war, und zugleich werden manche
Einzelheiten verständlicher.
Frau X., 53 J. alt. Der Vater starb mit 70 J.; die Mutter hatte in
ihren letzten Lebensjahren Morphium gebraucht und starb im 56. Jahre
(Ursache dem Manne nicht bekannt. Vgl. damit die Angaben der Pat.
unter dem 21.5., S. 549). Eine Schwester starb mit 16 Jahren an einem
Gehirnleiden. — Pat. selbst war als Kind ziemlich kräftig, besuchte die
Töchterschule mit gutem Erfolg. Stets sehr lebhaft, oft sehr vergnügt,
aber nie ohne Klagen, zu unnötigen Befürchtungen und Unzufriedenheit
neigend. 1884 Hochzeit. Glückliche Ehe, aber daneben stets Mädchen -
ärger, immer etwas, was zur Verstimmung Anlaß gab. 4 Kinder, 26, 25,
24, 18 Jahre alt, gesund. Entbindungen und Wochenbetten normal;
nicht selbst genährt. Seit etwa 10 Jahren öfters Schlafmittel und Brom.
Vor 7 Jahren Scheidung einer unglücklich verheirateten Tochter; Pat.
dadurch sehr mitgenommen, schlaflos, erhielt Veronal und nahm dies
seitdem regelmäßig, in letzter Zeit auch Medinal, 1—1 y 2 Tabletten (vgl.
S. 547 unter d. 16. 5.). Geistige Getränke genoß sie stets nur sehr wenig.
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in den letzten Jahren ganz ausnahmweise und in kleinen Quantitäten.
Tagüber war Pat. stets klar und geordnet, stand der Wirtschaft vor und
disponierte verständig; nur morgens oft wie berauscht. Im letzten Jahre
stets bedrückt; keine Angstzustände, aber hin und wieder Lebensüberdruß
geäußert, das Leben habe für sie keinen Wert; nie Suizidversuche. Vom
2 . Februar bis 13. März 1912 Erholungsreise mit dem Gatten nach dem
Süden, nahm aber andauernd Schlafmittel. Von da ab wieder zu Hause.
Hier Enttäuschung, daß der Sohn nicht in das Regiment in N. ein-
treten konnte. Pat. wurde im Anschluß hieran unruhiger, nahm das
Schlafmittel in größeren Dosen, zuletzt 1 V 2 bis 2 Medinaltabletten oder
1—1 Yi Veronaltabletten, manchmal in der Nacht auch vielleicht noch eine
Extradosis. Appetit stets genügend, nur die letzten 14 Tage schlecht ge¬
gessen. Stuhlgang letzthin oft angehalten (Angaben des Gatten und der
Schwägerin).
Aufnahme in Schweizerhof 3. 4. 1912. Trennte sich leicht vom
Gatten, legte sich zu Bett, sprach lallend; glänzende Augen. Bestätigte
die Angaben des Gatten. Aß gut. Stuhlgang nach Einlauf. Einstündiges
Bad abends. Nacht ruhig gelegen, stundenweise geschlafen.
4. 4. Große, schlanke Frau, Muskulatur schlaff. Kopf und Wirbel -
säule nicht schmerzhaft auf Druck und Beklopfen, nur am letzten Lenden -
wirbel mäßiger Druckschmerz. Herzgrenzen nicht verbreitert, Töne rein.
Lungen o. B.; flacher Brustkorb. Unterleib weich, nirgends druckschmerz¬
haft; Bauchreflexe nicht auslösbar. Kniereflex beiderseits vorhanden.
Fußsohlenreflex normal, kein Fußklonus. Radialreflex beiderseits ge¬
steigert. Trizepsreflex fehlt rechts, links normal. L. Arm kräftiger als
der r. Augenbewegungen frei. Pupillen gleich, reagieren prompt auf
Lichteinfall. Zunge gerade vorgestreckt, ohne fibrilläres Zittern. Fazialis-
innervation intakt. Geringer Tremor der Hände. Kein Romberg. Sprache
artikuliert, ohne Störungen, lallt heute nicht. Sensibilität und Motilität
o. B. — Klagen über ziehende, rheumatische Schmerzen im r. Arm;
vermöge mit der r. Hand nicht die Feder zu führen, habe keine Gewalt
über die Feder, schreibe so unleserlich, daß sie ihre Schrift selbst nicht
entziffern könne. (Vgl. S. 549 unter d. 22. 5.) Gewicht 58,2 kg.
5. 4. Gestern Besuch des Mannes. Abschied diesmal schwerer,
da er nach Haus reiste. Pat. erzählte von ihrer Sorge um das Befinden
ihrer ältesten Tochter, die eine Entbindung vor sich habe. Unzufrieden,
daß ihr Geld und Schere abgenommen wurden, fügte sich dann aber.
Gut gegessen. Abends 1 y a St. gebadet, dabei die Sachen nochmals sehr
genau durchsucht und im Handschuhkasten unten versteckt zwei volle,
uneröffnete Gläser mit Veronaltabletten gefunden. (Bei dem ersten
Durchsuchen der Sachen, das flüchtiger geschah, weil Pat. dabeisaß
und sich darüber aufregte, war nur ein halb gefülltes Glas mit Veronal¬
tabletten gefunden worden.) Nacht nicht geschlafen (Brausepulver).
Heute früh sehr niedergeschlagen, möchte am liebsten abreisen.
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Ein Fall von aknter Psychose nach chronischem Veronalgebrauch. 531
6. 4. Gestern früh von selbst reichlich Stuhlgang. Aß wenig den
Tag über. Nach ärztlichem Besuche, bei dem sie sich ohne weiteres ein¬
verstanden erklärt hatte,. Bettruhe auch weiter einzuhalten, schalt Pat.
erregt: das bekomme sie nicht über sich, die Pferdekur durchzumachen,
wochenlang zu liegen, bis sie schlafe. Müsse Schlafmittel bekommen.
Abends 1 1 / 2 Std. gebadet, dann rotes Gesicht, erregt. Nach kühlen Kopf-
umschlägen, Brausepulver, Baldriantinktur ruhiger, lag die ganze Nacht
ruhig, fürchtete einen Herzschlag, schlief nur y 2 Std. Heute rotes Gesicht;
Puls 72, regelmäßig, ziemlich kräftig. Liegt mit erhöhtem Kopf, weil sie
sonst Schwindel bekomme. Der Kopf sei benommen, aber keine Kopf¬
schmerzen. Bekomme diese Benommenheit immer nach kalten Um¬
schlägen, wie sie sie auf unsern Rat gestern abend gemacht; ,.als ob das
Blut dann noch mehr in den Kopf gezogen wird, und das Blut liegt dann
so schwer in den Augen. Das ist nur von den Umschlägen.“ An Kopf¬
schmerzen leide sie überhaupt nicht. Könne auch die hiesigen Speisen
nicht recht vertragen, keine abgekochte Milch trinken; daher komme
auch ihre Schwäche. Stößt beim Sprechen öfters an. Herztöne leise,
rein. Händedruck beiderseits gleich schwach. Nirgends Schmerzen.
7. 4. Gestern allmählich freundlicher. Besuch der Schwägerin; dann
besonders gute Stimmung. Aß gut und schlief diese Nacht viel besser,
habe nur sehr viel wüst geträumt.
8. 4. Tagüber ganz leidlich. Nur mehrmals über das Essen ge¬
scholten, aß aber gut, fürchtete dann, zu viel gegessen zu haben. Nacht
erst stundenlang kalte Umschläge gemacht, einige Tropfen Baldrian-
tinktur genommen, dann ganz ruhig gelegen. Heute: habe zwar nicht
geschlafen, das komme vom Essen, da seien Zwiebeln dran gewesen, das
vertrage sie nicht. Und heute früh Kuchen, das vertrage sie gar nicht
(hatte gestern statt Semmeln Kuchen verlangt). Puls 86. Klagt „Herz¬
klopfen und das furchtbare Aufsteigende; mein Kopf glüht ja ordentlich;
kein bißchen geschlafen! Jetzt lieg ich ebenso, wie ich gestern abend
mich ins Bett gelegt habe“. Kopf rot. Habe in der Nacht verdächtige
Geräusche gehört, es müßte wohl Jemand gestorben sein.
9. 10. Gereizte Stimmung gestern vormittag. Nach Tisch: habe
hier Quecksilber bekommen, denn dadurch werden ja schädliche Stoffe
ausgetrieben; im Bade sei Quecksilber. (Vgl. S. 553 unter 26. 5.) Später
gern beim Vorlesen zugehört, dabei Teilnahme gezeigt und gelacht. Abends
verlangte Pat. zu lüften, im Zimmer sei Schwefel oder Phosphor. Schlief
bis 1 Uhr. Dann vom Sturm erwacht. Später nochmals geschlafen. Habe
den Arzt in der Nacht im Hause sprechen hören (nicht dort gewesen);
er habe der Pflegerin etwas über eine Kranke diktiert. Puls 98. Erzählt
heute, sie sei durch das Schreien einer anderen Pat. (in der Tat hatte die
Nachbarin im Schlafe aufgeschrien) erwacht und dann infolge des Sturms
nicht wieder eingeschlafen; habe allerlei Geräusche gehört, ihnen unwill¬
kürlich gelauscht und sich allerlei zusammengereimt. Die Pflegerin habe
sich über sie gebeugt und sich dann am Fenster zu schaffen gemacht,
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dabei habe Pat. geglaubt, an der Fensterseite zu liegen, während sie auf
der Seite gegenüber liegt; das sei also wohl im Halbschlaf gewesen. Dann
aber habe sie nicht mehr geschlafen und sei doch abends so ruhig gewesen,
weil sie ein eigenes Kopfkissen, das sie sich hatte schicken lassen, unter
dem unsrigen gehabt in dem sicheren Gedanken: auf eigenem Pfühl werde
ich zuerst einschlafen. Das furchtbare Geschrei (außer jenem Aufschrei
nichts gewesen) nach dem Selbstmord habe sie ganz deutlich gehört,
„Selbstmord kann ja leicht Vorkommen, in Berlin kommt er jeden Augen¬
blick vor“, und dann die Stimme des Arztes ganz deutlich erkannt, wie
er der Pflegerin an die Mutter der Selbstmörderin, nachdem er diese in
sorgfältigster Weise verbunden, einen sehr tröstlichen Brief diktiert und
darin gebeten habe, jetzt nicht zu kommen, da dies die Tochter nur auf¬
regen würde. Dadurch sei Pat. ganz beruhigt worden; das sei gewesen,
als es hell wurde. Der Arzt sei mit dem Wagen vorgefahren, auch das habe
sie deutlich gehört. Bittet den Arzt, ihr offen zu sagen, ob er dagewesen,
da man es ihr bestritten habe. Glänzende Augen, Beben der Gesicht¬
muskeln, der Zunge und besonders der Hände. Habe auch oft Flimmern
vor den Augen, besondere nachts, weniger im Hellen.
10. 4. Phantasierte den ganzen Tag. Hörte Kinder im Haus und
auf der Veranda, bald den einen, bald den anderen Arzt darunter. Man
solle ihr doch lieber sagen, was los sei, es sei ja schrecklich. Dann hörte
sie Dr. L. Vorfahren; eine Gesellschaft finde im Hause statt. Ein Besuch
einer Nichte ohne Eindruck. Abends im Bade sprach Pat. von elek¬
trischen Drähten, Säure im Wasser. Die ganze Nacht unruhig, lief umher,
kam aus dem Zimmer, wollte hinunter, weil sie die Stimme ihres Schwagers
hörte; der solle ermordet werden. Heute ganz erschöpft im Bett. Puls
92, kräftig. Liegt regunglos, läßt kalte Stirnumschläge machen. [Schmer¬
zen?] „Ich hatte vorher leichte Schmerzen hier (Bauch), da dachte ich.
es wäre wohl ganz gut, wenn Sie einmal nachsähen. Ich fühle es, als
wenn da eine kleine Geschwulst wäre, so seit 1 y 2 Stunden.“ Oberhalb des
1. Poupartschen Bandes leichter Druckschmerz, sonst k. B. Stuhlgang
täglich von selbst gewesen. Druck auf die Crista ilei außen und innen
nicht schmerzhaft. Kein Bauchreflex. Starker Tremor der Hände,
geringerer der Zunge; starkes Zucken in den Gesichtmuskeln; blickt
starr vor sich hin. Bestätigt, gestern Stimmen von Kindern (vgl. S. 648
unter d. 16. 5.) und Ärzten gehört zu haben. „Was ich aber jetzt höre,
da stimmen ja alle Nachrichten miteinander überein. Ich habe seit gestern
nachmittag meinen Mann und alle meine Kinder verloren. [Woher diese
Annahme ?] Weil mir das erzählt worden ist; ich habe ja auch gelesen die
Depeschen. [Wo gelesen ?] Den einen habe — also die erste Nachricht habe
ich vorlesen hören, aber ich kann nicht sagen, wo das war. Ich denke, daß
das wohl im Park von Zehlendorf gewesen ist, und daß ich da Erlaubnis be¬
kommen habe, hinzugehen. [Seit wann in Zehlendorf?] Seit heute bin
ich wohl nach Zehlendorf gefahren, oder nein, ich bin wohl in Zehlendorf
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Ein Fall von akuter Psychose nach chronischem Veronalgebrauch. 533
zwei Tage wohl gewesen, d. h. wohl in der Klinik von Dr. Z. (dem Arzt in
der Nähe ihres Heimatortes, der sie hierher geschickt. Vgl. S. 552 u.) Das
kann ich aber nicht sehr auseinanderhalten, das ist ein wüstes Chaos. Es ist
mir jetzt auch gesagt worden, daß meine Tochter den Brief hat vorlesen
hören. [Wer gesagt?] Das kann ich jetzt nicht so sagen, ob mir das
geschrieben ist, oder ob meine Nichte das gesagt hat; es ist in meinem
Kopf noch so wüst. (Sehr resigniert:) Ich habe nur noch meine beiden
Töchter. [Die Depesche selbst gelesen?] Ja, das muß ich gestehen, das
weiß ich nicht mal so genau, wie das mit der Depesche war. — Nein,
die werde ich wohl gelesen haben, denn als ich wieder zurückkam nach
Zehlendorf, da war meine Tochter ja schon abgefahren nach Berlin.“
Bei leichtem Druck auf die geschlossenen Augen berichtet Pat., sie sehe
kleine Schränke mit Stickerei, deren Farbe sich langsam ändere; die
Schubladen werden herausgezogen, darin ist nichts, auch keine Briefe
und Depeschen. Hört nur, was in der Tat zu hören ist, zählt es auf: Vogel¬
gezwitscher, Bürsten auf dem Korridor, mein Schreiben im Notizbuch.
Dann: „jetzt wäscht sie Geschirr au«, jetzt klappert sie mit dem Eimer“,
was auf Illusion zu beruhen scheint. Worte habe sie eben nicht gehört,
„nein, jetzt nicht“. Hat aber vorher deutlich gehört: „Guten Tag, Herr
von Berg!“ (Vgl. S. 563 unter 26. 6.) „Ich habe gar nicht darauf hingehört;
ich hörte nur, er hatte sich die Särge alle hier angesehen, und da hatte
er gesagt, das seien alles alte Muster, und da müßte zuerst nachgesehen
werden in solchen Magazinen, wo zurückgestellte Särge sind, die dazu
passen. Aber weiter habe ich mich nicht darum bekümmert.‘‘ [Daraus
entnahmen Sie, daß die Ihrigen tot seien?] „Daraus nicht, nein, nein;
ich habe es auch aus verschiedenem andren gehört. Nein, das war ja
am Abend, wo ich alles das habe vorlesen hören. Aber was ich da getan
habe, das weiß ich wirklich nicht; denn als ich da gestern abend nach
Hause kam, da sagte ich: nun sind wir doch zu Hause; da sagte die: nein,
wir sind doch hier in der Zehlendorfer Straße. Aber das war mir auch
manchmal so, da war es *411 Uhr vormittags, und ich sagte zur Schwester:
Na, es ist doch Kaffeetrinken jetzt. Aber das ist heute schon besser.
Ich hatte ja auch fast gar nichts gegessen. [Wo jetzt?] Jetzt bin ich noch
in Zehlendorf. [Welcher Tag?] Heute haben wir — ja da muß ich wohl
erst noch rechnen; Sonntag, denke ich. (Mittwoch!) [Überlegen!] Ja,
nein, heute ist wohl Sonnabend erst. [Datum?] Das ist mir gänzlich ent¬
fallen, gänzlich entfallen. [Monat?] Ich weiß wohl, daß es ein Schalt jahr ist,
und daß ich vor Schaltjahren stets. Sie mögen ja darüber lachen, daß ich da
Angst stets gehabt habe, denn in jedem Schaltjahre hatte ich stets ver¬
schiedene Arten, Todesfälle u. dgl. (vgl. S. 653 unter 26.5.), da sagte ich auch:
ich will erst froh sein, wenn das alte Schaltjahr vorüber ist, mir hat es nie
etwas Gutes gebracht. [Monat?] Ja, wir haben also April. [Wie lange
hier?] Ja, das weiß ich nun auch wieder nicht genau, das sind erst
einige Tage her, daß hier — ich hier bin; aber ob meine Tochter, die ja
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auch in der Klinik gewesen ist, da wurde denn gesagt, daß der Sarg von
ihrem Manne dort vorübergetragen wurde, und daß sie den noch mal
sehen wollte, aber das, ja das muß mir erst allmählich einfallen. [Jahr?]
Also 1912. [Den Brief mit den Nachrichten gelesen?] Ja, neulich hatte
ich das ja nur gehört, wohl durch eine Seite der Tür, aber ich weiß noch,
daß ich die Worte hörte. Aber daß meine Tochter den Brief hat vorlesen
hören in dem Coupe — [die Tochter gesehen?] Nein, gesehen habeich
sie nicht; entweder ist sie nicht hingekommen, oder sie ist noch nicht hier.
Es ist ja wohl noch nicht %6 (vorm. 10 Uhr!), da kommt sie. Ach, meine
arme Bertha, die hat die Depesche gekriegt. [Woher wissen Sie das?]
Weil nach dem Wagen telephoniert ist. Wir haben doch eigenes Fuhrwerk
und haben nicht die Bahnstation B. (vgl. S. 553 unter 26. 5.). Augenblick¬
lich — ach nein, ich soll ja noch bei Ihnen sein; jedenfalls ist es dasselbe
Zimmer, wo ich bei Ihnen behandelt bin, wo ich den hübschen Blick
auf den Garten hatte. [Glaubten Sie, wo anders zu sein?] Ja, eben wußte
ich mal wieder nicht genau, ob ich in Zehlendorf war oder in Mentone,
aber jetzt sehe ich ganz genau, es ist das Zimmer, das ich in Zehlendorf
hatte. [Alles wie Traum?] Ja, ja, das wird sich ja sofort ändern, wenn
— ja, diese Nacht und am Tage, da konnte ich mich dem ja ganz hingeben,
weil ich keine Pflichten hatte, und weil ich Zeit hatte, und weil ich keine
Kräfte hatte, ich könnte wenigstens sehr wenig leisten, wenn ich auf
wäre. [Liegen nötig. All das Befürchtete nicht geschehen, alle leben.]
(Resigniert, bestimmt:) Mein Mann hat sich hier vor meinen Augen er¬
schossen. [Das gesehen?] Ja. [Gar nicht hier gewesen.] Mein Mann?
Ja. Aber das ist ja auch aus der Zeit, wo ich mir gar nicht klar bin, wo
ich bald hier, bald da war. Auch nachher ist mir ja noch alles durchein¬
andergegangen, klar bin ich mir ja erst heute morgen geworden. [Mann
lebt. ] Dann würde meine Tochter doch schon hier sein, ich habe den Wagen
doch schon Vorfahren hören. [Alle leben wirklich.] Mein Gott, das sollte
möglich sein! [Gewiß. ] Aber es war heute vormittag bei meiner Tochter
doch alles anders, als es sonst da war. [Was anders?] Das Eßzimmer,
das war ganz anders eingerichtet als sonst, ich habe gefrühstückt dort.
Und dann nachmittags — das könnte ja gleich geschlichtet werden zwischen
dem alten Stubenmädchen und der — ja sollte die nun Stubenmädchen
für hier sein (vgl. S. 554 unter 26. 5.)? Und dann der Frl. B. (Oberin)
— die hatte ja wohl auch hier gehen wollen, die beide reisen jedenfalls
heute abend ab. [Gar nicht bei Tochter gewesen.] Ja, meinen Sie? das
ist mir ja auch etwas wunderbar gewesen. — Aber wir haben doch unten
im Eßzimmer Mittag gegessen. Allerdings auch, das war anders eingerichtet
wie sonst. Aber ich weiß, daß die beiden übrig gebliebenen Brüder meines
Mannes da waren. Der eine war schon abgefahren zum Bahnhof nach
J, (Bahnstation unweit des Wohnortes der Pat.), und der andre ging auf
und ab, ich saß da, und da äußerter er sich nicht so freundlich in ver¬
schiedenen Punkten, so daß ich da aufstand und nach oben ging. [Alles
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Ein Fall von aknter Psychose nach chronischem Veronalgebrauch. 535
erträumt; nicht aus dem Zimmer gekommen.] Ach wenn das Traum
sein könnte! (faltet die Hände). Ja, es war mir ja auch, die Gründe, alles
so — ich meine, eben der Schwiegersohn, der doch der jüngste Bruder meines
Mannes ist (der Bruder ihres Mannes lebt in glücklicher Ehe mit ihrer
Tochter und in sehr guten Verhältnissen), der hätte alles verjubelt, die
Pachtung sollte abgegeben sein, das kann doch gar nicht so rasch ge¬
schehen und war vor vier Wochen doch noch nicht. Das allerdings macht
mich stutzig, als wir in das Zimmer heut kamen, wo wir jetzt sind, daß
— da hatte ich mir Bilder schicken lassen von Hause, und da fragte ich
mich: wo kommen die Bilder nur her? (Welche Bilder?] Ich habe sie
alle jetzt abgenommen, sie standen im Stehrahmen da sehr offen.“ Die
Bilder hat Pat. heute tatsächlich weggeräumt. Die Vorstellungen vom
Tode der Ihrigen brachte Pat. ohne Pathos, aber mit wehmütiger, etwas
müder Fassung hervor, wie: sehr schwer, muß aber getragen werden.
Lebhafter bewegt dagegen bei der Versicherung, daß dem nicht so sei.
Sprach langsam, etwas eintönig (wederlallend noch stockend); doch öfters
längere Pausen, sprach dann erst auf die eingeschobenen Fragen weiter.
Wenig Bewegungen, gerötetes Gesicht, brennende Augen, meist vor sich
hin gerichtet. Wiederholte nach dem Weggang des Arztes mehrfach: es
sei wohl ein Traum gewesen, der Arzt hätte ihr das versichert. Aß gut.
11. 4. Badete 11—12 Uhr; dann so müde, daß sie schlafen könnte.
Schlief auch etwas. Nachm, wieder 2 y 2 Stunden gebadet. Erst im Bade
immer klarer, dann viele Gehörstäuschungen. Im Zimmer erregter: der
Schrank müsse aufgeschlossen werden, da seien Leutnants drin (vgl.
S. 653 unter 24. 5.). Sie müsse zum Begräbnis und habe keine schwarze
Kleidung. Hörte Kinder, den Arzt, Wagen usw. Aß gut. Die ganze
Nacht unruhig, wollte zuletzt den Schrank Umstürzen, weil die Leutnants
drin seien. Rief einmal laut um Hilfe. Zuletzt im Bett geblieben, sie
wolle ihre Ruhe haben. Aber dieselbe Unruhe dann auch im Bett. Heute
Puls 96, regelmäßig, kräftig. Starrt meist vor sich hin. Bei Augen -
bewegungen zugleich Zucken der Augen, ebenso Nachzucken bei Bewe¬
gungen der Gesichtmuskeln (als kämen diese erst durch ein Zitterstadium
hindurch zur Ruhe). Stuhlgang regelmäßig von selbst. — ..Viel Appetit habe
ich nicht gehabt, aber es war mir genügend.“ ,,Ich denke noch immer, daß
ich in Zehlendorf bin, das täuscht noch immer, ich kann nicht darüber
hin kommen, ob es ein Tag oder eine Nacht ist. [Wo jetzt?] Na, augen¬
blicklich fällt es mir ja immer wieder ein, daß ich in Zehlendorf bin.
[Mann tot?] Nein, das ist nicht wieder gekommen, manchmal wohl,
aber doch nicht so bestimmt. [Von wem der heutige Brief?] Ja, der war
von meinem Mann. (Richtig.) [Also klar darüber ? ] Ja, ja. [Täuschungen?]
Na, die bezogen sich immer auf die Örter, in denen ich war, bald in Berlin,
bald in Zehlendorf, ich war in Berlin oder in Zehlendorf [Meine Stimme
nachts gehört?] Nein, aber heute z. B., als ich Sie auf der Treppe hörte,
da erkannte ich Sie gleich. [Wann?] Ach. das war wohl gestern nach-
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mittag; nun, als Sie zum letztenmal hier waren, ich weiß nicht, war es
heute oder gestern nachmittag. [Wie war das in der Nacht mit dem
Schrank?] Nein, darauf kam es nicht an, sondern auf die Erscheinung
an der Decke (vgl. S. 663 unter 24. 5.). [Was?] Ja, das habe ich gar nicht
zu wissen gekriegt. Es sollte mir wohl nicht mitgeteilt werden, damit
ich mich nicht aufregen sollte, sonst wäre mir doch wohl etwas gesagt worden
da. [Eine Erscheinung?] Ja. Gott, wie war es denn eigentlich? Eben,
Geräusche, und als ob ein Vorhang heruntergezogen würde. [Was hinter
dem Vorhang?] Nein, dahinter war wohl nichts, nur als wie so ein Gleiten
des Vorhangs, so ein Rascheln, auch Schieben, und das hörte sich wohl
auch an, als wenn da Klingeln wären; nicht Klingeln, sondern Schlüssel
da aneinanderklangen an den Türen. [Jetzt?] Ja, höre ich einen Wagen
fahren. (Richtig.) [Dasselbe Geräusch wie da, als ich im Wagen gekommen
sein sollte?] Ja, ja, das wußte ich immer, das war das Richtige. (Greift
nach etwas auf ihrem Deckbett, sucht herum, wischt, wirft etwas an¬
scheinend heraus, ohne etwas zwischen den Fingern zu haben; ganz damit
beschäftigt). [Was da?] Nein, es war nichts, es ist bloß ein Muster drauf,
das verfolgte ich eben, ein kleines Blumenmuster, so ein eingewobenes
weißes Blumenmuster. (Richtig; betrachtet das Muster ganz genau. Rote
umschriebene Flecke auf den Wangen; mäßiges Beben der Hände, weniger
der Zunge, die auf Aufforderung langsam nach vorn gestreckt wird.)
[Schmerzen?] Nein, die sind nach dem Bade ganz fort.“ Bei ppssiven
Bewegungen der Füße und Beine mäßiger Widerstand, auch wenn Pat.
bedeutet wird, zu erschlaffen. Keine Kniereflexe. Bei leichtem Druck
auf die Augen sieht Pat. einen Stock, der sich bewegt, hell auf dunklem
Grunde, dann löst er sich in Kugeln auf. Keine Gesichter. „[Gedächtnis?]
Das ist noch schlecht, ja. [Datum?] Heute haben wir — 11, 12, 13, 14,
den 15., denke ich. [Monat?] April. [Wieso der fünfzehnte?] Ich
rechnete es mir schnell aus mit Ostern, das hatten wir doch am 7.
(Richtig.) [Wochentag?] Montag. (Wäre richtig, wenn der 15.) [Nein,
Donnerstag, der 11.] Ach so, richtig, ja. [Wie kamen Sie darauf, daß
Ihr Gatte gestorben sei?] Ja, das ist mir vollständig unklar. Die ganze
Woche, weder bei Tage noch bei Nacht, habe ich gewußt, was ich zur
Stunde gerade vornahm. [Das wissen Sie nicht?] Nein, das ist mir voll¬
ständig klar, unklar vielmehr. Das wird wohl das Liegen so gewesen sein,
und das beim Baden, da horcht man immer viel, und da ist man auf
diese Gedanken gerichtet, da unwillkürlich. [Brettspiel?] Ja, das habe
ich auch schon mal gemacht, Halma habe ich mal gespielt. [Vorlesen
lassen?] Ja, ja, vorlesen und Patience spielen, ja.“ Hat dies vor einigen
Tagen getan; vorgestern und gestern unmöglich. — 11—12 Uhr im Bade,
darin größere Unruhe. Nachher gereizt. Hörte von 2 Uhr ab telepho¬
nieren, antwortete. Blieb im Bett, nur zweimal heraus. Nachm. 5 Uhr
Puls 84, gleichmäßig, nicht so stark. „Ja, es geht ganz gut. [Gut ge¬
gessen?] Ja, ich habe etwas gegessen. [Schmerzen?] Nein (hebt etwas
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die r. Hand, hält sie steif oberhalb der Bettdecke). — Ja, ich finde auch,
er ist — es ist wohl bald alle. [Mit wem sprechen Sie?] Mit Herrn Sani¬
tätsrat Bürger (vgl. S. 554 unter 26. 5.) in — in — na, in der Stadt. Wo
kam er doch her, na, wo kamen jetzt doch die Herren her ? — Nein, nein,
es ist gut so. (Gesicht rot; sieht starr meist nach oben bald mehr 1., bald
r., jetzt auf die Bettdecke und zupft hier und da.) Nein, noch gar nichts.
— Ma—Ma—Marie (s. S. 663 unter 26.6.) also.— Bertha, hier sind andere
Sitten, ich will nicht den betrunkenen Mann. Hier wird nämlich auch mal
wieder sehr weit fortgefahren. [Wer ist denn da ? ] Das weiß ich nicht mal. —
Was war denn das für ein Kind?—Ein Knabe oder ein Mädchen? —Also
gewiß, was war? — Also groß, schwarz, — braune Augen, — weiße
Hände, — schöner Leib (wie nacbsprechend). — Bitte, schwinde. —
[Hörten Sie die Schilderung des Kindes?] Ja, das höre ich. [Von wem?]
Von der Decke kommend. — Na, dann ist es ja mal schön (immer Pausen,
wie nachsprechend oder antwortend. Hebt die Hand, dann den Arm
hoch, hält ihn so). — Wie wird er aufgehängt? — Wie kommt ihr denn
da hinauf mit dem Ding ? — Ach so, sie hatten wohl hier unten so ein Ding,
nicht? — Ja wohl, der wird unten in dem Teich wird er wohl bleiben. —
Ja, Marie, macht mal; Marie, bind’ mal zu. — Es ist ja kein Band da. —
So? — Na, ist denn kein Dr. mit? [Was ist denn los?] Ja, ich komme
nicht dahinter, ich weiß es nicht. [Sehen Sie nichts?] Ja, ja, es ist jetzt
eine gläserne Kugel, und nun soll — [die Kugel?] Ja, und die soll an
eine Kette gehängt werden, nicht ? Ist das nicht so ? — Na, da irrst du
dich sehr. (Sieht nach dem Fenster, legt sich anders, plinkt lebhaft mit
den Augen.) — Ja, das kenne ich auch nicht, die ganze Geschichte, was
das alles soll? Ja, so, sie hat dort ein Heiligenbild, das muß nach der
Straße zu sehr hübsch aussehen. — Nein, dann mach’ ich’s wieder zu.
(Bewegt die Hand, als wenn sie etwas zumacht; auch weiterhin mit den
Händen entsprechende Bewegungen.) — (Lachend:) Also W’ein ist es. —
Das soll da hereingegossen werden? Und dann tanzen die Juden alle da?
[Sehen Sie die, mit denen Sie sprechen?] Nein, ich sehe euch nicht hier.
Aber lauter bunte Farben gibt es, tititititititi.“ — Fährt fort, sich in
gleicher Weise zu unterhalten und Bewegungen zu machen. Ganz be¬
schäftigt mit den Delirien, hört Pat. doch jede Frage, hört auch, befragt,
jedes leise Geräusch draußen. Beides geht nebeneinander her, ohne sich
zu stören. Widerspruch stört sie nicht. Z. B. „[Ich sehe nichts.] Nein,
das können Sie wohl auch nicht.“ Als sie einmal aus dem Bett wiU und
aufgefordert wird, darin zu bleiben: „Ja, das ist wohl auch besser, ich
kann ja doch dabei nichts nützen.“ (Pat. weiß, daß ihre Tochter im
August ihrer Niederkunft entgegensieht. Diese hat schon mehrmals
Frühgeburten und schwere Geburten mit Absterben des Kindes hinter
sich, Pat. hat vor zwei Jahren eine solche im Hause der Tochter erlebt.)
T. 37,2°. Auch in den Tagen vorher kein Fieber.
12. 4. Sprach auch weiterhin viel von Kindern, suchte im Bett nach
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Kindern, fragte, wie man Kinder behandle, sie sei schon lange außer Übung;
tat dazwischen, als ob sie nähe, zerriß dabei ihre Bettdecke. Aß gestern
wenig, nur abends gut. Blieb im Bett. Schlief gar nicht. Heute früh
gut gegessen. Puls 116. Rote Backen. Starkes Zittern der Hände und
der (nicht belegten) Zunge. Starrer Blick und starre Mienen, dazwischen
rasche Bewegungen der Augen und des Gesichts, denen kurze Zuckungen,
wie Nachwellen, folgen. Plinkt heute besonders oft und lange mit den
Augen. Sucht „Eierschalen“ auf der Bettdecke, bittet um einen Teller,
sie da hineinzutun, legt die eingebildeten Schalen dann sorgfältig in den
eingebildeten Teller, streift mit den Fingern anscheinend ab, was an der
Hand sitzen geblieben ist, stellt den Teller dann weg, alles eifrig, mit
großem Ernst, stumm, nur auf Fragen kurz antwortend. Sucht dann
nach einer Nadel auf der Bettdecke, nimmt sie anscheinend und steckt
sie an einer anderen Stelle wieder hinein. Wischt mit den Fingern auf
ihrer Zungenspitze herum, „muß dort etwas herunternehmen“, es geht
aber anscheinend nicht herunter, sie wischt immer von neuem, „ja, es
klebt sehr fest“, kann aber nicht angeben, was es ist. „[Geschlafen?]
Ja, ich habe ganz von allein geschlafen, sehr schön geschlafen.“ Nimmt
dann „Teile von einer Uhr“ sorgfältig von der Bettdecke, „die lagen —
na oder ich weiß nicht mal genau. Er brachte mir das eben in der Hand,
er ist soeben über den See geritten (vgl. S. 564 unter 26. 5.) —.[Über den
See?] Ja, da läßt sich ganz schön reiten, mein Sohn reitet manchmal.
ja er reitet sehr gut . (.bedeutet hier und weiterhin, daß
Worte, die Pat. gesprochen, nicht nachstenographiert werden konnten).
[Sehen Sie den See und den Sohn?] Ja, da (deutet und blickt zum
Fenster, während sie vorher nach der Wand, also nach der anderen Seite,
gesehen hat), da sehen Sie das kleine Stückchen, jetzt, ja der Schnee
über dem See (man sieht durch das Fenster schneebedeckte Baumkronen
und Schneeflocken). Da war das Begräbnis gewesen, von wem war es
doch gerade mal? — [Tut etw’as weh?] Ja, etwas Schmerzen hat er
dabei wohl, er hatte ja furchtbare Mühe. [Ihnen weh?] Ich habe mich
in die Zunge wohl ein bißchen geschnitten (faßt an die Zungenspitze,
als wenn sie da etwas abnimmt, legt es auf die Bettdecke, wiederholt das
mehrmals). — [Tag?] Heute haben wir also den — 14. April. [Wochen¬
tag?] Sonntag. [Woran erkannt?] So, ja an dem gewöhnlichen Leben
der Tage, was so der Tag mit sich bringt; aber heute, weil da nun etwas
Besonderes mit war, daß der nun so über den See geritten hat, so sind
ja. übermütige Leute. die N.er Regimenter ja so schwer zu
besetzen, und da kam er nach F. . . . und er hatte sich gefunden, und
sie ritten.hatte ihm den Roßschweif genommen und um die Beine
gewickelt, ja. ja, und seine Freunde hatten das gesehen. und er
reitet wirklich über den Fluß_zurück nach N., und da hat ihn der
Oberst noch angenommen, ja, er hatte ihn angenommen, es ist doch
immer noch eine Frist für Offiziere. Wenn Sie vielleicht ein wenig
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mal weggehn wollten, ich muß doch sehen, wie das Wasser kommt (sucht
im Bett mit Händen und Blicken), das Wasser da aus dem See, es steht
schon da unten in meinem Bett. Und wollen Sie mal sehen, wie der Dunsl
da herauskommt (zeigt hinter sich unten auf die Matratze, sieht aber
nicht hin, sondern starr vor sich auf die Bettdecke). [Wasser und Dunst
nicht zu sehen.] Na, das weiß ich auch nicht. (Schweigt und blickt ge¬
spannt nach vorn, nimmt dann wieder anscheinend etwas von der Zungen¬
spitze herunter). [Was ist das auf der Zunge?] Das ist so eklig, ich tue
es ja bloß, weil es ein so unangenehmes Gefühl ist.“ — Geht auch heute,
wie in den letzten Tagen, ohne Unterstützung zum Bade, dabei kein
Schwanken, auch nicht auf der Treppe; mehrmals leistete sie früher erst
kräftig Widerstand, fügte sich dann aber (auch später Gang stets gut.
so schwach Pat. auch sonst schien; durch das Zimmer lief sie bisweilen
sehr flink). — Sprach im Bad vorm, ruhig vor sich hin viel von kleinen
Fischen und Tieren, griff danach. Blieb dabei freundlich. Dann plötzlich:
„Nun will ich aber raus.“ Aß gut. Sah dann Särge, batte Angst, rief
die Namen ihrer Kinder, sah draußen ihren Mann, einen Hund, wollte
hinaus, sich betätigen, nähen, knüpfte den Bettbezug auf und zu, zupfte
Fäden aus, suchte nach einer Nadel, die sie verloren habe. 37,1°. Nach
5 Uhr Puls 104, kräftig (im Bade). Spielt mit dem Badetuch. Keine
Schmerzen. „[Hören?] Ja, ja, das ist ja auch ganz natürlich. Denn
jetzt ist auch der Zwischengang. (nicht verstanden) .und an
den Seiten ist jetzt das fortgenommen, und da kann das ja nicht aus-
weichen. (Starrt wie sonst. Rotes Gesicht.) Ja, Herr Doktor, die sind
ja auch sonst nicht ängstlich damit. Wo ungefährlich die Sachen sind,
da bin ich ja auch nicht dagegen, aber da draußen gehen die mit dem
Kinde, und ich kann es hier nicht finden“ (sieht auf ihr Knie, wischt herum.
Sehr starkes Zittern der Hände).
13. 4. Badete gestern nachmittag 3 Stunden bis y 2 7 Uhr, dann
bis «411 Uhr ruhig gelegen, sei müde, sprach wenig. Abend; wieder mehr
gesprochen, besonders vom Sohne, der nicht aufgenommen werde im
Regiment. Ermahnte den Sohn, er möge solide sein, gute Bücher lesen
usw. Gar nicht geschlafen. Heute morgen ganz erschöpft, in Schweiß.
Verschiedene Stimmungen im Wechsel, heiter, geängstigt; dies nament -
lieh, wenn sie hörte, Mann oder Söhne und Töchter stürben. Hatte einmal
auch sechs kleine Kinder im Bett, die versorgt werden mußten. Be¬
kommt heute einen Brief der Tochter, die ihre Freude darüber ausspricht,
daß Pat. sich hier eingewöhnt, und gute Nachrichten gibt. Las den Brief,
dazwischen aber — beides ineinander geflochten —, was ihr durch den
Kopf ging (oder was sie hörte?), ganz ohne Zusammenhang zwischen
den einzelnen Sätzen aus dem Briefe vor. Hatte gestern nachmittag
auch von der Kaffeetasse, nachdem sie sie lange genau angesehen, alles
Mögliche abgelesen und später ebenso von einem leeren Blatt Papier
Heute morgen dann nach dem Briefe der Tochter erregt, drängte heraus
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zum Fenster hin, so daß der Laden vorgelegt wurde. Die Tochter habe
geschrieben, Pat. solle zu ihr, solle ihr Nachricht geben, warum sie nicht
schreibe (nicht der Fall); sie bekomme aber kein Papier (hatte nicht
schreiben wollen, obwohl es ihr angeboten war). Möchte nicht so „ein-
gefenst“ sein, sei ganz ruhig, könne alles machen. Ihre Briefe werden nicht
bestellt, die Tochter habe geschrieben, „ich soll zu ihr kommen, sie liegt
im Bett, und so viel Besuche sind da. [Brief zeigen!] Ja, die eine Dame
hat ihn fortgenommen. Lassen Sie mich doch hin, es sind ja nur ein
paar Schritte bis zu meiner Tochter. [Weit von hier.] Na ja, wenn ich
auch in Zehlendorf bin (davon war nichts gesagt), so ist es — na ja, es
kann ja doch nichts helfen. Wenn mein Mann nicht da mal mit Gewalt
durchdringt—(ißt). [Nacht?] Ich habe wundervoll geschlafen.“ Ißt.
Kopf zittert leicht; will aufstehen, bleibt aber auf Ermahnung liegen,
blickt zur Wand, nachdem sie ordentlich gegessen und den Teller fort-
gestellt; nimmt schließlich ein Buch vor, starrt auf den Deckel, sieht
ihn dann von außen und innen genau an, schlägt auf, sieht lange starr
auf eine Seite, dann schnelle Augen- und Kopfbew’egungen wie eines
rasch Lesenden; dabei lautes Ausstößen von Gas per anum. Als Pat.
anscheinend die Seite zu Ende gelesen, schlägt sie mit vieler Umständlich¬
keit um, bekommt aber trotz aller Mühe eine falsche Seite und liest auf
ihr weiter. Starrt dazwischen auf die Wand, liest dann aber weiter, hält
dabei das Buch mit beiden Händen kräftig, alles schweigend. Plötzlich
zu mir aufblickend: „Also das ist hier A. (Wohnort der Pat. Sieht auf
die Wand, wiederholt den Namen langsam und deutlich in Silben abge¬
trennt, als spreche sie nach oder vor, drückt auf verschiedene Stellen
der Wand.) Ob das hier aufgeht? — Hier? (Rasch hier und da bald mit
dem Finger, bald mit der ganzen Hand gegendrückend.) Ich komme
hier nicht raus. — (Laut rufend:) Nicht rauszukommen. — Nein, nein.
— Ja. — Ja. (Klopft an die W’and.) — Sie möchten mich mal ein bißchen
hier rauskommen lassen, sagt H. San.-Rat Laehr. Sie möchten mir hier
an der Spitze mal aufmachen. Früher w T ar das doch alles hier auf, und
man konnte in dem und in dem (nach rechts und links zeigend) Garten
sein. — Nein, versucht hat sie nicht, aufgemacht hat sie nicht (letzteres
zum Ref.)“. Nimmt dann wieder das Buch mit zitternden Händen und
blickt hinein. Urin von heute früh etwa 150 ccm; 1,033; reichliche Urate;
eine Spur Eiweiß (Kochen mit NOaH), kein Zucker, kein Azeton, keine
Fe»Cle-Reaktion; keine Zylinder. — Körpergewicht: 57 kg.
14. 5. Sprach weniger vor sich hin, antwortete aber auf Stimmen
und rief nach ihren Angehörigen, wollte zu ihnen, telephonierte mit ihnen;
mehr Angst, die Kinder werden erschossen. Antwortete. Badete vorm. 2,
nachm. 2 Std. Aß genügend, nur mittags schlecht, trank viel Milch.
Schlief nach Tisch 1 y 2 Std., zuckte dabei mehrmals zusammen. Abends
0,01 Morph., lag danach ruhig, schlief y 4 St., dann wdeder dasselbe. Angst,
daß ihren Kindern etwas geschehe, bat den Landrat für sie, lag heute
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gegen 7 Uhr erst ruhiger, ließ sich waschen und das Haar machen, sprach
hierüber klar. Liegt seitdem ruhig. Stuhlgang wie sonst von selbst. Puls
nicht so kräftig, durchaus normal weich, 70—80. „Es geht mir eigentlich
ganz gut.“ Zittern erheblich geringer, Gesicht nicht so rot. „[Nacht?]
In der Nacht war es mir ein wenig unruhiger, aber jetzt seit y 2 8 Uhr habe
ich ganz still gelegen den ganzen Vormittag. [Geschrieben?] (Pat. hatte
gestern davon gesprochen, aber nur Striche zu Papier gebracht.) Nein,
es hat ja keinen Zweck, wenn man auch sagt, daß man ein Blatt Papier
haben will, man bekommt es ja doch nicht. Daß man selbst etwas veran¬
lassen kann, das ist ja ganz ausgeschlossen.** Sagt dies nicht gereizt,
lächelt.
15. 4. Blieb gestern (abgesehen vom zweimaligen Bade) im Bett,
rief aber oft nach ihrem Sohn und dem Landrat. Der Landrat sollte den
Sohn beim Regiment anbringen. Glaubte dann, daß ihr Mann sich Veronal
angewöhnt habe (vgl. Aufzeichnung S. 560), nachdem er so viel darüber
gescholten, daß sie Veronal genommen; ihr sei das hier so gut bekommen,
und sie schlafe so ausgezeichnet, daß er nun auch hierher kommen solle.
Versuchte auf Aufforderung zu schreiben, konnte erst nicht recht, der
Bleistift hafte am Papier; schrieb dann zittrig: „Herr Geheimrat!“ (vgl.
S. 552 unter 24.5.), kam nicht weiter; an ihren Mann schreibe sie nicht,
der wisse ja doch durch den Arzt Bescheid. Aß ziemlich gut. Stuhlgang
von selbst. Kein Urin im Nachttopf (bei Stuhlgang und Bad verloren?).
Abends zuerst ruhig im Bett. Höre Gepolter, als wenn ihr Mann oder
Sohn im Hause sei, die möchten doch kommen. Beruhigte sich, als sie
hörte, daß unten noch reingemacht werde. Dann erst noch hin und wieder
gerufen, 1—3 Uhr geschlafen, dann wieder geklopft, gerufen, aber nicht
aus dem Bett gekommen. Puls 88, voll, aber nicht hart. „Mir geht’s ganz
gut; es wäre doch viel schöner, wenn ich draußen etwas herumgehen könnte.“
Rötung des Gesichts noch deutlich, aber weniger stark. Ebenso Zittern
der Hände deutlich, aber auch geringer. Zunge, fest um die Unterlippe
gelegt, zittert nicht, ist nicht belegt. Trizeps- und Radialisreflex sowie
1. Kniereflex nicht hervorzurufen, aber auch keine völlige Entspannung.
R. Kniereflex einmal deutlich, aber sehr schwach. „[Nacht?] Ja, ich
habe diese Nacht sehr schön geschlafen und schlafe auch gleich ein. Na,
die Nächte waren verschieden, mal habe ich ruhiger geschlafen, mal
unruhiger; daß ich eine wie die andere geschlafen habe, das kann ich nicht
sagen. — Ja, mir ist immer und auch heute gesagt worden, ich möchte
mich mit allen Fragen an Sie wenden, H. San.-Rat. Sie wissen doch
ganz so gut wie ich, daß mein Mann gestern hier gestorben ist (gar nicht
deprimiert im Ausdruck). Und da war mein Schwager heute hier, um
mit mir zu sprechen, was ich als Witwe zu tun habe. — [Ihr Mann ge¬
storben? Was bringt Sie zu der Meinung?] Ja, also, daß er erst hier
war, das weiß ich ja. Als ich im Bade war, da hörte ich ihn ja. [Gesehen
auch?] Ja, wie ich im Bade war, ja, da war er auch im Flur gewesen,
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und er wußte auch, daß ich da im Bade war, und er wollte mich noch ein¬
mal sehen, aber da ward ich da an ihm vorbeigeschoben, das vergesse
ich auch mein Lebtag nicht, und er rief noch: lassen Sie mich sie doch
noch einmal sehen, aber nein, das gab’s nicht. [Weshalb nehmen Sie an.
daß er nun tot ist?] Weil ich nachher bei Tisch, da lag ich nachher zum
Ausruhen, na ich kann da nicht immer so unterscheiden, ich merke das
immer an Kleinigkeiten, so ein Ideechen am Kleiderschrank oder an der
Lage merke ich es, ich habe auch in anderen Zimmern gelegen (stets
in demselben!), die dieselben Bezüge haben und Decken, aber doch etwas
anders sind. Also da hörte ich von einem der Zimmer, die nach der Wohnung
des Geheimrats zu liegen, ein Laufen, und hörte ich, wie der Geheimrat
sagte — [Welcher Geheimrat ?] Ja, ich denke immer, daß er jetzt Ge¬
heimrat ist, unser Landrat (vgl. S. 552 unter 24.5.), von unserem Kreise,
von E. Und die ganze landrätliche Wohnung, die geht doch da entlang
(vgl. S. 550, Aufzeichnung). Die Frau habe ich doch auch gehört. [Hier
im Hause keine landrätliche Wohnung.] Ja, in Verbindung muß sie wohl
sein. Ja, gestern, da war ich drüben in dem Flügel, ich glaube, das war
nach dem Mittagessen. Aber abends war ich dann wieder auf dem andren
Flügel und bin nun wohl in dem Zimmer, in dem ich in der Nacht gelegen
habe, das weiß ich nicht, ja, das muß es aber wohl eigentlich sein. (Hört
eine längere Auseinandersetzung, daß ihr Mann lebt, sie immer in diesem
Zimmer oder in der Badestube gewesen, weder Mann noch Landrat hier
gewesen usw., ohne äußere Erregung an. Nur einmal: „O nein.“ Dann
nach einer Pause:) Was ist denn über mich beschlossen mit dem nach
Haus fahren? Ich muß doch hin. Diese Steppdecke z. B., die liegt nun
schon den zweiten Tag, ohne daß der weiße Bezug darüber ist. Auch meine
Toilette-Gegenstände sind eingepackt und kommen nicht wieder. Auch
hörte ich von zwei Gepäckdroschken reden, hoffentlich können wir nach
Haus fahren zu meinem Schwiegersohn, und von Wagen war auch die
Rede. [Wagen nicht hier; von Abfahren nicht die Rede.] Na, ich meine
nur, ob wir heute schon abfahren können. [Heute noch nicht.] Na, wenn
ich heute noch nicht fahren darf, so möchte ich doch sehr um Erlaubnis
bitten, daß mein Sohn, der seit gestern hier ist, zu mir kommen kann.
Er hat schon hier und da seinen Kopf zu mir hereingesteckt, das arme
Kind. Er ist schon ganz verzweifelt ordentlich, nun kriegt er mich auch
nicht zu sehen (vgl. Aufzeichnung S. 550) und — [Er nicht hier; alles
wache Träumerei.] Ja, und eben deshalb finde ich das viel besser, wenn
ich ein wenig in Tätigkeit hineinkomme. Man liegt hier so und guckt
vor sich hin, das ist wirklich, da wird man ja verrückt von. Sonst habe
ich doch Besuch gehabt in der ersten Zeit und zu lesen, jetzt liege ich
aber ganz so, da werden die Glieder natürlich unwillkürlich geschwächt.“
(Lesen, Brettspiel, Vorlesen gestern umsonst versucht; am ruhigsten,
wenn Beaufsichtigung vom Nebenzimmer aus.) Als der Pat. jetzt ein
Buch gereicht wird, sieht sie hinein, wirft es aber, als Ref. kurz darauf
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Ein Fall von akuter Psychose nach chronischem Veronalgebrauch. 543
hinausgeht, schon aus dem Bett zu Boden. Schreibt gegen Mittag auf
einem Briefumschlag an ihren Sohn (zittrig, undeutlicher als sonst, Linien
nicht ganz gerade; richtige Adresse; vgl. hiermit und mit dem folgenden
die Aufzeichnung der Pat., S. 550—551, und ihre Ergänzungen am 24. 5.
S. 552): „Fahre gleich nach F. (wo er ist, und wohin auch der Brief
adressiert ist) zu Deinem Hauptmann und bitte ihn um Rat, da Du nie¬
mand hättest. Kannst Du nicht bleiben, bitte Onkel N. in L. bei F. um
seinen Rat und lerne Landwirtschaft, er soll Dir eine Stellung zum Lernen
besorgen, später wird es dann anders. Du tust mir so schrecklich leid
mein armes Kind und sie lassen Dich nicht zu mir, damit wir alles be¬
sprechen können, ich werde auch heute in eine Irrenanstalt gebracht,
so wird man langsam dahingebracht, wenn wir uns heute nicht Wieder¬
sehen, werden wir’s wohl nimmer. In treuer Liebe Deine Mutter. — Laß
Dir auch noch Geld geben, es ist da. — Versuchs auch hineinzukommen.“
Nachm. 5 Uhr im Bade: „Ich habe doch gehört, daß der Ludwig
(Sohn) hier ist, und von Rechts wegen, gebe ich ja zu, vertrüge es sich
doch besser mit seiner Ehre, wenn er sich eine Kugel durch den Kopf
schießt, aber er ist doch gar nicht so schuldig, und ich habe ja schon auf¬
geschrieben, daß er zum Hauptmann fahren soll. Und von Ihrem Stand¬
punkt halten Sie es doch auch dafür, daß er nicht ganz seine volle Gesundheit
hat, und da könnten sie ihm doch auch so etwas ausstellen, so ein Zeugnis,
wie für mich auch. Alle die Quakelei ist doch mehr ein Zufall, was da
in E. passiert ist. Und dann würden Sie wohl auch für ein sicheres Fort¬
kommen zum Bahnhof sorgen können. Ach, dann hätte ich doch auch
eine ruhige Stunde mal wieder! Ach, es ist ja nicht ganz richtig, das;
das weiß ich. — Ach Gott, Sie sollten ihm doch nur eine Stube geben,
es regt mich so auf, auf dem Korridor, ich versteh’s ja auch nicht, und geben
Sie ihm doch auch reichlich Geld mit, es soll Ihnen kein Schaden daraus
erwachsen, wenn das alles ordentlich aufgeschrieben wird und— [Hören
Sie wieder viel?] Na, das ist ja verschieden doch, z. B. heute nach Tisch
oben, da war es ja ganz ruhig oben und ordentlich, es ist ja nur so, wo der
Schall zu mir herüber kommt. [Im Bade ?] Ja, ich glaube, ich habe richtig
gehört alles. Ich war ja auch infolgedessen so furchtbar in Aufregung,
das sage ich ganz offen. Wenn er ihnen in die Finger fiele, da würde er ja
ganz in Stücke gerissen. Dafür müssen Sie schon sorgen. Kann er nicht
in den Krankenwagen hineinkommen mit, in dem ich fahre?“ Scheint
durch die Erklärung, daß dem Sohn keine Gefahr drohe, und daß zu Haus
alles gut stehe, beruhigter, „dann ist’s ja gut“, aber doch nicht g^nz über¬
zeugt, „ich habs aber doch gehört“, „helfen Sie ihm nur fort!“ — Urin
von der Nacht 350 ccm; klar; 1,029; kein Eiweiß, kein Zucker.
16. 4. Hatte schon gestern vorm, davon gesprochen, daß ihr Sohn
in hölzerne Ketten gelegt sei wegen eines dummen Streiches; der Landrat
verberge ihn jetzt und habe mit Pat. gesprochen und ihr guten Mut
gemacht, bei ihm könne dem Sohn nichts geschehen. Aber wo nun mit
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diesem hin? Am besten in die Irrenanstalt, in die Pat. kommen solle.
Gestern nachmittag: man müsse die Vögel verhindern zu pfeifen, denn
dadurch-höre sie immer ihren Sohn pfeifen und zwar so gräßliche Melo¬
dien. Mittags und nachmittags nicht viel gegessen. Habe Hunger, könne
aber das Essen nicht herunterwürgen, habe zuviel durchgemacht in diesen
Tagen; was sie und ihr Sohn gelitten, könne man gar nicht sagen. Gegen
Abend sprach Pat. öfters in gereizter Weise, was der Arzt gesagt, glaube
sie nicht; sie wisse genau, daß es andres sei, habe es doch gehört und
wisse daher, was hier vorgehe, höre doch auch jetzt die Ihrigen, man
könne ihr doch also nichts vormachen. Schlief in der Nacht mehr, wenn
auch mit vielen Unterbrechungen, zuckte im Schlaf öfters zusammen.
Heute Puls 72. Hat ein Journal vor. „[Noch Angst?] Ach ne, heute geht
es ja wieder. [Wie kam das gestern? Hörten und sahen Sie ihren Sohn?]
Natürlich hörte ich ihn, und einmal hörte ich auch seine Schritte, da
guckte ich aus dem Fenster, und da sah ich ihn da Vorbeigehen, sonst
habe ich ihn immer nur gehört.“ Sie sei fest überzeugt davon, daß sie
ihn gehört und das eine Mal auch gesehen habe. „[Auch heute gehört?]
Nein, nein, nun habe ich das ja auch rausgemerkt, daß er gestern bloß
bis Z. gekommen ist, da hat ihn denn sein eigner Onkel totgeschossen.
[Heute sonst Stimmen gehört?] Nein, nein. [Sohn lebt. Wollen ihm
schreiben und um Antwort bitten, damit Pat. sich selbst überzeugt; sie
möge seine Adresse sagen.] Er ist ja nicht hingekommen, er wollte ja
nach F. fahren zu seinem Regiment. Sonst ist es ja auch gut so. Wenn
ich nur wüßte, was mit seiner Leiche geschehen ist. Denn mein Schwager
war ja gestern abend noch da, der ist ja auch die Nacht hier geblieben
mit meinem anderen Schwager zusammen. [Den Schwager heute gehört ?]
Nein, heute habe ich nichts gehört; d. h., es war mir so, ganz weit ent¬
fernt, daß das seine Stimme war. Aber gestern abend habe ich ihn ganz
deutlich gehört, da habe ich ihn ja auch hier stehen sehn. [Im Zimmer?]
Nein, ich guckte so um die Ecke durch die Tür, da sah ich ihn dort stehn
(vgl. S. 552 unter d. 24. 5.) und hörte ihn ja auch sprechen da. [Heute
nicht?] Nein, nein, heute gar nicht.“ Auf Aufforderung, an Sohn oder
Mann zu schreiben: das werde sie nicht tun, das sei ja doch umsonst.
Aber an ihre Schwägerin, die sei ja gar nicht mehr gekommen. „Bin ich
denn überhaupt noch in dem Zehlendorf in Berlin, wo meine Schwägerin
mich besucht hat?“ Hatte vorher die Pflegerin fortgewiesen, die solle
ihr nicht so nahe kommen, da? schade ihr (der Pat.); sprach dann von
Elektrizität und elektrischen Drähten, als ob diese von der Pfleg, aus-
gingen. Ruhig, als die Pflegerin sich vor die Tür setzte. Erwähnte dem
Ref. als Grund für die Annahme, daß alle tot seien, auch dies, daß sie
keine Briefe erhalten, und daß auch die Schwägerin in den letzten Tagen
nicht gekommen sei. Als sie hörte, daß Ref. letztere gebeten, einige Tage
nicht zu kommen: der Besuch hätte ihr auch nicht geschadet; sie müsse
doch denken, wenn niemand sich um sie kümmere, daß etwas Schlimmes
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passiert sei. Schreibt an die Schwägerin und an eine Freundin kurz um
Besuch, datiert vom 23. 4., aber Schrift gut, keine zittrigen Linien.
Schrift nach Aussage der Schwägerin wie aus gesunder Zeit. — Nacht¬
urin 580 ccm, klar; 1,016; kein Eiweiß.
17. 4. Sprach gestern vormittag noch davon, daß im gegenüber¬
liegenden Zimmer ihre beiden Schwäger wohnten; sie habe sie ja am
Abend vorher gesehen; ob die schon ausgeschlafen hätten? Immer freier.
Nachmittags sprach Pat. nur vom Baden und von hiesigen Verhältnissen,
Frühjahrsreinmachen usw., nichts mehr vom Tod der Ihrigen oder dem
hiesigen Aufenthalt derselben. Ließ sich vorlesen, las dann selbst. Schlief
abends 9—11 Uhr, ließ dann Licht aufdrehen, weil sie Angstgefühl habe,
aus dem Schlaf geschreckt sei, schlief anscheinend wieder von 12—5 Uhr,
später nochmals. Kein Zusammenzucken im Schlaf beobachtet. Hatte
gestern gut gegessen. T. 37,1° (stets ohne Fieber gewesen), Puls 94. „Ja,
geschlafen habe ich, nur so vor 12 kam etwas Unruhe, die ging aber bald
wieder vorüber.“ Zunge nicht belegt, zittert fast gar nicht; auch Hände
viel weniger. Täuschungen nicht mehr, scheint keine genaue Erinnerung
daran zu haben, als sie danach gefragt wird. Dann aber auf die Frage,
ob sie noch glaube, daß sie das alles wirklich gehört, unsicher: „Na, das
weiß ich doch nicht so sicher.“ Nachturin 540 ccm, klar; 1,023; kein Eiweiß.
18.4. Gestern auch weiterhin nichts von Täuschungen. Nachmittags
Besuch der Schwägerin. Nachher: sei beruhigt, habe bis jetzt doch ge¬
dacht, die Ihrigen seien tot, habe sich schon ganz damit abgefunden,
zur Schwägerin ziehen zu müssen. Auch daß hier die Pflegerin nachts
ihr Bett elektrisch gehoben habe, sei ihr bisher glaubhaft gewesen, und
sie habe immer geglaubt, schon eine Woche weiter zu sein. Leidlich ge¬
gessen und mit Unterbrechungen nachts geschlafen. Puls 72, weich.
Habe in der Nacht einmal Angstgefühl gehabt, aber ganz allgemein ohne
besondren Gegenstand. Jetzt nicht. Höre nicht mehr Stimmen. Be¬
ruhigt über die Ihrigen, namentlich nach Brief des Mannes (heute morgen).
Großes Schwächegefühl. Zittern der Zunge ganz, des Gesichts und der
Hände fast ganz vorüber. Kniereflexe bdsts. schwach. Liegt ganz ruhig.
Liest manchmal. Nachmittags Brief an ihren Mann (richtig datiert):
..Heute früh erhielt ich Deinen lieben Brief und danke Dir für
alle guten Nachrichten. Ich war wohl acht Tage sehr krank, habe unter
entsetzlichen Träumen gelitten und kann auch jetzt keinen Übergang
von damals zu jetzt finden. Gestern war auch.ein Stündchen hier
und bestätigte mir, daß Ihr alle lebtet, ich hatte mich schon damit abge¬
funden, daß Bertha und ich allein übrig geblieben, der schreckliche Ft. trieb
Ludwig in den Tod. Ich schlafe noch immer wenig, nachts sehr unruhig und
voll Angst, ich werde ja immer einen Tag auf den andren vertröstet,
liege auch noch immer im Bett. Viele treue Grüße.“ — Nachturin
400 ccm, klar; 1,023; kein Eiweiß, kein Zucker— Körpergewicht: 58 kg.
19. 4. Nur abends gebadet zwei Stunden. Dabei sehr behaglich.
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Bald eingeschlafen; nach zwei Stunden mit Angst aufgewacht; habe
wieder das Gefühl, als werde sie in Stücken zerrissen, wie sie es auch
sonst schon gehabt. Es mußte Licht gemacht werden, damit sie sah,
daß nichts Besonderes im Zimmer war. Dann ruhig gelegen. Heute Puls
80. Dies sei schon die dritte Nacht, wo sie um Mitternacht aufgewacht sei
mit dem Gefühl, „als sollte ich in Stücke zerrissen werden, daß ich die
Füße fest anstemme oder gegenstemme aus Furcht. Dann rufe ich,
und dann geht es bald vorüber“; „als wenn an mir herumgezerrt wird:
ja, ich möchte sagen, ich fühle das so von außen“, „Füße und Hände ganz
fest angepreßt, die Füße ans Bett und die Hände aneinander, so ein Angst¬
gefühl und Unruhe; in V 2 St. geht es dann vorüber.“ Habe vorher nicht
geträumt. „Daß ich richtig sagen kann: ich habe jetzt geschlafen, das
kann ich überhaupt nicht sagen. Aber mir war es gestern den ganzen
Tag sehr gut gegangen, ich habe gelesen usw.“ Beim Gefühl des Zerrissen -
Werdens ein Kribbeln, kein Schmerz, „ein Gefühl: wenn ich mich jetzt
nicht dagegen wehre, dann kommt’s.“ Nachher habe sie wohl manchmal
im Halbschlaf, jedenfalls nur unruhig gelegen, „na, ein Stündchen mag
ich ja dann eingeschlafen sein, das kann ich ja nicht sagen“. Nachturin
840 ccm, klar; 1,015; kein Eiweiß.
20. 4. Leidlich. Nach ^ständigem Besuch der Schwägerin: das greife
sie doch noch sehr an, das könne sie noch nicht ertragen. Nach Bad bis
12 Uhr geschlafen, dann aufgewacht, aber ohne Angst und ohne zu rufen.
Gegen Morgen noch geschlafen. Gut gegessen.
21. 4. Besuch ihrer Pflegemutter. Klagte bei Tage mehrmals,
nun halte sie es im Bett nicht mehr aus und sei doch noch so schwach.
Geschlafen 10—12 und 1 — l / 2 l Uhr. Habe um 12 Uhr Angst gehabt,
aber ruhig gelegen.
22. 4. Vorm, über Blumensendung erfreut; nachm, verstimmt.
Habe auf Wunsch des Arztes ein Loch gestopft, das habe sie angegriffen
Dann wieder: es sei langweilig; warum sie noch nicht an Geselligkeit
teilnehmen dürfe? Nachts erst 3 Uhr eingeschlafen, aber ohne Angst.
23. 4. Sehr gern draußen in der Hängematte. KafTee in Geselligkeit
getrunken. y 4 Std. spazieren. Nacht „recht gut“; um 11 Uhr nach der
Pflegerin gerufen, weil Angst. Aber als Licht gemacht, wieder einge¬
schlafen.
24. 4. Freundlich, aber alle Glieder wie zerschlagen, ganz matt.
Nicht spazieren, könne nicht. Nacht gut.
25. 4. Nachm, und nachts Schmerzen im r. Arm, sei in der Nacht,
vom heftigen Reißen aufgewacht, sonst aber gut geschlafen. Aber auch
nach gutem Schlaf w-ache sie stets matt und abgespannt auf.
28. 4. Nach guten Tagen gestern ärgerlich und gereizt, daß sie mit
einer Pflegerin, statt wie bisher mit der Oberin, spazieren gehen sollte.
Tat es nicht, ging nur um das Haus herum. Klagte auch, daß bei ihrem
Herkommen ihre Sachen gezählt worden sind; das sei doch dazu angetan,
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jemanden aufzuregen. Sie brauche das nicht, sei nicht so krank. Diese
Nacht ohne Bad geschlafen. Körpergewicht: 59 kg.
I. 5. Ging mit der Pflegerin und anderen . Pat. spazieren (sie
hatte der Schwägerin noch vor wenigen Tagen viel über hier geklagt
und erklärt, daß sie das nie tun würde), war vorher, nachdem sie dem
Wunsche des Arztes zugestimmt, rot und stumm, nachher ganz gesprächig.
Nacht geschlafen. Muskelzucken im Gesicht heute wieder recht lebhaft,
namentlich im r. orbic. oculi.
4. 5. Schlaf, Appetit und Stimmung gut. Besuch des Gatten. Macht
jetzt gern Handarbeit. Erzählte, zum Veronal sei sie gekommen infolge
der vielen Gedanken, die sie sich um das Familienunglück machte.
6. 5. Besuch des Gatten. Machte mit ihm aus, bis Ende des Monats
hier zu bleiben. Sehr guter Stimmung. — Körpergewicht: 60,5 kg.
9. 5. Vergnügt. Starkes Augenplinken, auch sonst Zucken der Ge¬
sichtmuskeln, besonders der Stirn. Erzählte, wenn jemand etwas sage,
was mit ihren Delirien Zusammenhang habe, dann möchte sie sagen:
ja wohl, das habe ich auch gesehen oder gehört, und dann falle ihr erst
ein, daß das ja in der Krankheit gewesen sei.
II. 5. Spielte Klavier, dann sehr roter Kopf. Klagte Schmerzen
im r. Arm.
16. 5. Hat der Schwägerin, die Pat. öfters besucht, seit dem Besuch
des Mannes nicht mehr geklagt. Hat auch uns gegenüber, abgesehen
vom r. Arm, keine Klagen, ist munter, voll Interessen. Beim Klavier¬
spiel allmählich weniger rot, wohl aber oft plötzlich während des Ge¬
sprächs. Gibt über die Vergangenheit anscheinend ganz unbefangen
Auskunft. Habe früher gelegentlich einmal wegen Schlaflosigkeit ein
Morphiumpulver genommen, aber nur selten. Seit 6 x / 2 Jahren aber regel¬
mäßig Veronal. Damals habe sie wegen der Scheidungsangelegenheit
ihrer Tochter viel Erregung und Sorge gehabt, sei fast ganz schlaflos
geworden, und da habe ihr ein bekannter Herr geraten, 1 y 2 Tabletten
Veronal zu nehmen, was er täglich tue; Gefahr sei nicht dabei. Sie habe
das getan und wie eine Tote geschlafen, deshalb sei sie bald auf 1 Tablette
(0,5) heruntergegangen. Dabei sei sie etwa 3 Jahre geblieben (tgl. 0,5),
habe gut geschlafen, morgens keine Beschwerden gehabt, sich tagüber
frisch gefühlt und durchaus wohl befunden. Dann sei sie auf 1 y 2 Tabletten
gestiegen und dabei etwa 2 y 2 Jahre geblieben, von da ab 1 l / 2 —2 Tabletten,
2 Tabletten namentlich, wenn sie ausgewesen oder mehr gesprochen.
Doch seien auch 2 y 2 —3 Tabletten vorgekommen. Bei Tage oder in der
Nacht habe sie nichts genommen. Einmal — es mögen 2 y 2 Jahre her
sein — habe Pat. auf Wunsch ihres Gatten, der alles vom Veronal ableitete,
wenn sie mal nicht wohl oder reizbar war, 3 Wochen nichts genommen,
aber in dieser Zeit gar nicht geschlafen, ganz elend geworden, bis sie
wieder zum Veronal überging oder vielmehr zum Medinal in gleicher Dosis,
weil sie Veronal nicht mehr ohne Rezept bekam und ein Arzt ihr trotz
Zeitschrift für PsyohUtri«. LIIX. 4. 38
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anfänglichen Abratens schließlich auf ihr Drängen Medinal verschrieb,
das wenigstens immer noch besser als Veronal sei. Sie nahm hiervon bis
zu 3 Tabletten. Medinal wirkte schneller. Dazwischen nahm Pat. ab
und zu auch Veronal, wovon sie noch von früher Vorrat besaß. Bis vor
kurzem fühlte sie sich dabei immer wohl, nie benommen, hatte nie Aus¬
schlag oder sonstige Störung. Erst im letzten Jahr nach schwerer Krank¬
heit der Tochter, über die Pat. sich sehr erregte, fühlte Pat. sich oft ange¬
griffen, verstimmt, reizbar, hatte nicht mehr Lust zu irgend etwas. Ver¬
stimmung und Beschwerden nahmen zu und waren zuletzt recht stark.
Als nun auch die Reise nach dem Süden im Februar und März, auf die
Pat. große Hoffnung gesetzt, nichts änderte, ihr auch da alles gleich¬
gültig war, sie keine Freude hatte wie früher, entschloß sie sich rasch zum
Sanatorium, denn sie sah ein, es mußte sein. — Wein und Bier habe
sie nie vertragen, habe danach nie geschlafen, sondern sei nur erregt danach
geworden und lebhaft. Seit etwa 3 Jahren habe sie daher kaum etwas
getrunken, höchstens, wenn sie in Gesellschaft war, mal ein halbes Glas;
Likör gar nicht seit vielen Jahren, weil sie danach gar nicht habe schlafen
können. Dagegen habe sie nachm, gern zwei Tassen starken Kaffee ge¬
trunken, weil sie nach der halbstündigen Mittagruhe sich meist matt
und abgespannt gefühlt habe bis zum Kaffee. Tee gar nicht getrunken.
Geschwitzt habe sie schon als Mädchen nicht, statt dessen sei sie stets
sehr leicht und sehr stark rot und heiß im Gesicht und Kopf geworden,
so regelmäßig, wenn sie mehr gesprochen, Klavier gespielt, sonst etwas
mit Eifer getan habe (dies leichte Erröten von der Schwägerin bestätigt).
Sie erinnere sich nur, daß sie als junge Frau beim Plätten geschwitzt;
die Plättstube sei ungewönhlich heiß gewesen, und da seien ihr wohl mal
Rücken und Oberarme feucht geworden, mehr auch da nicht, dagegen
der Kopf so rot, daß es ängstlich aussah. Später habe sie nicht mehr mit-
geplättet. — Jetzt seien ihr die scheinbaren Erlebnisse der kranken Zeit
noch so deutlich in Erinnerung und so lebendig, daß sie das mit der Wirk¬
lichkeit leicht mal verwechseln könne. Als neulich vom Gesang der Tochter
des Ref. die Rede war, hätte sie beinahe gesagt: Die habe ich auch schon
singen hören, weil sie in der kranken Zeit die Kinder der hiesigen Ärzte
so wunderschön habe singen hören (vgl. S. 532 unter d. 10. 4.); gerade,
als sie das aussprechen wollte, erkannte sie noch zur rechten Zeit, daß
das ja unter die Täuschungen gehörte. Und so gehe es ihr öfters. Sie
habe schon neulich ihrem Mann gesagt, dessen Bruder (= R. im Brief
S. 545) möchte sie vorläufig nicht sehen, weil der sich in ihren Traum-
erlebnissen so scheußlich benommen habe und sie den hieraus erwachsenen
Unwillen trotz besserer Erkenntnis noch nicht überwinden könne.
18. 5. Schmerzen im Arm besser, dagegen jetzt im Nacken. Schlief
auch bei Tage im Freien. Nächte gut.
19. 5. Gestern Besuch von vier Damen. Das sei doch etwas viel
gewesen. Auch jene empfanden, daß Pat. aufgeregter als sonst sei. Nachts
einmal aufgewacht.
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Ein Fall von akuter Psychose nach chronischem Veronalgebranch. 549
20. 5. Wundere sich, daß sie seit der Entziehung nie mehr das Ge-
fohl der Mattigkeit habe. Dagegen jetzt wieder häufiger starke Rötung des
Gesichts, was eine Zeitlang zurückgetreten war. Erst um 11 Uhr einge¬
schlafen.
21. 5. Vielfach roter Kopf. Das Blut schieße ihr immer hinein,
das sei schon mal besser gewesen. Nachts erst 3 Uhr eingeschlafen, dann
gut bis 7 Uhr. Beschäftigt sich fleißig. Puls 84. Habe mit 46 Jahren ihr
Unwohlsein verloren, nachdem es vorher schon monatelang ausgeblieben (zu -
erst mit 44 J.). Im ersten Jahr der Menopause sei häufig das Blut plötzlich
ohne Veranlassung in den Kopf geströmt, sogar manchmal so, daß kalter
Schweiß auf der Stirn entstand. Die letzten Jahre sei das aber ausge¬
blieben und erst jetzt seit 1 % Wochen wieder aufgetreten. Am roten
Kopf habe sie ja schon immer gelitten, schon als kleines Mädchen, und
leide auch jetzt daran, sobald sie etwas lebhaft werde. Was sie jetzt meine,
sei aber etwas anderes; es trete auf, wenn sie nichts spreche, nichts denke,
nichts tue. Unangenehm sei beides, aber hier sei das Gefühl des Voll-
seins stärker, sie fühle die Adern anschwellen, sogar in den Händen. Das
Unwohlsein habe sie mit 12 Jahren bekommen, während ihre Schwester,
die immer bleichsüchtig gewesen und an Gehirntuberkeln im 15. Jahre
gestorben sei, es überhaupt nicht bekommen habe. Ihr Vater sei 68 Jahre
alt an Lungenentzündung gestorben; ihre Mutter sei immer sehr zart
gewesen und habe durch Erkältung schon in den 30er Jahren ihr Unwohl¬
sein verloren, habe in ihren letzten Jahren viel an Erbrechen und Aus¬
husten von Blut gelitten, doch solle die Lunge ganz gesund gewesen
sein; im Winter habe sie immer gelegen und im Sommer sich erholt, sei
mit 49 Jahren gestorben an zunehmenden Blutungen und Schwäche.
22. 5. Morgens nach dem Erwachen starke Schmerzen im r. Arm
(liege nachts stets auf der r. Seite), die aber in wenigen Minuten sehr
viel besser werden und im Verlauf des Vormittags ganz verschwinden.
Gute Stimmung. Puls 72. Bauchreflex nicht deutlich; Radialisreflex
nicht deutlich; Kniereflex nur mit Jendrassik und auch da schwach.
Beide Arme gleich kräftig. Erklärt den früheren Unterschied damit,
daß sie jetzt beide Arme benütze und daher geübt sei, während sie vor
ihrer Erkrankung zuletzt nur die 1. Hand benutzt habe. Habe zuletzt
kaum noch geschrieben, weil ihre Schrift so unleserlich war und sie sich
deshalb genierte. Die Angehörigen hätten schon gewußt, daß das Be¬
finden der Pat. aus ihrer Handschrift zu erkennen war. War sie ange¬
griffen, so konnte niemand die Schrift lesen; ging es ihr gut, so war auch
die Handschrift gut. So sei das seit zwei Jahren gewesen. Stellt aber
nicht in Abrede, daß auch die Unsicherheit in Bewegungen und das Zittern
Einfluß auf die Handschrift gehabt haben möge. Auch Handarbeit sei
Ihr in den letzten Jahren schwer gefallen, während sie sie früher sehr
gern gemacht habe und auch jetzt ohne Anstrengung mache. — Sie habe
in den Delirien alles mit der größten Deutlichkeit wahrgenommen; alle
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Situationen wechselten, nur zuletzt blieb der Zusammenhang bestehen
mit dem Schicksal ihres Sohnes; es war eigentlich alles schrecklich, aber
ungemein deutlich, so daß sie sich auch der Einzelheiten erinnere. Z. 6.
stehe ihr noch lebhaft vor Augen, wie die Gestalten aus dem Schrank
heraustiegen.
23. 5. Schrieb gestern auf Wunsch des Ref. von ihren Erinnerungen
auf, wolle aber nicht mehr schreiben, weil sie sich zu sehr dabei aufrege.
Sie habe ja so viel erlebt mit allen möglichen Personen. Heute früh
Schmerzen im Nacken und r. Arm, obwohl sie diesmal mit Willen nicht
auf der r. Seite gelegen. Puls 78. Kopf und Rücken nirgends druck¬
schmerzhaft, auch die unteren Lendenwirbel nicht. Ebensowenig Schulter
und Arm r., abgesehen von geringem Schmerz bei stärkerem Druck auf
den Deltoides. Zunge gerade heraus ohne Zittern, nicht belegt. Hände¬
zittern ganz gering. Übergibt das Schriftstück; mehr habe sie nicht auf-
geschrieben, weil sie doch Erregung gespürt: nicht Angst, mehr Mitleid
mit sich selbst. Wisse viel mehr, habe nur rasch niedergeschrieben, was
ihr gerade einfiel.
Die Aufzeichnung betrifft den 15. April und lautet: „Mein jüngster
Sohn Ludwig war nach glänzend bestandenem Abiturientenexamen in
ein Regiment eingetreten, glücklich, dies Ziel erreicht zu haben, und
voller Hoffnungen für die Zukunft. Da tauchten im Regiment Gerüchte
auf, daß mein Mann infolge verschwenderischen Lebens sein ganzes Ver¬
mögen verloren habe und, da er sich dem unmäßigen Genuß von Veronal
hingegeben hatte (vgl. S. 541 unter d. 15. 4.), auch seine Lebensstellung.
Der Oberst teilte dies meinem Sohne mit, und er kehrte nach Hause zu¬
rück, gänzlich gebrochen und mit dem Bestreben, Gewisses über diese
Gerüchte zu erfahren. Hier fand er niemand, da mein Mann in die weite
Welt gegangen, ich in einem Sanatorium untergebracht war und seine
Geschwister, wie ein großer Teil seiner Verwandten sich das Leben ge¬
nommen hatten. Von meinem Schwiegersohn und einem Schwager,
die von der nächsten Familie am Leben geblieben, aber ebenfalls ihr ganzes
Vermögen verloren hatten, wurde er aufs Unfreundlichste empfangen,
da sie die Verpflichtung zu haben glaubten, nun, obgleich sie selbst nichts
hatten, für ihn sorgen zu müssen. Da suchte er mich, die ich in einem
Sanatorium in E., unmittelbar neben der Wohnung des uns bekannten
Landrats, war (vgl. S. 542 u. 552), auf—ich hörte ihn sprechen und gehen,
doch wurde uns ein Wiedersehen verweigert, so sehr ich auch darum bat
(vgl. S. 542). Der Landrat nahm sich seiner mitleidig an, gab dem gänzlich
Ausgehungerten zu essen und versuchte ihn zu trösten. Inzwischen hatten
verschiedene Familien aus A., die sich unserer Familie plötzlich feindlich
gegenüberstellten, von Ludwigs Rückkehr und seinem Aufenthalt beim
Landrat gehört, sie kamen im Automobil nach E. und veranstalteten
eine Art Gottesgericht, trotzdem ich, die ich hiervon hörte, dies mit dem
Hinweis, daß wir doch nicht mehr im Mittelalter lebten, zu verhindern
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Ein Fall von akuter Psychose nach chronischem Veronalgebrauch. 551
suchte. Ludwig, der gänzlich Unschuldige, der sich stets durch Fleiß
und tadellose Führung im Kadettenkorps ausgezeichnet, sollte für das
wilde Leben seiner Angehörigen büßen, es sollte ihm unmöglich gemacht
werden, des Königs Rock zu tragen. Allen voran hetzte der A.er Arzt,
dessen Sohn der Spielgefährte Ludwigs gewesen. Dieser, da er nicht nach
Oberprima versetzt war, wollte auch die Offizierslaufbahn einschlagen.
fand aber kein Regiment zum Eintreten und nun zieh der Vater Ludwig
der Unkameradschaftlichkeit, da er kein passendes Regiment ihm vor¬
geschlagen. Eis war schrecklich, wie der arme Junge litt, als ihm alle
möglichen Sünden und Vergehen seiner Eltern und Angehörigen öffent¬
lich vorgeworfen wurden, ebenso aber auch ich, weil ich dies mit anhören
mußte, wußte, das alles erdichtet und erlogen war und ihm dies nicht
sagen konnte, da mir immer wieder ein Sprechen mit ihm verwehrt wurde.
Zum Schluß kam auch noch mein Schwager und bezichtigte ihn der
Ehrlosigkeit, da er geliehenes Geld, das Ludwig glaubte von ihm geschenkt
erhalten zu haben, nicht zurückerstattet hatte. Da wurde ihm das Leben
abgesprochen und Jeder, der ihn traf, durfte ihm dieses nehmen. Er
sowohl wie ich wußten, daß die Ehre ihm gebot, sich selbst durch eine Kugel
zu töten, doch war der Wunsch, noch zu leben, so groß in ihm, daß er
zu fliehen versuchte, aber nur bis in das Sanatorium kam, da er bereits
überall verfolgt wurde. Auch mir war es furchtbar, dies junge hoffnungs¬
volle Leben so enden zu sehen, — ich schrieb ihm auf einem Couvert,
da ich kein anderes Papier hatte, daß er sich seinem Hauptmann oder
einem in der Nähe von F. wohnenden Onkel anvertrauen solle und flehte
zugleich Herrn San.-Rat Dr. Laehr an, ihm bei seiner Flucht behilflich
zu sein und ihn vorläufig auf seine Fürsprache hin in eine Irrenanstalt,
wohin ich auch zu kommen glaubte, zu schicken. In Verkleidung und mit
Hilfe von Herrn Dr. Hohljeld kam er ungesehen in die Bahn — ich glaubte
ihn gerettet, da kam die Nachricht, daß mein Schwager ihn in Z. im Zuge
erkannt, ihn hinausgezerrt und gegenüber dem .... Schlosse selbst er¬
schossen habe. Am Abend hörte ich dann noch meinen Schwager und
Schwiegersohn in das Sanatorium kommen — er w’ollte, wie ich ihn sagen
hörte, mir die Uhr und einige Papiere meines Sohnes bringen. — Entsetzt
von so viel Roheit und Schlechtigkeit der Menschen und gänzlich ge¬
brochen von dem Gedanken, daß mir nichts von meinem früheren Glück
geblieben, da auch mein Mann sich inzwischen das Leben genommen
hatte, beschloß ich, nie wieder nach A. zurückzukehren, sondern nach meiner
Genesung vorläufig auf Reisen zu gehen und mir dann irgendwo ein neues
Heim zu gründen.“
24. 5. Gestern nachm, durch Besuch ihres Sohnes sehr erfreut.
Bei Vortrag und Teeabend bis zuletzt frisch und interessiert. Nacht sehr
gut. Erläutert ihren schriftlichen Bericht auf Befragen: Ihr Sohn habe
wirklich ein sehr gutes Abiturientenexamen gemacht und sei, nachdem er
in N. nicht angekommen, in F. als Avantageur eingetreten. Für die dann
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folgenden Phantasieerlebnisse finde sie keinen Anhalt in ihrer Erinnerung,
abgesehen davon, daß sie seit einigen Jahren mit dem Arzt in A. nicht
mehr verkehrten (daß die Söhne auch jetzt miteinander freundschaftlich
verkehrten, sei richtig), während sie mit den übrigen A.er Familien in
gutem Einvernehmen ständen; aber weder Selbstmorde noch Verarmungen
seien in der Familie oder bei Bekannten vorgekommen, auch habe sie
ihres Wissens nichts Derartiges in letzter Zeit gelesen oder gehört, was
ihr stärkeren Eindruck machte, ebenso gehe es ihr mit dem Gottesgericht.
Aber Selbstmorde hätten in ihren Phantasien ja auch vorher schon eine
große Rolle gespielt, indem fast alle Personen, die in diesem letzten Zu¬
sammenhang vorkamen, sich schon in den Träumen der vorhergehenden
Tage das Leben genommen hatten, so auch ihr Gatte und ihr Sohn. Ihrem
Schriftstück könne sie noch viele Einzelheiten hinzufügen, so denke sie
z. B. eben, daß sie während der ganzen Erlebnisse, die ihren Sohn be¬
trafen, sehr oft Glockenklänge gehört habe, die die Verfolger einander
gaben. Als sie freier wurde, habe sie erkannt, daß die Anstaltuhr den
gleichen Klang hatte, wie jene Glockenzeichen, und daß sie deren Schläge
offenbar als Glockenzeichen aufgefaßt habe. Um das Sanatorium wären
elektrische Vorrichtungen gewesen, die jeden Eintretenden festgehalten
hätten — sie wisse gar nicht, ob es derartiges gebe —, die hätten auch
ihren Sohn, ihren Schwager und ihren Schwiegersohn festgehalten, und
der Nachtwächter habe sie dann befreien müssen. Das alles habe sie durch
die Stimmen erfahren und so die Entwicklung miterlebt. Gehört habe
sie die Stimmen meist durch das Fenster, gesehen einmal deutlich ihren
Schwager (vgl. S. 544) im Mantel, als sie ihn durch den Korridor
vor ihrem Zimmer gehen hörte und nun, einen Fuß aus dem Bett setzend,
durch die offene Tür hinaussah; er sei in das dem ihrigen gegenüber¬
liegende Zimmer gegangen, und sie habe daher geglaubt, daß er dort
logiere. Wiederholt habe sie auf der Zimmerwand Inschriften gesehen,
so eine mit roter Schrift: „Das Opfer ist Ludwig von X.“ (der Sohn heißt
Ludwig X., das „von“ gehört der Phantasie an). Auf die Frage, ob der
Landrat schon lange Geheimrat sei (vgl. S. 541 u. 542 unter d. 14. 4.), stutzt
Pat. und wird unsicher. Nach kurzer Überlegung: die Landräte würden
gewöhnlich nach 25 Jahren Geheimrat, dieser sei aber noch jung und
nicht lange im Amt, er könne noch nicht Geheimrat sein — nein, jetzt
wisse sie auch, daß er es nicht sei. Weshalb sie ihn in der Phantasie dazu
gemacht habe, sei ihr ganz unklar. Übrigens versichert Pat., darüber ganz
klar zu sein, daß sie den Zusammenhang der im Schriftstück wiederge¬
gebenen Erlebnisse nicht erst nachträglich hineingebracht habe. Die
Orte — Zehlendorf und E. — seien öfters ineinander geflossen, ein Sana¬
torium in E. existiere gar nicht. Sehr deutliche Gesichtstäuschungen
habe Pat. auch in Verbindung mit dem Schrank in ihrem Zimmer gehabt,
aber außer Zusammenhang mit den späteren Erlebnissen. Sie habe im
Schrank einen Taschenspieler gehört, der allerlei Bilder und Szenen von
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Ein Fall von akuter Psychose nach chronischem Veronalgebranch. 553
Vorgängen auf die Zimmerdecke projizierte (in der Nacht zum 11. 4.,
s. S.536), die habe sie ganz deutlich gesehen, und dann sei er selbst oben
durch die Schrankdecke hervorgekommen, bald mit dem Kopf, bald
mit dem Oberleib, bald in ganzer Figur (ganz deutlich zu sehen), da¬
zwischen sei er auch wiederholt durch den Boden des Schranks und durch
die Dielen in die Tiefe gefahren, das habe sie aber natürlich nur gehört
und nicht sehen können. Das sei ihr aber alles ängstlich gewesen, am
schlimmsten aber zuletzt, als der Taschenspieler von oben mit einer
Pistole auf sie losgefahren sei und die Pistole auf sie abgeschossen habe;
sie habe den Schuß deutlich aufblitzen sehen. Dann sei der Mann wieder
zurück und durch die Schrankdecke in den Schrank und weiter in die
Tiefe gefahren. Auf die Frage, ob sie nicht mehrere Personen im Schrank
gehört habe, da sie einmal (s. S. 535 unter 11.4.) von mehreren gesprochen:
das sei früher gewesen, da habe sie mehrere Leutnants, Freunde ihres
Sohnes, im Schranke gehört, die hätten nicht herausgekonnt. Das sei
aber ein Erlebnis für sich gewesen, daran erinnere sie sich lange nicht so
deutlich wie an die der letzten Tage.
25. 5. Mit dem Sohne eine vierstündige Partie nach Potsdam. Kam
frisch und angeregt zurück. Nacht gut. Stuhlgang stets regelmäßig.
26. 5. Gute Stimmung. Röte auch bei längerem Sprechen nicht mehr
in früherer Weise. Puls 72. Der Stuhlgang sei auch früher meist in Ord¬
nung gewesen, verzögert nur nach Anstrengungen, wie langem Gehen,
Ausfahrten u. dgl. — Ein Herr von Berg (vgl. S. 533 unter d. 10. 4.), eine
Bahnstation B. (vgl. S. 534 unter d. 10.4.), ein San.-Rat Bürger (vgl.
S. 537 unter d. 11. 4.) sind Pat. ganz unbekannt, und sie erinnert sich
nicht, daß sie in ihren Phantasien vorgekommen. Marie (s. S. 537) sei der
Name einer Freundin, doch erinnert Pat. sich nicht, daß diese in den Delirien
vorgekommen ist. Der Gedanke an das Schaltjahr (s. S. 533) sei ihr, so
albern dies auch klinge, immer etwas unheimlich gewesen, auch in gesunden
Tagen; Tod der Mutter, des Vaters, der Schwester, die Scheidung der Tochter
und manches andre sei gerade im Schaltjahr erfolgt. Die Phantasien
von der Entbindung der andren Tochter möchten vielleicht an die Erleb¬
nisse der Pat. vor 2 Jahren anknüpfen, doch erinnere sie sich an diese
Traumerlebnisse weniger. Dagegen sei ihr gut im Gedächtnis, daß sie im
Bade allerlei Substanzen oder Elektrizität vermutet habe, weil das Wasser
Kribbeln und Brennen in der Haut hervorrief; sie habe auch bis jetzt
gedacht, daß etwas Besondres drin gewesen, und würde das künftig stets
behauptet haben, müsse mir ja aber glauben, daß es einfache Wasser¬
bäder gewesen. Daß elektrische Kräfte in der Badestube und in ihrem
Zimmer wirksam gewesen, habe sie an den feinen Stäubchen erkannt,
die durch die Luft flogen, und wenn sie in der Nähe der elektrischen
Lampe vorbeiging, habe sie die Elektrizität an besonderen Empfindungen
um die Augen gespürt und daran, daß ihre Haare angezogen wurden,
sie sei deshalb immer möglichst rasch daran vorbeigegangen. Auch in
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Laehr,
der Waschschüssel in ihrem Zimmer seien Blasen aufgestiegen und habe
es geknackt. Erinnere sich nur dunkel, daß ihr Sohn über einen See
geritten sei (vgl. S. 538 unter d. 12. 4); sie habe sich noch gesagt: das ist
unmöglich, kann aber Näheres nicht angeben, auch nicht, weshalb er
hinübergeritten sei. Dagegen entsinne sie sich, daß sie eine hiesige Pfle¬
gerin (vgl. S. 534 unter d. 10. 4.) (damals als Hausmädchen von ihr ange¬
sehen) für eine Bekannte und zugleich für die Braut ihres Sohnes (für
den die Bekannte jedoch viel zu alt sei) gehalten habe; jetzt sehe sie,
daß die Pflegerin gar keine Ähnlichkeit mit dieser Dame habe. Auch
die hiesige Oberin Frl. B. habe sie als Stütze ihrer Tochter angesehen,
bei der sie sich damals zu befinden glaubte.
27. 5. Kniereflexe nur mit Jendrassik. Trizeps-, Radialis-, Bauch-
reflexe nicht zu erzielen. Zucken im Gesicht noch öfters bei ärztlichem
Besuch, gestern auch stark, als Pat. in der Kirche gewesen und mit der
Predigt unzufrieden war. Sonst jetzt kaum noch bemerkt. Erinnert
sich gar nicht, von einer Tasse Worte abgelesen zu haben; überhaupt
habe sie sich schon gefragt, wovon sie eigentlich in der kranken Zeit
gelebt habe, da sie sich gar nicht entsinne, während derselben je gegessen
zu haben. Auch daß sie aus dem Briefe andres vorgelesen, als wirklich
darin stand, entsinnt sie sich nicht (vgl. S. 539 unter d. 13. 5.).
3. 6. Stimmung, Schlaf, Appetit sehr gut. Gewicht 62,7 kg. Ent¬
lassen.
Es handelt sich also um eine stets lebhafte und deprimierenden
Gefühlen leicht zugängliche, jetzt 53jährige Dame, die etwa y 2 Jahr
nach Eintritt der Menopause wegen Schlaflosigkeit, die im Anschluß
an ein erregendes Familienereignis eingetreten war, vor 6 y 2 Jahren
Veronal genommen und dies seitdem — von etwa einem Monat ab¬
gesehen — regelmäßig abends verbraucht hat, von 0,5 bis zuletzt
1,5 (Medinal*) ) steigend. Wahrscheinlich hat sie seit ihrer Aufnahme
1 ) Veronal ( = ^ C / X CO^ unterscheidet sich von Medinal
\ Cfcgrig / \ LU^Nii / /
( = ^ 2 o 5 ^ C / in der Wirkung nur dadurch, daß das
\ IjjHj / \ LU—JN H / /
Medinal, in welchem ein H des Veronals durch Na ersetzt ist, in gleicher
Dosis nur 90% der Veronalwirkung hat. Im übrigen wirkt das schwerer lös¬
liche Veronal im allgemeinen etwas später, was hier nicht in Betracht kommt.
Da nun das Medinal im sauer reagierenden Magen in Veronal übergeführt
wird, um sich erst im Darm wieder in Medinal umzusetzen, und ebenso
das als solches eingenommene Veronal sich im Darm in Medinal umsetzt
und als solches im Blute kreist, hat für die Beurteilung des vorliegenden
Falles der Unterschied zwischen Veronal und Medinal keine Bedeutung.
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Ein Fall von akuter Psychose nach chronischem Yeronalgebraoch. 555
am 3. April, sicher seit dem Abend des 6. April *) kein Veronal oder
Medinal mehr genommen. Die nächsten Tage ist sie reizbar, ver¬
stimmt, unzufrieden, hört in der Nacht zum 8. April verdächtige
Geräusche, als ob Jemand gestorben, spricht am 8. April davon, daß
dem Bade Quecksilber zugesetzt sei, und vermutet in ihrem Zimmer
Schwefel und Phosphor, hört aber noch beim Vorlesen aufmerksam
zu. In der Nacht zum 9. April setzen dann im Anschluß an einen
wirklich gehörten Schrei traumhafte Delirien ein, namentlich mit
Gehörs-, aber auch mit Gesichtstäuschungen zunächst elementarer
Art (Flimmern vor den Augen, besonders nachts). Anfangs handelt
es eich um wechselnde, aber unter sich zusammenhängende, wesent¬
lich auf Gehörstäuschungen beruhende Wahnerlebnisse, die die
Kranke zwar wegen ihrer Sonderbarkeit zeitweis beunruhigen, aber sie
und ihre Familie nichts angehen. Später schwindet der Zusammen¬
hang mehr, Visionen treten zahlreich auf und übernehmen z. T. die
Hauptrolle. Pat. ist nicht völlig desorientiert, bleibt für wirkliche
Eindrücke empfänglich, kann sich aber nicht zurechtfinden und
bezeichnet selbst den Zustand als „wüstes Chaos“. Dabei besteht in
ihrer Intensität wechselnde Unruhe und zeitweis deutliches Be¬
schäftigungsdelir. Am 12. und 13. April haben diese Erscheinungen
ihre größte Höhe erreicht. Dann wird Pat. äußerlich ruhiger, die jetzt
wieder fast ganz an Gehörstäuschungen geknüpften und in ein die
Pat. aufs nächste berührendes Erlebnis zusammenfließenden traum¬
haften Delirien dauern aber noch bis zum 16. April an. An diesem
Tage verlieren sich die Sinnestäuschungen ziemlich plötzlich, auch
1 ) Am Abend des 4. April wurden zwei Veronalgläser im Besitz der Pat.
gefunden, die aber unberührt waren (s. S. 530, unter 5. 4.). Genaue Durch¬
suchungen in den nächsten Tagen und von da ab in größeren Zwischen¬
räumen waren stets ergebnislos. Daß die sehr verständige Schwägerin bei
ihrem Besuch am 6. April (s. S. 531 unter 7. 4.) der Pat. kein Medikament
zugesteckt hat, halte ich für ganz sicher. Die nach dem Besuch besonders
gute Stimmung der Kranken,, die darauf hindeuten könnte, erklärt sich
dadurch, daß die Stimmung schon vorher freundlicher geworden war
und nun durch den Besuch ein Wunsch der Pat. erfüllt wurde, auf dessen
Erfüllung sie kaum gehofft hatte; ihr war nämlich nach der Abreise des
Gatten gesagt worden, sie werde nun voraussichtlich in der nächsten Zeit
keinen Besuch haben dürfen. Auch wurde während des abendlichen
Bades in den Sachen und im Zimmer der Pat. nichts Verdächtiges gefunden.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
556
Laehr,
der Inhalt der Delirien wird der Hauptsache nach noch am selben
Tage korrigiert, während Einzelheiten noch länger festgehalten
werden und nachwirken, ln mehreren Nächten tritt noch um .Mitter¬
nacht nach anfänglichem Schlafe Angst auf, die aber nie bis zu einer
Stunde andauert und durch Andrehen des Lichts abgekürzt wird.
Im übrigen erfolgt rasch Genesung.
Neben diesen psychischen gehen körperliche Krankheiterschei¬
nungen einher. Seitens des Gefäßsystems von Anfang an
mehr oder weniger starke Rötung des Kopfes und auf der Höhe der
Erkrankung beschleunigter, kräftiger Puls; die Frequenz steigt von
72 Schlägen (am 6. April) auf 116 (am 12. April), sinkt dann zugleich
mit dem Absinken der psychischen Krankheiterscheinungen rasch ab
und hält sich vom 14. April ab zwischen 70 und 88. F i e b e r be¬
steht nie. Der Urin enthält auf der Höhe der Erkrankung (am
13. April) etwas Eiweiß ohne Zylinder. Die Nahrungauf¬
nahme ist wechselnd, aber nie dauernd schlecht, die Zunge
nie belegt, der Stuhlgang, der in der Zeit vor der Aufnahme
bisweilen träge gewesen war, jetzt durchaus regelmäßig. Das Ge¬
wicht, das am 4 April 58,2 kg beträgt, sinkt bis zum 13. April
auf 57 kg, ist aber am 18. April schon wieder auf. 58 kg gestiegen
und nimmt von da ab Leiter zu (6. Mai: 60,5; 30. Mai: 62,7 kg). Der
Schlaf ist erst wechselnd, setzt dann vom 9. April ab fast ganz
aus (nur am 10. April nachm, ein wenig Schlaf), und erst am 13. April
nachmittags schläft Pat. 1 y 2 Std., in der folgenden Nacht (nach
0,01 Morph., dem einzigen Mittel, das während der ganzen Zeit ge¬
reicht wurde) % Std., in der Nacht zum 15. April 2 Stunden. Dann
aber bessert sich der Schlaf verhältnismäßig rasch. Die Motilität
ist im ganzen wenig gestört. Wohl nimmt entsprechend den sonstigen
Erscheinungen das Zittern an Stärke und Umkreis zu, Muskelunruhe
und Zucken ist zeitweis recht stark, aber Pat. kann für den Augen¬
blick Kraft anwenden und täglich, wenn auch immer nur ganz kurze
Entfernungen, aufrecht und flink gehen, auch zweimal täglich unge-
stützt die Treppe zum Bade hinunter- und hinaufsteigen. Am 14. April
schreibt sie durchaus deutlich, wenn auch mit zitternden Buchstaben,
und schon am 16. April gut wie in gesunden Tagen, obwohl sie in der
letzten Zeit zu Hause „infolge rheumatischer Schmerzen im r. Arm“
nicht mehr leserlich hatte schreiben können. Zucken im Gesicht,
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Ein Fall von akuter Psychose nach chronischem Yeronalgebranch. 557
besonders im r. orbic. ocul., fällt noch spät in der Rekonvaleszenz
öfters auf. Die Sehnenreflexe sind auf der Höhe der Erkran¬
kung und z. T. noch lange nachher aufgehoben. Der Kniereflex ist
am 4. April vorhanden, fehlt später (am 11. April, wo die Muskeln
allerdings nicht recht schlaff wurden), ist aber bereits am 15. April
im r. Bein deutlich und am 22. Mai beiderseits, wenn auch nur mit
Jendrassik, zu erzielen. Der Trizepsreflex fehlt am 4. April am r. Arm,
am 27. Mai beiderseits. Der Radialisreflex ist am 4. April beiderseits
gesteigert, am 22. Mai als nicht deutlich und am 27. Mai als nicht
vorhanden angegeben. Bauchreflexe fehlen vor- wie nachher. Die
„rheumatischen“ Schmerzenimr. Arm, die vor der Entziehung
lebhaft waren, sind während derselben verschwunden und treten
erst spät und in mäßiger Stärke wieder auf. Zuletzt bestehen sie nur
des Morgens nach dem Erwachen minutenlang. Sonstige Schmerzen
fehlen. Druckschmerz wird vor der Erkrankung über dem letzten
Lendenwirbel gefunden, nachher (23. Mai) nicht mehr. Parästhesien
der Hautnerven (Brennen und Kribbeln im Bade, besondere Empfin¬
dungen um die Augen und an den Haaren in der Nähe der elektrischen
Lampen) waren zeitweis jedenfalls vorhanden; ob sie auch das Be¬
schäftigungsdelir unterstützten, bleibt fraglich.
Während Fälle akuter Veronalvergiftung häufig beschrieben sind,
habe ich in der Literatur nur 8 Fälle von Veronalismus gefunden. Bei
fast allen läßt sich eine gewisse Disposition nachweisen. Der
58jährige Kranke, über den Laudenheimer 1 * * ) berichtet (I), war lang¬
jähriger Morphinist, Hoppes *) 26jähriger Pat. (II) Neuropath und Alko¬
holiker; über den Fall von Sendenheimer (III) kann ich in Beziehung
auf Disposition nichts aussagen *); Höftmanns 4 ) beide Kranke (IV u. V)
waren hochgradig nervös, die eine davon (V) frühere Morphinistin; die
23jährige Kranke von Kreß*) (VI) litt an Hysteria gravis, die 37jährige
l ) R. Laudenheimer, Notiz über gewohnheitsmäßigen Mißbrauch
des Veronals (Veronalismus). Therapie d. Gegenwart, 1904, S. 47.
*) Hoppe, Ein Fall von chronischem Veronalismus. Vortrag vom
6. II. 05. D. med. Wchnschr. 1905, S. 971.
*) Der Fall von Sendenheimer wird von Hoppe angeführt, ich habe
die Originalmitteilung nicht aufgefunden.
4 ) Höftmann, Diskussionsbemerkung zum Vortrag Hoppe. Ebenda.
*) Kreß, Veronalismus. Therapeut. Monatshefte, 1905, S.’ 467.
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Kranke Dobrsehanskys l ) (VII) an Dem. praecox; Steinitz 1 ) gibt Ober
seine 68jährige Pat. (VIII) nur an, daß sie wegen Emphysems mit Schlaf¬
losigkeit Veronal nahm, hier bestand aber besonders große Empfänglich¬
keit für Veronalwirkung, da Pat. gleich das erste Mal und ebenso weiter¬
hin nach 0,5 auffallend lange und tief schlief und am nächsten Tage wie
betrunken war und keinen Gedanken fassen konnte. ■— Nur im Falle VII
handelt es sich um ärztlich angeordneten und überwachten Veronalge-
brauch, während in den übrigen Fällen — abgesehen von III, über den
ich nichts angeben kann — das Veronal, meist nach anfänglicher ärzt¬
licher Verordnung, weiterhin eigenmächtig genommen wurde.
Die Dauer des Veronalgebrauchs war im Falle VI etwa ein Jahr,
bei VII und VIII etwa Vz Jahr, bei I 2 Monate, bei II weniger. In den
übrigen 3 Fällen ist die Dauer ungewiß, kann aber nicht über 1 Vs Jahr
ausmachen, da die Mitteilungen aus dem Februar 1905 stammen und das
Veronal erst 1903 als Medikament eingeführt worden ist.
Die Menge des täglich genossenen Veronals belief sich im Falle I
auf durchschnittlich über 4,0 (250,0 in 2 Monaten), II und V hatten tägl.
2,0—3,0, VI zunächst 0,5, später bis 2,0, VII gleichmäßig 0,5 und VIII
0,25 bis 0,5 tägl. genommen. Über II kann ich nichts angeben.
Die Erscheinungen sind — abgesehen von Fall VII — nicht
so von einander abweichend, als wohl angenommen worden ist *). Im
Falle I bestand, während der Kranke das Veronal nahm, gleichgültig
heitere und behagliche Stimmung, die Phantasie war wenig angeregt, die
körperliche und geistige Leistungfähigkeit (im Gegensatz zur Morphium¬
wirkung) nie gesteigert, vielmehr fiel dem Pat. Denken und zumal Schreiben
schwerer. Beim Gehen taumelte er wie ein Betrunkener und fiel öfters
auf der Treppe hin, so daß er bei seiner Umgebung für einen Trinker galt,
zumal auch die Hände stark zitterten und die Sprache zuweilen lallend
war; starrer Blick, die Wangen oft flammend rot (Verf. sah auch in einigen
anderen Fällen vorübergehende Kongestivzustände nach Veronalgebrauch).
Fester Schlaf trat bei Tage nicht ein, doch duselte Pat., sobald er längere
Zeit ruhig sitzen mußte. Appetit nie gestört. Auffallend spärliche Urin-
sekretion während des Veronalgebrauchs (nur einmal tägl. etwa v 4 Ltr.):
doch litt Pat. schon länger an Harnröhrenfistel und Cystitis. Als Pat.
sein Veronal verbraucht hatte und nur noch die ärztlich verordnete Dosis
(jeden 2. Abend 0,5) nahm, zeigte sich weder Veronalhunger noch Ab¬
stinenzerscheinungen, doch ist dazu zu bemerken, daß er Morphium in
*) M. Dobrschansky. Einiges über Malonal. Wiener raed. Presse.
1906, S. 2146.
s ) Steinitz, Zur Symptomatologie der akuten Veronalvergiftungen.
Ther. d. Gegenw. 1908, S. 203.
s ) Rosendorff, Über einen Fall von Veronal Vergiftung. Berl. klin.
Wchenschr., 1910, S. 934.
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Ein Fall von akuter Psychose nach chronischem Veronalgebrauch. 559
hohen Dosen weiter brauchte. — II lag Vorm, in tiefem Schlaf, aus dem
er kaum zu erwecken war, ging Nachm, ins Geschäft, hielt sich aber nur
durch 8—10 Tassen starken Kaffees und starkes Rauchen aufrecht und
machte wiederholt den Eindruck eines Berauschten. — Bei III bestand
motorische Unruhe und Schwäche, dauernder rauschartiger Zustand
und Euphorie. — IV und V boten neben starker,psychischer Erregung
eine eigentümlich schleppende oder lallende, etwas stotternde Sprache,
V auch Selbstmordtrieb. Beide machten andauernd den Eindruck von
Trunkenen. — VI zeigte lebhafte depressive Erregtheit (doch war diese
hysterische Kranke schon vorher zeitweise unruhig aufgeregt gewesen
und hatte depressive Gedanken und Weinkrämpfe gehabt), starke motori¬
sche Unruhe, leichte Verwirrtheit, Taumeln, das aber bei Nichtbeachtung
für energisch gewollte Aktionen erheblich nachließ; auch in Briefen
taumelnde, flüchtige Schriftzüge; Sehnenreflexe gesteigert, Pup.-Refl.
intakt, lebhafter tremor der Finger. Nachts sehr unruhiger Schlaf.
Nahrungaufnahme befriedigend, zeitweis Übelkeit und Erbrechen;
Stuhlgang nur auf Klysma, dann aber normal (schon vor dem Veronal¬
gebrauch Widerwille gegen Speisen, ructus hyst., stete Stuhlträgheit).
Prämenstruelle Steigerung der ängstlichen Unruhe und Schlaflosigkeit
(auch früher Steigerung der Erscheinungen während der Menses), die
nach 4 Tagen vorüberging und episodische Verwirrtheit und Unorientiert-
heit stärker hervortreten ließ. In Gegenwart des Verf.s ziemlich klar
antwortend, rafft sich Pat. sichtlich zusammen; dann wieder verwirrt,
will in Hemd und Mantel spazieren gehen. Am Tage darauf sichtliche
Verschlechterung des Allgemeinbefindens: Verwirrtheit und stärkere
Bewußtseinstörung wechseln mit klaren, 5—10 Min. währenden Episoden
voll unbestimmter Angst; nach 2 Stunden setzen Krampfanfälle ein, und
es erfolgt der Tod im status epilepticus. Im Nachttisch wurde eine größere
Anzahl geleerter Pulverhüllen gefunden. —VII zeigte während des Veronal-
gebrauchs neben wahnhaft bedingter, zeitweiliger Nahrungverweigerung,
regellosem Erbrechen und Kolikschmerzen im Epigastrium ohne objek¬
tiven Befund eine konstante, anfänglich langsame, später rapide Ab¬
nahme des Körpergewichts (von 72 auf 48,5 ko) und eine damit Hand in
Hand gehende zunehmende Anämie, zuletzt auch burgunderrote Ver¬
färbung des Harns, bedingt durch reichliche Mengen von Hämatopor-
phyrin und Urobilin, die 14 Tage nach Aussetzen des Veronals völlig ver¬
schwunden waren. Auch nach dem Aussetzen blieb Pat. appetitlos und
anämisch, doch das Erbrechen wurde seltener, die Leibschmerzen schwan¬
den fast, das Körpergewicht blieb stationär. — VIII war einige Wochen
hindurch andauernd ziemlich wirr, vergeßlich, sah schlecht und bekam
zuletzt heftig juckenden Ausschlag. Sie ließ nun das Veronal fort.
2 Tage darauf fand Verf. intensives, durchaus scharlachähnliches Exan¬
them am ganzen Körper; T. 38,2; Puls 100, regelm. und leidlich kräftig;
Pup. etwas eng und verzogen, reag. deutlich; Konj.- und Kornealrefl.
sehr herabgesetzt, Rachenrefl. fehlt; Sehnenrefl. gesteigert; Sensorium
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etwas benommen, Pat. reagiert auf Fragen, jedoch langsam; sehr schwer
besinnlich, zeitlich und örtlich mangelhaft orientiert, Gedächtnis und
Merkfähigkeit erheblich gestört, sucht nach Worten, Silbenstolpern;
motor. Kraft gering, zeitweis Zittern am ganzen Körper, bei Bewegungen
Zittern der Hände, Beben des Unterkiefers. Sensibilität für Berührung
und Schmerz etwas abgestumpft. Nachts starke Unruhe (Morph.-Inj.).
Urin spärlich und konzentriert, spontan entleert. 3 Tage später blaBt
das Exanthem unter Abschuppung ab, T. normal, Kornealreflex lebhafter,
Sensorium etwas aufgehellt, nachts keine erhebliche Unruhe mehr; Urin¬
sekretion etwa normal. Allmählich weitere Besserung, aber noch 18 Tage
nach Aussetzen des Veronals bei der Entlassung Pup. etwas eng u. ver¬
zogen, Gedächtnis u. Merkfähigkeit beeinträchtigt, Silbenstolpern vor¬
handen, Zittern noch häufig, wenn auch viel schwächer; Gang unsicher.
Die Fälle I bis V ergeben ein ziemlich einheitliches Bild; wenn in
Fall I Taumeln und Zittern, lallende Sprache, starrer Blick, Erschwerung
des Denkens, euphorische Stimmung aufgeführt werden, so stimmt damit
gut die zusammenfassende Angabe über die anderen Fälle überein, daß
Pat. den Eindruck eines Trunkenen machte oder sich in einem rausch-
artigen Zustand befand. Daß in IV und V statt ruhiger, euphorischer
Stimmung psychische Erregung, in V auch Selbstmordtrieb bestand,
ist wohl weniger auf Rechnung des Veronals, als der schon vorher be¬
stehenden hochgradigen Nervosität zu setzen. Anders steht es mit Fall VII,
wo als Folge des Veronalgebrauchs starke Gewichtabnahme und Anämie,
zuletzt auch Hämatoporphyrinurie angegeben sind. Da aber der Kranke
(Dem. praecox!) zeitweilig infolge von Wahnideen die Nahrung ver¬
weigerte und an regellosem Erbrechen und Kolikschmerzen litt, möchte
ich nur die Hämatoporphyrinurie, die nach Aussetzen des Mittels in
14 Tagen verschwand, als seltene VeronalWirkung ansprechen l ), während
Gewichtabnahme und Anämie wohl von den Begleiterscheinungen ab-
hingen, zumal auch nach dem Aussetzen des Mittels das Körpergewicht
auf seinem niedrigen Stande verblieb und Appetitlosigkeit und Anämie
fortbestanden. Dagegen zeigen Fall VI und VIII wieder die aus den
ersten 5 Fällen bekannten Erscheinungen, nur in stärkerer Ausbildung;
Verwirrtheit, Unorientiertheit und zeitweis starke Unruhe treten hervor,
dazu quantitative Abweichungen und Fehlen der Reflexe. Aber während
bei VIII Benommenheit und Schwerbesinnlichkeit vorherrscht, kommt
es im Fall VI bei der schon früher depressiv erregten Hysterica zu lebhafter
Angst, es besteht also ein ähnliches Verhältnis wie bei V; der Tod im
Status epilepticus scheint dann durch akute Veronalvergiftung (worauf
wenigstens die nachher gefundenen leeren Pulverhüllen hindeuten) auf
dem Boden der chronischen Veronalvergiftung hervorgerufen zu sein.
Das fieberhafte Exanthem in VIII gehört, wenn es auch bei akuten Veronal-
*) Sie wird auch von Mary E. Martin erwähnt: A Case of Veronal
poisoning. Brit. med. J. 1910, II, S. 457.
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Ein Fall von akuter Psychose nach chronischem Veronalgebrauch. 561
Vergiftungen öfters angeführt wird 1 ), zu den ungewöhnlicheren Folgen
des Veronals und muß zum größeren Teile auf Prädisposition zurückge¬
führt werden, und ob die engen verzogenen Pupillen im gleichen Falle,
die noch beim Abgang der Pat. beobachtet wurden, überhaupt etwas mit
dem Veronal zu tun hatten, bleibt wenigstens fraglich. Eher dürfte die
Sehstörung, die auch bei akuten Veronalvergiftungen mehrmals beschrieben
ist *), mit dem Veronalgebrauch Zusammenhängen.
Neben den positiven Erscheinungen des Veronalismus ist aber auch
das Fehlen von Störungen namentlich von Seiten des Herzens und der
Verdauungsorgane wichtig. Wohl hat bei akuter Veronalvergiftung
v. Embden *) eine bei der Autopsie nicht mehr nachweisbare gewaltige
Herzdilatation und M. Senator 4 ) Oppressionsgefühl, Präkordialangst und
kleinen, jagenden, arhythmischen Puls beobachtet, anderen') ist Erbrechen
ln Verbindung mit schweren, urämieartigen Erscheinungen vorgekommen,
sonst aber wird überall die Unschädlichkeit des Veronals für die Zirkula-
tions- und Verdauungsorgane hervorgehoben. Dies gilt auch für den
Veronalismus, wie die oben aus der Literatur angeführten Fälle zeigen.
Denn daß die Magendarmstörungen der Hysterica von Kreß (Fall VI)
und des Dem. praecox-Kranken von Dobrschansky (Fall VII) demVeronal
nicht zur Last gelegt werden können, ergibt sich daraus, daß ähnliche
schon vor dem Gebrauch des Mittels bestanden hatten, und die flammend
roten Wangen im Fall I, die Laudenheimer auch sonst und ebenso andre
Beobachter bei akuter Veronalvergiftung gesehen haben, sind harmloser
Art und stets ohne üble Folgen geblieben.
Daß nun auch die Erkrankung der Frau X. aufdem Boden
des chronischen Verona lg ebrauchs entstanden ist,
dürfte keinem Zweifel begegnen. Die Muskelunruhe und das Zittern,
das den psychischen Krankheiterscheinungen entsprechend sich ver¬
stärkt und mit ihnen heruntergeht, sowie das Verhalten der Reflexe
stimmt zu dem Bilde des Veronalismus, das sich aus der Literatur
eigeben hat, ebenso die lallende (s. 4. IV) oder anstoßende (s. 6. IV)
Sprache, die glänzenden Augen (s. 4. IV) in den ersten Tagen des
hiesigen Aufenthalts. Auch besondere Erscheinungen, wie die zeit-
*) Derartige Fälle führt Schepelmann an: Seekrankheit u. Veronal.
Therap. Mon.-Hefte 1910, S. 681.
*) Fall 2 und 4 von Steinitz 1. c.; Doppelsehen bei H. Neumann:
Veronalvergiftung u. Glykosurie, Berl. klin. Wchnschr. 1908.
*) v. Embden, Bericht über einen Fall von Veronalvergiftung. Münch,
med. Wchnschr. 1908, S. 1050.
•) M. Senator, Eine Beobachtung über Zirkulationsstörungen durch
Veronal. Deutsche med. Wchnschr. 1904.
*) S. Schepelmann 1. c.
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weise sehr starke Rötung des Kopfes und die Erschwerung des Schrei¬
bens (s. S. 549 unter 22. 5.), die Möglichkeit, für kurze Zeit sich zu¬
sammenzuraffen, sind in anderen Fällen (II, VI) gleichfalls beobachtet
worden. Dagegen gehen die Erscheinungen, die sich vom 8. IV ab,
also erst einige Tage nach dem Fortfall des Veronals, bei unserer
Kranken namentlich auf der psychischen Seite entwickeln, weit über
die dagegen verhältnismäßig einfachen Störungen hinaus, welche die
Literatur darbot, und zeigen während des Höhestadiums eine große
Ähnlichkeit mit dem Delirium potatorum: zahl¬
reiche Sinnestäuschungen, darunter auch solche der Lageempfin¬
dungen (Aufheben des Bettes, vgl S. 545 unter d. 18. April), die Ver¬
kennung der Umgebung, die Situationsänderungen teils in chaotischem
Gewirr, teils in zusammenhängenden Wahnerlebnissen, die weiter
durch Kombination ergänzt werden, die Möglichkeit, die Kranke
vorübergehend auf wirkliche Eindrücke einzustellen, aber auch durch
leichten Druck auf die geschlossenen Augen Gesichtstäuschungen
hervorzurufen, das Nebeneinandergehen und Ineinanderfließen von
Wirklichkeit und wahnhaften Vorgängen, das Schwanken in der ört¬
lichen Orientierung, die Beschäftigungsdelirien, die vorherrschende
Unruhe und Angst und dann wieder auf der Höhe schrecklicher Wahn¬
erlebnisse der unnatürliche Gleichmut. Ich verweise hierfür auf den
11. bis 13. April (S. 536—540).
Trotz dieser Ähnlichkeit kann an Alkoholdelirium nicht gedacht
werden. Frau X hat nach den allseitig übereinstimmenden Angaben
Alkohol weder in größeren Gaben noch gewohnheitmäßig getrunken,
und zudem unterscheidet sich ihr Delirium doch auch in manchen
Zügen vom Delirium der Alkoholiker. Vor allem möchte ich hier das
Fehlen von Störungen im Verdauungskanal hervorheben. Die Zunge
war nie belegt, die Nahrungaufnahme nur ganz vorübergehend
beeinträchtigt, der Stuhlgang regelmäßig, die Gewichtabnahme dem¬
entsprechend verhältnismäßig gering. Auch von seiten der Kreis¬
lauforgane fehlten bedenkliche Erscheinungen, die Herztätigkeit war
regelmäßig und zeigte nur am Tage, als die Akme überwunden war
(14. April), größere Frequenzschwankungen, der Puls war gerade auf
dem Höhestadium voll und ward erst in der Rekonvaleszenz weich.
Auf psychischem Gebiet fallen die zusammenhängenden, romanhaften
Traumerlebnisse ängstlichen Inhalts, die noch dazu vorwiegend in
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Ein Fall von akuter Psychose nach chronischem Veronalgebrauch. 563
Gehörstäuschungen und kombinatorischer Ergänzung derselben ver¬
laufen, aus dem Rahmen des alkoholischen Deliriums heraus. Da¬
gegen • erinnern sie sehr an den halluzinatorischen Wahnsinn der
Trinker, auch darin, daß Pat. das Ganze nur als gewissermaßen unbe¬
teiligte Hörerin durchmacht. Ein gewisser Unterschied scheint
mir jedoch darin zu liegen, daß in allen diesen Wahnerlebnissen die
Pat. persönlich gar nicht bedroht ist, und daß es sich teilweis über¬
haupt nicht um Beeinträchtigungswahn handelt. So gleich das wahn¬
hafte Erlebnis in der hiesigen Anstalt zu Beginn der Erkrankung in
der Nacht zum 9. April (S. 531—532), ferner die Gesellschaft im Hause
mit dem Singen der Kinder am 9. April (S. 532 u. 548), die telephonische
Mitteilung über die Entbindung der Tochter (S.537 unter d. 11. April).
Auch den letzten schreckenvollen Roman (S. 542 —544 unter dem 15. u.
16. April) durchlebt Pat. in persönlicher Sicherheit, und die allge¬
meine Aufmerksamkeit und wilde Verfolgung richtet sich nicht gegen
sie, sondern gegen ihren Sohn. Wäre dies nur eine Episode und Pat.
wenigstens gelegentlich selbst Objekt der Verfolgung, so würde ich
nichts Besonderes darin sehen, so aber scheint mir auch diese Eigen¬
tümlichkeit von der gewöhnlichen Alkoholhalluzinose ein wenig ab¬
zuweichen.
Sind nun die Besonderheiten, die den vorliegenden Fall von den
akuten Alkoholpsychosen unterscheiden, auf das Veronal oder auf
persönliche Anlage zurückzuführen? An letztere zu denken, werden
wir um so mehr geneigt sein, als wir um sie auch dann nicht herum¬
kommen, wenn wir nach einer Ursache für das Zustandekommen
des dauernden Veronalgebrauchs und weiter für das Auftreten der
Veronalpsychose suchen. Frau X. ist psychopathisch veranlagt in der
Richtung erleichterter Gefühlserregung und des Hanges zu Klagen
und Unzufriedenheit. Dies macht sich schon vor dem Veronalgebrauch
bemerklich und kann sogar als dessen Voraussetzung betrachtet
werden: Pat. wird durch die Gemütserregung während der Ehe¬
scheidung ihrer Tochter so angegriffen, daß schwere Schlaflosigkeit
eintritt und Anlaß zum dauernden Veronalgebrauch gibt. Und ebenso
kann die gleiche Veranlagung als ein Faktor für den Eintritt der
Psychose angesehen werden. Wir werden ja im Anschluß an die Vor¬
stellungen, die sich über die Gelegenheitsursachen des alkoholischen
Deliriums herausgebildet haben, in unserem Fall nicht nur die Ent-
Zeitschrift fdr Psychiatrie. LXIX. 4.
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Laehr,
Ziehung des Veronals, sondern auch den Anstaltaufenthalt zu berück¬
sichtigen haben, der die Pat. aus ihrer gewohnten Umgebung reißt
und sie einer sic erregenden Behandlung aussetzt. Ich denke an die
Durchsuchung ihrer Sachen, die um so peinlicher wirken muß, als Pat.
noch zwei Gläser Veronal im Handschuhkasten verborgen weiß, an
das Fortnehmen des Geldes und der Schere, an die der Pat. un¬
sympathische Bettruhe, an das allgemeine Sich-fügen-sollen. Ist
das alles auch an sich nicht so schlimm, so haben wir es hier doch
eben mit einer Pat. zu tun, die von Natur zu stärkeren und in be¬
sonderem Maße zu depressiven Gefühlen neigt, und die zudem durch
langjährigen Veronalgebrauch in letzter Zeit noch besonders reizbar
geworden ist. Auf sie mag der Anstaltaufenthalt wirken wie das
Gefängnis auf den Alkoholiker. Voraussetzung aber ist auch hier
die besondere Veranlagung.
Auf sie könnte man nun auch die oben angeführte Eigentümlich¬
keit der zusammenhängenden, gehörshalluzinatorischen Delirien in
unserem Falle beziehen. Nicht nur die Entstehung des chronischen
Veronalgebrauchs ist der äußeren Ursache nach auf das Geschick
eines Kindes zurückzuführen, sondern auch das Auftreten der ersten
beschwerlichen Folgen i. J. 1911 und 1912 deren Steigerung. Jenes
knüpft an die Erkrankung einer Tochter, diese an eine Enttäuschung
des Sohnes an. Man könnte nun einen Zusammenhang, der in der
besonderen Veranlagung der Pat. gegeben wäre, finden zwischen der
Tatsache, daß nicht eigne unangenehme Erfahrungen, sondern Er¬
regungen, die durch Schwierigkeiten oder Krankheit der Kinder
vermittelt sind, den Veronalgebrauch veranlaßt und gefördert haben,
und dem Umstand, daß in den Delirien die eigene Person mehr als
sonst zurücktritt, und daß die Verfolgungsvorstellung, die durch die
Art der Erkrankung hervorgerufen wird, sich auf den Gatten und zu¬
mal auf den Sohn projiziert, dem die zuletzt wirksamen deprimierenden
Gefühle gegolten haben.
Weiter aber läßt die Veranlagung sich nicht zur Erklärung heran¬
ziehen. Als Ursache für die wesentlichen Verschiedenheiten im Ver¬
halten der Verdauungs- und Kreislauforgane, die zwischen unsrem
Fall und den typischen Alkoholpsychosen bestehen, kann nur die
besondere Wirkung des Veronals herangezogen werden. Wir können
aber hier auch an Bekanntes anknüpfen. Wenngleich nach ver-
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Eia Fall von akuter Psychose nach chronischem Veronalgebraach. 565
breiteter Ansicht die Äthylgruppen im Veronal den Hauptanteil an
seiner Wirkung auf das Nervensystem haben sollen, so ist doch die
Harmlosigkeit des Veronals für die Verdauungs- und Kreislauforgane
ebenso anerkannt wie die Verderblichkeit des Alkohols für dieselben.
Man könnte daher schon rein theoretisch die Vernutung hegen, daß
auch dann, wenn Alkoholismus und Veronalismus sehr ähnliche
Wirkungen auf das Nervensystem haben sollten, die Erscheinungen
an den Verdauungs- und Kreislauforganen*) gerade die Unterschiede
zwischen ihnen aufweisen müßten, die, entsprechend den Beobach¬
tungen über weniger andauernden Veronalgebrauch, unser Fall in
der Tat herausgestellt hat.
Daß unser Fall den neueren Anschauungen über Intoxikations¬
psychosen sich gut einfügt, wie sie kürzlich in sehr übersichtlicher
Weise P. Schröder 2 ) dargelegt hat, brauche ich nach dem Gesagten
nur anzudeuten. Gerade bei Frau X. läßt sich nachweisen, wie die
in der psychopathischen Veranlagung gegebene Prädisposition zu
psychischer Erkrankung durch den langjährigen Veronalgebrauch
verstärkt wird und umgekehrt die Veranlagung ihrerseits zum Veronal¬
gebrauch und zu dessen Steigerung führt, wie später der Ausbruch
der Psychose und deren besondres Gepräge durch die individuelle
Veranlagung der Pat. mitbestimmt wird, und wie diese Psychose
nicht unmittelbare Wirkung des Giftes auf den prädisponierten Or¬
ganismus sein kann. Nur auf den letzten Punkt möchte ich noch kurz
eingehen.
*) Eine Besonderheit unsres Falles, die Neigung zu starker Rötung
des Kopfes, ist nicht direkt auf das Veronal, sondern zunächst auf eine
voraussichtlich angeborene Schwäche des Zirkulationsapparates und somit
doch auch auf Veranlagung zurückzuführen. Daß aber auch die während
der Psychose fast beständige starke Rötung nicht direkt mit dem
Veronal zusammenhing, wie in nunctien Beobachtungen über weniger an¬
dauernden Veronalgebrauch, möchte ich daraus schließen, daß sie erst nach
Fortfall des Veronals stärker auftrat, mit dem Nachlaß der Krankheit¬
erscheinungen ganz wesentlich nachließ und in vermindertem Grade
zuletzt nur bei leichten Erregungen sich zeigte in der Art, wie Pat. sie auch
in früheren Jahren gezeigt haben soll. — In anderen Fällen, wie denen
Laudenheimen, scheint es sich um direkte Veronal Wirkung bei disponierten
Leuten gehandelt zu haben.
*) P. Schröder, Intoxikationspsychosen. Deuticke, Leipzig u.
Wien, 1912 (Handbuch der Psychiatrie, hg. von Aschaffenburg, B, 3).
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Laehr,
Das Veronal verschwindet in wenigen Tagen aus dem Organi nn s.
Fischer und Hoppe *) fanden es nur noch 4 Tage nach dem Aussetzen
des Mittels im Urin wieder, und hiermit stimmen die Versuche C.
Bachems 2 ) an Tieren überein. Dabei ist hervorzuheben, daß die
Ausscheidung in rasch abnehmender Menge erfolgt, und daß am 3.
und 4. Tage nur noch Spuren im Körper enthalten sind. Wenn also
bei unsrer Pat. nicht nur die psychischen, sondern auch die rein nervös¬
bedingten Erscheinungen (Muskelunruhe, Zittern und Zucken, Reflex¬
abweichungen, Steigerung der Pulsfrequenz, Rötung des Kopfes) sieh
erst tagelang nach dem Fernhalten des Mittels einstellen oder ver¬
stärken, so kann dies auf „ätiologische Zwischenglieder“ (Bonhöffer)
zurückgeführt werden. Aber diese durch das Veronal hervorgerufe¬
nen Zwischenglieder bleiben hier nicht nur wirksam, nachdem die
Veronalzufuhr abgeschnitten ist, sondern sie äußern ihre Wirkung
gerade dann erst in steigendem Maße, nachdem direkte Folgen de<
Veronals, wie glänzende Augen, lallende oder anstoßende Sprache,
verschwunden sind. Stände unser Fall isoliert, so würde man an
unmittelbare Folge der Abstinenz denken. Heute ist man mehr ge¬
neigt, die Abstinenz als mitwirkenden Faktor ganz auszuschalten. Daß
dies zu weit geht, dafür spricht auch unser Fall Man wird hier eine
Wirkung, mindestens eine mittelbare Wirkung der Veronalentziehung
auf den Ausbruch der Psychose annehmen müssen. Wenn ich (S. 564 o.)
ausführte, daß als ein äußerer Anlaß auch der Anstaltaufenthalt
gelten könne, so darf doch nicht übersehen werden, daß er in stärkerem
Maße nur durch die Verbindung mit der Abstinenz wirken konnte,
da bei Fortgebrauch des Mittels Schlaf und Stimmung nicht in solchem
Grade gelitten hätten. Auch haben mir die Angehörigen nachträglich
angegeben, daß der Versuch der Kranken, sich zu Haus das Mittel
abzugewöhnen (vgl S. 547), hauptsächlich deshalb aufgegeben werden
mußte, weil sich bedenkliche Erscheinungen auch psychischer Art.
speziell delirienartige Zustände, einstellten. Wenngleich die Er¬
scheinungen damals gewiß viel milder waren, wie dies auch dem
1 ) Fischer u. Hoppe, Das Verhalten des Veronals im menschlichen
Körper. Münch, ined. Wchnschr. 1909, S. 1429.
*) C. Bachem, Das Verhalten des Veronals im Tierkörper bei ein¬
maliger n. bei chronischer Darreichung. Arch. f. exper. Pathol. Bd. 63,
S. 228.
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Ein Fall von akuter Psychose nach chronischem Veronalgebrauch. 567
kürzeren und geringeren Veronalgebrauch (damals 4 Jahre und zu¬
letzt 0,75 tägL, jetzt 6*4 Jahre und zuletzt 1,5 tägL) entsprechen
würde, so bleibt doch bemerkenswert, daß Delirien nach Fortlassung des
Veronak auch zu Hause auftraten. Dann aber k mmt dem Anstaltauf¬
enthalt keine andere Bedeutung z i als den Erregungen, denen Pat. auch
zu Hause ausgesetzt war, und das wesentliche Moment ist in beiden
Fällen der Fortfall des Veronals und die dadurch bedingte Verminde¬
rung der Widerstandfähigkeit gegen äußere Eindrücke. Diese waren
Gelegenheitsursachen, die erst dann wirkten, als die aus der Veran¬
lagung durch die „ätiologischen Zwischenglieder“ und die psychischen
Folgen des chronischen Veronalgebrauchs entstandene Disposition
durch den Fortfall des Veronals gewissermaßen ihres letzten Schutzes
beraubt und jedem Angriff preisgegeben ward.
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Kleinere Mitteilungen.
Die Jahresversammlung der Vereinigung katholischer
Seelsorger an deutschen Heil-und Pflegean¬
stalten findet am 27. August in der Heil- und Pflegeanstalt St.
Vincenz zu Rottenmünster bei Rottweil (Württ.) statt. Beginn 8% Uhr.
Ref.: De absolutione conditionata (Dr. .Fami/fer-Regensburg); De assi-
stentia in articulo mortis (Pf. .Si/non-Eglfing); Grundzüge für die Dienst¬
vorschriften der Hausgeistlichen, a) an staatlichen Anstalten (Dr. Familler-
Regensburg), b) für klösterliche Anstalten (Kapl. Beutez -Rottenmünster).
Nachm. Besichtigung der dortigen Anstalt der Barmh. Schwestern von
Untermarchtal. Am 28. August Besuch der Kgl. Württ. Heilanstalt
Zwiefalten und des Klosters in Untermarchtal.
Die diesjährige (III.) öffentliche Tagung des Internationalen
Vereins für medizinische Psychologie und Psy¬
chotherapie wird am 8. und 9. September in Zürich in unmittel¬
barem Anschluß an den Schweizer Psychiatertag und die Tagung der
Internationalen Liga gegen Epilepsie stattfinden. I. Referate: 1. Das
Unbewußte resp. Unterbewußte, a) Das Unbewußte (Prof. Bleuler),
b) Der psychische Mechanismus der Wahnideen (Dr. Hans Maier);
2. Theorien der sensiblen Leitung, a) The peculiarities of sensibility
found in coutaneous areas supplied by regenerating nerves (Dr. Davies),
b) Conductibililö de la sensibilitö (Dr. Bertholel); 3. Methoden und
Grenzen der vergleichenden Psychologie, a) Etudes des phönomenes
mnömiques chez les organismes införieurs (Dr. RoAn-Paris), b) Die Be¬
deutung der neuentdeckten Zellstrukturen für die Zellphysiologie und
Psychologie (Dr. 5’/aM//acAer-Frauenfeld), c) Methoden und Sinn der
vergleichenden Psychologie (Dr. A. Forel). II. Vorträge: Die Psycho¬
therapie auf der inneren Klinik (Dr. v. iV/aM/ZenAerg-München); The
relation of anxiety-neurosis to anxiety-hysterie (Dr. Jones-Toronto);
Über das Verhalten der psychogalvanischen Reflexphänomene bei Alkohol-
Wirkung (Dr. Ph. Stein- Budapest). Anmeldungen von Vorträgen an
Prof. Dr. A. Forel, Yvorne, Kant. Waadt.
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UNIVERSITY OF MICHIGA&L
Kleinere Mitteilungen.
569
Die bisherige Filialanstalt Hördt im Elsaß ist seit dem 1. April
von Stephansfeld abgetrennt worden und hat eigene Verwaltung er¬
halten. Sie ist jetzt gemeinsame Pflegeanstalt der drei Bezirke des
Reichslandes. Die Oberaufsicht führt der Bezirkspräsident des Unter -
eisaß. Ferner ist das in Hördt neu errichtete feste Haus eröffnet worden,
welches zur. Aufnahme gefährlicher Geisteskranker aus den drei Bezirken
dienen soll.
Der Reichs verband der deutschen Presse (Vor¬
sitzender: Marx, Chefredakteur des „Tag“) hat auf seiner Generalver¬
sammlung am 17. Juni einige Beschlüsse gefaßt, die auch für uns von
Interesse sind. So soll der Vorstand dahin wirken, „daß die Gerichts¬
berich t-erstatter von Zeitungen sich der Berichterstattung über den Teil
von Prozessen, in denen von sexuellen Feststellungen die Rede ist, enthal¬
ten, für den die Öffentlichkeit zwar ausgeschlossen, die Presse aber zu-
gelassen ist“. Auch sei anzustreben, daß Stimmungsbildern über der¬
artige Prozeßverhandlungen jede sensationelle Ausschmückung fernge¬
halten werde. Ferner ward beschlossen, zwei Vertreter zu einer psy¬
chiatrisch * publizistischen Vertrauen skommis-
sion*) zu delegieren, die durch ihre Zusammensetzung die Gewähr
für eine objektive Prüfung aller derjenigen Fälle der Aufnahme und Be¬
handlung in Irrenanstalten bieten soll, welche zu öffentlicher Kritik
Anlaß geben. Die Kommission soll beitragen zur Beseitigung von Mi߬
ständen und Mißverständnissen auf dem Gebiete der Irrenpflege, nament¬
lich der Internierung usw. Mitglieder der Kommission sollen außerdem
3 Psychiater sein. Nicht ohne Bedeutung für die Berichterstattung über
medizinische K o n g r e s s e ist endlich folgender Beschluß: Der
Reichsverband spricht sich mit Entschiedenheit gegen die Bestrebungen
aus, die freie Berichterstattung über Kongresse zu hindern und den Zei¬
tungen die alleinige Verwendung offizieller Kongreßberichte vorzu-
schreiben. Er erwartet, daß jeder derartige Versuch mit völliger Ein¬
stellung der Berichterstattung über die betr. Veranstaltung beantwortet
wird“ (D. med. Wchnschr. Nr. 26).
Dem Verein zum Austausch der Anstaltbe¬
richte ist die gemeinsame Pflegeanstalt der drei Bezirke des Reichs¬
landes in Hördt beigetreten.
Personalnachrichteti.
Dr. Alois Alzheimer, ao. Professor und wissenschaftlicher Assistent an
der psychiatrischen Klinik zu München, ist als o. Professor
*) Vgl. diese Ztsehr., S. 145 dieses Jahrgangs.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
570
Kleinere Mitteilungen.
und Direktor der psychiatr. und Nervenklinik nach Breslau
berufen und hat die Berufung angenommen.
Dr. Bruno Koritkowshi hat seine Privatheilanstalt für gemütskranke
Herren von Groß-Lichterfelde nach Bergstücken - Neu ¬
babelsberg verlegt.
Dr. Joh. Haberkant, bisher Oberarzt, ist Direktor der gemeinsamen
Pflegeanstalt des Reichslandes in Hördt geworden.
Dr. Viktor Tomaschny , Oberarzt, ist von Treptow a. R. an die neugebaute
Anstalt bei Stralsund versetzt worden.
Dr. Franz Kramer, Priv.-Doz. in Breslau, hat den Titel Professor
erhalten.
Dr. Carl Moeli, Prof. u. Dir. der städt. Anstalt Herzberge in Berlin-
Lichtenberg, Ref. im Ministerium des Innern, ist zum Geh.
Obermedizinalrat,
Dr. Ludwig Römheld, Direktor in Alzey, und
Dr. Hans Dietz, Oberarzt an der Landesanstalt Gießen, sind zu Medi¬
zinalräten,
Dr. Wilh. Horstmann , Dir. der Prov. Heilanstalt Stralsund, zum Sani¬
tät s r a t ernannt worden.
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UNIVERSfTY OF MICHIGAN
Am Abend des 5. September entschlief sanft in Göttingen der
Geheime Medizinalrat
Professor Dr. August Cramer
im 62. Lebensjahre. 17 Jahre hat er der Universität Göttingen als
Lehrer, davon 11 Jahre als o. Professor angehört Aber wie er in
dieser kurzen Zeit nach allen Richtungen gewirkt hat, das lehrt ohne
Weiteres ein Blick auf das Provinzialsanatorinm Rasemflhle, auf die
neaentstandene Klinik, auf die umgewandelte Provinzialanstalt mit
den ihr neuangegliederten Instituten und, wenn wir Aber Göttingen
hinausschauen, der Unterschied in der Bedeutung der Psychiatrie für
die Provinz Hannover jetzt und vor 12 Jahren. Denn so viel Cramer
rein wissenschaftlich geleistet hat, seine Begabung drängte fast mehr
noch auf Betätigung in der praktischen Psychiatrie — in der er vor
der Göttinger Zeit die vorzügliche Schulung August Zinns in Ebers¬
walde durcbgemacht hatte — und auf die Nutzbarmachung der
psychiatrischen Wissenschaft auf weiteren Gebieten; ich erinnere nur
daran, wie viel ihm die gerichtliche Psychiatrie und die Fürsorge¬
erziehung zu verdanken haben.
So drang Cramer, einem Eroberer vergleichbar, in raschem
Ansturm nach allen Seiten vor, Erfolge und Ehren, wie sie einem
Psychiater erreichbar sind, fielen ihm in verhältnismäßig frühen Jahren
zu, und nach Ablehnung der Berliner Professur schien er, das Urbild
männlicher Kraft und Frische, auf der Höhe seiner Leistungfähigkeit
und seines Einflusses angelangt, da stand vor ihm der Allsieger Tod:
eine bösartige Geschwulst zwang den kräftigen Körper in wenigen
Monaten nieder. Durch eine Operation vorübergehend von seinen
Beschwerden befreit, nahm Cramer noch in früherer Lebendigkeit an
der Pfingstversammlung des Deutschen Vereins für Psychiatrie in Kiel
teil, und wenige werden geahnt haben, daß wir so bald an der Bahre
des magerer und blasser gewordenen, aber noch immer starken und
lebensfreudigen Mannes trauern würden.
Ein reichbegabter und tatkräftiger Mensch, ein ebenso fleißiger
Arbeiter wie tüchtiger Organisator, ein hervorragender Arzt und Lehrer,
ein erfolgreicher Forscher und Schriftsteller ist in ihm dahingeschifeden,
vor allem aber eine sieghafte und glückliche, lebensprühende Per¬
sönlichkeit, die auch Femerstehenden unvergeßlich bleiben wird.
H. L.
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UNIVERSETY OF MICHIGAN
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Dementia paralytica bei den Eingeborenen yon
Java und Madura.
Von
P. C. J. ran Brero,
vorm. Direktor der Staatsirrenanstalt zu Lawang (Java).
Fast alle Autoren, die über Geisteskrankheiten bei unkultivierten
Rassen geschrieben haben, waren bis jetzt der Meinung, daß dort
Dementia paralytica äußerst selten sei oder sogar gänzlich fehle.
Die wünschenswerten Daten hierüber findet man in der wertvollen
Arbeit von Revesz.
Für die niederländisch-ostindische Inselgruppe entsprach dieser
Auffassung die anscheinende Tatsache, daß die Paralyse bei den nicht-
europäischen Insassen der Irrenanstalten sich sehr wenig zeigte.
Diese Bevölkerung besteht aus Eingeborenen von Java, Madura
und anderen weniger bekannten Inseln des Archipels und zuletzt
aus fremden Orientalen, zu denen die Chinesen einen nicht unbeträcht¬
lichen Bruchteil stellen. Es ist dies also eine sehr heterogene Menschen¬
gruppe angesichts nicht nur der Rasseneigentümlichkeiten, sondern
auch der großen sozial-ökonomischen Ungleichheiten, die die Be¬
urteilung recht erschweren.
Infolge dieser Überlegung zog ich, um das Verhältnis der Paralyse
zu den übrigen Irrsinnsformen auf andere Weise festzustellen, nur
die eingeborenen Geisteskranken von Java und Madura in
Betracht, weil die Eingeborenen dieser beiden politisch zueinander
gehörigen und am besten bekannten Inseln, trotz ihrer verschiedenen
Benennung, in anthropologischer und sozial-ökonomischer Beziehung
einander am nächsten stehen. Sie werden nämlich unterschieden
in Sundanesen, welche den westlichen Teil Javas, in eigent¬
liche Javaner, welche Mittel- und Ost-Java und in Madu-
resen, die Ost-Java und Madura bewohnen.
Zeitschrift für Psychiatrie. LXIX. 5. aq
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
572
van Brero,
Noch eine zweite Überlegung beeinflußte mein Vorgehen; sie
gründete sich auf der Beobachtung, daß die Sterblichkeit bei dieser
organischen Psychose sich schon in den ersten manifesten Stadien
der Krankheit nachdrücklich geltend macht, daß sozusagen der Tod
gerade bei den inländischen Anstaltinsassen eine für die Paralyse
ungünstige Auslese ausübt, wie untenstehende Tabelle ausweist,
wo unter 30 Todesfällen innerhalb oder kurz nach dem ersten Halb¬
jahre der Verpflegung, 7 Paralytiker, also beinahe 23,5%, sich befanden
und von den 20 im ganzen gestorbenen Paralytikern 7, also 35%,
schon innerhalb des ersten Halbjahres aus den Anstaltlisten ver¬
schwanden.
Sterbefälle
bei den inländischen
im 1.
oder kurz
im 2.
im 3.
im 4.
im 6.
im 6.
Insassen der Irren-
nach dem
Halb-
Halb-
Halb-
Halb-
Halb-
Total
anstatt Lawang von
Juli 1902 bis Mai 1909.
1. Halb¬
jahr
jahr
jahr
jahr
jahr
jahr
Amentia .
11
3
4
2
3
6
29
Periodische Manie ...
1
2
1
—
—
—
4
Paranoia.
—
—•
—
—
—
1
1
Hypochondrie.
Epilepsie.
Idiotie.
2
1
1
1
—
1
1
1
4
1
7
4
Dementia secundaria.
9
2
3
—
2
38
64
Dementia paralytica .
7
3
6
—
—
4
20
Total
30
11
16
2
7
54
120
Dies und auch der Umstand, daß damals in der Anstalt zu
Buitenzorg die Krankenbewegung für eingeborene Geistes¬
kranke nicht lebhaft war, weil die neu eröffnete Anstalt zu L a w a n g
für diese fast ausnahmlos bestimmt war, mag wohl die Ursache sein,
daß Kraepelin im erstgenannten Ort gar keine eingeborenen Para¬
lytiker traf.
Es wurden also nur die einheimischen, geisteskranken Bewohner
von Java und M a d u r a und von diesen nur diejenigen, welche
nicht aus anderen Irrenanstalten übernommen wurden, in Betracht
gezogen.
Tabelle der von Juli 1902 bis Mai 1909 aufgenommenen, männlichen
Eingeborenen Javas und Maduras (Nomenklatur und Klassi¬
fikation hauptsächlich nach Meynert):
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Dementia paralytica bei den Eingeborenen von Java and Madnra. 573
Melancholie ||
Manie ||
Amentia
Paranoia |
Hypochondrie |
£>
*c
©
CO
X
.2
*55
Q-
.2
'S.
W
zirk. Psychosen ||
per. Melancholie |
period. Manie ||
period. Amentia
Idiotie 1
Imbecillita8 ||
Dementia
secundaria
Dementia
paralytica
noch nicht
diagnostiziert
1
Javaner...
2
_
263 1 ) 2 )
6
2
B
36
2
_
68
1
9
6
101
28
10
534
Sundanesen
1
—
24i)2)
—
1
B
—
B
—
8
—
—
—
29
4
—
67
Maduresen
—
—
231)2)
J_
H
B
B
B
3
—
—
—
6
1
3
38
Total
□
310
7
3
—
37
2
—
79
n
o
6
136
33
13
639
Prozentisch
—
48
1,1
0,5
—
6,9
0,3
—
12
0,16
1,6
1
21,3
5
2
—
Unter den 626 von 1902—1909 in die Anstalt zu L a w a n g
aufgenommenen einheimischen Irren befanden sich also 33 Paralytiker
oder beinahe 5,3%, und zwar für die Javaner 5,4%, die Sundanesen
6%, die Maduresen 2,8%, Zahlen, welche im Vergleich mit denen der
Kulturstaaten nicht hoch, aber doch nicht ganz unbeträchtlich sind,
und das um so mehr, als ohne Zweifel der wirkliche Prozentgehalt
höher anzuschlagen ist; erscheint doch die Zahl der sekundär Dementen
(136 auf 626) noch sehr groß, was für viele eine schon seit längerer
Zeit vor der Aufnahme in die Irrenanstalt bestehende Geisteskrankheit
bedeutet.
Es wäre nicht undenkbar, daß auch in anderen Tropenländern
höhere Ziffern sich heraussteilen würden, wenn die Statistik in dieser
oder ähnlicher Weise einer Prüfung unterstellt würde.
Um ein richtiges Krankheitverhältnis zu bekommen, ist unbedingt
an erster Stelle nötig eine ausgiebig und leicht zugängliche Anstalt,
die noch in den meisten Tropenländern vermißt wird, übrigens
sind in letzter Zeit von Stieda in Japan (15%), von Sicard in
Algier (9,77%), von Marie in Ägypten, Wolff in Syrien,
Moreira in Brasilien und Berkley in den Vereinigten
Staaten steigende Zahlen festgestellt worden; nach dem letzt¬
genannten Autor befällt die Paralyse die Neger in beiden Geschlechtern
sogar weit häufiger als die Weißen, während sie noch vor wenigen
Jahren bei ihnen fast unbekannt war.
*) Wobei mit Amentia cum Stupore 38 Javaner, 6 Sundanesen,
2 Maduresen.
*) Wobei mit Amentia transitoria 9 Javaner, 0 Sundanesen,
2 Maduresen.
40*
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
574
van Brero,
Einige kurze Notizen über die Bevölkerung Javas und die
Merkmale der bei diesen Kranken beobachteten Paralyse mögen
hier folgen.
Die beiden Inseln, zusammen 2388 Q geographische Meilen
groß, zählen 29 715 900 Eingeborene, welche, die Zentren ausgenommen,
fast ausschließlich den Ackerbau treiben. Die Arbeit ist noch nicht
spezialisiert, so daß der einzelne selber die Wohnung baut, größten¬
teils die einfachen Werkzeuge herstellt und die Frau seine Kleidung
besorgt. Die Heiraten finden früh statt, können leicht gelöst und
erneuert werden. Die Lebensbedingungen sind nicht drückend, und
so lebt der Eingeborene, der sich den Kopf für den morgigen Tag
nicht zerbricht, ohne große Sorgen und einfach, weil die Mittel zu
Ausschreitungen ihm meistens fehlen. Der Gefahren eines Aufbrauches
des Nervensystems sind darum auch nicht Viele.
Seine Glaubenslehre ist die musulmanische, diese ist aber nur
formell, im Grunde denkt er animistisch, wie seine heidnisch ge¬
bliebenen Landgenossen im T e n g e r gebirge.
Er hat seine guten und schlechten Eigenschaften; zu den letzten
gehören eine hochgradige Indolenz, auch für körperliches Leiden,
und eine reizbar-schwache Auffassung von Ehrensachen.
Über Syphilis und Genußmittel verweise ich der Kürze halber
auf meinen Aufsatz über die Geisteskrankheiten der Bevölkerung
des malaiischen Archipels in dieser Zeitschrift Bd. 53, S. 25.
Die Symptomatologie der Paralyse ist bei den Eingeborenen
nicht sehr verschieden von der bei Europäern, die Größenwahnideen
werden nicht so laut und ungefragt und nicht so barock geäußert.
Die in der Anstalt beobachtete Form ist die klassische, mit Exalta¬
tion anfangend und mit Demenz endend; die demente Paralyse wird
viel weniger angetroffen, wahrscheinlich kommen diese gewöhnlich
harmlosen Kranken nicht zur Aufnahme. Deutlich stationäre Formen
bin ich nicht in der Lage zu geben, weil mir eine genügend lange Beob¬
achtungzeit fehlte; vermutlich werden sie aber nicht vermißt. Klare
Remissionen sah ich auch nicht, jedenfalls keine langdauemde. Beim
18. Fall war eine Andeutung vorhanden, und möglicherweise waren im
20. Fall die Erscheinungen von Amentia bei der Aufnahme schon als
Anfang der späteren Paralyse und die Heilung (mit Krankheit¬
einsicht) als Beginn einer Remission aufzufassen.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Dementia paralytica bei den Eingeborenen von Java und Madura. 575
Das Prodromalstadium kommt dem Irrenarzt bei den Eingeborenen
nicht zu Gesicht; auffallend ist die häufig vorkommende Neigung
• zu Brandstiftungen, die oft den Grund zur Aufnahme bildet.
Über die Dauer der Krankheit ist wegen der ungenügenden Daten
nicht viel zu sagen; bei der Mehrzahl fiel die Psychose in das 40. bis
50. Lebensjahr; diese Lebenszeit ist indessen nur geschätzt, weil das
genaue Geburtsdatum bei Eingeborenen in der übergroßen Zahl
unbekannt ist.
Weder beim Weibe der polynesischen noch der gemischten Rasse
fand ich Paralyse; die Bedingungen zur Entstehung der Krankheit
beim weiblichen Geschlecht sind offenbar noch nicht so stark und
dringlich.
Von den 27, deren Beruf bekannt ist, sind je 3 Landwirte und
Taglöhner, wozu nur geringe geistige Fähigkeiten erforderlich sind;
mit Ausnahme des Bettlers gehören die übrigen zu den öffentlichen,
kommerziellen und industriellen Berufen, welche schon höhere in¬
tellektuelle und emotionelle Anforderungen an das Gehirn stellen.
Auch hier zeigen sich also die Personen mit erhöhtem Nervenaufbrauch
am meisten gefährdet.
Alkohol und die schädlichen Faktoren des Kulturlebens fallen
ätiologisch in diesen Tropenländern aus, über Heredität und Syphilis
läßt sich anamnestisch nichts Sicheres eruieren. Körperlich ließen sich
bei 21 Kranken Zeichen von Lues feststellen, bei 1 verdächtige Sym¬
ptome, bei 9 keine, und bei 2 blieb dies unbekannt. Man geht wohl
nicht fehl, wenn man die Syphilis bei diesen Kranken als unbehandelt
annimmt, wie dies bei fast allen einheimischen Tropenbewohnern
der Fall ist. Degenerationszeichen fanden sich in 21, keine in 8 Fällen,
während dies in 4 Fällen nicht bemerkt ist.
Die pathologische Anatomie bietet keine Unterschiede bei der
weißen und gefärbten Rasse.
Es sollen hier die kurzen und nur oft zu mangelhaften Kranken¬
geschichten folgen; mikroskopische Untersuchungen des Leichen¬
materials konnten leider nicht angestellt werden.
1. Sundanese, Kleinhändler, 35 J., verheiratet, seit anfangs De¬
zember 1903 irrsinnig, 24. Februar 1904 aufgenommen und 29. August
1906 gestorben.
Veranlassung zur Aufnahme: Wutausbrüche, Neigung zum Brand¬
stiften und Selbstmord.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
576
van Brero,
Erscheinungen: Dämmerzustand mit unzweckmäßigen Handlungen,
Unruhe, Verwirrtheit, Schlaflosigkeit, Unreinlichkeit. Nach eingetretener
Ruhe und Luzidität wird erheblicher Blödsinn und Silbenstolpern deut¬
lich, weitere Untersuchungen wegen ängstlichen Widerstandes unmöglich,
Kubitaldrüsen verhärtet.
Patient fiel im Badezimmer, wodurch er sich eine leichte Kopfwunde
zuzog, ward bewußtlos und zeigte stertoröses Atmen mit vollem, regel¬
mäßigem Pulse, allgemeine Hypertonie der Gliedermuskeln, verstärkte
Patellarreflexe, aufgehobene Konjunktival- und erhaltene Kornealreflexe
mit aufwärts gedrehten Bulbi; nach zwei Tagen ist das Bewußtsein wieder-
gekehrt, sind die Pupillen normal weit, nicht auf Licht reagierend, r. >* 1.;
Stehen und Gehen wegen Spasmus unmöglich, Schlucken erschwert,
drohender Dekubitus. Ein bald sich einstellender apoplektiformer Insult
machte dem Leben ein Ende. Keine Sektion.
2. Madurese, Landwirt, 60 J., verheiratet, seit Oktober 1903 geistes¬
krank, Juli 1904 aufgenommen, September 1904 gestorben. 9 Monate
vor der Aufnahme Fieber mit klonischen Krämpfen in Armen und Beinen
mit nachfolgender Verwirrtheit, Unruhe, Herumirren und Aggression.
Erscheinungen: Dämmerzustand, greift um sich her, klammert sich
an alles fest, stößt allerlei Laute aus, nur nach eindringlicher Frage gibt
er seinen Namen an. Heruntergekommene Person mit einem Abszeß
unter der linken Brustwarze und vielen verdächtigen Wunden an den
Gliedern, aber keine Drüsenschwellungen.
11. Juli. Epileptiformer Anfall mit tonischen Krämpfen aller
Gliedermuskeln, erhöhter Temperatur, aufgehobenem Bewußtsein, Zähne¬
knirschen, beweglichen Pupillen, rechts etwa 4, links 2 mm weit, rechts
Othämatom. Bewußtsein kehrt bald wieder, ohne Lähmungen zu hinter-
lassen.
16. Juli. Epileptiformer Anfall mit klonischen Krämpfen der
rechten Körperhälfte, welcher den folgenden Tag ohne motorische Störungen
verschwindet; Dekubitus am Sakrum.
Unter zunehmendem Marasmus stirbt Patient in Sopor mit einer
Temperaturerhöhung, welche vom 11. Juli mit unregelmäßigen Remissionen
und Intermissionen fortdauerte und nicht auf Chinin reagierte. Sektion
konnte nicht gemacht werden.
3. Sundanese, ohne Beruf, 54 J., verheiratet, seit Mai 1904 krank,
20. September 1904 aufgenommen und 30. September 1904 gestorben.
Aufnahmegründe: Zerstörungstrieb, Mißhandlung seiner Kinder,
Verwirrtheit.
Erscheinungen: Dämmerzustand, Mutismus, zweckloses Herum¬
greifen, Aufschreien derselben Laute und Worte, Weinen, Unreinheit,
starke Unruhe, so daß Untersuchung unmöglich ist.
25. September. Epileptiformer Insult, gänzlich besinnunglos.
Pupillen etwa 2 mm weit, gleich, ohne Lichtreaktion. Arm in Flexion-,
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Dementia paralytica bei den Eingeborenen von Java und Madura. 577
1. Bein in Extensionstellung, r. Fuß mit klonischen Krämpfen, faszikuläre
Zuckungen im rechten Arm. Mundfazialis und breite Bauchmuskeln
in klonischen Konvulsionen. Mittags waren die Krämpfe verschwunden,
nur hier und dort faszikuläre und fibrilläre Zuckungen.
26. September. Alle Muskeln rigide, besonders 1. R. Antlitzhälfte,
Arm und Bein mit faszikulären Zuckungen, auch im 1. Beine, besonders
nach Berührung dieser Körperteile. Bulbi nach 1. gedreht, Schlucken
ist erschwert, Dekubitus.
29. September. Nur Crampi Muse, front, und einzelne Konvul¬
sionen im r. Arm, Bewußtsein bleibt tief gestört. Exitus am folgenden
Tag; Sektion konnte nicht stattfinden.
4. Javaner, Füselier, 35 J., unverheiratet, 29. November 1903
aufgenommen, 6. Februar 1905 gestorben.
Aufnahme wegen Zerstörung, Größenwahns, Aggression, Brand¬
stiftungneigung.
Erscheinungen: Unorientiertheit, Personenverwechslung, Unruhe,
vor sich hin Schwatzen, Unreinlichkeit, progressive Demenz, allmähliche
Parese der Unterextremitäten mit schleppender Gangart, tremulierende
Sprache, erhöhte Patellar- und Ulnarreflexe, verengte, unbewegliche
Pupillen, zunehmende Schwäche und Decubitus Sacri. Weit abstehende,
flache Ohren.
Stirbt in Koma mit allgemeinen Konvulsionen.
Ätiologie: Syphilis.
Sektion: Hirngewicht 1333. Dura mit Schädeldach verwachsen,
Leptomeningen stark verdickt, sehr trübe und ödematös; nicht mit der
Rinde verwachsen. Frontalgyri sehr verdünnt; starker Hydrocepnalus
internus, keine Ependymgranulationen.
5. Javaner, kein Beruf, 40 J., unverheiratet, August 1903 auf¬
genommen, Juni 1905 gestorben.
Erscheinungen: Verwirrtheit, Unorientiertheit, Größenwahn, reiz¬
bare Stimmung, Silbenstolpern, bei Zeiten unruhig und schlaflos, pro¬
gressive Demenz und allmähliche Ruhe. Langsam eintretende Parese
der Beine, 1. Fazialis paretisch, stark erhöhter Kniereflex, Unreinlichkeit,
Pupillen wegen ängstlichen Widerstandes nicht zu untersuchen. Unregel¬
mäßiger Stand der Zähne, schiefe Augen, überall am Körper Ulzerationen,
Drüsenschwellung, stirbt im Marasmus.
Sektion: Hirngewicht 1112. Dura mit Pia verwachsen, letztere
ödematös, anämisch, trübe, nicht adhärent. Gyri centrales, besonders
die frontales, verdünnt, Ventrikelhöhlen erweitert, leicht körnige Ober¬
fläche der Corpp. caud. und des Bodens des IV. Ventrikel.
6 . Javaner, Hausdiener, 40 J., verheiratet gewesen, seit Oktober
1901 geisteskrank, aufgenommen 23. Oktober 1902, starb marantisch
November 1905.
Aufnahmegründe: Zerstörungstrieb, Aggression
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UMIVERSITY OF MICHIGAN
578
van Brero,
Erscheinungen: Tiefe Demenz, reizbare Stimmung, Neigung zur
Aggression, zurzeit unruhig, Sammelsucht. Schlaffe Haltung, schleppender
Gang, blöde Gesichtzüge, Patellar- und Radiusreflexe erhöht, Babinski +,
Pupillen normaler Größe, reagieren träge auf Licht. Fibrilläre Zuckungen
der Mundmuskeln und Zunge, Silbenstolpern und tremulierende Sprache,
Salivation, Unreinlichkeit. Flaches Hinterhaupt und Caput progenaeum,
keine Luessymptome.
4. Dezember. Leichter paralytischer Insult ohne folgende Läh¬
mungen.
Januar 1903. Othämatom beiderseits.
Vom 13. bis 23. Juli epileptiformer Anfall mit klonischen, in Inten¬
sität wechselnden Konvulsionen r., welche als fibrilläre Zuckungen endeten,
Krämpfe der Muse, front, beiderseits, gänzlich bewußtlos.
22 . August. Kurzdauernder epileptiformer Insult mit klonischen
Zusammenziehungen r.
Nach einer monatelangen y 2 —1° C. erhöhten ‘Mittagstemperatur,
nicht auf Chinin reagierend, stirbt Patient ganz gelähmt in tiefster Demenz.
Sektion: Hirngewicht 1095. Haematoma durae matris älteren
Datums, stark mit Dura, leicht mit Pia verwachsen; letztere trübe, aber
nicht adhärent, Fronto-parietalwindungen schmal, Sulci verbreitert,
Boden des IV. Ventrikels granuliert. Blutgefäße ohne sichtbare Ver¬
änderungen.
7. Javaner, Kuli, 40 J., aufgenommen August 1904, gestorben
September 1905.
Aufnahmegründe: Belästigung der Umgebung.
Erscheinungen: Unruhe, Verwirrtheit, Desorientation, Größenwahn,
erheblicher Blödsinn, zwecklose Handlungen, später Dämmerzustand.
Patellarreflexe nicht zu bestimmen; r. Pup. > 1., keine Lichtreaktion;
linke Fazialis paretisch; Gang breitbeinig und schleppend; unreinlich;
keine Sprachstörungen; Dekubitus am Sakrum und Trochanteren; Narben
in der Inguinalgegend beiderseits und am Penis, allgemeine Drüsen-
Schwellung. Caput progenaeum. Stirbt in Marasmus.
Sektion: Hirngewicht 1029. Pia front, und parietal, trübe, stark
verdickt und ahhärent, Gyri, besonders die Frontales, sehr dünn. Hydro-
cephalus internus, keine Ependymgranulationen.
8 . Javaner, Kanonier, 45 J., unverheiratet, seit November 1902
geisteskrank, aufgenommen Juli 1903, starb Oktober 1907 in Marasmus.
Aufnahmegründe: Angstanfälle mit Neigung zu Gewalttätigkeiten.
Erscheinungen: Verwirrtheit, Neigung sich auszuziehen und zu
schmieren, Schlaflosigkeit, Unruhe, Salivation, Dämmerzustand mit
folgender progressiver Demenz bis zur Sprachlosigkeit, schrie vorher
allerhand unartikulierte Laute. Gang breitbeinig und schleppend, zuletzt
gänzlich paralytisch, 1. Fazialis gelähmt, Pup. verengt und unregelmäßig
geformt, Kniereflexe erhöht, später verschwunden. Keine Erscheinungen
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Dementia paralytica bei den Eingeborenen von Java und Madnra. 579
von Lues, an der 1. Seite des Vorderkopfes eine große Haut - und Knochen -
narbe. Plumper Gesichtschädel.
Sektion: Hirngewicht 1243, keine Verwachsung von Dura und
Schädelknochen an der Frakturstelle, Pia nicht adhärierend, Frontalgyri
verdünnt, keine Granulationen, sehr weite mit heller, weißgefärbter
Flüssigkeit gefüllte Ventrikelhöhlen.
9. Javaner, ohne Beruf, 40 J., verheiratet, aufgenommen Dezember
1903, gestorben Mai 1906.
Aufnahmegründe: Verwirrtheit.
Erscheinungen: Unorientiertheit, fortschreitender Blödsinn bis zur
Sprachlosigkeit, vorher verwirrt, unreinlich, ruhig, spastische Parese der
Beine bis zur völligen Paralyse und Kontraktur, verstärkte Haut- und
Sehnenreflexe, keine Fazialisparese, Pupillen 1 mm weit ohne Licht¬
reaktion, Othämatom, keine Lueserscheinungen, Arcus senilis praecox;
in den letzten Lebenstagen Fieber ohne Chininreaktion.
Sektion: Hirngewicht 1262, Pia mit Rinde verwachsen, Frontalgyri
sehr verschmälert, Hirngewebe sehr ödematös, keine Granulationen,
bedeutender Hydrocephalus internus und externus.
10 . Javaner, Kleinhändler, 40 J., verheiratet, seit April 1902
geisteskrank, aufgenommen Dezember 1903, August 1907 plötzlich ge¬
storben nach bedeutender Gewichtzunahme.
Aufnahmegründe: Reizbarkeit, Neigung zur Aggression und Vaga-
bondage, Größenwahn und Verwirrtheit.
Erscheinungen: Tiefster Blödsinn, ruhig, aber ängstlich wider¬
strebend, bisweilen aggressiv, nicht unreinlich.
Haut- und Kniereflexe erhöht, Babinski +, Gang schleppend, 1.
Fazialis paretisch, Pup. nicht zu untersuchen, Silbenstolpern, tremulierende
Sprache bis zur Unverständlichkeit, Narben von beiderseitigem Othäma¬
tom, indolente Drüsenschwellung in cubitu, plump geformtes Antlitz.
Sektion: Hirngewicht 1289, Frontalgyri verschmälert und Sulci
verbreitert, Pia trübe, nicht verwachsen, Hirnhöhlen erweitert, keine
Granulationen.
11 . Javaner, Marinematrose, 45 J.. aufgenommen Juli 1905, in
Marasmus gestorben Dezember 1905.
Erscheinungen: Tiefe Demenz, sprachlos, ab und zu unartikulierte
Laute, zweckloses Umherirren mit einzelnen stereotypen Handlungen.
Gang breitbeinig und schleppend, r. Fazialis paretisch, fibrilläre
Zuckungen der Mundmuskeln bei der Ernährung, Pupillenuntersuchung
wegen ängstlichen Widerstands unmöglich, schnell heilender Dekubitus
an den Trochanteren, keine Zeichen von Syphilis, Caput progenaeum,
Prognathie. Zunehmende spastische Lähmung mit Babinski, Dekubitus
und Keratitis mit Hypopion, in Panophthalmie endend, blutige Blasen
an den Füßen, Monate lang subfebrile Mittagtemperatur, nicht auf Chinin
reagierend.
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580
van Brero,
Sektion: Hirngewicht 1239, Leptomeningen sehr ödematös, trübe,
hyperämisch, adhärierend. Frontalgyri verdünnt, Hirnhöhlen erweitert.
12 . Javaner, Kutscher, 40 J., verheiratet, seit Juni 1905 irrsinnig,
Oktober 1905 aufgenommen, Juni 1906 gestorben.
Aufnahmegründe: Verwirrtheit, Aggression und Schlaflosigkeit.
Erscheinungen: Fortschreitende Demenz, Verwirrtheit, stereotype
Laute, amönomane Stimmung bis zur Unruhe, Größenwahnideen, Brady-
lalie, zurzeit Silbenstolpern.
Allmählich eintretende Paresen bis zur Bettlägerigkeit, Unreinlich¬
keit, 1. Fazialis paretisch, Hände ataktisch, Patellarreflexe erhöht, Pup.
2 mm weit, gleich, nicht auf Licht reagierend. Allgemeine indolente Drüsen -
Schwellung, auch in cubitu, plumpe Ohrmuscheln, 1. Hämatom in Dezember
1905. Im Juni zwei kurz dauernde epileptiforme Anfälle, stirbt in Marasmus.
Sektion: Hirngewicht 1200. Durahämatom jüngeren Datums
mit ziemlich viel heller subduraler Flüssigkeit. Pia trübe, nicht adhärierend,
sonst keine makroskopische Änderungen.
13. Javaner, Schneider, 40 J., verheiratet, seit Juni 1905 irrsinnig,
Oktober 1905 aufgenommen und Oktober 1906 seinen Verwandten über¬
liefert.
Aufnahmegründe: Verwirrtheit, Unruhe, Aggression.
Erscheinungen: Mäßiger, später völliger Blödsinn, neutrale Stim¬
mung, sonst keine psychischen Abweichungen. Bedeutende Ataxie der
Bein - und Armmuskeln, später in Parese übergehend, Hahnentritt, deut -
licher Branch-Romberg, r. Fazialis paretisch, Pup. gleich, normaler Größe,
nicht auf Licht reagierend. Reflexe nicht zu bestimmen wegen Muskel¬
spannung; sehr starkes Silbenstolpern mit Zuckungen der Mund- und
Vorderhauptmuskeln. Indurierte Kubitaldrüsen und Psoriasis palmaris,
plumpes Antlitz, Caput progenaeum.
14. Javaner, Kutscher, 40 J., verheiratet, bei der Aufnahme No¬
vember 1905 schon seit 1 Jahr und 8 Monaten krank, starb nach fünf¬
tägiger Verpflegung.
Aufnahmegründe: Verwirrtheit und Nackt-Herumziehen.
Erscheinungen: Dämmerzustand, allerlei zwecklose Handlungen,
greift alles an; schlaffe Paresen der Beine, Unfähigkeit zu stehen und gehen,
keine deutliche Fazialisparese, Pupillenuntersuchung wegen fortschreitender
Unruhe unmöglich, Patellarreflexe aufgehoben, kein Babinsk' 1 , unrein¬
lich, keine bestimmte Degenerationszeichen.
Drei Tage nach der Aufnahme kontinuierliches Fieber mit Zuckungen
im r. Arm; drohender Dekubitus am Sakrum und Trochanteren, stirbt
an Herzlähmung.
Keine Zeichen von Lues, welche aber in der Erkundigungsliste als
sehr schwer bezeichnet wird.
Sektion: Hirngewicht 1294. Leptomeningen trübe, sonst keine
auffallende Änderungen.
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Dementia paralytica bei den Eingeborenen von Java und Madura. 581
15. Javaner, Aufseher einer Arbeitergruppe, 40 J., verheiratet,
seit Juni 1904 geisteskrank, September 1904 aufgenommen, August 1906
an Ruptura lienalis gestorben.
Aufnahmegründe: Wutausbrüche, Aggression, Größenwahn, soll
fünf Tage vor der Entstehung der Psychose schweres Fieber gehabt
haben.
Erscheinungen: Verwirrtheit, zeitliche Orientation schlecht, ört¬
liche besser, schwatzt viel vor sich hin, ist unruhig und reizbar, will ent¬
fliehen, ist bisweilen unreinlich, zuletzt apathisch und blödsinnig. Sehnen¬
reflexe verstärkt, Gang wacklig, Pupillen wegen ängstlichen Widerstandes
nicht zu untersuchen, Othämatom 1., indurierte Kubitaldrüsen, plump
geformtes Antlitz. Sektion nicht gestattet.
16. Javaner, Aufseher einer Arbeitergruppe, 35 J., verheiratet,
seit Januar 1905 krank, November 1905 aufgenommen und März 1907
gestorben.
Aufnahmegründe: Unruhe, Verwirrtheil.
Erscheinungen: Verwirrtheit, Unruhe, Blödsinn. Patellarreflexe
erhöht, Pup. gleich, normal weit, aber ohne Lichtreaktion, später ein-
tretende Parese der Beine, starkes Silbenstolpern und Tremulieren bis zur
Unverständlichkeit, unreinlich, leichter Dekubitus, keine Zeichen von
Syphilis, Prognathie.
Stirbt unter klonischen Krämpfen, welche sich in tonische um-
wandeln und sich über alle Streckmuskeln ausbreiten, Pupillen erweitert
und ohne Lichtreaktion, Deviation der Bulbi nach 1.
Sektion: Schädeldach dünn, subdurales Hämatom über der ganzen
Hirnoberfläche, auch der Basis, mit Ausnahme der Frontalpole und be¬
sonders 1. Hirn ödematös. wiegt 1320, überall kleine Blutpünktchen,
keine Granulationen, Ventrikelhöhlen erweitert, Frontalgyri verschmälert.
17. Javaner, Kupferschmied, 50 J., verheiratet, seit fünf Monaten
krank, Dezember 1906 aufgenommen und Juni 1908 gestorben.
Aufnahmegründe: Brandstiftung.
Erscheinungen: Fortschreitende, tiefe Demenz, Größenwahn, bis¬
weilen Unruhe mit Aggression, später eintretende Unreinlichkeit und
gänzliche Parese, Fazialis rechts paretisch, Pup. nicht zu untersuchen,
keine Sprachstörungen, r. Mundmuskeln fibrillär zuckend beim Sprechen,
Haut- und Sehnenreflexe erhöht, plumpes Antlitz, Arcus senilis, keine
Erscheinungen von Syphilis. Starb in apoplektischem Anfall.
Sektion: Hirngewicht 1447. Pia trübe, nicht adhärierend, Frontal -
undParietalgyriverschmälert, Gehirnhöhlenein wenig erweitert, enthalten
eine trübe weiße Flüssigkeit, keine Granulationen.
18. Javaner, Telephonbedienter, 35 J., verheiratet, seit 4 Monaten
krank, Januar 1907 aufgenommen, Januar 1908 seinen Verwandten
überliefert.
Aufnahmegründe: Aggression nnd Vagabondage.
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582
van Brero,
Erscheinungen: Unruhe, Neigung zum Entfliehen, Größenwahn,
bisweilen Silbenstolpern, Tremor der Hände, Lippen und Zunge, Haut-
und Sehnenreflexe verstärkt, keine Parese oder Inkoordination, 1. Pup. <r.>
Reaktion nicht zu prüfen.
War einige Wochen ohne psychische Abweichungen, hatte aber
keine Krankheiteinsicht (Remission?), wurde aber bald wieder verwirrt
mit Größenwahn, Negativismus. L. Fazialis paretisch, starkes Tremu¬
lieren und deutliches Silbenstolpern, keine Paresen der Extremitäten.
Gekrümmte Ohrmuscheln, indurierte Kubitaldrüsen.
19. Javaner, kein Beruf, 40 J., unverheiratet, seit 2 Jahren geistes¬
krank, Januar 1907 aufgenommen, August 1907 an Dysenterie gestorben.
Aufnahmegründe: Unruhe, Verwirrtheit, Neigung zur Selbst¬
verstümmlung.
Erscheinungen: Verwirrtheit, tiefer Blödsinn, ziemlich ruhig, er¬
schwerte, lallende Sprache, bisweilen Silbenstolpern, Haut- und Sehnen-
reflexe erhöht, Ataxie der Beine, kein Branch - Romberg, 1. Fazialis
paretisch, Pup. eng, gleich groß, keine Lichtreaktion, keine Erscheinungen
von Lues, keine bestimmten Degenerationszeichen.
Sektion: Hirngewicht 1140. Leptomeningen trübe, adhärierend,
Rinde verschmälert. Ventrikelhöble erweitert, keine Granulationen.
20 . Javaner, Gartendiener, 40 J., Dezember 1907 aufgenommen,
Oktober 1908 in einem paralytischen AnfaU gestorben, wurde vorher
von Juli 1906 bis März 1907 wegen Amentia verpflegt und geheilt ent¬
lassen.
Erscheinungen: Unruhe, Aggression, Verwirrtheit, Blödsinn, Un-
reinlichkeit, alle Haut- und Sehnenreflexe erhöht, schleppender Gang,
r. Fazialis paretisch, r. Pup. > 1., keine Lichtreaktion, bekam Dezember
1907 motorische Aphasie ohne sonstige Lähmungserscheinungen mit
folgender Bradyphasie, Silbenstolpern bei monotoner Stimme. Keine
bestimmten Degenerationszeichen, keine luischen Erscheinungen, große
Narbe am Penis. Sektion konnte nicht gemacht werden.
21 . Javaner, Kleinhändler, 40 J., verheiratet, seit 1 Monat krank,
Juni 1907 aufgenommen, war Mai 1909 noch am Leben.
Aufnabmegründe: Verwirrtheit und Unruhe.
Erscheinungen: Blödsinn, gehobene Stimmung, Größenwahn,
Unreinlichkeit während einzelner Tage, Patellarreflexe erhöht, Parese
der Extensoren der Unterschenkel, ausdruckloses Antlitz, 1. Fazialis
paretisch, starkes Silbenstolpern, starker Tremor der Zunge, allgemeine
Drüsenschwellung, Narbe an der Eichel, keine bestimmten Degenerations-
zeichen.
22 . Javaner, Kuli, 50 J., verheiratet, aufgenommen August 1907,
Dezember 1907 unter epileptiformen Anfällen gestorben.
Erscheinungen: Tiefe Demenz, Größenwahn, keine Unruhe, schlaffe
Haltung, schleppender Gang, r. Fazialis paretisch, 1. Pup. ;>• r., Tremor
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Dementia paralytica bei den Eingeborenen von Java und Madura. 583
der Lippen und Zunge, Silbenstolpern mit undeutlicher Sprache, Knie¬
reflexe erhöht, Psoriasis palmaris, Halsdrüsen geschwollen, nicht die
cubitales, Narbe am Penis, plumpes Antlitz. Bei den epileptiformen
Anfällen Retentio urinae. Sektion nicht möglich.
23. Javaner, Landwirt, 45 J., Dezember 1907 aufgenommen,
Februar 1909 seinen Verwandten überliefert.
Erscheinungen: Tiefe Demenz, sonstige psychische Erscheinungen
fehlen. Haut- und Kniereflexe erhöht, 1. Fazialis paretisch, Pup. eng,
gleich groß, ohne Lichtreaktion. Sprache undeutlich. Induricrte Kubital-
drüsen, Narbe am Penis, keine bestimmte Degenerationszeichen.
24. Javaner, Polizeidiener, 40 J., unverheiratet, seit 8 Monaten
krank, Januar 1907 aufgenommen, Juli 1907 gestorben mit kontinuier¬
lichem, nicht auf Chinin reagierendem Fieber.
Aufnahmegründe: Unruhe und Umherirren.
Erscheiningen: \erwirrtheit, Größenwahn, Blödsinn, leichte Un¬
ruhe, am Tage des Eintritts Incontinentia urinae, später nicht mehr,
war nachher unreinlich. Gang schleppend und unsicher, Branch-Romberg
stark, r. Fazialis paretisch, Pup. gleich groß, weitere Untersuchung unmög¬
lich, deutliches Silbenstolpern und Tremulieren mit Tremor der Lippen
und Zunge, Kniereflexe nicht zu bestimmen, leichte Mißbildung des linken
Ohres. Lymphdrüsen induriert, auch die Kubitaldrüsen, Psoriasis pal¬
maris.
Sektion: Hirngewicht 1229. Starker Hydrocephalus externus und
internus, Pia trübe, nicht adhärierend, keine wesentliche Verschmälerung
der Rinde, keine Ependymwucherung.
25. Sundanese, Kleinhändler, 40 J., aufgenommen November 1907,
war Mai 1909 noch am Leben.
Erscheinungen: Tiefer Blödsinn, Größenwahn, ruhig, wackliger
Gang, r. Fazialis paretisch, 1. Pup. > r., Reaktion nicht zu bestimmen,
Silbenstolpern und Tremulieren, Tremor der Lippen, Hände und besonders
der Beine. Radialis- und Patellarreflex verstärkt, Babinski und Fuß-
klonus. Kubitaldrüsen geschwollen.
26. Javaner, kein Beruf, 30 J., Januai 1908 aufgenommen, Juni
1908 seinen Verwandten überliefert.
Erscheinungen: Anfangs verwirrt und unruhig mit Größenwahn,
allmählich progressiv dement, Silbenstolpern und Tremor der Lippen.
Beine paretisch, Pupillen und Reflexe nicht zu untersuchen. Keine Er¬
scheinungen von Syphilis, keine bestimmten Degenerationszeichen.
27. Javaner, Bettler, 50 J., aufgenommen Februar 1908, gestorben
Oktober 1908 an Tuberculosis pulm.
Erscheinungen: Tiefster Blödsinn, gänzlich paralytisch, sprachlos,
unreinlich, weitere Untersuchung wegen ängstlichen Widerstandes ein¬
gestellt.
Indolente Drüsenschwellung, große, weit abstehende Ohren.
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584
van Brero.
Sektion: Hirngewicht 1275, sonst keine wesentlichen Änderungen.
28. Javaner, Aufseher einer Arbeitergruppe, 40 J., verheiratet,
seit 4 Monaten geisteskrank, aufgenommen Juni 1908, war Mai 1909
noch am Leben.
Aufnahmegründe: Abwechselnde Unruhe, Entblößung, Nahrung¬
verweigerung.
Erscheinungen: Bis zum unverständlichen Lallen zunehmender
Blödsinn, Größenwahn, ruhig. Keine Paresen, 1. Fazialis paretisch, Pup.
ohne Abweichungen, anfangs Bradylalie, Silbenstolpern und Tremor
der Lippen, Zunge und Finger; Haut - und Sehnenreflexe erhöht, spastischer
Gang. Rupiaartige Ulzera auf Kopf und Beine, indurierte Drüsen, Narbe
an der Eichel, große Ohrläppchen, zwei Haarwirbel.
29. Sundanese, Landwirt, 50 J., verheiratet, aufgenommen Juli
1908, gestorben Oktober 1908 an Marasmus nach zweitägigem Fieber.
Erscheinungen: Tiefer Blödsinn; greift unaufhörlich um sich her;
unreinlich, leichter Dekubitus, gänzlich paralytisch, r. Fazialis paretisch,
1. Pup. ;> r., Lichtreaktion nicht zu bestimmen, völlig unverständliche,
undeutliche Sprache mit Tremor der Zunge und Lippen, 1. Patellarreflex
aufgehoben.
Indurierte Drüsen, Narbe am Penis, keine bestimmten Degeneration* -
Zeichen.
Sektion: Hirngewicht 1285, geringer Hydrocephalus ext. und int.,
leichte Trübung der Frontalpia, sonst keine wesentlichen Abweichungen.
30. Javaner, Kuli, 45 J., Juli 1908 aufgenommen, Oktober 1908
seinen Verwandten überliefert.
Erscheinungen: Größenwahn, progressive Demenz; anfangs unruhig,
nicht unreinlich.
Parese der Beine bis zur Bettlägerigkeit, 1. Fazialis paretisch, Bradv-
phasie, später Silbenstolpern bis zur weitgehenden Undeutlichkeit. Pup.
nicht zu untersuchen, Patellarreflexe aufgehoben, körperlich abnehmend.
Indurierte Drüsen, unregelmäßiger Stand der Unterzähne.
31. Javaner, Ex-Soldat, 45 J., seit 9 Monaten krank, Januar 1909
aufgenommen, war Mai 1909 noch am Leben.
Erscheinungen: Demenz, Größenwahn, anfangs unruhig, nicht
unreinlich, keine bestimmte Paresen, 1. Fazialis paretisch, r. Pup. < 1.,
beide träge auf Licht reagierend, Sprache bisweilen undeutlich, kein
Silbenstolpern oder Tremulieren, Patellarreflexe erhöht, Othämatom 1.
Indurierte Drüsen, Sattelnase, angewachsene Ohrläppchen, exzentri¬
scher Haarwirbel, Hernia inguin.
32. Javaner, Eisenbahnmaschinist, 45 J., seit 10 Monaten krank,
Februar 1908 aufgenommen, war Mai 1909 noch am Leben.
Erscheinungen: Blödsinn, Größenwahn, gehobene Stimmung, anfangs
unruhig, schwatzt und lacht viel, nicht unreinlich, Gang breitbeinig und
schleppend, 1. Fazialis paretisch, Silbenstolpern bis zur Unverständ¬
lichkeit, 1. Pup. > r., beide ohne Lichtreaktion, Patellarreflexe erhöht.
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Dementia paralytica bei den Eingeborenen von Java und Madura. 585
Psoriasis linguae, indolente Drüsenschwellung, auch im Kubital-
gebiete, keine bestimmten Degenerationszeichen.
33. Javaner, ohne Beruf, 50 J., aufgenommen April 1909, war
Mai 1909 noch am Leben.
Erscheinungen: Blödsinn, Größenwahn, nicht unreinlich, ruhig,
keine Paresen, 1. Fazialis paretisch, enge, starre Pupillen, Silbenstolpern,
Patellarreflexe geschwächt, Kubitaldrüsen induriert, unregelmäßiger
Stand der Zähne, angewachsene Ohrläppchen, zwei exzentrische Haar¬
wirbel.
Einzelne, wie es scheint, in Europa weniger bekannte ursächliche
Faktoren für eine der Paralyse ähnelnde Hirnkrankheit mögen hier
kurz hervorgehoben werden.
Abgesehen von der merkwürdigen Schlafkrankheit der
Neger in Afrika, soll nach Marie die Pellagra in Kairo eine Pseudo-
paralyse hervorrufen; besonders zeigt das Schlußstadium der pellagrösen
Jrreseinsformen oft Symptome der Paralyse, welche sich weder klinisch
noch pathologisch von dieser unterscheiden lassen. Dieser Autor beob¬
achtete auch paralytische Araber, welche an Syphilis und Pellagra zugleich
litten. Chronische Malaria sah Marandon de Montyel in drei
Fällen bei Prädisponierten Paralyse erzeugen, welche schnell verlief,
symptomatologisch und anatomisch keinen speziellen Charakter zeigte.
In einem dieser drei Fälle konnte nur die chronische Malaria als Ursache
erkannt werden.
Plehn fand bei der larvierten und unzureichend behandelten Malaria
Erscheinungen, welche denen der Paralyse ähnelten, aber dem Chinin
und der Übersiedlung wichen.
Lemoine und Chaumier meinen eine Dementia pseudoparalytica
von Malariaursprung annehmen zu dürfen und zitieren dabei Benhier,
Kraepelin und Bard, welcher letztere einen durch Chinin geheilten Fall
mitteilt.
Von vielen Autoren wird über Malariapsychosen berichtet, die in
grundverschiedenen Formen verliefen. Es ist schwierig zu begreifen,
warum dieselbe Ursache und dieselben anatomischen Veränderungen im
Gehirn so ganz auseinanderlaufende Krankheitformen erzeugen können.
Vielmehr muß man da an verschiedene Veranlagung denken, wo die
lokalen Läsionen höchstens als Gelegenheitsursache wirken, was durch die
Tatsache, daß bei vielen Autopsien die gleichen Veränderungen der
Gehirnkapillaren gefunden werden, ohne zeitlebens Geistesstörungen
veranlaßt zu haben, um so wahrscheinlicher wird.
Eine merkwürdige Beobachtung hat Lynch auf den Fidschi-
insein gemacht, wo er in 20 Jahren bei den Eingeborenen keine Syphilis
fand und dennoch diese an Paralyse leiden. Framboesia tropica
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586
van Brero,
hingegen war äußerst allgemein, und dies wäre nach ihm eine Ursache»
daran zu denken, daß Syphilis und Framboesia zwar nicht identisch, aber
dennoch eng verwandt seien (zitiert nach Revesz). Ich möchte bei¬
läufig an die günstigen Ergebnisse der Salvarsantherapie bei Framboesia
erinnern.
Rüdin hält die Seltenheit der Paralyse in Algier nicht nur für
scheinbar, sondern für faktisch und schreibt dies dem Fehlen der
Domestikation zu bei den un- und niedrig kultivierten Rassen.
Die dadurch fehlende Ausmerzung, die verminderte Widerstandkraft,
verursacht durch Störungen in der Gewebsernährung und durch Ver¬
giftungen des Kulturlebens, dabei die überstarke Inanspruchnahme
der nervösen Zentralorgane verleihen dem Syphilisgift beim Kultur¬
menschen einen mühelosen Angriffpunkt am Zentralnervensystem
und daher die große Frequenz der Paralyse und Tabes.
Die Anerkennung der Metasyphilis als, ich möchte sagen, funda¬
mentale Ursache der Paralyse wird wohl kaum noch Widerstand
begegnen; zum Ausbruch sind aber noch andere Umstände vonnöten.
Es ist sonderbar, daß von Luikern, welche unter gleichartigen,
ungünstigen Verhältnissen leben, dennoch nur ein Bruchteil der
Krankheit anheimfällt. Dieses Rätsel würde sich der Lösung nähern,
wenn bekannt wäre, was vom Syphilisgift bevorzugt wird, das Nerven¬
gewebe oder dessen Gefäßsystem. Es scheint nun je länger je mehr
wahrscheinlich, daß das letztere der Fall ist, wobei aber noch die Frage
bleibt, warum das Gift die Blutgefäße gerade des Nervensystems
bevorzugt; kommt doch nach Haut und Knochen das Nervensystem
an nächster Stelle in der Frequenz der syphilitischen Affektionen
des menschlichen Körpers.
Da scheint mir für die vorliegende Frage nicht bedeutunglos,
daß verschiedene Autoren betonen, bei unkultivierten Rassen niste
die Syphilis sich gerade in Haut und Knochen ein und schone das
Nervensystem. Gonder (zitiert bei Revesz) fand dies in Bosnien,
Moreira und Peixolo in Brasilien, Sicard in Algier und ich in Nieder¬
ländisch Ost-Indien. Die Haut ist dort Prädilektionstelle für Syphilis,
weil sie den verschiedensten schädlichen Einflüssen ausgesetzt ist,
besonders bei den eigentlichen Tropenbewohnern, welche zum Teil
nackt herumgehen und bei welchen die Hautfunktion erhöht ist,
was bei einer heißen, mit Wasserdampf gesättigten Luft leicht zu
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Dementia paralytica bei den Eingeborenen von Java und Madnra. 587
allerlei Leiden Veranlassung gibt. So fand Scheuer in Java bei 45 500
Poliklinikpatienten nicht weniger als 11370 Hautleidende.
Weil bei diesen Völkern meistens von einer Syphilistherapie
nicht die Rede ist, bleibt die Haut sehr lange erkrankt und hat die
Lues Gelegenheit, sich dort auszutoben; dies mag ein Grund dafür
sein, daß ander« wichtige Organe verschont bleiben.
Bei der allgemein von den ersten Fachmännern geforderten
rigorosen und frühzeitigen Syphilisbehandlung wage ich nur zögernd
die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, daß man die relativ harmlosen
Hauterecheinungen nicht zu energisch bekämpfen möge. «4
Urstein meint, der reichlichen Schweißabsonderung, infolge deren
das Syphilisgift den Organismus frühzeitiger verlasse, sei die niedrige
Frequenz der Paralyse unter den Eingeborenen zuzuschreiben.
Die weiße und die gemischte Bevölkerung der Tropen aber schwitzt*
auch nicht wenig, wenn auch vielleicht nicht so profus, und doch ist
bei ihr die Paralyse gar nicht selten.
Literatur.
Bela Revisz, Die rassenpsychiatrischen Erfahrungen und ihre Lehren. Bei¬
heft 5 zum Archiv für Schiffs- und Tropenhygiene. 1911.
Berkley, zitiert bei Revisz. 1911.
Kraepelin, Psychiatrisches aus Java. Zentralbl. f. Nervenh. u. Psy¬
chiatrie. 1904.
Lemoine et Chaumier, Les troubles psychiques dans l’impaludisme. Anna-
les mödico-psychologiques. 1887.
Marandon de Montyel, Contrib. k l’4tude des rapports de l’impaludisme et de
la paral. gönör. Arch. de Neurol. Vol. 9. 1900. Cfr. Jahresber.
auf dem Gebiete der Neurologie und Psychiatrie 1901.
Marie , La lögende de rimmunitö des Arabes syphilitiques relativement k
la paralysie gönörale. Revue de mödecine. 1907.
Ders., Folies pellagreuses des Arabes. Paris. 1907. Cfr. Rioesz.
Moreira et Peixoto, Les maladies mentales dans les climats tropicsux.
Annales mödico-psychol. 1907.
Plehn, Über Hirnstörungen in den heißen Ländern und ihre Beurtei¬
lung. Arch. f. Schiffs- und Tropenhygiene. 1906.
Rüdin, Zur Paralysisfrage in Algier. Allgem. Zeitschr. f. Psych. 1910.
Sicard, Etüde s. 1. fröquence des maladies nerveuses chez les indigönes
musulmans d'Algerie. Thöse de Lyon. 1907.
Stieda, Über die Psychiatrie in Japan. Zentralbl. f. Nervenh. u. Psy¬
chiatrie. 1906.
Uretein, zitiert bei Rioisz. 1911.
Woiß, zitiert bei Rivisz. 1911.
ZeitnWlt (Br Tijohitbii. LX1X. 5. 41
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Über Gelegenheitsursachen gewisser Neurosen und
Psychosen 1 ).
Von
Dr. H. Bertschinger,
Kant. Heilanstalt Schaffhausen.
Der Ausdruck „Lebenslüge“ findet sich in Ibsens Wildente.
Kandidat Relling sagt (V. Akt, 1. Szene) zu Werale jun.: „Nehmen
Sie einem Durchschnittsmenschen die Lebenslüge, so nehmen Sie ihm
gleichzeitig das Glück.“
Der Ausdruck Lebenslüge paßt so gut zu gewissen Beobachtungen,
die ich gemacht habe, daß ich ihn zum Titel meines Themas hätte
wählen können.
Wer davon überzeugt ist, daß es auf psychischem Gebiete ebenso
wenig einen Zufall gibt, wie auf mechanischem, dem drängt sich immer
wieder die Frage auf, warum in einem bestimmten Falle eine Krankheit,
die latent sicher schon seit vielen Jahren bestand, gerade jetzt, in
diesem bestimmten Zeitpunkt manifest wird.
Es kann doch kein Zufall sein, daß ein Mensch, der nachweisbar
schon von Jugend auf „nervös“ oder „launisch“ oder „sonderbar“
war, gerade mit 30, 50 oder 60 Jahren plötzlich so schwer neurotisch
oder manisch-depressiv oder katatonisch wird, daß er ärztliche Be¬
handlung oder sogar die Irrenanstalt aufsuchen muß. Warum kam er
nicht schon früher? Warum kann er sich nicht noch länger halten?
Man hat sich in solchen Fällen gewöhnlich damit begnügt, eine
innere, mit der Krankheit selber zusammenhängende und nicht weiter
erklärbare Ursache für’ das Manifestwerden schwerer Erscheinungen
anzunehmen, oder hat irgendein zeitlich ungefähr damit zusammen-
*) Nach einem Vortrag gehalten in der Versammlung Schweiz.
Irrenärzte in Basel am 28. V. 1912.
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Uber Gelegenbeitsarsacben gewisser Neurosen und Psychosen. 589
fallendes, körperliches oder psychisches Trauma als sogenannte
Gelegenheitsursache verantwortlich gemacht, ohne sich weiter darüber
Rechenschaft zu geben, wie ein an und für sich oft recht banales
Ereignis nun auf einmal eine so heftige Reaktion hervorrufen konnte,
oft sogar bei Menschen, an denen objektiv viel schwerere Schicksal¬
schläge spurlos vorüber gegangen sind.
Betrachtet man Kranke, die an Neurosen oder gewissen Psychosen
leiden, als Menschen, die sich aus inneren, psychischen Gründen der
Wirklichkeit schlecht oder gar nicht anpassen können, und die Krank¬
heit als letztes Abwehrmittel, das ihnen zu Gebote steht, um die ihnen
unerträgliche Wirklichkeit auszuschalten, und es ist dies eine Annahme,
die sehr viel für sich hat, so erklären sich manche Rätsel nicht nur der
Besserungs- und Heilungsvorgänge, sondern auch des zeitlichen
Ausbruches akuter Krankheiterscheinungen.
Berücksichtigt man, wie oft auch der Gesunde sich selber anlügt,
und wie leicht wir uns anlügen können, so ist es gar nicht so merk¬
würdig, daß so viele Geisteskranke es verstehen, mit Hilfe von allerlei
Mechanismen, die alle den Zweck der Selbsttäuschung verfolgen und
die ich deshalb Lebenslügen nennen will, sich jahrzehntelang der Wirk¬
lichkeit scheinbar anzupassen. Sie müssen allerdings ihre Lebenslüge
mit allen zu Gebote stehenden Hilfsmitteln stützen, und dies um so
mehr, in je größerem Widerspruch sie zur Wirklichkeit steht. Versagt
eine oder mehrere der wichtigsten Hilfshypothesen, oder verändert
sich die Wirklichkeit zum schlimmen, so läßt sich, oft mit einem
Schlage, die Lebenslüge nicht mehr aufrechterhalten, und die Neurose
oder Psychose bricht aus.
Eis gibt eine unzählbare Menge von Stützen für die verschiedensten
Arten von Lebenslügen. Die häufigsten und wichtigsten sind:
Die unterbewußt stets vorhandene Hoffnung, daß das große
Glück doch noch eintreffen werde, das. in Wirklichkeit nicht erreicht
wurde, ferner die Sublimierung unbefriedigter Aspirationen resp.
die Verschiebung auf andere Gebiete, z. B. sexueller Wünsche in die
Berufstätigkeit oder religiöse und künstlerische Bestrebungen oder
der Liebesgefühle auf Personen, die für ein eigentliches Sexual¬
verhältnis außer Betracht fallen.
Ein sehr häufig benütztes Hilfsmittel zur Aufrechterhaltung
der Lebenslüge ist eine leichte Dauemarkose, z. B. durch Alkohol.
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Bertschinger,
Audi Konversionen oder wirkliche körperliche Krankheiten aller
Art dienen sehr oft der Lebenslüge als wirksame Stützen. Sie erlauben
dem Kranken, in unauffälliger Art gewisse Wirklichkeiten von sich
fernzuhalten, die in allzu krassem Widerspruch mit der Glückfiktion
oder der sie stützenden stillen Hoffnung, daß das Wunderbare doch
noch kommen werde, stehen würden. Es gibt z. B. Frauen, die frigid
sind oder an nervösen Sexualkrankheiten leiden, welche den Koitus
verunmöglichen, nur weil sie sich die Fiktion der Jungfräulichkeit,
wenigstens der psychischen, machen müssen, weil sie sich sozusagen
aufsparen wollen für den im Unterbewußten stets noch erhofften
wirklichen Geliebten.
Es liegt auf der Hand, daß die meisten der angeführten Hilfs¬
mittel zur Aufrechterhaltung der Lebenslüge sehr oft versagen und
z. T. irgend wann einmal versagen müssen. Die stille Hoffnung auf
das Kommen des großen Liebesglückes läßt sich z. B. nicht über ein
gewisses Alter hinaus festhalten. Sollte das nicht eine Erklärung
geben können für den so häufigen Ausbruch stürmischer Kr ankh aft-
erscheinungen kurz vor oder im Klimakterium?
Die stille Hoffnung, der nichtige möchte noch kommen, welche
so manchem alternden Mädchen erlaubt, ledig scheinbar glücklich
zu sein, muß von einem bestimmten Alter an, sagen wir anfangs der
30er Jahre, versagen. Dürfte das nicht die nicht seltenen „letzten
Terminpsychosen“ erklären, wie man sie nennen könnte?
Die unterbewußte Hoffnung, sich für den eigentlichen Geliebten
aufsparen zu können, muß sie nicht unhaltbar werden, wenn eine
Schwangerschaft oder gar die Geburt erfolgt?
Es gibt latent homosexuell empfindende Menschen, die sich für
sexuell normal halten und diese Fiktion mit der stillen Hoffnung
stützen, die bisher vermißten sexuellen Erregungen werden sich schon
einstellen, wenn nur erst die oder der Richtige komme. Naht sich der
letzte Termin, so verloben sie sich oft auffallend schnell und unerwartet,
um dann kurz vor oder nach der Hochzeit mit angstneurotischen
Beschwerden den Arzt aufzusuchen.
Die Fiktion, in der Pflege einer Freundschaft, in Beruf und Pflicht¬
erfüllung einen vollgültigen Ersatz für das entgangene Liebesglück
gefunden zu haben, läßt sich nicht mehr aufrechterhalten, wenn die
Surrogatperson z. B. stirbt oder der Beruf schwere Enttäuschungen
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Uber Gelegenheitsursachen gewisser Neurosen und Psychosen. 591
bringt. Die Übertragung der Liebesgefühle vom innerlich ungeliebten
Manne auf den Sohn versagt, wenn er sich der Mutter entzieht.
Eine seltenere Art der Lebenslüge ist folgende: Ein von Hause
aus mit gewalttätigen Trieben ausgerüsteter Mensch wird durch
Überkompensation besonders brav und tugendhaft. Dabei unter¬
stützt ihn die stille Hoffnung, daß ihm das, was er durch Gewalt
nicht erlangen will, schließlich doch noch als Belohnung seiner Tugend
in den Schoß fallen werde. Erntet er nun fortgesetzt Verkennung
und Enttäuschung, so kann er seine Lebenslüge nicht mehr länger
aufrechterhalten, er wird krank oder Verbrecher.
Eine ganz unzuverlässige Stütze der Lebenslüge ist natürlich der
Alkohol und andere Narkotika, denn sie führen ihrerseits zu psychischen
Krankheiten, mit denen zugleich dann die latente Neurose oder Psychose
zum Ausbruch kommt.
In jedem einzelnen Falle sind immer mehrere der von mir an¬
geführten Hilfshypothesen nachweisbar, und deshalb führen auch
meistens verschiedene sogenannte Gelegenheitsursachen zusammen
den Krankheitausbruch herbei.
Im folgenden sollen einige Beispiele verschiedenster Formen von
Lebenslügen mitgeteilt werden. Leider erlaubt der Umfang eines
Vortrages nicht, alle Krankengeschichten ausführlich anzuführen.
Die meisten müssen der Kürze halber zum Schaden ihrer Beweiskraft
auf ein paar Sätze reduziert werden.
Eine der allerhäufigsten Lebenslügen ist die, glücklich
verheiratet zu sein, während man es in Wirklichkeit nicht ist.
Sicher ist selten ein Teil allein am Unglück einer Ehe schuldig.
Es scheint, daß grobe, auch nach außen in Erscheinung tretende
Fehler des einen Gatten den anderen Teil seltener unglücklich machen,
als man im allgemeinen annimmt. Es sind wohl immer psychische
Eigenschaften des leidenden Teiles selber, welche ein Eheglück nicht
aufkommen lassen resp. bewirken, daß ein scheinbares Eheglück sich
später als Lebenslüge entpuppt.
Ich will aber doch die Fälle zuerst besprechen, in denen der eine
Ehegatte mit solchen, auch nach außen sichtbaren Fehlem behaftet
war, daß nach landläufigem Urteil die Ehe von Anfang an hätte un¬
glücklich werden sollen. Daß sie dennoch glücklich schien, war eben
die Folge einer Selbsttäuschung des leidenden Eheteües. In einzelnen
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Bertschinger,
Fällen dienten sogar die Fehler des gesunden Gatten dem leidenden
geradezu als Stütze der Lebenslüge.
In 5 Fällen war hauptsächlich schwerer Alkoholismus des Mannes
der auch äußerlich erkennbare Grund dafür, daß nur ein Pseudo¬
eheglück bestand, das dem leidenden Teile aber erst bei bestimmten
Anlässen als Lebenslüge zum Bewußtsein kam, Anlässen, die dann auch
den Krankheitausbruch herbeiführten.
1 . Eine 44jährige Frau erkrankte an präseniler Melancholie mit
Verarmungswahn im Anschluß an einen Hauskauf, der ihr die Fortsetzung
einer Kostgängerei verunmöglichte und sie dadurch von einem Kost¬
gänger trennte, auf den sie stark übertragen und im Stillen noch gehofft
hatte.
2 . Eine andere, früher durchaus anständige Frau leistete sich während
der Abänderungsjahre eine schwärmerische, platonische Freundschaft.
Als ihr Freund auswanderte, brach zugleich mit dem Eintritt der Meno¬
pause eine schwere hypochondrische Spätkatatonie aus. Die Kranke
behauptete, ihr Herz sei verbrannt, und masturbierte exzessiv. Nach Ablauf
der akuten Erscheinungen wieder aus der Anstalt entlassen, benahm sie
sich bald wie eine Dirne und mußte deshalb wieder versorgt werden.
3. Eine 50 jährige Frau erkrankte an Spätkatatonie im Anschluß
an eine gelungene Prolapsoperation, gegen die sie sich viele Jahre lang
gesträubt hatte. Der Prolaps hatte es ihr vorher ermöglicht, wenigstens
die sexuellen Zärtlichkeiten ihres Mannes von sich fern zu halten und da¬
durch die Fiktion erlaubt, wenn nicht glücklich, so doch erträglich ver¬
heiratet zu sein.
4. Eine 38 jährige Frau erkrankte an melancholisch gefärbter
Dementia praecox nach der Abreise ihres Sohnes, der ihr bis dahin er¬
möglicht hatte, im Mutterglück einen teilweisen Ersatz für das zu finden,
was sie im Eheleben vermißte.
5. Eine junge Frau fand in einem außerehelichen Verhältnis mit
einem Zimmerherrn Ersatz für das fehlende Eheglück. Als ihr Freund
heiratete, wurde sie auffallend fromm. 2 Jahre später wurde die Wohnung
gewechselt, und zugleich verbot ihr der Mann den Besuch religiöser Gemein¬
schaften, worauf sie akut an Dementia praecox erkrankte.
In den folgenden drei Fällen lag die äußerlich erkennbare Schuld
des unvollständigen Eheglückes auf Seite der Frau. Zweimal war
es eheliche Untreue der Gattin, die der Mann ahnte oder kannte, aber
zu verdrängen resp. mit einer Lebenslüge sich darüber hinwegzu-
täuschen suchte.
Den einen dieser Fälle will ich etwas ausführlicher mitteilen,
da er der einzige mit manisch-depressivem Irresein ist, den ich unter
meinem Material fand.
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Ober Gelegenheitsursachen gewisser Neurosen und Psychosen. 593
6 . Ein 51 jähriger Fabrikant, der schon seit etwa 10 Jahren an
leichteren melancholischen Depressionen und hypomanischen Zuständen
gelitten hatte, mußte interniert werden, weil er in seinem manischen
Geschäftigkeitstrieb sich in eine solche Menge seinem eigentlichen Berufe
fremder und zum Teil sehr gewagter Geschäfte eingelassen hatte, daß die
Gefahr einer finanziellen Krise nahe schien.
Er war immer sehr solid gewesen, ein gewiegter Geschäftsmann
und hatte seine Frau, mit der er schon in ihrem 14. Jahre verlobt war,
aus Liebe geheiratet. Sie wurde eine bewunderte Schönheit, und er schien
mit ihr immer glücklich zu sein, nur in der letzten Zeit habe er Eifersuchts-
wahnideen geäußert, in früheren psychischen Depressionszuständen habe
er immer über drohende Verarmung gejammert. Seit 5 Jahren sei mit
großer Regelmäßigkeit im Herbst die Depression, so um Ostern herum
die manische Verstimmung eingetreten.
Es schien sich um einen Fall von rein endogenem, manisch-depressivem
Irresein zu handeln, und doch zeigte die nähere Untersuchung, daß die
Depressionen psychologisch nicht unbegründet waren und die scheinbar
rein manische Vielgeschäftigkeit einen ganz bestimmten Zweck im Sinne
der Lebensltige verfolgte.
Die erste Depression brach nämlich im 3. Ehejahr aus, nachdem
die Frau ihrem Manne gebeichtet, daß sie ihn mit einem jungen Ange¬
stellten hintergangen habe. Er verzieh ihr diesen Fehltritt, was ihm um so
leichter geworden sei, als die Frau im Anschluß an ihre Handlung selber
nervenkrank geworden sei. Er glaubte damals selber, daß seine Depression
die Folge geschäftlicher Überanstrengung gewesen sei, und meinte, die
Untreue seiner Frau vollständig überwunden zu haben.
Auch die dann auftretende Frigidität seiner Frau setzte er auf Konto
ihrer überstandenen Nervenkrankheit.
Nachdem er sich von seiner eigenen Depression wieder erholt hatte,
warf er sich mit Feuereifer auf die Vergrößerung seines Geschäftes. De¬
pressionen traten zuerst nur auf in Zeiten geschäftlicher Krisen, d. h.
also, wenn die Sublimierung versagte.
3 Jahre später assoziierte er sich mit einem Freund, von dessen
Solidität und Rechtschaffenheit er vollständig überzeugt war. Bald darauf
fiel ihm auf, daß seine Frau noch kälter gegen ihn wurde, und daß sie sich
gegen ihre frühere Gewohnheit sehr eifrig im Geschäft betätigte, aber
immer mit dem Associö zusammen arbeitete, immer dessen Meinung
teilte, auch Familienangelegenheiten mit ihm statt mit ihrem Menne
besprach und sich überhaupt so benahm, als ob sie mit dem Assocte ver¬
heiratet und ihr Mann Angestellter wäre.
Von diesem Zeitpunkt an traten seine Depressionen mit Verarmungs¬
ideen immer im Herbst auf, nämlich dann, wenn die Frau aus ihrem
Sommeraufenthalt wieder ins Geschäft zurückkehrte und er wieder ge¬
zwungen war, täglich ihr Zusammensein mit dem Associö zu beobachten.
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Bertschinger,
Die manischen Phasen begannen um Ostern herum, zur Zeit als seine
Frau sich zur Abreise anschickte und sich also sein Geschäft gerade infolge
Abwesenheit der Frau wieder besser zur Sublimierung eignete.
Während sich seine hypomanische Vielgeschäftigkeit früher fast
ausschließlich auf die Vergrößerung seines eigentlichen Geschäftes be¬
schränkt hatte, begann er aber jetzt hauptsächlich Privatgeschäfte aller
Art zu unternehmen, denn sein eigenes Geschäft konnte ihn ja infolge
des sonderbaren Benehmens seiner Frau und des Associös nicht mehr
vollständig von dem ablenken, was er zu verdrängen suchte.
7. Ein etwa 40jähriger Herr, der schon seit 5 Jahren nervös war,
erkrankte nach dem Tode seiner Mutter an Angstneurose.
Nicht unbegründete Eifersucht und verschiedene unangenehme
Eigenschaften seiner Frau machten, daß er in den ersten Ehejahren unter
schweren psychischen Konflikten litt. Nach etwa 4 Jahren glaubte er aber
doch, ein in jeder Beziehung glücklicher Ehemann geworden zu sein. Zu
gleicher Zeit stellten sich aber die ersten nervösen Magenbeschwerden
ein, und er begann, sich von seinem Chef verfolgt zu fühlen. Bald nach
dem Tode seiner Mutter, die er hinter dem Rücken seiner Frau mit
Geschenken überhäuft hatte, wurden seine Magenbeschwerden so arg,
daß er kaum mehr seine Geschäftsreisen machen konnte, und zugleich
verschlechterte sich sein Verhältnis zum Chef dermaßen, daß ihm Ent¬
lassung drohte. In diesem Augenblick, d. h. also, nachdem der Reihe nach
die Übertragung auf die Mutter unmöglich, die Konversion unerträglich,
die Verschiebung der negativen Affekte auf seinen Chef gefährlich geworden
war und die Sublimierung ins Geschäft zu versagen drohte, brach die
Neurose aus, die dann eben sein Eheglück als Lebenslüge entpuppte.
8 . Ein 31 jähriger Herr erkrankte an eigentümlichen Angstanfällen,
die ganz plötzlich eintraten, mit Vorliebe, wenn er mit seiner Frau zu
Tische saß, englischen Tabak rauchte oder an bestimmte Firmen schrieb.
Er bekam dann Klopfen im Hals, Herzdruck, Schweißausbruch, Ohn¬
machtgefühl und sah rote, hinkende Personen.
Er gab an, außerordentlich glücklich verheiratet zu sein, er habe
seine ihm gleichalterige Frau schon in der Schule geliebt, die Verlobung
gegen den Willen seiner Eltern durchgesetzt und seinen Aufenthalt in
London und Paris möglichst abgekürzt, um recht bald heiraten zu können.
Die Analyse der Umstände, unter denen er Angstzustände bekam,
und der dabei auftretenden Symptome wiesen immer wieder auf ganz
bestimmte, an sich banale Erlebnisse im Ausland hin, bei denen ihm
nur ganz flüchtig bestimmte Frauenspersonen durch ihre vollbusigen,
üppigen Erscheinungen aufgefallen waren.
Später erzählte er, daß ihm seine Braut nach seiner Rückkehr aus
der Fremde eigentlich auffallend unscheinbar, flachbusig vorkam. Auch
alterte sie rasch in der Ehe und war ihm, da sie aus einem niedrigeren
sozialen Niveau stammte als er, in gesellschaftlicher Beziehung etwas
hinderlich.
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Über Gelegenheitsursachen gewisser Neurosen und Psychosen. 595
Es war ihm aber bis vor kurzem gelungen, alle diese Beobachtungen
sofort wieder zu verdrängen, und er hatte sich tatsächlich eingebildet,
der glücklichste der Ehemänner zu sein. Den Anlaß zum Zusammenbruch
dieser Lebenslüge gab das häufige Zusammenkommen mit einer jungen
weiblichen Angestellten von bemerkenswert schöner, üppiger Erscheinung,
ähnlich den Frauen, die er in Paris und London gesehen hatte. Daß er in
diese Person verliebt sei, merkte er freilich nicht gleich.
Er fühlte sich berufen, das Mädchen heimlich zu überwachen, um
es vor den Nachstellungen eines anderen zu bewahren, und benutzte dazu
unter anderem ein Zeißfernrohr, mit dem er sonst astronomische Beob¬
achtungen ausführte. Durch dieses sah er denn auch einmal, wie sein Schütz¬
ling glückselig am Arme des anderen spazierte. Erst diese Beobachtung
machte ihm plötzlich klar, daß er selber in das Mädchen verliebt sei und
mit seiner Frau durchaus nicht das große Los gewonnen habe, wie er sich
eingebildet hatte. Die Lebenslüge, unter der er immer gestanden, wurde
ihm klar, und die nun sofort ausbrechende Angstneurose war nichts anderes
als ein Kampf zwischen dem stürmischen Verlangen nach einem ihm
zusagenden Sexualobjekt und der Tendenz, diese sein Eheglück störende
Triebrichtung aufs neue zu verdrängen.
Im letzten meiner Fälle von Eheglückslüge mit scheinbar äußerer
Veranlassung war es Kinderlosigkeit, die den Grund dafür lieferte,
daß eine sonst glücklich verheiratete Frau im klimakterischen Alter
melancholisch wurde.
9. Sie hatte sich eingebildet, über ihre Kinderlosigkeit froh zu sein.
Im 10. Jahr ihrer Ehe erkrankte sie aber an nervösen Schmerzen und
Lähmungserscheinungen im rechten Arm, und im Klimakterium, d. h.
also, als die stille Hoffnung, doch noch Kinder zu bekommen, endgültig
aufgegeben werden mußte, traten bei bestimmten äußeren Anlässen
periodische Depressionen auf, z. B. wenn ihre Mägde, die sie wie eigene
Kinder hielt, erkrankten oder kündigten, wenn Kinder ihrer Geschwister,
die sie bemutterte, konfirmiert wurden, oder wenn sie zu Weihnachten
fremde Kinder beschenkte, d. h. also immer dann, wenn ein Ersatz ver¬
sagte oder der Komplex stark angetönt wurde.
In der folgenden Gruppe von Fällen liefern die Eigenschaften
des anderen Gatten keinen objektiv verständlichen Grund dafür,
daß die Kranken sich nur mit Hilfe einer Lebenslüge der Täuschung
hingeben konnten, sie seien glücklich verheiratet, während eigentlich
das Gegenteil der Fall war.
Die Gründe dafür liegen vielmehr ausschließlich in der psychischen
Einstellung des leidenden Teiles selbst.
Es gibt sehr viele Menschen, die sich innerlich nie ganz von ihrer
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Bertscfaioger,
elterlichen Familie loslösen können, weQ ihre ganze Libido bei Vater,
Mutter oder Geschwistern unlöslich verankert ist.
Männer heiraten in solchen Fällen gewöhnlich nicht oder sehr
spät und erweisen sich dann meistens als impotent oder latent homo¬
sexuell.
Frauen sind in diesem Falle häufig sexuell frigid, können aber
dennoch scheinbar glücklich verheiratet sein. Ihr Glück beruht dann
aber nicht auf ihrer Liebe zu ihrem Manne und zu ihren Kindern,
sondern in dem in möglichst großem Umfang aufrechterhaltenen
Zusammenhänge mit ihrer elterlichen Familie.
Bei schizophrenen Frauen kann es Vorkommen, daß sie sich in
der Familie ihres Mannes sozusagen nur auf Besuch oder in den Ferien
befinden, ihre eigentliche Heimat ist und bleibt die elterliche Familie.
Ihr Eheglück beruht auf einer typischen Lebenslüge. Anlässe
zu ihrem Zusammenbruch und zum Ausbruch der Psychose sind in
solchen Fällen häufig Geburten oder der Tod oder die Wiederverhei¬
ratung eines der Eltern resp. Geschwister.
10 . Eine junge Frau erkrankte im zweiten Wochenbett an akuter
Katatonie. Unter anderem glaubte sie, ihr Mann, sein Haus und alles,
was zu ihm gehörte, sei fremd, unwirklich.
Sie war als einziges Kind von ihren Eltern verhätschelt und von
jedem Verkehr ferngehalten worden. Nach ihrer Verheiratung weilte die
Mutter fast immer bei ihr und besorgte alles für sie. Ihr Mann kam sich
nach seinem eigenen Ausspruch immer noch wie ein Fremder in der
Familie seiner Frau vor. Ein erster leichterer Schub war schon im ersten
Kindbett ausgebrochen, heilte aber im Hause der Mutter der Kranken
rasch ab.
11 . Eine 30jährige Frau erkrankte nach dem Tode ihres Vaters
an Angsthysterie. Sie hatte dem Vater zu Liebe einen jüngeren Mann,
den sie sonst recht lieb hatte, abgewiesen. Bald darauf führte ihr der
Vater einen anderen Bewerber zu, den sie ebenfalls ausschlug. Der erste
näherte sich ihr wieder, und in ihrer Angst, ihm nachgeben und dadurch
wirklich ihrem Vater untreu zu werden, verlobte sie sich Hals über Kopf
mit einem Nachbarsohn, den sie nie hatte leiden mögen, der in keiner
Hinsicht ihrem so hoch verehrten Vater glich, und von dem sie sicher war,
daß sie sich nie in ihn verlieben werde. Sie war dann auch von Anfang an
in der Ehe frigid und fühlte sich nur zu Hause bei ihren Eltern wohl.
12 . Eine etwa 35jährige Frau erkrankte nach der Geburt ihres
dritten Kindes an schweren Angstanfällen und Wutausbrüchen. Sie
träumte beständig von Leichen und Feuer, fürchtete sich vor Menschen¬
ansammlungen und hatte das Gefühl, sie kenne ihren Mann nicht mehr.
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Uber Gelegenheitsursachen gewisser Neurosen und Psychosen. 597
er sei ein Fremder, ihre rechte Hand gehöre jemand anderem. Nach jedem
Koitusversuch bekam sie nervöse Aufregungen, Herzklopfen und glaubte
sterben zu müssen. Sie war von jeher frigid gewesen, klagte aber dennoch
über mangelhafte Potenz ihres Mannes. Schon während der zwei ersten
Kindbetten litt sie an nervösen Erregungen und Schwächezuständen.
Ihr Mann litt an neurasthenisch-hypochondrischen Erscheinungen.
Trotz alledem behauptete sie, ihren Mann über alles zu lieben und
glücklich verheiratet zu sein.
Die Analyse zeigte freilich, daß diese Behauptung auf arger Selbst¬
täuschung beruhte, also eine Lebenslüge war, die zusammenbrach, als die
im Stillen stets genährte Hoffnung, doch wieder zu dem über alles ge¬
liebten Vater zurückkehren zu können, sich nicht mehr aufrecht¬
erhalten ließ.
Soweit sich die Kranke zurückerinnern konnte, hing sie mit in¬
brünstiger Liebe an ihrem Vater. Schon früh suchte sie ihm das zu er¬
setzen, was er an seiner stets kränklichen Frau vermißte. Sie bemutterte
ihre Geschwister, besorgte den Haushalt, beaufsichtigte das Wirtschaft-
personal.
Schon als Schulkind und später mit etwa 18 Jahren machte sie
schwere hysterische Dämmerzustände durch, das erste Mal nach einem
Selbstmordversuche des Vaters, das zweite Mal, nachdem sie ihn in flagranti
mit einer liederlichen Angestellten erwischte. Sie ruhte nicht, bis diese
Person aus dem Hause war, und als dieselbe bald nach dem Tode der
Mutter der Patientin wieder erschien, benahm sich die Tochter ihrem
Vater gegenüber genau wie eine eifersüchtige Frau. Sie beobachtete
Vater und Nebenbuhlerin auf Schritt und Tritt, demonstrierte ihm deren
Untreue ad oculos und versprach ihm schließlich, ihr Lebtag ledig und
bei ihm bleiben zu wollen, wenn er diese Person fortschicke. Diese aber
zwang den Vater der Kranken mit der Behauptung, von ihm schwanger
zu sein, zur Heirat.
Sofort verließ nun die Kranke das Haus ihres Vaters und verehe¬
lichte sich ohne Besinnen mit dem ersten auftauchenden Bewerber, einem
etwas waschlappigen, wenig potenten Manne, der das ausgesuchte Gegen¬
teil ihres geliebten Vaters war. Zu diesem Entschluß bewog sie aber die
heimliche Hoffnung, ihr Vater werde seine Geliebte doch noch fahren
lassen und sie zurückrufen. Auch nach ihrer und des Vaters Verheiratung
gab sie die Hoffnung nicht auf, die Scheidung der einen oder anderen
oder beider Ehen werde ihr die Rückkehr ins Vaterhaus wieder ermög¬
lichen. Jede Schwangerschaft der Kranken selber und ihrer Stiefmutter,
die zufällig zeitlich immer zusammenüelen, machte aber die erhoffte
Lösung unwahrscheinlicher und verschlimmerte deshalb auch die nervösen *
Erscheinungen.
Die Heilung wurde durch zwei Zwischenfälle etwas verzögert. Die
Kranke war zweimal Augenzeuge schwerer neurotischer Aufregungen
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Bertschinger.
bei Freundinnen, als deren tiefere Ursache sie ganz richtig sofort unglück¬
liche Liebesverhältnisse vermutete.
Nicht uninteressant ist, daß die Kranke schon mit 30 Jahren er¬
graute und so alt aussah, daß sie von Unbekannten als Frau ihres Vaters
und Mutter ihres Mannes angesehen werden konnte.
Nicht imm er liegt einer unterbewußten Ehetragödie so deutlich,
wie in den eben erwähnten Fällen, eine ungenügende Libidoablösung
von der infantilen Übertragung auf den entsprechenden Elternteil
zugrunde.
Es gibt auch sogenannte Vemunftehen, deren Glück deshalb
nicht echt zu sein scheint, weil die psyehosexuellen Konstitutionen
der beiden Ehehälften nicht zusammenpassen.
In meinen zwei weiblichen Fällen spielte dar sogenannte Vater-
komplex allerdings auch noch eine recht wichtige Rolle.
Es gibt Frauen, die es fertig bringen, sich selber ihr ganzes Leben
lang für hoch moralisch und anständig zu halten, während sie von
Hause aus eigentlich sehr stark erotisch, um nicht zu sagen dirnen-
haft, veranlagt sind. Sie verwenden eine Unmenge Mühe darauf, ihre
starken sexuellen Instinkte zu unterdrücken, und fallen nach außen
durch eine gewisse Hyperprüderie und peinlich strenge Sittengrund¬
sätze auf. Die Uberkompensation kann soweit gehen, daß sie sogar
den legitimen Geschlechtsverkehr als etwas Tierisches perhorreszieren
und frigid erscheinen. Aber auch diese Art Lebenslüge kann, selbst
wenn sie noch so gut gestützt ist, bei bestimmten Gelegenheiten zu¬
sammenbrechen und einer Neurose oder Psychose Platz machen.
Hierfür möchte ich nur ein einziges Beispiel anführen, dies aber
ausführlich, da es in verschiedener Beziehung recht interessant ist.
13. Eine Ende der 40er Jahre stehende Frau mußte psychiatrische
Hilfe in Anspruch nehmen, weil schwere Depressionszustände mit taedium
vitae und unbegründete eifersüchtige Wutanfälle gegen ihren Gatten ein
Weiterleben in der Familie als bedenklich erscheinen ließen.
Wie in fast allen Fällen von beinahe monosymptomatischer Eifer¬
sucht stieß die Psychoanalyse auf große Widerstände und zog sich über
recht lange Zeit hin.
Die uns hier besonders interessierenden Resultate will ich in gedrängter
Kürze anführen:
Als sie 2 Jahre alt war, starb ihre Mutter, deren einziges Kind sie
war. Sie wurde von den Großeltern m. s. aufgenommen und erzogen.
Da verschiedene Geschwister ihrer Mutter ethisch defekt waren und ihr
Vater in leichtsinniger Weise mit ihm anvertrauten Geldern umgegangen
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Ober Gelegenheitsursachen gewisser Neurosen und Psychosen. 599
und in Konkurs geraten war, schien es ihren Großeltern angezeigt, das
solchermaßen in sittlicher Beziehung von vornherein gefährdet er¬
scheinende Kind ganz besonders sorgfältig zu erziehen. Immer und immer
wieder wurde es auf die schrecklichen Folgen eines leichtsinnigen Lebens¬
wandels aufmerksam gemacht und ihm die Vorteile eines streng recht¬
lichen und sittenreinen Verhaltens vorgeführt. Ihr Vater, der später wieder
unter seinem Stand geheiratet hatte, wurde ihr als warnendes Beispiel
vorgehalten und bei seinen gelegentlichen Besuchen mit Herablassung
und eisiger Kälte behandelt. Schon sehr früh wurde dem Mädchen auch
beigebracht, daß sie nur durch baldige Verheiratung mit einem in jeder
Beziehung tadellosen und reichen Manne den auf ihrer Familie haftenden
Makel tilgen und sich selber gegen die in ihr schlummernde üble Anlage
schützen könne.
Sie selber verglich einmal die Lebensanschauungen und Charakter¬
eigenschaften ihres Großvaters mit dem „Empire-“, die ihres Vaters
mit dem „Rokokostil“. Daß sie von Hause aus ein reichliches Teil Rokoko¬
eigenschaften mitbekommen hatte, zeigte sich schon sehr bald. Schon
mit 4 Jahren verliebte sie sich schwärmerisch in ein 6 Jahre altes Bübchen
und trieb mit einem Schokoladenbildchen, das sie für sein Konterfei hielt,
einen heimlichen Kultus.
Mit 15 Jahren verliebte sie sich in einen etwas senilen Lehrer, der
an ihr allerlei sexuelle Manipulationen ausübte. Eine alte Magd roch aber
Lunte und warnte sie so eindringlich, daß ihr angst und bange wurde
und ihre frühreife Erotik einer starken Sexualablehnung Platz machte.
Mit 18 Jahren verliebte sie sich wieder in einen jungen, etwas leichten
Herrn, tanzte trotz Verbotes während der Menstruation mit ihm eine ganze
Nacht durch, bekam dann Cystitis usw. und kam körperlich stark her¬
unter.
Bald darauf bekam sie einen Heiratantrag von einem 20 Jahre
älteren, reichen Herrn von sehr gutem Rufe.
Es kostete sie schwere Seelenkämpfe, bis sie schließlich Ja sagte.
Ausschlaggebend war, daß ihr Jugendfreund noch jahrelang nicht ans
heiraten hätte denken können, und daß sie selber das Gefühl hatte, es sei
für sie das beste, so früh als möglich zu heiraten, um eine starke Hand über
sich zu haben. Mitbestimmend war auch, daß der Bewerber in die Familie
des Jugendfreundes gehörte, alle die Eigenschaften besaß, die sie an ihrem
Großvater so hoch schätzte und ihr alle Gewähr dafür bot, daß sie auch
fernerhin auf demselben Fuße leben könne, wie sie es vom Hause des Gro߬
vaters her gewohnt war.
Seit dem Erlebnis mit dem Lehrer hatte sie sich als Ideal vorgestellt,
mit einem älteren Witwer mit sechs halberwachsenen Kindern ohne alle
erotischen Bedürfnisse verheiratet zu sein, und bildete sich in einer Art
moralischer Eitelkeit auf dieses Ideal viel ein. Sie hoffte nun, daß ihr
um so viele Jahre älterer Bräutigam diesem merkwürdigen Mädchenideal
ziemlich nahe kommen werde.
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Bertschinger,
Um sich auf die bevorstehende Hochzeit körperlich zu rekonsti-
tuieren, wurde sie in eine Kaltwasserheilanstalt verbracht, wo sie unter
anderem Vaginalirrigationen bekam, aber auch mehrmals gynäkologisch
untersucht wurde. Als sie einmal zufällig Augenzeuge eines etwas hand¬
greiflichen Flirtes zwischen ihrem Arzte und einer jungen Dame wurde,
gewahrte sie zu ihrem Entsetzen, daß sie auf dem besten Wege gewesen
war, sich in diesen Arzt zu verlieben. Über diesen Durchbruch der ge¬
fürchteten Rokokoeigenschaften aufs tiefste erschrocken, beschloß sie,
heimzukehren und „mit Hochdruck ihre körperliche und moralische Reini¬
gung zu betreiben“. Als geeignetstes Mittel dazu erschienen ihr Vaginal -
Spülungen mittels eines an die Hochdruckwasserleitung angeschraubten
Schlauches.
Diese Manipulationen vermochten allerdings ihr erotisches Feuer
etwas zu löschen, steigerten aber die chlorotischen Erscheinungen, und
sie trat in nicht gerade guter körperlicher Verfassung in die Ehe.
Als sie nun noch bemerken mußte, daß ihr Mann durchaus nicht
frei von erotischen Bedürfnissen sei, und daß auch sie sinnlicher Gefühle
noch nicht entbehre, kam sie sich vor wie eine Prostituierte, und es brach
eine schwere Depression aus, die während der ganzen ersten Schwanger¬
schaft andauerte.
Es gelang ihr aber doch wieder, sich in die Rolle der glücklich ver¬
heirateten Frau hineinzulügen indem sie aktiv alle etwa auftauchenden
wärmeren Gefühle für ihren Mann unterdrückte und es sogar fertig brachte,
beim Koitus frigid zu bleiben. Sie mußte dies tun, da sie diesen alten Mann
ja überhaupt nur geheiratet hatte, um rein zu bleiben, und da ja ihr ganzes
erotisches Fühlen entweder unrein war, oder ihrem unvergessenen Jugend¬
freunde angehörte, für den sie sich eigentlich hatte jungfräulich halten
wollen. Sie zwang deshalb auch ihren Mann, nachdem der Chok der ersten
Schwangerschaft überwunden war, zuerst zu Coitus inter., dann zu Condom-
verkehr, und als trotzdem eine zweite Schwangerschaft erfolgte, brachte sie
es sogar so weit, ihn während vieler Jahre überhaupt von sich fernzu-
halten.
Aber trotz alledem, und trotzdem sie noch reichlich in körperliche
Krankheiten aller Art konvertierte, brach ihr Rokokotemperament
von Zeit zu Zeit doch durch. Sie leistete sich mehrere, allerdings ganz
platonische, aber recht schwärmerische, außereheliche Freundschaften.
Die Verheiratung ihres Jugendfreundes brachte ihr die Lebenslüge,
unter der sie stand, deutlich zum Bewußtsein und vejrursachte bei ihr,
wie sie sagte, einen vollständigen körperlichen Zusammenbruch.
Eine der wichtigsten Stützen für ihre Lebenslüge war die Annahme,
daß, wenn nicht sie ihren Mann, so habe doch wenigstens er sie aus reiner
Liebe geheiratet, weder aus Leidenschaft, noch aus materiellen Gründen,
auch nicht par d6pit oder faute de mieux. Allerdings war auch diese
Hypothese schon einmal ins Schwanken gekommen, als ihr ihre beste
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Über Gelegenheitsurs&chen gewisser Neurosen und Psychosen. 601
Freundin anvertraute, daß der Mann der Pat. sie zuerst um ihre Hand
gefragt habe. Aber sie hatte diese peinliche Geschichte mit allerlei Gründen
einigermaßen zu verdrängen verstanden.
In ihrem 44. Lebensjahr bemerkte sie nun, daß sich ein älteres,
kokettes Fräulein eifrig an ihren Mann heranmachte und ihm nicht
ganz gleichgültig geblieben sei. Damit war der Anstoß zum abermaligen
Zusammenbrechen ihrer Lebenslüge gegeben, denn dieses Vorkommnis
schien ihr zu beweisen, daß ihr Mann sie doch nur faute de mieux geheiratet
hatte, daß auch er trotz aller Empireeigenschaften wie alle Männer roh-
sinnlich sei, daß sie also doch wie eine Prostituierte gelebt habe, und daß
alle ihre Mühe, ihre eigene Rokokonatur zu unterdrücken, wertlos ge¬
wesen sei.
Freilich spielte bei dem nun erfolgenden Ausbruch ihrer schweren
Neurose auch die bevorstehende Klimax eine Rolle. Sie selber sagte dies¬
bezüglich sehr nett: „Wissen Sie, Hr. Dr., ich bin eigentlich nicht krank,
aber ich merke, daß ich im Herbst bin, und kann nicht in den Winter
hinein, denn ich habe ja keinen Sommer und keinen Frühling erlebt“.
In diesem Falle kam es überaus klar zum Ausdruck, daß es Frauen
gibt, die sich symbolisch für ihren ursprünglichen Geliebten jung¬
fräulich erhalten, eben indem sie frigid bleiben gegen ihren Mann.
Daß sie sich dennoch einbilden können, in glücklicher Ehe zu leben,
ist aber eben nur mit Hilfe der unbewußten Hoffnung möglich, das
große Glück werde doch noch kommen, und auch mit Hilfe von Kon¬
versionen und gelegentlichen Übertragungen.
Anlässe zu teilweisem und schließlich völligem Versagen der
Lebenslüge waren in diesem Falle: unerwartete Sinnlichkeit des
Mannes, Schwangerschaften, Verheiratung des Jugendgeliebten, bevor¬
stehende Menopause.
14. Eine 24jährige Frau erkrankte bald nach der Verheiratung
schon in der ersten Schwangerschaft an nervösen Angstzuständen, denen
sich etwa ein Jahr nach der Geburt peinigende Zwangsgedanken zugesellten,
sie müsse ihrem Kinde oder ihrem Manne etwas antun, mit einem Messer
den Kopf spalten, ins Wasser werfen u. dgl. Als sie 29 Jahre alt war, starb
ihre Mutter, gegen die sie kurz vorher auch schon Zwangsgedanken emp¬
funden hatte, und nun verschlimmerte sich ihr Zustand rapid. 2 Jahre
später kam sie in meine Behandlung. Sie hatte nun auch Zwangsimpulse,
sich selber etwas anzutun. Es zeigte sich, daß sie daneben auch noch an
übertriebener Einbrecherangst litt, überall sexuelle Attentate witterte,
und daß alle ihre Träume immer nur den gleichen Wunsch enthielten,
einen anderen Mann zu bekommen, kein Kind zu haben, ein Dirnenleben
führen zu können.
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602
Bertschinger,
Als Kind war sie sehr erotisch veranlagt, hatte eine stark ambivalente
Vaterübertragung, war sehr früh entwickelt, wurde eifrig umworben und
hatte später viel unter sexuellen Nachstellungen zu leiden. Ihr Vater
äußerte schon früh die Befürchtung, daß sie erotischen Verführungen
unterliegen werde, und stellte ihr die schrecklichsten Strafen in Aussicht
für den Fall, daß sie einmal unehelich schwanger werden sollte. Sie sah
deshalb in jedem harmlosen Flirt eine sittliche Gefahr, wollte partout
keine ausgeschnittenen Kleider und schon sehr früh keine kurzen Röcke
mehr tragen, um nur ja kein Aufsehen zu machen. Sie bemühte sich
überhaupt, so zurückgezogen wie nur möglich zu leben.
Schon mit 18 Jahren tauchten verschiedene ernsthafte Bewerber
auf, aber fast bei allen fürchtete sie unreelle Absichten. Mit 19 Jahren
verlobte sie sich, nachdem sie lange zwischen einem Holländer und einem
Deutschen geschwankt hatte, mit dem Deutschen, der ihr als besonders
ernsthaft und solid geschildert worden war. Es trat dann aber zwischen
den Brautleuten eine gewisse Erkaltung ein, sie bekam Angst, daß die
Sache ausgehen könnte, und um ihren Bräutigam zum Vorwärtsmachen
zu zwingen, griff sie zu einem etwas sonderbaren Mittel, das aber ihrer
ursprünglich dirnenhaften Veranlagung sehr gut entsprach. Sie nahm
eine Stelle als Büfettdame, ließ sich ein wenig poussieren und reizte so die
Eifersucht ihres Bräutigams, der ihr schließlich gegen das Versprechen,
ihre Stelle aufzugeben, einen bestimmten Heirattermin in Aussicht
stellte. Da ihr Mann gutmütig, solid und recht vermöglich war, hätte
die Ehe von ihm aus glücklich werden können, schien es nach außen auch
zu sein, und die Kranke selber behauptete, abgesehen von ihrer Nervosität,
durchaus glücklich zu sein. Leider war aber ihr Mann sexuell nicht sehr
leistungfähig, und ihre Meinung, daß die Erotik für sie keine große Rolle
spiele, beruhte auf arger Selbsttäuschung. Um diese aufrecht zu erhalten,
unterdrückte sie alle sinnlichen Regungen auch gegenüber ihrem Mann
und brachte es fertig, schon recht bald sexuell frigid zu sein. Als Grund
für die aktive Unterdrückung der erotischen Gefühle gab sie aller¬
dings zuerst an, sie habe sich vor erneuter Schwangerschaft gefürchtet
und geglaubt, es komme ohne Orgasmus nicht zur Konzeption. Warum
sie keine Kinder mehr haben wollte, wußte sie aber selber nicht.
Je tiefer die Analyse ging, desto klarer zeigte es sich, daß sie ihre
ursprünglich schwer erotische Veranlagung dem Vater zu Liebe verdrängt
hatte, daß diese Veranlagung aber doch schuld war, daß sie in ihrer Ehe
unbefriedigt blieb. Ihre ganze Zwangsneurose war ein steter verzweifelter
Kampf zwischen der selbstbetrügerischen Absicht, eine anständige Frau
zu sein, und der ursprünglichen polygamen Veranlagung.
Es war denn auch kein Zufall, daß sich ihr Zustand nach dem Tode
ihrer Mutter rapid verschlimmerte. Unmittelbar nachher verheiratete
sich nämlich ihr Vater wieder mit einem jungen Mädchen. Er, dem zu
Liebe sie ihre erotischen Instinkte mit so großer Mühe verdrängt hatte.
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Ober Gelegenheitsursachen gewisser Neurosen und Psychosen. 603
war also auch nicht imstande, sich zu beherrschen. Ihr Mühen mußte ihr
somit völlig zwecklos erscheinen.
15. Ein etwa 50jähriger Herr konsultierte mich wegen allerlei
hypochondrischen Befürchtungen und neurasthenischen Beschwerden,
zu denen sich vor kurzem nächtliche Angstanfälle mit Selbstmordideen
gesellt hatten. Er war sexuell sehr anspruchvoll und fand in seiner Ehe
nicht volle Befriedigung. Die nervösen Symptome zeigten auf den ersten
Blick, daß ihnen unbefriedigte Sexualität zugrunde liege, und er litt eigent¬
lich schon seit vielen Jahren an den gleichen Beschwerden, neu waren
einzig die schweren Angstanfälle.
Er ließ sich von einem, ihm als geschickt empfohlenen Hypnotiseur
behandeln und erzählte mir dann später, daß er sich wochenlang ohne
Erfolg habe hypnotisieren lassen. Er sei dann aber plötzlich gesund ge¬
worden, nachdem er durch einen glücklichen Zufall einen schweren,
finanziellen Verlust wieder habe einbringen können, der ihn mit geschäft¬
lichem Ruin bedroht hatte, und der allein die Ursache seiner akuten Zu¬
standverschlimmerung gewesen sei.
Dem sehr unternehmunglustigen und routinierten Geschäftsmann
war es also viele Jahre lang gelungen, durch Sublimierung in seinen Beruf
trotz unbefriedigter Sexualität scheinbar glücklich und, abgesehen von
leichteren hypochondrisch-neurasthenischen Erscheinungen, gesund zu
sein. Sobald aber die Sublimierungsmöglichkeit ins Wanken geriet, drohte
auch die mühsam aufrechterhaltene Lebenslüge bewußt zu werden und
eine schwerere Neurose auszubrechen.
Als Paradigma einer sogenannten 1 * „glücklichen Vernunftehe“,
deren Glück auf Lebenslüge beruhte, mag noch folgender Fall er¬
wähnt sein:
16. Eine 40jährige Frau erkrankte an Schlaflosigkeit und Angst -
zuständen und wurde nach einem Suizidversuch in die Anstalt verbracht.
Eine Krankheitursache konnte niemand angeben. Sie selber hielt
sich für glücklich verheiratet, und jedermann glaubte ihr das und zwar
um so mehr, als sie sich gegen die sonst allgemein bekannte Trunksucht
ihres Mannes sehr tolerant zeigte, ihn gegen alle diesbezüglichen Angriffe
in Schutz nahm und auch die Bemühungen seiner Freunde, ihn zur Ab¬
stinenz zu bewegen, nur sehr flau unterstützte.
Die Kranke selber gab als Grund ihrer Depression drei Ärgernisse
an: 1. daß ihr Mann einen Hund nicht abschaffen wollte, der viel Un¬
ordnung im Hause machte; 2. daß ihre Tochter ohne Vorwissen der Mutter
eine Einladung angenommen habe; 3. daß ihr Mann soviel ins Wirtshaus
gehe. Ihrem Manne war noch aufgefallen, daß die Krankheit ausbrach,
nachdem ein Lehrer, der in der Familie Kost und Logis hatte, wegzog.
Die von der Kranken angeführten Gelegenheitsursachen schienen sehr
wenig stichhaltig, denn der beanstandete Hund war seinerzeit auf ihren
Wunsch angeschafft worden, und die Einladung, welche ihre Tochter
ZwtMhrift für Psyehimtri«. LX1X. 5. 42
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604
Bertschinger,
angenommen hatte, hätte leicht zu einer guten, frühen Verheiratung des
Mädchens führen können, welche die Pat. vorher selber befürwortet hatte,
und für den Alkoholismus ihres Mannes war sie sonst blind gewesen.
Die Analyse zeigte trotzdem, daß die von der Kranken angegebenen
Banalitäten am Ausbruch ihrer Neurose wesentlich beteiligt waren:
Ihre Mutter hatte ihr schon früh beigebracht, daß man bei der Wahl
des Gatten nicht das Herz, sondern den Kopf sprechen lassen müsse, und
pflegte zu sagen, jede Hochzeit stimme sie traurig. Auf ihren Rat ließ die
Kranke einen jungen, einfachen Menschen, in den sie sehr verliebt war,
fahren und heiratete den ihr von der Mutter ausgesuchten, viel vor¬
nehmeren Mann. Sie betonte immer wieder, daß dies ihr Glück gewesen
sei, und erklärte ihre sexuelle Frigidität mit der Behauptung, daß sie von
jeher eine kalte Natur gewesen sei, der alles Sinnliche fremd und alles
Erotische zuwider war. Schon die Zärtlichkeiten ihres Bräutigams er¬
schienen ihr als unerlaubte Zudringlichkeiten, auf der Hochzeitreise litt
sie an nervösem Herzklopfen und Zornanfällen, und es war ihr stets uner¬
träglich gewesen, Augenzeuge von Zärtlichkeiten zwischen Brautleuten
zu sein.
Trotzdem sie nach ihren eigenen Angaben zu ihrem Glücke die
vornehmere Partie vorgezogen hatte, schwärmte sie seit dem Einzuge
des schon erwähnten Lehrers in ihr Haus auffallend für einfache, schlichte
Menschen, nahm es sehr übel, daß ihre ältere Tochter in ein feines Pensionat
geschickt worden war, und warf ihr vor, den einfachen Lehrer nicht mit
genügend Respekt zu behandeln. Dies alles geschah aber nur, weil sie
wußte, daß dieser einfache, rechtschaffene Mensch ebensolche Mädchen
vornehmen Damen vorzog. Im stillen wollte sie ihn zu ihrem Schwieger¬
söhne machen. Da er Hunde liebte, hatte sie die Anschaffung eines solchen
gegen den anfänglichen Widerstand ihres Mannes durchgesetzt.
Zum Schwiegersöhne wünschte sie ihn aber eigentlich nur, um ihn
dadurch an ihr Haus zu fesseln, denn sie selber war in ihn bis über die Ohren
verliebt, weil gerade sein einfach frommes Wesen sie an ihren ursprünglichen
Geliebten erinnerte. Bewußt wurde ihr diese Verliebtheit aber erst, als
er plötzlich ihr Haus verließ, um eine Wirtstochter zu heiraten, was auch
ihre plötzliche Aversion gegen den Wirtshausbesuch ihres Mannes erklärt.
Jetzt erst wurde ihr aber auch klar, daß ihr Eheglück und ihr ganzes Leben
eine einzige große Lüge gewesen war, und in diesem Augenblick brach
die Neurose aus.
Kennzeichnenderweise schwärmte sie nach ihrer Entlassung aus der
Anstalt nicht mehr für einen einfachen Schwiegersohn, sondern setzte
alle Hebel in Bewegung, um ihre Tochter zu veranlassen, eine Herzens -
neigung der viel vornehmeren Partie zuliebe aufzugeben, die sie für sie
ausgesucht hatte. Ihre eigene Ehe führte sie dabei als Beweis dafür an,
daß nur Vernunftehen glücklich werden. Sie scheint also einfach die alte
Lebenslüge wieder aufgenommen zu haben.
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Über Gelegenheitsarsachen gewisser Neurosen and Psychosen. 605
Die letzten Reste ihrer Neurose aber schwanden erst nach dem Tode
des Gatten, was allgemein aufflel, da ihr nahestehende Personen von diesem
Ereignis eher eine Wiederverschlimmerung ihres Zustandes erwartet
hatten.
In zwei Fällen erinnert der Charakter des Mannes in mancher
Hinsicht an das, was Freud Analcharakter nennt. Da die beiden Männer
aber im übrigen rechtschaffene, gute Ehemänner sind, blieb es ihren
Frauen lange verborgen, daß sie eigentlich schwer unter den Eigen¬
heiten ihrer Gatten litten und ihr Eheglück auf Selbsttäuschung
beruhte.
17. 18. Beide Frauen rächten sich für die Unbill, die ihnen ihre etwas
geizigen Männer zufügten, durch heimliches Schuldenmachen resp. kleine
Unterschlagungen und hielten sich durch Verkehr mit nicht ganz einwand¬
freien Personen resp. kleine Flirts für manches schadlos, das ihnen in der
Ehe versagt blieb. Abgesehen davon waren sie duxhaus Mustergattinnen
und scheinbar glücklich. Bei der einen brach die Neurose aus nach dem
Tode ihres ältesten Sohnes, in dem sie schon früh das gefunden hatte,
was sie an ihrem Manne vermißte.
Die andere erkrankte das erste Mal nach längerer körperlicher
Krankheit, das zweite Mal nach der Rückkehr ihrer Tochter aus dem
Welschland, Anlässen, die es ihr verunmöglichten, die zur Aufrechterhaltung
ihrer Glückslüge unerläßlichen kleinen Betrügereien und Liaisons fort¬
zusetzen.
Bei Landleuten wird eine Glückslüge oft durch Sublimierung
auf das Gewerbe ermöglicht. Bei jedem der oft plötzlichen Verluste
oder Mißerfolge, von denen die Landwirtschaft ja stets bedroht ist,
versagt aber der Mechanismus zum Teil. Krankheit bei Menschen
in der arbeitreichen Zeit oder gar beim Vieh führen besonders oft
zu plötzlich ausbrechenden psychischen Depressionen, aber auch das
Klimakterium kann diese Art Lebenslüge Umstürzen.
19. Eiue 48jährige Bäuerin erkrankte bald nach dem Tode ihres
jüngsten Sohnes an präseniler Melancholie, die mit Suizid endete. Sie
jammerte in charakteristischer Weise über drohende Verarmung, klagte
sich aber auch an, den Tod ihres Kindes verursacht zu haben, weil sie es
vermeintlicher Faulheit halber einmal gezüchtigt hatte, als es schon
krank war.
Sie hatte in ihrer Jugend einen Schatz gehabt, den sie aber nicht
heiraten konnte. Mit 29 Jahren heiratete sie dann einen bedeutend
jüngeren, sehr geizigen Mann, der sie hauptsächlich als Arbeitkraft schätzte.
Sie war kolossal fleißig und scheinbar glücklich. In der ersten Schwanger¬
schaft äußerte sie den Wunsch, wieder ledig zu sein, und bei jeder weiteren
Gravidität jammerte sie über die dadurch verursachte Einbuße an Arbeit -
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Bertschinger,
fähigkeit. Aus diesem Grunde wurde der sexuelle Verkehr möglichst
eingeschränkt.
Krankheiten der Kinder beklagte sie hauptsächlich deswegen, weil
sie durch die dabei nötige Pflege den Feldarbeiten entzogen wurde. Wenn
ein Kalb abgetan werden mußte oder die Kartoffeln mißrieten, brach eine
Depression aus.
Der jüngste Bub war ihr besonders unwillkommen gewesen. Als
er sich dann aber anscheinend besonders kräftig entwickelte und eine
wertvolle Arbeitkraft zu werden versprach, söhnte sie sich mit demFamilien-
zuwachs wieder aus. Um so schwerer empfand sie dann seine scheinbare
Faulheit und später seine langdauernde Krankheit, die sie in der arbeit-
reichsten Zeit des Jahres am Bestellen der Felder hinderte.
Ätiologisch fällt aber auch noch ins Gewicht, daß bald nach dem
Tode des Knaben eine Kuh und ein Kalb abgetan werden mußten und die
Frau ins Klimakterium eintrat.
20. Eine scheinbar ganz glücklich verheiratete Frau, die als junge
Tochter schon einmal eine nervöse Störung durchgemacht hatte, wurde
in den Abänderungsjahren auffallend religiös, war mehrere Jahre nach¬
einander im Winter immer deprimiert und brachte dann jeweils einige
Wochen in einer Gebetsheilanstalt zu.
In ihrem 68. Jahre litt sie an Lebensüberdruß und einer Menge
Versündigungswahnideen, Sie behauptete, die Großmutter, womit sie
aber ihre Schwiegermutter meinte, nicht recht gepflegt zu haben, und klagte,
daß sie den Teufel im Herzen, keinen Glauben, die Sünde gegen den heiligen
Geist begangen habe. Sie habe die himmlische Liebe gehabt, wieder ver¬
loren, und als sie ihr wieder angeboten wurde, habe sie sie nicht ange¬
nommen.
Merkwürdig war, daß sie sich in der Anstalt rasch besserte, aber
regelmäßig ein Rezidiv bekam, wenn sie entlassen werden sollte.. Wie
aus ihren späteren Angaben hervorging, waren ihre soeben kurz skizzierten
Wahnideen nichts Anderes, als eine Art symbolische Übersetzung ihrer
psychosexueilen Schicksale.
Sie war sexuell schon sehr frühreif und stark erregt, fing früh an zu
onanieren, wurde mit 15 Jahren von ihrem Dienstherrn verführt und ver¬
kehrte dann aus freiem Willen noch längere Zeit geschlechtlich mit ihm.
Später verliebte sie sich in einen jungen Mann namens Johannes, der um
sie anhielt. Es sei ihr aber mit ihm genau wie mit dem Heiland gegangen,
sie habe einfach nicht Ja sagen können und damit die Liebe verloren,
zuerst die irdische und dann die himmlische.
Mit 27 Jahren heiratete sie, um ihrer Mutter helfen zu können, aber
nicht aus Liebe. Sie habe ihren Mann nur ,,gehabt“, nie geliebt, d. h. sie
war sexuell frigid. Sie hätte am liebsten gar keine Kinder von ihm gehabt,
bildete sich ein, sie nicht erziehen zu können. Die Gleichgültigkeit für ihren
Mann übertrug sie auch auf dessen Mutter, die sie tatsächlich nur not¬
dürftig pflegte.
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Uber Gelegenheitsurs&chen gewisser Neorosen and Psychosen. 607
Trotzdem bildete sie sich aber ein, ganz glücklich zu sein, und hatte
nur ganz vage das Gefühl, daß ihr etwas fehle, daß noch etwas kommen
müsse. Dieses Etwas war natürlich das noch fehlende Liebesobjekt. Als
dann die Menopause eintrat, war es mit der Hoffnung auf irdische Liebe
aus, und sie versuchte es mit der himmlischen, die sie auch lange Zeit
besessen habe. Dann aber habe sie gegen den Heiland, den sie sich unter
den Zügen ihres früher geliebten Johannes vorstellte, fleischliche Gedanken
bekommen, habe sogar in Gedanken an ihn onaniert, d. h. die Sünde
gegen den heiligen Geist begangen und die himmlische Gnade ebenso von
sich gewiesen, wie seinerzeit die Hand Johannes*.
Mit anderen Worten ausgedrückt: mit Hilfe religiöser Sublimierung
gelang es ihr noch einige Zeit über das Klimakterium hinaus die Fiktion,
glücklich gelebt zu haben, aufrechtzuerhalten. Sobald aber die Subli¬
mierung versagte, 'brach eine recht schwere Psychose aus.
Mit diesem Falle will ich die Reihe der Beispiele schließen, die
zeigen sollten, daß ein scheinbares Eheglück oft nur auf einer Lebens¬
lüge basiert, die bei den verschiedensten Anlässen ins Wanken kommen
oder zusammenbrechen muß, wobei es dann zum Ausbruch schwerer
psychischer Störungen kommen kann.
Die Lebenslüge kann auch darin bestehen, daß man sich einredet,
sich mit vollem Erfolg mit dem Verzicht auf Liebes-
betätigung abgefunden zu haben, oder sogar glaubt, daß das
Glück eben auf dem Verzicht auf Liebesgenuß beruhe.
Elin solches Glück entpuppt sich manchmal ganz plötzlich als
Lebenslüge, wenn die sie stützende Übertragung auf eine bestimmte
Person versagt und damit eine sit venia verbo Surrogatehe aufgelöst
werden muß, aber auch, wenn eine Sublimierung versagt, oder die
unbewußt vorhandene Hoffnung, doch noch ein Liebesobjekt zu finden,
schwindet.
Gläubigen Katholiken hilft die Anwartschaft auf die Brautschaft
Christi, diese Art Lebenslüge über die Zeit irdischer Liebesmöglichkeit
hinau s festzuhalten, Mohammedanern vielleicht hie und da die Gewißheit
erotischer Genüsse im Jenseits.
In zwei Fällen gab eine kräftige Geschwisterübertragung die
Möglichkeit und vielleicht auch den Grund zum Verzicht auf Liebes¬
genuß.
Bjjf j ? 21. 22. Zwei Geschwister, Bruder und Schwester, Landleute, blieben
aus nicht naher aufgeklärten Ursachen ledig, lebten beieinander und schienen
durchaus glücklich. Der 2 Jahre ältere Bruder brauchte freilich'zur Unter-
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Stützung seiner Lebenslüge eine Dauernarkose durch Alkohol, die ihn in
seinem 48. Lebensjahr ins Irrenhaus brachte, wo er bald darauf starb.
, Seine Schwester lebte nun allein. 2 Jahre später, in ihrem 49. Lebens¬
jahre, wurde auch sie in die Irrenanstalt gebracht, weil sie nachts hilfe¬
suchend im Dorf herumirrte. Sie meinte, gar nicht geisteskrank zu sein,
sondern nur an Heimweh nach dem verstorbenen Bruder zu leiden. Sie
verlangte aber sofort ganz besonders kräftige Kost, da sie unbedingt schnell
gesund werden müsse, weil der ledige Pfarrer X. sie in den nächsten Tagen
heiraten wolle.
Nach Ablauf eines ziemlich akuten Stadiums lebte sie in steter
ruhiger Gelassenheit stillvergnügt vor sich hin, war fest davon überzeugt,
mit dem Anstaltdirektor verheiratet zu sein, und inszenierte bei jeder
der nur noch selten eintretenden Menstruationen eine kleine Nieder¬
kunft.
23. Von 16 Geschwistern blieben eine Schwester und ein Bruder
bei der Mutter zu Hause, die anderen verheirateten sich, oder gingen sonst
frühzeitig weg. Der Bruder hatte sich mehrfach verlobt, ließ aber alle
Brautschaften wieder ausgehen.
Die Schwester kam in ihrem 33. Lebensjahr, also ungefähr zu dem
letzten Termin, der für sie für eine Heirat noch hätte in Betracht kommen
können, in irrenärztliche Behandlung, weil ihr herrschsüchtiges Wesen
zu Hause nachgerade unerträglich geworden war, und auch, weil sie in
allzu deutlicher Weise ihre Verliebtheit in einen im Hause als Knecht
wohnenden, viel jüngeren Verwandten kundgab. Sie hatte ihn unter dem
Vorwände, ihn stärken zu müssen, immer mit Eiern gefüttert und hatte
sich am Weihnachtfest in den Kleidern zu ihm aufs Bett gelegt, angeblich
um ihn darüber zu trösten, daß er nicht zum Familienfest geladen wurde.
Trotz aller Deutlichkeit dieser symbolischen Handlungen wollte sie nicht
zugeben, daß ein erotisches Moment dabei mitgespielt habe. Sie hatte sich
selber immer eingeredet, nicht zum Heiraten geschaffen zu sein, da sie
körperlich zu schwach sei. Einen Mann, der sich um sie bewarb, über¬
redete sie, ihre Freundin zu nehmen, da es nicht Gottes Wille sei, daß sie
mit einem so schwachen Körper heirate.
Der tiefere Grund, warum sie und ihr Bruder ledig geblieben, war
aber eine aus der Kindheit stammende unüberwindliche, gegenseitige
Übertragung. Der Vorwand, zum Heiraten körperlich zu schwach zu sein,
erklärt sich ganz gut daraus, daß sie an ihrem Bruder hauptsächlich seine
körperliche Größe und Kraft bewunderte. Aus dem gleichen Grunde
fütterte sie auch den Ersatzgeliebten mit stärkenden Eiern.
24. Ein Fräulein blieb von ihren Geschwistern allein ledig bei ihren
Eltern, die sie erst anfangs der 40er Jahre verlor. Auch nach der Eltern
Tod behielt sie das väterliche Gut bei, führte ein offenes Haus und fühlte
sich glücklich als viel besuchte Tante, Schwester und Schwägerin. In
ihrem 68. Jahre wurde beschlossen, das elterliche Haus zu verkaufen, und
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Ober Gelegenheitsursachen gewisser Neurosen und Psychosen. 609
nun brach plötzlich eine präsenile Melancholie aus mit dem charakte¬
ristischen Verarmungswahn, hypochondrischen Klagen, symbolischer
Schwangerschaft usw.
In diesem Falle war der Verzicht auf Liebesgenuß und ein scheinbar
glückliches Leben durch Übertragung der Libido auf das elterliche Heim
ermöglicht worden, nach dessen Verlust die Psychose ausbrach.
Drei meiner Fälle betreffen Witwen, die mit Hilfe intensiver
Übertragung auf bestimmte Personen in ihrer Witwenschaft glück¬
lich lebten, bis durch Aufgebenmüssen der Surrogatehe die Fiktion
des gelungenen Liebesverzichtes verunmöglicht wurde. In den zwei
ersten Beispielen wirkte am Ausbruch der Psychose auch noch das
beginnende Greisenalter mit, im dritten der Eintritt ins Klimakterium,
Umstände, welche die Schaffung einer neuen Übertragungsmöglichkeit
erschweren oder unmöglich erscheinen lassen mußten.
Die Symptome wären in allen Fällen sehr kennzeichnend: Ver¬
armungswahn, Klagen über Verschlossensein aller Leibesöffnungen,
Gefühl der körperlichen Insuffizienz, starke erotische Aufregung,
übermäßige Betonung der eigenen Vornehmheit.
25. In einem Falle brach die Psychose aus, als die Ersatzperson,
der liederliche Sohn, nach Amerika expediert werden mußte,
26. im zweiten Fall, nachdem der angeblich uneigennüt?ige Freund
und Vermögens Verwalter das Vermögen der Kranken durchgebracht hatte,
27. und im dritten Falle, als sich der letzte und treueste Kostgänger
verflüchtigte.
In folgendem Falle wurde die Fiktion des gelungenen Verzichtes
auf Liebesgenuß nicht nur durch Übertragung auf bestimmte Personen,
sondern auch noch durch Sublimierung in den Beruf aufrechterhalten.
28. Eine Wirtstochter übernahm nach des Vaters Tode eine Stelle
in einem Hotel und verliebte sich in den Sohn des Besitzers. Er mußte
aber dem Geschäfte zu Liebe eine andere, reichere Frau nehmen. Sie
ging weg und .übernahm die Leitung einer neu gegründeten Haushaltung¬
schule. Jahrelang ging alles ganz gut, sie glaubte, in ihrem Berufe einen
vollen Ersatz gefunden zu haben. Da brach über das von einem Frauen -
verein gegründete Unternehmen eine finanzielle Krise herein, die unsere
Pat. von der ihr so lieb gewordenen Schule zu trennen drohte. In diese
Zeit fiel der erste, noch recht leichte Schub von Dementia praecox. Die
finanziellen Schwierigkeiten wurden überwunden und die Kranke, die sich
inzwischen wieder völlig erholt hatte, ging mit erneutem Eifer auf ihren
Posten. Es fiel aber auf, daß sie unbedingt die völlige Alleinherrschaft
über das Unternehmen beanspruchte, trotzdem die immer mehr wachsende
Arbeitlast, zusammen mit der Pflege der kranken Mutter, die sie inzwischen
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Bertschinger,
noch zu sich genommen hatte, von ihr allein manchmal kaum zu be¬
wältigen war.
Nach ihrer eigenen Angabe fühlte sie sich mit der Schule wie ver¬
heiratet. Sie lebte aber noch in einer Art zweiter Surrogatehe. Sie be¬
suchte nämlich sehr häufig die Familie einer intimen Freundin, die jahre¬
lang an schwerer Tuberkulose litt, und an deren zwei Töchtern sie sozusagen
Mutterstelle vertrat. Als die Freundin starb, brach ein zweiter kleiner
Krankheitschub aus, der aber rasch vorüberging, da sie auch weiterhin
noch bei dem Witwer ihrer Freundin ein- und ausgehen und seine Kinder
bemuttern durfte.
2 Jahre später vernahm sie durch eine Drittperson, daß sich der
Mann ihrer Freundin wieder verlobt habe, und nun brach bei der inzwischen
47 Jahre alt gewordenen Kranken ein dritter, sehr schwerer Krankheit¬
schub aus, der Anstaltbehandlung notwendig machte. Alle ihre Wahn¬
ideen und Halluzinationen drehten sich um erotische Motive. Sie erholte
sich, trat ihre Stelle wieder an, war aber unerträglich eigensinnig und
herrschsüchtig geworden und konnte vor allem atich nicht ertragen, daß
man, um sie einigermaßen zu entlasten, eine zweite Vorsteherin angestellt
hatte, die ihr koordiniert war. Bald stellte sich ein Rezidiv ein, das die
definitive Entlassung aus ihrer Stelle notwendig machte. Der Frauen-
verein, in Anerkennung der ihm von ihr geleisteten Dienste, bemühte
sich, ihr anderweitig passende Stellen zu verschaffen, aber jeder Versuch
schlug fehl. An jeder Stelle, die sie nun antrat, bekam sie schon nach kurzer
Zeit.ein neues Rezidiv, und in jedem Rezidiv machte sie wieder einen
Versuch, in die Schule zurückzukehren, mit der sie so lange sozusagen
verheiratet gewesen war.
In fünf Fällen brach die Krankheit bei den ledigen resp. früh
verwitweten Kranken aus, als die stille Hoffnung, doch noch ein
passendes Liebesobjekt zu finden, aufgegeben werden mußte. Zweimal
war es der letzte für eine gute Heirat in Betracht kommende Termin,
einmal der Verlust eines Hauptattraktionsmittels in Verbindung mit
der Menopause, einmal die Menopause allein und einmal die im be¬
ginnenden Greisenalter versagende Potenz, welche die Lebenslüge
zum Zusammenfall brachten.
29. 30. Bei zwei jungen Damen brach die Psychose in der Zeit des
letzten Heirattermines aus, nachdem sie 8 resp. 10 Jahre lang vergebens
darauf gewartet hatten, daß ihre beiden Verlobten ernstlich ans Heiraten
dachten.
31. Eine 44 jährige Witwe, die kaum ein Jahr mit einem viel älteren
schwerkranken Manne verheiratet gewesen war, glaubte von allen Wieder-
verheiratungswünschen frei zu sein. Als sie aber ihr Vermögen verlor
und dadurch in ihren früheren, niedrigeren Stand zurücksank und für die
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schon alternde Frau mitsamt dem Geld« auch alle Heiratchancen verloren
waren, erkrankte sie an Angsthysterie, Einbrecherangst usw.
32. Ein armes Dienstmädchen wurde von ihrem Schatz, der ihr
eine Reichere vorzog, im Stich gelassen. Bald darauf ertrug sie das Dienen
nicht mehr, machte sich selbständig und wurde Schneiderin.
Über den Verlust des Bräutigams tröstete sie sich mit der Erwägung,
es sei besser, ledig zu bleiben, als den ersten besten zu nehmen. Sie wartete
nun getreulich und scheinbar glücklich auf den Rechten, der noch kommen
sollte, und blieb bis zur Menopause ganz gesund.
Aber schon während der Abänderung wurde sie plötzlich religiös,
ging zu Zeller nach Männedorf, ohne den rechten Trost zu finden, und dann
brach eine Dementia paranoides aus. Sie hörte den Bundespräsidenten
zu ihren Hausleuten sagen: sie sei eine Perle und müsse es noch gut haben;
kam in die Irrenanstalt und ist nun die Frau des Direktors, der sie dem
Bundespräsidenten für 30 000 Franken abgekauft hat.
33. Ein 61 jähriger Herr fühlte seine Potenz schwinden und er¬
krankte an präseniler, hypochondrischer Melancholie. Unter anderem
jammerte er über ein ganz verfehltes Leben, da er kein Examen bestanden
habe. Er fürchtete immer, gesellschaftlich anzustoßen, und konnte keine
passende Haushälterin mehr finden. Er hatte eine in jeder Beziehung
glänzende Karriere hinter sich, war aber trotz bester Heiratgelegenheiten
ledig geblieben, weil er als Hausfreund einer Dame hängen geblieben war.
Dies Verhältnis hatte ihm seinerzeit in der Gesellschaft oft empfindliche
Verlegenheiten bereitet und bewirkt, daß er später an jeder für ihn in
Betracht kommenden Heiratpartie etwas auszusetzen fand. Dennoch
hielt er sich in seinem Junggesellenstand für glücklich, bis sich das Heran-
nahen des Greisenalters deutlich bemerkbar machte und sich die stille
Hoffnung, doch noch unter den Pantoffel zu kommen, nicht mehr länger
aufrechterhalten ließ.
Bei latent Homosexuellen, die viel häufiger zu sein
scheinen, als man im allgemeinen annimmt, kann eine ganz besondere
und interessante Form von Lebenslüge dadurch zustande kommen,
daß sich die Kranken selber irrtümlicherweise für heterosexuell halten.
In meinen Fällen ließ sich immer nachweisen, daß der latenten
Homosexualität eine infantile inzestuöse Libidoübertragung auf die
Mutter resp. den Vater zugrunde lag.
Latent ist in diesen Fällen die Homosexualität insoweit, als sie
den Kranken unbewußt bleibt und nach außen keine Erscheinungen
macht. Die Leute fallen höchstens dadurch auf, daß sie ohne plausiblen
Grund ledig bleiben.
Männer erklären ihre Heiratscheu anderen und sich selber damit,
daß zu diesem Schritt imm er noch Zeit genug sei, daß es ihnen an
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Bertschinger,
Bekanntschaft fehle, daß sie zum Heiraten keine Zeit haben, oder
daß ihre Position ihnen noch nicht erlaubte, eine Familie standes¬
gemäß zu erhalten.
In ihrem Junggesellenleben bleiben sie meistens keusch und
begründen ihre Sittenreinheit mit hygienischen, ethischen oder ästheti¬
schen Erwägungen.
Nicht so selten verloben sie sich dann in späterem Alter allen
unerwartet doch noch und gehen in der Wahl ihrer Frauen viel weniger
sorgfältig zu Werke, als man gerade ihnen zugetraut hätte.
Viele von ihnen bemerken dann mit Schrecken, daß sich beim
Zusammensein mit ihrer Geliebten keine sexuellen Erregungen ein¬
stellen. Sie bekommen Angst, infolge von Masturbation impotent
geworden zu sein, laufen gewöhnlich zuerst zum Urologen, werden
hypochondrisch, angstneurotisch und kommen zum Nervenarzt.
Bei anderen zeigen sich Impotenz resp. Frigidität und angst-
neurotische Symptome erst in der Ehe.
Für diese sehr häufige Art Lebenslüge will ich mich auf die Wieder¬
gabe je eines männlichen und eines weiblichen Beispieles beschränken.
34. Ein 26 jähriger Mann kam in Behandlung, weil er seit einem
Vierteljahr beim Arbeiten, in Gesellschaft und beim Schachspielen Kopf¬
druck habe und unruhig schlafe. Er wollte von diesen Übeln befreit sein,
weil er verlobt sei und nächsten heiratens wolle. Er hielt sich sonst für
ganz normal, habe als Knabe onaniert, später mit Dirnen verkehrt und
sich Maitressen gehalten und sei dabei immer potent gewesen. Er wollte
sich nicht näher untersuchen lassen, verlangte nur diätetische Vor¬
schriften.
Nach einiger Zeit kam er wieder in etwas verschlimmertem Zustande
und gab an, er sei sexuell doch nicht ganz normal, er habe beim Koitus
kein Wollustgefühl, ein solches trete nur auf, wenn er sich von einer Dirne,
womöglich durch die Kleider hindurch, masturbieren lasse, weil dann
die Friktion energischer sei. An seinem Übelbefinden sei wohl die Angst
schuld, sich vor seiner zukünftigen Frau zu blamieren, der er doch nicht
wohl solche Traktiken zumuten dürfe, wie er sie von seinen Maitressen
habe ausüben lassen. Bis jetzt hatte er allerdings gemeint, er ziehe diese
Manipulation dem Koitus nur vor, um seine Maitresse nicht zu schwängern,
und bei Dirnen aus Appetitlichkeitsgründen.
Die Analyse ergab einen ausgeprägten Analcharakter und schlecht
verdrängte homosexuelle Regungen. Die Heilung erfolgte nach dem
Wiederbewußtwerden folgender Erinnerung:
Als 3 jähriger Bub liebte er es, morgens zum Vater ins Bett tu gehen.
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Über Gelegcnheitgursachen gewisser Neurosen und Psychosen. 613
Eines Tages bemerkte der Vater aber, daß das Bübchen mit allen Zeichen
deutlich wollüstiger Erregung seinen wohl erigierten Penis an den väter¬
lichen Schenkeln rieb.
Mein weibliches Beispiel ist um so interessanter, als sich die
Täuschung, heterosexuell zu empfinden, auf den lebhaften Wunsch
stützte, eigene Kinder zu bekommen, der auch seinerseits wieder auf
Selbsttäuschung beruhte, denn es lagen ihm keine mütterlichen,
sondern pervers sexuelle Regungen zugrunde.
35. Eine 28jährige Frau bekam somnambule Zustände, in denen
sie allerlei merkwürdige Handlungen ausführte. Sie stand z. B. nachts
auf, ging in den Garten und rief den Namen eines Kindes, das hier und da
bei ihr in den Ferien ist; oder sie räumte den Bücherschrank aus und trug
ihrem Mann ein Buch ins Bett, „die Seele meines Kindes“.
Sie selber glaubt den Grund dieser auffallenden Erscheinungen
darin suchen zu müssen, daß ihre sonst glückliche Ehe infolge mangel¬
hafter Potenz ihres Mannes kinderlos blieb und zu bleiben droht. Auch die
oberflächliche Analyse schien ihrer Vermutung recht zu geben.
Bei tieferem Eingehen zeigte es sich aber, daß ihre Meinung, psycho-
sexuell ganz normal veranlagt zu sein und unter der Kinderlosigkeit zu
leiden, eine arge Lebenslüge war.
Denn es trat allmählich klar zutage, daß die Frau von Anfang an
sexuell frigid gewesen war, daß ihr ablehnendes Verhalten einen Teil der
Schuld an der mangelnden Potenz ihres Mannes trug.
Ihre Libido war noch stark homosexuell bei einer Lehrerin ver¬
ankert, und schon in ihrem 16. Lebensjahr hatte sie vorübergehend genacht-
wandelt, um immer wieder ins Schlafzimmer dieser Lehrerin eindringen
zu können. Aber auch kleine Mädchen kamen für sie als Sexualobjekt
in Betracht, was ihren Wunsch nach Kindern in einem ganz besonderen
Lichte erscheinen ließ.
Vollständig geheilt wurde sie erst, als die allen diesen Erscheinungen
zugrunde liegende inzestuöse Übertragung auf den Vater und später den
älteren Bruder wieder bewußt und rückgängig gemacht werden konnte.
Auch diese Frau hatte einen ihrem Vater möglichst unähnlichen,
etwas waschlappigen Mann „aus Mitleid“, wie sie meinte, „geheiratet“,
weil man durch eine Ehe mit einem solchen Pseudomanne dem Vater
eben nicht eigentlich untreu wird.
Unmittelbar vor dem Aufbruch zur Hochzeitreise mußte Pat. noch
einmal durch das Schlafzimmer ihrer Eltern gehen. Dabei stieg ihr der
Gedanke auf, wie viel schöner es doch wäre, zum Vater ins Bett zu gehen,
als mit ihrem Manne verreisen zu müssen.
Auch ein ehrbares, rechtschaffenes Leben ist
manchmal nur eine Lebenslüge und beruht darauf, daß man die Welt
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Bertschinger,
und sich selber über seinen eigenen Charakter täuscht, bis dann bei
irgendeinem Anlaß die wahre Natur zum Vorschein kommt oder
als letzter verzweifelter Verdrängungsversuch eine Neurose oder
Psychose ausbricht.
36. Eine 53jährige Dienstmagd, die ein höchst ehrbares, arbeit¬
sames und frommes Leben hinter sich hatte, u. a. 21 Jahre lang die gleiche
Stelle bekleidete, erkrankte nach dem Tode ihrer Mutter an nervösen
Herzbeschwerden und im Anschluß an eine unglückliche Liebesaffäre
ihrer Nichte, die sie sehr aufregte, an einer äußerst schweren präsenilen
Melancholie, in der sie besonders dadurch auffiel, daß sie die tollsten und
perversesten sexuellen Zwangsgedanken, Wahnideen und Wünsche äußerte.
Sie mußte sich z. B. immer vorstellen, wie es wohl wäre, wenn der liebe
Gott und Jesus mit Tieren sexuell verkehren würden, oder wenn Männer
und Knaben in den Abendmahlskelch urinierten. Sie roch Menschen-
fleisch, spürte es im Munde, wurde von Insekten gefressen, wollte dem
lieben Gott die Finger oder ein Messer in die Augen stecken, dem Heiland
einen Box oder Fußtritt geben, wurde vom Teufel geschwächt usw.
In der Rekonvaleszenz erzählte sie, sie sei im Alter von 4—5 Jahren
von einem Kindermädchen sexuell gereizt und mißbraucht worden, habe
dann selber mit einem Knaben Schweinereien gemacht, habe Käfer und
Fliegen gefangen und sie an die Geschlechtsteile gesetzt und auch auf
andere Tiere sexuelle Gelüste gehabt. Mit 9 Jahren sei sie von einem
Manne im Wald sexuell mißbraucht worden und habe sich dem Verführer
dann noch mehrmals hingegeben.
Noch mit 15 Jahren Heß sie sich von Knaben betasten und kniff
die ihr anvertrauten kleinen Kinder aus Wollust in den Leib. Dann wurde
sie brav. Aber mit 36 Jahren, also zur Zeit des letzten Heirattermins,
verkehrte sie sexuell mit ihrem Schwager, und 2 Jahre später verlobte
sie sich brieflich mit einem 76jährigen Manne, der ihr feurige Briefe
schrieb. Zu einer Heirat kam es aber nicht; sie bekam Angst, wurde wieder
brav und blieb es bis zum Ausbruch der Psychose im beginnenden
Greisenalter.
Das im Präsenium so regelmäßige Aufflackern der sexuellen Triebe
hatte bei ihr die ursprüngliche hypersexuelle Anlage wieder zum Erscheinen
gebracht. Die gewohnte Art der Verdrängung durch Sublimierung in den
Beruf genügte nicht mehr; an Stelle der Lebenslüge trat die psychotische
Wunscherfüllung.
Zwei andere Fälle betreffen ebenfalls hypersexuell veranlagte
Frauenspersonen, die sich in der Lebenslüge gefielen, asexuell zu sein.
Ihre Selbsttäuschung hielt aber nicht so lange vor wie im voran¬
gehenden Fall. Die erste stärkere erotische Regung brachte sie als
Lüge zum Bewußtsein und verursachte psychotische Erscheinungen,
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Über Gelegenheitsursachen gewisser Neurosen und Psychosen. ßJ5
die deutlich die verdrängten sexuellen Wünsche zum Ausdruck
brachten.
37. 38. Es handelte sich um zwei junge Dienstmädchen, die in
frohester Jugend sittlich verwahrlost, sich später durch peinliche Ord¬
nungsliebe, Gewissenhaftigkeit und Empfindlichkeit gegen sexuelle Reden
auszeichneten. Die eine erkrankte akut an Dementia praecox, als sie
bemerkte, daß ihre Verliebtheit in den Sohn ihrer Dienstherrschaft durchaus
nicht erwidert wurde, aussichtlos und somit ganz unerlaubt sei.
Bei der anderen traten angstneurotische Zustände auf, als sie merkte,
daß sie sich in einen jungen Mann nur deshalb vom bloßen Ansehen ver¬
liebt hatte, weil er ihrem ersten Verführer glich, den sie nur noch zu ver¬
abscheuen geglaubt hatte.
Auch auf anderem als sexuellem Gebiete gibt es eine Lebens-
lüge des Bravseins.
Diese Art Lebenslüge wird wohl meistens durch die Hoffnung
auf reichliche Belohnung im Diesseits, oder bei frommen Menschen
auch im Jenseits gestützt. Sie scheint mir unter den Gesunden häufig
und imm er verbunden zu sein mit großer Empfindlichkeit gegen die
Fehler anderer. Bewußte Heuchelei möchte ich solchen Menschen
aber nicht vorwerfen. Sie sind von ihrer Tugendhaftigkeit um so mehr
überzeugt, als ihr Bravsein sie ja große Mühe kostet.
Leider habe ich hierfür nur ein einziges Beispiel finden können.
39. Es betrifft einen jungen Hebephrenen, der draußen und in der
Anstalt bald alle möglichen Tugenden nicht nur zur Schau stellt, sondern
auch zu besitzen scheint, bald ein in jeder Hinsicht unangenehmer und
nichtsnutziger Geselle ist. Der Umschlag vom tugendhaften Zustand
ins Gegenteil leitet sich immer mit Klagen über mangelnde Anerkennung
und Liebe seitens der Person aus, der zu Liebe er sich kurze Zeit für brav
gehalten und entsprechend aufgeführt hatte.
Die Fälle, die ich hier mitgeteilt habe, waren symptomatologisch
sehr verschieden; Hysterie, Angstneurose, Zwangsneurose, Schizo¬
phrenie, Spätkatatonie, manisch-depressives Irresein, präsenile Melan¬
cholie waren vertreten.
Ich hoffe aber doch, daß es mir gelungen sei zu zeigen, daß die
letzten Ursachen, welche den manifesten Krankheitausbruch herbei¬
führten, etwas Gemeinsames hatten. Immer war es das Bewußtwerden
des Widerspruches zwischen den, sagen wir ganz allgemein, Glücks¬
ansprüchen der Kranken und dem ihnen in Wirklichkeit zuteil ge¬
wordenen Glück. Gemeinsam war allen meinen Fällen auch, daß dieser
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Widerspruch von jeher bestand, die Kranken es aber verstanden, ihn
mit Hilfe verschiedener Mechanismen bald kürzer bald länger vor sich
selber mehr oder weniger geheimzuhalten. Dieses oft ziemlich be¬
wußte Geheimhalten nannte ich Lebenslüge. Die psychischen Mecha¬
nismen waren dieselben, die uns auch aus der Psychologie der Neu¬
rosen und Psychosen bekannt sind, Ersatzbildungen, Sublimierungen,
Affektverschiebungen, Konversion psychischer Konflikte in körper¬
liche Leiden usw.
Sicher kommen alle diese Mechanismen des Selbstbetruges auch
bei ganz gesunden Menschen vor, und auch meine Kranken galten
noch als psychisch gesund, solange es ihnen gelang, den Widerspruch
zwischen Wunsch und Realität mit relativ schwachen Mitteln aus
ihrem Bewußtsein zu verdrängen resp. zu verschleiern. Manifeste
Krankheitsymptome traten erst auf, wenn dieser Widerspruch ununter-
drückbar wurde oder die kleinen Mittel versagten.
Bei der Kürze, in die ich meine Krankengeschichten zusammen¬
drängen mußte, war es leider nicht möglich, so deutlich, wie ich es
gerne getan hätte, zu zeigen, daß auch die manifesten neurotischen
und psychotischen Symptome nichts Anderes waren, als der Ausdruck
der in der Wirklichkeit unerfüllt gebliebenen Glücksansprüche und
der Versuch, diesen Widerspruch gewaltsam aus der Welt zu schaffen,
sei es durch neurotische Konversions- und Verdrängungsversuche,
sei es durch schizophrene Umgehung und Verneinung des Konfliktes,
sei es durch paranoide Entstellung der Wirklichkeit im Sinne des
Wunsches oder auch durch den noch so wenig analysierten Mechanis¬
mus der manischen oder melancholischen Reaktion. Daß die manische
Ideenflucht und Vielgeschäftigkeit dazu dienen kann, die eigene
Aufmerksamkeit von einer bestimmten peinlichen Realität abzulenken,
glaube ich an meinem einzigen manisch-depressiven Falle gezeigt zu
haben. Die melancholische Depression aber war in mehreren meiner
Fälle eigentlich nichts Anderes als der adäquate Ausdruck für das
Bewußtwerden des Widerspruches zwischen der unerfreulichen Wirk¬
lichkeit und dem bisher vorgetäuschten Glück. Sie hat aber, und das
erklärt vielleicht in gewissen Fällen die Dauer des depressiven Affektes,
gewisse für den Kranken vorteilhafte Nebenerfolge. Sie erlaubt z. B.
auf soi-disant anständige Weise der unleidlich gewordenen Wirklichkeit
durch Selbstmord aus dem Wege zu gehen. Sie erleichtert aber auch
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Über Gelegenheitsurs&chen gewisser Neurosen und Psychosen. 617
wie jede andere „Krankheit“ eine weniger gewaltsame Flucht aus der
Wirklichkeit.
Warum nun bei der großen Ähnlichkeit der allen Neurosen und
Psychosen zugrunde liegenden psychologischen Konflikte und der
äußeren und inneren Umstände, die ihren schließlichen Ausbruch
herbeiführen, das eine Mal diese, das andere Mal jene klinische Krank¬
heit ausbricht, darüber gibt mein Material noch keinen Aufschluß.
Nur vermutungweise möchte ich folgendes andeuten. Jeder
Neurose und Psychose liegt die Unfähigkeit zugrunde, gewisse Glücks -
ansprüche, hauptsächlich psychosexueller Natur, den geringen Glücks -
erfüllungsmöglichkeiten der Wirklichkeit anzupassen. Diese An¬
passungsunfähigkeit beruht vielleicht zum Teil auf ererbter Disposition,
zum großen Teil aber ist sie eine durch frühzeitige Milieueinflüsse
erworbene. Wohl fast immer braucht es aber noch weiterer äußerer
Umstände, Lebenslagefaktoren im weitesten Sinne des Wortes, damit
ans der ursprünglichen Anpassungsunfähigkeit eine manifeste Krank¬
heit hervorgght. Welche es sein wird, das scheint mir nicht von exo¬
genen Einflüssen bestimmt zu werden. Ich neige vielmehr der Ansicht
zu, daß die Art und Weise, in der ein Mensch auf die Unvereinbarkeit
seiner Glücksansprüche mit der Wirklichkeit reagiert, auf einer an¬
geborenen, vererbbaren Disposition zu einer ganz bestimmten Reak¬
tionsweise beruht.
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Die Bedeutung Schopenhauers für die Psychiatrie 1 ).
Von
Oberarzt Dr. Otto Jnlinsbnrger, Steglitz.
Wenn ich über die Bedeutung Schopenhauers für die Psychiatrie
sprechen will, so gibt die unmittelbare Gegenwart, der augenblickliche
Stand der Entwicklung unserer Wissenschaft einen besonderen Anreiz
und eine innere Berechtigung.
In seinem klassischen „Grundriß der Psychiatrie“ äußerte Wemicke
noch im Jahre 1900 über die Psychiatrie: „Sie ist eigentlich ein Teil¬
gebiet der inneren Medizin. Leider ist es zugleich dasjenige Gebiet,
welches in seiner Entwicklung zurückgeblieben ist und noch jetzt
auf einem Standpunkt steht, wie etwa vor einem Jahrhundert die
gesamte übrige Medizin“. Der Forschung und genialen Arbeitskraft
Wemicke s verdankt die Psychiatrie eine große Förderung und eine
unvergängliche Vertiefung und Bereicherung. Die wissenschaftliche
Psychiatrie hat einen raschen und glänzenden Aufstieg genommen.
Man hatte bisher in der Psychiatrie das Hauptaugenmerk auf
den freilich wichtigen Faktor der Ätiologie gerichtet und die ver¬
schiedenen Gifte berücksichtigt; die anorganischen und organischen
Körper wurden in weitem Ausmaße in Betracht gezogen; die wissen¬
schaftliche Vertiefung und auch die praktische Inangriffnahme fanden
Förderung und stetige Entwicklung. Abgesehen von den ätiologischen
Faktoren, welche für geistige Erkrankungen in Frage kommen, wandte
sich die Aufmerksamkeit der Forscher dem Verlauf der verschiedenen
psychischen Erkrankungen zu. Es gelang der unermüdlichen Arbeit,
bestimmte Krankheitbilder herauszufinden und abzusondern, und
unstreitig hat diese klinische Seite der psychiatrischen Wissenschaft
ganz hervorragende Verdienste sich erworben. Wemicke ging von dem
l ) Nach einem Vortrage auf der Generalversammlung der Schopen¬
hauer-Gesellschaft zu Kiel 1912.
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Die Bedeutung Schopenhauers für die Psychiatrie.
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Studium der Gehirnlokalisation aus und hatte den Gedanken bis in
die äußerste Konsequenz hinein verfolgt, daß der XJngleichwertigkeit
der Großhirnrinde, daß der physiologisch abgrenzbaren verschiedenen
Leistung der letzteren auch eine lokalisatorisch zu begreifende Gliede¬
rung innerhalb des seelischen Geschehens entsprechen müsse.
Wer nicke teilte unser Bewußtsein in drei Abschnitte ein; für
ihn stellte der Inhalt des Bewußtseins die Summe aller Vorstellungen
dar, er unterschied davon drei Kategorien, je nachdem sie eine Vor¬
stellung von der Außenwelt, vom eigenen Körper und der sogenannten
Persönlichkeit oder Individualität, d. h. die Summe der individuellen
Erinnerungen eines Menschen zum Inhalt haben. Da ist es interessant,
zu sehen, wie auch Schopenhauer das Bewußtsein einteilt in die Er¬
kenntnis der Außenwelt, welche auch das Bewußtsein anderer Dinge
im Gegensatz des Selbstbewußtseins bezeichnet. Das Bewußtsein
anderer Dinge, wie Schopenhauer es nennt, deckt sich aber vollständig
mit dem, was Wemicke als ällopsychisch kennzeichnet. Und das
Bewußtsein des eigenen Selbst, das Selbstbewußtsein, deckt sich mit
der Wemickeschen Bezeichnung des Autopsychischen. Zum Be¬
wußtsein anderer Dinge gehört aber im Sinne Schopenhauers schon
unser Bewußtsein vom eigenen Körper; aus praktischen Gründen
kann man letzteres aber von dem Bewußtsein der Außenwelt trennen
und so in der Tat das Bewußtsein anderer Dinge sondern in die Vor¬
stellung vom eigenen Körper, gleich somatopsychisch, und die Vor¬
stellung von der Außenwelt, gleich allopsychisch. Diese Einteilung
ist in der Tat außerordentlich fruchtbar bei der Darstellung und
Zergliederung der krankhaften psychischen Erscheinungen.
Wir werden noch weiterhin auf bemerkenswerte verwandtschaft¬
liche Züge in der scheinbar und vielfach auch tatsächlich so divergenten
Auffassungsweise des Psychiaters Wemicke 1 ) und des Philosophen
Schopenhauer stoßen.
Wenn Wemicke das Gehirn einem Weichtier vergleicht, welches
mit Fühlfäden, den Sinnesnerven, ausgestattet ist, so finden wir,
*) Schopenhauer sagt: Die Erinnerungen eines Alten sind um so
deutlicher, je weiter sie zurückliegen, u. werden es um so weniger, je
näher sie der Gegenwart kommen, so daß, wie seine Augen, auch sein Ge¬
dächtnis fernsichtig (rptsßSs) geworden ist. — Hier muß man an das
von Wemicke als Presbyophrenie bezeichnete Krankheitbild denken.
Zeitschrift für Psychiatrie 43
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Juliusburger,
wie bereits Schopenhauer sich genau derselben Ausdrucksweise bedient,
wenn er sagt: „Das Gehirn streckt seine Fühlfäden,
die Sinnesnerven, in die Außenwelt“.
Der Versuch Wemickes, das Grundgesetz der Gehirnlokalisation
auch auf das psychische Gebiet zu übertragen, dürfte zunächst Er¬
staunen erwecken und den Verdacht erregen, als sei das ganze System
Wemickes aufgebaut auf einem massiven und plumpen Materialismus.
Aber auch Schopenhauer ist diesem Vorwurf nicht entgangen. Man
denke nur an seine Bemerkung, daß der Intellekt eine bloße Funktion
des Gehirns ist, welches ihm ebenso vorhergängig ist, wie der Magen
der Verdauung oder die Körper ihrem Stoß, und mit welchem er im
Alter verwelkt und versiegt. Den Intellekt nennt Schopenhauer an
einer anderen Stelle physiologisch als eine Funktion des Organs des
Leibes: „Der Intellekt ist physisch wie die Verdauung; wie gute
Verdauung einen gesunden, starken Magen, wie Athletenkraft mus¬
kulöse, sehnige Arme erfordert, so erfordert außerordentliche Intelligenz
ein ungewöhnlich entwickeltes, schön gebautes, durch seine Textur
ausgezeichnetes und durch energischen Pulsschlag belebtes Gehirn“.
Aber wir wissen sehr wohl, daß Schopenhauer hier nur von einem
bestimmten Standpunkte aus sprach, dessen Umgrenzung und Ein¬
seitigkeit ihm sehr wohl bewußt waren. Und diese materialistische
Auffassung des Intellekts wurde von ihm in einer höheren und um¬
fassenderen Erkenntnis der Vorgänge wieder aufgelöst. Im 20. Kapitel
des II. Bandes der „Welt als Wille und Vorstellung“ heißt es:
„Was im Selbstbewußtsein, also subjektiv, der Intellekt ist, das
stellt im Bewußtsein anderer Dinge, also objektiv, sich als das Gehirn
dar. Und was im Selbstbewußtsein, also subjektiv, der Wille ist, das stellt
im Bewußtsein anderer Dinge, also objektiv, sich als der gesamte Organis¬
mus dar.“ An einer andern Stelle sagt der Philosoph:
„Die scheinbare Verschiedenheit zwischen Willensakt und Leibes¬
aktion entsteht allein daraus, daß hier das eine und selbe in zwei verschie¬
denen Erkenntnisweisen, der inneren und der äußeren, wahrgenommen
wird.“
Klar und deutlich wird die Anschauungsweise Schopenhauers
mit den Worten wiedergegeben: „Was von innen gesehen das Er¬
kenntnisvermögen ist, das ist von außen gesehen das Gehirn.“ x ) Und
1 ) Mit Recht sagt Möbius: Von vornherein war mir klar, daß der
Kern der theoretischen Philosophie bei Schopenhauer u. bei Fechner
derselbe sei.
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Die Bedeutung Schopenhauers für die Psychiatrie.
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noch eine Äußerung Schopenhauers sei hinzugefügt: „Also was objektiv
Materie ist, ist subjektiv Wille“.
Aus dieser kurzen Zusammenstellung von Aussprüchen Schopen¬
hauers, welche sich im zweiten Bande seines Hauptwerkes finden,
geht klar und deutlich hervor, daß er hier eine Identitätslehre vertritt,
welche in der Gegenwart von psychiatrischer Seite in einer Reihe von
Abhandlungen, gestützt auf die neuzeitlichen Ergebnisse der Gehirn¬
anatomie, der Gehirnphysiologie und der Psychopathologie, von
August Ford mit allem Nachdruck vertreten wird.
Eine einfache Substanz ah Seele kann die wissenschaftliche
Psychiatrie nicht mehr anerkennen. Und wenn Schopenhauer sagt: „Der
Begriff einer Seele ist nicht nur als transzendente Hypostase unstatthaft,
sondern er wird zur Quelle unheilbarer Irrtümer, da er in seiner einfachen
Substanz eine unteilbare Einheit der Erkenntnis und des Willens vorweg
feststellt, deren Trennung gerade der Weg zur Wahrheit ist“, so können
wir ihm von den Erfahrungen der Psychiatrie her nur zustimmen. Frei¬
lich gibt es innerhalb der wissenschaftlichen Psychiatrie eine Schule,
an deren Spitze Ziehen steht, welche den Willen als einen bestimmten
psychischen Vorgang nicht gelten läßt, sondern in ihm nur eine in einer
Wort Vorstellung zusammengefaßte Vereinheitlichung gewisser Vorstellungen
nebst den zugehörigen Gefühlstönen erblickt. Es kann nicht in diesem
Zusammenhänge meine Aufgabe sein, diese Auffassung zu widerlegen,
sondern ich muß mich mit der Bemerkung begnügen, daß auch in der
Psychiatrie nur eine voluntaristische Auffassung den Tatsachen genügen
kann. Freilich darf man nicht übersehen, was Schopenhauer doch schon
so klar und deutlich ausgesprochen hat, „nicht nur das Wollen und Be¬
schließen im engsten Sinne, sondern auch alles Streben, Wünschen, Fliehen
Hoffen, Fürchten, Lieben, Hassen, kurz alles, was das eigene Wohl und
Wehe, Lust und Unlust unmittelbar ausmacht, ist offenbar nur Affektion
des Willens, ist Regung, Modifikation des Wollens und Nichtwollens,
ist eben das, was, wenn es nach außen wirkt, sich als eigentlicher Willensakt
darstellt“. Und an einer anderen Stelle sagt Schopenhauer: .,1m weitesten
Sinne ist Sache des Willens: Wunsch, Leidenschaft, Freude, Schmerz,
Güte, Bosheit“. Im Sinne Schopenhauers gehört natürlich auch in den
Bereich des Willens unser Fürchten Hoffen und Wünschen. „Die Hoffnung
läßt uns, was wir wünschen“, führt Schopenhauer aus, „die Furcht, was
wir besorgen, als wahrscheinlich und nahe erblicken, und beide vergrößern
ihren Gegenstand. Piaton hat sehr schön die Hoffnung den Traum des
Wachenden genannt. Ihr Wesen liegt darin, daß der Wille seinen Diener,
den Intellekt, wenn dieser nicht vermag, das Gewünschte herbeizuschafTen,
nötigt, es ihm wenigstens vorzumalen, überhaupt die Rolle des Trösters
zu übernehmen, seinen Herrn, wie die Amme das Kind, mit Märchen zu
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Juliusburger,
beschwichtigen und diese aufzustutzen, daß sie Schein gewinnen, wobei
nun der Intellekt seiner eigenen Natur, die auf Wahrheit gerichtet ist,
Gewalt antun muß, indem er sich zwingt, Dinge, die weder wahr noch
wahrscheinlich, oft kaum möglich sind, seinen eigenen Gesetzen zuwider
für wahr zu halten, um nur den unruhigen und unbändigen Willen auf
eine Weile zu beschwichtigen und zu beruhigen und einzuschläfern. Hier
sieht man deutlich, wer Herr und wer Diener ist.“ Mühelos und frucht*
bringend wahrlich genug läßt sich von dieser psychologischen Erkenntnis
Schopenhauers die Linie ziehen zu einer in der Gegenwart immer mehr
und mehr sich durchringenden Auffassung gewisser psychischer Phä¬
nomene.
In einer wichtigen Arbeit über die Freudschen Mechanismen
in der Symptomatologie von Psychosen sagt Bleuler:
Freud behauptet, daß unsere Psyche die Tendenz hat, das Weltbild
so auszuarbeiten, wie es unsern Wünschen und Bestrebungen entspricht.
Diese Neigung kommt ungehemmt zum Vorschein in allen Situationen,
wo das durch die äußeren Verhältnisse gebotene Denken mit seiner logi¬
schen Anknüpfung an die Wirklichkeit gestört ist. Das ist namentlich
der Fall im Traum, dann aber auch bei allen den psychischen Tätigkeiten
des Wachens, die nicht von der Aufmerksamkeit geleitet werden, bei
unseren unbewußten Bewegungen, dem unaufmerksamen Sprechen und
Schreiben. Unter pathologischen Umständen hat Freud diese Tendenz
bereits in der Symptomatologie der Neurosen nachgewiesen und die
gewonnenen Kenntnisse auch therapeutisch zu verwerten gesucht. Noch
nicht bekannt ist aber, daß die gleichen Mechanismen auch in der Pathologie
der anderen Geisteskrankheiten eine große Rolle spielen.
Wie Freud und Bleuler ausführen, beherrschen im wachen Leben
unsere Wünsche und Befürchtungen, unsere Abneigung und Zu¬
neigung das Gedächtnis, unsere halbbewußten Handlungen, ja unsere
Auffassungen. Unser Gedächtnis gestaltet oft die Erinnerungen
nach unseren Wünschen um. Werden wir nicht da sofort erinnert
an die Ausführungen Schopenhauers in seiner Darstellung des Primat
des Willens im Selbstbewußtsein? Unter anderem heißt es hier:
Also bloß die Beziehung der Sache auf meinen Willen hat sich,
nachdem sie selbst mir entschwunden ist, im Gedächtnis erhalten.
also bloß den Anklang des Willens hat das Gedächtnis aufbewahrt, nicht
aber das, was ihn hervorrief. Man könnte das, was diesem Hergange
zugrunde liegt, das Gedächtnis des Herzens nennen, dasselbe ist viel intimer
als das des Kopfes. Der Verstand des stumpfesten Menschen wird scharf,
wenn es sehr angelegene Objekte seines Wollens gilt. Er merkt, beachtet
und unterscheidet jetzt mit großer Feinheit auch die kleinsten Umstände,
welche auf sein Wünschen oder Fürchten Bezug haben.
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Original from
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Die Bedeutung Schopenhauers für die Psychiatrie.
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In der erwähnten Arbeit führt dann Bleuler weiter aus: „Es bildet
unsere Affektivität“, worunter nichts anderes als der ganze Umfang
des Willens im Sinne Schopenhauers zu verstehen ist, „eine unbewußte
Symbolik aus, die unsere Wünsche und Befürchtungen ausdrückt.“
Und Bleuler fügt hinzu, daß es eines Entdeckeigenies bedurfte, nämlich
des Wiener Forschers Freud, diese Sprache zum ersten Male zu ver¬
stehen.
Der Inhalt vieler Wahnideen ist nach der Auffassung Freud -
Bleulers nichts anderes als ein schlecht verhüllter Wunschtraum,
der durch die von der speziellen Krankheit gegebenen Mittel (Hallu¬
zination der verschiedenen Sinne, Wahnideen) einen Wunsch als erfüllt
darzustellen sucht — darzustellen sucht, denn auch im Traum kann
der Mensch nicht immer ganz vergessen, daß seinen Wünschen Hinder¬
nisse im Wege stehen. Diese wieder werden als Verfolgungen sym¬
bolisiert, gerade wie die gleichen Erfahrungen der Gesunden Ormuzd
und Ahriman, Gott und den Teufel geschaffen haben.
In einer Arbeit über das Buch des Staatsanwalts Erich Wulffen
„Karl Hauptmann vor dem Forum der Kriminalpsychologie und
Psychiatrie“ sagte ich:
Die wahnhaften Schöpfungen sind unbewußte Vergegenständ¬
lichungen der aus dem Unterbewußten hervorbrechenden Wünsche.
Solange die letzteren an der Herrschaft bleiben und das Kommando
führen, kann keine Korrektur der Wahngebilde eintreten; nicht weil
eine Schwäche der Intelligenz vorliegt, sondern weil die Korrektur an der
Macht der Wünsche, also an der Energie des Willens scheitern muß. Das
Unterbewußte wünscht und will eben keine Korrektur, bis andere Wünsch®
die Oberhand gewinnen und ein Ausgleich stattfinden kann. Man darf
nicht vergessen, daß der Wille, also der Wunsch, das Primäre, die Wurzel,
der Intellekt das Sekundäre, die Krone darstellt. Der Wille hat nach
Schopenhauer, nicht der Intellekt, das Primat. Mit der Anerkennung
der grundlegenden und determinierenden Bedeutung des Wunschlebens,
also der Affektion des Willens im weiteren Sinne des Wortes bahnt sich
in der Psychiatrie eine neue und meiner Auffassung nach äußerst frucht¬
bare Auffassung der krankhaften Seelenvorgänge an. Jetzt wird erst
Ernst gemacht mit der Überzeugung von der streng notwendigen und
durchgängigen Bestimmung jedes psychischen Geschehens, der ehernen
Gesetzmäßigkeit seines Ablaufs. „Das Gesetz der Kausalität“, sagt
Schopenhauer, „kennt keine Ausnahme, sondern alles, von der Bewegung
eines Sonnenstäubchens an, bis zum wohlüberlegten Tun des Menschen
ist ihm mit gleicher Strenge unterworfen“. Der Determinismus steht fest.
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Juliusburger,
Seit den Forschungen Freuds haben wir gelernt, auch in der scheinbaren
Sinnlosigkeit einer Geistesstörung einen tieferen, und nur dem oberfläch¬
lichen Blick verborgenen, sinnvollen Zusammenhang zu sehen. Das
Gebahren und Treiben des Geisteskranken, seine Sinnestäuschungen und
Wahnvorstellungen sind nicht das Erzeugnis eines flüchtigen Augenblicks,
einer tollen Laune, einer zügellos gewordenen Phantasie; sie sind auch
nicht zu begreifen als der zufällige Ausdruck einer Gehirnvergiftung oder
als das Erzeugnis irgend einer Schädlichkeit, welche gerade an einer
bestimmten, vielleicht jetzt oder später einmal lokalisatorisch abgrenz*
baren Gehirnpartie seine Angriffsfläche hat. Die Ätiologie gibt uns keinen
Einblick in das Getriebe des seelischen Lebens. Was uns bisher so einfach
erschien, Genuß alkoholischer Getränke, alkoholische Vergiftung des
Gehirns, durch Alkohol bedingte Entartung des Gehirns und als Folge¬
zustände krankhafte Seelenveränderungen, ist wieder zum Problem
geworden, und es gilt erst einmal festzustellen, aus welchen seelischen
Veranlagungen, Neigungen und Trieben heraus ein Mensch alkoholsüchtig
wird, beziehungweise werden muß 1 ). Die Anatomie kann uns gar nichts
aussagen über den lebendigen Gang seelischer Ereignisse; die Anatomie
hat es immer nur mit Dauerzuständen, mit abgelaufenen Geschehnissen,
mit fixierten Zuständen zu tun. Die Anatomie kann uns erst sagen, was
am Ende der Geschehnisse sich körperlich darstellt, sie wird aber ewig
stumm bleiben auf die Frage: wie vollzieht sich der Vorgang als solcher,
denn dieser wird nur seelisch erlebt und kann nur durch den Analogie¬
schluß bei einem zweiten Individuum vorausgesetzt werden. Darum kann
uns zur Auffassung und Beurteilung auch der seelischen Störungen nur
die Psychologie verhelfen, wobei zu bemerken ist, daß auch die experi¬
mentelle Psychologie, trotz aller Anerkennung ihrer geistreichen Versuchs-
anordnung und wertvollen Ergebnisse, nur an der Oberfläche streift und
streifen kann. Darum verdanken wir eben den Forschungen Freuds und
Bleulers so viel, weil sie wieder bei der Innenbetrachtung der Seelen -
Vorgänge angeknüpft haben und hier wieder die ursprüngliche Quelle alles
seelischen Geschehens, den Willen und seine verschiedenen Regungen
und Strebungen aufdeckten. Und damit wieder zurück zu Schopenhauer,
indem wir uns seinen Ausführungen über den Wahnsinn zuwenden. Wir
dürfen natürlich nicht erwarten, daß der Philosoph uns etwa einen voll¬
ständigen Grundriß der Psychiatrie hinterlassen hat; aber wir müssen
doch erstaunen, mit welch geradezu genialer Anschauung Schopenhauer
den Geisteskranken gegenübergestanden hat. Er hat ohne Zweifel wirk¬
lich Geisteskranke gesehen und nicht nur über ihre Seelenzustände in
seinem Studierzimmer spekulativen Gedanken nachgehangen.
Schopenhauer unterscheidet den psychischen Ursprung des Wahn¬
sinns, wie er kurzweg summarisch die Geistesstörungen zusammenfaßt,
M O. Juliusburger, Zur Psychologie der Dipsomanie, Ztrlbl. f. Psycho¬
analyse, 1912.
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Die Bedeutung Schopenhauers für die Psychiatrie.
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von den rein somatischen Ursachen der Seelenstörungen und führt die
somatischen Ursachen auf Mißbildungen oder partielle Desorganisation
des Gehirns oder seiner Hüllen, auch auf den Einfluß zurück, welchen
andere krankhaft affizierte Teile auf das Gehirn ausüben. Jedoch werden
nach ihm beiderlei Ursachen des Wahnsinns meistens voneinander parti¬
zipieren, zumal die psychische von der somatischen. Die Ausführungen
Schopenhauers beziehen sich nur auf den psychischen Ursprung des Wahn¬
sinns. Er meint, daß heftiges, geistiges Leiden, unerwartete, entsetzliche
Begebenheiten Wahnsinn veranlassen, „wenn ein solcher Kummer, ein
solches schmerzliches Wissen oder Andenken so qualvoll ist, daß es
schlechterdings unerträglich fällt und das Individuum ihm unterliegen
würde, dann greift die dermaßen geängstigte Natur zum Wahnsinn, als
zum letzten Rettungsmittel des Lebens. Der so gepeinigte Geist zerreißt
nun gleichsam den Faden seines Gedächtnisses, füllt die Lücken mit
Fiktionen aus und flüchtet so sich von dem seine Kräfte übersteigenden
Schmerz zum Wahnsinn, — wie man ein vom Brande ergriffenes Glied
abnimmt und es durch ein hölzernes ersetzt“.
Schopenhauer spricht also hier mit klaren Worten von einer
Flucht des Individuums in die Krankheit. Freud, Bleuler und die¬
jenigen, welche der Richtung dieser Forscher folgen, kamen unab¬
hängig von Schopenhauer von ganz anderen Betrachtungen und Er¬
kenntnissen ausgehend zu ganz der gleichen Formulierung wenigstens
eines sehr wichtigen Teiles des krankhaften Seelenvorganges. Auch
sie sprechen von einer Flucht der Persönlichkeit in die Krankheit als
einem Ausgang aus sonst unüberwindbaren Konflikten, sehen also
in der Krankheit eine Art Ventil, welches sich die Natur schafft, im
gewissen Sinne eine Hilfsaktion, einen Rettungsversuch. Das gilt
in gewissem Umfange von den Neurosen wie von den Psychosen.
Etwas ausführlicher legt Schopenhauer seinen Gedanken über den
Wahnsinn im zweiten Bande der „Welt als Wille und Vorstellung“, dar.
Hier heißt es: „In jenem Widerstreben des Willens, das ihm Widrige in
die Beleuchtung des Intellekts kommen zu lassen, liegt die Stelle, an
welcher der Wahnsinn auf den Geist einbrechen kann. Jeder widrige
neue Vorfall nämlich muß vom Intellekt assimiliert wer¬
den, das heißt im System der sich auf unseren Willen und sein Inter¬
esse beziehenden Wahrheiten eine Stelle erhalten, was immer Befriedigen¬
deres er auch zu verdrängen haben mag. Sobald dies geschehen ist, schmerzt
er schon viel weniger; aber diese Operation selbst ist oft sehr schmerzlich,
geht auch meistens nur langsam und mit Widerstreben von statten. In¬
zwischen kann nur, sofern sie jedesmal richtig vollzogen wurde, die Gesund¬
heit des Geistes bestehen. Erreicht hingegen, in einem einzelnen Falle,
das Widerstreben und Sträuben des Willens wider die Aufnahme einer
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Juliusbarger,
Erkenntnis den Grad, daß jene Operation nicht rein durchgeführt wird;
werden demnach dem Intellekt gewisse Vorfälle oder Umstände völlig
unterschlagen, weil der Wille ihren Anblick nicht ertragen kann; wird
alsdann, des notwendigen Zusammenhangs wegen, die dadurch entstandene
Lücke beliebig ausgefüllt, — so ist der Wahnsinn da. Denn der Intellekt
hat seine Natur aufgegeben, dem Willen zu Gefallen; der Mensch bildet
sich jetzt ein, was nicht ist. Jedoch wird der so entstandene Wahnsinn
jetzt zur Lethe unerträglicher Leiden. Er war das letzte Hilfsmittel
der geängstigten Natur, das ist des Willens“.
Und weiterhin fügt Schopenhauer hinzu:
„Man kann also den Ursprung des Wahnsinns ansehen als ein gewalt¬
sames Sich-aus-dem-Sinne-schlagen irgend einer Sache, welches jedoch
nur möglich ist mittels des Sich-in-den-Kopf-setzen irgend einer anderen“.
In der Anschauung Schopenhauers finden wir bei näherem Zusehen
unschwer zwei Auffassungen vereinigt, von denen die eine in der
Psychiatrie bereits siegreich durchgedrungen ist, während die andere
noch hart umfochten um ihre Daseinsberechtigung ringt, aber gleich¬
falls in absehbarer Zeit die Palme des Sieges empfangen wird.
Schopenhauer spricht von Vorfällen, welche vom Intellekt assi¬
miliert werden müssen, damit die Gesundheit des Seelenlebens gewahrt
bleibt. Gelingt es dem Bewußtsein nicht, bestimmte Ereignisse in sich
aufzunehmen, so ist die Gelegenheit für den Ausbruch des Wahnsinns
günstig. Zu dieser Meinung Schopenhauers findet sich nun eine auf¬
fallende Parallele in Wemickes Aufstellung seiner Lehre von den
überwertigen Ideen. „Im allgemeinen“, sagt Wemicke , „können
wir die überwertigen Vorstellungen als Erinnerungen an irgend ein
besonderes affektvolles Erlebnis oder auch an eine ganze Reihe der¬
artiger zusammengehöriger Erlebnisse definieren.“ Wenn nun nach
Wemicke eine solche Erinnerung oder ein solcher Erinnerungskomplex
im Bewußtsein ein unassimilierbares Novum bleibt — man vergleiche
bei Schopenhauer und Wemicke den identischen Vergleich mit dem
Vorgang der Assimilation —, so ergibt sich eben eine Schwierigkeit
der Angliederung an den alten Bewußtseinsinhalt; es kommt zu einer
folgenschweren Störung im Assoziationsmechanismus. Bei krank¬
hafter Überwertigkeit der Vorstellungen erweisen sich die Gegen¬
vorstellungen als unzulänglich. Bei der Bildung der überwertigen
Vorstellungen spielen Affekte mannigfaltiger Art die bestimmende
und wertgebende Rolle. Schopenhauer hat meiner Auffassung nach
also in der Tat in genialer und für ihn als Nichtfachmann erstaunlicher
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Die Bedeutung Schopenhauers für die Psychiatrie.
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Weise die fundamental wichtige Wemickesche Lehre von den über¬
wertigen Ideen vorweggenommen. Bei Schopenhauer wie bei Wemicke
hängt das Zustandekommen der überwertigen Ideen mit einer Asso¬
ziationsstörung zusammen. So sehr Wemicke l ) auch sonst in einseitiger
Weise intellektualistisch gesinnt war, so erkannte er doch auf dem Gebiet
der Lehre von den überwertigen Vorstellungen die determinierende Be¬
deutung der affektiven Sphäre unseres Seelenlebens an. Schopenhauer
hatte bereits die große Bedeutung der Gedankenassoziation zutreffend
in einem besonderen Kapitel seines Hauptwerks gewürdigt. Aber
er hatte auch sehr richtig erkannt, wie er sich ausdrückt, „was die
Gedankenassoziation selbst in Tätigkeit versetzt, ist in letzter Instanz
oder im Geheimen unseres Innern der Wille, welcher seinen Diener,
den Intellekt, antreibt, nach Maßgabe seiner Kräfte Gedanken an
Gedanken zu reihen, das Ähnliche, das Gleichzeitige zurückzurufen,
Gründe und Folgen zu erkennen.“ Darüber aber ist Schopenhauer in
bedeutsamer Weise noch hinausgegangen, indem er darlegt, daß wir
oft vom Entstehen unserer tiefsten Gedanken keine Rechenschaft
geben können, sie sind die Ausgeburt unseres geheimnisvollen Innern.
Urteile, Einfälle, Beschlüsse steigen unerwartet und zu unserer eigenen
Verwunderung aus jener Tiefe.; selten liegt der ganze Prozeß
unseres Denkens und Beschließens auf der Oberfläche. Gewöhnlich
geschieht in der dunklen Tiefe die Rumination des von außen erhaltenen
Stoffes, durch welche er in die Gedanken umgearbeitet wird. Und dies
geht beinahe so unbewußt vor sich, wie die Umwandlung der Nahrung
in die Säfte und Substanzen des Leibes. Damit kommt Schopenhauer
auf das wichtige Gebiet der unbewußten Seelentätigkeiten. Hier ist
die Stelle gegeben, von wo aus die Linie zu Freud und denjenigen
führt, die in seiner Richtung arbeiten.
Um zu einem Verständnis der Neurosen und Psychosen zu
kommen, genügt es nicht, allem die Phänomene des Oberbewußtseins
in Betracht zu ziehen. Die symptomgestaltende und das Krankheit¬
bild mitschaffende Kraft des Unbewußten darf nicht vernachlässigt
werden, wenn anders wir die bisher so völlig rätselhaften Vorgänge
x ) Vgl. als Parallele zu Wernickes Auffassung des Rätsels des
Selbstbewußtseins (Grundriß der Psychiatrie 1900, S. 58) die Aus¬
führungen Schopenhauers über den gleichen Gegenstand im 2. Bd. der
Parerga $ 32.
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Juliusburger,
in der Entstehung der Neurosen und Psychosen entschleiern und
begreifen wollen.
In der oben angeführten Auffassung Schopenhauers über den
Wahnsinn finden wir im Keime und doch bereits klar ausgesprochen
die wichtige Lehre Freuds von der Verdrängung und der hierdurch
hervorgerufenen Ersatzbildung. Sobald wir die Außenseite der Dinge
verlassen, wo die Geschehnisse uns in körperlicher, somatischer Ob-
jektivation entgegentreten, und auf die Innenseite, also in das Bereich
der seelischen Ereignisse und Erlebnisse treten, begreifen wir mit
Freud die Bildung der Neurosen und Psychosen als hervorgegangen
aus schweren intrapsychischen Konflikten, welche bis in die Tiefe
des Unbewußten hinabreichen. In den Psychosen objektiviert sich
und spiegelt sich wider, freilich für das Individuum unbewußt, was
in seinem Innersten miteinander kämpft und streitet, siegt und unter¬
liegt, zur Verdrängung gebracht, von neuem bestrebt ist, aufzutauchen.
Eine wichtige und bedeutsame Quelle für diese intrapsychischen
Konflikte ist in der Sexualität gegeben, wobei gleich scharf zu betonen
ist, daß man hierbei nicht nur die einfache und grobe Sinnlichkeit,
sondern auch wahrscheinlich in noch stärkerem Grade den psychischen
Anteil in der Sexualität zu verstehen hat. Die Kenntnis dieser
grundlegenden Tatsache verdanken wir den Forschungen Freuds ,
und es bleibt sein historisches Verdienst, uns hierüber die Augen
geöffnet zu haben. Schopenhauer aber hat bereits die Bedeutung der
Sexualität in ihrem ganzen Umfange und in ihrer vollen Tragweite
durchschaut und in seiner glänzenden Art zur Darstellung gebracht.
Er hält als notwendig für die energische Tätigkeit des Gehirns den
Antagonismus des Genitalsystems:
„Die Energie des Genitalsystems ist für die Gehirnentwicklung
von fundamentaler Bedeutung“. „Der Geschlechtstrieb ist der Brenn¬
punkt des Willens, und die Auswahl in bezug auf denselben die Haupt¬
angelegenheit des natürlichen, menschlichen Willens.“ „Die Genitalien
sind die Wurzeln, der Kopf ist die Krone.“ „Der Geschlechtstrieb ist
anzusehen als der innere Schoß des Baumes, auf welchem das Leben des
Individuums sproßt, wie ein Blatt, das vom Baume genährt wird und ihn
zu nähren beiträgt.“ „Übertriebener Gebrauch jener Kraft verkürzt in
jedem Alter das Leben, Enthaltsamkeit dagegen erhöht alle Kräfte, be¬
sonders aber die Muskelkräfte, weshalb sie zur Vorbereitung der griechischen
Athleten gehörte. Alle Lebenskraft ist gleichsam durch Abdämmung
gehemmte Gattungskraft.“ „Die Begierde des Geschlechts ist der Wunsch,
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Die Bedeutung Schopenhauers für die Psychiatrie.
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welcher selbst das Wesen des Menschen ausmacht. Im Konflikt mit ihr
ist kein Motiv so stark, daß es des Sieges gewiß wäre. Sie ist so sehr die
Hauptsache, daß für die Entbehrung ihrer Befriedigung keine anderen
Genüsse entschädigen.“ „Das Geschlechtsverhältnis ist eigentlich der
unsichtbare Mittelpunkt alles Tuns und Treibens und guckt trotz allen
ihm übergeworfenen Schleiern überall hervor. Es ist die Ursache des
Krieges und der Zweck des Friedens, die Grundlage des Ernstes und das
Ziel des Scherzes, die unerschöpfliche Quelle des Witzes, der Schlüssel
zu allen Anspielungen und der Sinn aller geheimen Winke, aller unaus¬
gesprochenen Anträge und aller verstohlenen Blicke, das tägliche Dichten
und Trachten der Jungen und oft auch der Alten, der stündliche Gedanke
des Unkeuscben und die gegen seinen Willen stets wiederkehrende Träumerei
des Keuschen, der allzeit bereite Stoff zum Scherz, eben nur, weil ihm der
tiefste Ernst zugrunde liegt. Der Geschlechtstrieb ist der Kern des Willens
zum Leben, mithin die Konzentration alles Wollens, der Mensch ist kon¬
kreter Geschlechtstrieb.“ „Die Sehnsucht und der Schmerz der Liebe
sind der Seufzer des Geistes der Gattung. Die Gattung hat unendliches
Leben und ist daher unendlicher Wünsche, unendlicher Befriedigung
und unendlicher Schmerzen fähig. Diese sind aber in der engen Brust
eines Sterblichen eingekerkert, kein Wunder daher, wenn eine solche
bersten zu wollen scheint und keinen Ausdruck finden kann für die sie
erfüllende Ahnung unendlicher Wonne oder unendlichen Wehes.“ Und
an einer anderen Stelle heißt es betr. den Sexualtrieb: „Wenn dieser
in seiner ganzen Fülle und Macht von einem Individuum Besitz ergriffen
hat, der Wille eines solchen Menschen ist in den Strudel des Willens der
Gattung geraten, oder dieser hat so sehr das Übergewicht über den indi¬
viduellen Willen erhalten, daß, wenn solcher in ersterer Eigenschaft nicht
wirksam sein kann, er verschmäht, es in letzterer zu sein. Das Individuum
ist hier ein zu schwaches Gefäß, als daß es die auf ein bestimmtes Objekt
konzentrierte, unendliche Sehnsucht des Willens der Gattung ertragen
könnte. In diesem Fall ist daher der Ausgang Selbstmord, bisweilen
doppelter Selbstmord beider Liebenden; es sei denn, daß die Natur zur
Rettung des Lebens Wahnsinn eintreten ließe, welcher dann mit seinem
Schleier das Bewußtsein jenes hoffnunglosen Zustandes umhüllt“. In dies m
Sinn sagt auch Schopenhauer: „Noch größer aber ist die Zahl derer, welche
dieselbe Leidenschaft (nämlich die Geschlechtsliebe) ins Irrenhaus bringt“.
Ich muß Schopenhauer durchaus zustimmen, wenn er in so an¬
schaulicher Weise und mit so eindringlicher Sprache die immer noch
nicht genügend gewürdigte Wichtigkeit der Sexualität und ihre funda¬
mentale Bedeutung für die Entstehung seelischer Störungen dartut.
Freilich muß ich wieder hervorheben, daß man, um zu einem tieferen
Verständnis der Vorgänge und ihrer intimen Zusammenhänge^ zu
gelangen, ja nicht außer acht lassen darf, daß nicht allein die Be-
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Juliusburger,
friedigung beziehungweise die Unerfüllung des sinnlichen Triebes
in Frage kommt, sondern es gilt, die Sexualität in ihrer Gesamtheit,
also auch, und vielleicht in erster Linie, die psychosexueilen Energien
zu berücksichtigen. Schopenhauer war sich über die bisexuelle Ver¬
anlagung des Menschen durchaus klar. Er hebt ausdrücklich hervor,
daß Mannheit und Weiblichkeit unzählige Grade, zulassen. Wenn
nun in einem Individuum diese beiden psychosexuellen Energien
nicht in ein Gleichgewicht kommen können, wenn die Kräfte gegen¬
seitig störend aufeinander zielen, dann muß es zu einem Kampfe
kommen.
So sehen wir in zahlreichen Fällen, daß die homosexuelle Kom¬
ponente im Unterbewußtsein des Individuums diesem zu schaffen macht,
ihren Träger erschüttert und die Psyche in ihrer heterosexuellen Aus¬
prägung bedrängt, verfolgt. Durch einen eigenartigen Mechanismus,
dessen Klarlegung hier zu weit führen würde, wird der intrapsychische
Verfolger auf die Außenwelt projiziert, der Kampf wird aus dem Unter¬
bewußtsein des Individuums in die Umgebung verlegt, und somit wird eine
Quelle des Verfolgungswahnes erschlossen. Wir kennen aber noch ein
ferneres Paar von psychosexuellen Energien, welche das Seelenleben
des Individuums erschüttern und in einen Konflikt treiben können, wenn
es ihm nicht gelingt, der Widerspenstigen Zähmung zu vollziehen. Die
Freude am Unterwerfen, die Lust zu herrschen und zu befehlen, der Heiz,
die Wonne, die Macht des Sieges zu kosten, das Hochgefühl, in schranken¬
losem Selbstbewußtsein die Flügel zu breiten; alle diese expansiven Ge¬
fühle finden ihre Steigerung und ihre verhängnisvolle Höchstleistung
im Sadismus, dessen bekanntes Gegenstück der Masochismus ist, mit seinen
fließenden Übergängen zu der Lust am Dienen, zu der Freude, im Gehor¬
sam und in Unterwerfung Genüge zu finden, zu dem Willen, sich zu opfern.
Das expansive Gefühl bildet eine Wurzel des Größenwahnes, wenn seine
ganze Kraft auf das Ich beschränkt bleibt und lediglich seine Bestimmung
erfährt, innerhalb der Schranken des Egoismus sich auswirken zu können.
Hierzu kommt, daß die exzessiven Wünsche der Vorzeit heute atavistisch
und entartet in den Größenideen gewisser Geisteskranken wiederkehren.
Das Seelenleben der Vorzeit war mächtig vom Wunschleben erfüllt, ohne
vom Intellekt, von Erfahrung und Erkenntnis, gezügelt und geleitet zu
werden. Es mußte demnach zu exzessiven Wünschen kommen, weil die
geistigen Kräfte noch nicht ausreichten, die Wirklichkeit zu erkennen
und zu meistern, das Dunkel des eigenen Innenlebens zu erhellen und zu
beherrschen. Die exzessiven Wünsche des Menschen sind die Quelle
seines Wunderglaubens gewesen. Religion und Geisteskrankheit sind
keine identischen Begriffe, aber sie hängen an der Wurzel ihres Werdens
zusammen. Einstmals waren kraftvolle Wünsche tätig, und sie bauten
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Die Bedeutung Schopenhauers für die Psychiatrie. 631
schöpferisch an den grofien Religionen. Jetzt sind die Wünsche, die damals
kraftvolle Gebilde erzeugen konnten, in ihrer Energie herabgesetzt und
geschwächt; soweit sie phantastisch sind und die Grenzen
der Wirklichkeit überspringen, geben sie den Grundstock ab, aus dem
Größenideen entspringen können, indem aus der Quelle der Psycho-
Sexualität in das Ich fortgesetzt Energien strömen, welche zu den Größen-
ideen sich transformieren. Der masochistisch depressive Komplex ist
befähigt, den Boden abzugeben, auf welchem Verkleinerungsvorstellungen
und Verfolgungsideen gedeihen können. Schopenhauer erkannte auch,
daß die Vaterliebe darauf beruht, daß der Erzeuger im Erzeugten sich selbst
wiedererkennt. Hier kann es zu einer übertriebenen Fixation der Kinder
mit den Eltern kommen. Die Verlötung kann eine so innige sein, daß sie,
wie Freud erwiesen hat, zu einem wichtigen Bestandteil einer seelischen
Erkrankung, zur symptombildenden Kraft bei Neurosen und Psychosen
werden kann. Polyandrische und polygamische Triebe, auch krimi¬
nelle Tendenzen, welche in der Vorzeit am Werke waren, kehren kraft
des biogenetischen und psychogenetischen Grundgesetzes als atavistische 1 )
Erscheinungen wieder, können zu Erschütterungen des Seelenlebens führen
und erscheinen in psychischen Geschehnissen.
Ich muß mich hier natürlich begnügen mit einer kurzen Auf¬
zählung psychosexueller Komponenten. Aber es kann dem aufmerk¬
samen Blick die Polarität der Kräfte nicht entgehen. Schopenhauer
hat in Anlehnung an Sohelling auf die Polarität hingewiesen, auf das
Auseinandertreten einer Kraft in zwei qualitativ verschiedene, ent¬
gegengesetzte und zur Wiedervereinigung strebende Tätigkeiten,
ein Grundtypus fast aller Erscheinungen der Natur, vom Magnet
und Kristall bis zum Menschen. Da ist es interessant zu hören, wie
Stekd in seinem Werke „Die Sprache des Traumes“ ausführt: „Alle
Symptome, alle Erscheinungen des menschlichen Denkens und Fühlens
sind bipolar. Und Bleuler spricht in demselben Sinne von Ambivalenz
und Ambitendenz.
Mit dem Gesetze der Polarität hängt das Gesetz der sexuellen
Äquivalente zusammen. Der scharfe Blick Schopenhauers ist zu be¬
wundern, mit dem er diese wichtige Erscheinuug erkannte. Er sagt:
„So z. B. wird die Gier zum sinnlichen Genuß im Knabenalter als
1 ) Interessant ist auch die Bemerkung Schopenhauers: Das No¬
madenleben, welches die unterste Stufe der Zivilisation bezeichnet,
findet sich auch auf der höchsten im allgemein gewordenen Touristen¬
leben wieder ein (Atavismus und Sublimierung).
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Juliasburger,
Naschhaftigkeit auftreten, im Jünglings- und Mannesalter als Hang
zur Wollust und im Greisenalter wieder als Naschhaftigkeit / 1 Und
an einer anderen Stelle heißt es: „So wird die Wollust der Völlerei
Platz machen“ 1 ).
Je mehr wir im Verfolg der von Freud inaugurierten Richtung
in das krankhafte Seelenleben eindringen, um so mehr finden wir die
geistvolle Vorwegnahme der Lehre von den sexuellen Äquivalenten
durch Schopenhauer bestätigt. Auch der Genuß alkoholischer Getränke
ist, wie ich an anderer Stelle gezeigt habe*), vielfach keine primäre
Erscheinung, sondern wird erst begreiflich, wenn wir ihn auffassen
als das Äquivalent und den Ersatz für verdrängte und unterdrückte
psychosexuelle Genüsse. Für krankhafte Störungen und Empfindungen,
welche sich bei gewissen Kranken in der Umgegend der Mundzone,
im Bereiche des Halses, im Gebiete der Sprache abspielen, gewinnen
wir erst richtiges Verständnis und können erst ihren tieferen Sinn
erschließen, wenn wir uns das Gesetz der psychosexuellen Transformation
und die Tragweite der hierdurch bedingten psychosexuellen Äqui¬
valente vergegenwärtigen.
Bestimmte Sexualvorgänge werden von dem ihnen eigentüm¬
lichen Orte in symbolischer Umdeutung nach der Mundregion verlegt,
bietet doch schon von frühester Kindheit an die Mundzone eine Quelle
von Lustzuwachs, welchem ein gewisser psychosexueller Charakter
nicht abgesprochen werden kann. Die Bedeutung der psychosexuellen
Äquivalente ist aber viel weitgreifender und umfassender, als es für
den ersten Augenblick den Anschein hat. Wie Schopenhauer eingehend
in seiner Metaphysik der Geschlechtsliebe darlegt, reicht die Geschlechts¬
liebe über das Individuum in die Gattung hinein. Er sagt: „Was im
individuellen Bewußtsein sich kundgibt als Geschlechtstrieb über¬
haupt und ohne die Richtung auf ein bestimmtes Individuum des
anderen Geschlechts, das ist an sich selbst und außer der Erscheinung
der Wille zum Leben schlechthin. In der Geschlechtsliebe tritt der
l ) Schopenhauer sagt: Aus der flüchtigen sinnlichen Begierde ist
eine überlegte und berechnende Begier nach Golde geworden, welche,
wie ihr Gegenstand, symbolischer Natur und, wie er, unzerstörbar ist.
Im Geiz überlebt die geistige Gier die fleischliche, der Geiz ist die subli¬
mierte und vergeistigte Fleischeslust'.
*) Zentralblatt für Psychoanalyse 1912.
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Die Bedeutung Schopenhauers für die Psychiatrie.
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Wille des einzelnen in erhöhter Potenz als Wille der Gattung aut,
Im letzten Grunde betrifft die Geschlechtsliebe das Wohl und Wehe
der Gattung“.
In der Psychosexualität liegen also, wie man bei dem Verfolg
des Sch op enhau ersehen Gedankens sagen kann, überindividuelle
Richtungen und Strebungen, mit denen im. letzten Grunde das meta¬
physische Bedürfnis des Menschen in Zusammenhang gebracht werden
muß, wie es sich in der Schöpfung religiöser Gefühle und Vorstellungen,
in der Bildung und Ausprägung zusammenfassender Weltanschauungen
ausspricht. Doch dem Gegensatz der Polarität entsprechend, finden
wir in der Psychosexualität auch eine Kraft, welche in die Tiefe und
in die Niederungen den Menschen herabzieht. Aus der Psychosexualität
entquellen auch die verbrecherischen Triebe. Treffend erklärt Schopen¬
hauer: „Endlich verträgt sich die Geschlechtsliebe sogar mit dem
äußersten Haß gegen ihren Gegenstand, daher schon Platon sie der
Liebe der Wölfe zu den Schafen verglichen hat. Der Haß gegen die
Geliebte, welcher sich dann entzündet, geht bisweilen so weit, daß
er sie ermordet“. Der Zusammenhang zwischen Psychosexualität
und Verbrechen ist in der Tat ein inniger und tiefer, und immer mehr
gelingt es unserer Wissenschaft, auch die verborgensten Zusammen¬
hänge zwischen diesen beiden Gebieten menschlicher Irrungen und
Wirrungen an den Tag zu bringen. Es ist das Verdienst des psychiatrisch
durchgebildeten Staatsanwalts Erich Wulffen, mit Meisterhand das
Bild des Sexualverbrechers gezeichnet zu haben. Mit der Schöpfung
des Typus des Sexualverbrechers knüpft Wulffen unmittelbar an das
große Werk Lombrosos an, dessen Gedanken durch Wulffen eine Fort¬
setzung und Vertiefung erfahren.
Mit Recht hat der ausgezeichnete Schüler und Freund Lom-
broso s, Kurelia, gelegentlich in einer Schrift über Lombroso auf
die Verwandtschaft des Denkens dieses Forschers mit der Wesens¬
richtung Schopenhauers hingewiesen. Die deterministische Welt¬
anschauung ist dem Philosophen, wie dem Kriminalanthropologen
zu eigen. „Das Wasser bleibt Wasser mit seinen in ihm ruhenden
Eigenschaften“, heißt es bei Schopenhauer. „Warum der Eine boshaft,
der Andere gut ist, hängt nicht von Motiven und äußerer Einwirkung,
etwa von Lehren und Predigten ab. Jeder menschliche Charakter
wird sich unter allen Umständen offenbaren. Ist einer dumm, so
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634
Juliasburger,
entschuldigt man ihn damit, daß er nicht dafür kann, aber wollte
man den, der schlecht ist, eben damit entschuldigen, so würde man
ausgelacht werden ; und doch ist das Eine wie das Andere angeboren.“
Allein in der Erkenntnis liegt die Sphäre und der Bereich aller Besse¬
rung und Veredlung. Der Charakter ist unveränderlich, die Motive
wirken mit Notwendigkeit. Der individuelle Charakter ist angeboren,
er ist kein Werk der Kunst oder der dem Zufall unterworfenen Um¬
stände, sondern das Werk der Natur selbst. Er offenbart sich schon
im Kinde, zeigt dort im Kiemen, was er künftig im Großen sein wird.
Er ist derselbe, den einst Greise tragen werden, Die tatsächliche,
ursprüngliche Grundverschiedenheit der Charaktere ist unvereinbar
mit der Annahme einer Willensfreiheit, die darin besteht, daß jedem
Menschen in jeder Lage entgegengesetzte Handlungen gleich möglich
sein sollen. Die Frage nach der Willensfreiheit ist wirklich, wie Schopen¬
hauer mit Hecht sagt, ein Probierstein, an welchem man die tief¬
denkenden Geister von den oberflächlichen unterscheiden kann. Der
Determinismus ist aber ein Grund- und Eckstein der psychiatrischen
Wissenschaft, und von der festgegründeten Tatsache des Determinismus
aus muß das herrschende Strafrecht seine tiefgründige Wandlung
und Umformung erfahren. Zur Lehre vom geborenen Verbrecher
führen unverkennbare Linien von der Gedankenrichtung und Lebens¬
auffassung Schopenhauers. Seine treffende Darstellung von der
Macht und Tragweite der Vererbung, seine eben berührte Lehre von
der Konstanz und Unveränderlichkeit des Charakters, weisen offen¬
sichtlich zur Psychologie des Verbrechers hin.
Wie sehr Schopenhauers von der angeborenen Seelenverfassung
und ihrer physiologischen Grundlage, ihrer somatischen Spiegelung,
überzeugt ist, geht aus seinen tiefsinnigen Betrachtungen hervor,
die wir im vierten Buch des ersten Bandes der „Welt als Wille und
Vorstellung“ im Kapitel zur Ethik finden. Sie lauten:
„Man vergegenwärtige sich, wie unglaublich groß der angeborene
Unterschied zwischen Mensch und Mensch ausfällt, im Moralischen und
im Intellektuellen. Hier Edelmut und Weisheit, dort Bosheit und Dumm¬
heit; dem Einen leuchtet die Güte des Herzens aus den Augen, oder auch
der Stempel des Genius thront auf seinem Antlitz; der niederträchtigen
Physiognomie eines Andern ist das Gepräge moralischer^Nichtswürdigkeii
und intellektueller Stumpfheit von den Händen der Natur selbst unver¬
kennbar und unauslöschlich aufgedrückt, er sieht drein, als müßte er sich
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Die Bedeutung Schopenhauers für die Psychiatrie. 635
seines Daseins schämen. Diesem Äußeren aber entspricht wirklich das
Innere.“
Die Lehre Schopenhauers von dem Primat des Willens, von seiner
bestimmten individuellen, angeborenen Schlechtigkeit und Bös¬
artigkeit, die Lehre des Philosophen, daß der Intellekt erst die Efflo-
reszenz des Willens ist, gibt uns auch den Schlüssel zum Verständnis
der wenigstens von einer Reihe von namhaften Psychiatern anerkannten
Krankheit, der sogenannten Moral insanity, deren Verwandtschaft,
ja Identität mit dem geborenen Verbrecher die meiner Ansicht nach
berechtigte Meinung Lombrosos ist.
Entsprechend seiner Grundanschauung mußte auch Schopen¬
hauer zur Verwerfung der Strafe als Rache kommen. „Alle Vergeltung
des Unrechts durch Zufügung eines Schmerzes, ohne Zweck für die
Zukunft, ist Rache“, sagt er, „und kann keinen anderen Zweck haben,
als durch den Anblick des fremden Leidens, welches man selbst ver¬
ursacht hat, sich über das selbst erlittene zu trösten. Solches ist
Bosheit und Grausamkeit und ethisch nicht zu rechtfertigen“.
Schopenhauer will die Strafe nur als Mittel zur Abschreckung
von der Tat gelten lassen. In diesem Sinne tritt er auch ein für die
Beibehaltung der Todesstrafe. Der Kriminalkodex soll nichts anderes
sein, als ein Verzeichnis von Gegenmotiven zu möglichen verbrecheri¬
schen Handlungen. Andererseits spricht er den bedeutungvollen
und wertvollen Gedanken aus: „Will man die Pönitentiargefängnisse
als Erziehungsanstalten betrachten, so ist zu bedauern, daß der Ein¬
tritt dazu nur durch Verbrechen erlangt wird, statt daß sie diesen
hätten zuvorkommen sollen“. Ich glaube, daß die Zukunft hieran
anknüpfen wird.
Höchst bemerkenswert sind die Ausführungen Schopenhauers
über die Bedingungen, unter denen eine an sich strafbare Handlung
straflos bleiben soll. Die intellektuelle Freiheit, wonach die Handlung
des Menschen das Resultat der Reaktion seines Willens auf Motive ist,
die in der Außenwelt ihm ebenso wie allen anderen vorliegen, wird
aufgehoben entweder dadurch, daß das Medium der Motive, das
Erkenntnisvermögen, dauernd oder nur vorübergehend zerrüttet ist,
oder dadurch, daß äußere Umstände im einzelnen Falle die Auffassung
der Motive verfälschen. Diese Umgrenzung der Strafausschließung
findet ihre Parallele in der Begriffsbestimmung, wie sie dem ent-
Zeitschrift für Payoliistrie« LXIX 5. 44
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Juliusburger,
sprechenden Paragraphen des zukünftigen Strafgesetzbuches unter¬
gelegt werden soll Wenn im Gegenentwurf zum Vorentwurf eines
Deutschen Strafgesetzbuches von Liszt und Kahl sagen: „Eine Hand¬
lung ist straflos, wenn der Täter zur Zeit der Handlung wegen Bewußt¬
seinsstörung oder krankhafter Störung der Geistestätigkeit nicht die
Fähigkeit besaß, die Strafbarkeit seiner Tat einzusehen oder dieser
Einsicht gemäß zu handeln“, so atmen diese Sätze entschieden Schop?n-
hauerschen Geist.
Interessant sind auch die Ausführungen Schopenhauers über
die bloße Verminderung oder partielle Aufhebung der* intellektuellen
Freiheit. Der Begriff der verminderten Zurechnungfähigkeit spielt
ja bekanntlich eine bedeutende Bolle in der psychiatrisch-forensischen
Literatur. Im Vorentwurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuche
verlangt ein die Trunkenheit betreffender Paragraph: „War .der
Grund der Bewußtlosigkeit selbstverschuldete Trunkenheit, und hat
der Täter in diesem Zustand eine Handlung begangen, die auch bei
fahrlässiger Begehung strafbar ist, so tritt die für die fahrlässige Be¬
gehung angedrohte Strafe ein.“ Und nun höre man hierzu Schopen¬
hauer: „Der Bausch ist ein Zustand, der zu Affekten disponiert, indem
er die Lebhaftigkeit der anschaulichen Vorstellung erhöht, das Denken
in Abstrakten dagegen schwächt und dabei noch die Energie des
Willens steigert. An die Stelle der Verantwortlichkeit für die Taten
tritt hier die für den Bausch selbst, daher er juristisch nicht ent¬
schuldigt, obgleich hier die intellektuelle Freiheit zum Teil auf¬
gehoben ist“.
Wiewohl ich hierin mit Schopenhauer nicht übereinstimmen
kann, wie meine einschlägigen Arbeiten beweisen 1 ), habe ich doch
gerade diese Stelle des Philosophen angeführt, da auch aus ihr eine
merkwürdige Verwandtschaft seiner Denkungsart mitder psychiatrisch-
forensischen Auffassung der Gegenwart hervorgeht. Endlich muß
ich noch auf eine höchst bedeutsame Bemerkung Schopenhauers
hinweisen, welche sich in seinen Darlegungen über die Erblichkeit
der Eigenschaften im zweiten Bande seines Werkes: Die Welt als
Wille und Vorstellung, findet. Es ließe sich in Erwägung nehmen,
*) Vgl. Juliusburger, Bemerkungen zu dem Vorentwurf zu einem
deutschen Strafgesetzbuch. Allg. Zeitschrift f. Psychiatrie Bd. 67, S. 458.
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Die Bedeutung Schopenhauers für die Psychiatrie.
637
sagt Schopenhauer, daß, wenn, wie es, irre ich nicht, bei einigen alten
Völkern wirklich gewesen ist, nach der Todesstrafe die Kastration
als die schwerste Strafe bestände, ganze Stammbäume von Schurken
der Welt erlassen sein würden: um so gewisser, als bekanntlich die
meisten Verbrechen schon in dem Alter zwischen 20 und 30 Jahren
begangen werden. Auch erwähnt Schopenhauer eine Stelle aus den
vermischten Schriften von Lichtenberg aus dem Jahre 1801: In England
ward vorgeschlagen, die Diebe zu kastrieren. Der Vorschlag ist nicht
übel, die Strafe macht die Leute noch zu Geschäften fähig; und wenn
Stehlen erblich ist, so erbt es nicht fort. Auch legt der Mut sich, und
da der Geschlechtstrieb so häufig zu Diebereien verleitet, so fällt auch
diese Veranlassung weg. — Hier berührt sich Schopenhauer mit Forde¬
rungen moderner Kriminalhygiene. Die Frage der Kastration und
Sterilisation von Verbrechern und Geisteskranken wird heute bereits
in Amerika und in der Schweiz mit der Tat beantwortet. In meiner
Besprechung x ) des Buches von Dr. Oberholzer über die vorliegende
Frage finden sich nähere Angaben über das wichtige Problem der
Ausschaltung antisozialer Elemente von der Fortpflanzung, und es
ist eine Freude, in dieser wichtigen Angelegenheit Schopenhauer zur
Seite zu haben.
Ja, die Geschichte ist die große Zucht- und Lehrmeisterin des
Menschen. Der Philosoph, den man zu seinen Lebzeiten nicht hören
wollte, der in Abgeschiedenheit und Einsamkeit, aber in immer
lebendigem Verkehre mit der Wirklichkeit und Natur lebte, dachte und
schrieb, der große Philosoph lebt und wirkt in unmittelbarer Gegen¬
wart fort und darüber hinaus. Der Zusammenhang Schopenhauers
mit der modernen Psychiatrie und forensischen Wissenschaft ist unver¬
kennbar, oft erstaunlich innig. Eine bewußte Verbindung besteht
gewiß nicht, und sicherlich haben die modernen Forscher nicht aus den
Werken unseres Philosophen geschöpft. Der Zusammenhang zwischen
ihnen und dem Philosophen ist ein unbewußter, ein überindividueller.
Hier breche ich ab, weil hier die empirische Wissenschaft mir in den
Strom der Metaphysik einzulenken scheint und zu einer Betrachtung
hinführen könnte, welche über mein gegenwärtiges Thema hinaus¬
reicht. Keine Kraft geht verloren, kein Gedanke kann zu nichts
l ) Deutsche medizinische Wochenschrift 1912, Nr. 9.
44 *
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638 Juliusburger, Die Bedeutung Schopenhauers för die Psychiatrie.
werden, alles trägt und bewahrt die Mneme wie im fruchtbaren Schoße,
nur der Zeit harrend, um ihn zu öffnen.
Nur noch einen Gedanken will ich zum Schluß aussprechen.
Ich sehe in der Psychose als Gegenstand, gewissermaßen als das Haupt*
thema, zu dem sie die Variationen spielt, das eigene Wesen des von ihr
befallenen Individuums. Die Psychose wird herausgeboren aus dem
Kampf, welcher in der liefe des Individuums seinen Ursprung nimmt.
Streit, Kampf und Wechsel des Sieges sehen wir auch hier wieder,
und im letzten Grunde finden wir die dem Willen wesentliche Ent¬
zweiung mit sich selbst, welche Schopenhauer als das Grundthema
unserer Welt nachgewiesen hat.
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Über das neue Irrenförsorgegesetz and die Neu¬
ordnung des Irrenwesens im Königreich Sachsen
Tom Jahr 1912.
Von
Obermedizinalrat Dr. Hösel,
Direktor der Königlichen Heil- und Pflegeanstalt Zschadraß b. Colditz.
Das Jahr 1912 ist ein Wendepunkt in der Geschichte des Irren¬
wesens im Königreiche Sachsen. Es fand in diesem Jahre eine grund¬
sätzliche Neuordnung desselben statt. Es wurde von den gesetz¬
gebenden Körperschaften zum erstenmal ein Irrenfürsorge¬
gesetz geschaffen und auf Grund dieses Gesetzes von der König¬
lichen Staatsregierung die ganze Irrenpflege des Landes neu ge¬
regelt und vollständig von ihr übernommen.
Im folgenden sei darüber berichtet.
I.
Bevor jedoch auf die Neuordnung der Verhältnisse vom medi¬
zinischen Standpunkte aus selbst eingegangen und ihre
Kenntnis den Berufsgenossen auf Grund der Verhandlungen zwischen
der Königlichen Staatsregierung und den Ständischen Körperschaften
des Landes zugängig gemacht wird, dürfte es von Interesse sein,
zunächst erst über den Stand des Irrenwesens, besonders auch in dessen
▼erwaltungsrechtücher Beziehung, vor diesem Zeitpunkte einen
Überblick zu geben 1 ).
Es tritt dabei die Frage in den Vordergrund:
*) Es geschieht dies unter Benutzung einer Arbeit des Verfassers,
die von ihm in Nr. 2 der wissenschaftlichen Beilage der Leipziger Zeitung
im Jahr 1909 veröffentlich worden ist: Betrachtungen über
den weiteren Ausbau der Irrenfürsorge in Sachsen.
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640
Hösel,
Wem lag vor dem Jahr 1912 im Königreich
Sachsen die Pflicht ob, für eine geeignete
Unterbringung von Geisteskranken zu sorgen?
Gesetzlich darüber bestimmt war folgendes:
1. Nach § 28 des Reichsgesetzes Ober den Unterstützungswohnsitz
vom 30. Mai 1908 muß jeder hilfbedürftige Deutsche vorläufig von dem¬
jenigen Ortsarmenverband unterstützt werden, in dessen Bezirk er sich
bei dem Eintritt der Hilfbedürftigkeit befindet.
2. Auf Grund allgemeinen Polizeirechtes haben die Polizeiorgane
für Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit
zu sorgen.
3. Nach $1 der Königl. Sachs. Verordnung „die Zuständigkeit
in Angelegenheiten der öffentlichen Irrenfürsorge betreffend“ vom
23. August 1874 stand das Recht, gegen Irre, falls dieselben die öffentliche
Ruhe störten oder die Sicherheit der Personen oder des Eigentums oder
die öffentliche Sittlichkeit verletzten, solche Maßregeln zu ergreifen, wie
die Dringlichkeit erheischte, und wie sie nach der deshalb erlassenen
allgemeinen ärztlichen Instruktion zulässig waren, dem Bürger -
m e i s t e r, beziehentlich dem Gemeindevorstand zu.
4. Nach §1 der allgemeinen Armenordnung für das Königreich
Sachsen vom 22. Oktober 1840 war die öffentliche Armenpflege Gegenstand
der Gemeindeverwaltung. Der Staat trat nur, wenn es nötig, vermittelnd
ein. Als Gegenstand der Armenpflege galt neben anderen nach § 33, 2
die Krankenpflege, und zu letzterer gehörte, nach § 37 des gleichen Gesetzes,
auch die Fürsorge für geisteskranke Arme.
5. Nach § 1 des sächsischen Gesetzes vom 26. Mai 1834 „über die
Verbindlichkeit der Gemeinden, zur Verpflegung ihrer in die Landes -
Heil- und -Versorganstalten aufgenommenen Armen beizutragen“ waren
die Gemeinden verbunden, Beiträge zur Unterbringung und Verpflegung
der in die Landes-Heil- und -Versorganstalten, mit Einschluß der Blinden¬
anstalt, aufgenommenen Personen zu entrichten, dafern der dadurch
erwachsende Aufwand aus dem Vermögen der aufgenommenen Personen
selbst oder von denen, die dazu privatrechtlich verbunden waren, nicht
bestritten werden konnte.
Die Verbindlichkeit traf nach § 2 desselben Gesetzes diejenige Ge¬
meinde, welcher die Verbindlichkeit zur Versorgung rücksichtlich der in
einer der § 1 erwähnten Anstalten unterzubringenden Person oblag.
Die genannten Bestimmungen in Verbindung miteinander setzten
also fest, daß die Pflicht, gegen gewalttätige Irre einzuschreiten, und
einen Geisteskranken in geeigneter Weise unterzubringen, den Bürger¬
meistern und Gemeindevorständen oblag. Nicht also dem
Staate! Nicht also anderen Verwaltungstellen! Fürsorge-
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Ober das neue Irrenfürsorgegesetz im Königreich Sachsen. 641
pflichtig waren einzig und allein die Vorstände
der einzelnen größeren oder kleineren politischen Gemein¬
wesen in ihrer Eigenschaft als Polizeibehörde oder Vertreter
eines Armenverbandes. Eine rechtliche Verpflichtung
des Staates zur Aufnahme in die Landesanstalten bestand
sonach überhaupt nicht, und die auf sie bezüglichen Regulative
bestimmten nur die Voraussetzungen, unter denen die Aufnahme
in die Landesanstalten, soweit der vorhandene Platz reichte, zu¬
lässig war, gaben aber den Gemeinden keinesfalls das Recht,
die Aufnahme unter allen Umständen zu verlangen und zu erzwingen
(Bericht der Finanzdeputation A der Zweiten Kammer über Kapitel 70
des ordentlichen Staatshaushaltsetats für 1904/05).
Nun waren zwar für die praktische Durchführung dieser gesetz¬
lichen Bestimmungen im Laufe der Zeit auch von anderer Seite als
von den genannten unterbringungspflichtigen Verwaltungstellen
Einrichtungen getroffen worden, die die mit der Unterbringung, Ver¬
pflegung und Behandlung von Geisteskranken verbundenen großen
Schwierigkeiten erleichtern, beziehentlich beseitigen sollten.
Neben Privatirrenanstalten für zahlungfähige Kranke trat haupt¬
sächlich, aber wie erwähnt freiwillig, nur subsidiarisch, ergänzend,
aushilflich, der Staat ein. Und der sächsische Staat war’mit Auf-
r*
Wendung großer Mittel in mustergültiger Weise vorgegangen und
hatte in dankenswerter Weise, wenn auch nur für bestimmte Gruppen
von Geisteskranken — für heilbare und unheilbare gefährliche Kranke-
Fürsorge getroffen. Er hat in den letzten 25 Jahren zu den bestehenden
alten: Sonnenstein, Hubertusburg, Colditz und Hochweitzschen allein
drei neue Heü- und Pfleganstalten gebaut: Untergöltzsch, Zschadraß,
Großschweidnitz. Die vierte große Pfleganstalt Arnsdorf zu gleichen
Zwecken ist erst vor kurzem dem Betrieb übergeben worden (1. April
1912). Außerdem haben in den letzten Jahren die bestehenden älteren
Anstalten Hubertusburg, Hochweitzschen und besonders Sonnenstein
wesentliche Vergrößerungen durch Um- und Neubauten erfahren.
Sodann haben in ausgedehntem Maße einzelne Großstädte
umfangreiche Mittel zu diesem Zweck bewilligt. Genannt seien die
Anstalten Dösen für die Stadt Leipzig, die Nervenanstalt Hilbersdorf
für Chemnitz, das Irrensiechenhaus für Dresden. Endlich haben
einige wenige größere Städte, wie Plauen, Zwickau, ferner einige
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Hösel,
Bezirksverbände wie Borna, Rochlitz, Annaberg usw. neuere Ein¬
richtungen an Bezirksanstalten getroffen, die gleichen Zwecken dienen.
Alle diese Einrichtungen hatten in rechtlicher Beziehung das
Gemeinsame an sich, daß sie Geisteskranken Aufnahme gewähren
können, nicht aber müssen, daß sie die Kranken genau
so, wie es der Staat tat, ganz freiwillig, nach ihren Satzungen auf-
nahmen, daß sie ihnen besonders nur so lange und so weit Unter¬
kommen gaben, solange Platz dazu vorhanden war. Eine Verpflichtung
lag also auch einem Bezirksverband oder einem Krankenhausvorstand
nicht ob, wenn diese und der Staat bisher auch in der Hauptsache
die Unterbringung besorgt und erledigt hatten, solange der Platz
reichte.
Einzig und allein gesetzlich verpflichtet waren Bürger¬
meister und Gemeindevorstände, und es folgte daraus,
daß alle Gemeinwesen, an deren Spitze ein Bürgermeister oder Ge¬
meindevorstand stand, für eine geeignete Unterbringung ihrer nach
obigen Bestimmungen unterbringungbedürftigen Geisteskranken recht¬
lich selbst zu sorgen hatten. Die großen Gemeinwesen wie Leipzig,
Dresden, Chemnitz hatten hieraus bereits die Folgen gezogen und waren
zum Bau eigener Anstalten geschritten.
Anders und ungünstiger lagen die Verhältnisse des übrigen Landes.
Es war klar, daß der Bürgermeister einer kleinen Stadt oder gar ein
Gemeindevorstand mit den ihm zur Verfügung stehenden Hilfsmitteln
nicht in der Lage war, seiner Unterbringungspflicht ohne anderweite
Hilfe nachzukommen.
Bisher standen ihm in der Hauptsache zwei Wege offen, die er
betreten konnte:
1. Die Benutzung der staatlichen Anstalten.
Diese waren aber schon seit Jahren an der Grenze ihrer Leistung¬
fähigkeit angelangt. Die bestehenden waren vollständig gefüllt. Plätze
wurden nur frei durch Abgang infolge von Entlassung, Beurlaubung oder
Tod, ein Wechsel in der Bewegungswelle des Zu- und Abgangs, der nicht
groß genug war, um allen Aufnahmegesuchen entsprechen zu können.
Ein großer Teil unterbringungbedürftiger Kranker konnte in den Staats-
anstalten auf längere Zeit hinaus nicht oder nur ausnahmweise Aufnahme
finden. An dieser Tatsache konnte wesentlich auch nicht die weitere
etwas ändern, daß die vom Staate neu erbaute Anstalt Arnsdorf eröffnet
wurde. Diese Anstalt hat die bestehende Notlage wohl etwas gemildert
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Uber du neue Irrenfürsorgegesetz im Königreich Sachsen. 643
und dem Platzmangel etwas abgeholfen. Auf die Dauer wird sie ihn aber
nicht beseitigen. Zum anderen war die neue Anstalt aber zunächst auch
nur für unheilbare und gefährliche Kranke vorgesehen. Zwischen diesen
aber und denjenigen, die bisher in der Familie oder teilweise in derGemeinde-
pflege bequem versorgt werden konnten, gab es noch eine große Anzahl
Kranker, die schwer abzugrenzen war, für die aber auch anderweit gesorgt
werden mußte. Sie gehörten weder zu den Heilbaren noch zu den Unheil¬
baren und Gefährlichen, gehörten aber auch nicht zu den ruhigen, sozialen
oder siechen Kranken der Familien- oder der Gemeindepflege, sondern
bildeten eine Art Zwischenklasse, die weder in die Familie,
noch in eine Form der Gemeindepflege gehörten, sondern in Anstalten
vom Charakter der Staatsanstalten.
Von diesen Kranken lebte der größte Teil auch in Gemeindepflege,
machte dort aber große Not und bereitete der Fürsorge und Pflege deshalb
große Schwierigkeiten, weil die Mittel, die dieser Form der Gemeinde-
pflege bisher, selbst in der Form der neueren Einrichtungen in einzelnen
Bezirksanstalten, zur Verfügung standen, für diese Kranken nicht aus¬
reichten.
2. Der zweite Weg, der den unterbringungspflichtigen Ver¬
waltungstellen offen stand, war der, die Kranken in Kranken-,
Armen-, Siechen- oder Bezirksanstalten unterzu¬
bringen. Aber auch dieser Weg war nach den bisherigen Erfahrungen
nur streckenweise gangbar. Die bestehenden Einrichtungen in diesen
Anstalten genügten zum weitaus größten Teil bisher schon nicht. Diese
waren bisher schon Aushiifsmittel, wurden benutzt, weil es Besseres nicht
gab, mehr aus Not als zum eigentlichen Zweck, den sie meist nie ganz
erfüllten, ihn auch nicht erfüllen konnten, weil sie nur zu vorübergehenden
Zwecken errichtet waren. Neue Einrichtungen waren aber bisher im Verlaß
auf die seither vom Staate geleistete Hilfe von den meisten zuständigen
Stellen nicht getroffen worden, ganz abgesehen davon, daß kleine Gemein¬
wesen dazu gar nicht imstande waren, weil die Eigenait dieser Einrich¬
tungen und ihre Anwendung sie daran hinderten und weil die zu verwenden¬
den Geldmittel in keinem Verhältnis gestanden haben würden zu dem
Zweck, der erreicht werden sollte. Also auch der zweite Weg war nur
teilweise, für die meisten Orte gar nicht gangbar. Immer mehr machte sich
also die Notwendigkeit fühlbar, auf andere Mittel und Wege zur Unter¬
bringung der sich mehr und mehr häufenden Kranken zu sinnen und
entweder die bisherigen Anstalten zu erweitern, neue zu bauen oder sonst
wie helfend einzugreifen.
Jedenfalls mußte etwas geschehen, um den bestehenden Übel¬
ständen abzuhelfen. So wie bisher konnte es nicht weiter gehen. Die Not
in den Gemeinden, der Mangel genügender Räume in den bestehenden
staatlichen Anstalten und das völlige Fehlen jeglichen geeigneten Unter¬
kommens in den kleinen Anstalten der Gemeindeverwaltungen einerseits,
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Hösel,
die traurige Lage, in die die Kranken infolge dieser Verhältnisse und der
daraus folgenden gänzlich unzureichenden Hilfe selbst kamen, andererseits
zwang zu energischer Abhilfe.
Wie konnte nun dem entsprochen werden, daß die Abhilfe eine
gründliche war?
Verschiedene Wege konnten betreten werden. Von den möglichen
kamen folgende in Frage: Die Irrenfürsorge eines Landes
ist nur dann eine erfolgreiche und zweckent¬
sprechende, wenn sie zentralisiert ist. ln jeder
anderen Form versagt sie oder erfordert, soll
sie jederzeit gut funktionieren, sehr große Geld¬
mittel.
Ist diese Überlegung richtig, dann ergaben sich für unsere sächsischen
Verhältnisse zwei Möglichkeiten:
1. Man konnte daran denken, die oben angeführten gesetzlichen
Bestimmungen dahin abzuändern, daß der Staat als die mächtigste,
reichste und größte Zentralgewalt zuständig zur Unterbringung von
allen Formen von Geisteskranken gemacht wurde, daß also der Staat
die Pflicht der Unterbringung aller Geisteskranken und damit die
Verwaltung des gesamten Irren Wesens Sachsens übernahm. So
ideale Verhältnisse dieser Vorschlag schaffen mußte — und es war zweifellos
grundsätzlich der richtigste und zweckentsprechendste —, so schwierig
war die Durchführung desselben. Denn damit hätte voraussichtlich die
ganze Armenfürsorge, soweit sie Geisteskranke betraf, aus dem Pflichten-
kreis der Gemeinden in den des Staates übergehen müssen. Eine solche
grundsätzliche Veränderung in der Organisation des Armenwesens schallte
aber Schwierigkeiten nicht bloß rechtlicher, sondern besonders finanzieller
Art. Denn zum Erlaß des Gesetzes vom 26. Mai 1834 hatte ja gerade
die Notwendigkeit geführt, einheitliche Bestimmungen darüber zu treffen,
inwieweit den Ortsgemeinden Beiträge zu der Verpflegung ihrer in die
Landesanstalten aufgenommenen Armen anzusinnen seien, um nicht,
wie die Begründung des Regierungsentwurfs (vgl. Landtagsakten vom
Jahr 1833, Abt. Bd. 3, S. 217) besagte, „der Staatskasse eine den
Kommunen obliegende Verbindlichkeit aufzubürden, vielmehr
um dem dahin gerichteten Streben der Kommunen, sich ihrer Armen und
deren Versorgung zu entledigen, zu begegnen“ (siehe Bericht der Finanz¬
deputation A der zweiten Kammer über Kap. 70 des ordentlichen Staats¬
haushaltetats für 1904/05). Würden dabei — was nur recht und billig
war — aber auch die fünf exemten Städte einbezogen, von den Vorteilen
dieser Organisation Gebrauch zu machen, dann mußte die Mehrbelastung,
die ihre Mitversorgung dem Staate auferlegte, eine so überaus große
werden, daß an die Verwirklichung dieses Planes erst dann gedacht werden
durfte, wenn andere gangbare Wege nicht mehr aufzufinden waren.
Konnte die Zentralstelle also noch anderswo gesucht
werden ?
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Ober das neue Irrenfürsorgegesetz im Königreich Sachsen. 645
Es kamen in dieser Beziehung noch zweitens die kleineren Verbünde
selbst in Betracht und zwar zunächst
2A) die einzelnen Bezirksverbande. Diese Verbände
hatten sich bisher so geholfen, daß sie an Krankenhäusern ihrer Bezirke
oder an Armen- oder Bezirksanstalten Vorkehrungen trafen für die Siche¬
rung erregter Kranker durch Einbau einer oder mehrerer Isolierzimmer,
für die Unterbringung ruhiger und siecher Kranker durch Einrichtung
einiger Krankenräume.
Diese Einrichtungen waren nach den Erfahrungen des Verfassers
aber — mit ganz vereinzelten Ausnahmen — fast alle ungenügend. Sie
waren teils alt, oft sehr alt. Man sah noch die alten Autenriethschen und
sogar Polsterzellen. Und die neueren waren nur für vorübergehende Zwecke
geeignet. Sie waren vor allem zu klein. Für eine Unterbringung auf
längere Dauer — und wie lange währt diese oft bei solchen Kranken ? —,
für eine Unterbringung behufs Heilbehandlung waren sie meist samt und
sonders ungeeignet. Einzelne Bezirksverbände hatten ja in anerkennens¬
werter Weise einen weiteren Schritt vorwärts getan. Sie hatten Adnexe
an bestehende Siechen- oder Bezirksanstalten gebaut in Form von kleinen
Wachabteilungen, eine Art Stadtasyle im Griesingerschen Sinne. Sie
hatten neuzeitlichere Einzelzimmer, sie hatten sogar Einrichtungen zu
Dauerbädern. Aber selbst wenn diese Vorkehrungen neuzeitlichen An¬
sprüchen genügt hätten, erfüllten sie doch nur bestimmte Zwecke, waren
für diese Sonderzwecke auch notwendig, waren aber nicht hinreichend
für den Zweck, den die Irrenfürsorge des gesamten Bezirks Überhaupt
erforderte. Denn es fehlte ihnen zuvörderst an geeignetem sachverständigen
und geschulten ärztlichen und Pflegepersonal. Für die Anstellung eines
selbständigen Psychiaters waren sie zu klein. Seine Leistungfähigkeit
wurde nicht voll ausgenutzt. Seine Anstellung wurde damit zu kostspielig.
Wurde die ärztliche Leitung aber im Nebenamte erledigt, litten die Kranken,
litt die ganze Organisation, der ganze Betrieb. Denn dieser und die Kranken
waren dann in den Händen des Personals. Es fehlte die Aufsicht, die
Kontrolle. Der ganze Geist der Einrichtung wurde wieder ein anderer,
er erfuhr eine Veränderung ad pejus. Das Pflegepersonal war meist nicht
geschult. Denn zur Behandlung und Verpflegung von Geisteskranken
gehört eben besondere Vorbildung, besondere Eignung, besondere Er¬
fahrung, andere, als die, die gewöhnlich dem Personal zur Ver¬
fügung stand, das dort angestellt war. Es iehlte ferner und besonders
der ganze neuzeitliche therapeutische Apparat für die heilbaren Kranken.
Eis fehlte an Einrichtungen für die Behandlung chronisch erregter, insozialer
Elemente und solcher, die ihrer individuellen krankhaften Haltung nach
besonderer Maßnahmen zu ihrer Behandlung und Verpflegung bedurften
(Beschäftigungs- und Ernährungstherapie). Diese Adnexe eigneten sich
also höchstens für eine möglichst rasche, vorübergehende und vor¬
läufige Unterbringung von frisch erkrankten Personen oder höchstens
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Hösel,
für eine dauernde Unterbringung von geistig gebrechlichen, aber
sozialen und lenkbaren, ruhigen Kranken, nicht aber für den Teil der
übrigen Geisteskranken, deren Unterbringung den Bürgermeistern und
Gemeindevorständen sonst oblag, besonders auch nicht für die Verpflegung
der oben definierten Zwischenklasse. Für diese waren die Vor¬
kehrungen in den genannten Anstalten oder Adnexen ungenügend. Sie
blieben Halbheiten, waren nichts Ganzes, und sollten sie es werden, so
kosteten ihre Anlagen so viel Geld, daß dieses von den einzelnen Bezirks -
verbänden nicht aufgebracht werden konnte.
Die geeignete Zentralstelle war also der Bezirks-
verband auch nicht.
2B.) Vermochte die Hilfe nicht der einzelne Bezirksverband zu
bringen, vielleicht tat es eine Vereinigung von Bezirks¬
verbanden, ein Verband der Bezirksverbände eines
Regierungsbezirks? Um beurteilen zu können, ob dies angängig
war, und ob ein solcher Verband zweckentsprechende Abhilfe schaffen
konnte, bedurfte es zunächst einer genauen Irrenstatistik. Leider
fehlte diese vollständig und fehlt noch heute, und man ist nur auf Schätzung
angewiesen. Unbedingt nötig wäre aber eine solche, und die zuständigen
Stellen, die Amtshauptmannschaften, sollten, jede für ihren Bezirk, in
ihrem eigensten Interesse sobald wie möglich eine solche schaffen. Die
Schwierigkeiten können keine großen sein, und unter Zuhilfenahme der
Bezirksärzte oder der Anstalt dir ektion der Landesanstalten, die in ihren
Bezirken liegen, dürfte eine solche ohne nennenswerten Aufwand von Zeit,
Geld und Mühe zu ei zielen sein.
Erst wenn man weiß, für wen zu sorgen ist, kann man Einrichtungen
für die Beteiligten treffen. Nur was man übersieht, beherrscht man.
Nahm man nun an, in jeder Amts hauptmannschaft, z. B. der
Kreis hauptmannschaft Leipzig, befänden sich durchschnittlich 50
Geisteskranke männlichen und weiblichen Geschlechts, für die der Staat
zunächst nicht sorgte, die sich auch nicht für Familienpflege eigneten,
für die aber auch nicht die bisher übliche Gemeindepflege ausreichend war,
so würden 300 Plätze zu beschaffen gewesen sein, um diese Kranken in
eine geeignete zentrale Fürsorge zu bringen.
Das Beste und Zweckentsprechendste wäre in diesem Fall etwa
der Bau einer gesonderten selbständigen Irrenanstalt gewesen, etwa im
Sinne einer größeren staatlichen Pfleganstalt. Wären die Mittel hierzu
vom Verband der Bezirksverbände eines Regierungsbezirkes aufzubringen
gewesen, dann wäre der Zweck noch in einer Form erreicht, der man hätte
beipflichten können. Die Kranken wären alle in sachgemäßer Behandlung,
der ganze therapeutische Apparat wäre an einer Stelle gewesen. Die Leitung
wäre eine zentrale gewesen. Die Voraussetzungen für die geeignetste Form
der Irrenfürsorge wären ausreichend erfüllt worden. Die Verwirklichung
des Vorschlags scheiterte aber an den Kosten. Denn selbst wenn dem
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Ober das neue Irrenfürsorgegesetz im Königreich Sachsen. 647
Pflegecharakter der Anstalt entsprechend der Bau und die Einrichtung
in den einfachsten Formen vollzogen worden wären — unter einigen
Millionen Mark hätte eine solche den geforderten Interessen dienende
und alle ihre Zwecke erreichende Einrichtung mit ihrer Beamtenzahl,
mit ihrem umfangreichen, wirtschaftlichen Betrieb, mit dem zu erwerbenden
Grundbesitz usw. usw. nicht hergestellt werden können. Dies wären aber
Opfer gewesen, die selbst em Verband von reicheren Bezirksverbänden
aufzubringen kaum in der Lage gewesen wäre.
Es fragte sich also, gab es nicht noch eine weitere Möglichkeit
für die Bürgermeister und Gemeindevorstände, aus dieser Schwierigkeit
herauszukommen ?
2C.) Die Schwierigkeiten hätten behoben werden können, wenn für
den Verband der Bezirksverbände die Möglichkeit be¬
standen hätte, einen Anschluß im großen an die bestehenden staat¬
lichen Heil- und Pflegeanstalten zu erreichen. Die Erwägungen, die
diesem Gedanken zugrunde lagen, waren folgende:
Wenn eine Stadt ein neues Gymnasium braucht, stellt sie der aus-
führenden Behörde gewöhnlich einen Platz kostenlos zur Verfügung.
Wenn Interessenten eine neue Eisenbahn wünschen, überlassen Gemeinden
dem bauführenden Staat oft kostenlos die Strecken Landes. Wenn Straßen
und Wege, deren Instandhaltung den Gemeinden obliegt, neu erbaut oder
Reparaturen unterzogen werden sollen, werden staatliche Amtsstraßen-
meister, in diesem Fall gegen Entgelt, zur Ausübung dieser Handlungen
herbeigezogen, Staatsbeamte zu Arbeiten für Gemeinden. Es lag nahe
zu erwägen, ob das Verfahren nicht auf unseren Fall anzuwenden möglich
war. Sehen wir zu!
Jeder Bezirks verband stelle dem Staat ein größeres Kapital zur
Verfügung, das er selbst (der Bezirksverband) amortisierend verzinst,
das aber in den Besitz des Staates überginge. Hierfür baute der Staat
im Anschluß an eine Heil- und Pfleganstalt je nach deren Erweiterung¬
fähigkeit ein oder je nach Bedürfnis 2—3—4 Häuser, in denen alle Kranken
hätten untergebracht werden können, besonders auch die, die der oben
erwähnten Zwischengruppe angehörten. Betont sei, untergebracht
werden. Die Verpflegung darin hätte natürlich nach den jeweilig bestehen¬
den Grundsätzen und Bedingungen auf Kosten der Ortsarmenverbände
weiter erfolgen müssen. Die Zahl der Kranken, die jeder Bezirksverband
hätte unterbringen dürfen, hätte sich nach der Größe des Kapitals richten
müssen, das der einzelne Bezirksverband zu diesem Zweck dem Staat
zur Verfügung gestellt hätte. Was wäre die Folge einer derartigen Organi¬
sation gewesen?
1. Das Irrenwesen Sachsens hätte in der Tat in einer Hand gelegen.
Es wäre zentralisiert worden und hätte in dieser Form alle seine großen
Vorzüge wirken lassen können.
2. Der wirtschaftliche und sonstige andere Betrieb, der an der
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Hösel,
LandesanStalt bereits vorhanden war, hätte nicht neu beschafft zu werden
brauchen, Grundbesitz wäre gleichfalls nicht neu zu erwerben gewesen,
Voraussetzungen, die durch ihren Wegfall ansehnliche Kosten gespart
hätten.
3. Bas ganze ärztliche, Pflege-, Verwaltungs- und Betriebspersonal
wäre sachkundig gewesen. Es hätte wohl entsprechend vermehrt werden
müssen, bedurfte aber wie der ganze Betrieb der Anstalt nur der Er¬
weiterung, nicht der Neugründung, gleichfalls Voraussetzungen, die sich
hätten billiger beschaffen lassen, als bei Errichtung einer selbständigen
neuen Anstalt in jedem Regierungsbezirk.
4. Der vorhandene therapeutische Apparat, in Form der Beschäfti¬
gungstherapie der Kranken in der Land- und Gartenwirtschaft, in be¬
stimmten Handwerken, in Form der Bett- und Wasserbehandlung, in
Form der Ernährungs- und Beruhigungstherapie usw. wäre bereits vor¬
handen gewesen und konnte in sachverständiger Weise auch auf die noch
hinzukommenden Kranken angewandt werden.
5. Der neuzeitliche Geist der Heil- und Pfleganstalt konnte allen
Kranken des Bezirks zugute kommen. Jedem Kranken konnte dem
jeweiligen Stand seiner Krankheit entsprechend durch Versetzung von
der Heil- in die Pflegabteilung der Anstalt und umgekehrt die ihm ge¬
bührende und für ihn notwendige günstigste Behandlungsart zuteil werden.
Es wäre eine bestmögliche Unterbringung für jeden Kranken gesichert
gewesen.
6. Es hätte die Einführung der Familienpflege in Angriff genommen
und einheitlich durchgeführt werden können.
7. Den Landesanstalten wären annehmbar wieder mehr landwirt¬
schaftliche Arbeiter für ihre Kolonien beschafft worden. Der Charakter
der kolonialen Anstalt hätte für die Heil- und Pfleganstalten wieder mehr
zur Geltung gebracht werden können.
8. Ein umwälzender Eingriff in die gegenwärtig bestehende Armen -
fürsorge hätte nicht stattgefunden.
9. Besonders drängte aber die finanzielle Seite des Vorschlages
zu eingehender Prüfung, da der Vorteil, den die Gemeinden in dieser
Beziehung gehabt hätten, nicht zu unterschätzen war. Denn wenn auch
bei Bestellung eines größeren, zu amortisierenden Kapitals durch Ver¬
zinsung eine zunächst höhere Belastung der Ortsarmenverbände eingetreten
wäre, so wären sie dafür doch auch der Deckung der ansehnlichen Summen
enthoben gewesen, die durch den unvermeidlich gewordenen' Bau von
Einrichtungen kleineren oder größeren Umfangs entstanden wären, und
deren Unzulänglichkeiten, wie oben dargetan worden ist, auch in Zukunft
hätte bestehen bleiben müssen.
Und doch standen trotz dieser Vorteile der Durchführung auch
dieser weiteren Form der Organisation erhebliche Bedenken entgegen.
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Über das neue Irrenfürsorgegesetz im Königreich Sachsen. 649
Den Bürgermeistern und Gemeinden war zwar die Sorge der Unter¬
bringung ihrer Kranken abgenommen. Ein befriedigender Ausgleich der
Kosten wäre aber nicht, höchstens nur unter Wegräumung großer Hinder¬
nisse finanzrechtlicher Art erzielt worden.
Die Stellung, Verrechnung, Amortisation der hohen Kapitalien
hätte für die Gemeinden eine sehr hohe Belastung bedeutet, die verwaltungs-
rechtliche Ordnung dieser Geldsummen durch Gesetz oder Verordnung
hätte zu großen Weiterungen geführt. Außerdem hätten die Gemeinden
den ganzen Unterhalt für ihre Kranken auch weiter bestreiten müssen,
und zu diesem Unterhalt kamen noch die großen Ausgaben für die Kapital¬
beschaffung. Die Durchführbarkeit dieser Art der Organisation erschien
wohl einfach, die Durchführung selbst aber war wegen der Folgen in
armenrechtlicher, verwaltungstechnischer und gesetzgeberischer Beziehung
überaus erschwert. Ideal und vollkommen, etwas Ganzes war also diese
Form der Regelung auch nicht. Ideal war nur die Übernahme
der gesamten Irrenpflege auf den Staat.
Und dies geschah.
Die Königliche Staatsregierung hat die Irrenpflege Sachsens
unter den unten noch zu besprechenden Voraussetzungen ganz über¬
nommen. Sie tat es unter Zustimmung der Landstände
1. durch Schaffung eines Irrenfürsorgegesetzes und
2. durch Neuordnung der gesamten Irren¬
pflege in verwaltungsrechtlicher Beziehung.
II.
Das neue Irrenfürsorgegesetz.
Es lautet folgendermaßen:
Gesetz über die A n s t a 11 s f ü r s o r g e an Geistes¬
kranken.
§ 1. Die Landesanstalten haben alle erwachsenen Geisteskranken,
die der Behandlung und Pflege in einer Irrenanstalt bedürfen und deren
Unterbringung ein sächsischer Ortsarmenverband in Erfüllung seiner
armenrechtlichen Verpflichtung oder eine sächsische Gemeinde aus be¬
sonderen sachlichen Gründen beantragt, aufzunehmen und so lange zu
verpflegen, als die eben angegebenen Voraussetzungen dauern.
Geisteskrank im Sinne dieses Gesetzes sind auch die Epileptischen,
soweit sie zu den gewalttätigen epileptisch Irren zu zählen sind.
5 2. Die Ortsarmenverbände und Gemeinden haben, bevor sie den
Antrag auf Unterbringung stellen, ein ärztliches Gutachten einzuholen,
in zweifelhaften Fällen das Gutachten des Bezirksarztes.
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650
Hösel,
Über die Aufnahme entscheidet die Anstaltsdirektion. Eine Ab¬
lehnung hat sie zu begründen. Über die Beschwerde hiergegen befindet
die für den Ortsarmenverband oder die Gemeinde zuständige Kreishaupt¬
mannschaft. Die Beschwerde ist auch zulässig, wenn die Anstaltsdirektion
beschlossen hat, den Kranken zu entlassen. Eine solche Entlassung ist
ebenfalls zu begründen.
Die Beschwerde ist binnen einer Woche nach der Bescheidung des
Ortsärmenverbandes oder der Gemeinde zu erheben und hat aufschiebende
Wirkung, wenn sie sich gegen eine Entlassung richtet.
Die Entscheidung der Kreishauptmannschaft ist endgültig.
§ 3. Im Falle der Selbstzahlung sind die Anstaltskosten von den
Aufgenommenen und, soweit deren Mittel nicht ausreichen, von den Per¬
sonen zu entrichten, die nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts
unterhaltpflichtig sind.
Bis zur Beibringung eines anderen Zahlers ist der Landesanstalt
gegenüber zunächst der Armenverband oder die Gemeinde, welche die Auf¬
nahme herbeigeführt oder sonst die Zahlungsverbindlichkeit Übernommen
haben, sodann derjenige Armenverband zahlungspflichtig, der nach den
armenrechtlichen Vorschriften für den Kranken zu sorgen hat.
§ 4. Für die sächsischen Ortsarmenverbände, soweit ihnen die Unter¬
stützung eines Kranken vorläufig oder endgültig obliegt, und für die
sächsischen Gemeinden besteht der gleiche Verpflegsatz. Dieser bemißt
sich nach der Hälfte des Aufwandes, der, nach dem Durchschnitt des
Gesamtaufwandes aller Landesirrenanstalten berechnet, auf einen Kranken
der billigsten Verpflegklasse täglich entfällt.
Die Höhe des Satzes macht das Ministerium des Innern mit der
Maßgabe bekannt, daß er frühestens ein halbes Jahr nach der Veröffent¬
lichung in Kraft tritt.
§ 5. Dieses Gesetz tritt am 1. Oktober 1913 in Kraft, soweit nicht
mit einzelnen Städten etwas anderes vereinbart worden ist.
Auf geisteskranke Verbrecher, die wegen ihrer Gewalttätigkeit der
Aufnahme in einer geschlossenen Anstalt bedürfen, leidet das Gesetz schon
vom 1. Januar 1913 an unbeschränkt Anwendung.
Mit der Ausführung des Gesetzes wird unser Ministerium des Innern
betraut, das auch in der bisherigen Weise Anstaltsordnungen zu erlassen
und darin insbesondere die bei Aufnahme eines Kranken erfordei liehen
Unterlagen anzugeben hat.
III.
Worin bestehen nun die Vorteile der neuen
Regelung des Irrenwesens Sachsens in dem im
obigen Gesetz festgelegten Sinne?
Es ist ohne weiteres klar: Es ist die grundsätzlich wichtigste
Forderung der Irrenfürsorge erfüllt worden, die Forderung der Zen-
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Über das neue Irrenfürsorgegesetz im Königreich Sachsen. 651
tralisation des Irrenwesens. Die Staatsregierung hat
den entscheidenden Schritt getan und hat die ganze Irrenfürsorge
des Landes selbst übernommen, hat sie zentralisiert und sich selbst
an die Spitze dieser Verwaltungszentrale gestellt. Dieses ist das
wichtigste Ergebnis der ganzen Reform. Jetzt erst können alle die
Vorteile ausgenutzt werden, die eine geordnete Irrenpflege eines Landes
vom Umfang und der Bewohnerzahl des Königreichs Sachsen in neu¬
zeitlichem Sinne bietet.
Es werden also in Zukunft alle der Armenfürsorge anheim
gefallenen Geisteskranken vom Staate in Krankenfürsorge genommen
werden. Damit wird dem ganzen Irrenwesen Sachsens ein vollständig
neues und modernen Anforderungen genügendes Gefüge gegeben.
Bisher waren nur heilbare und unheilbar gefährliche Kranke auf¬
genommen worden. Die Aufnahme chronischer Kranker wurde von
deren Gefährlichkeit abhängig gemacht. Das neue Verfahren erstreckt
sich von mm ab auf alle anstaltbedürftigen Kranken, soweit sie ein
Ortsarmenverband unterzubringen hat, in Zukunft also auch auf
Unheilbare und Ungefährliche. Bisher war nur Platz für die erste
Gruppe, in Zukunft Platz für alle Kranken, besonders auch für die,
die in die oben geschilderten Zwischengruppen fielen. Bisher stammten
die meisten Aufnahmen nur aus den kleinen und mittelgroßen Gemein¬
wesen. In Zukunft haben auch die großen Städte Anteil an der Mög¬
lichkeit, ihre Kranken den Landesanstalten zuzuführen. Unterschiede
in den Auffassungen, was ist „gefährlich“, was nicht, fallen weg.
Meinungsverschiedenheiten, wer ist zur Fürsorge verpflichtet, wer
nicht, sind in der Hauptsache aus dem Wege geräumt. Eine Ab¬
lehnung wegen Platzmangels ist nicht mehr zulässig. Alle der Anstalt¬
behandlung bedürftigen Kranken der Armenverbände müssen auf¬
genommen werden.
Die günstigen Wirkungen dieser Änderungen sind ohne weiteres
ersichtlich.
1. Sie kommen den Kranken selbst zu statten.
2. Sie liegen im Interesse der Landesanstalten.
3. Sie gereichen auch den Gemeinden zum Vorteile.
1. Den Kranken! Diese werden endlich alle einer sachgemäßen
Behandlung unterworfen und zwar rasch und dem Zustand ihres Leidens
entsprechend. Sie können nunmehr sofort und zu der Zeit den neu -
Zeitschrift fttr Psychiatrie. LUX, 5. 45
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652
Hösel,
zeitlichen Heilfaktoren entgegengeführt werden, wo eine Heilung oder
Besserung überhaupt nur möglich ist, nämlich bei Beginn der Erkrankung.
Was ist bisher in dieser Beziehung gesündigt worden! Die meisten An¬
gehörigen der Kranken, ja sogar viele ihrer ärztlichen Berater, schickten
sie erst, wenn sie „anstaltreif“ geworden waren, d. h. wenn ihr Zustand
durch sogenannte therapeutische Versuche verzettelt und verschlimmert,
zur Chronizität behandelt worden war. Aus Scheu vor der Anstalt
wurden die Kranken erst gebracht, wenn der Zwang hierzu die Fürsorge -
pflichtigen drängte. In Zukunft ist Gelegenheit zu sofortigen Aufnahmen.
Sie muß freilich genutzt werden! Dabei fällt die mangelhafte Zwischen¬
behandlung in Siechen-, Bezirks- und kleinen Krankenanstalten mit
unzureichenden Heilmitteln wenigstens für eine längere Dauer vollständig
weg. Denn Aufnahmen wegen Platzmangels können von nun ab nicht mehr
abgelehnt werden. Und gerade dieser Platzmangel und zwar dieser chro¬
nische Platzmangel war, abgesehen von der Scheu vor der Anstalt, an sich
mit schuld an dem Zustand, daß die Kranken zu spät in geeignete Be¬
handlung kamen. Er tat zur Abneigung gegen die Anstalt sein Übriges,
bestärkte und vermehrte sie und hielt die frisch Erkrankten von der
Aufnahme erst recht ab. So kam es, daß die Anstalten von lauter chronisch
Kranken, von lauter unheilbaren und gefährlichen Elementen angefüllt
waren. Diese verstopften die Abteilungen. Für die frisch Erkrankten
war kein Raum. Diese waren auf die kleinen Betriebe der Gemeinden
angewiesen, in ihre Zellen gedrängt. Dort waren sie nicht behandlung¬
fähig. Es fehlte an dem nötigsten Heilapparat. Sie reagierten von ihren
Erregungen usw. nicht ab, genasen nicht, wurden kränker und schließlich
chronisch krank. Man züchtete also einfach chronisch Kranke.
Auch die Schwierigkeiten, die einer Einigung über den Begriff der
Gefährlichkeit entgegenstanden, und die die rechtzeitigen Auf¬
nahmen oft recht verschleppten, kommen nunmehr in Wegfall. Der
Begriff „Gefährlichkeit“, von der die Aufnahme Unheilbarer bisher ab¬
hängig gemacht worden war, war auf der einen Seite so dehnbar, auf der
anderen konnte er so eng gefaßt werden, daß man schließlich mit ihm
gar nichts mehr anfangen konnte. Dem krassesten Subjektivismus war
Tür und Tor geöffnet. Das machte sich oft höchst unangenehm fühlbar.
Die einen Gutachter glaubten, ein Kranker, selbst wenn er akut erkrankt
und heilbar war, müsse erst erweislich gefährlich geworden sein, ehe ihn
die Anstalt aufnimmt. Dies entsprach zwar nicht dem Sinn der regulativ¬
mäßigen Bestimmung, war aber gebräuchliche Ansicht im praktischen
Leben. Andere Gutachter wieder unterschätzten den Grad der bestehenden
Gefährlichkeit, gaben damit Anlaß zu Unglücksfällen, schufen Unsicher¬
heiten im Publikum, das seinerseits wieder geneigt war, die Schuld hierfür
den Anstalten zuzuschieben, die sich angeblich geweigert hatten, den
Kranken aufzunehmen oder zu entlassen. Wieder andere beschränkten
den Begriff nur auf solche Fälle, die nur gefährlioh waren in bezug auf
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Über das neue Irrenfürsorgegesetz im Königreich Sachsen. 653
Leben und Gesundheit Dritter oder der eignen. Andere wieder wollten
und zwar nicht mit Unrecht eine Gefährlichkeit auch dann anerkannt
wissen, wenn es sich um sexuelle Angriffe oder um Angriffe gegen Ehre
und Sicherheit von Personen und Behörden handelte. Alle diese Schwan¬
kungen und Unsicherheiten in der Auffassung des Begriffs der „Gefähr¬
lichkeit“ fallen nun in Zukunft weg und damit natürlich auch die Schwierig¬
keiten, die einer raschen und frühzeitigen Aufnahme der Kranken in die
Anstalten entgegenstanden. Sie sind in Zukunft durch die Neuregelung
endgültig beseitigt.
2. Aber auch für die Landesanstalten selbst wird die
Reform von Vorteil sein. Besonders kommt hier in Betracht, daß endlich
auch ungefährliche und harmlosere Kranke zur Aufnahme
kommen können. Diese verdünnen die vorhandenen unruhigen, unsozialen
Bestände der chronischen Kranken, sie regen den einen oder anderen
unter ihnen zur Arbeit an, reißen ihn mit fort, mildern Sitten und Gebahren
unter un- und halbruhigen Patienten. Sie stellen endlich die Arbeiter.
Die Zahl dieser arbeitenden Kranken war in den letzten Jahrzehnten
allmählich immer kleiner geworden. Es fanden sich keine geeigneten
Kräfte mehr unter den vorhandenen Beständen. Infolge der bestehenden
regulativmäßigen Bestimmungen konnten auch keine solchen aufgenommen
werden. Man hatte also die Einrichtungen, aber nicht die Kranken. Man
hatte das System der kolonialen Irrenanstalt, aber keine Kolonisten.
Man hatte Bautypen von Anstalten für Kranke, die nicht da waren und
nach den gesetzlichen Vorschriften auch gar nicht aufgenoramen werden
durften. Darunter litten naturgemäß die bestehenden Meiereien. Deshalb
gedieh die Anlage auch nicht in der gewünschten Weise. Die koloniale
Hälfte der Heil- und Pfleganstalt machte nicht die vorausgesetzte und
wünschenswerte Entwicklung mit. Es lag ein Fehler in der Organisation
vor, ein Fehler, der sich immer und immer wieder fühlbar gemacht hat,
und der aus der Zeit der ersten Reform Anfang der neunziger Jahre des
vorigen Jahrhunderts stammt.
Dies ergibt sich aus folgender geschichtlichen Betrachtung:
Bekanntlich war die Anstalt C o 1 d i t z nächst Hildesheim die
erste größere Anstalt Deutschlands, die 1867 im großen die Kolonisierung
der Geisteskranken ins Werk setzte. Es war damals von der königlichen
Staatsregierung zu diesem Zweck die Meierei Zschadraß bei Colditz ge¬
gründet worden, aus der sich dann 1894 die jetzige selbständige und von
ihrer Mutteranstalt Colditz nunmehr unabhängige koloniale Heil- und
Pfleganstalt Zschadraß entwickelt hat.
Alle arbeitfähigen chronischen Kranken der damaligen Anstalt
Colditz, die zu jener Zeit alle unheilbaren männlichen Kranken aus dem
ganzen Lande aufnahm, wurden in dieser Meierei beschäftigt. Die
Zahl der Kranken betrug schließlich etwa 300. Es kam zu einem großen
Bestand guter Arbeiter. Die Meierei blühte und gedieh, gedieh auch in
finanzieller Beziehung.
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Hösel,
Dies wurde anders, als das System der kolonialen Heil- und Pfleg¬
anstalten im Sinne der Altscherbitzer Anlage allgemein im Königreich
Sachsen als Bauart übernommen wurde. Dies erfolgte Anfang der neun¬
ziger Jahre des vorigen Jahrhunderts.
Mit der Übernahme dieses vollständig neuen Systems, das in seinem
Wesen etwas grundsätzlich und vollkommen Verschiedenes gegenüber den
bisherigen Bau- und Verpflegweisen darstellte, hätte sich nun auch grund¬
sätzlich die Art der Irrenfürsorge und ihr Verhältnis zur Armenpflege
ändern müssen. Das geschah aber nicht. Man übernahm einfach das neue
System, das zwar für preußische Provinzialverhältnisse mit ihrer Armen¬
gesetzgebung paßte — nämlich für alle anstaltbedürftigen Geistes¬
kranken Fürsorge zu treffen —, nicht aber für Sachsen, für das jene all¬
gemeine Fürsorge noch nicht einheitlich geregelt war, sondern das die
Fürsorge nur bedingt auf heilbare und unheilbar gefährliche Kranke
erstreckte und diese beschränkte Form der Fürsorge auch weiterhin bei¬
behielt. Während also für die preußischen Provinzen der Bau kolonialer
Irrenanstalten infolge der bereits damals bestehenden Armengesetzgebung,
die sich auf alle fürsorgebedürftigen Kranken erstreckte, gerechtfertigt
und das einzig richtige war, blieben in Sachsen, das das System, ohne seine
Armengesetzgebung zu ändern, einfach übernommen hatte, für seine
kolonialen Heil- und Pfleganstalten die erstrebten Erfolge aus.
Hierzu gesellte sich noch ein zweiter Umstand, der die
rechte Entwicklung der Meiereien beeinträchtigte.
Im System der kolonialen Anstalten waren nämlich außer der Anstalt
Zschadraß (1894) auch noch andere Anstalten neu gebaut worden, nämlich
Untergöltzsch und (1893) Großschweidnitz (1902). Diesen fehlten aber
naturgemäß ebenfalls die landwirtschaftlichen Arbeiter. Trotzdem er¬
hielten aber auch sie ihre landwirtschaftlichen Betriebe.
Natürlich mußte diesen nun geholfen werden, und so mußten denn
aus Zschadraß und den bestehenden anderen und älteren Anstalten, die
unterdes ebenfalls Meiereien erhalten hatten, z. B. Hubertusburg, Sonnen-
stein usw., für jene Anstalten alle die landwirtschaftlichen Arbeiter ent¬
nommen und in die neuen Anstalten versetzt werden, die in die Aufnahme¬
bezirke dieser Anstalten gehörten. Damit reduzierte man aber für die
alten Meiereien deren Bestände in so empfindlicher Weise, daß beiden
Teilen nicht nur nicht geholfen wurde, sondern daß man die alten Meiereien
in ihren Beständen und Betrieben direkt schädigte. Diesen waren zu viel
und zum Teil die besten Arbeitkräfte entzogen worden, und jenen genügten
die Übernommenen auch nicht.
Die jetzige Reform macht diese Unterlassung nun wieder gut, und man
muß der königlichen Staatsregierung dankbar sein, daß sie im Interesse
der eignen Anstalten nunmehr eingriff und die Änderung vornahm, zumal
drse noch nach einer anderen Richtung hin eine günstige
Wirkung ausüben dürfte.
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Ober das neue Irrenfürsorgegesetz im Königreich Sachsen. @55
Bisher sammelten sich, wie oben dargetan, in der nach dem kolonialen
Typ erbauten Anstalt die unheilbar gefährlichen Kranken an. Über arbeit-
fähige, für ihre Meiereien geeignete Kranke verfügte die Anstalt nicht,
oder wenigstens nicht in ausreichender Weise. Wo waren aber diese
Kranken ? Dieselben befanden sich in Gemeindepflege, waren in Armen-,
Siechen-, kleinen Krankenhäusern, Bezirksanstalten. Dort hatten sie aber
in den kleinen Verhältnissen keine ausreichende Arbeitgelegenheit, ver¬
kümmerten, bildeten eine fühlbare Last. Hier wurden sie vermißt, dort
belästigten sie in hohem Grade. Auch diese * Mißstand wird von nun
ab behoben. Von jetzt ab können ihre bisher mehr oder weniger b.ach
gelegenen Kräfte allmählich ausgenutzt, sie können zu nützlichen Menschen
herangebildet, ihre noch vorhandenen Spannkräfte dem Meiereibetrieb der
Anstalt nutzbar gemacht werden.
Damit verbindet sich wiederum ein weiterer Vorteil. Man
verbilligt den Betrieb. Denn es ist klar, daß es sich mit einer größeren
Zahl solcher Kranker trotz verminderter Arbeitkraft billiger arbeiten
läßt, als wenn man freie und gesunde Arbeiter zu hohem Lohne anwerben
muß, ganz abgesehen davon, daß es fraglich ist, ob man solche infolge
der bestehenden Landflucht der Arbeiter überhaupt bekommt.
Mit der Neuregelung gewinnen also voraussichtlich sämtliche An¬
stalten des Landes. Sie erhalten in den ungefährlicheren Kranken, die nun¬
mehr aufgenommen werden dürfen, nicht nur das notwendige Verdünnungs-
material, sie erhalten besonders wieder Arbeiter für ihre landwirtschaft¬
lichen Betriebe. Die letzteren werden damit wieder koloniale Heil-
und Pfleganstalten, also das, was sie von Haus aus sein sollten, nämlich
Heil- und Verpflegstätten für solche Geisteskranke, deren Eigenart es
zuläßt, daß sie landwirtschaftlich beschäftigt und ausgenützt werden
können, für Kranke also, für die der Betrieb ursprünglich gerade gedacht
und errichtet worden war.
Aber auch eine zweite überaus wichtige Verpflegungsart läßt
sich neben der kolonialen Verpflegung nunmehr energisch in Angriff
nehmen, das ist die Familienpflege der Geisteskranken.
Bisher fehlte den Anstalten Sachsens für diese Verpflegungsform
gleichfalls das geeignete Krankenmaterial. Dies lag wieder an der bis¬
herigen Gesetzgebung, nach welcher die Fürsorge an Geisteskranken,
wie erwähnt, eine geteilte war. Die staatlichen Landesanstalten nahmen
nur die heilbaren und unheilbaren gefährlichen Geisteskranken — wie
erwähnt, nicht im Sinne einer Verpflichtung —, die Gemeindeverwaltungen
hatten dagegen für den Rest, die große Masse der Ungefährlichen, zu sorgen.
Unter den letzteren befanden sich aber gerade diejenigen Kranken, die sich
überhaupt nur für die Familienpflege eigneten. Es war daher den bis¬
herigen Vorschriften gemäß den staatlichen Irrenanstalten Sachsens nicht
möglich, sich die Familienpflege als Verpflegart für die Fürsorge von
Geisteskranken, wenigstens in größerem Umfange, dienstbar zu machen
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Hösel,
De lege lata war dies Sache der Gemeindeverwaltungen, beziehentlich
der Ortsarmenverb&nde gewesen. Diese konnten sie aber aus begreiflichen
Gründen nicht organisieren. Denn ihnen und ihren Beratern fehlten nicht
nur alle Mittel der Organisation, sondern besonders auch jedes sach¬
kundige Verständnis für die Durchführung dieser noch jungen und im
Aufblühen begriffenen Verpflegform, die am besten nur von dem Zentrum
einer bestehenden Heil- und Pfleganstalt aus organisiert und unterhalten
wird.
Nach Einführung des neuen Irrengesetzes wird diese Verpflegart
nunmehr großzügiger betrieben werden können.
Anfänge haben im Königreich Sachsen seit vorigem Jahre ja einige
Landesanstalten schon gemacht. Zschadraß hat seit 1911 16 Kranke,
Sonnenstein 9 Kranke in Familienpflege, zwar ein kleiner Anfang, der
aber doch nun zum Weiterschaffen anregt und begründete Hoffnung
aufkommen läßt, daß in Zukunft diese Verpflegart ausgebreitetere
Anwendung bei den Anstalten finden wird.
Hierbei wird sich auch zeigen, daß außer der kolonialen Verpflegung
auch die Familienpflege weiter verbilligend auf den Betrieb
wirken wird. Denn in dem kurzen Zeitabschnitt, seit welchem Versuche
mit der Einführung der Familienpflege hier in Zschadraß gemacht worden
sind, hat sich gezeigt, daß allein hier rund 1500 Mark Unterhaltungs¬
kosten in einem viermonatlichen Zeitraum bei 16 Kranken erspart worden
sind, abgesehen davon, daß für jeden Familienpflegling in der Anstalt
ein Platz frei und anderweit verfügbar geworden ist. Würde z. B. die
Familienpflege von Anfang bis Ende des ganzen Jahres 1911 in Zschadraß
durchgeführt worden sein, so hätte sich folgendes ergeben:
Nehmen wir an, es seien 1911 12 Kranke dauernd in Familienpflege
gewesen, so wären diese 4380 Tage verpflegt worden. Diese Verpflegung
hätte in der Anstalt — den Tag zu 2,42 Mark berechnet — 10 599,60 Mark
jährliche Kosten verursacht. Die gleiche Zahl Verpflegungstage in der
Familienpflege, nach dem Durchschnitt vom Jahr 1911 auf 1,25 Mark
berechnet, würden aber nur 5387,40 Mark gekostet haben. Dies ergibt
eine Ersparnis von rund 5200 Mark im Jahr bei 12 Kranken.
Wird nun in Zukunft der Betrieb der Anstalt vergrößert, werden
in Zukunft auch genügend Pfleglinge aufgenommen, die sich für diese
Verpflegungsform eignen, was zu erwarten steht, so kann natürlich auch
die Familienpflege erweitert werden, und damit steigern sich dann auch
die Ersparnisse an den Unterhaltungskosten.
Also auch in finanzieller Beziehung bringt das neue Irrenfürsorge -
gesetz und die sich daran schließende Reform des Irrenwesens den
Landesanstalten selbst anerkennenswerte Vorteile.
3. Aber auch für die Gemeinden wird die Reform segens¬
reich wirken. In dieser Beziehung ist es ein überaus gesunder Gedanke
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Ober das neue Irrenfürsorgegesetz im Königreich Sachsen. 657
gewesen, die Lasten der ganzen Reform auf zwei grundsätzlich verschiedene
Verwaltungstellen zu verteilen.
Die Reform unterscheidet zwischen der Verpflichtung zur Kranken¬
fürsorge und der Verpflichtung zur armenrechtlichen
Fürsorge. Unter ersterer versteht sie die tatsächliche Kranken¬
versorgung, unter letzterer die Verteilung der Kosten
zwischen Staat und Gemeinde, falls der Kranke
oder seine U n t e r h a 11 p f 1 i c h t i g e n sie nicht be¬
zahlen können.
Diese Pflichten verteilt sie. Die Last der Krankenfürsorge,
also die Last der tatsächlichen Krankenversorgung,
übernimmt der Staat allein, die Lasten der armenrecht¬
lichen Fürsorge übernimmt Staat und Gemeinde
zusammen.
Die Reform halbiert also gleichsam. Sie teilt unter Berücksichtigung
der bisher in Geltung gewesenen armenrechtlichen Gesetzgebung, indem
sie die letztere an sich unverändert beibehält und nur im Hinblick auf den
veränderten Zeit- und Geldwert einer Umänderung unterzieht, ein überaus
wichtiger Umstand, da nur auf diesem Wege ermöglicht wurde, daß die
Reform der Kostenfrage wegen nicht scheiterte.
Und hierin liegt die Lösung der zweiten grundsätzlich wichtigen
Forderung, die an die Neuregelung zu stellen war, und die eine überaus
glückliche zu nennen ist, nämlich die Forderung einer rich¬
tigen Verteilung und Begrenzung des Pflichten¬
kreises zwischen Staat und Gemeinde.
Die Armenlasten für die Fürsorge zu tragen, bleibt wie bisher den
Gemeinden, den Bürgermeistern und Gemeindevorständen überlassen,
die auf Grund ihrer gesetzlichen Fürsorgepflicht für die Unter¬
bringung zu sorgen hatten. Diese selbst aber übernimmt für
sämtliche Kranke der Staat.
Daß dabei die Beitragsanteile der Gemeinden erhöht werden mußten,
war freilich nicht zu umgehen, entsprach aber vollkommen den veränderten
Zeitverhältnissen und Geldwerten. Ein Verpflegbeitrag der Gemeinden
in Höhe von 50 Pfennig pro Kopf und Tag, wie er bisher in Gültigkeit
war, entsprach Verhältnissen der Vorzeit, nicht aber den Zeitwerten der
Gegenwart. Eine Erhöhung auf 1,25 Mark pro Kopf und Tag entsprach
also nur den einfachsten Forderungen der Gerechtigkeit und Billigkeit,
übrigens auch den gesetzlichen Bestimmungen, die festsetzten, daß der
Beitrag der Gemeinden der Hälfte des üblichen Unterhaltungsaufwandes
eines Kranken zu entsprechen habe. Dieser Gesamtaufwand betrug aber
schon seit langem rund 2,50 Mark und nicht mehr 1 Mark pro Kopf und Tag.
Die mit der Einführung des Gesetzes notwendig gewordene E r -
h ö h u n g der Verpflegbeiträge war nun freilich für die Ge¬
meinden zunächst eine Härte, die sich aus der Reform ergab. Sie wurde
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Hösel,
aber ausgeglichen durch zwei weitere Maßnahmen von grundsätzlicher
Wichtigkeit, deren Kenntnis nicht ohne Interesse sein dürfte. Die Reform
erhöhte wohl den Verpflegsatz für die Gemeinden, hob aber dafür
alle Unterschiede auf, die in bezug auf Aufnahme und Unter¬
bringung die einzelnen Gemeinden trafen. Der Staat, der
bisher nur einem Teil der Kranken Fürsorge gewährte und zwar in der
Hauptsache nur denen, die die kleineren und mittelgroßen
Gemeinwesen unterzubringen hatten, nimmt nunmehr auch die Kranken
der großen Städte auf. Diese waren bisher von der Aufnahme
so gut wie ausgeschlossen. Dies wirkte aber ungerecht, besonders auch
im Hinblick auf die Steuerkraft der letzteren, die naturgemäß wesentlich
größer war als die der kleinen Gemeinden. Jene stellten dem Lande den
größten Betrag an Einkommensteuern, von denen die Landesanstalten
in • der Hauptsache ja unterhalten wurden, und hatten trotzdem keinen
entsprechenden Anteil an den Vorteilen der Anstalten, die zunächst die
Not der kleinen Gemeinden lindern sollten. Diese Härte wird nunmehr
beseitigt.
Die Reform mildert aber weiterhin den erwähnten Nach¬
teil, der durch die Erhöhung der Beiträge entsteht, noch dadurch,
daß sie, nachdem das Gesetz in Kraft getreten sein wird, eine sehr
geschickte Änderung des Beitragsverfahrens der Ge¬
meinden plant.
Die Beschaffung dieser Beitragslasten lag bisher jeder einzelnen
Gemeinde, beziehentlich jedem einzelnen Ortsarmenverband für alle
seine Kranken ganz allein ob. Dies schuf große Ungleichheiten. In
Zukunft werden sie nun auf breitere Schultern gelegt und zwar auf die
der größeren Bezirksverbänd e. Dieses Verfahren mildert
die Beitragshärten überaus. Ein einziger oft armer Ortsarmenverband
hatte bisher manchmal für 2—3 Kranke die Fürsorgelasten aufzu¬
bringen, ein anderer, reicherer oft aber gar keine. Denn er hatte keinen
Geisteskranken in seiner Gemeinde, für den er unterhaltpflichtig war.
Nach Inkrafttreten des Gesetzes ändert sich dies. Die Lasten werden
auf den größeren Bezirksverband übernommen und werden damit
gerechter und weniger fühlbar verteilt. Diese neue Regelung mildert
also den Zwang, erhöhte Beträge zu fordern, ganz wesentlich, be¬
ziehentlich hebt die bisher bestehenden Härten ganz auf.
Die allgemeinen Betrachtungen über das neue Irrenfürsorge¬
gesetz ergeben also ganz helle Lichtseiten und schwächen die Schatten,
die dasselbe zugleich wirft, in überaus angenehmer Weise ab.
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Ober das neue Irrenfürsorgegesetz im Königreich Sachsen.
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Das Irrenfürsorgegesetz hat bewirkt, daß
L die gesamte Irrenpflege Sachsens zen¬
tralisiert worden ist,
IL daß die Lasten, die es verursacht, ver¬
teilt werden und zwar so, daß
1. die tatsächliche Krankenversorgung an
den ortsarmen Geisteskranken der Staat allein
übernimmt, daß
2. die armenrechtliche Fürsorge auf Staat
und Gemeinde, den bisherigen gesetzlichen
Bestimmungen gemäß, verteilt bleibt, aber
so verteilt wird, daß
1IL der Lastenanteil, dessen Bestreitung den
Gemeinden obliegt, auf den leistungfähigeren
und größeren Bezirksverband übernommen
wird, wodurch seine Erhebung minder empfind¬
bar wird.
IV.
Zu den einzelnen Paragraphen des Gesetzes ist
folgendes zu bemerken:
Nach dem § 1 des Gesetzes sollen nur Erwachsene in den
Landesanstalten Aufnahme finden. Dies erscheint zweckmäßig, da
Kinder nicht eigentlich in den Rahmen der Heil- und Pflegeanstalten
passen, soweit sie im schulpflichtigen Alter stehen. Das ganze Milieu
in den verschiedensten Abteilungen einer modernen Irrenanstalt
würde eher schädigend wie heilend auf kindliche Gemüter einwirken.
Es erschien daher zweckmäßig, sie auszuschließen und für den Fall,
daß sich Aufnahmen häufen sollten, sie in einer bestimmten, dazu
eingerichteten Anstalt zu sammeln und zu verpflegen. In Aussicht
genommen ist vorläufig, jedoch noch nicht endgültig, die Anstalt
Großhennersdorf, die eigentlich für Idioten bestimmt ist. Ob sich freilich
diese Anstalt, die zur Aufnahme für bildungunfähige tief verblödete
Kinder (Idioten) bestimmt ist, nebenbei auch für geisteskranke Kinder,
<L h. für Kinder, die an funktionellen Psychosen leiden — bildung¬
fähige Schwachsinnige sind in Chemnitz-Altendorf mit den Blinden
zusammen untergebracht —, eignet, muß bezweifelt werden, selbst
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UMIVERS1TY OF folCHlGAN
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Hösel,
wenn man sie räumlich von jenen trennt. Auch die exzentrische Lage
der Anstalt im äußersten Winkel Sachsens spricht aus praktischen
Gründen dagegen. Viel eher würde sich hierzu die Krankenabteilung
einer Erziehungsanstalt, etwa Altendorf, eignen, wo die geisteskranken
Kinder in einem besonderen Krankenpavillon abgetrennt und dem
idiotischen Milieu Großhennersdorfs entzogen sind, zugleich aber dem
Schulunterricht übergeben werden können, soweit dies ihr Zustand
zuläßt.
Eine weitere Beschränkung enthält der § 1 den Epileptikern
gegenüber. Zur Aufnahme zugelassen sind nur die gewalttätigen
epileptischen Irren, die einfachen Epilepsiekranken, diejenigen also,
die an der einfachen Neurose leiden, nicht. Dies ist grundsätzlich
richtig. Denn diese Kranken kann man nicht zu den Geisteskranken
im Sinne dieses Gesetzes rechnen. Dann gehören sie aber auch nicht
in die Heil- und Pfleganstalten, die nur Geisteskranken Fürsorge
gewähren sollen. Inwieweit freilich der einzelne Fall auszuschließen
ist, ist noch zu erörtern (siehe unten unter Ausführungen über § 2).
Eine weitere Beschränkung zur Aufnahme in die Landes¬
anstalten erstreckt das Gesetz auf die Selbstzahler. Das
Gesetz verpflichtet den Staat nur zur Aufnahme von Kranken, die von
Gemeinden oder Ortsarmenverbänden unterzubringen sind. Für
selbstzahlende Kranke über nimm t der Staat also keine Ver¬
pflichtung. Trotzdem werden aber solche wie bisher auf¬
genommen werden, und die Regierung wird, wie dem Deputations¬
berichte zu entnehmen ist, solchen Gesuchen eine wohlwollende Be¬
handlung zuteil werden lassen, freilich nur insoweit der Platz reicht.
Eine wichtige Angelegenheit behandelt der §2 des Ge¬
setzes.
Hier werden gewisse weitere Voraussetzungen geregelt, unter
welchen ein Kranker im Sinne von § 1 aufgenommen wird. Die erste
Vorbedingung ist ein ärztliches Gutachten.
Im Vorentwurf war die Aufnahme von dem Urteil des Bezirks -
a r z t e s abhängig gemacht. Die Aufnahme sollte erfolgen, wenn der
Kranke nach dem Gutachten des Bezirksarztes anstalt¬
bedürftig war.
Dies hatte Bedenken in mehrfacher Beziehung. Zunächst erschien
es bedenklich, daß nur der Bezirksarzt befugt sei, das Zeugnis
zur Aufnahme auszustellen. Durch diese Maßregel würden die Aufnahmen
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Über das neue Irrenfürsorgegesetz im Königreich Sachsen. 661
und Zuführungen nur erschwert und verzögert worden sein. Es wider¬
sprach auch den bisherigen Gepflogenheiten und Bestimmungen, nach
welchen zur Ausstellung der ärztlichen Formulargutachten auch die
praktischen Ärzte zugelassen waren, von denen ja schon lange der Besuch
der psychiatrischen Kliniken während der Studienzeit und die Ablegung
einer Prüfung in Psychiatrie verlangt wurde, und die daher jetzt meist
genau so gut mit den Hauptkrankheitbildern geistiger Störungen vertraut
sind wie die Bezirksärzte. Macht man daher zur Ausstellung der Zeugnisse
auch die praktischen Ärzte zuständig, so wird das ganze Aufnahme-
verfahren wesentlich erleichtert, und die Zuführungen besonders frisch
Erkrankter werden rascher vor sich gehen. Der praktische Arzt ist sofort
zur Stelle, muß nicht erst aus oft weiter Entfernung herbeigeholt werden
wie der Bezirksarzt. Er kennt meist den Kranken und dessen Familie
seit langer Zeit, hat ersteren gewöhnlich schon selbst länger beobachtet
und hat deshalb ein meist besseres Urteil als der dem Fall fremder gegen¬
überstehende Bezirksarzt, der entweder prima vista urteilen oder erst
mehrere Besuche machen muß.
Dieser letztere Umstand erschien auch nach der finanziellen Seite
hin beachtlich. Denn durch die wiederholten, meist aus größerer Ent¬
fernung unternommenen Reisen des Bezirksarztes wird das Aufnahme-
verfahren natürlich ganz wesentlich verteuert. Außerdem ist auch der
praktische Arzt gewöhnlich der Armenarzt.
Genügt in dem einen oder anderem Fall das Zeugnis des praktischen
Arztes nicht, läßt es Zweifel an seiner Zuverlässigkeit zu, ist der Fall
unzulänglich geschildert, so kann außer diesem noch ein solches vom
beamteten Arzt herbeigezogen werden. In der Regel wird das Formular¬
gutachten des praktischen Arztes aber genügen.
Sodann erforderte der Vorentwurf: „Die Anstalten sollten den
Kranken dann aufnehmen, wenn er nach dem Urteile des Bezirks -
a r z t e s der Behandlung oder Pflege in einer Irrenanstalt b e d ü r f e“.
Auch dies war nicht angängig.
Über die Zulässigkeit einer Aufnahme zu entscheiden, mußte unbe¬
dingt der Anstaltsdirektion Vorbehalten bleiben, nicht nur
aus verwaltungstechnischen Gründen (Frage nach der Eignung des Kranken
für die betreffende Heil- und Pfleg- oder Sonderanstalt für Epileptiker,
Schwachsinnige, Idioten, bescholtene und vorbestrafte Kranke beziehent¬
lich kranke Verbrecher usw. siehe Abschnitt V), sondern besonders aus
rechtlichen. Denn nur die Anstaltsdirektionen allein
können verantwortlich gemacht werden für die Gesetzlichkeit
der Aufnahmen und der Beibehaltung der Kranken in zivil- und straf¬
rechtlicher Beziehung. Sie können in dieser Verantwortlichkeit nicht
und durch niemand, also auch nicht durch den beamteten Bezirksarzt
beschränkt werden. Das ist ohne weiteres verständlich. Wenn der Bezirks-
arzt die Befugnis hat, auf Grund seines Urteils über den Begriff „Anstalts-
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662
Hösel,
bedürftigkeit“ die Aufnahme eines Kranken in die Anstalt zu beschließen,
so hätte sich ja die Anstaltsdirektion diesem Beschlüsse ohne weiteres
fügen müssen. Dies war unmöglich. Denn man kann eine Anstaltsdirektion
nicht verantwortlich machen für Verfügungen, die sie nicht getroffen
hat. Was könnte dieses Verfahren für Folgen haben? Man denke nur
an die große Zahl zweifelhafter Qrenzzustände, an die Unzuträglichkeiten,
Ärgernisse und gegebenenfalls persönliche Haftung des Anstaltsdirektors,
wenn er einen Menschen aufnimmt oder beibehält, der nicht geisteskrank
ist. Das Interesse des Kranken erfordert hier unbedingt eine einwand¬
freie Feststellung der Geisteskrankheit, und nur nach dieser kann ein
Anstaltsdirektor die Aufnahme oder Beibehaltung gutbeißen. In seinem
Urteil muß er dann aber frei sein. Er kann seine Entschließung nicht an
das Urteil eines Dritten gebunden erachten lassen, sondern muß nach
eignem pflichtmäßigen Ermessen urteilen und lediglich nach seinem Urteil
die Aufnahme genehmigen oder ablehnen können. Die Aufnahme ist ein
Amtsakt. des verantwortlichen Anstaltleiters, keines anderen.
Die Formel mußte also lauten:
„Über die Aufnahme entscheidet die An-
staltsdirektion“ auf Grund eines ärztlichen
oder bezirksärztlichen Gutachtens.
Nach den bisherigen Betrachtungen kann also nur die Anstalts¬
direktion nach freier Würdigung des Falles die Aufnahme eines Kranken
genehmigen oder ablehnen. Dasselbe gilt von der Beibehaltung oder
Entlassung eines solchen auf Antrag von dritter Seite.
Lehnt die Anstaltsdirektion ab, was geschieht
dann?
Dann kann nach dem Gesetz gegen den ablehnenden Beschluß
Beschwerde eingelegt werden und zwar bei der zuständigen
Kreishauptmannschaft, die endgültig entscheidet.
Es entsteht die Frage: Ist dieser Weg richtig? Und
wenn, ist das Beschreiten dieses Weges aus¬
reichend? Führt er zum Ziele?
Die Frage kann nicht unbedingt bejaht werden. Ihre Beant¬
wortung ist von bestimmten Voraussetzungen abhängig.
Zunächst ist klar, daß das vom Gesetz angeordnete gerichtliche
Verfahren ein Verwaltungsstreitverfahren darstellt.
Liegen die Gründe, die zur Beschwerde Anlaß gegeben haben,
auf polizeilichem, armenrechtlichem oder verwaltungstechnischem
Gebiete, so ist der einzuschlagende Weg zulässig und zweifellos der
richtige.
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Ober das neue Irrenfürsorgegesetz im Königreich Sachsen. 663
Wie gestalten sich aber die Verhältnisse, wenn die Ablehnungen
gründe auf psychiatrischem, also medizinischem Gebiete
liegen, wenn die Notwendigkeit an die Anstaltsdirektion herantritt,
die Aufnahme abzulehnen wegen Vorliegens zweifelhafter
Geisteszustände etwa inGrenzfällen oder aus anderen
ärztlichen Gründen? Soll auch in diesen Fällen über die Beschwerde
die höhere Verwaltungstelle befinden?
Wie aus dem Deputationsberichte hervorgeht, rief diese Frage eine
längere Aussprache hervor. Die Deputation kam dabei zu dem Resultat,
daß die Zulassung der Beschwerde an die Kreishauptmannschaft genüge,
und daß für den Schutz der persönlichen Freiheit die Zivilprozeßordnung
in Verbindung mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch schon jetzt ausreichende
Handhaben biete. Selbst wenn man aber der Meinung sein sollte, daß
diese nicht ausreichten, so müsse man doch zu dem Schluß kommen,
daß das vorliegende Gesetz nicht die geeignete Stelle sei, um eine so tief>
einschneidende Frage zu regeln.
Damit wird anerkannt, daß eine gesetzliche Regelung der Angelegen¬
heit erwünscht erschien. Man trug nur Bedenken, dies im Gesetz
zu tun. Die Erfüllung der Forderung etwa auf dem Verordnungswege
dürfte aber notwendig werden. Hierfür sprechen folgende Über¬
legungen:
In welchen Fällen, fragt man, wird denn der Be¬
schwerdeweg hauptsächlich betreten werden?
Unter welchen Umständen werden bei dem Auf¬
nahmeverfahren, beziehentlich in Fällen der Bei¬
behaltung oder Entlassung eines Kranken Ver¬
schiedenheiten in der Beurteilung eintreten?
Dies kann erfolgen:
1. in allen polizeilichen, armenrechtlichen, verwaltungstechnischen
Fragen,
2. bei abweichender Auffassung des Begriffs „Geisteskrankheit“,
des Begriffe „gewalttätiger epileptischer Irrer“, des Begriffs „der
Behandlung und Pflege in einer Landesanstalt bedürftig“.
Bei Beantwortung dieser Fragen ist zugleich zu erörtern: „Sind
dies Streitfragen, die vor das Forum einer Ver¬
waltungsbehörde gehören?
1. Was die Beschwerden über reine Verwaltungs¬
angelegenheiten in formaler und materieller Hinsicht an-
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Hösel,
belangt (Zuständigkeit der Armenverbände, Angelegenheiten über den
Unter8tützungswohnsitz, die Staatsangehörigkeit, über Zahlungs¬
verbindlichkeiten und das ganze Kostenwesen, Zuständigkeit in Polizei¬
angelegenheiten usw. usw.), so bedarf die administrative Behandlung
derselben im Instanzen- bzw. Beschwerdewege an dieser Stelle keiner
Erörterung. Es ist selbstverständlich, daß diese Stoffe auf dem Ver¬
waltungswege zum Austrag kommen müssen, und es ist ebenfalls
selbstverständlich, daß die Kreishauptmannschaft als obere Ver¬
waltungstelle die endgültige Entscheidung zu treffen hat.
2. Anders steht es mit denjenigen Beschwerdepunkten, die das
medizinische Gebiet streifen oder betreffen.
A. Was zunächst den Begriff „Geisteskrankheit“
anbelangt, so ist dieser einer absolut sicheren Umgrenzung nicht
zugängig. Er kann enger gefaßt werden und weiter. Es kann also
die Streitfrage entstehen: Erstreckt sich — unter Voraussetzung
gleichzeitig bestehender Anstaltbedürftigkeit — die Fürsorge nur auf
Geisteskranke im engeren Sinne oder rechnet man auch Kranke dazu,
die psychotische Symptome in mehr oder weniger großer Zahl auf¬
weisen, die man aber trotzdem oder wenigstens nicht immer zu den
Geisteskranken im engeren Sinne zählt?
Inwieweit erstreckt sich die Pflicht des Staates zur Kranken¬
fürsorge z. B. auf die sogenannten geistig „Siechen“? Ein großer
Teil dieser Kranken zeigt zweifellos geistige Krankheitsymptome,
und man könnte sie aus dem Grunde zu den „Geisteskranken“ rechnen.
Man denke an das Gros der Apoplektiker, der Tabo-Paralytiker, der
Kranken mit Gehirntumoren, auch an die, die den Übergang zum
„Nervösen“ bilden und sich nicht ohne weiteres unter die Formel
„geisteskrank“ im engeren Sinne rubrizieren lassen. Eine Entscheidung
darüber, ob dieser oder jener von diesen Kranken bedürftig sei, durch¬
aus in einer Irrenanstalt verpflegt zu werden, dürfte in praxi doch
gelegentlich auf Schwierigkeiten stoßen.
B. Das gleiche gilt bei der Begrenzung des Begriffs „gewalt¬
tätiger epileptischer Irrer“. Umgrenzt wird der
Begriff im Gesetz durch die Eigenschaftswörter „gewalttätig“ und
„irr“. Ob die Begrenzung in dieser Form eine befriedigende sein wird,
muß die Erfahrung lehren. Geisteskranke Epileptiker gehören auf alle
Fälle mit zu den Fürsorgebedürftigen im Sinne des Gesetzes. Daß
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Über das neue IrreüfürÄwgegeseis im Königreich Sachsen. fißfj
dasselbe die Fürsorge aber. ÄM äiytfsolche geisteskfaüke Epü^ptikei
ausdehnfc, die g e w a i 1 1ä t-i g sind, ecsefce^vt sit eug; E? gibt
geisteskranke. EpUcptifeer, die gewalttätig sind und doch der
kranken- oder bedürfen, jJiese auszit-
schließen, schafft tingMf#h#<o>. iWhäibm deme&ch aße. .Epileptiker,
die - „irr“ also gfisteskraftk sind, hÄbesebränkt de? Fürsorge tm Sinne
des Gesetzes unterstehen sollen, gleichgültig, ob ■$& gewalttätig sind
oder'nicht. e/
Der Begriff > »gewalttätig“ fet- aii&rdeiti imijestimißbar, dehhbar f
begrifflich verschieden deutbar. Br wird infolgedessen z» ähniidien
Schwierigkeiten üthren^ wie früher der Begriff „der Gefährlichkeit“,
Atteii au? diesem Grunde hätte er besser wegbteiben sollen,
; ■ £U; Eine weitere Schwierigkeit für ebffö klare Abgrenzung des
Begriffs „AüHtaltbcdiirUigkeit" 1 bietet ferner die Gruppe der A I k o -
'h o 1 i 8 | e n. Die Benrteiiang, ob et» *is Geisteskraokc itn engeren
Sinne zu bezeichnen sind und der Pflege beziehentlich der Bchamllung
durchaus in einer Icrenanstalt bedürfen, ist. überaus strittig.. Bei der-
Entscheidung hkrübat wird gleichfalls won dem .Einzrfbd! ü>umgangen
werde» müssen. Es werden sich affgemet« gülbge Kegeln kaum auf-
stellen lassen. Kranke «\ii & k *a.t:man:--
ja auch unter die Geistoskrankoü dm • mediziidseben Sinne rechnen.
Aber wie schon das Bürgerliche sie unter eine Ausnahme
stellt, so wird dies aueh in \erwaltUiig¥.rcohtlichein Sinne erfolgen
müssen.
Viele von diesen Kranken werden auch gar nicht erst anstajt -
bedürftig werden, sondern werden bei Hofortiger AbstuöjjnÄatc (M
und Stelle der Erkrankung sehr rasch zur Genesung koh«ö^ni|tSi<'-
erst deshalb in die Landesanstalt zu bringen, weil mm
Delirium feinem - Kranke usw. zugleich ,iifc
.kann, wird auch nicht ira feteresse dieser K ruüken liegen, ffft wird
der Transport auch gar nicht dureht ährten Min.
Aber auch bei chroniechc » Tnokem dürfte ctif&e Jiut-
wendigkeit, sie als Kurobjekte für Beil- : n-te l'ii' : .r.-.i.itcn HüD.ufa«>t*u.
nicht genügend begründet seit», Vo».dte:vn 'g*»Jiürt ; jein.ifete Teil in
die spezifischen Tnnkeraj?yle und Jn. die Irren¬
anstalten gehören sie nur, 'wenn, der : • J<--: prcisfetonukbtüi
so in den Vordergrund, tritt* daß dasp.»;G/.fe^;ACöii^nt r \ätö? ’i\ikoht>E
Google
666
Hösel,
dabei fast verschwindet. Ist aber letzterer und seine akute Wirkung
bei der Beurteilung das vorherrschende und bestimmende Moment
so gehört der Kranke in die Trinker- Heil- und Pfleganstalt.
Freilich besteht eine solche unter staatlicher Leitung in Sachsen
leider noch nicht. Dies war bei den bisher geltenden Verwaltungs¬
grundsätzen auch nicht nötig. Denn die akuten Alkoholkranken
wanderten in die lokalen Krankenanstalten, wo sie bei Abstinenz
bald wieder zur Entlassung kamen.
Wenn nun in Zukunft aber alle Geisteskranken vom Staate
übernommen werden, so werden sich unter diesen natürlich auch mehr
geisteskranke Alkoholiker befinden. Diese aber in den allgemeinen
Heil- und Pfleganstalten zu behandeln hat große Bedenken, und es
dürfte sich deshalb viel mehr empfehlen, sie wie die geisteskranken
Epileptiker von den anderen Geisteskranken zu trennen und zu sammeln
und in einer besonderen staatlichen Trinkeranstalt zu verpflegen.
Dies ist an sich praktischer. Eine derartige Trennung erleichtert
besonders auch den ganzen Anstaltsbetrieb.
Nun ist freilich gegenwärtig noch nicht die Zeit gekommen, eine
staatliche Trinkeranstalt zu erhalten, obgleich die Zahl der Kranken
hierzu ausreichte und die Notwendigkeit zum Bau einer solchen längst
vorhanden ist. Es ist aber andererseits auch sicher, daß diese Kranken
in den allgemeinen Heil- und Pfleganstalten besser nicht untergebracht
werden. Hier stören sie ganz ungeheuer, drängen anhaltend fort,
wenn die Abstinenzwirkung eingetreten ist. Sie querulieren, wider¬
setzen sich der gebräuchlichen Arbeitstherapie, hetzen usw. Ferner
möchte ihretwegen eine ganze Heil- und Pfleganstalt abstinent gehalten
werden, was nach der Überzeugung des Verfassers nicht nötig ist,
wenn Alkoholiker nicht oder nur zum kleinen Teil zur Klientel der
Anstalt gehören.
D. Wie steht.es ferner mit den sogenannten Grenzfällen,
wo es sich nicht um Geisteskrankheit im engeren oder weiteren Sinne
handelt, sondern bei denen die Diagnose „Geisteskrankheit“ über¬
haupt angezweifelt wird?
E. Wie steht es endlich bei Differenzen in der Handhabung des
Aufnahmeverfahrens selbst, soweit hierbei medizinische
Fragen zur Entscheidung stehen?
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Ober das neue Irrenfürsorgegesetz im Königreich Sachsen. 667
Gerade über diesen Punkt war in der Deputation — und es ge¬
schieht dies auch nicht ganz mit Unrecht anderwärts — es als ein
Mangel bezeichnet worden, daß das Aufnahmeverfahren
zu umständlich und langwierig sei, daß oft Tage vergehen,
ehe die Aufnahme sich erreichen lasse. Das sei sowohl für den Kranken
wie für die beantragende Gemeinde von Nachteil. Besonders dann,
wenn es sich um die Unterbringung von unruhigen Kranken handele,
könnten den Gemeinden große Schwierigkeiten entstehen. Es müsse
deshalb genügen, wenn die Beibringung des ärztlichen Gutachtens
gleichzeitig mit der Einlieferung des Kranken
in die Anstalt erfolge; auch sei die Anstalt zu verpflichten, den Kranken
ohne vorherige umständliche Antragstellung aufzunehmen. Dem
Interesse des Aufzunehmenden an einem genügenden Schutze gegen
unrechtmäßige Internierung und auch dem der Anstalt könne dadurch
Rechnung getragen werden, daß man die sofortige Vornahme einer
Untersuchung nach der Einlieferung durch den Anstaltsarzt vor¬
schreibe und davon die endgültige Entscheidung der Anstaltsdirektion
abhängig mache, ob der Kranke in der Anstalt zu verbleiben habe
oder nicht.
Dieser Wunsch erscheint zwar an sich ganz beachtlich, seine
gesetzliche Regelung in der vorgeschlagenen Form hätte aber doch
schwere Bedenken gehabt. Ja wenn sich eine endgültige Entscheidung,
ob krank oder nicht, nur in so kurzer Zeit immer treffen ließe! Welche
Schwierigkeiten machen und welche Beobachtungsdauer erfordern
aber oft zweifelhafte Geisteszustände!
Aber selbst wenn es möglich wäre, jede Psychose so rasch fest¬
zustellen, wie z. B. einen Beinbruch, so hat doch die Ablehnung eines
in die Anstalt zwangweise verbrachten Menschen, selbst wenn er sofort
als gesund befunden und alsbald wieder entlassen worden wäre, unterdes
ein so ungeheueres Aufsehen erregt und solche Weiterungen gemacht,
auch Beschwerden und sonstige rechtliche Folgen gezeitigt, daß ein
derartiges Aufnahmeverfahren aus den angeführten Gründen nicht
zulässig erscheint.
Die Staatsregierung hatte deshalb einen darauf bezüglichen
Antrag auch abgelehnt und daran erinnert, daß nur bei einwand¬
freier Feststellung der Geisteskrankheit die
Internierung erfolgen könne.
Zaitaehrift (Br Psychiatrie. LX1X. 5. 46
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668
Hösel,
Also erst, wenn die Geisteskrankheit fest¬
gestellt ist, darf die Aufnahme erfolgen.
Wie soll aber diese Feststellung gewonnen werden?
An gesetzlichen Mitteln stehen zur Verfügung 1. der
§ 656 der Zivilprozeßordnung: Mit Zustimmung des Antragstellers kann
das Gericht anordnen, daß der zu Entmündigende auf die Dauer von
höchstens 6 Wochen in eine Heilanstalt gebracht werde, wenn dies nach
ärztlichem Gutachten zur Feststellung des Geisteszustandes geboten
erscheint und ohne Nachteil für den Gesundheitzustand des zu Ent¬
mündigenden ausführbar ist. Vor der Entscheidung sind die im §646
bezeichneten Personen soweit tunlich zu hören.
2. Der § 6 des Bürgerlichen Gesetzbuches: Entmündigt kann werden,
wer infolge von Geisteskrankheit oder von Geistesschwäche seine An¬
gelegenheiten nicht zu besorgen vermag.
3. Die auf das Entmündigungsverfahren bezüglichen weiteren
Bestimmungen der Zivilpiozeßordnung.
4. Der § 1 der Verordnung „die Zuständigkeit in Angelegenheiten
der öffentlichen Irrenfürsorge betreffend“ vom 23. August 1874 (siehe
sub I. unter 3.).
5. Der § 37 der allgemeinen Armenordnung vom 22. Oktober 1840
(siehe sub I. unter 4.).
6. Die allgemeine Polizeiordnung (siehe sub I. unter 2.).
7. bestimmt das Irrenfürsorgegesetz selbst: „Über die Beschwerde
befindet die Kreishauptmannschaft“. Inwieweit aber und in bezug auf
welche weiteren Zweifelspunkte, ist nicht normiert.
Es entsteht nun die Frage: Genügen diese Bestim¬
mungen beziehentlich sind sie geeignet für ein
Verwaltungsstreitverfahren, wie es das Gesetz
vorschreibt?
Hierzu ist folgendes vom ärztlichen Standpunkte aus zu erwähnen:
Diese Vorschriften beziehen sich, soweit das Bürgerliche
Gesetzbuch und die Zivilprozeßordnung in Frage
kommen, auf das Entmündigungsverfahren. Bei einem solchen wird nun
zwar die Frage, ob geisteskrank oder nicht, auch ver¬
handelt, und es wird schließlich einwandfrei festgestellt, ob eine Geistes¬
krankheit vorliegt oder nicht. Dies geschieht aber lediglich zu dem Zweck,
um festzustellen, ob jemand geschäftsfähig ist, ob jemand ver¬
möge seiner derzeitigen Geistesbeschaffenheit imstande ist, seine An¬
gelegenheiten zu besorgen, kurz, ob der Betreffende zu entmündigen ist
oder nicht. Das ganze Verfahren mit seinen Bestimmungen ist also ledig¬
lich auf den gerichtlichen Akt einer Entmündigung
zugeschnitten.
Ist dieses gleiche Verfahren aber auch im Sinne des
Irrenfürsorgegesetzes brauchbar, um Streitfragen zu be-
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Ober das neue Irrenfürsorgegesetz im Königreich Sachsen. 669 •
seitigen, die das Aufnahmeverfahren in die Landesanstalten
beziehentlich eine zwangweise Zurückbehaltung der Kranken in den¬
selben mit sich bringt? Ist dieses gleiche Verfahren geeignet, um Diffe¬
renzen in der Auffassung von „Geisteskrankheit", „gewalttätiger epilepti¬
scher Irrer", ja in der Auffassung vom Begriff der „Anstaltbedürftigkeit"
zu schlichten? Nach Auffassung des Verfassers ist dies unzulässig. Die
Frage 7. B. nach der Anstaltbedürftigkeit hat mit dem
Entmündigungsverfahren nichts zu tun.
Auch aus prozessualen Gründen ist es bedenklich, beide
Verfahren miteinander zu verquicken.
Geradezu gefährlich dürfte es aber wirken, wenn das
Verfahren Anwendung finden sollte bei Zweifeln über Geistes¬
krankheit im engeren oder weiteren Sinne bei
Kranken, die noch nicht aufgenommen sind, aber aufgenommen
werden sollen. Sollen sich diese gleichsam erst gerichtlich bescheinigen
lassen, daß sie geisteskrank im engeren Sinne sind, daß sie gewalttätig
im Sinne des Fürsorgegesetzes sind ? Soll ein Kranker zum Zweck seiner
Aufnahme, also zu rein verwaltungstechnischen Zwecken erst ein Urteil
von einem Zivilgericht herbeiziehen und sich diesem auch noch unter¬
werfen, wenn dasselbe das Bestehen einer Geisteskrankheit im engeren
Sinne ausspricht?
Das erscheint doch überaus bedenklich. Die Scheu vor der Anstalt,
ja auch die Scheu vor den Gerichten, die diese Entscheidungen herbei -
führen müssen, würde ganz unabsehbar werden.
Und wie sollen sich die Instanzen einigen?
Das Entmündigungsverfahren als zivilrecht¬
licher Akt spielt sich vor den Zivilgerichten ab. Über die
Beschwerde, über die das Verfahren Aufklärung schaffen soll,
hat aber die Kreishauptmannsohaft zu befinden. Soll diese,
tun eine Entscheidung treffen zu können, erst den Spruch des Zivil -
gerichts herbeiziehen? Soll lediglich aus diesem Grunde und zu diesem
Zweck erst das ganze Entmündigungsverfahren be¬
trieben und auch durchgeführt werden ? Soll dann der Kranke
auch sogleich jedesmal entmündigt werden ? Nicht
etwa, damit seine Geschäftsfähigkeit geprüft, sondern damit
dabei festgestellt werde, ob er überhaupt krank ist oder
nicht. Dies erscheint doch bedenklich.
Zu welchen Weiterungen führte ein solches Verfahren? Wie um¬
ständlich. ist es ? Wie lange soll eine Entscheidung über eine beantragte
Aufnahme auf sich warten lassen?
Es erscheint also nach alledem nicht angängig, die
Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuches
und der Zivilprozeßordnung auf das Aufnahme-
• 46 *
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verfahren anzuwenden. Das Verfahren, das in Ent¬
mündigungssachen richtig und durch die Erfahrung erprobt ist, das
aber einen ganz anderen spezifischen Zweck hat, kann dem Aufnahme¬
verfahren im Sinne des Irrenfürsorgegesetzes nicht dienstbar gemacht
werden. Es ist besser, beide werden nicht mit einander verquickt. Es
ist dies aber auch nicht nötig. Aus der etwas verwickelten Lage kommt
man heraus, wenn man unterscheidet:
1. Beschwerden in reinen Verwaltungssachen,
2. Beschwerden in medizinischen Streitfragen
und von letzteren die über Grenzfälle ausnimmt und gesondert
behandelt.
Für diese letzteren (Grenzfälle) bilden lediglich
die Zivilprozeßordnung und das Bürgerliche Ge¬
setzbuch die maßgebende Unterlage, für Beschwerden
aber unter 1 und 2 kann das Verwaltungsstreitver¬
fahren herangezogen werden, freüich nur unter Berück¬
sichtigung noch einiger grundsätzlicher Vor¬
aussetzungen.
Für die Grenzfälle also sind die Vorschriften des § 656
der Zivilprozeßordnung bestimmend. Sinngemäß kann man in ent¬
sprechenden Fällen den § 81 der Strafprozeßordnung sowie den § 217
der Militärstrafgerichtsordnung anwenden, die ja in gleichem Sinne
zweifelhafte Geisteszustände behandeln.
In diesen Fällen ist die Anwendung des § 656 der Zivilproze߬
ordnung also am Platze. Denn in diesen Fällen muß und kann nur
eine und zwar zivilrichterliche Entscheidung im Sinne
von §656 zum Ziele führen. Die Beschwerde ist dann an das zu¬
ständige bürgerliche Gericht zu leiten und dieses
hat endgültig bzw. unter Anwendung weiterer Instanzen¬
wege zu entscheiden. Hieraus ergibt sich, daß das im neuen Irren-
fürsorgegesetz geordnete Verwaltungsstreitverfahren und das Ver¬
fahren über Entmündigung und der daraus folgenden Freiheits¬
entziehung gegenüber Irren nach der Zivilprozeßordnung ganz
selbständig nebeneinander herlaufen können. Auf
diese Materie hat das neue sächsische Gesetz also auch keinen Einfluß.
Dieselbe könnte übrigens auch nur r e i c h s gesetzlich geregelt
werden.
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Die Entscheidung des bürgerlichen Gerichts ist selbstverständlich
für die Verwaltungsbehörden hinsichtlich der Entmündigung bin¬
dend. Ein Widerspruch mit dem Verwaltungsstreitverfahren ist
damit ausgeschlossen. Denn dieses tritt eben nicht bei den Grenz¬
fällen, sondern nur bei Streitigkeiten zwischen Gemeinden und Orts¬
armenverbänden einerseits und der Anstaltsdirektion andererseits in
Kraft, wenn diese die Aufnahme verweigert oder die Ent¬
lassung verfügt. Da Privatpersonen (Selbstzahlem) kein Recht
auf Aufnahme zusteht, kann mit ihnen eine Streitigkeit im Sinne
des Irrenfürsorgegesetzes überhaupt nicht Vorkommen.
Für alle andere Arten der Beschwerden (siehe oben unter
1 und 2) tritt aber das Verwaltungsstreitverfahren
vor der Kreishauptmannschaft in Tätigkeit.
Dies gilt von reinen verwaltungstechnischen
Fragen ohne weiteres. An dieser Stelle braucht nicht weiter darauf
eingegangen zu werden.
Dies gilt aber auch von den Beschwerden über die übrigen medi¬
zinischen Streitfragen. Nur müssen daran noch gewisse
Voraussetzungen geknüpft werden.
Die obere Verwaltungsbehörde in diesen letzteren Fragen als
endgültig entscheidende Instanz anzurufen, dürfte nur dann durch¬
führbar sein, wenn ein sachverständiger Obergutachter vor¬
handen ist, der über das Urteil des doch auch sachverständigen An¬
staltsdirektors zu entscheiden vermag. Die Verwaltungsbehörde
als solche kann es nicht. Denn die Frage, die zur Entscheidung steht,
ist eine rein medizinische, und diese kann keine Ver¬
waltungstelle in einem Verwaltungsstreitver¬
fahren entscheiden. Das ist für einen Arzt undenkbar.
Es müßte demnach noch eine Instanz geschafft werden,
an die in medizinischen Streitfragen appelliert werden könnte.
Das Landesgesundheitsamt damit zu befassen,
dürfte zu umständlich erscheinen, erstens an sich, zweitens weil die
Anstaltsdirektionen auf Grund der Bestimmungen in § 1 und 13 der
Verordnung vom 20. Mai 1912 über die Errichtung eines Landes¬
gesundheitsamtes zu keinem unmittelbaren Geschäftsverkehr mit
demselben zugelassen sind.
Die medizinischen Beiräte an den Kreishauptmann-
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schäften sind Hygieniker, aber keine Psychiater.
Das gleiche gilt von dem medizinischen Beirat des
Königlichen Ministeriums selbst.
Praktischer und zweckdienlicher wäre es, wenn diese beratende
Stelle im Hauptamte, bei der IV. Abteilung des
Königlichen Ministeriums selbst, der das ge-
samte Irrenwesen Sachsens untersteht, ein
Psychiater innehätte. Sie müßte einem älteren, erfahrenen
Psychiater übertragen sein, der mit den Verhältnissen und Personen
aller Anstalten in ständiger Fühlung steht, und dessen Sachkenntnis
für das Irrenwesen auch in anderer Beziehung dienstbar gemacht
werden kann (ärztliche Personalfragen usw.), was bei dem Umfang,
den in Zukunft das Irrenwesen Sachsens annimmt, wohl so wie so
kaum zu umgehen sein wird. Geschieht dies und wird ein „Landes-
psychiater“,wie dies in anderen Bundesstaaten bereits
der Fall ist, dem Königlichen Ministerium als Sachverständiger
im Hauptamte beigegeben, der zugleich den fünf Kreishauptmann¬
schaften als sachverständiger Berater zur Seite stände, so würde die
erwähnte Schwierigkeit eine recht befriedigende Lösung finden.
Das Streitverfahren in Beschwerdesachen würde
sich dann etwa folgendermaßen gestalten lassen:
I. Ein von den zuständigen Stellen gestellter Antrag auf Aufnahme,
Beibehaltung oder Entlassung eines Kranken in eine Landesanstalt oder
Anträge Kranker anderer Art werden von dem ärztlichen Direktor der
Anstalt unter Begründung abgelehnt.
II. Hiergegen erfolgt von Verwandten, vom nicht entmündigten,
also geschäftsfähigen Kranken selbst, vom Vormund, Gegenvormund usw.
Beschwerde bei der zuständigen Kreishauptmannschaft.
III. Betrifft die Beschwerde
a) polizeiliche, verwaltungsrechtliche, armenrechtliche usw. An¬
gelegenheiten, so entscheidet die Kreishauptmannschaft ohne weiteres.
Betrifft die Beschwerde
b) medizinische Streitfragen, so ist sie dem Landespsychiater
zur gutachtlichen Beurteilung vorzulegen.
IV. Diese letztere kann erfolgen
1. schriftlich,
2. mündlich.
V. In beiden Fällen unter IV hat der Landespsychiater sein Urteil
in den von den Kreishauptmannschaften festzusetzenden Sitzungen zu
vertreten, sofern Streitfragen nicht auf schriftlichem Wege ohne An¬
beraumung einer Sitzung erledigt werden können.
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Ober das neue Irrenfürsorgegesetz im Königreich Sachsen. 673
VI. In den Sitzungen wird eine endgültige Entscheidung (Urteil)
durch die Kreishauptmannschaft herbeigeführt.
VII. Diese wird der zuständigen Anstaltsdirektion zur Nachachtung
und Ausführung mitgeteilt.
VIII. Gegen diese Entscheidung ist Berufung an das Königliche
Ministerium des Innern zulässig.
Dieses Verfahren hat seine großen Vorzüge.
Erstlich bleibt das Aufnahmeverfahren unbeeinflußt und
wird nicht erschwert.
Zweitens ist das Verfahren vollständig unparteiisch. Denn
es urteilt über die Aufnahme, Beibehaltung und Entlassung nicht
derjenige Psychiater (ärztliche Anstaltsdirektor), der sie zuerst ver¬
fügt hat, sondern ein zweiter, unabhängiger.
Diese Vorzüge hätte das Verfahren z. B. gegenüber dem „ Groß ■
herzoglich Badischen“, dessen Gang folgender ist 1 ): Dort
verfügt die Aufnahme nicht die Anstaltsdirektion, sondern das Bezirks¬
amt auf Grund eines amtsärztlichen Zeugnisses. Dieses erklärt die Auf¬
nahme für „statthaft“. Beschwert sich ein Kranker gegen seine Zurück¬
haltung in der Anstalt, so geht die Beschwerde durch die Anstaltsdirektion
an das Bezirksamt (untere Verwaltungsbehörde und Polizeibehörde).
Dieses entscheidet über die Beschwerde (§ 9 Abs. 2 des Badischen Irren¬
fürsorgegesetzes). Die Entschließung des Amts kann durch eine Klage
beim Verwaltungsgerichtshof angefochten werden, der endgültig ent¬
scheidet. Die erforderlichen Gutachten werden von den Anstaltsdirektionen
erstattet oder vom Medizinalreferenten des Großherzogi. Ministeriums.
Von diesem Verfahren unterscheidet sich das oben für Sachsen
vorgeschlagene dadurch, daß erstlich das Aufnahmeverfahren direkt
durch die Anstaltsdirektionen erledigt wird, was einfacher ist und rascher
zum Ziele führt.
Es unterscheidet sich aber weiter dadurch, daß nicht derjenige
Anstaltsdirektor als Gutachter von der Kreishauptmannschaft herbei¬
gezogen wird, der die Aufnahme selbst verfügt hat, sondern ein zweiter,
von der Anstaltsdirektion unabhängiger.
In Baden könnte der Umstand, daß der ärztliche Direktor
der den Kranken zurückhält, auch als Gutachter beim Ver¬
waltungsgerichtshof zugezogen werden kann, Anlaß zu Klagen über Be¬
fangenheit geben. Dies würde nach dem oben vorgeschlagenen Verfahren
ausgeschlossen sein, was einen nicht zu unterschätzenden Vorteil dar¬
stellt.
Was die Herbeiziehung des Landespsychiaters zu den Sitzungen
der fünf Kreishauptmannschaften anbelangt, so erscheint diese Maß-
l ) Briefliche Mitteilung des Herrn Med. Rat Dr. Fischer -Wiesloch.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
674
Hösel,
nähme auf den ersten Blick vielleicht schwer durchführbar. Da solche
Sitzungen aber, abgesehen von den für den Sonderfall besonders ein¬
zuberufenden, kaum öfter wie alle 2—3 Monate stattfinden werden,
würde der Landespsychiater für etwa 20—30 solche Sitzungen im
Jahr den Beschwerdestoff zu bearbeiten haben, ein Arbeitpensum,
das ihn neben den Arbeiten, die ihm aus seiner sonstigen Stellung
zu dem Königlichen Ministerium selbst erwachsen, im Hauptamte
zwar voll beschäftigen dürfte, das aber keinen derartigen Umfang hat,
daß das Verfahren dadurch undurchführbar würde. Auch dürfte es
sich in den Fällen der verweigerten Aufnahme oder verfügten Ent¬
lassung nicht um besonders dringliche Fälle handeln. Und in klaren,
dringlichen Fällen werden die Gutachten der Sachverständigen über¬
einstimmen. Es kommt dann zu keinem Streitverfahren.
Ein weiterer Vorteil ist ferner auch darin zu erblicken,
daß das Verfahren nach einheitlichen Grundsätzen geregelt
werden kann, da der Sachverständige für alle fünf Kreishauptmann-
schaften derselbe ist.
Ganz besonders beachtlich erscheint aber das Verfahren im Hin¬
blick auf seine Wirkung auf die öffentliche Meinung.
Denn durch das Verfahren werden die Anstaltsdirektionen
in ihrer Verantwortlichkeit gegen diese geschützt.
Es wird dadurch eine von der Direktion, der an sich das ganze Auf¬
nahmeverfahren untersteht, unabhängige Stelle geschaffen,
die über sie weg in den erwähnten Streitpunkten die endgültige Ent¬
scheidung trifft. Das ist sehr wesentlich; denn die Anstaltsdirektionen
werden in Zukunft besser wie bisher gegen den Vorwurf geschützt
sein, sie nähmen gesunde Menschen auf oder hielten solche in der
Anstalt zurück.
Andererseits wird durch das Verfahren und die Möglichkeit, den
Beschwerdeweg im Verwaltungsstreitverfähren zu beschreiten, auch
voll das Interesse der Kranken wahrgenommen.
Nach den bisherigen Erörterungen bleiben nun Gruppen von
Kranken übrig, deren Anstaltbedürftigkeit angezweifelt werden kann
und die von der allgemeinen staatlichen Fürsorge am besten aus¬
geschlossen bleiben möchten.
Es entsteht damit die weitere Frage: „Was wird mit
diesen Ausnahmefällen?“
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Über das neue Irrenfürsorgegesetz im Königreich Sachsen. 675
Was wird mit Kranken mit akuten Rauschzuständen, mit Kranken
mit genuiner, unkomplizierter Epilepsie? Was wird mit der Anzahl
„Nervöser“ oder „Siecher“, die zwar psychotische Krankheitzeichen
darbieten, Uber deren Zurechnung zu den Geisteskranken im engeren
Sinne man aber zweifelhaft sein kann? Was wird weiter mit Kranken
mit anderen rasch vorübergehenden Erregungszuständen, die einen
Transport in die zuständige, meist entfernt liegende Landesanstalt
nicht erst verlohnen?
Diese Frage muß noch erörtert werden. Sie muß auch aus dem
weiteren Grunde einer Lösung entgegengeführt werden, weil das
Aufnahmeverfahren gewöhnlich eine, wenn auch kurze
Verzögerung mit sich bringt, während deren der Kranke untergebracht,
beziehentlich gesichert werden muß. Denn es werden, selbst wenn
das letztere noch so einfach gestaltet wird, immer ein paar Tage ver¬
gehen, ehe der Kranke vom Aufenthaltorte der Erkrankung weg in die
zuständige Landesanstalt gebracht werden kann. Dies wird trotz
aller Beschleunigung, mit der das Aufnahmeverfahren zu betreiben
den Behörden aufgegeben werden möchte, nicht zu vermeiden sein.
Es bleibt doch immer ein Zeitraum von Tagen, wo der Kranke außer¬
halb des Schutzes der Anstalt verbleiben muß.
Was soll während dieser Zeit mit dem frisch Erkrankten, was
soll für längere Zeit für die oben erwähnten Ausnahmefälle werden?
Für diese Kranken muß lokale Fürsorge getroffen werden,
d. h. Fürsorge an Ort und Stelle der Erkrankung.
Welche Einrichtungen sind hierzu nötig?
Welche Einrichtungen empfehlen sich zur vor¬
übergehenden Unterbringung von Geistes¬
kranken in den einzelnen Gemeinden für die
Zeit, wo sie vom Staate nicht oder noch nicht
in Fürsorge übernommen sind?
Es wird zunächst gefordert werden müssen, daß die Ein¬
richtungen in den Bezirksanstalten, beziehentlich
Krankenhäusern, wie sie bisher hier und da schon
bestanden haben, erhalten bleiben. Wenn auch diese
Einrichtungen meist nur in einer oder mehreren festen Zellen be¬
standen, die Schutzvorrichtungen darstellten mehr für den gemein¬
gefährlichen als für den kranken Menschen, so bleiben sie doch not-
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Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
676
Hösel,
wendige Vorkehrungen. Nur sollte man sie in moderne Formen kleiden
und ihnen in Bau und Anlage den Charakter des Gefängnisartigen
nehmen. Sie sollen nicht nur schützen, sondern den Kranken auch
unter hygienische Bedingungen setzen, daß ihm durch die Zwangs¬
maßregel, die angewendet werden muß, nicht geschadet wird. Denn
wenn auch viele Geisteskranke gefährlich sind, so sind sie doch in erster
Linie kranke Menschen. Dies muß den mit der ersten Hilfe¬
leistung betrauten Stellen immer und immer wieder nahegelegt werden.
Dabei wird darauf zu achten sein, daß an den betreffenden lokalen
Unterbringungstätten immer eine Pflegeperson sich be¬
findet, die mit solchen Kranken umzugehen versteht.
Es dürfte sich daher dringend empfehlen, bei allen Gelegen¬
heiten, bei welchen Mitgliedern von Sanitätskolonnen, z. B. des Roten
Kreuzes oder solchen von Diakonissenhäusern und anderen Pfleger¬
berufsgenossenschaften Unterricht über die erste Hilfeleistung bei
Verunglückungen gegeben wird, auch auf Grund der Vorschriften über
die Zuführung von Geisteskranken in die Anstalten oder anderen
Unterlagen darüber Belehrung zu geben, welche Maßregeln
zu ergreifen sind bei der ersten Hilfeleistung für erregte bzw. gefähr¬
liche Geisteskranke. Jede Gemeindeschwester, deren
es doch jetzt fast überall eine oder mehrere gibt, sollte davon wenigstens
die elementarsten Kenntnisse besitzen.
Es dürfte sich also empfehlen, an jedem bestehenden Kranken¬
hause oder jeder Krankenabteilung einer Bezirksanstalt eine Anlage
am besten in Form von festen Einzelzimmern modernster Konstruktion
herzustellen.
Je nach der Größe des Bezirks, dem die betreffende lokale Anstalt
dient, genügen ein oder mehrere dieser Räume, die je nach Einrichtung
sich auch zur Behandlung von akuten Rausch- oder anderen rascher
vorübergehenden Erregungszuständen eignen werden.
Für größere Gemeinwesen, für die mittleren und größeren Städte
dürfte die Lösung der Frage keine weiteren Schwierigkeiten machen.
Hier war ja bereits jetzt für vorübergehenden Aufenthalt solcher
Kranker meist schon ausreichend gesorgt, und die zu dem Zweck
vorhandenen Einrichtungen im Sinne etwa der Griesingerschen Asyle
dürften auch in Zukunft ausreichen. In großen Städten sind ja noch
besondere Einrichtungen größeren Stils vorhanden, Irrenkliniken,
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Über das neue Irrenfürsorgegesetz im Königreich Sachsen. 677
Irrenversorganstalten usw., die wenigstens teilweise und für kürzere
Zeiträume ihre bestehenden Bäume für solche Fälle weiter verfügbar
halten müssen.
Der Umfang, den solche Vorkehrungen in Zukunft annehmen
müssen, wird ferner und hauptsächlich davon abhängen, wie das
ganze Aufnahmeverfahren selbst geregelt werden wird.
Je einfacher dieses sein wird, je rascher der Apparat arbeitet, um so
rascher wird die Übernahme in die Landesanstalt erfolgen können,
um so rascher erfolgt die Evakuierung der Einzelräume in den kleinen
Fürsorgeanstalten des platten Landes oder der Krankenhäuser, um
so einfacher in Bauart und Größe können dann die betreffenden
Anlagen ausfallen.
Eine grundsätzliche Forderung ist aber, daß solche Ein¬
richtungen systematisch überall eingeführt und getroffen werden
müssen, wo sie notwendig sind, und daß sie so getroffen werden, daß
sie im Falle der Notwendigkeit auch sofort funktionieren.
Eine grundsätzliche Forderung ist weiter, daß sie nicht
unnötig lange benutzt und die Kranken darin zurück-
gehalten werden. Denn sie sollen in erster Linie nicht als thera¬
peutische Hilfsmittel dienen, was sie nicht sein können, sondern nur
Schutzmaßnahmen darstellen für die erste Hilfe. Sie sollen als
solche aber dann auch allen hygienischen Anforderungen der modernen
Irrenbehandlung genügen.
V.
Welche weiteren Einrichtungen waren nun
nötig, um den Bestimmungen des Gesetzes
praktische Geltung zu verschaffen, sofern
der Staat zur Unterbringung der Kranken ver¬
pflichtet war?
Den Anforderungen, die bisher und unter den bis jetzt gelten¬
den gesetzlichen Bestimmungen die Irrenpflege an den Staat gestellt
hatte, war in folgender Weise Kechnung getragen worden. Es war
in den Heil- und Pfleganstalten Sachsens bisher folgender Platz vor¬
handen:
In Großschweidnitz. 524 Plätze
,, Hubertusburg .1440 „
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
678
Hösel,
In Sonnenstein. 536 Plätze
Untergöltzsch . 503 „
„ Zschadraß. 635
„ der Pfleganstalt Colditz .. 589
In den Anstalten
Hochweitzschen für Epileptiker 775
Waldheim 1 für verbrecherische 226
Bautzen j Geisteskranke 70
Chemnitz für bildungfähige
Schwachsinnige.513
Großhennersdorf für Idioten.. 200 ,,
6011 Plätze
Nach Inkrafttreten des Irrengesetzes werden außer diesen 6011
Plätzen noch etwa 3800 Plätze beschafft werden müssen, so daß, nach
dem gegenwärtigen Stand der Berechnung, vom 1. Oktober 1913 ab
rund 9800 Geisteskranke in den Staatsanstalten untergebracht werden
können.
Diese enorme Vergrößerung erforderte natürlich
außerordentliche pekuniäre Opfer.
Da diese der Staat allein nicht zu stellen in der Lage war,
mußte eine Form der Liquidierung der Geldmittel gesucht werden,
die den Leistungen des Staates einerseits, den großen Vorteilen und
Erleichterungen der Gemeinden, denen ja die Unterbringungsorge
mit ihren Kosten für ihre Kranken abgenommen war, andererseits
wenigstens einigermaßen entsprach. Da .zu größeren einmaligen
Beiträgen die kleinen Gemeinden und Gemeindeverbände nicht
herangezogen werden konnten, blieb die Last zu tragen nur dem
Staat im Verein mit den großen Städten übrig.
Die Summe, die als einmaliger Beitrag seitens der großen
Städte zu leisten war, betrug 9 500 000 Mark.
Diese Summe verteilte sich mit
3 600 000 Mark auf die
Stadt Leipzig,
3 000 000
*9
99
* 9
9 •
Dresden.
1 500 000
*9
9 9
9 9
99
Chemnitz,
650 000
9 •
9 9
9«
99
Plauen,
350 000
99
9 9
9 9
99
Zwickau,
100 000
1*
9 9
' 9
99
Meißen,
100 000
< *
99
♦ 9
9 9
Bautzen,
100 000
n
9 9
9 9
99
Freiberg.
100 000
9*
99
99
Zittau
9 500 000 Mark
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Uber das neue Irrenfürsorgegesetz im Königreich Sachsen. 679
Die übrigen erstmaligen Kosten zur Beschaffung der Plätze über¬
nahm der Staat.
Statt der Summe von 3 600 000 Mark, die die Stadt Leipzig zu stellen
hatte, konnte diese nach den Bestimmungen des Vertrags die bereits
bestehende städtische Heilanstalt Dösen bei Leipzig dem Staate über¬
lassen. Dies wird auch geschehen, und die Anstalt Dösen mit rund 1200
Plätzen wird am 1. Januar 1913 in die Verwaltung des Staates übergehen.
Man kann nun im Zweifel darüber sein, ob die Beschaffung der
übrigen erforderlichen Plätze durch Bau von neuen An¬
stalten oder durch Erweiterungsbauten an be¬
stehende Anstalten zu erfolgen hatte. Die Ansichten hierüber
sind bekanntlich unter den Fachgenossen geteilt. Die einen halten
eine Beschränkung auf 600 Plätze für richtig, andere und zwar ein
großer Teil lassen nur einen Umfang von 800 zu, wieder andere 1000
bis 1200, ja noch andere bauen Anstalten noch größeren Umfanges,
wovon der Steinhof bei Wien das bekannteste Beispiel darstellt.
Welche Ansicht ist denn nun die richtige? Die Frage läßt sich von
verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachtet verschieden beant¬
worten. Stellt man sich auf den rein ärztlichen Standpunkt und
fordert man einseitig aus der Interessengemeinschaft von Arzt und
Kranken heraus den Bau von Heil- und Pfleganstalten, so kommt
man auf solche von niedriger Größe. Stellt man sich wiederum ein¬
seitig auf den rein verwaltungstechnischen, finanziellen und fiskali¬
schen Standpunkt, dann gelangt man wenigstens nach Ansicht mancher
zur Forderung größerer Anstalten. Ich halte beide für verfehlt und
glaube Gründe zu haben, die bei bestimmten Voraussetzungen für den
Bau von Anstalten in einer Größe von etwa 1000 Betten sprechen.
Als ein Hauptbedenken gegen den Bau von einer Anstalt über
600 Köpfe wird angeführt, daß der Anstaltsdirektor die Über¬
sicht über diese Kranken verliert. Dies ist nur bedingt richtig
und zwar dann, wenn bei einer Bettenzahl von 600 Stück und mehr
die Aufnahmeziffer und der Krankenwechsel ein sehr hoher ist, wie
dies z. B. in Anstalten einiger Großstädte, in Kliniken usw. der Fall ist.
Erfolgen täglich 2—3 Aufnahmen und gleichviel Abgänge bei einem
Krankenbestand von 600 Köpfen, dann kann diese Krankenfluktuation
auch ein Direktor nicht übersehen, selbst wenn seine Anstalt eben
nur 600 Betten zählt. Dann wäre aber schon diese Bettenzahl unzu-
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680
Hösel,
lässig. Bei den Landesanstalten Sachsens erreicht aber die Aufnahme-
ziffer gar nicht die erwähnte Höhe.
So hat z. B. Zschadraß folgende Aufnahmen gehabt beieiner Beleg-
barkeit von 500 bzw. 600 Betten.
Männer
Frauen
1894
265
78
= Bestand bei der Eröffnung
1895
54
114
- 168
1896
56
67
= 123
1897
56
47
= 103
1898
55
62
= 117
1899
62
58
= 120
1900
77
61
- 138
1901
56
66
= 122
1902
53
41
= 94
1903
43
61
- 104
1904
54
56
= 110
1905
47
59
- 106
1906
77
62
- 139
1907
46
71
= 117
1908
60
50
= 110
1909
53
43
= 96
1910
43
37
= 80
1911
48
85
- 133
1980
Es sind also innerhalb 17 Jahren (der Anfangsbestand außer acht
gelassen) 1980 Aufnahmen erfolgt, das heißt durchschnittlich jährlich
etwa 116 Aufnahmen. *Es kam also durchschnittlich jeden dritten Tag
ein Kranker zur Anstalt. Ähnlich ist es in den übrigen Anstalten.
Berücksichtigt man weiter, daß unter diesen 116 Aufnahmen
doch wenigstens */» der Fälle sogenannte klare Fälle sind (Paralytiker,
Katatoniker usw.), die weder der Diagnostik noch der Therapie so viel
Schwierigkeiten machen, daß sie die Zeit des Anstaltsdirektors störend
in Anspruch nehmen, so erfolgen solche Aufnahmen, die den Anstaltleiter
mehr und längere Zeit in Anspruch nehmen in noch größeren Zwischen¬
räumen. Diese genügen aber zu seiner Orientierung vollständig.
Nun handelt es sich beim Anstaltsdirektor allerdings nicht bloß
um die Zugänge, sondern auch um die Bestände. Und es dürfte Zweifel
erregen, ob ein Direktor einen Bestand von über 600 Kranken so über¬
sehen kann, daß er jeden Kranken so kennt, um ein Urteil über ihn zu
haben. Hierzu sei folgende Bemerkung gestattet.
An der hiesigen Anstalt sind von den aufgenommenen Kranken
aus dem
Difitized
bv Google
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Über das neue Irrenfürsorgegesetz im Königreich Sachsen.
681
Jahr 1894 noch 71 vorhanden. Aus dem
99
1895
99
32
99
1896
99
18
99
1897
•9
14
99
1898
99
16
99
1899
99
18
99
1900
99
22
99
1901
99
16
99
1902
99
22
99
1903
99
27
99
1904
25
9 '
1905
99
25
99
1906
99
43
99
1907
99
30
99
1908
99
37
99
1909
99
45
99
1910
99
44
99
1911
99
118
99
1902
99
20
643
Von diesen 643 Kranken sind 38 beurlaubt und 12 in Familienpflege
Letztere mit zum Bestand gerechnet, müßte der Direktor 621 Kranke
übei sehen. Scheidet man außer dem bisherigen Zugang des Jahres 1912
auch noch die aus dem Jahre 1911 stammenden Kranken aus als noch
relativ frisches, daher — der gemachten Voraussetzung nach — nicht so
sicher bekanntes Krankenmaterial, so bleibt noch ein Bestand von 505
Köpfen, die dem Direktor seit 2 bis 15 Jahren und mehr bekannt sind,
und die sich in ihrer pathologischen Beschaffenheit nicht mehr oder —
von Ausnahmen abgesehen — wenigstens nicht wesentlich mehr ändern.
In dieser langen Reihe von Jahren muß der Anstaltleiter mit der Zeit
jeden von diesen Kranken annähernd kennen gelernt haben, ohne daß ein
Übermaß von Zeit auf das Bekanntwerden verwendet worden wäre.
Nun ist freilich ohne weiteres klar, daß sich dieses Ergebnis nur
herausentwickelt, wenn eben der Direktor seit Jahren mit seiner Anstalt
und seinen Beständen verwachsen, gleichsam mit ihnen alt geworden ist.
Tritt freilich eine Vakanz ein, und muß ein mit den Verhältnissen
und den Beständen weniger vertrauter Direktor die Stelle des Vorgängers
übernehmen, so entstehen natürlich Schwierigkeiten. Dies ist richtig.
Trotzdem ist dies aber kein Grund, die Bestände niedrig zu halten. Mit
derZeit wird eben die Schwierigkeit auch überwunden, und mit den Jahren
übersieht der neue Direktor, wenn er nur über einen einigermaßen prak¬
tischen Blick verfügt, nicht nur die äußersten Winkel der Anstalt im Ver¬
waltungsinteresse, sondern auch die verstecktesten und unauffälligsten
Kranken im Interesse der Krankenfürsorge. Ein vielbeschäftigter Arzt
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682
Hösel,
in der Sprechstunde hat auch nicht jeden Augenblick seinen Patienten
gegenwärtig. Er hilft sich dann mit Notizen und Merkblättern. Dasselbe
gilt von den ärztlichen Vorständen großer öffentlicher Krankenhäuser
mit ihrer raschen Bevölkerungsfluktuation. Ähnlich ist es auch hier in
größeren Irrenanstalten. Und sollten bei den Visiten der Bestände durch
den Direktor auch einmal ein paar Namen dem Gedächtnis entschwunden
sein, so ist dies nicht schlimm. Denn erstens kann dies auch bei niedrigen
Beständen passieren, zweitens ist es bei den vielen Kranken mit abge¬
laufenen akuten Psychosen und gleichbleibendem Status kein Unglück —
die Katatoniker und Paralytiker der Pflegabteilungen gleichen sich ja
so wie so oft bis aufs kleinste —, ein Blick in die Akten oder eine Orien¬
tierung durch den Abteilungsarzt hilft sehr rasch über die Lage.
Die Hauptsache ist und bleibt, daß der Direktor die akuten Fälle,
die forensisch wichtigen und die, die einer besonderen psychischen
Behandlung zu unterwerfen sind, annähernd kennt und Zeit hat, sich
mit ihnen zu beschäftigen und individualisierend seinen Einfluß neben
der Arbeit seiner Ärzte auf sie auszuüben. Die Hauptsache ist, daß
der Geist, der über dem Ganzen waltet, den Anforderungen
moderner Psychiatrie entspricht. Das ist aber bei einem Bestand
von 1000 Köpfen, wenn die Aufnahmeziffer jährlich nicht mehr wie
200 Köpfe beträgt, noch sehr gut möglich. Nur darf die Direktorial¬
stelle nicht allzu gehäuft den Inhaber wechseln. Das ist aber, soweit
die Erfahrungen reichen, auch gar nicht der Fall. Wenn man die Namen
der Anstaltsdirektoren in der Zusammenstellung von Laehr aus dem
Jahr 1912 und früheren Jahren vergleicht, so wird dies sofort ersicht¬
lich. Also die Ärzte sollen wechseln, der Direktor aber nur ausnahm-
weise und aus zwingenden Gründen. Er muß mit seiner Anstalt und
seinen Kranken verwachsen.
Hierzu kommt, daß der Direktor von den älteren
Abteilungs- beziehentlich Oberärzten auch ganz wesent¬
lich unterstützt, beziehentlich entlastet werden kann. Es ist
eben notwendig, daß den ärztlichen Vorständen der Männer- und
Frauenabteilungen eine größere Selbständigkeit unter eigener Ver¬
antwortung innerhalb ihres Arbeitgebietes gewährt werde. Der Direktor
freilich, der bis in die kleinsten Einzelheiten hinein alles selbst machen
will, der — um nur einiges anzuführen — über alle therapeutischen
Maßnahmen, Versetzungen von Kranken und Personal innerhalb der
Abteilungen usw. selbst verfügt und die Ärzte nur Ausführungsorgane
sein läßt, wird natürlich mit Einzelarbeiten so überlastet sein, daß
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Ober das neue Irrenfürsorgegesetz im Königreich Sachsen. 683
er schließlich den tiberblick verliert oder doppelte Arbeitzeiten und
doppelte Arbeitkraft verwenden muß. Eine solche Entlastung kann
auch sehr gut bei Beurlaubungen, Entlassungen von Kranken, auch
auf forensischem Gebiete eintreten durch eine Arbeitteilung mit seinem
Stellvertreter, dessen genaue Kenntnis von allen Eingängen und
Entschließungen des Direktors schon um deswillen eine selbstverständ¬
liche sein sollte, weil dieser in Urlaubs- oder Krankheitfällen doch in
seinem Sinne Weiterarbeiten soll. Und genügt der Stellvertreter
nicht, «in, so wird eben noch ein älterer Oberarzt herangezogen. Dies
stärkt und kräftigt auch die Berufsfreudigkeit der älteren Ärzte,
die hierin wenigstens einigermaßen Ersatz für langsames berufliches
Aufrücken und Einrücken in eine Direktorstelle haben. Also mehr
hervorgehobene Stellen! Und der Direktor wird auch entlastet!
Ein weiterer Grund, der gegen Neubau einer Anstalt und
für eine Erweiterung der Bestände der Anstalten Sachsens über 600
bzw. 800 Betten hinaus spricht, liegt aber noch im folgenden: Bisher
waren nach den geltenden Bestimmungen in den Anstalten nur heil¬
bare und unheilbare gefährliche Kranke untergebracht. Diese stellten
natürlich an die Leistungen des Direktors und der Ärzte in diagnosti¬
scher und therapeutischer Beziehung ganz andere Anforderungen
als ein Bestand, der mit harmloseren, ruhigeren Kranken untermischt
wird. War deshalb die Einhaltung eines Bettenbestandes von 600
Stück — der größte Teil der Landesanstalten
Sachsens hatte aber nicht einmal diese Höhe
erreicht — bisher gerechtfertigt, so erschien er in Zukunft in
finanzieller und verwaltungstechnischer Beziehung als Luxus. Die
Kategorien von Kranken, die bisher der Armenfürsorge der Gemeinden
überlassen und von diesen in Armen-, Siechen- und Krankenanstalten
oder Bezirksanstalten untergebracht waren und nunmehr in die
Staatsanstalten gelangen sollen, erschweren die Behandlung und
Verwaltung bei weitem nicht in dem Maße, als wenn es sich um noch
mehr oder lauter schwer erkrankte heilbare und gefährliche Kranke
gehandelt hätte, die aufzunehmen gewesen wären. Das ist aber nicht
der Fall. Denn diese waren ja fast alle überhaupt schon in den Anstalten.
Die Kranken, die also in Zukunft die Bestände erhöhen, erschweren
nicht, sondern erleichtern den Betrieb, vermindern die Unruhe, den
Lärm, den eine Ansammlung größerer Mengen nur störender und
Zeitschrift für Psychiatrie. LXH. 5. 47
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684
Hösel,
erregter Kranker verursacht, und erleichtern dem Direktor, den Ärzten
und dem Personal eben dadurch, daß sie die Bestände verdünnen,
ihre Arbeit. Und wenn diese anfangs die Übersicht auch etwas er¬
schweren, so bringen sie dem Betrieb und ihrer Leitung auf der anderen
Seite Erleichterungen.
Man muß bei der Beurteilung der Frage doch auch berücksichtigen,
wie verschieden das Irrenwesen Sachsens gegenüber anderen Bundes¬
staaten z. B. Preußen bisher organisiert war.
Dort waren die harmloseren, ruhigeren, arbeitsamen Elemente
längst der Krankenfürsorge der Anstalten zugänglich, hier beschränkte
sich diese auf die wesentlich schwierigere Behandlung der nur Hei baren
und nur Gefährlichen. Eine quantitative Erhöhung der Bestände
durch Kranke, die ganz anders in ihrem Verhalten geartet sind als die
bisherigen, bei denen die Störung sich in viel milderen Formen äußert,
und die hauptsächlich den Charakter von Pfleglingen darbieten, wird
durch die Erleichterungen des Betriebes und der Behandlung, die sie infolge
ihrer wesentlich anderen qualitativen Bewertung verursachen,
zum großen Teile in ihren Folgen ausgeglichen, und dieser Umstand ver¬
einfacht, kompliziert aber nicht wesentlich die Übersichtlichkeit des
Betriebs.
Also die angeblich mangelhaft durchführbare
Übersicht über die Kranken seitens des Direktors und
seine angebliche Überlastung mit Verwaltungs¬
geschäften kann einen zwingenden Grund, die Be¬
stände der Anstalten Sachsens so niedrig zu halten wie
bisher oder sie nicht wesentlich weiter auszubauen, nicht
darstellen.
Nun wird weiter die Behauptung aufgestellt und vertreten,
daß eine Anstalt von 1000—1200 Köpfen wesentlich teurer be¬
trieben wird als eine solche zu 800 Köpfen.
Dieser Behauptung kann in so allgemein gehaltener Form auch
nicht zugestimmt werden.
Wenn als Hauptargument für diese Ansicht der Umstand an¬
geführt wird, daß bei einer Zahl von 1000—1200 Köpfen der Aufwand
an Personalausgaben wesentlich höher ist, so ist dies
wenigstens für unsere sächsischen Verhältnisse nicht richtig.
Wenn man eine Anstalt, nachdem sie 800 Kranke Bestand erreicht
hat, nicht weiter ausbaut, sondern eine neue fordert, so benötigt doch
diese erst recht den doppelten Personalaufwand. Denn diese muß
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Über das neue Irrenfürsorgegesetz im Königreich Sachsen. 685
doch erst recht jeden Beamten überhaupt neu einstellen, w&hrend
man bei einer Erweiterung nur so viel Personal neu einstellt, als die
Erweiterung erfordert. Setzt man natürlich diese Erweiterung ins
Ungemessene fort, so wird ein Zeitpunkt eintreten, wo in der Tat
von jeder Sorte Beamte die doppelte Anzahl vorhanden ist. Aber bei
welcher Größe der Erweiterung tritt denn dieser Zeitpunkt ein? Bei
800? Bei 1000? Bei 1200? Diese Frage ist nicht allgemein zu be¬
antworten. Sie hängt wiederum von den Verhältnissen ab, besonders
und hauptsächlich wieder von der Größe der Krankenfluktuation.
Diese ist aber eine schwankende Größe, die an sich und fast überall
verschieden ist. Man kann sie also nicht zur Grundlage für eine all¬
gemein gültige Regel machen. Jedenfalls ist nicht notwendig, daß
dieser Zeitpunkt bei 800 Köpfen erreicht sein muß. Hierzu kommt
aber noch ein anderes.
Sachsen zählt in Zukunft, die Anstalten für Schwachsinnige,
Idioten, Epileptiker, verbrecherische Geisteskranke, die in Sonder¬
anstalten untergebracht sind, eingerechnet: 12 Landesanstalten.
Sind einmal alle Geisteskranken, soweit sie anstaltbedürftig sind,
untergebracht, und sind ferner die Aufnahmebezirke jeder
Anstalt in halbwegs geschickter Art verteilt, so werden auch die
Aufnahmen in ihrer ziffernmäßigen Höhe für Jahre hinaus einen
gleichmäßigen Charakter annehmen und sich auf einer an¬
nähernd gleichen mittleren Höhe halten. Eine Zunahme
von Kranken aller erwähnten Arten wird nur noch im Verhältnis
zur Zunahme der Bevölkerung des ganzen Landes eintreten. Denn
alles, was anstaltbedürftig war und noch ist, ist ja bereits unter¬
gebracht und auf die große Zahl Anstalten verteilt. Es tritt also mit
der Erweiterung der Anstalten und Aufnahme aller Kranken
auch eine Regulierung der Aufnahmen ein und zwar
im Sinne einer Beschränkung gegenüber jetzt. Die Anstalten
werden nach Abschluß der Neuordnung eine wesentliche weitergehende
Vergrößerung als die, die sie zum besagten Zweck nunmehr erhalten,
gar nicht zu erfahren brauchen. Zu diesem Zweck genügt aber eine
Erhöhung auf 1000 und wird auch für absehbare Zeiten weiter genügen.
Ferner handelt es sich ja auch nicht um den Ausbau von Anstalten
alten Stils, die aus alten Schlössern oder massiven Zentralbauten
im Korridorsystem bestehen. Die sächsischen Landesanstalten sind
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Hösel,
gegenwärtig fast sämtlich im Pavillonstil gebaut oder so modern
umgestaltet worden (Sonnenstein), daß sie diesen in Bauart und
Anlage gleichzuachten sind.
Soll man nun bei dieser Sachlage die bestehenden Anstalten auf
niedrigem Krankenbestande halten und neue bauen? Soll man unter
sotanen Umständen an einer Größe von 800 Köpfen grundsätzlich
weiter festhalten und eine Anstalt für 1000 Kranke für unzulässig
oder unzweckmäßig erklären?
Das dürfte doch seine Bedenken haben, zumal noch eine weitere
Erfahrung dagegen spricht.
Man braucht sich nämlich über diese Frage gar nicht in weit¬
läufige und besondere theoretische Betrachtungen einzulassen.
Die Geschichte des Anstaltbaues der Neuzeit liefert einwandfrei den
Beweis, daß ein Betrieb für 1000 Kranke weder unübersichtlich noch
teurer ist.
Der Bau der neueren Anstalten in der genannten Größe in Baden»
Bayern, Österreich — den Steinhof nehme ich aus —, der Bau von Anstalten
in ähnlicher Größe in Großstädten wie Berlin, Leipzig, Hamburg usw. usw.
zeigen deutlich, daß diese Anstalten nicht teuerer bewirtschaftet werden
als 800 köpßge, und daß sie auch noch übersichtlich sind. Die prak¬
tische Erfahrung des letzten Jahrzehnts hat hierfür genügend Beweise
erbracht.
Nun verkenne ich nicht, daß der Bau einer Anstalt nicht größer
als für 600 oder 800 Kranke eine ideale oder auch eine recht zweckent¬
sprechende Lösung der Frage wäre. Aber das praktische Leben und be¬
sonders die Geldmittel lassen solche ideale Schöpfungen nicht allenthalben
zu, und man muß sich dann mit dem Zustand abflnden, der dem idealen
am nächsten kommt. Nur muß dieser noch zulässig und erträglich sein.
Das moderne Irrenanstaltwesen anderer Länder hat für die Zulässigkeit
dieser Größe aber den Beweis geliefert. Eine Höchstziffer von 1000 Kranken
erscheint somit noch zulässig.
Nach diesen Erwägungen ist es also auch vollständig gerecht¬
fertigt, wenn die sächsische Staatsregierung die durch die Neuregelung
des Irrenwesens erforderliche Zahl von Betten durch Erweite¬
rungsbauten der bereits bestehenden Anstalten beschafft und
an den Bau einer neuen Heil- und Pfleganstalt erst herantritt, wenn
das Maximum von 1000 Kranken an jeder Anstalt erreicht ist.
Bei Unternehmungen gedachter Art ist eben nicht nur das Interesse
von Arzt und Kranken im Auge zu behalten, sondern auch das des Steuer-
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Ober das neue Irrenfürsorgegesetz im Königreich Sachsen. 687
Zahlers, der die Kosten hierfür aufzubringen hat. Und wenn auch zugegeben
werden muß. daß derartige Kulturaufgaben unter allen Umständen die
erste und beste Berücksichtigung finden müßten, und daß die Geldmittel
keinen Hinderungsgrund füi ihre Durchführung darstellen sollten, so
muß doch andererseits auch anerkannt werden, daß diese Unternehmungen
so kostspielig sind, daß die Finanzierung der Pläne und die Liquidierung
der Mittel eine ebenso wichtige Frage darstellt, wie die nach der Interessen¬
gemeinschaft zwischen Arzt und Kranken. Arzt und Verwaltungsbehörde
sowohl wie Arzt und Baumeister müssen eben auch hier Zusammenarbeiten,
um eine mittlere Linie zu finden.
Behufs Durchführung der oben genannten Reform werden im
laufenden Jahr in Sachsen nun folgende Erweiterungsbauten
vorgenommen:
Die Anstalt Sonnenstein erweitert um 256 Betten,
,, ,, Untergöltzsch „ „ 160 „
,, ,, Zschadraß „ „ 400 „
, „ Großschweidnitz,, „ 180 „
,, ,, Hubertusburg „ „ 100 „
,, „ Hochweitzschen ,, „ 48 „
in Summa 1144 Betten
Zu dieser Bettenzahl von.1144
tritt hinzu die Anstalt Dösen mit rund . 1200 Plätzen
und die Anstalt Arnsdorf mit zunächst. 900 „
in Summa .... 3244 Betten.
Es werden also 3244 neue Betten bei Inkrafttreten des Gesetzes
zur Verfügung stehen, eine Bettenzahl, die die Durchführung der
Neuregelung ermöglichen wird. Von diesen sind die 1200 Betten
in Dösen jedoch bereits mit Kranken belegt.
Möchte diese Kranken und Gemeinden zum Segen gereichen!
Die Belegbarkeit der Anstalten des Königreichs Sachsen würde
sich demnach folgendermaßen gestalten. Die Ziffern sind noch unver¬
bindlich:
1. Heil- und Pfleganstalten für Geisteskranke
Arnsdorf .1200 Betten
Großschweidnitz 740—780 „
Hubertusburg. 1576 „
Sonnenstein. 1004 „
Untergöltzsch.. .760—800 „
Zschadraß. 985 „
Dösen. 1400 „
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688 Hösel, Uber du nene Irrenfürsorgegesetz im Königreich Sachsen.
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2. Landesanstalten für verbrecherische Geisteskranke
Colditz. 600 Betten
Waldheim . 200 „
Bautzen. 70 „
3. Landesanstalten für Schwachsinnige und Idioten
Chemnitz. 490 Betten
Großhennersdorf ... 200 „
4. Landesanstalt für epileptische Geisteskranke
Hochweitzschen.... 780 Betten
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine
47. Versammlung des Vereins der Irrenärzte Nie-
dersachsens und Westfalens am 4. Mai 1912 in Han¬
nover.
Anwesend waren: After-Lindenhaus, Becker - H ildesh ei m, Benno-
Goslar, Blümcke- Bethel, PorcAere-Hildesheim, Brünette-Gandersheim, Bruns -
Hannover, Budde-Göttingen, Gramer-Göttingen, Dammann-Marsberg,
.Deet/en-Wilhelmshöhe, Dieckmann -Volmerdingen, Eichelberg- Göttingen,
Pnge/Aen-Uchtspringe, FacAZam-Suderode, Fröhl ich-La nge nh age n, Gellhorn-
Goslar, GerstenAerg-Hildesheim, Gerstenberg - Lü neburg, GraAZ-Hedemünden,
Grütter - Lü nebu rg, Günther -Warstein, Hellw ig - L a nge nh age n, Hobohm-
Bethel, Kanis- Eickelborn, Kracke - Lü nebu rg, Lehne- Rinteln, Maßmann-
Liebenburg, Mönkemöller-H ildesheim, Müller -Warstein, Muermann-Apler¬
beck, P/örringer-Friedrichsberg, Pohlmann -Aplerbeck, Bapmund-Göttingen,
Redepenning- Göttingen, BeAm-Ellen, Reimann- Ilten, Peines-Lüneburg,
Reinhold- Hannover, Pinne-Langenhagen, Pifter-Uchtspringe, BuAZe-Ucht-
springe, ^cAmidt-Wunstorf, 5cAneider-Eickelborn, Schröder - Lü neburg,
Schrumpf- St. Moritz, £cAütte-Osnabrück, BZeAert-Lengerich L W., Snell•
Lüneburg, Stamm-Ilten, StüAer-Hildesheim, FöZAer-Langenhagen, Volland-
Bethel, Wahrendorff -Ilten.
Zum Vorsitzenden wird gewählt Geretenfeerg-Hildesheim, zum Schrift¬
führer Stüber-H ildesheim.
Bruns spricht zuerst unter Hinweis auf einen vor kurzem zur Operation
gekommenen Fall von rechtseitigem Kleinhirnabszeß
über die neurologische Diagnose desselben. Auch neuerdings
wird diese immer noch als sehr schwierig erklärt, namentlich gegenüber
der eiterigen Labyrinthentzündung. Sicher können ja Schwindel, Gleich-
gewichtstörungen und Nystagmus in beiden Fällen bestehen. Was den
Nystagmus anbetrifft, so kommen für die Differenzialdiagnose zwischen
vestibulärem und Kleinhirnnystagmus sehr wesentlich jetzt Baranys
Untersuchungsmethoden in Betracht, darauf geht P. nicht näher ein,
übrigens ist in vielen Fällen von Kleinhirnabszeß das Labyrinth auch schon
zerstört. Aber auch aus sonstigen nervösen Er-
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
scheinungen konnte B. in bisher vier Fällen die
Diagnose eines Kleinhirnabszesses mit Bestimmt¬
heit stellen. In allen vier Fällen bestanden spastische Erscheinungen
an den Beinen, mehrmals an beiden, öfters, so auch im letzten Falle,
besonders deutlich gekreuzt mit dem Abszeß. Es bestand also eine Druck¬
wirkung auf den Hirnstamm, die der Labyrintherkrankung nicht zu-
kommt. In den zwei letzten Fällen bestand eine Bewegungsataxie
des gleichseitigen Armes, ein direktes Kleinhirn¬
symptom, das zugleich auch ohne weiteres die Seite der Erkrankung
erkennen läßt. In dem dritten Fall bestand auch Abduzens - und
Fazialislähmung, von denen die zweite allerdings auch durch
Knocheneiterung entstanden sein könnte. In allen vier Fällen bestand
außerdem Neuritis optica, die jedenfalls bei reiner Labyrinth -
entzündung selten ist. Der Nystagmus war in den beiden letzten
Fällen grobschlägig und langsam nach der Seite der Er¬
krankung, feinschlägig und schnell nach der anderen Seite.
Das hat B .mehrfach bei einseitigen Geschwülsten des Kleinhirns beobachtet ,
und es beruht nach einer mündlichen Mitteilung Barany s vielleicht auf
einer Parese des gleichseitigen Blickzentrums nach der Seite. Dann würde
es ebenfalls durch Druck auf den Hirnstamm entstehen und für Klein¬
hirnabszeß gegen Labyrintherkrankung sprechen.
Daß neben den erwähnten Symptomen auch die vorhergegangenen
eiterigen Erkrankungen am Ohrknochen und im Schädel für die Diagnose
des Sitzes des Abszesses im Kleinhirn sehr in Betracht kommen, ist ja
bekannt, in drei Fällen bestand auch eiterige Thrombose des
Sinus transversus. Bei einseitigen Ohrerkrankungen
sitzt der Abszeß wohl immer auf derselben Seite. Niedrige, im
letzten Falle subnormale Temperaturen sprechen
für Abszeß gegen Labyrintherkrankung. In zwei Fällen bestand starke
Abmagerung, ein Symptom, auf das schon Macevoen hingewiesen hat.
Dann zeigt B. ein etwa haselnußgroßes Fibrosarkom
des Rückenmarkes von intraduralem Sitze, das aus der Höhe
der linken 6., 7. und 8. Halswurzel durch Operation gewonnen wurde.
Es handelte sich um eine jüngere Frau, die im April 1910 an Schmerzen
an der linken Schulter und über dem linken Schulter¬
blatte erkrankt war. Im Mai 1911 Schwäche des linken
Beines, oft plötzlich eintretend. Im Juni 1911 Parese beider
Beine. Ende 1911 von B. untersucht. Spastische Lähmung
beider Beine mit allem Zubehör in stärkster
Beugekontraktur. Bauchmuskeln ebenfalls gelähmt,
Bauchreflexe fehlen. Sensibilität an der Brust
und am Rumpfe total aufgehoben, links bis zum vierten,
rechts bis zum fünften Dorsalsegment; links bis zum zweiten, rechts bis
zum dritten Dorsalsegment Hypästhesie für Tastr.eize,
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Verein der Irrenärzte Niedersachsens und Westfalens.
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Fehlen der Schmerzempfindung. Am Rücken Gefühls¬
grenzen in derselben Höhe wie vorn! An den Beinen manchmal vorüber¬
gehend fleckweise wieder Gefühl Schmerzen wie von Anfang an in der
1 Schultergegend. Urinlassen sehr erschwert, Stuhl¬
gang angehalten.Neigung zu Dekubitus. Atrophie
und Schwäche der kleinen Handmuskeln links,
ohne elektrische Störungen. Linke Pupille enger als rechte.
Aus den Anästhesiegrenzen und den segmentären Symptomen an der
linken Hand und der linken Pupille wurde, da ja die letzteren vor allen
auf eine Läsion des ersten Dorsalsegment L hinwiesen, angenommen,
daß der linkseitige Tumor bis ins siebente Zervikalsegment nach oben
reichte. Die Schmerzen, die immer im fünften und sechsten Zervikal¬
segment 1, also höher gesessen hatten, faßte B. als ausstrahlende auf.
Am 28. Dezember 1911 wurden von Professor Thöle der 6. und
7.Hals- und der 1. Brustdorn entfernt. Es blutete aber so stark aus den
extraduralen Venen, daß trotz langen Wartens die Dura nicht geöffnet
werden konnte und die Operation abgebrochen werden mußte. 8 Tage
später waren die Hautnähte vereitert, so daß auch jetzt eine Fortsetzung
der Operation nicht möglich war. Erst am 15. März 1912, als alles wieder
geheilt war, fand sich bei Eröffnung der Dura der Tumor an der dia¬
gnostizierten Stelle L etwas vor dem Wulste. Sein oberes Ende ragte
allerdings noch unter den fünften Halswirbelbogen, so daß er hier die
6. Halswurzel traf, und sich die Schmerzen in der L Schulter als direkte
Wurzelsymptome erklären ließen. Auch hier hat es sich also
wieder gezeigt, daß man das obere Ende der intra¬
vertebralen Geschwülste in das Gebiet der höchst¬
segmentären Symptome verlegen soll
Am Tage nach der Operation konnte die Kranke den r. Fuß wieder
bewegen. Leider hatte sich zwischen erster und zweiter Operation ein
Dekubitus entwickelt, und von diesem aus kam es zu einer eitrigen
Meningitis der unteren Rückenmarksabschnitte, an der die Kranke
zugrunde ging. Das Rückenmark war an der Tumorstelle stark verdünnt.
Histologische Untersuchung steht noch aus.
Zuletzt zeigt B. das Gehirn eines dreijährigen
Knaben, der im ersten Lebensjahr eine schwer entzündliche
Erkrankung beider Gehirnhälften mit langdauernden
schweren Krämpfen erlitt. Später vollkommen idiotisch; links
spastische Lähmung mit extremer Abduktion des Oberarmes,
rechts fortwährend krampfhafte Bewegungen des Armes. Bei der Sektion
zeigt sich die r. Hirnhälfte namentlich in ihren hinteren Teilen
stark geschrumpft; dier. obere Fläche des Kleinhirnes nicht vom
Großhirn bedeckt. Die L. Kleinhirnhälfte atrophisch.
Histologische Untersuchung steht auch hier noch aus.
Cramer-Göttingen spricht über Rückversicherung im
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Zentralnervensystem, die darin besteht, daß immer höhere
Zentren des Zentralnervensystems eintreten, wenn gewohnte Handlungen
durch Hinzutreten neuer Momente kompliziert werden.
O. Snell- Lüneburg: Die' Ausbildung des weiblichen
Oberwartpersonales.
Der Ersatz des weiblichen Oberwartpersonales kann auf zwei Wegen
geschehen. Entweder läßt man die besten, bewährtesten Pflegerinnen
zu Oberpflegerinnen aufrücken, oder man stellt junge Mädchen mit höherer
Schulbildung an, nachdem sie durch eine informatorische Beschäftigung
an derselben oder einer anderen Anstalt zu dem Berufe einer Oberpflegerin
vorgebildet sind. Der erstere Weg hat den Vorzug, daß man nur solche
Persönlichkeiten anstellt, die man ganz genau kennt, und bei denen deshalb
kaum der Fall eintreten kann, daß sie sich als vollkommen untauglich
erweisen. Die zweite Methode hat das Gute, daß die Oberwärterin über
das Wartpersonal durch ihm überlegene Allgemeinbildung viel leichter
ihre Autorität aufrecht erhält, und daß sie gegenüber den Kranken aus
gebildeten Ständen eine bessere und angenehmere Stellung einnimmt.
Es ist für eine Oberpflegerin sehr peinlich, wenn sich ihre Kranken in ihrer
Gegenwart in französischer Sprache über sie unterhalten, ohne daß sie es
versteht. Bei dem männlichen Personale ist diese Schwierigkeit viel geringer,
weil die männlichen Kranken überhaupt viel leichter zu behandeln sind als
die weiblichen, und weil Männer mehr Sinn für Unterordnung und Disziplin
haben. Ich habe Erfahrungen mit beiden Methoden gesammelt und halte
es für das entschieden Richtige, nur Oberpflegerinnen mit guter Allgemein¬
bildung anzustellen. Erhalten die Kandidatinnen, die sich zu den frei
gewordenen Stellen melden, rasch die erforderliche Ausbildung und werden
dann in derselben Anstalt angestellt, so ergibt sich die Schwierigkeit,
daß sie die Vorgesetzten desselben Wart'Personals sein sollen, das noch
vor kurzem ihre ersten, unsicheren Schritte auf dem Gebiete der Irren¬
pflege beobachten konnte. Auch ist es unvermeidlich, daß manche Ober¬
pflegerinnen angestellt werden, die während der Ausbildungszeit viel
zu versprechen schienen, die sich dann aber doch nicht bewähren. Werden
die Oberwärterinnen in einer anderen Anstalt ausgebildet, so kann ihre
Ausbildung wegen der Verschiedenheit der einzelnen Anstalten mangel¬
haft sein; auch kann eine Kandidatin von dem einen Anstaltsdirektor
günstig beurteilt werden, von dem anderen nicht.
An der Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt zu Lüneburg sind bei
einem Bestände von etwa 450 weiblichen Kranken 3 Oberinnen angestellt
mit einem Gehalte von 900—1300 Mark bei freier Station erster Klasse.
Daneben können bis zu 6 Hilfsoberwärterinnen angestellt werden, die
500 Mark bei freier Station zweiter Klasse erhalten. Der Anstellung als
Hilfsoberwärterin geht eine Ausbildungszeit voraus, die bi her in den
meisten Fällen etwa 6 Monate betragen hat. Diese Schülerinnen erhalten
vom ersten Tage an freie Station zweiter Klasse, aber kein Gehalt. Als
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Verein der Irrenärzte Niedersachsens and Westfalens.
693
Schülerinnen werden nur junge Mädchen angenommen, die «ine höhere
Mädchenschule oder, wie sie neuerdings genannt werden, ein Lyzeum
durchgemacht haben oder eine auf anderem Wege erworbene, gleich¬
wertige Allgemeinbildung nachweisen können. Die Schülerinnen erhalten
praktischen Unterricht in der Irrenpflege, indem sie systematisch alle
Abteilungen durchmachen und jede Art von Pflegerinnendienst eine
Zeitlang selbst ausüben, nach dem Grundsätze, dafl nur der eine Arbeit
richtig beurteilen und überwachen kann, der sie selbst einmal ausgeführt
hat. Sie machen also in der Regel zunächst den Dienst einer Wärterin
in den leichtesten, dann in den schwierigeren Abteilungen, später den
Dienst einer Stationswärterin, ebenfalls in verschiedenen Abteilungen,
und schließlich, wenn sie sich dazu eignen, den Dienst einer Hilfsober¬
wärterin.
Daneben erhalten die Schülerinnen theoretischen Unterricht in
allen Zweigen der Krankenpflege und Irrenpflege.
Durch die in Lüneburg gebräuchliche Methode wird erreicht, daß
man in einem ausreichenden Zeitraum beobachten kann, ob sich die
jungen Damen, die Oberwärterinnen werden möchten, tatsächlich für
diesen Beruf eignen. Ein erheblicher Teil erweist sich als nicht geeignet.
Für diesen ist es dann keine Härte, wenn man ihnen eröffnet, sie hätten
keine Aussicht, als Hilfsoberwärterin angestellt zu werden, und man könne
sie nicht anderen Anstalten empfehlen. Da ihnen ihre Ausbildung keinerlei
Unkosten verursacht hat, ist die Erfahrung, die sie über ihre eigene
Leistungfähigkeit machen, nicht zu teuer erkauft.
In Lüneburg werden jetzt nicht nur die Stellen der Hilfsoberwärte¬
rinnen mit Schülerinnen besetzt, die in der beschriebenen Weise ausgebildet
sind, sondern auch die Oberwäscherin hat diese Ausbildung genossen.
Wir sind mit dieser Einrichtung sehr zufrieden. Die Leitung eines modernen
Wäschebetriebes ist an sich nicht schwierig. Sollte eine Maschine nicht
richtig funktionieren, so ist in der Lüneburger Anstalt ein Maschinist
jederzeit sofort erreichbar, und andere technische Schwierigkeiten kommen
kaum vor. Dagegen ist es sehr wichtig und nicht immer leicht, mit den
Kranken, die im Wäschebetrieb beschäftigt sind, geschickt umzugehen.
Das geschieht in Lüneburg sehr viel besser als früher, seitdem wir eine
Oberwäscherin haben, die zur Oberwärterin ausgebildet ist und eine
Zeitlang den Dienst einer Hilfsoberwärterin versehen hat.
.RüWe-Uchtspringe: Gefäßveränderungen und Ab¬
bauvorgänge im Zentralnervensystem nach ex¬
perimenteller Methylalkoholvergiftu ng.
Der Vortragende hat auf Anregung seines Chefs, des Herrn Professor
Ah, amfangreiche Untersuchungen über die pathologisch-anatomischen
Veränderungen im Gehirn und Rückenmark von mit Methylalkohol
tödlich vergifteten Tieren unternommen. Die Arbeit ist in einer vor¬
läufigen Mitteilung in der Münchener medizinischen Wochenschrift
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694
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
erschienen und wird in einer ausführlichen mit zahlreichen Abbildungen
versehenen Publikation in der Zeitschrift für die gesamte Neurologie und
Psychiatrie veröffentlicht werden. Der Vortragende referierte in Kürze
über unsere bisherigen Kenntnisse von dem Wesen der Abbauvorgänge
im Zentralnervensystem, wie sie uns durch die grundlegenden Arbeiten
Alzheimers und seiner Schüler vermittelt worden sind. Er erwähnt dabei
namentlich einer neuerdings aus dem Alzheimerschen Laboratorium
hervorgegangenen Arbeit von Jakob, in der die Abbauvorgänge im Zentral¬
nervensystem, insbesondere deren Beziehungen zu den Gefäßen, eine
besondere Berücksichtigung erfahren haben. Jacob konstatiert auf Grund
seiner Präparate eine unverkennbare Zugrichtung der Fettmassen nach
den Gefäßen hin, beschreibt eine markante Ansammlung lipoider Stoffe
um die Gefäße, gewucherte Gefäßwandzellen und Aufnahme von Fett¬
stoffen in ihr Plasma, sowie eine Aufsplitterung der Gefäßwand selbst.
Die Jaco&schen Untersuchungen sind an degenerativen Vorgängen in der
weißen Substanz des Rückenmarks bei Kaninchen und Affen nach Rücken¬
marksläsionen gemacht, also an Material, bei dem es bereits zur Ausbildung
der typischen Träger der Abbauprodukte, der Körnchen- oder Gitter¬
zellen, gekommen war. Daß es aber auch bei ganz akuten Insulten des
Zentralnervensystems, wie einen solchen die Einverleibung von differenten
Stoffen in den Blutkreislauf darstellt, zu einem äußerst lebhaften Ab¬
transport lipoider Stoffe kommen kann, zu einem Abtransport, der noch
nicht an Körnchen- und Gitterzellen, also degenerative Formen gliogener
oder mesodermaler Herkunft, gebunden ist, sondern sich offenbar auf
dem Wege der noch nicht veränderten Gliazelle vollzieht, konnte der
Vortragende an der Hand zahlreicher mikrophotographischer Aufnahmen
(Dr. Engelken, Uchtspringe) seiner Präparate demonstrieren. Einerlei,
ob es sich dabei um eine aktive Tätigkeit des Zellprotoplasmas oder einen
mehr passiven Mechanismus handelt, daran ließen jedenfalls die großen¬
teils nach dem Lumiäreverfahren hergestellten Diapositive der Präparate
keinen Zweifel, daß auch bei akutesten das nervöse Gewebe treffenden
Schädigungen, wie sie eine schon nach wenigen Stunden zum Tode führende
Methylalkoholvergiftung darstellt, ein lebhafter Abtransport lipoider
Stoffe nach den Gefäßen zu und in diese hinein stattfindet.
Grütter-Lüneburg: Über die bisherigen Ergebnisse
der Wassermannschen Reaktion an der Provinzial-
Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg.
Bisher sind 387 Untersuchungen an 300 Patienten angestellt. Zur
Anwendung kam die Originalmethode nach Wassermann, nur wurde statt
des Luesextraktes wässeriger Extrakt nach Lesser mit gutem Erfolge
gebraucht. Von den untersuchten Patienten reagierten 82 positiv, 218
negativ. Sämtliche 42 Paralysen reagierten im Blute positiv = 100%.
Davon waren 36 klinisch sichere Paralysen, bei den übrigen 6 wurde der
'Verdacht auf Paralyse erst durch den positiven Ausfall der Reaktion
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Verein der Irrenärzte Niedersachsens und Westfalens.
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geweckt oder bestätigt, unter diesen 3 juvenile Paralysen. Der Liquor
wurde in 17 Paralysefällen untersucht, davon reagierten 16 positiv nach
Wassermann, 1 frischer, aber einwandfreier Fall negativ, dieser auch im
Blut schwächer als die übrigen. Die 16 im Liquor positiven Fälle zeigten
auch positive Phase I nach Nonne-Apelt, positiven Güillaint-Parant und
Pleozytose. Die Ausfälle der Wassermannschen Reaktion waren im Liquor
meistens schwächer als im Serum.
1 Fall sicherer Hirnlues zeigte positiven Wassermann im Liquor.
Von 7 Tabesfällen reagierten 5 im Serum positiv, 2 negativ, diese
beiden auch im Liquor negativ.
Von 19 Epileptikern waren 2 positiv im Serum, bei denen Epilepsie
und Lues aber in keinem kausalen Zusammenhang stehen.
Von 15 Idioten reagierte keiner positiv.
Die übrigen positiven Ausfälle waren aus der Anamnese oder nach
dem Befunde ohne weiteres erklärlich.
Die Untersuchungen werden fortgeführt.
In der Diskussion weist Eichelberg- Göttingen darauf hin,
daß die Wassermannsche Reaktion nicht als spezifisch für Lues zu be¬
zeichnen ist, da sie auch bei anderen Erkrankungen vorkommt. In unserer
Gegend bedeutet ein positiver Ausfall allerdings praktisch ziemlich sicher,
daß das betreffende Individuum Lues hat oder gehabt hat. Es ist wichtig,
diesen Unterschied zu machen für die Frage des Zusammenhanges zwischen
Syphilis, Tabes und Paralyse. Der vollkommen sichere Beweis für diesen
Zusammenhang ist auch durch die Wasserma/msche Reaktion noch nicht
geführt. Man kann nur sagen, daß ein- und dieselbe Reaktion bei Lues
und auch bei Paralyse und Tabes sehr häufig vorkommt. Es ist das sicher
auch ein Wahrscheinlichkeitsbeweis mehr für den Zusammenhang der
Lues mit diesen Erkrankungen. — Da die Antigene sehr verschieden
sein können, ist es leider möglich, daß die Untersuchung eines Serums,
in verschiedenen Instituten ausgeführt, verschiedene Resultate geben
kann. Da die Antigene sich im Laufe der Zeit verändern können, ist eine
Zentralisation der Herstellung derselben nur in beschränkter Weise mög¬
lich. — Als positiv können nur die Fälle bezeichnet werden, bei denen
völlige Hemmung eintritt. — Wie zuerst von amerikanischer Seite behauptet
worden ist, scheint reichlicher Alkoholgenuß die Reaktion im Blutserum
zu beeinflussen. Es ist daher nötig, bei der Gewinnung auf den Umstand
zu achten, ob die betreffenden Patienten in den letzten Tagen große Alkohol¬
mengen zu sich genommen haben. — Es ist nicht richtig, zu behaupten,
daß die Lues beim Zustandekommen der Idiotie eine sehr große Rolle
spielt. E. hat bei 150 Idioten die Wassermannsche Reaktion nur 12 mal
positiv erhalten. Bei 38 Kindern, die von sicher luischen Eltern stammten,
die aber geistig und körperlich völlig gesund waren, war die Reaktion
6 mal positiv. — Im Gegensatz zu den Angaben Nonne s hat E. bei Tabes
die ursprüngliche Wassermannsche Reaktion in der Spinalflüssigkeit bei
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696
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Untersuchung von 63 Fällen 23 mal positiv erhalten. Bei Verwendung
von 1 cbcm Spinalflüssigkeit hat E. bei 2 Fällen von multipler Sklerose
positive Reaktionen bekommen. Die Angaben Nonnes müssen nach
dieser Richtung auch weiterhin noch geprüft werden. — Es muß betont
werden, daß die in Betracht kommenden Fälle von Lues cerebri, Para¬
lyse, Tabes usw., bei denen nicht schon klinisch die richtige Diagnose
gestellt werden kann, verhältnismäßig selten sind, daß man praktisch
also nicht allzu häufig die Untersuchung der Spinalflüssigkeit nach
Wassermann usw. notwendig hat.
Bruns- Hannover: Negativer Wassermann ist nicht beweisend, da
trotzdem Lues vorliegen kann. Für den Praktiker ist es außerdem nicht
angenehm, 7 cbcm Spinalflüssigkeit zu entnehmen, er wird zur Diagnose¬
stellung Wassermann auch nur in wenigen Fällen benötigen, da bei Tabes
das Vorhandensein von Lues ihm sichersteht, ähnlich bei Paralyse. Wenn
Vortragender von juveniler Paralyse und hereditärer Lues gesprochen
habe, so sei zu bedenken, daß viele Fälle erst post partum angesteckt
seien, z. B. durch Ammen. Viele intra partum Infizierte hätten keine
hereditäre Lues, sondern nur dann, wenn sie im Mutterleibe erkrankt
seien oder die Infektion mitbekommen hätten, zunächst keine Erschei¬
nungen böten und erst nach Jahren an Paralyse oder Tabes erkrankten.
Man solle also lieber den Ausdruck ,,früh erworben“ gebrauchen.
.EtcÄeZ&erg-Göttingen: Organische Geistes- und Nerven¬
krankheiten nach Unfall
Die Begutachtung derartiger Fälle kommt gegenüber den funktionellen
Nervenerkrankungen verhältnismäßig selten vor. Bei den letzten 1000
Gutachten, welche in der Nervenklinik zu Göttingen angefertigt wurden,
handelte es sich nur in 34 Fällen um organische Erkrankungen. (Paralyse 5:
Tumor 5; Spätaploplexie 1; Tabes 4; multiple Sklerose 6; Syringomyelie 2;
Myelitis 2; Paralysis agitans 3; Epilepsie 6). Es ist nicht richtig, auf Grund
einer leichten Drucksteigerung der Spinalflüssigkeit allein eine organische
Veränderung des Zentralnervensystems anzunehmen. Bei vielen Er¬
krankungen, so bei Bleichsucht, chronischem Alkoholismus und auch bei
Blutdrucksteigerung können wir Drucksteigerungen der Spinalflüssigkeit
bis auf 180 und sogar 200 mm finden, ohne daß eine organische Ver¬
änderung am Zentralnervensystem nachweisbar ist. — Wir wissen über
den Zusammenhang organischer Erkrankungen des Zentralnervensystems
mit Unfall noch sehr wenig. Auch die experimentellen Untersuchungen
auf diesem Gebiete haben uns noch nicht viel weiter gebracht. Da wir
genaues über diese Frage noch nicht wissen, müssen wir unter gewissen
Umständen einen derartigen Zusammenhang zugeben, und man darf bei
praktischer Beurteilung dieser Frage nicht zu skeptisch sein. Um einen
Zusammenhang anzunehmen, muß aber festgestellt werden, daß die
vorliegende Erkrankung nicht schon vor dem Unfall bestanden hat, daß
der Unfall schwer gewesen ist und insbesondere mit einer gewissen Schädi-
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Verein der Irrenärzte Niedersachsens and Westfalens.
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gung (Erschütterung oder dergleichen) des Zentralnervensystems einher¬
gegangen ist, und daß ein zeitlicher Zusammenhang zwischen Unfall und
Beginn der Erkrankung besteht. Was den letzten Punkt angeht, so ist
zu bemerken, daß in den meisten Fällen sofort nach dem Unfall noch keine
Erscheinungen vorhanden sind, die auf eine organische Erkrankung hin¬
deuten. Diese Symptome entwickeln sich erst langsam. Es muß aber
verlangt werden, daß die ersten Symptome der Erkrankung spätestens
Y «—1 Jahr nach dem Unfall auftreten. — Was im speziellen den Zusammen¬
hang zwischen Tabes und Paralyse mit Unfall angeht, so muß berück¬
sichtigt werden, daß eine Lues hierbei ziemlich sicher immer in Betracht
kommt. Unter den oben angeführten Bedingungen kann aber ein Trauma
trotzdem als auslösendes Moment angesehen werden, da wir ja wohl ziem¬
lich sicher wissen, daß es keine Paralyse und Tabes ohne Lues gibt, da
wir aber auch ebensogut wissen, daß den meisten Fällen von Lues keine
Paralyse oder Tabes folgt. — Beim Zustandekommen der Myelitis kann
es sich öfter um zwei verschiedene Schädigungen handeln. Durch einen
vorausgegangenen Abszeß oder dergleichen können sich Infektionserreger
in der Blutbahn finden. Durch ein Trauma wird ein Locus minoris resisten-
tiae am Rückenmark geschaffen, und es kommt dann hier zu einer neuen
entzündlichen Veränderung. Derartige Fälle sind natürlich auch als
durch den Unfall bedingt anzusehen. — Wenn man glaubt, einen Zu¬
sammenhang zwischen Unfall und organischer Nervenerkrankung an¬
nehmen zu können, so ist es praktisch wichtig, in dem Gutachten darauf
hinzuweisen, daß eine an „Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit“
für diesen Zusammenhang vorliegt, da dieses der entsprechende Wortlaut
der Reichsversicherungsordnung ist.
Diskussion. — Cramer-Göttingen: Es sei nicht richtig, wenn
in manchen Lehrbüchern stehe, daß ein Zusammenhang zwischen Unfall
und Krankheit nur anzunehmen sei, wenn ein ununterbrochener Symp-
tomenkomplex bestehe; erwähnt einige Beispiele aus der Praxis, so Fälle
von Paralysis agitans und Landryscher Paralyse, für die Unfälle ver¬
antwortlich gemacht wurden, obwohl die Krankheiten schon vorher
vorhanden waren. Besonders bei Paralyse solle oft ein Unfall schuld sein.
In der Diskussion bemerkt weiterhin Bruns -Hannover, man müsse
in der Gutachterpraxis bisweilen Zusammenhänge annehmen, die man
wissenschaftlich nicht beweisen könne, so z. B. in einem Falle, der nach
Unfall Symptome von Hirntumor darbot, während sich bei der Sektion
ein Zystizerkus fand, der sicher vor dem Unfall schon vorhanden war.
Ähnliche Erfahrungen mache man bei Paralyse und Tabes; am ehesten
noch könne man bei multipler Sklerose einen Zusammenhang mit einem
Unfall als vorliegend erachten, die Symptome könnten da bisweilen sehr
schnell auftreten.
Bei Hirntumor fehle häufig ein kontinuierlicher Symptomenkomplex;
wo ein solcher nach dem Unfall sich entwickle und außer dem Tumor an
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
der betreffenden Stelle Reste der Verletzung zu finden sind, könne man
einen Zusammenhang annehmen.
Redepenning- Göttingen berichtete über die neue Provinzial-
Heil- und Erziehungsanstalt in Göttingen, die für
54 männliche, schulentlassene, psychopathische Fürsorgezöglinge ein¬
gerichtet, Anfang April in Betrieb genommen ist und unter ärztlicher
Leitung steht.
Ein ausführlicher Bericht erfolgt an anderer Stelle.
In der Diskussion bemerkt Cramer -Göttingen, daß unter
den Fürsorgezöglingen ein Teil gut gerät, ein Teil seien Imbezille, andere
wieder zeigten degenerative Charaktereigenschaften; nur letztere stören
die Fürsorgeerziehung. Für diese nicht geisteskranken, aber psycho¬
pathischen Individuen sei die neue Anstalt eingerichtet. Es gebe auch
Fälle, die in der Pubertätszeit etwa 2—3 Jahre lang psychopathische
Symptome darböten, welch letztere dann völlig schwänden.
Stüöer-Hildesheim.
Jahresversammlung des Deutschen Vereins für
Psychiatrie zu Kiel am 30. und 31. Mai 1912.
Anwesend: Adams-Köln-Lindenthal, Aher-Leubus, Aher-Linden-
haus, A/zAeimer-München, Anton-Halle, Arndt-Meiningen, Backenköhler
Aplerbeck, FarAo-Pforzheim, Baumann -Teupitz, Fee Aer-Weil mü nster,
Bergl- Prag, FiseAo#-Langenhorn, Ble uler - Bu rghölzli, FoecA-Troppau,
FoedeAer-Schlachtensee, Bodet- Brauweiler, Bonhoeffer -Berlin, Bouman-
Amsterdam, Frandf-Eglflng, Braune -Conradstein, Buddeberg vierzig,
Fünger-Großwusterwitz, Camerer-Stuttgart, Cimbal- Altona, Clemens-
Eickelborn, Cohen- Königslutter, Cramer-Göttingen, Dabeistein -Neustadt,
Dannemann-Gießen, Dannenberger -Goddelau, Dees-Gabersee, Dinter- Brieg,
Fccard-Frankenthal, M. Fdef-Charlottenburg, v. Ehrenwall- Ahrweiler, Eich-
bäum- Schleswig, Eichelberg- Göttingen, FncAe-Ueckermünde, van Erp
Talman Kip -Amsterdam, Fabricius -Düren, Fa/A-Kortau, Feldkirchner-
Regensburg, M. FiscAer-Wiesloch, O. Fischer-Prag, Friedländer- Hohe Mark,
Gallus- Potsdam, Gaupp-Tübingen, Geist-Untergöltzsch, Geriing-Merxhausen,
G/üA-Haniburg, Goldstein- Königsberg, Gottschick-Dösen, Gro/3-Rufach,
v. GraAe-Hamburg-Friedrichsberg, J/aardt-Emmendingen, Hannen-Kiel.
FdusAa/tor-Friedrichsort, Hegemann - Warstein, Heller- Haina, Herfeldt-
Ansbach, Hermkes- Eickelborn, J/erttng-Galkhausen, Herwig -Marsberg,
Hieronymus -Lauenburg i. P., Hinrichs -Schleswig, Hirschfeld- Berlin,
Hoche- Freiburg i. B., Hock- Bayreuth, Hoffmann -Eberswalde, Holzer-
Warstein, Hügel- Klingenmünster, Jaspersen -Preetz, Aa/Aa-Hamburg-
Friedrichsberg, AaA/Aaum-Görlitz, Aa/rer-Klingenmünster, Aaston-Rostock.
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Deutscher Verein für Psychiatrie.
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Aehrer-Kiel, JTetz-Schwetz, Kirchhoff-Schleswig, Klapper-Kiel, Kleffner-
Münster, ÄJuge-Potsdam, JTnörr-Teupitz, Robert- Kiel, JToch-Schussenried,
fönig-Kiel, Körtke -Langenhorn, Kräpel in -München, Krebs -Allenberg,
Areucer-Winnental, Aürhüz-Sonnenstein, Aumfc-Deggendorf, Kurz-
Pfullingen, .Lachmund-Münster i. W., Hans Laekr - Schweizerhof, Max Laehr-
Haus Schönow, lange- Jericho, Lantzius-Beninga- Weilmünster, Lehmann-
Coswig, Lemberg- Eglfing, A. Leppmann-Berlin-Moabit, Lienau -Hamburg,
Xongard-Sigmaringen, Lüdemann -Hamburg, Lütgerath - Sch leswig, Mercklin-
Treptow a. R„ E. Meyer- Königsberg, Moeli- Berlin, AföMcr-Lichterfelde,
CL Neißer- Bunzlau, Neuhaus- Düsseldorf, Oerter-Kutzenberg, Ollendorff-
Schöneberg, Orthmann- Johannistal, Oßtvald- Gießen, Oster- Illenau, Paetz-
Alt-Scherbitz, Passow- Kropp, Peretti-Grafenberg, Pförringer- Hamburg,
Piaut-München, Profcsf-Eglfing, Rabbas -Neustadt i. Westpr., v. Rad-
Nürnberg, Raecke -Frankfurt, Ranke -München, Rautenberg- Hamburg, Rehm-
Bremen, Repkewitz- Schleswig, Rittershaus- Hamburg, Robert-Kiel, Roßbach
Hubertusburg, Pühfe-Uchtspringe, Äusr-Nietleben, A. Schaefer- Roda,
G. Schaefer- Hamburg, .Schcrenfcerg-Warst ein, iScA/ürer-Kiel, A. Schmidt-Soren,
Heinr. Schmidt- Kiel, P. .Schröder-Breslau, Schulte-Marsherg, E. Schultze-
Greifswald, H.Schultze- Schleswig, Schuppius-Rostock, Schwabe- Plauen, Selle-
Neuruppin, Siemens -Lauenburg i. P., Siemerling- Kiel, Sierau -Langenhorn,
.Stmon-Warstein, .Sinn-Neubabelsberg, .SneM-Lüneburg, Spielmeyei--Frei-
burg i. B., Sprengel-GreiQehberg, Stallmann- Merzig, Sm/nm-Ilten, Star-
gordr-Kiel, Ärarhe-Neustadt i. H., F. «Stern-Kiel, Stertz- Bonn, Stier- Berlin,
StoUenhoff -Kortau, Stransky-Wien, Subotisch- Belgrad, v. ^t/do«'-Uecker¬
münde, Thomsen- Bonn, Többen- Münster i. W., Treiber- Landsberg a. W.,
Trömner- Hamburg, Tuczeh-Marburg, Urstein -Warschau, Utz-Ansbach,
Koche-Eglfing, Wahrendor ff-Ilten, Wakher-Neustadt i.H., Wanke - F riedrich -
roda, Warda- Blankenburg, Wassermeyer-Ronn, L. Weher-Chemnitz,
Weiche Ir-Andernach, Wei/enhach-Goddelau, Weiler- Westend, Weißenbom-
Schleswig, Werner-Owinsk, A. Westphal- Bonn, Wewrum-Marsberg, Wey-
gandt-H amburg, Zinn -Eberswalde (189 Teilnehmer).
Vorsitzender: Moeli. Schriftführer: Kehrer, König, Stern.
1. Sitzung: Donnerstag, 30. Mai, vorm. 9 Uhr.
Der Vorsitzende eröffnet die Versammlung und gedenkt der Ver¬
storbenen: Unruh-Tapiau, Arömer-Conradstein, Behrendt- Sayn, Jastrowitz-
Berlin, Länderer-And e rn ach, Peye-Hamburg, Skierlo- Potsdam, Tauben-
Lauenburg. Es folgen Begrüßungsansprachen durch den Rektor der
Universität, Prof. Dr. Sudhoff, Oberbürgermeister Fuß, Dekan Prof.
Dr. Heine und Landesrat Bachmann.
Hierauf wird zur wissenschaftlichen Tagesordnung übergegangen.
I. Referat. Die Bedeutung der Symptomenkom-
plexe in der Psychiatrie, besonders im Hinblick
auf das manisch-depressive Irresein.
Als 1. Referent bespricht Hochs- Freiburg i. B. dieSymptomen-
Zeitschrift für Psychiatrie. LXIX. 5. 48
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700
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
komplexe in ihrem Verhältnis zu Krankheitformen einerseits, zu Elementar¬
symptomen andererseits, oder mit anderen Worten: den heutigen Stand
unserer klassifikatorischen Bemühungen. In kurzem Abriß wird die
Entwicklung des heutigen Standes der Klinik durchlaufen und das sicher
Fundierte von dem schwankenden Besitzstand getrennt. Wenn abgezogen
wird, was anatomisch einheitlich sich darstellt, was toxisch-ätiologisch
zusammengehört, so bleibt als das schwierigste Kapitel das Gebiet der
„funktionellen“ Psychosen, ein Begriff, dessen Doppelsinn erörtert wird.
Darunter verstanden soll werden: die nicht schicksalmäßig mit Defekt
endigenden Seelenstörungen. Dieses große Kapitel ist dauernd in stärkster
Bewegung begriffen. Der Vortragende skizziert die quantitativen Schwan¬
kungen in der Einzelumgrenzung, die eine Zeitlang die Paranoia, dann die
Dementia praecox, dann das manisch-depressive Irresein als häufigste
Diagnose in den Vordergrund drängte. Daß diese Sammelkästen, die
stellenweise mehr als die Hälfte aller Diagnosen umfassen, für wissen¬
schaftliche und praktische Zwecke viel zu groß sind, wird im Ernste von
niemand bestritten. Trotzdem unterhält der unverwüstliche Glaube
an die Findbarkeit „reiner Krankheitformen“ das unausgesetzte Bemühen,
durch Neugruppierungen und Umgruppierungen der Erscheinungen zum
Ziele zu gelangen. Trotz zahlreicher objektiver und subjektiver Be¬
schwichtigungsmomente ist doch die Zahl derer im Wachsen, die für das
vorhin umgrenzte Gebiet nicht mehr an reine Krankheitformen glauben,
und die sich darüber klar sind, daß wir fortgesetzt durch das Ignorieren
störender Symptome und das Hineinsehen der fehlenden in die Krankheit¬
zustände die theoretisch geforderten Symptomgruppierungen zusammen¬
bekommen. Referent belegt diese Ausführungen mit Beispielen aus der
Geschichte der Psychiatrie. Der Hauptvertreter des klassifizierenden
Optimismus ist heute Kräpelin, der unerschütterlich an seiner Forderung
der Zerlegung in kleine und kleinste Gruppen und monographischer
Bearbeitung derselben festhält.
Wenn bei unbefangener Prüfung zugegeben werden muß, daß die
tatsächliche Erfahrung uns heute den Glauben an die Existenz reiner
Krankheitformen nicht zu nähren vermag, so wird andererseits auch
eingesehen werden müssen, daß auch die theoretischen Voraussetzungen
wenig geeignet sind, den Glauben an die Existenz solcher Formen zu
stützen. Zweifellos stehen wir noch zu sehr im Bann oder unter der Nach¬
wirkung der anatomischen Lokalisationslehren. Gewiß können wir eine
Reihe psychischer Ausfallerscheinungen, die durch Leitungsunterbrechung
erzeugt werden, insoweit lokalisieren, als wir Vorhersagen können, wo eine
Läsion zu finden sein wird; aber es ist bei dem heutigen Stand unseres
Wissens im höchsten Maße unwahrscheinlich, daß Erscheinungen wie Ge¬
fühl, Stimmung, Trieb, Wille usw. an irgendwelche umschriebene Ört¬
lichkeiten im Gehirn gebunden sein sollten. Wenn wir zu der Annahme
kommen, daß bei diesen höheren psychischen Verrichtungen ein Zusammen-
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UNIVERSITY OF MICHSGAN
Deutscher Verein für Psychiatrie.
701
wirken vielleicht sehr zahlreicher Hirngegenden notwendig ist, von denen
jede einzelne eine Störung des Vorganges hervorrufen kann, so würde
überhaupt die Möglichkeit einer Rückbeziehung komplizierter psychischer
Vorgänge auf einzelne anatomische Veränderungen unsinnig sein. Wir
wissen ja auch gar nicht, ob nicht auf denselben Bahnen oder in denselben
Gehirnabschnitten, je nach der Form des Erregungsvorganges sehr
verschieden, von uns von innen als psychisch empfundene Vorgänge ab-
laufen können. Ist dieses alles so, dann ist die Anatomie überhaupt un¬
brauchbar, um als Abgrenzungsmoment psychischer Krankheitformen
zu dienen, und wir hätten hier den Punkt, an dem die häufig gesuchte
Analogie zwischen innerer Medizin z. B. und Psychiatrie in der Zurück¬
beziehung klinischer Symptome auf die materielle Grundlage versagt.
Also: weder die klinische Erfahrung noch die theoretische Betrachtung
führt zu der Annahme der Wahrscheinlichkeit reiner Krankheitformen
bei den funktionellen Psychosen. Die Gegenprobe wird von der Natur
sehr häufig gemacht, indem gerade die Psychosen mit bekannten anatomi-
chen Vorgängen, mit bestimmtem Verlauf und Ausgang symptomatisch
die regellosesten sind.
Der Vorgang, der scheinbar wohl fundierte Krankheitbilder ihres
einheitlichen Charakters entkleidet, ist bei den Grenzgebieten zwischen
Neurologie und Psychiatrie schon längst im Gange, wie die Geschichte
der Hypochondrie, der Neurasthenie und Hysterie zeigt. Übrig bleiben
dabei gewisse Reaktionsformen des Individuums, über deren
Kennzeichen im gegebenen Fall wir alle uns einig sind. Wir kennen schon
unter den psychopathischen Persönlichkeiten eine ganze Reihe weiterer
derartiger abnormer Reaktionsformen: die konstitutionelle Verstimmung,
den mißtrauisch-paranoischen, den chronisch-manischen, den quäru-
lierenden Charakter usw., Erscheinungen, die den dringenden Hinweis
geben, daß bestimmte präformierte Symptomverkuppelungen in der
normalen und in der krankhaft disponierten Psyche vorhanden sind.
Auch in den ausgesprochenen Psychosen ist gerade die Wiederkehr be¬
stimmter Symptomenkomplexe dasjenige, was uns die Sicherheit des
Erkennens und des Handelns gibt, ohne daß es sich dabei um die Diagnose
einer bestimmten reinen Krankheitform handelte. Man hat den Eindruck,
daß, wie die Komponenten des epileptischen Anfalls parat liegen und durch
bestimmte toxische oder andere Momente nicht erzeugt, sondern nur aus¬
gelöst werden, in ähnlicher Weise Symptomverkuppelungen vorhanden
sind, die durch gewisse Anstöße innerer oder äußerer Art mobil werden.
Den reinsten Typus, den wir heute erkennen, würde z. B. darstellen:
die Verbindung von Depression, Minderwertigkeitsgefühl, Darnieder¬
liegen des Willens, oder: von gehobener Stimmung, erleichterter motori¬
scher Auslösung, oder: der katatonische Symptomenkomplex, oder
das gesetzmäßige Verhältnis zwischen Sinnestäuschungen und Wahn¬
ideen und vieles andere, was wir finden werden, wenn wir danach suchen.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
702
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Möglicherweise werden die Psychosen sich eines Tages gruppieren in
solche, die auf dem Wege toxischer oder grob anatomischer Beeinflussung
neue Symptomgruppierungen in die Erscheinung rufen, und solche,
die paratliegende nur auslösen. Zu den letzteren würden
sicherlich die Fälle von Manie, Melancholie und von periodischem Irre¬
sein gehören. Diese Symptomverkuppelungen habe ich früher schon
als Einheiten zweiter Ordnung den Elementarsymptomen
einerseits, den reinen Krankheitformen andererseits gegenübergestellt.
Ich halte eine Erörterung unserer Arbeitsmethoden in dieser Richtung
für aussichtvoller, als das immer wieder fruchtlose Suchen nach reinen
Krankheitformen (Ausführliche Veröffentlichung in der Ztschr. f. d. ges.
NeuroL u. Psychiatrie).
Afzfteimer-München (Korreferat):
Die Psychiatrie muß, wenn sie zu einer Beherrschung ihres Stoffes,
zu der Möglichkeit einer Prognosestellung, einer Therapie und einer Pro¬
phylaxe kommen will, ebenso wie es die anderen medizinischen Disziplinen
erreicht haben, zu einer Einordnung der Symptomenbilder in Krankheiten
zu kommen suchen. Auch auf dem Gebiete der organischen Psychosen
glaubte man früher sich mannigfach überschneidende Kreise zu sehen,
hat aber schließlich scharfe Begrenzungslinien zwischen den einzelnen
Krankheiten (Paralyse, Lues, Arteriosklerose, senile Demenz) ziehen
lernen. Ebenso ist auf dem Gebiete der sogenannten funktionellen Psy¬
chosen, wo man heute noch Übergänge zu sehen glaubt, zu hoffen, daß
wir mit dem Fortschritt unserer Erkenntnis zur besseren Abtrennung
einzelner Krankheiten und zur Gliederung der hier vorhandenen besonders
großen Krankheiteinheiten in einzelne durch Besonderheiten der Sym¬
ptome und des Verlaufs charakterisierte Typen gelangen werden.
Die Wege, die uns hier noch weiter führen können, sind erstens die
pathologische Anatomie.
Ohne Grund wird heute vielfach behauptet, daß sie für die Psychiatrie
nichts mehr leisten könne. Zunächst aber kann sie gerade für die Beziehung
der Symptomenkomplexe zu den Krankheiten mancherlei lehren. Experi¬
mentelle Untersuchungen sowie das Studium der Infektionspsychosen
deuten darauf hin, daß bestimmte Reaktionsformen nicht von der Art
des Giftes, sondern von dessen Dosierung abhängen. Bei den amentiellen
Zuständen und leichten Delirien finden sich andere Veränderungen als
bei den schweren und wieder andere bei den schwersten, den Delirium
acutum-artigen Verlaufsformen.
Weiter zeigt sich, daß bei bestimmter Dosierung nicht jedes Gift
gleich verbreitete Schädigungen im Zentralnervensystem setzt, sondern
elektiv die einen Teile schwerer, die anderen geringer schädigt. Diese
elektive Giftwirkung läßt erwarten, daß durch die verschiedene Lokalisation
der Hirn- und Rindenschädigung auch klinisch verschiedene Krankheit -
bilder erzeugt werden.
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Deutscher Verein für Psychiatrie.
703
Aber auch bei der Aufgabe, für einzelne Krankheiten charakteristische
Gewebsveränderungen zu finden, sind keineswegs unsere Mittel und Wege
erschöpft. Die Hoffnung ist berechtigt, daß wir bald die anatomische
Grundlage der Dementia praecox festgestellt haben werden. Bei den
Infektions- und Intoxikationspsychosen finden sich immer mehr charakte¬
ristische Befunde. Hin und wieder begegnen uns heute noch nicht bekannte
histologische Krankheitprozesse, so daß wir hoffen können mit Hilfe der
Histologie klinisch Dicht oder noch nicht genügend bekannte Krank¬
heiten abgrenzen zu lernen. Die Epilepsie werden wir immer mehr auflösen
können, die Idiotie ist heute schon in zahlreiche verschiedene Krankheiten
abzutrennen. Auch auf dem Gebiete der organischen Erkrankungen
lassen sich neue Krankheitprozesse erkennen und bekannte noch weiter
aufklären; namentlich verspricht das Studium der verschiedenenLokali-
sationsformen der letzteren im Vergleich zu den klinischen Bildern weitere
interessante Ergebnisse. Wenn alle diese lösbaren Aufgaben gelöst sein
werden, wird auch der klinischen Psychiatrie mancher Vorteil für die
Abgrenzung ihrer Krankheiten zugeflossen sein. Überall kann die Anatomie
nicht helfen.
Zweitens kann uns auch die klinische Forschung, die Verfeinerung un¬
serer Symptomenlehre sicher noch vorwärts bringen. Bonhoeffer hat neuer¬
dings auf die weitgehende Übereinstimmung der verschiedenen organischen
Demenzformen hingewiesen. Daß sie aber auch Besonderheiten haben
müssen, wird durch die Erfahrung bewiesen, daß man aus ihnen allein
in der Mehrzahl der Fälle die richtige Diagnose stellen kann. Die schizo-
phrenische Demenz ist ein ganz eigenartiger Defektzustand, wie das
Bleuler besonders klar dargelegt hat. Auch die einengende epileptische
Demenz ist gegenüber der die Persönlichkeit zerspaltenden schizophreni-
schen von besonderer Art. So gibt es also sicher verschiedene, unter¬
scheidbare Demenzen. Es fehlt uns aber noch sehr an genauen Unter¬
suchungen und an präziseren Formeln für die Unterschiede.
Gewiß ist richtig, was Bonhoeffer und Schröder neuerdings betont
haben, daß die Reaktionsformen der akuten Intoxikationen eine gewisse
Eintönigkeit zeigen. Man braucht sich aber nur einmal akut mit Alkohol
und akut mit Meskalin zu vergiften (die akute Meskalinvergiftung ist von
Knauer eingehend studiert worden), um bei seiner Betrachtung von innen
sich überzeugen zu können, daß neben mancher Ähnlichkeit die weit¬
gehendsten Unterschiede bestehen. Diese übersehen wir heute noch zu
leicht. Daß das nicht immer so bleiben muß, beweist der Umstand, daß
wir auch hier schon Fortschritte gemacht haben. Die verschiedenen
Stuporformen zeigen uns heute schon weit mehr Unterschiede als früher.
Heute verwechseln wir nicht leicht mehr eine psychogene Haftpsychose
mit einer Dementia praecox, was früher manchem Psychiater passiert ist.
Drittens dürfen wir auch von der Ursachenforschung weitere Hilfe bei
der Abgrenzung der einzelnen Krankheiten erhoffen.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
704
Verandlnngen psychiatrischer Vereine.
Hier haben die Erfahrungen mit der Paralyse sehr aufklarend ge¬
wirkt. Dutzend Ursachen finden wir in der alten Literatur als gleich¬
wertig angegeben. Heute ist es eine geworden, die Lues; die anderen
sind als bedeutunglos erkannt, oder sie spielen nur die Rolle auslösender
Momente, da sie den Verlauf der Krankheit gar nicht beeinflussen. So
müssen wir uns heute fragen, ob es denn mit den vielen Ursachen der
anderen Krankheiten nicht ebenso steht. Ein weiterer wichtiger Fortschritt
in der ätiologischen Forschung bedeutet die Erkenntnis von den ätiologi¬
schen Zwischengliedern ( Bonhoefler ). So zeigt sich, wie namentlich von
Kraepelin dargelegt worden ist, daß der Alkohol nicht so ganz verschiedene
Krankheiten veranlaßt, wie man früher annahm. Der Fortschritt der
ätiologischen Forschung hat entschieden zu einer Vereinheitlichung der
Ursachen geführt, und damit kann uns auch die ätiologische Forschung
für die Krankheitabtrennung nützlich werden. Die Erblichkeitsforschung
wird noch manche dunkle Frage heller beleuchten können.
Daß die Wege gangbar sind, beweist auch, daß sie bisher immer
noch weiter geführt haben. Am besten sehen wir das am manisch-
depressiven Irresein. Manche Fehler, die wir früher in der Prognosestellung,
in der forensischen Beurteilung gemacht haben, können wir, wie an Bei¬
spielen dargelegt wird, heute durch unsere bessere Kenntnis der Be¬
ziehungen der Symptomenkomplexe zum manisch-depressiven Irresein
vermeiden.
Die Erkenntnis, daß eine Anzahl der Symptomenbilder der akuten
Paranoia und Verwirrtheit, die sogenannten Mischzustände, die leichteren
Formen, die Zyklothymien, Fälle von chronischen pathologischen Affekt¬
lagen nach der depressiven oder der exaltativen Richtung, einzelne Fälle
von chronischer Paranoia und Querulantenwahn, ein Teil der Fälle von
Kraepelins Melancholie zum manisch-depressiven Irresein gehören, be¬
deutet unbestreitbar ebensoviele Fortschritte in der Erkenntnis desselben.
Auch die Heraushebung der reaktiven Depressionen stellt einen solchen
Fortschritt dar.
Man sagt nun, das manisch-depressive Irresein sei damit uferlos
und als Krankheitbegriff ganz unbrauchbar geworden. Wir diagnostizieren
aber gar nicht manisch-depressives Irresein, sondern einen der vielen
Typen desselben, und die Erkenntnis der Zugehörigkeit zum manisch-
depressiven Irresein legt uns nur eine gewisse Vorsicht nahe bei der
Stellung der Prognose.
Daß es auch auf anderem Gebiete vorwärts gegangen ist, beweist,
neben manchem anderen, Bonhoeffers letztjähriges Referat über die psy¬
chogenen Geistesstörungen.
Wenn auch Irrwege eingeschlagen worden sind, so ist dies bei der
Schwierigkeit, vorwärts zu kommen, nicht zu verwundern. Weitere
Arbeit läßt sie als solche schon erkennen.
Die klinische Psychiatrie wird, wie die übrige Medizin dazu ge
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Deutscher Verein für Psychiatrie.
705
kommen ist, auch eine immer bessere Einordnung der Symptome nbilder
in Krankheiten erreichea Es ist nur nötig, daß wir nicht resignieren,
sondern mit allen Mitteln weiter arbeitea —
Die Diskussion der Vorträge wurde verschoben bis nach
Anhörung der inhaltverwandten Vorträge von Kleist und Urstein.
Kleist -Erlangen: Über chronische, wahnbildende
Psychosen des Rü c k b i 1 d u n g s alt e r s, besonders
im Hinblick auf deren Beziehungen zum manisch-
depressiven Irreseia
Die chronischen, wahnbildenden Psychosen des Rückbildungsalters
bilden trotz ihrer Häufigkeit ein noch sehr der Klärung bedürftiges Gebiet
der Psychiatrie. Die Kraepelinschen Krankheitbegriffe der Spätkätatonie
und des präsenilen Beeinträchtigungswahns bilden hier vorläufig die ein¬
zigen Richtpunkte, wenn man von den paranoischen Zustandbildern,
die gelegentlich im Beginn und Verlauf der arteriosklerotischen und der
senilen Gehirnerkrankung auftreten, sowie von psychogenen paranoischen
Erkrankungen absieht, die im Präsenium ebensogut wie auf anderen
Alterstufen entstehen könnea Es erwies sich indessen als unmöglich,
die klinisch noch nicht näher bekannten präsenilen chronischen wahn¬
bildenden Psychosen, die im Laufe der letzten 3 Jahre an der Erlanger
Klinik beobachtet wurden, zwischen Spätkatatonie und präsenilem Be¬
einträchtigungswahn aufzuteilea Allerdings ergaben sich auch dem
Vortr. zwei Typen chronisch-wahnbildender Erkrankungen des Präseniums,
die offenbar wesensverschiedenen Krankheitarten angehören, und deren
kennzeichnende Merkmale zum Teil mit den von Kraepelin für die Spät¬
katatonie und den präsenilen Beeinträchtigungswahn angegebenen Be¬
stimmungen zusammenfallea
Vortr. unterscheidet zunächst eine Gruppe wahnbildender
Erkrankungen, die er vorläufig als Spätformen paranoid f e A r
Demenz von der Spätkatatonie abtrennen möchte. Die hierher¬
gehörenden Fälle lassen von Anfang an oder nach kurzer Dauer einen
Zerfall des Bewußtseinsinhalts {Wernicke s „inhaltliche Verwirrtheit“),
oft gepaart mit Störungen des sprachlichen Ausdrucks (agrammatische
Störungen, Wortneubildungen) erkennen, ohne daß katatonisch-psycho¬
motorische Symptome aufträten. Ausgang in eigentliche Demenz ist
selten. Die Wahnbildung scheint nur eine Äußerung des Zerfalls des
Bewußtseinsinhaltes zu sein; viele Wahnvorstellungen sind einfach un¬
gereimte Vorstellungsverknüpfungen („Fehlgedanken“), die im Gegen¬
sätze zu den Verfolgungs-, Größen- und Kleinheitsvorstellungen keinen
affektiven Kern besitzen. Die Verfolgungs- und Größenvorstellungen, die
stets daneben Vorkommen, sind maßlos, barock, widerspruchvoll, wechselnd.
Die begleitenden Affekte entsprechen nach Art und Intensität nicht den
Wahnvorstellungen, obwohl das Gefühlsleben sonst in normaler Weise
ansprechbar bleiben kann, eine „gemütliche Verblödung“ vermißt wird.
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Sinnestäuschungen, insbesondere Phoneme, spielen eine große Rolle.
Während es sich bei diesen Fällen um „paranoide“ Zustände
handelt, d. h. um Krankheitbilder, bei denen sich hinter der Maske der
Wahnbildung ein Zerfall des Bewußtseinsinhaltes vollzieht, verdient
die zweite Gruppe von Fällen die Bezeichnung paranoische
Erkrankungen wirklich. Vortr. möchte die hier vorliegende Krankheit
„Involutionsparanoia“ nennen. Es handelt sich um Leute,
ganz überwiegend um Frauen, die zwischen dem 40. und 51. Lebensjahr —
Frauen um die Zeit des Klimakteriums — erkranken. Die Krankheithöhe
wird meistens erst einige Jahre nach dem Klimakterium, bald in allmählich
ansteigendem Verlaufe, bald auf dem Wege wiederholter akuter Schübe,
erreicht. Die psychische Veränderung wird nach einiger Zeit stationär.
Inhaltliche Verwirrtheit, Demenz, gemütliche Verblödung fehlen ebenso
wie grammatische Störungen, Wortneubildungen und katatonisch-psycho¬
motorische Erscheinungen. Das wesentliche an der psychischen Veränderung
ist eine affektive Umstimmung im Sinne einer in mannig¬
fachen Nuancen erscheinenden gemischten, teils ängstlichen, teils ge¬
hobenen AfTektlage, deren bezeichnendste Ausprägung der , Affekt
des Mißtrauens ist. Diese krankhafte Verstimmung führt zu
Mißdeutungen und Wahnvorstellungen in der Richtung der Verfolgung
und, wenn die heitere Stimmungskomponente mehr hervortritt, auch
in der Richtung der Selbstüberschätzung. Nie fehlen Sinnestäuschungen,
und sehr oft besteht eine gesteigerte, gelegentlich in Ideenflucht über¬
gehende Vorstellungstätigkeit, der dann gewöhnlich ein lebhaftes Mit-
teilungs- und Betätigungsbedürfnis parallel geht. An den Sinnes¬
täuschungen und der krankhaft gesteigerten Phantasie liegt es, daß die
Wahnvorstellungen zum Teil einen befremdlichen, ja abenteuerlichen
Charakter gewinnen, wodurch sie rein äußerlich den Wahnvorstellungen
der Spätformen paranoider Demenz ähnlich werden können.
Mit Kraepelins präsenilem Beeinträchtigungswahn stimmen diese
Fälle insofern überein, als auch bei jener Erkrankung eine mißtrauische
Verstimmung zu herrschen scheint. Doch können die Krankheitbilder
nicht identisch sein, da beim präsenilen Beeinträchtigungswahn Hallu¬
zinationen und Größenideen fehlen und die Beeinträchtigungsideen flüchtig
und wechselnd sein sollen. Die Erkrankungen, die der Vortr. als „In¬
volutionsparanoia“ bezeichnet, sind auch viel häufiger als nach K.s Angabe
der präsenile Beeinträchtigungswahn ist. Vortr. hat noch keinen Fall
gesehen, auf den die Beschreibung des präsenilen Beeinträchtigungswahns
genau zutreffen würde. Am nächsten kommen dem von K. geschilderten
Bilde nach den Erfahrungen des Vortr. Fälle, die neben paranoischen
Symptomen Merkstörungen und andere auf arteriosklerotische oder senile
Gehirnveränderungen hinweisende Erscheinungen zeigen. Solche Fälle
dürften dann den arteriosklerotischen bzw. senilen Psychosen zuzuzählen
sein. Die Involutionsparanoia im Sinne des Vortr. ist jedoch nicht die
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Deutscher Verein für Psychiatrie.
707
Äußerung arteriosklerotischer oder seniler Gehirnerkrankung; sie geht
nicht in die für jene Erkrankungen charakteristischen Schwächezu¬
stände aus.
Es handelt sich vielmehr um eine konstitutionelle Er¬
krankung, um eine zur Zeit der sexuellen Involution aus inneren
Gründen (autochthon) zum Durchbruch kommende krankhafte Anlage.
Die meisten der Kranken sind schon vor dem Präsenium psychopathische
Naturen gewesen, zum Teil waren sie schon damals mißtrauisch-reizbare
Menschen, zum Teil handelte es sich um sehr tätige, selbstbewußte und
reizbare Charaktere. Die Frauen — überwiegend Unverheiratete! —
hatten häufig männliche Wesenszüge. */• der Kranken sind erblich belastet,
einige Male im gleichen Sinne, öfter durch Melancholie.
Die Stellung dieser Erkrankung zur Paranoia im Sinne Kraepelin s
zu untersuchen erübrigt sich, da die Paranoia Kraepelins — wie Vortr.
in Übereinstimmung mit Specht, Wilmanns u. a. überzeugt ist — nicht
existiert. Die als Kraepelinsche Paranoia diagnostizierten Fälle dürften,
soweit sie nicht etwa an Involutionsparanoia im Sinne des Vortr. gelitten
haben, den psychogenen und den manisch-depressiven Erkrankungen
< Specht) angehören.
Mit den manisch-depressiven Erkrankungen hat nun auch die
Involutionsparanoia eine Reihe von Berührungspunkten (Veränderung
der Stimmungslage; soweit vorhanden, die an Ideenflucht erinnernde
Denkstörung, Mitteilungs- und Betätigungsdrang). Zweifellos gehört
die Involutionsparanoia zusammen mit den manischen, melancholischen,
zirkulären Erkrankungen und mit noch einer Reihe weiterer auf krank¬
hafter Anlage erwachsender Psychosen, z. B. den heilbaren Motilitäts¬
psychosen, zu der großen Gruppe der konstitutionellen,
autochthonen Psychosen von nichtprogressivem
Charakter.
Bei voller Anerkennung der inneren Verwandtschaft aller dieser
Psychosen erscheint es dem Vortr. aber doch nicht zweckmäßig, diese
große Gruppe von Psychosen etwa als „erweitertes manisch-depressives
Irresein“ zu bezeichnen. Vielmehr scheinen diese verschiedenen Psychosen:
die Involutionsparanoia, das zirkuläre Irresein, die heilbaren Motilitäts¬
psychosen u. a., selbständige und gleichgeordnete Glieder einer großen
Familie unter den konstitutionellen Erkrankungen zu sein.
t/rstem-Warschau: Manisch-depressives und peri¬
odisches Irresein als Erscheinungsform der Kata¬
tonie.
Vortr. weist auf seine Monographie: Manisch-depressives und peri¬
odisches Irresein als Erscheinungsform der Katatonie, hin, die sich auf
mehrere Tausende genau beobachteter, meist abgeschlossener Fälle stützt
und das Ergebnis jahrelanger mühevoller Untersuchungen zusammen¬
faßt. V. hat in den drei letzten Jahren die Frage der funktionellen Psy-
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chosen wiederum sehr eingehend geprttft und unter anderem das gesamte
Material der Heilanstalt Schweizerhof in Zehlendorf verarbeitet. Dieses
Material erscheint zur endgültigen Lösung der mannigfachsten Fragen
am geeignesten, einmal, weil es das älteste ist und auf sechs Dezennien
zurückblickt, dann aber geistig hoch stehende Personen betrifft, die, wenn
sie erkranken, sich in vielerlei Hinsicht zweifellos anders verhalten als
Kommunalpatienten, uns aber gerade durch ihre Bildung sowie Intelligenz
diese Unterschiede deutlich vor Augen führen. Mit dem Terminus Kata¬
tonie identifiziert U. jene Krankheitform, die er früher als „Dementia
praecox“ beschrieben hat, und liefert den Beweis, daß typische Manien,
Depressionen und Mischzustände in streng Kraepelinschem Sinne zu
katatoner Verblödung führen, vereinzelt aber erst nach 10—12 Attacken,
wobei die freien Intervalle, in denen die Patienten völlig gesund bleiben,
selbst über 30 Jahre betragen können.
Im symptomatologischen Teil der Arbeit werden diejenigen Zeichen
beschrieben, welche sowohl beim manisch-depressiven Irresein als auch
bei Katatonie Vorkommen, ferner Symptome, die man nur bei zirkulären
Kranken gelten lassen will, obwohl diese nach U .s Erfahrungen viel häufiger,
wenn nicht ausschließlich bei Verblödungsprozessen auftreten, endlich
Erscheinungen, die sich lediglich bei Katatonikern feststellen lassen.
Auch die körperlichen Symptome wurden eingehend erörtert.
U. beschreibt eine epileptische Form der Katatonie, bei der die typischen
Krampfanfälle bei Tage und in der Nacht einzeln oder serienweise auf¬
treten, und wo sowohl epileptische Antezedentien als auch periodisch
wiederkehrende Äquivalente beobachtet werden.
Den Ursachen und dem Wesen der Katatonie widmet U. ein umfang¬
reiches Kapitel, in dem er neue Hypothesen zur Diskussion stellt. Kata¬
tonie wie auch genuine Epilepsie führt U. auf anaphylaktische, durch
Sekretionsanomalien bedingte Autointoxikationen zurück. Ebenso leitet
er bezüglich der Heredität bestimmte Gesetzmäßigkeiten ab.
Im diagnostischen Teil wird der Nachweis geführt, daß sämtliche
Formen der Katatonie schon im allerersten Beginn des Leidens sich er¬
kennen lassen.
Viel unsicherer als bei der Diagnose gestalten sich unsere Erfahrungen
in prognostischer Hinsicht, doch werden auch hier mehr oder weniger
verläßliche Anhaltpunkte mitgeteilt.
Schließlich geht U. auf die klinische Bewertung katatoner und
manisch-depressiver Zustände ein. Wenn katatone Symptome bei organi¬
schen Infektions- und Intoxikationspsychosen beobachtet werden, so
handelt es sich offenbar um eine spezifische Reaktionsform besonders
veranlagter Individuen. Die von Haus aus bestehende Prädisposition
kann, sofern eine schädliche Noxe aufs Gehirn stattfindet, z. B. ebensogut
durch paralytisches wie infektiöses oder durch Stoffwechselstörung ent¬
standenes Virus geweckt werden. Bei der funktionellen Psychose gebührt
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der Vorrang den katatonen Symptomen. U. sucht darzulegen, daß die
Verblödung, wie sie auch Kraepelin bei angeblichen Manisch-depressiven
schildert, zweifellos Katatonische betrifft, die aber fälschlicherweise als
zirkuläre Kranke diagnostiziert wurden. Wir müssen unbedingt daran
festhalten, daß manisch-depressive Kranke nicht verblöden dürfen, denn
sonst hätte die Aufstellung dieser beiden verschiedenen Psychosen weder
Sinn noch praktischen Erfolg.
Die irrigen Vorstellungen von dem, was bei den Krankheitformen
Vorkommen resp. fehlen darf oder nicht, sind größtenteils darauf zurück¬
zuführen, daß zur Behandlung dieser Themata vorwiegend klinisches und
Anstaltmaterial benutzt wurde. Diese Befunde passen daher nicht für
Privatpatienten und intellektuell hochstehende Individuen, die bei Auf¬
stellung von Krankheitgruppen nicht übergangen werden durften.
Zu anderen, auch heute im Hauptreferat zur Diskussion ge¬
brachten Fragen hat U. bereits in seiner Monographie Stellung genommen
und die einzelnen Punkte dort eingehend erörtert, so daß er auf die be¬
treffenden Abschnitte seines Werkes verweisen muß.
Diskussion. — Stransky- Wien: Die trübe Flüssigkeit, von der
Hocke gesprochen hat, wird leider dadurch noch trüber, daß beim Um¬
gießen derselben von Kübel zu Kübel so viele Unberufene hineinspucken.
Würde heute von Unberufenen mehr gelesen als geschrieben, vielleicht
wäre die Verwirrung etwas geringer; so aber sehen wir, wie oft die ältesten
Lehren, die man schon längst tot geglaubt hatte, in neuem Gewände
wieder vorgeführt werden und unserem Bestreben, uns zu klareren Auf¬
fassungen durchzuringen, durch ihre Gegenwart ein Bein stellen. Su
möchte glauben, daß die hier von Alzheimer vertretenen Lehren der
Kraepelinschen Schule mit dem Standpunkte Hocke s gar nicht unvereinbar
sind: wir kennen doch z. B. in der internen Pathologie Krankheitzustände,
die einmal eine Art, sei es angeborenen, sei es erworbenen Reaktionstypus
repräsentieren resp. ihm zugrunde liegen können, der anderen inter¬
kurrenten Krankheitvorgängen seine Note verleiht, und dabei auf der
anderen Seite doch auch für sich und als solche eigene, wohlgerundete
Krankheitbilder zu setzen imstande sind. Wenn wir also etwa einen
manisch-depressiven oder schizophrenen Reaktionstypus annehmen,
wenn wir annehmen, daß bei dem Vorhandensein eines solchen Typus
durch krankmachende Prozesse jeweils ein entsprechender Symptomen-
komplex ausgelöst werde, so widerspricht dies in keiner Weise der Tat¬
sache, daß aus den Anlagetypen auch wohlgerundete Krankheiten (Schizo¬
phrenie; manisch-depressives Irresein) herauswachsen können. Misch¬
formen sind in den rudimentären, abortiven Fällen zwischen den einzelnen
degenerativen Psychosen gewiß möglich: man erinnere sich des von Alz¬
heimer gebrauchten Vergleiches der Degenerationsanlage mit einem
Myzelium, aus der än verschiedenen Stellen die einzelnen Krankheiten
wurzeln, je näher eine Form dem Mutterboden, desto leichter Übergänge
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
denkbar; je weiter von dem freilich ausgedehnten degenerativen Mutter¬
boden, je differenzierter also das Krankheitbild, um so geringer die Chance
für die Kompromißformen; Sl hat an anderer Stelle kürzlich diese An¬
schauungen in ausführlicher Weise vertreten, begnügt sich daher nur mit
diesen kurzen Andeutungen.
Daß einzelne Symptome als solche für eine Psychose nicht charakte¬
ristisch sind, wird ja von allen Seiten übereinstimmend hervorgehoben.
In der Pathologie ist es ja nirgends anders. Die intrapsychische Ataxie,
wie sie Sl als eine der Grundstörungen der Dementia praecox darzustellen
gesucht hat, ist aber doch eigentlich nicht einfach ein Symptom, sondern
als eine Grundlage von äußeren Symptomen zu verstehen. Wenn sie
Alzheimer nur bedingt gelten lassen möchte, so ist es für Sl ein Trost,
daß Alzheimer dafür die Bleulersche Schizophrenie anerkennt; denn diese
letztere deckt sich in sehr vielen Stücken mit dem, was Sl früher unter
der Bezeichnung der intrapsychischen Ataxie dargelegt hat (natürlich
mit Ausschluß des psychoanalytischen Teiles der Bleulerschen Lehre).
Sl bemerkt schließlich noch zu den Ausführungen Kleists in aller
Kürze, daß ihm die erste Form vielerlei Beziehungen zu den von ihm
seinerzeit unter dem Namen Dementia tardiva beschriebenen Fällen zu
zeigen scheint; die Fälle waren in ähnlichem Alter, welches übrigens doch
etwas vor das eigentliche Präsenium zu setzen ist; die zweite hier von
Kleist erwähnte Art von Fällen scheint St., wenn schon nicht identisch,
so doch nahe verwandt mit dem dölire chronique.
Kraepelin -München: Wenn man mit einem Zuge fahren will, ist
gewiß eine Bremse nötig, noch nötiger aber eine Lokomotive; sonst kommt
man überhaupt nicht vorwärts. Die Phantome, von denen Hoche spricht,
nennen w i r Ideale, die wir ja wahrscheinlich nie erreichen werden,
denen wir uns aber annähern können. Daß die nicht klassifizierbaren
Fälle zunehmen, muß ich nach meiner Erfahrung entschieden in Abrede
stellen; im Gegenteil zeigen unsere Aufzeichnungen, daß unsere Diagnosen
allmählich zuverlässiger werden, so viele Irrtümer auch noch unterlaufen
mögen. Die Annahme, daß hinter den Zustandbildern wirkliche Krankheit-
Vorgänge stecken, hat sich also jedenfalls als eine brauchbare heuristische
Hypothese erwiesen. Welchen praktischen Wert die Beschränkung auf
die Feststellung von Zustandbildern haben soll, ist unklar; man wird eben
doch unter allen Umständen genötigt sein, den Kranken und ihren Ange¬
hörigen auf die Frage Antwort zu geben: Was wird der weitere Verlauf
sein? Das ist aber nur möglich, wenn man die den Zustandbildern zu¬
grunde liegenden Krankheit Vorgänge kennt.
Cramer-Göttingen erblickt in Hoche nicht den Geist, der stets ver¬
neint, und betont seinerseits die Notwendigkeit, die Symptomenkomplexe
zu studieren.
iVeißer-Bunzlau meint, daß, abgesehen von den sonstigen Schwierig¬
keiten der Diagnostik, noch die Einseitigkeit bestimmter Lehrmeinungen
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Deutscher Verein für Psychiatrie.
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die Unvollkommenheit des Erreichten scharfer betonen lasse. Die Berück*
sichtigung der individuellen Anlage der geistigen Systeme, des Lebens¬
alters, des Einflusses anderer Krankheiten sei in der Lehrbuchdarstellung
zu wenig berücksichtigt; er halte es für notwendig, die Symptomen-
komplexe auch außerhalb der großen Krankheiteinheiten zu studieren;
es bedürfe eines Ausbaues der allgemeinen Psychopathologie.
»Stemer/mg-Kiel erklärt, Anhänger des Hocheschen Skeptizismus
zu sein. Eine pathologische Anatomie der sogenannten funktionellen
Psychosen in dem Sinne, daß wir den klinischen Symptomenkomplex
durch den pathologischen Befund erklären können, kennen wir nicht.
Außerdem haben die einzelnen Symptome, welche bei den Psychosen
angeführt werden, nicht den Wert, welchen man ihnen für die Prognose
beimißt. Aus didaktischen und praktischen Gründen empfiehlt es sich,
an bestimmten Symptomenkomplexen festzuhalten.
Weyga/ufc-Hamburg: Daß es langsam, aber sicher mit den wissen¬
schaftlichen Erfolgen in der Psychiatrie vorwärts geht, zeigt u. a. ein
Sondergebiet unseres Faches, in dem wir noch vor 25 Jahren in systemati¬
scher Hinsicht fast vis-ä-vis de rien standen, die Gruppe der Idiotie oder
Defektzustände aus dem Jugendalter. Während wir damals einem chaoti¬
schem Gewirr interessanter, aber rätselhafter Fälle gegenüberstanden,
ist es heute möglich, eine große Reihe klinisch und ätiologisch scharf
umschriebener Gruppen herauszuheben, so daß W. in dem betreffenden
Abschnitt des Aschaffenburgschen Handbuchs nicht weniger als 26 ver¬
schiedene Formen jenes Spezialgebietes mit zahlreichen Untergruppen
nebeneinanderstellen konnte. Übrigens sind auch in den anderen medizini¬
schen Disziplinen noch dunkle Probleme genug anzutreffen, die nur eine
symptomatische Zusammenfassung, aber keine befriedigende klinische
Klärung erlauben, wie z. B. die perniziöse Anämie, Diabetes insipidus usw.
Kritizismus ist gewiß am Platz, aber nicht ein die Forschungsfreudigkeit
lähmender Skeptizismus.
Meyer-Königsberg sieht in dem anscheinend so negativen Referat
Hoche s den wichtigen Hinweis auf das Studium der Persönlichkeit, in
der die Keime der psychischen Symptome gelagert sind, deren Ver¬
kuppelungen die Psychosen bilden oder etwa Vortäuschen. M. weist auf
den Versuch Bonhoeffers hin, exogene Reaktionstypen und Verlaufsformen
herauszuheben. Es erscheint verlockend, nach endogenen Reaktionstypen
und Verlaufsformen vielleicht auch zu suchen.
Cimftaf-Altonabedauert, daß die Herren Referenten in der Bedeutung
der Symptome für die theoretische Krankheitlehre nur einen kleinen und
dazu undankbaren Teil ihres Themas behandelt und zur Diskussion gestellt
haben.
Die Einzelsymptome und Symptomenkomplexe bilden in der
Psychiatrie außerdem und ganz unabhängig von allem das erste Ziel und
Ergebnis jeder planmäßigen Untersuchung, das wichtigste, meist einzige
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Mittel zur Verständigung in Unterricht, Gutachtertätigkeit und Kon¬
sultation und für die meisten von uns auch den eigentlichen, tatsächlichen
Ausgangpunkt aller prognostischen und therapeutischen ärztlichen Arbeit.
Mag man dem Kraepelins chen und den übrigen wissenschaftlichen Systemen
wie einem verehrten, wenn auch noch unerreichten Ideal gegenüberstehen
oder sie als irreführend ablehnen: unser bestes Wissen und Können
geht einstweilen neben und außerhalb der Systematik einher. Es ruht in
der Kenntnis des einzelnen von der gesetzmäßigen Verknüpfung gerade
der Einzelsymptome und in dem Instinkt für ihre ärztliche Verwertung.
Ihr wissenschaftlicher Ausbau aber und jeder erfolgreiche Erfahrungs¬
austausch wird erst möglich sein, wenn ihre Deutung und Umgrenzung
durch Übereinkunft völlig festgelegt ist. Hier liegt vielleicht die folgen¬
schwerste Schwäche der modernen deutschen Psychiatrie. Sie hat sich
dadurch gebildet, daß die völlig verschiedenen Nomenklaturen der sich
zeitlich folgenden, maßgebenden, klinischen Schulen in Praxis und Literatur
ohne jede Rücksicht auf die Verständigung nebeneinander gebraucht
werden. C. habe, als er erst Wernicke, dann Kraepelin, dann Ziehen gehört
habe, nicht nur die Systeme, sondern jedesmal fast jeden einzelnen Aus¬
druck völlig nach seiner Bedeutung umlernen müssen. In der Praxis
treten dazu die älteren Nomenklaturen von Krafft-Ebing und Jolly und
die ganz divergierende der jüngsten psychoanalytischen Schule; ganz
abgesehen davon, daß in der Literatur jeder Autor eigene Ausdrücke für
alte und neue Begriffe beliebig bildet und braucht. Die weitest gehende
sachliche Übereinkunft sei erfahrunggemäß gar nicht so schwierig, wenn
nur der verwirrende Einfluß der verschiedenartigen Ausdrucksweise
ausgeschaltet werden könne. Die Symptomenkomplexe, nicht die Krank¬
heitgruppen, seien die Grundbegriffe der Psychiatrie. Ehe sie nicht fest-
gelegt seien, sei es unmöglich eine Krankheitlehre aus ihnen aufzubauen
oder die Verständigung der jetzt hoffnunglos divergierenden Schulen
herbeizuführen. C. regt deshalb an, der Verein möge eine ständige Kom¬
mission bilden, die die geltende Nomenklatur auf ihre Brauchbarkeit
prüfen und das als sicheren Besitz Erkannte festlegen solle, wie es in der
Anatomie längst in fruchtbarer Weise geschehen sei.
A. Leppmann -Berlin berichtet, welche Schwierigkeiten die Kraepelin -
sehe Lehre sowohl in der Praxis als in der Sachverständigentätigkeit
gemacht hätte. Einzelne Fanatiker der Überzeugung hätten bei Ent¬
stehung der Dementia praecox jede Möglichkeit einer exogenen Ursache
abgelehnt und hätten Unfallereignisse als Ausbruchsursache zurück -
gewiesen, auch wenn der zeitliche Zusammenhang mit Nachdruck dafür
sprach. Sie hätten so schlechte Prognosen gestellt, daß das Publikum
teils kopfscheu, teils unsicher geworden sei Jetzt wäre eine gewisse Ab¬
klärung erfolgt und damit eine größere Vorsicht bei der praktischen Ver¬
wertung der Lehre, deren berechtigten Kern jeder Praktiker wohl an¬
erkennen müsse.
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Deutscher Verein für Psychiatrie.
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Alzheimer (Schlußwort): Es ist Ja gewiß zweckmäßig bei der Unter*
suchung eines Falles, zunächst den Symptomenkomplex festzustellen,
z. B. einen akut paranoischen Zustand. Es ist auch wünschenswert, diese-
Syinptomenkomplexe eingehend zu studiere^. Kein Irrenarzt wird sich
aber damit begnügen, sondern auch eine Prognose zu stellen und sich über
die Ursache des Krankheitzustandes klar zu werden suchen. Damit aber
beschreitet er einen Weg, der in konsequenter Durchführung von der Fest¬
stellung eines bestimmten Symptomenkomplexes zur Abgrenzung einzelner
Krankheiten führen muß.
Hocke (Schlußwort): Ich weiß sehr wohl, daß Pessimismus unbeliebt
macht, und ich bin nicht der Meinung gewesen, heute in diesen Fragen,
die Glaubenssache sind, Widerstrebende zu überzeugen, am allerwenigsten
natürlich Kraepelin. Ich gebe auch ohne weiteres zu, daß das Kraepelinsche
Programm mit bestimmtem Ziel und einem scheinbar sicheren Wege sehr
Viel mehr suggestive Kraft besitzt, als die im wesentlichen verneinende
Betrachtungsweise, die mir heute als die gegebene erscheint. Immerhin
hat sich die Sachlage in den seit meinem Münchener Vortrage verflossenen
€ Jahren wesentlich verschoben, und es ist heute schon eine Reihe zu¬
stimmender Äußerungen laut geworden, die sich sicherlich vermehren
würde, wenn jeder sich äußern wollte, der sich eine Meinung gebildet hat.
Wenn Kraepelin sagt, daß man von dem Symptomenkomplex aus zu keiner
Vorhersage des gesamten Krankheitverlaufes gelangen könne, so ist darauf
zu erwidern, daß die Indikation unseres Handels im wesentlichen doch von
dem Zustandbild des Momentes, nicht von Zukunftserwägungen geleitet
wird, und daß gerade unsere allseitig zugegebene Hilflosigkeit in derPrognose
immer wieder mit zwingender Gewalt zeigt, daß wir eben mit unseren
heutigen Namen und Abgrenzungen nichts wirklich Einheitliches zwischen
den Fingern haben.
Die anatomische Arbeit in ihrem Werte herabzusetzen, bin ich natür¬
lich keineswegs gesonnen. Nur soll die Klinik sich keine Illusionen darüber
machen, was für sie auf dieser Weise für ihre Zwecke zu erhoffen
ist. Wenn im übrigen Kraepelin vor der Annahme dieser skeptischen
Lehre warnt und meine Auffassungen als eine Bremse an dem Lauf unserer
Wissenschaft bezeichnet, so sollte man doch nicht vergessen, daß für die
Sicherheit eines Eisenbahnzuges die Bremse unter Umständen wichtiger
ist als die Geschwindigkeit. Im übrigen kann wohl niemand mehr an¬
erkennen als ich selber, was wir gerade der energischen Spannkraft der
Kraepelinschen Arbeit auf klinischem Gebiete verdanken, ohne welche
auch die ganze heutige Erörterung nicht möglich gewesen wäre.
L. W. We&er-Chemnitz: Die Praxis bei der Durch¬
führung der Pflegschaft nach dem BGB.
Die Bestimmungen des BGB. über die Pflegschaft sind relativ ein¬
fach; ihre Durchführung setzt kein umständliches Verfahren und kaum
die Mitwirkung eines Sachverständigen voraus. Trotzdem wird die Ein-
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
richtung in der Literatur verschieden beurteilt, so daß z. B. E. Schultse
ihre möglichst ausgedehnte Anwendung an Stelle der Entmündigung
empfiehlt, Jahrmärker und Wedemeyer aber geradezu vor einem Mi߬
brauch der Pflegschaft warnen. Und die Praxis ihrer Handhabung zeigt
ähnliche Verschiedenheiten und Inkonsequenzen. Eine Rundfrage ergab,
daß im Jahre 1911 in 36 Anstalten bei 40 000 Kranken ungefähr 750
Pflegschaften und 450 Entmündigungen durchgeführt wurden. Dabei
bestehen aber in der bei den einzelnen Anstalten üblichen Praxis im Ver¬
hältnis zwischen Entmündigungen und Pflegschaften große Verschieden¬
heiten, die nicht nur durch das Krankenmaterial, sondern auch durch die
richterliche und sachverständige Auffassung bedingt sein müssen. Einige
der einschlägigen Punkte sollen hier besprochen werden.
1. Die gesetzlichen Bestimmungen aus den §§ 1910,
1911 und 1920 BGB. gestatten die Einrichtung einer Pflegschaft für einzelne
Angelegenheiten oder einen bestimmten Kreis der Angelegenheiten bei
geistiger Gebrechlichkeit. Es gibt zwei Formen der Pflegschaft, die eine
mit Einwilligung des Gebrechlichen, die andere ohne seine Einwilligung,
wenn eine Verständigung mit ihm nicht möglich ist. Ein Unterschied
in ihren rechtlichen Folgen besteht nicht. Daneben ist noch eine Pfleg¬
schaft möglich für einen Abwesenden, der durch seinen Aufenthalt, z. B.
in einer Anstalt, an der Besorgung seiner Vermögensangelegenheiten
verhindert ist. Die Pflegschaft kann auf Antrag des Pflegebefohlenen
wieder aufgehoben werden.
2. Daß alle Formen geistiger Störung unter
geistiger Gebrechlichkeit zu verstehen sind, nicht nur
beginnende oder leichte Fälle oder herdförmige Hirnerkrankungen mit
Sprachstörungen, gilt auf Grund mehrerer Entscheidungen jetzt als fest¬
stehend. Mit wenigen Ausnahmen (z. B. das Marburger Vormundschafts¬
gericht — Jahrmärker) wird von den Gerichten eine Pflegschaft auch dann
für zulässig erachtet, wenn infolge von Geisteskrankheit oder Geistes¬
schwäche Unfähigkeit zur Besorgung aller Angelegenheiten vorliegt.
(Entmündigungsreife). Mit allem Nachdruck muß aber die Auffassung
von Jahrmärker und Wedemeyer unterstützt werden, daß in solchen Fällen
die Pflegschaft nur als Provisorium zur Erledigung unaufschiebbarer
Maßregeln gelten und auf die Dauer die Entmündigung nicht ersetzen
kann, und daß sie auch hier sich nur auf einzelne Angelegenheiten er¬
strecken darf. Fiskalische Gründe, die höheren Kosten des Entmündigungs¬
verfahrens, dürfen auf keinen Fall maßgebend sein. Sonst würde man
schließlich zu der Auffassung kommen, daß die persönliche Freiheit des
Reichen durch größere Kautelen geschützt ist, als die des Armen (Jahr¬
märker). Hier gibt vielleicht die rechtzeitige Stellung des Antrags auf
Entmündigung ein Mittel an die Hand, um die mißbräuchliche Anwendung
der Pflegschaft einzuschränken. Denn nur solange der Entmündigungs¬
antrag noch nicht gestellt ist, kann eine Pflegschaft eingesetzt werden.
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Deutscher Verein für Psychiatrie.
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3. Der Begriff der Vetständigungsmöglich-
keit wird weiter und enger gefaßt. In einzelnen Anstalten wird fast
bei allen gefragten Kranken die Möglichkeit einer Verständigung an¬
genommen; auch die richterlichen Beamten selbst stellen gewöhnlich
in dieser Hinsicht keine großen Ansprüche. In anderen Anstalten wird
bei den meisten Kranken eine Verständigung als unmöglich erachtet.
Auf diesem strengen Standpunkt steht z. B. Jahrmärker, der eine Ver¬
ständigung nur dann für möglich hält, wenn der Kranke seine Willens¬
erklärung so abgibt, wie er sie bei Berücksichtigung der Sachlage auch
frei von seiner Krankheit abgeben würde. Sehr eng fassen die Ver¬
ständigungsmöglichkeit auch E. Schultze, Liepmann und Leppmann.
Die Tatsache, daß der Kranke sich bei Besprechung der Frage aufregt,
reicht aber nicht aus, um die Verständigungsmöglichkeit auszuschließen.
Wichtig ist auch, wie Schultze betont, daß auf einem Gebiet mit dem
Kranken eine Verständigung möglich sein kann, für andere Angelegenheiten
aber auszuschliefien ist.
Da die Verständigung im ganzen mehr ein juristischer, kein medi¬
zinischer Begriff ist, sieht man besser von einer für alle Fälle bindenden
Definition ab und beschränkt sich im praktischen Fall darauf, dem an*
fragenden Gericht die Auffassung des Sachverständigen vorzutragen,
welcher der Begriff der Geschäftsunfähigkeit im Sinne des § 104 BGB.
zugrunde gelegt werden kann. Dabei dürfte aber die Fassung: „Mit X.
als einem Geisteskranken ist eine Verständigung nicht möglich“, die
irrtümliche Anschauung erwecken, als ob mit keinem Geisteskranken
eine Verständigung möglich sei Besser ist es, nach dem Vorschlag von
Zinn eine kurze Zustandschilderung als Begründung der persönlichen
Auffassung des Sachverständigen zu geben.
4. Einzelne Krankheitformen. Zweifellos muß man
bei allen „Entmündigungsreifen“ und bei vielen anderen Geisteskranken
die Möglichkeit einer Verständigung ausschließen. Aber auch bei strenger
Auffassung des Begriffs bleiben noch zahlreiche wirkliche Psychosen und
viele Grenzzustände, bei denen eine Verständigung als möglich angenommen
werden muß, z. B. Melancholie mit Krankheitsbewußtsein und aus¬
gesprochenem Insuffizienzgefühl, manche beginnende Paralysen, vor
allem aber leichte Schwachsinnszustände in und außerhalb der Anstalt,
chronische Alkoholiker und Psychopathen aller Art, besonders kriminelle«
die exkulpiert oder in Strafhaft erkrankt sind. Bei diesen Fällen ist meist
Entmündigung nicht durchzuführen, eine Interessenvertretung aber oft
wünschenswert.
5. Die Verständigungsfrage soll nicht deshalb als unter¬
geordnet betrachtet werden, weil die Pflegschaft mit oder ohne Einwilligung
des Kranken die gleichen rechtlichen Folgen hat. Denn es entspricht
der Absicht des Gesetzes, daß die Pflegschaft ohne Einwilligung die Aus¬
nahme bleiben soll, und dem Wesen der freien Behandlung, wenn in einer
Zeitschrift für Psychiatrie. LXIX. 5. 49
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
so wichtigen Frage die Entscheidung möglichst nicht ohne Wissen und
Zustimmung des Kranken erfolgt. Verweigerung der Einwilligung kommt
verhältnismäßig selten vor, wie auch die Rundfrage ergab. Gelegentlich
gibt die Art, wie der Kranke seine Weigerung begründet, nachträglich
noch Anlaß, die Verständigungsmöglichkeit auszuschließen.
6. Technik und Form des Pflegschaftsver-
f a h r e n s werden in der verschiedensten Weise gehandhabt. In einzelnen
Provinzen sind die Anstalten von der Verwaltungsbehörde angewiesen,
bei jeder Neuaufnahme die Zustimmung eines gerichtlich zu bestellenden
Pflegers zu verlangen; ob dadurch nicht das Aufnahmeverfahren erschwert
wird, weiß ich nicht.
Im übrigen kommen, wie Jahrmärker auch im einzelnen schildert,
folgende Möglichkeiten vor: a) Das Gericht nimmt ohne weiteres an,
jeder in der Anstalt befindliche Geisteskranke sei zu einer Verständigung
unfähig, und verhängt ohne Anfrage die Pflegschaft über ihn. Daß dieses
Verfahren der Sachlage nicht entspricht, geht aus dem oben Gesagten
hervor.
b) Die Vernehmung eines nicht in der Anstalt befindlichen Kranken
erfolgt an Gerichtsstelle, bei Anstaltkranken durch eine beauftragte
Gerichtsperson in der Anstalt, in beiden Fällen meist ohne Sachverständige.
Es muß dringend der Wunsch nach Zuziehung eines Sachverständigen
ausgesprochen werden, da ja nur dieser das Verhalten und den Geistes¬
zustand in der letzten Zeit kennt. Die geringen Termingebühren dürfen
hier keine Rolle spielen.
c) Das Gericht fragt schriftlich bei der Anstaltleitung an und ersucht
für den Fall der Verständigungsmöglichkeit um Befragung des Kranken.
Der Antwort kann eine schriftliche Erklärung des Kranken oder ein kurzes
an der Hand eines Formulars (Eglfing) aufgenommenes Protokoll bei¬
gefügt werden, oder es wird die Antwort einfach mitgeteilt und eine Angabe
über die Verständigungsmöglichkeit mit oder ohne Begründung (siehe
oben) beigefügt. Bestimmte Vorschriften nach einer dieser Richtungen
bestehen nicht, und, wie auch Jahrmärker bestätigt, hält sich das Gericht
oft auch nicht an die ihm gewordenen Mitteilungen bei seiner Entscheidung.
Nicht in allen Fällen wird der Anstalt, meistens nicht dem Kranken, die
geschehene Einsetzung eines Pflegers mitgeteilt. Beides ist dringend
erwünscht unter Hinzufügung, für welche Angelegenheiten der Pfleger
eingesetzt wurde.
7. Bei der Wiederaufhebung der Pflegschaft ist ebenfalls
kein Verfahren vorgeschrieben. Dem entsprechenden Verlangen des
Kranken wird manchmal ohne weitere Information stattgegeben; manch¬
mal, namentlich bei Fortdauer der Anstaltinternierung, wird über seine
Geschäftsfähigkeit nach § 104 BGB. angefragt. Über die Beurteilung
der rechtlichen Gültigkeit der Forderung nach Aufhebung der Pflegschaft
liegen widersprechende Entscheidungen des Reichs- und Kammergerichts
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vor. Die eine fordert Geschäftsfähigkeit im allgemeinen, die andere nur
Verständnis für den Inhalt des Aufhebeantrags (Psych. Wochenschr.
Bd. X, S. 58). Daß ein Kranker, bei dem die Pflegschaft mit seiner Ein¬
willigung eingesetzt wurde, mit dem Aufhebungsantrag als nicht mehr
geschäftsfähig abgewiesen wurde, habe ich wiederholt gesehen. Der als
nicht geschäftsfähig angesehene Kranke kann aber den Ablehnungsbeschluß
mit Beschwerde anfechten, ebenso wie bei der Entmündigung (Bayr. OLG.
Psych. Wochenschr., Bd. X, S. 59). Jahrmärker schlägt vor, die Ent¬
mündigung herbeizuführen, wenn sich der Kranke bei der Ablehnung
seines Wiederaufhebungsantrags nicht beruhigt, besonders wenn es sich
um Anstaltinsassen handelt. Sowohl für den Kranken als für die Anstalt
ist es wünschenswert, daß die Beschränkung seiner rechtlichen und persön¬
lichen Freiheit mit allen gesetzlichen Kautelen umgeben wird.
8. Wirkungskreis der Pflegschaft. Die Beschränkung
der Pflegschaft auf eine einzelne Angelegenheit oder einen bestimmten
Kreis und die genaue Festlegung des Zweckes der Pflegschaft wird häufig
unterlassen. Auch daß ein Pfleger für persönliche und Vermögensange¬
legenheiten ernannt wird, halten Wedemeyer und Jahrmärker mit Recht
für einen Eingriff in das Gebiet der Entmündigung, denn damit ist meist
der Gesamtkreis der Angelegenheiten umschrieben. Auch der von Jahr¬
märker angeführte Fall, daß eine Kranke allmählich drei Pfleger erhielt,
für das Vermögen, für ihre Person, für die Besorgung der Kinder, ist eine
unzulässige Auseinanderreißung der Angelegenheiten, die durch Ent¬
mündigung besser vermieden würde. Das Hauptgebiet der Pflegschaft
bleiben die Vermögensangelegenheiten, und gerade für die Anstaltkranken
erwachsen hier eine Reihe wichtiger Aufgaben, wie Vollziehung von Gehalts¬
und Rentenquittungen, Besorgung von Bankkontos, Vertretung in ge¬
schäftlichen Unternehmungen usw., soweit dazu die nächsten Verwandten,
wie Ehefrau, nicht ohne weiteres berechtigt sind. Der große unbestrittene
Vorzug der Pflegschaft liegt gerade darin, daß sie schnell, ohne große
Formalitäten eingreift, dem Kranken die Aufregung, den Angehörigen
die oft peinlichen Zeugenvernehmungen eines Entmündigungsverfahrens
erspart und eine Schädigung des Kredits, des Rufes und bei Beamten
die gewöhnlich an die Entmündigung angeschlossene Einleitung des
Pensionierungsverfahrens erspart. Die Pflegschaft in persönlichen An¬
gelegenheiten erweist sich nützlich zur Vertretung in Prozessen, z. B. bei
Klagen auf Unfallentschädigung, bei Rentenverfahren usw. Im Ehe¬
scheidungsprozeß dürfte es zweckmäßiger sein, für den wegen Geistes¬
krankheit verklagten Teil das Entmündigungsverfahren einzuleiten,
um seinen Geisteszustand auch für den Ehescheidungsprozeß klarstellen
zu lassen. Eine Ehefrau hatte die Scheidungsklage gegen ihren Mann
wegen Mißhandlung eingereicht, war aber inzwischen geisteskrank ge¬
worden; hier wurde zu ihrer Vertretung eine Pflegschaft eingesetzt.
Mit allem Nachdruck muß aber mit Jahrmärker und Falkenberg
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
betont werden, daß die persönliche Pflegschaft nicht das geeignete Ver¬
fahren ist, um gegen den Willen des Kranken seine Verweisung in die
Anstalt oder seine Zurückhaltung in derselben zu bewirken. Auch die
Entmündigung ist nicht, wie vielfach in Laienkreisen geglaubt wird, das
absolute Mittel, um einen Geisteskranken gegen seinen Willen in die Anstalt
zu verweisen, wenn nicht Anstaltpflegebedürftigkeit vorliegt, noch viel
weniger aber die Pflegschaft. Und jedenfalls kann die Entmündigung
in diesen Fällen dem Kranken die gewünschte Gelegenheit zur Aussprache,
der Anstalt aber eine Erleichterung ihrer Verantwortung geben.
Einige für unsere Anstaltkranken wichtige persönliche Angelegen¬
heiten können durch eine Pflegschaft vertreten werden, besonders dann,
wenn keine näheren Angehörigen vorhanden sind, das ist z. B. Entscheidung
über Briefverkehr und Besuche der Kranken, Versetzung in andere Anstalten
oder in Familienpflege, Auskunfterteilung. Auch um hier Klarheit zu
schaffen, ist genaue Umschreibung der Aufgaben des Pflegers nötig. Denn
der Vermögenspfleger kann z. B. keine Auskunft über den Gesundheits¬
zustand erhalten.
9. Die Einwände gegen den Nutzen der Pfleg¬
schaft stützen sich hauptsächlich darauf, daß der Gebrechliche oder
Kranke jederzeit die Wiederaufhebung fordern kann und auch bei be¬
stehender Pflegschaft seinen Willen gegen den des Pflegers geltend machen
kann. Für die Anstaltkranken trifft dieser Einwand im ganzen nicht zu.
Denn wenn einmal ein gesetzlicher Vertreter vorhanden ist, so hat der
Kranke gar nicht mehr Gelegenheit, die betreffenden Geschäfte zu erledigen.
Auch fehlt vielen Kranken doch die Initiative, um spontan die Wieder¬
aufhebung zu fordern, wenn sie überhaupt ihr Recht dazu kennen. Gerade
diese letzten Tatsachen werden wiederum gegen eine zu weite Ausdehnung
der Pflegschaft ins Feld geführt. Das ohne persönliche Vernehmung des
Kranken einhergehende Verfahren nimmt ihm jede Gelegenheit, seine
Einwendungen geltend zu machen. Auch eine Vermögenspflegschaft
beengt weitgehend die Bewegungsfreiheit des Kranken. Von seinem
Beschwerderecht weiß er oft nichts oder wird damit, wie oben angeführt,
ohne eingehende Prüfung abgewiesen. Zweifellos sind diese Momente
erhebliche Bedenken gegen einen weitgehenden Ersatz der Entmündigung
durch die Pflegschaft als Dauereinrichtung. Die Pflegschaft kann ihren
Nutzen dann entfalten, wenn sie ein Provisorium bleibt, das leichteren
heilbaren Kranken für die Dauer ihrer Erkrankung die Geschäftslast
abnimmt oder bei plötzlich einsetzender schwerer Erkrankung rasch zur
Erledigung unaufschiebbarer Maßregeln eintritt, das aber durch die Ent¬
mündigung ersetzt werden muß, sobald der Zustand ein länger dauernder
ist oder unheilbar scheint, besonders wenn der Kranke gegen den Verbleib
in der Anstalt protestiert.
Diskussion. — A. Leppmann -Berlin macht darauf aufmerksam,
daß er die Lehre von der Pflegschaft neulich in seinem Vortrage in der
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Deutscher Verein für Psyohiatrie.
719
med. Gesellschaft in Berlin gestreift habe. Er ist davon überzeugt, daß
die gegenwärtigen gesetzlichen Bestimmungen ungenügend und unprak¬
tisch sind.
Was wir brauchen, ist eine Einschränkung der Handlungsfähigkeit
bei frisch Erkrankten für einen bestimmten Kreis von Geschäften, ganz
unabhängig von deren Zustimmung und von der Verständigungsmöglich -
keit. Er hält eine Ausgestaltung der Gesetzgebung nach dieser Richtung
und in der Beziehung für notwendig, daß auch beim Entmündigungs¬
verfahren, falls dies im Interesse des Kranken liegt, keine Totalentmündi¬
gung, sondern nur eine partielle Interdiktion eingeführt werde.
Frankel -Lankwitz fand nur wenige Fälle, in denen die Einwilligung
gegeben wurde; in der Verständigung sei einbegriffen, daß der Kranke
Einsicht in seine Lage habe und den Sinn der Pflegschaft erkenne.
Oamer-Göttingen erklärt die Widersprüche in der Praxis der Pfleg¬
schaft damit, daß sie bei Entstehung des BGB. berufen gewesen sei, eine
Lücke zu füllen. Es ergebe sich die Notwendigkeit persönlicher Ver¬
ständigung mit den Richtern und individuellen Vorgehens.
Moeli bemerkt gegenüber der Bemängelung der Pflegschaft, daß
unzweckmäßige Verwendung nicht dazu führen darf, die Vorzüge bei
richtiger Benutzung zu übersehen.
Die Pflegschaft mit ihren einfachen Vorbedingungen, ohne die so
oft tatsächlich den Kranken störende oder benachteiligende Neben¬
wirkung der Entmündigung (zu verweisen auch auf die Foc/reschen Er¬
fahrungen!) ist für Verkehrsvermittlung, Beschaffung von Unterkunft,
Prüfung der Anstaltbedürftigkeit u. ähnl. durchaus brauchbar.
Bei Ordnung gerade solcher Angelegenheiten hat der Umstand,
daß die Geschäftsfähigkeit sich nicht ändert (soweit nicht § 104, 2 heran¬
gezogen wird), keine erheblichen Nachteile. Daß der Kranke, wenn er mit
den Schritten des Pflegers nicht einverstanden ist, selbst sich betätigen
kann, schadet in praktischer Hinsicht für die angegebenen Zwecke kaum
etwas.
Dagegen ist der Nutzen nicht gering, daß eine richterliche
Stelle auf dem Wege der Aufsicht über den Pfleger beteiligt
ist und so Wünsche z. B. auf Entlassung (deren Ablehnung gegenüber
dem gesetzlichen Vertreter in Preußen nur bei Einspruch der Sicherheits¬
behörde erfolgen kann) gehört werden und in gewissem Grade eine Prüfung
durch die richterliche Behörde erfahren.
In manchen Fällen, wo Fortdauer der Anstaltbedürftigkeit an-
gezweifelt wird, hätte ein eigenes gerichtliches Feststellungs¬
verfahren Vorzüge. Es ist dies in einer zweckmäßigen Form anzu-
streben, — möglicherweise in Anlehnung an das nach dem kommenden
StGB, für die Verwahrung nach Abschluß eines Gerichtsverfahrens zu
erwartende.
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720
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Aber solange wir das nicht haben, kann — auch vom rein ärztlichen
Gesichtspunkte aus —, gegenüber der mit Entziehung der Geschäfts¬
fähigkeit verbundenen Schutzmaßregel der E., soweit Brief- und persön¬
licher Verkehr, Auskünfte, besondere Behandlung, kurz die Vertretung
in bestimmten Angelegenheiten mehr vorübergehender Art geregelt
werden soll, die doch eine richterliche Betätigung zulassende Pflegschaft
sehr nützlich sein. Deshalb ist ihre Verwendung vom Beginne der Wirk¬
samkeit des BGB. an gefördert worden.
Leppmann betont Herrn Cramer gegenüber die Schwierigkeiten
einer Verständigung des Sachverständigen mit dem Richter in der Gro߬
stadt (speziell Amtsgericht Berlin-Mitte mit seinen 250 Richtern).
Die Einverständniserklärung des Patienten habe die Bedeutung
der Pflegschaft verwässert. Infolgedessen sei man abhängig von der
Wellenbewegung in der Einschätzung des psychiatrischen Sachverständigen
durch den Richter.
Weber (Schlußwort) hebt hervor, daß er nur von der lex lata ge¬
sprochen habe; für Jugendliche und Alkoholisten tauge die Pflegschaft
nicht.
2. Sitzung Donnerstag, 30. Mai, nachm. 2 Uhr.
Es werden zuerst geschäftliche Dinge erörtert.
ifreuser-Winnenthal legt den Kassenbericht vor. Die
Einnahmen betrugen i. J. 1911 3048,56 Mark, die Ausgaben 5728,22 Mark,
darunter nachträglich für den internationalen Kongreß zur Fürsorge für
Geisteskranke 4818,01 Mark. Das Gesamtvermögen am Ende des Jahres
belief sich auf 9694,38 Mark. Dem Schatzmeister wird auf Grund des
gedruckt vorliegenden Rechenschaftberichtes, nach Prüfung durch Simon-
Warstein und FwcAer-Wiesloch, Entlastung erteilt und der Jahresbeitrag
wiederum auf 5 Mark festgesetzt.
Hans Laehr erstattet Bericht über die Heinrich Laehr-
Stiftung, aus deren Mitteln im vergangenen Jahre 1000 Mark an
Jsser/in-München zur Unterstützung von Untersuchungen der Melodie-
und Intensitätsverhältnisse der menschlichen Sprache unter psychologischen
und psychopathologischen Gesichtspunkten gegeben wurden. Dem Vor¬
stand der Stiftung wird, nach Prüfung der Abrechnung durch Kreuser-
Winnental und »SeMe-Neuruppin, Entlastung erteilt.
Den Antrag Alt, die Jahresversammlung künftig auf 3 Tage aus¬
zudehnen und am dritten Tage ausschließlich Themata aus der praktischen
Fürsorge der Geisteskranken zu behandeln, begründet Weygandt- Hamburg.
Es sei Zweck der Gründung des Vereins gewesen, Standesfragen und Gegen¬
stände aus der praktischen Irrenpflege zu erörtern. Eine Reiseunterstützung
werde wenigstens in Preußen nur in der Voraussetzung gewährt, daß
praktische Fragen der Irrenpflege zur Behandlung kommen, und deren
Zusammenlegung auf einen Tag empfehle sich schon deshalb, weil die
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Deutscher Verein für Psychiatrie.
721
Teilnahme dann für diejenigen leichter sei, die, ohne Psychiater zu sein,
sich gerade für die praktischen Fragen interessierten, wie z. B. die Landes -
rate. W. schlägt vor, statt „am dritten Tage“ zu sagen: „möglichst an
einem der 3 Tage.
Der Vorstand empfiehlt der Versammlung folgende Fassung: „Die
Jahresversammlung versuchweise im nächsten Jahre auf 3 Tage auszu-
dehnen und möglichst an einem derselben Themata aus der praktischen
Fürsorge der Geisteskranken zu behandeln“.
Zinn-Eberswalde: Eine Ausdehnung unserer Jahresversammlung
auf 3 Tage, zu denen dann in der Regel noch ein vierter Tag für Besich¬
tigungen von Anstalten usw. hinzutreten würde, erscheint mir weder
wünschenswert noch notwendig, und ich kann die angeführten Gründe
als stichhaltig nicht anerkennen. Ich habe, so lange ich mich an dieser
Versammlung beteilige, nicht den Eindruck gewinnen können, daß die
praktische Irrenfürsorge, sooft und soweit sie sich hier
zum Wort gemeldet hat, jemals zu kurz gekommen ist. Ebenso
glaube ich dessen sicher zu sein, daß, falls in Zukunft häufiger als bisher
Fragen der praktischen Irrenfürsorge hier zum Vortrag gebracht werden
sollten — was ich sehr begrüßen würde —, auch innerhalb zweier Sitzungs¬
tage ausreichend Zeit zur Aussprache zur Verfügung gestellt werden
kann und wird. Die Teilnahme von Verwaltungsbeamten speziell an diesen
Verhandlungen kann uns nur willkommen sein, aber um ihnen Zeit zu
ersparen, genügt es, wenn im endgültigen Programm eine Sitzung be¬
zeichnet wird, in der diese Fragen behandelt werden, so daß sich die Herren
danach einrichten können. Was ferner die Reisebeihilfen anlangt, so
werden sie schon jetzt von den meisten Provinzialverwaltungen und den
zuständigen Behörden in größerem oder geringerem Umfange gewährt,
und, soweit dies noch nicht der Fall ist, steht zu hoffen, daß die, die es
noch nicht tun, dem guten Beispiel der Mehrzahl bald, folgen werden,
denn die Teilnahme an der Jahresversammlung ist in gleichem Grade
wichtig und wertvoll, mögen die Verhandlungen bald mehr wissenschaft¬
liche, bald mehr praktische Fragen behandeln.
Ich kann mich aus den angeführten Gründen mit dem Antrag AU
nicht befreunden, um so weniger, als mir der Vorschlag, „den dritten Tag
ausschließlich der praktischen Irrenfürsorge vorzubehalten“, auch noch
die Gefahr einer gewissen Zersplitterung und Sondergruppierung in sich
zu tragen scheint.
Ich bitte Sie danach, den Antrag Alt abzulehnen und es bei dem
bisherigen Gebrauch zu belassen.
Friedländer -Hohe Mark bittet ebenfalls, die Versammlung auf
2 Tage zu beschränken.
Der Antrag Alt wird abgelehnt, dagegen der Anregung zugestimmt,
Themata aus der praktischen Fürsorge für Geisteskranke möglichst auf
einen Tag zu legen.
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722
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Der Verein Bayrischer Psychiater hat an den
Deutschen Verein für Psychiatrie den Antrag gestellt, es möge eine
statistische Kommission eingesetzt werden mit der Aufgabe, dem Verein
Vorschläge für eine zeitgemäße Änderung der Statistik der Irrenanstalten
zu machen.
Vocke -Eglflng begründet diesen Antrag kurz mit dem Hinweis,
daß die gegenwärtige Statistik dem Stand der Wissenschaft nicht mehr
entspreche und daher wertlos sei. In Bayern hat das Ministerium auf
die Bitte des Vereins Bayrischer Psychiater die Ausfüllung und Vorlage
der meisten Tabellen bis auf weiteres erlassen. Es werden nurmehr die
beiden Tabellen über die allgemeine Krankenbewegung und über die
Sterbefälle ausgefüllt und vorgelegt. Die Lücke muß selbstverständlich
im Lauf der Zeit durch eine zeitgemäße Änderung der Statistik geschlossen
werden. Die Statistik der Irrenanstalten ist ein Teil der Reichsstatistik,
und der Deutsche Verein für Psychiatrie ist das berufene Organ, in dieser
Richtung eine Änderung der Reichsstatistik herbeizuführen. Es unter¬
liegt keinem Zweifel, daß die Sache auf Schwierigkeiten stoßen und Zeit
erfordern wird, vor allem wegen der voraussichtlich schwierigen Einigung
über die Klassifikation der Geisteskrankheiten. Um so mehr ist es nötig,
daß unverzüglich an die Vorarbeiten herangegangen und zu diesem Zweck
eine Kommission gewählt wird, welcher sowohl Vertreter des Lehrfaches
als der praktischen Psychiatrie angehören. Die Tatsache, daß der Deutsche
Verein für Psychiatrie sich bereits mit den Vorarbeiten für eine Statistik¬
änderung beschäftigt, wird auch die Vorgesetzten Verwaltungsbehörden
in den anderen Bundesstaaten voraussichtlich dazu geneigt machen,
einstweilen auf die Ausfüllung der bisherigen Tabellen zu verzichten.
Max LaeAr-Haus Schönow bittet auch um Berücksichtigung der
neurologischen Diagnostik.
Der Vorstand schlägt eine Kommission von 5 Mitgliedern vor. Der
Antrag wird angenommen und in die statistische Kommission die Herren
Cramer -Göttingen, Fischer- Wiesloch, Kraepel in -München, Mercklin-
Treptow und Vocke -Eglfing gewählt.
Der Antrag Aschaffenburg-Köln: „Der Vorstand des Vereins möge
sich künftig mit dem Vorstand der Internationalen krimi¬
nalistischen Vereinigung in Verbindung setzen, um eine
Verabredung über Ort und Zeit der Jahressitzungen zu treffen“, wird an¬
genommen mit dem Vorschlag des Vorstandes, für diesmal den Vorstand
der Intern. Kriminal. Vereinigung nachträglich von den Beschlüssen un¬
serer Versammlung über Ort und Zeit der nächsten Jahresversammlung
zu unterrichten.
Die Standeskommission beantragt a) die im Aufträge
der Standeskommission ausgearbeitete Zusammenstellung der Gehalts¬
und Anstellungsverhältnisse der Ärzte an den deutschen Heil- und Pflege¬
anstalten für Psychisch-Kranke den Verwaltungen und Regierungen mit-
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UNI VERS ITY OF MICHIGAfcJ
Deutscher Verein für Psychiatrie.
723
zuteilen und dabei b) zu erklären, es sei wünschenswert, allen Abteilungs¬
oder Anstaltsärzten allmählich höhere Bezüge und Einkünfte ähnlich
wie den Oberärzten zukommen zu lassen.
Siemens berichtet über die Arbeiten der Standeskommission: Ent¬
sprechend dem Beschluß der Jahresversammlung 1910 ist im Aufträge
der Kommission vom Kollegen .Schröder-Altscherbitz eine Zusammen¬
stellung der Anstellungs- und der Gehaltsverhältnisse der'Anstaltsärzte
ausgearbeitet und in der Psychiatrisch-neurologischen Wochenschrift
sowie in Laehrs Buch über die deutschen Anstalten für Psychisch-Kranke
veröffentlicht worden. Der Kollege Fischer -Wiesloch regte an, die Zu¬
sammenstellung je in einem Abdrucke den Regierungen, Provinzial- und
Kreisverwaltungen mitzuteilen. Um dies nachzuholen, stellt die Standes¬
kommission den Ihnen vorgelegten Antrag. Als eine Erweiterung dieses
Antrags hat Kollege Cramer angeregt: zu beantragen, daß die materielle
Stellung der „Anstalts“- oder ,,Abteilungs“ärzte gebessert werde. Dahin
zielt unser Antrag 2. Hierzu will Herr Cramer selbst eine Begründung geben.
Oamer-Göttingen hält es für erforderlich, die Zwischenstellen
materiell unabhängig zu gestalten.
Zinn -Eberswalde: Der erste Teil des vorliegenden Antrages der
Standeskommission dürfte wohl allgemeiner Zustimmung sicher sein,
nicht so der zweite Teil. Sein Wortlaut erklärt es für „erforderlich“,
die Bezüge der Anstaltsärzte denen der Oberärzte allmählich gleichzu-
machen. Wenn damit lediglich gemeint sein soll, die Anstaltsärzte in den
Endbezügen ihres Gehalts den Oberärzten allmählich gleichzustellen,
so dürften dagegen wesentliche Bedenken nicht bestehen. Dieser Forderung
ist ja vielfach schon Rechnung getragen. So besteht für die Provinz
Brandenburg die Bestimmung, daß jeder Anstaltsarzt, falls er nach 6 Jahren
nicht Oberarzt geworden ist, für seine Person zum Oberarzt mit den
entsprechenden Gehaltsbezügen befördert werden kann, auch wenn etats¬
mäßige Oberarztstellen nicht frei sind. Bisher ist es zu einer solchen
Beförderung allerdings noch nicht gekommen, da bei der stetigen Ver¬
mehrung der Oberarztstellen die Beförderung immer schon vor Ablauf
des genannten Zeitraumes erfolgt ist.
Der Antrag erhält aber eine ganz andere und viel weitergehende
Beurteilung, sobald die geforderte Gleichstellung der Anstaltsärzte mit
den Oberärzten auch auf das Anfangsgehalt der Anstaltsärzte übertragen
wird. Es würde das z. B. für die Provinz Brandenburg eine Erhöhung
um 1000 Mark bedeuten. Wie die Verhältnisse für die anderen Provinzen
liegen, kann ich im Augenblick nicht übersehen, zumal der Antrag etwas
überraschend kommt und eine Vorbereitung durch gegenseitige Aus¬
sprache nicht mehr möglich ist. Es greift der Antrag in seiner jetzigen
Fassung aber auch direkt in die bestehenden ärztlichen Organisationen
der Anstalten ein, die in den einzelnen Provinzen verschieden sind. Das
scheint mir bedenklich und für den beabsichtigten Zweck nicht förderlich.
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724
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Und gerade weil ich in dem Streben nach Besserstellung der Ärzte an unseren
Anstalten eine der wichtigsten Aufgaben eines Anstaltsdirektors erblicke,
so möchte ich alles vermieden wissen, was den Erfolg stören könnte. Der
Grundsatz nil nocere gilt auch hier. Ich fürchte, ein Antrag in vorliegender
Fassung kann uns bei unseren Behörden mehr schaden als nützen; er wird
auf die zuständigen Instanzen nicht den von uns erwünschten Eindruck
machen und so unsere Bemühungen vielleicht noch erschweren. Ich
möchte daher die Herren Antragsteller bitten, den zweiten Teil ihres
Antrages zurückzuziehen oder ihm eine Fassung zu geben, die den ge¬
äußerten Bedenken Rechnung trägt.
Foc/re-Eglfing bittet, den Antrag der Standeskommission anzu¬
nehmen. Bei der ausgesprochenen, durchaus begründeten Neigung, große
Anstalten zu bauen, wird die Zahl der Oberärzte in leitenden Stellungen
immer geringer, und es ist dringend wünschenswert, daß die älterenAnstalts-
ärzte die Möglichkeit haben, höhere Endgehälter zu erreichen. In Ober¬
bayern ist dem bereits Rechnung getragen. Die Allst alt Eglflng hat zwei
leitende Oberärzte mit 5400—7800 Mark Gehalt, drei Anstaltsärzte, welche
den Titel „Oberarzt“ haben, mit 4800—7200 Mark Gehalt und vier Anstalts¬
ärzte mit einem Gehalt von 3000—6000 Mark.
Simon -Warstein: Einer völligen Gleichstellung aller fest an-
gestellten Anstaltsärzte kann ich nicht das Wort reden, weil, zum mindesten
an den großen Anstalten, die an die einzelnen Ärzte zu stellenden Auf¬
gaben sehr verschieden sind. Wenn ich Herrn Kollegen Vocke richtig ver¬
standen habe, gibt es gerade an der von ihm geleiteten Anstalt nicht nur
zwei, sondern sogar drei verschiedene Dienststellungen mit verschiedener
Besoldung zwischen den Assistenzärzten und dem Direktor. Ich glaube,
daß man mit zwei auskommen kann. Jedenfalls müssen aber dem Direktor
zur unmittelbaren Mitarbeit bei der Leitung der Anstalt, besonders aber
auch in verwaltungstechnischer Hinsicht, zwei bis drei auch in Ver¬
waltungsangelegenheiten erfahrene Kollegen zur Seite stehen, und diese
müssen auch durch ihre Dienststellung und dienstliche Bezeichnung
in der Anstalt herausgehoben werden (Oberärzte).
Hierbei sollte es sich aber in der Hauptsache um eine Unterscheidung
in der dienstlichen Stellung und nicht im Endgehalt handeln. Ich bin auch
bei unserer Vorgesetzten Behörde, leider mit geringem Erfolg, dafür
eingetreten, daß die Endgehälter der Abteilungsärzte nur um einen geringen
Betrag niedriger bemessen werden sollten als die der Oberärzte. Im An¬
fangsgehalt der Oberärzte und der Abteilungsärzte kann schon deshalb
kein größerer Unterschied bestehen, weil diejenigen Herren, welche in die
Oberarztstellung einrücken, wohl regelmäßig schon ein höheres Dienst-
alter als Abteilungsarzt erreicht haben.
Der Vorsitzende stellt fest, daß die Standeskommission
im zweiten Punkt ihres Antrags die End bezöge der Abteilungs- und
Anstaltsärzte im Auge gehabt hat.
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Deutscher Verein für Psychiatrie.
725
Der Antrag wird nunmehr angenommen.
Siemens -Lauenburg fährt fort: Wer die Ausführungen im Psy¬
chiatrischen Verein zu Berlin gelesen hat, sollte meinen, daß die Standes -
Kommission nun noch mit Anträgen kommen müßte bezüglich der Angriffe
in der Presse, welche in letzter Zeit wieder einmal gegen uns Psychiater
gerichtet sind. Aber die Standeskommission hat geglaubt, zurzeit davon
absehen zu müssen. Persönliche Angriffe wird nach wie vor jeder selbst
zurückweisen müssen, oder seine Vorgesetzte Behörde wird für ihn Schritte
tun. Was den behaupteten Mangel der gesetzlichen Bestimmungen betrifft,
so ist die Sache im Fluß; in Baden ist ein Irrengesetz erlassen, in Bayern
wird eine Erweiterung der gesetzlichen Bestimmungen erwogen, und in
Preußen hat die Budgetkommission des Abgeordnetenhauses der Justiz¬
kommission einen Antrag überwiesen, der den Erlaß eines Irrengesetzes
fordert. Wir können abwarten, was herauskommen wird, und wir haben
in unserer Justizkommission die Kräfte, welche sich rechtzeitig darum
bekümmern werden. Was die Beziehungen der Presse anlangt, so hat
Herr Friedländer bereits die Güte gehabt, mit dem deutschen Presse-
verein zu verhandeln; weitere gemeinsame Erörterungen sind in Aussicht
genommen.
Sie sehen also m. H., daß die Sachen in guten Händen, sind und daß
heute weitere Beschlüsse nicht nötig erscheinen.
Bei der nun folgenden Wahl des Vorstandes werden
die Herren Cramer -Göttingen und Kraepelin-Mü nchen durch Zuruf
wiedergewählt und nehmen die Wahl an.
£iemens-Lauenburg LP.: Die Errichtung eines bio¬
logischen Forschungsinstituts über die körper¬
lichen Grundlagen der Geisteskrankheiten.
M. H.i Angesichts der allmählich bis ins Unerträgliche steigenden
Kosten, welche die Allgemeinheit für das Irrenwesen aufbringen muß,
erscheint es als unsere dringendste Pflicht, auf Abhilfe zu sinnen. Nicht
die Konstruktion von kostspieligen Anstaltsneubauten oder das Aus¬
denken von neuen Verpflegungsformen für die Geisteskranken kann auf
die Dauer uns und unser Volk befriedigen; wir müssen dem Übel an die
Wurzel zu kommen suchen.
Der Prozentsatz der Geisteskranken innerhalb der Bevölkerung
ist gegen früher nicht erheblich gewachsen. Die Bevölkerungsziffer selbst
steigt, und es tritt bei den sozialen Verhältnissen der Neuzeit jetzt eher
wie früher die Notwendigkeit ein, die Geisteskranken der Anstaltpflege
zu übergeben. Auch werden die Kranken jetzt besser erkannt wie früher.
Da die Heilungsergebnisse der Anstalten leider keine großen sind,
so häufen sich in den Anstalten die Unheilbaren an, und der Bestand
wächst andauernd. Der Zustand wird immer unbefriedigender.
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
An Vorschlägen zur Abhilfe fehlt es nicht. Letzthin hat mein Kollege
Herr Mereklin -Treptow a. R. unserer Verwaltungsbehörde vorgeschlagen,
es möchte durch ein Merkblatt die Bevölkerung aufgeklärt werden über
die drei Hauptursachen der Geisteskrankheit. Es ist vielfach, besonders
auf dem Lande, noch unbekannt, wie schädigend der übermäßige Alkohol¬
genuß auf die Nachkommenschaft wirkt, daß die Syphilis, wenn sie nicht
ständig überwacht und behandelt wird, Träger und Nachkommen am
Nervensystem schädigt, und daß Geisteskranke, Schwachsinnige und
Epileptische nicht heiraten dürfen. Es soll versucht werden, durch das
Merkblatt breite Volksschichten aufzuklären. Die Konferenz der preußi¬
schen Landesdirektoren wird sich in diesem Sommer mit der Frage be¬
fassen.
Aber alle solche Maßnahmen versprechen wenig Nutzen. Der letzte
Grund der üblen Lage ist doch immer der, daß wir noch nicht wissen,
durch welche krankhaften inneren Vorgänge im Körper jene Schädlichkeit
entsteht, welche auf das Gehirn den unheilvollen Einfluß ausübt.
Was ist der krankhafte Grundvorgang bei der Seelenstörung, ins¬
besondere bei jener Form der Störung, welche uns die meisten Kranken
in die Anstalten liefert und dauernd darin festhält, der zurzeit noch so¬
genannten Dementia praecox? Und weiter der manisch-depressiven
Seelenstörung, und all der anderen Misch- und Übergangsformen? Und
wodurch entsteht die sogenannte genuine Epilepsie? Was ist die Grund-
krankheit der präsenilen Angstpsychose —und so fort?-Denn:
Beängstigung, Aufregung, Sinnestäuschungen, Wahnvorstellungen, Ver-
bigerieren, katatone Züge, Inkohärenz, Delirien, schwere Bewußtseins¬
störung mit Amnesie usw. sind doch nur die äußeren Symptome und
Symptomenkomplexe, wie etwa Husten und Bruststiche bei der Lungen¬
krankheit (wie Cramer schon richtig gesagt hat)! Wir standen und stehen
bisher bei den sogenannten endogenen Geistesstörungen dunklen Vor¬
gängen gegenüber, wir kennen den Grund Vorgang nicht. Was nutzt uns
all der Bienenfleiß, mit dem in den letzten Jahrzehnten die Symptomen-
komplexe der Seelenstörungen voneinander abgegrenzt wurden, was der
Eifer, mit dem immer neue Symptome und Symptömchen differenzial-
diagnostisch gewertet und in den Vordergrund geschoben wurden? Un¬
glaublich viele Fälle sind genau beschrieben, abgegrenzt und eingeteilt
worden, immer neue Schränke mit vielen Fächern sind damit gefüllt
worden — lauter Material für den ,,Juliusturm der Wissenschaft“!
„Typisch“ sollen die Fälle sein für diese oder jene Form, wird be¬
hauptet. Dabei denkt sich jeder als „typisch“ etwas anderes, das, was
er gerade beobachtet hat, und was sich ihm nach einigen Jahren vielleicht
anders vorstellt.
Man wird bei den Psychosen auseinanderhalten müssen: a) die mehr
elementaren Störungen, w r elche die — uns noch unbekannte — Grund-
krankheit im Körper verursacht, also z. B. Angst, Halluzinationen, Auf-
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Deutscher Verein für Psychiatrie.
727
regung, Hemmung, katatone Erscheinungen, Delirien — einerseits, und
andererseits: b) jene Symptome geistiger Art, welche aus der
Verarbeitung dieser krankhaft-elementaren Störungen durch
die Psyche entstehen. Die Bilder, welche daraus hervorgehen, werden
sehr verschieden sein. Es gibt ja auch nicht zwei Menschen, welche dieselbe
Psyche haben, und wären es Zwillinge. Alle sind verschieden geartet und
veranlagt. Der Bewußtseinsinhalt, das mehr oder weniger hoch entwickelte
geistige Leben ist bei den Menschen zu sehr verschieden, und verschieden
wird die Art sein, wie sie sich mit der inneren krankhaften Störung abfinden,
sie verarbeiten und das nach außen hin erkennbar machen. Daher sind
die Formen und Fälle individuell verschieden; jeder Mensch hat
seine eigene Psychose (wie er ja auch seinen eigenen Rausch
hat, was man bei jeder Kneiperei oder bei jeder Qo-oformnarkose sehen
kann). Daher kommen dann die verschiedenen Auffassungen der Be¬
obachtung.
Wie kommen nun die krankhaften Elementarstörungen zustande?
Daß man sie durch gewisse Nervengifte unmittelbar hervorrufen kann
(Alkohol, Ergotismus, Pellagra), daß sie durch Kopfverletzung ent¬
stehen können, das wußte man schon. Aber durch was entstehen sie
genuin (wie man jetzt noch sagt)?
Kraepelins hellem Blick verdanken wir viel. Als er uns lehrte, Ver¬
lauf und Ausgang dieser Störungen als Ganzes zu überschauen und das
den bunten Zustandbildern Gemeinsame zu erkennen — ähnlich wie wir
das bei der fortschreitenden Paralyse schon kennen gelernt hatten —,
sprach er (und andere mit ihm) die Vermutung aus, daß es abnorme inner¬
sekretorische Vorgänge seien, welche der Störung zugrundeliegen.
Das Studium der inneren Sekretion der verschiedenen Drüsen hat
uns inzwischen schon einigen Lichtschein gebracht. Die Bedeutung der
Schilddrüse, der Hypophysis cerebri, der Zirbeldrüse, der Epithelkörperchen,
der Nebennieren, der Thymusdrüse, des Pankreas, der Leber, der Ovarien
und Hoden fängt man jetzt an, in ihrer Wirkung und besonders ihrer
Wechselwirkung zu untersuchen und zu begreifen. Die Erfahrungen
beim Kretinismus, beim Myxödem, bei der Kachexia strumipriva, bei der
Basedowschen Krankheit, bei der Akromegalie, der Tetanie u. a. geben
uns wichtige Fingerzeige. Hier liegt das Gebiet, dessen Erforschung mit
Hilfe der biologischen Chemie, der Serologie und der experimentellen
Therapie uns weitere Erkenntnis bringen wird. Und mit der Er¬
kenntnis, so dürfen wir hoffen, auch Mittel zur Vorbeugung
und zur Heilung!
Das mag manchem heute noch als ein Phantasma Vorkommen.
Aber wir verfügen doch schon jetzt über recht beachtenswerte klinische
und experimentelle Tatsachen. Es würde zu weit führen und Ihnen nichts
Neues bringen, wollte ich hier ein Referat über die Funktions- und Ausfall¬
erscheinungen sowie die Wechselbeziehungen der einzelnen Drüsen mit
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728 Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
innerer Sekretion zu geben versuchen. Es finden sich in unserer neuesten
medizinischen Literatur interessante Arbeiten, die hierher gehören ( Fleisch¬
mann, Chvostek, Münzer, Ascoli u. Legnoni, Biach u. Huttes u. a.).
Auch von den Psychiatern sind schon interessante Vorversuche
gemacht worden, so von Prof. Berger in Jena an sich selbst, von Muck
u. Holzmann mit ihrer Kobragiftreaktion u. a.
Einfach ist das Problem nicht. Es waltet wohl nicht bei allen Psy¬
chosen derselbe Vorgang ob. Es werden viele Kombinationen in den Wechsel¬
wirkungen und in ihrer Störung Vorkommen, wie es ja auch z. B. beim
Diabetes, der Störung im Zuckerhaushalt, verschiedene Arten und Ver¬
laufsformen gibt.
Unsere ganze Entwicklung von klein auf, körperlich und geistig.
6teht ja unter der Wechselwirkung der innersekretorischen Drüsen. Exstir¬
pation der Thymus bei ganz jungen Tieren bewirkt Zurückbleiben in der
Entwicklung. Der Wuchs, der Knochenbau wird von dem Hirnanhang
beeinflußt (Akromegalie). Fehlen oder Entartung der Schilddrüse hat die
bekannten Erscheinungen zur Folge. Entfernung oder Verkümmerung
der Geschlechtsdrüsen übt gewisse Hemmungen bei der Entwicklung aus.
Schwere Störung der Leberfunktion im Kindesalter kann Zurückbleiben
im Körperwachstum und Fehlen der Pubertätsentwicklung bewirken 1 ).
Bei der „Dementia praecox“ genannten Störung, die im jugend¬
lichen Alter auftritt, findet man oft bleibenden infantilen Habitus. Bei
der Sektion solcher Fälle habe ich oft Vermehrung des interlobulären
Bindegewebes mit einer eigentümlich dunklen Färbung der Lebermasse
angetroflen. — Der Zusammenhang von Leberstörungen mit Geistes¬
krankheiten war schon den Alten bekannt.
Die oft sehr auffallenden Störungen der Körperernährung — die
zeitweilige unerklärliche Abmagerung, dann wieder die starke Fett-
ansammlung, die wir nicht selten bei demselben Individuum im Verlauf
seiner Psychose beobachten — sind kaum anders als durch eine Veränderung
der inneren Sekretion zu erklären. Man denkt dabei u. a. an die bekannt
gewordenen Wechselbeziehungen zwischen Leber, oberer Dünndarm-
Schleimhaut und Pankreas u. ähnL
Auch der Speichelfluß mancher Katatoniker läßt an solche Störungen
denken. — Die Muskelspannungen der Katatoniker, die Steigerung der
idiomuskulären Erregbarkeit, die fibrillären Muskelzuckungen mancher
älterer, besonders weiblicher Verblödungskranker, die an Paralysis agitans
erinnernden Zuckungen, die choreatischen Störungen mancher Verblödungs-
l ) Einen solchen Fall habe ich miterlebt: nach schwerer Misch-
infektion bei Masern trat zuerst langjährige Schwellung, dann Schrumpfung
des interlobulären Lebergewebes ein. Der junge Mensch blieb im Wachstum
und in der Pubertätsentwicklung auffallend zurück und starb im 18. Lebens¬
jahre. Jede geistige Abnormität fehlte in diesem Fall.
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Deutscher Verein für Psychiatrie.
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kranker beruhen vielleicht au! Störungen im Bereich der Epithelkörperchen
und ihren Wechselbeziehungen. Krämpfe finden wir ja sehr häufig bei den
Verblödungskranken, von leichtester Art bis zu schwersten epileptischen
Anfällen.
Seitdem wir darauf achten, finden wir im späteren Verlauf bei jedem
Fall unserer Verblödungskranken krankhafte Veränderungen im Rücken¬
mark, ähnlich den Veränderungen, wie wir sie bei der Dementia paralytica,
beim Ergotismus, bei der Pellagra finden. Ich habe an Herrn Prof. Alz¬
heimer bereits einige Präparate geschickt; er wird später die Güte haben
und die Befunde mitteilen.
Auf innere sekretorisch-regulatorische Störungen deutet auch die
Tatsache hin, welche wir bei manchen Verblödungskranken beobachten,
nämlich der — zuweilen fast tägliche — Wechsel in Stimmung und Ver¬
halten: heute aufgeregt und halluzinierend, morgen geordnet oder gehemmt
und deprimiert. Auch bei der Paralyse kann man den Wechsel beobachten.
Im Vordergrund des Krankheitbildes steht bekanntlich dieser Wechsel
beim manisch-depressiven Irresein. Aber wie oft haben diese Manisch-
depressiven auch nebenbei katatonische Symptome, vasomotorische
und trophische Abweichungen u. a. — Vielleicht sind das alles nur Modi¬
fikationen und Kombinationen der Störungen in den Wechselbeziehungen
innersekretorischer Organe, deren Erforschung erst Licht in diese, in ihrem
Wesen bisher noch unbekannten Krankheiten bringen wird.
Die sogenannten degenerativen Anlagen, die Psychopathien u. a., sind
vielleicht nur rudimentäre innersekretorische Störungen regulatorischer
Organe, auf ererbter oder erworbener Anlage beruhend.
Die Dementia paralytica ist vielleicht nur eine durch das syphilitische
Virus in ihrem Verlauf beschleunigte und modifizierte Dementia praecox,
und die paralytischen Anfälle haben denselben Wert wie die epileptischen
Anfälle bei der Dementia praecox. Daß die sogenannte genuine Epilepsie
auf der Bildung von Giftstoffen — auf innersekretorischen Störungen —
beruht, darüber hat wohl niemand mehr einen Zweifel, desgleichen die
Eklampsie u. a.
Es ist eine bekannte klinische Tatsache, daß beim Aufhören der
Ovarialfunktion und im Klimakterium auch bei geistig sonst ganz gesunden
Frauen nervöse Beschwerden auftreten: Herzklopfen, Wallungen zum
Kopf, Schwindelgefühl, Ohrensausen, Ohnmächten, vermehrte Reizbar¬
keit, Angst bis zur leichten Psychose. Hieran ist wahrscheinlich doch das
Schwinden — der Ausfall — der Ovarialhormone schuld. Vielleicht sind
das ähnliche Störungen, wie sie bei der sogenannten präsenilen Angst¬
psychose und bei der klimakterischen Psychose vorliegen. Von einerWechsel-
wirkung der Ovarien und Hoden auf die Hypophysis und die Zirbeldrüse
ist schon allerlei bekannt. — Auffallend oft findet man bei länger an
Dementia praecox Leidenden Psammome in der Zirbeldrüse. Mein Gro߬
vater, der alte Ruer (der erste Direktor der westfälischen Anstalt Marsberg)
hatte ein ganzes Kästchen von solchem „Gehirnsand“.
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730
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Kurz, wohin wir sehen, stoBen wir bei unseren Kranken auf abnorme
Vorgänge in innersekretorischen Organen, deren Erforschung uns Licht
in das bisher noch herrschende nosologische Dunkel der Psychosen zu
bringen verspricht. Die chemisch-pharmazeutische Industrie hat sich
der Organe bereits bemächtigt' und vertreibt die Präparate zur Organ-
therapie, trotzdem daß die exakte biologische Erforschung hoch aussteht.
Ihre Erforschung scheint mir das nötigste zu sein,
was für die Psychiatrie geschehen muß, und nicht nur für die Psychiatrie,
sondern für den Staat, der sich der vielen Kranken kaum noch
erwehren kann, und der unter den großen Kosten für die Irren¬
pflegeschwerleidet.
M. H.! Ich bin so ausführlich geworden, nicht weil ich Ihnen
viel Neues sagen mußte — Sie kennen das alles ebenso gut und besser
als ich —, sondern weil wir den Behörden gegenüber, an die wir uns wenden
müssen, und der Allgemeinheit eine Begründung unserer Forderung
geben müssen. Unser Verein muß den Anstoß dazu geben, daß ein bio¬
logisches Forschungsinstitut für die Grundlage der Seelenstörungen
errichtet wird. Die vielen Tausende von Kranken, die dem Staat zur
Last fallen, die großen Kosten, welche die Allgemeinheit für die Geistes¬
kranken und die Anstalten aufbringen muß, schreien nach
solcher Forschung.
Unsere provinzialen und kommunalen Irrenanstalten können diese
Forschung nicht leisten. Sie sind mit so vielen Geschäften der Verwaltung,
der symptomatischen Behandlung, der Verpflegung, Beschäftigung und
Begutachtung der Kranken überlastet. Die psychiatrischen Kliniken
sind meist nur Durchgangstationen und haben zu dem anderen auch noch
die Lehraufgabe und die Lehrmeinung.
Es bedarf eines besonderen, großzügigen, bio¬
logischen und experimentell-therapeutischen Forschungs¬
instituts, am besten in der Großstadt, mit der Möglichkeit, sich aus
den Anstalten des Landes die geeigneten Fälle auszuwählen.
Wer soll es errichten? — Ich habe mich, zunächst privatim, an die
Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften gewandt
mit der Frage, ob Aussicht wäre, daß sie ein solches Institut errichten
würde. Exzellenz Harnack antwortete, daß seines Erachtens der Staat
verpflichtet wäre, es aus seinen Mitteln zu gründen. Die Kaiser-Wilhelm-
Gesellschaft sei in Erwägungen über die Errichtung eines Instituts für
Hirnforschung begriffen und erörtere auch die Frage, ob und in welchem
Umfang sie der psychologischen Forschung entgegenkommen solle.
Das aber kann uns nicht viel helfen, wir brauchen ein biologi¬
sches Forschungsinstitut. Auch die Erfüllung des Hommerschen Vor¬
schlags (einer besonderen Abteilung beim Reichsgesundheitsamt) wird
uns kaum weiter bringen. Dobrick („Die Not der Psychiatrie“) denkt
sich sicherlich etwas ähnliches wie ich.
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Deutscher Verein für Psychiatrie.
731
Im Reichstag ist der Antrag gestellt, für die Erforschung der Maul¬
und Klauenseuche ein Forschungsinstitut zu errichten — natürlich auf
Reichskosten. Ist aber das biologische Forschungsinstitut für die Geistes¬
krankheiten nicht unendlich viel wichtiger? — Wo sind die reichen Stifter,
die die Mittel dazu hergeben!? Ich denke hier in erster Linie auch an die
chemisch-pharmazeutische Industrie.
Zum Schluß, m. H., noch eins.
Die Frommen im Lande werden wieder zetern über die materialisti¬
schen Ärzte. Aber wir sind nicht materialistisch. Wir halten es mit Goethe:
Das Erforschliche zu erforschen und das Unerforschliche zu verehren!
Der menschliche Geist bedient sich der Körperorgane, des Gehirns und
der Nerven, um sich zu äußern und zu betätigen. Ist das Gehirn und die
Nerven krank oder ve"kümmert, so sind die seelischen Äußerungen krank¬
hafte und mangelhafte. Das sind Tatsachen. Zu erforschen das, was
Gehirn und Nerven krank macht, ist unsere Aufgabe. Den unerforschlichen
Geist wollen wir verehren!
Beschließen Sie und beauftragen Sie Ihren Vorstand, an die Be¬
hörden und Gesellschaften heranzutreten wegen Errichtung eines bio¬
logischen Forschungsinstituts für die körperlichen Grundlagen der Geistes¬
krankheiten!
Diskussion. — Kraepelin -München: Daß ein psychiatrisches
Forschungsinstitut ein reiches Feld der Betätigung finden und sehr segens¬
reich wirken könnte, unterliegt keinem Zweifel. Wie es aber einzurichten
und nach welchen Richtungen es auszubauen wäre, bedarf sehr gründlicher
Erwägung. Es dürfte am zweckmäßigsten sein, wenn der Vorstand des
Vereins mit der Aufgabe betraut wird, ein bestimmtes Programm über
diese Fragen auszuarbeiten.
Der Verein beschließt, seinen Vorstand zu beauftragen, geeignete
Schritte zu erwägen zur Errichtung eines biologischen Forschungsinstituts
über die körperlichen Grundlagen der Geistesstörungen.
Gegenüber dem Vorschläge des Vorstandes, die nächste
Jahresversammlung in Göttingen vom 24. bis 26. April abzu¬
halten, empfiehlt Neißer -Bunzlau Breslau als Ort der nächsten Ver¬
sammlung. Die Versammlung entschließt sich für Breslau und die Zeit
um Pfingsten; die nähere Bestimmung bleibt dem Vorstand überlassen.
Als Referate werden, entsprechend dem Beschluß des Vorstandes, fest¬
gesetzt: 1. Geminderte Zurechnungfähigkeit (Ref. Aschaffenburg -Köln
und Wilmanns- Heidelberg); 2. Psychiatrie und Fürsorgeerziehung (Ref.
Cramer -Gö tt ingen).
Rittershaus -Hamburg : Zur Psychologie der weib¬
lichen Ausnahmezustände.
Vortr. berichtet über psychologische Versuche an Menstruierten.
Bei Ermüdungsversuchen mit dem WeVersehen Arbeitschreiber zeigte sich
oft ein bedeutend früherer und steilerer Abfall der Kurve, oder gegen Ende
Zeitsehrif für Psychiatrie. LXIX. 5. 50
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732
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
der Kurve erschienen große Schwankungen, wohl infolge plötzlicher
Willensantriebe, fast immer jedoch war — oft als einziger Unterschied
gegenüber dem Normalen — ein früheres Aufhören der Kurve zu bemerken.
Letzteres würde nach der bekannten Theorie, nach der die Größe der
einzelnen Arbeitleistungen von muskulären, ihre Anzahl aber von zentralen
Einflüssen abhängig sei, auf eine Steigerung der zentralen Ermüdbarkeit
zurzeit der Menstruation binweisen. In einem Falle ähnelte jedoch die
Menstruationskurve augenscheinlich der bekannten Kurve bei Unfall¬
hysterikern, die unter der Autosuggestion der eigenen Insuffizienz nicht
mit voller Kraft arbeiten, infolgedessen keine Ermüdungs-, aber auch
keine Erholungserscheinungen zeigen, dabei aber auffallend lange zu
arbeiten vermögen („wurmförmiges Dahinkriechen der Kurve“ nach
Buddee). — Die Versuche mit fortlaufender Addition nach Kraepelin
ergaben zum Teil ähnliche Resultate, jedoch waren hier die Befunde oft
nicht ganz einwandfrei, anscheinend erschweren noch nicht genügend
bekannte psychische Momente die Anwendung dieser Methode bei weib¬
lichen Versuchspersonen bis zu einem gewissen Grade. — Die außerordent¬
liche Erhöhung der Affekterregbarkeit läßt sich gut nachweisen und in
Kurven darstellen durch die Methode der „Komplexforschung“, die vom
Vortr. etwas modifizierte Anwendung der sogenannten „Tatbestand¬
diagnostik“ vermittels des Assoziationsexperiments nach Art der Züricher
Schule. Es zeigte sich bei der mannigfachsten Versuchsanordnung,
bei Anwendung gleicher und verschiedener Reizschemata, bei wenigen
und vielen Komplexreizen, leichten und starken, bei Vornahme der Ver¬
gleichsversuche vor oder nach der Menstruation usw., trotz des Faktors
der Gewöhnung eine deutliche Steigerung der Komplexempfindlichkeit,
sowohl während der Menstruation — besonders am ersten Tage — als
auch oft in der prämenstruellen Zeit. — Das gleiche in noch viel höherem
Grade fand sich bei einer Reihe von unehelich Schwangeren der Erlanger
gynäkologischen Klinik, wobei es ganz gleichgültig war, ob die Versuch
in der Mitte oder gegen Ende der Schwangerschaft, einen oder mehrere
Tage nach der Geburt vorgenommen wurden. Die Entbindung selbst
hatte keinerlei Einfluß, etwa im Sinne einer Lösung der AfTektspannung. —
Ähnliche Befunde sind vielleicht auch in den übrigen Ausnahmezuständen
des weiblichen Geschlechts zu erwarten, in der Pubertät (Backfischalter)
und im Klimakterium. Die hochgradige Affektlabilität ist nun aber nach
den Untersuchungen von Jung-Riklin — die Vortr. durchaus bestätigen
konnte — charakteristisch für Hysterie, so daß man vielleicht, cum grano
solis natürlich, sagen kann, daß die meisten Frauen zu jenen Zeiten etwas
hysterisch sind. — Gewissermaßen die Probe hierauf gab die Kurve einer
schwangeren Hysterika, deren Komplexempfindlichkeit kaum noch zu
überbieten war. — Die Freudschen Theorien sind zu all diesen Befunden
natürlich weder Vorbedingung noch absolut notwendige Folgerungen.
Irgendwelche praktische Konsequenzen—etwa in forensischer—aus diesen
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Deutscher Verein für Psychiatrie.
733
Versuchen zu ziehen, wäre natürlich verfrüht; sie sind nichts als eine Fort¬
setzung der von WoUenberg begonnenen Bestrebungen, diese Zustände
mit den exakten Methoden des psychologischen Experiments zu erforschen,
und bedürfen selbstverständlich einer Nachprüfung und einer Ergänzung
durch andere Methoden.
Diskussion. — OUendorff- Schöneberg stehen keine Experimente
zur Verfügung, aber es ist ihm in der Praxis aufgefallen, daß z. B. Damen
von der' Telephonie, die an traumatischer Neurose litten, gerade zurzeit
der Menstruation sehr häufig eine Exazerbation ihres Leidens aufwiesen,
und daß Hysterische auch meist gerade in dieser Zeit heftige Anfälle
bekamen. Er fand ferner bei Untersuchungen an Selbstmörderleichen —
sein Material entstammt der Unterrichtsanstalt für Staatsarzneikunde
zu Berlin (Geh.-R. Straßmann) und umfaßt eine Zahl von 281 Selbst¬
mördern, darunter 77 weibliche, in 5 Jahren —, daß sich 49,35% der
Selbstmörderinnen zurZeit der Tat in der Steigerung eines physiologisch-
psychischen Reizzustandes, der Menstruation, Gravidität oder Laktation
befanden. Er erinnert daran, daß bereits im Jahre 1900 Heller -Kiel auf
dieses wichtige Faktum, namentlich zur Berücksichtigung in der Frauen¬
frage, hingewiesen hat.
O. selbst hat diese Tatsache eingehend gewürdigt in einer Arbeit,
die in der Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin erscheinen wird und die
Ursachen des Selbstmordes kritisch beleuchtet. Er würde es freudig
begrüßen, wenn Gaupp -Tübingen in seinen Forschungen in der Selbstmord¬
frage auch Gewicht auf diese Frage legte und sein Material daraufhin prüfte.
Urstein -Warschau hat Steigerung der Affekte und Zunahme der
Krankheiterscheinungen während der Menses bei mindestens 1000 darauf
geprüften Fällen recht oft beobachtet. In einem Dutzend der Fälle aber
ließ sich das Gegenteil beobachten. Patientinnen, die sonst ganz verwirrt'
waren, hatten gerade zur Zeit der Regel ihre besten und klarsten Tage.
Manche fühlten sich vor der Periode am wohlsten. Oft blieben die Menses
vor Ausbruch einer rezidivierenden Erregung aus und stellten sich nach
Abklingen der Exaltation ein. Auch kommt es vor, daß Menses, die monate-
und jahrelang ausgeblieben sind, im katatonen Stadium wiederkehren,
ohne daß das psychische Befinden sich ändert, geschweige denn bessert.
Von Interesse dürfte es sein, daß bei einzelnen Männern regelmäßig alle
4 Wochen für eine Dauer von 1 bis 2 Tagen eine Zunahme der Unruhe
beobachtet werden konnte. Erwähnenswert ist, daß die Gravidität in
prognostischer Hinsicht eher günstig als nachteilig gewirkt hat: oft ging die
zu Hause lang bestehende depressive oder katatone Erkrankung mit dem
Eintritt der Schwangerschaft plötzlich in temporäre Genesung über;
andere Frauen fühlten sich gerade während der Gravidität am wohlsten.
Wiederholt wurde notiert, daß die Katatonie nach einem Wochenbett
auftrat, um erst nach dem Eintritt der nächsten, manchmal nach 2 bis
5 Jahren erfolgten Konzeption in temporäre Heilung überzugehen.
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734
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Rittershaus (Schlußwort) bemerkt, auf Beziehungen zu Psychosen
einzugehen, sei nicht in seiner Absicht gelegen.
Pförringer- Hamburg: Tierversuche über den erb¬
lichen Einfluß des Alkohols.
Seit iy 2 Jahren bekommt eine Reihe von Hunden fast täglich
100—200 ccm (25 bis 40 %) Äthylalkohol, je nach Größe des Tieres und
Dauer der Verfütterung. Bei den alkoholisierten Tieren selbst waren die
Haupterscheinungen auf körperlichem Gebiet: Zurückbleiben in der Ent¬
wicklung, die Zeichen organischer Schädigung des Zentralnervensystems
und Frühgeburten; auf psychischem Gebiet: Stumpfheit, die geradezu
an Verblödung erinnerte. Bei den Nachkommen alkoholisierter Tiere
wurden epileptiforme Krämpfe, Früh- oder Totgeburten konstatiert.
Die biologische Untersuchung des Blutserums und des Liquor cerebro¬
spinalis ergab Herabsetzung der Resistenz der roten Blutkörperchen in
mäßigem Grade; das hämolytische Komplement und der Normalambozeptor
zeigte keine quantitative Veränderung gegenüber normalen Hunden.
Die Wirkung bakterizider Rezeptoren auf Typhusbazillen war herab¬
gesetzt, ebenso zeigte der opsonische Index sehr niedere Werte, die Herab¬
minderung der antitryptischen Fermente des Serum läßt auf eine All¬
gemeinschädigung des Organismus schließen. Die Untersuchung auf
diastatisches Ferment im Liquor bot nichts Wesentliches. Das biologische
Verhalten des Serums und Liquors der Nachkommen alkoholisierter
Tiere deutet nur in wenigen Fällen auf konstitutionelle Schädigungen hin.
Die anatomische Untersuchung der Hunde ergab, neben akuten und
chronischen Veränderungen im Großhirn, vor allem weitgehende Schädi¬
gungen des Kleinhirns, besonders bezüglich der Purkin /eschen Zellen.
Blutungen waren in allen Teilen des Zentralnervensystems nachweisbar.
Veränderungen zeigten auch die Großhirnzellen alkoholfreier Nachkommen
alkoholisierter Tiere. Die Versuche werden fortgesetzt.
Diskussion. — Schröder -Breslau füttert Kaninchen seit
3 y 2 Jahren mit Alkohol. Er habe vorläufig Nachkommenschaft bis zur
fünften Generation erzielt. Die Sterblichkeit der Tiere ist groß, die Nach¬
kommenschaft wenig zahlreich. Auffressen des Wurfes ist viel häufiger
wie sonst, die Jungen werden vernachlässigt, die Tiere gehen an Durch¬
fällen zugrunde, ziehen sich durch Sturz usw. Frakturen und Verletzungen
zu, erkranken an Rhinitis, Konjunktivitis (direkte Reizung durch Alkohol
beim Fressen), an Otitiden, Hautkrankheiten mit Haarausfall. Bei mehreren
Würfen kamen einige Tiere mit Katarakt zur Welt. Die späteren Genera¬
tionen waren wiederholt sehr ungleich (einige gut entwickelt, andere sehr
kümmerlich, die dann auch weiterhin erheblich zurückblieben). An die
akuten Erkrankungen des chronischen Alkoholismus erinnernde Störungen
sind, bisher wenigstens, nicht beobachtet worden; keine epileptischen
Anfälle, keine als toxisch bedingt zu deutenden Lähmungen usw.
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Deutscher Verein für Psychiatrie.
735
Kafka- Hamburg: Über Entstehung, Zirkulation
und Funktion des Liquor cerebrospinalis. (Mit
Demonstrationen.)
Vortr. berichtet über Versuche, die er zur Klärung verschiedener
noch schwebender Fragen über den Liquor cerebrospinalis anstellte.
Diese bestanden 1. in der subkutanen Eingabe von Lösung des höchst
diffusiblen Farbstoffes Uranin an Frösche und Kaninchen mit oder ohne
gleichzeitige Pilokarpininjektion und nach verschiedenen Zeiten erfolgender
Sektion mit makroskopischer und mikroskopischer Betrachtung des
Zentralnervensystems, besonders der Liquor enthaltenden Räume und der
ihn sezernierenden Gewebe; 2. der Einverleibung per os von 6 bis 8 g
Uranin (Ammoniakverbindung des Fluoreszin) an Psychisch-Kranke mit
normalen und affizierten Meningen und Lumbalpunktion nach verschiedenen
Zeiten, wobei auch in einigen Fällen Pilokarpininjektionen und Halsstauung
in Anwendung kamen; 3. in aktiven und passiven Immunisierungen von
Hunden, Affen und Menschen und Untersuchung des Lumbalpunktats,
in einem Fall auch des Ventrikelpunktats auf Antikörper (besonders
Agglutinine, Antitoxine und Hämolysine); 4. der Untersuchung ver¬
schiedener Liquorportionen bei Entnahme größerer Mengen in morpho¬
logischer, chemischer und biologischer Hinsicht, besonders auch des nach
Halsstauung gewonnenen Liquors; 5. der parallelen biologischen Unter¬
suchung des post mortem entnommenen Spinal- und Ventrikelliquors;
6. der Feststellung, daß geringe, von etwaigen Normalambozeptoren
befreite Mengen fast jeden Liquors in einem hämolytischen System mit
unterlösender Ambozeptordosis Lösung hervorrufen, welches Faktum
von Jakobsthal nur für die Paralyse behauptet und auf Normalambo¬
zeptoren bezogen wurde. Die durch diese Versuche, die weiter fortgesetzt
werden sollen, bisher gewonnenen Resultate ergeben, zusammengehalten
mit den Ansichten der Literatur und früher publizierten Untersuchungen,
im wesentlichen, daß die Zerebrospinalflüssigkeit im normalen und patho¬
logischen Zustand chemisch und biologisch einheitlich zu sein scheint,
daß nur der Zellgehalt Schwankungen in verschiedenen Höhen zeigt
(Fischer) und nur in seltenen Fällen und sehr gering der Eiweißgehalt; daß
sie größtenteils vom plexus choroideus und Ependym sezerniert wird,
daß sie weder ein einfaches Transsudat, noch eine Lymphflüssigkeit dar¬
stellt, sondern einem Sekret am nächsten steht, und daß ihre Funktion nicht
nur eine physikalische ist, sondern bei Stoffwechsel-, Immunisierungs- und
anderen Vorgängen am Zentralnervensystem bedeutungvoll zu sein scheint.
Stargardt- Kiel: Über die Ursachen des Sehnerven¬
schwundes bei Tabes und progressiver Paralyse.
(Mit Demonstrationen.)
Vortr. berichtet über die Resultate seiner pathologisch-anatomischen
Untersuchungen über die Ätiologie des Sehnerven¬
schwundes bei Tabes, Taboparalyse und Paralyse.
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736
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Er hat in 25 Fällen die Sehbahn vom Corpus geniculatum externum
bis zur Retina untersucht. Da die Netzhaut schon eine Stunde nach dem
Tode zerfällt, wurde möglichst sofort post exitum Birck-Hirschfeldsches
Gemisch in den Glaskörper injiziert. Auf diese Weise gelingt es, einwand¬
freie Netzhautpräparate zu erhalten. Fanden sich keine degenerativen
Veränderungen im Sehnerven, so waren die Netzhäute vollkommen normal,
auch wenn der Exitus im paralytischen Anfall eingetreten war, oder wenn
lange Zeit vor dem Tode hohe Temperaturen bestanden hatten. Die
Erkrankungen der Retina bestanden in den Fällen von Atrophie in sekundär
degenerativen Veränderungen in der Nervenfaserschicht und der Ganglien¬
zellenschicht und unterschieden sich in nichts von den Veränderungen,
wie wir sie nach Sehnervendurchschneidungen und bei Abquetschungen
des Sehnerven durch die arteriosklerotische Carotis interna sehen. Die
Ursache des Sehnervenschwundes ist in exsudativen Prozessen zu suchen,
die im wesentlichen sich auf das Chiasma und die intracraniellen Optici
beschränken. Die Traktus und die äußeren Kniehöcker zeigen im all¬
gemeinen nur sekundäre Veränderungen. In Fällen von partieller Optikus¬
atrophie ließ sich nachweisen, daß die Atrophie auf eine partielle Infil¬
tration des intrakraniellen Optikus zurückzuführen war. Demnach handelt
es sich bei der Optikusatrophie nicht um eine aszendierende Atrophie
und nicht um die Wirkung eines Toxins, das zuerst auf die Ganglienzellen
der Netzhaut einwirkt, wie man bisher angenommen hatte. Die Optikus¬
atrophie stellt aber auch keine Systemerkrankung dar. Das bewies die
Untersuchung der Umgebung des Chiasma und der Optici. In allen Fällen
von Atrophie fanden sich schwere Veränderungen im zentralen Grau,
in den dem Chiasma benachbarten Teilen der Schläfenlappen und des
Stirnhirns, häufig auch infiltrative Prozesse in den Olfactorii und den
Oculomotorii, in zwei Fällen auch in der Hypophyse. Die exsudativen
Prozesse, die die Ursache des Sehnervenschwundes bilden, rechnet St
mit den exsudativen Prozessen der Paralyse und der Tabes zusammen
in die große Gruppe der „tertiären, nicht gummösen, luischen Er¬
krankungen“, zu denen er auch die Aortitis luica, die Hepatitis inter-
stitialis, die Orchitis fibrosa, die glatte Zungenatrophie, die tertiären,
nicht gummösen Entzündungen der Uvea des Auges und die Arthropathien
zählt. Was speziell die letzteren betrifft, so hat er in einem Falle von Para¬
lyse nachweisen können, daß sie exsudativen Prozessen ihre Entstehung
verdanken, die mit den exsudativen Prozessen bei den anderen erwähnten
Erkrankungen^ identisch sind.
O. ÄcAm-Bremen: Zytologie der Zerebrospinal¬
flüssigkeit und ihre diagnostische Verwertbar¬
keit (Projektionsvortrag).
Die Untersuchung der Zerebrospinalflüssigkeit erstreckt sich im
wesentlichen auf die physikalischen, chemischen, serologischen, zoo¬
logischen und bakteriologischen Verhältnisse. Die Zellen interessieren
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Deutscher Verein für Psychiatrie.
737
sowohl hinsichtlich der Menge, in der sie sich vorfinden, als auch hin¬
sichtlich ihrer Gestalt und Herkunft. Die Abstammung ist trotz mancher
Versuche noch nicht klargestellt. Vortr. bespricht im einzelnen an der
Hand zahlreicher Abbildungen die einzelnen Zellformen, von welchen
man mindestens 15 unterscheiden kann. Diese verteilen sich auf die
Gruppen der Lymphozyten, Gitterzellen, Plasmazellen, Erythrozyten,
Leukozyten und Fibroplasten. Der normele Befund unterscheidet sich
scharf von dem krankhaften. Herpes Zoster, Lues II und III und Tabes
geben unter sich ähnliche Zellbefunde; die anderen besprochenen lassen
bestimmte Unterschiede erkennen, welche diagnostisch zu verwerten sind.
Vortr. führt zum Schlüsse aus, daß die Zytologie der Zerebrospinalflüssig¬
keit schon jetzt imstande ist, uns eben so wichtige diagnostische Merk¬
male zu liefern, wie wir es von der des Blutes gewohnt sind. (Ausführliche
Veröffentlichung in dem bei EwcAer-Jena erscheinenden, in Gemeinschaft
mit Dr. Plaut und Schottmüller bearbeiteten „Leitfaden zur Untersuchung
der Zerebrospinalflüssigkeit“.)
ÄüWe-Uchtspringe: Zur pathologischen Anatomie
der tuberösen Sklerose (mit Demonstrationen).
Auf die tuberöse Sklerose, eine zunächst mehr in anatomi¬
scher, als in klinischer Beziehung gekannte und beschriebene Form der
Idiotie, machte als erster Bourneville im Jahre 1880 aufmerksam. Er
beschrieb die makroskopisch erkennbaren Veränderungen, die dieser
eigenartige Prozeß am Gehirn setzt, wies auf das tumorartige Hervor¬
treten einzelner, blasser als ihre Umgebung aussehender und sich hart
und wenig elastisch anfühlender Windungsabschnitte oder herdförmiger
Partien über die Hirnoberfläche hin und bezeichnete als besonders charakte¬
ristische Veränderung das Vorkommen tumorartiger Prominenzen in den
Seitenventrikeln. An den tuberösen Stellen ist die Rinde breit, die Rinden¬
markgrenze verschwommen, auch im Mark finden sich zuweilen graue
Streifen und Herde; eine tuberöse Entartung der Kleinhirnrinde findet
sich selten. Seitdem sind eine Reihe von Arbeiten über die tuberöse Sklerose
erschienen, die sich, unter Bestätigung der anatomischen Sonderstellung
des Prozesses unter den Formen der Idiotie, mehr mit den mikroskopischen
Veränderungen befassen, und von denen namentlich die Untersuchungen
von Pellizzi, Bon figli, Perusini und Vogt zu nennen sind. Nach dem zuletzt
genannten Autor ist der Prozeß folgendermaßen charakterisiert: Die
Hirnrinde der erkrankten Partien zeigt die Zeichen gestörter Entwicklung,
die Ganglienzellen sind histologisch mangelhaft differenziert, die Orien¬
tierung und Gruppierung derselben ist mangelhaft, die Schichtenbildung
unklar, es finden sich Verlagerungen von Zellen, Verringerung ihrer Zahl.
Ferner hat eine enorme Proliferation der Glia stattgefunden, sowohl eine
Vermehrung der Fasern als der Zellen, man beobachtet das Auftreten
der Randglia in büschelförmigen Figuren, die Zeichen chronischer Er¬
krankung der nervösen Rindenelemente, ein Fehlen entzündlicher Er-
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738
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
scheinungen insbesondere in der Umgebung der Gefäße und schließlich
das Auftreten atypischer Zellen, der sogenannten „großen Zellen“. Während
nun in den bisher veröffentlichten Fällen von tuberöser Sklerose, einer
relativ seltenen Erkrankung, im wesentlichen bezüglich der eben erwähnten
histologischen Merkmale übereinstimmende Befunde erhoben wurden,
sind zwar von allen Untersuchern die sogenannten „großen Zellen“ zum
Gegenstand besonders eingehender Untersuchungen gemacht, aber eine
Einigung über die Art und Herkunft dieser Gebilde ist bisher nicht erzielt
worden. Und gerade diese Zellen, die regelmäßig bei der tuberösen Sklerose
gefunden werden, und die zweifellos zu den interessantesten Gebilden des
ganzen Krankheitprozesses gehören, ihrem histologischen Charakter
nach näher zu bestimmen, erscheint zunächst von großer Wichtigkeit.
Während manche Untersucher, wie Sailer, Hornowsky, Rudski, Rabonneix
erklären, ihre Herkunft nicht feststellen zu können, betrachten Brückner,
Scarpatetti, Jacobäus, Geitlin u. a. dieselben als Ganglienzellen. Pellizzi
und Perusini heben den embryonalen Charakter dieser Zellen hervor,
sehen in ihnen in ihrer Entwicklung gehemmte Neuroblasten. Vogt, der
in einigen der in Frage stehenden Elemente mit der Bielschowsky -Methode
Neurofibrillen darstellen konnte, meint, daß sie höchstwahrscheinlich
nicht einheitlicher Natur sind, daß vielmehr die einen mehr ganglionären.
die anderen mehr gliomatösen Charakter tragen. Auch Volland schließt
sich dieser Ansicht an. Bonfigli kommt auf Grund seiner Befunde zu dem
Schluß, daß die großen atypischen Zellen nichts anderes sind als Neuro-
gliazellen, die auf einen lokalisierten Wucherungsprozeß der Glia hinweisen.
Ganz merkwürdige Dinge hat Campbell in den Herden der sklerotischen
Partien gefunden, die er als endothelartige Wucherungen beschreibt, und
die er in Verbindung mit den mit der tuberösen Sklerose häufig kombi¬
nierten Nierentumoren und den eigentümlichen Epithelwucherungen
der Haut zu bringen sucht. In letzter Zeit ist schließlich eine Arbeit von
Nieuwenhuize aus der holländischen Irrenanstalt Meerenberg erschienen,
die wohl die eingehendsten (siehe oben) Literaturangaben enthält, und der
eine Reihe von Zeichnungen nach Fibrillenpräparaten dieser großen
atypischen Zellen beigegeben ist. Der Verfasser glaubt, auf Grund seiner
Befunde die „großen Zellen“ mit Bestimmtheit als mißbildete Ganglien¬
zellen auffassen zu dürfen.
Aus dieser außerordentlichen Verschiedenheit der Auffassung der
einzelnen Untersucher über die Art der genannten Zellform scheint jeden¬
falls das eine hervorzugehen, daß die tuberöse Sklerose nach dieser Richtung
hin noch weiterer Durchforschung bedarf. Insbesondere scheint von
Wichtigkeit, eine Analyse der „großen Zellen“ nicht nur mit Hilfe der
bisher üblichen Methoden zu versuchen, sondern auch mit den neuen von
Alzheimer in die Technik eingeführten Hilfsmitteln an die Untersuchung
dieser Elemente heranzugehen. Die Untersuchungen, die der Vortragende
angestellt hat, erstrecken sich auf die im Vergleich zur Seltenheit des
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Deutscher Verein für Psychiatrie.
739
Prozesses große Zahl von 10 Fällen. Von diesen konnten 2 eingehend
in der genannten Weise histologisch untersucht werden, während es sich
bei den übrigen 8 Fällen um älteres Formolmaterial handelte, das infolge¬
dessen eine Verarbeitung nur nach bestimmten Richtungen hin noch
gestattete. Die Ergebnisse seiner Untersuchungen wurden von dem Vor¬
tragenden an der Hand einer großen Anzahl von zum Teil nach dem
Lumiöreverfahren hergestellten Diapositiven (mikrophotographisches
Laboratorium der Anstalt Uchtspringe; Dr. Engelken) seiner Präparate
demonstriert, wobei auf die außerordentliche Schwierigkeit einer Deutung
der großen atypischen Zellen besonders aufmerksam gemacht wurde.
Auf Grund der bisherigen Ergebnisse seiner Untersuchungen glaubt der
Vortragende, daß es sich in der Tat nicht um einheitliche Elemente handelt,
daß aber der wesentlichste Anteil der zuweilen aus ganzen Zellkonglomeraten
bestehenden Gebilde einer Gliawucherung zuzuschreiben ist. (Der Vortrag
wird als besondere mit zahlreichen Abbildungen versehene Arbeit er¬
scheinen. )
3. Sitzung Freitag, 31. Mai, vorm. 9 Uhr.
2. Referat: Über die Behandlung der Paralyse.
. 1. Spielmeyer-FreibuTg: Das Thema des Referates gliedert sich
in zwei Teile: erstens in die Erörterung der allgemeinen Heilungsaussichten,
welche die Paralyse hat, und zweitens in die Besprechung alles dessen,
was heute schon therapeutisch gegen die Paralyse getan werden kann.
In diesem ersten Abschnitt werden die prinzipiell wichtigen Erfahrungs¬
tatsachen aus der Klinik, der pathologischen Anatomie, der Ätiologie
und unserer Kenntnis von dem Wesen der Paralyse aufgeführt und Er¬
wägungen daran geknüpft werden, welche für die Bekämpfung der Paralyse
maßgebend sein müssen.
Vom klinischen Standpunkte aus erscheint die Heilbarkeit
der Paralyse nicht so ausgeschlossen, wie es nach dem Gros der Fälle
vermutet werden könnte. Daß eine Remission einmal dauernd bestehen
bleibt oder es auch bei der Paralyse nur zur Ausbildung einer nachher
stationärwerdenden forme fruste (ähnlich wie bei der Tabes dorsalis)
kommen kann, ist gewiß nicht auszuschließen. Aber die Diskussion
über die stationäre Paralyse ( Alzheimer, Gaupp) lehrt, daß das zum min¬
desten außerordentlich selten der Fall sein dürfte. Bei den in der Literatur
mitgeteilten Fällen geheilter oder stationär gebliebener Paralysen handelt
es sich zum Teil doch nur um besonders vollständige und langdauernde
Remissionen oder auch um ganz andersartige Erkrankungen, d. h. also
um Fehldiagnosen. Immerhin bleiben einige, wenn auch sehr wenige Fälle
übrig, bei denen sich der Beweis nicht führen läßt, es sei keine geheilte
Paralyse gewesen ( Wernicke, Schüle, Leredde, Nonne u. a.). Dabei ist es
bemerkenswert, daß sowohl die Paralysen mit Hinterstrang- wie die
mit Seitenstrangerscheinungen zu einer solchen Art von Heilung gelangen
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können. Der sichere Beweis ffir die Richtigkeit der Auffassung solcher
Fälle als geheilter Paralysen läßt sich erst auf Grund der anatomischen
Untersuchung erbringen.
An den klinischen Beobachtungen müssen wir erstens die Bedingungen
kennen lernen, unter denen es zu einer besonders vollkommenen und
langdauernden Rückbildung der paralytischen Erscheinungen kommt.
Vielleicht spielen außer der Hyperthermie und der Hyperleukozytose
(bei fieberhaften Krankheiten) noch andere Dinge mit, die für das Zu¬
standekommen der Remissionen wesentlich sind. Zweitens ist auch aus den
neuen Erfahrungen über die Verlaufseigentümlichkeiten der Paralyse
und über die Abgrenzung dieser Krankheit die Warnung vor einer Täu¬
schung durch Scheinheilungen abzuleiten. Bonhoeffer und Oppenheim
haben neuerdings wieder gezeigt, daß die Schwierigkeiten der Different ial-
diagnose doch gerade bei den Fällen liegen, welche die „wetterleuchtende
Bedingung“ von Alt erfüllen. Es ist Nonne s Forderung zu unterstützen,
daß die Autoren, welche über Heilung oder Stationärwerden von Para¬
lysen berichten, uns von Zeit zu Zeit über ihre Beobachtungen an ^enen
Fällen orientieren. Bei der Beurteilung des Effektes der Therapie hat
man sich vor einer Überschätzung der Bedeutung der vier Reaktionen zu
hüten; das Verhalten des Reaktionsbildes geht keineswegs dem allge¬
meinen Krankheitzustande parallel (Nonne). Alles das ist ganz besonders
bei der Prüfung neuer Heilmittel in Rücksicht zu ziehen.
Auch vom pathologisch-anatomischen Standpunkt
aus ist die Heilungsmöglichkeit der Paralyse nicht auszuschließen. Selbst¬
verständlich kann es sich nur um eine Heilung mit Defekt handeln, jedoch
lehren gerade die noch in späten Stadien beobachteten guten Remissionen,
daß das Zentralorgan auch bei diesem diffusen Prozeß über eine weit¬
gehende Kompensationsmöglichkeit verfügt. Manche Veränderungen
akuter Art dürften wohl auch reparabel sein wie z. B. gewisse Zell-
erkrankungen. Vor allem aber wird das Testierende Gewebe in viel voll-
kommererem Maße seine Funktion wieder auf nehmen können, wenn die
akuten Veränderungen abgelaufen sind; wir sehen das ja besonders auch
bei der multiplen Sklerose, die manche anatomische Ähnlichkeiten zur
Paralyse aufweist. Auch bei der Tabes dorsalis kann der Prozeß aus¬
heilen. Vor allem aber ist bei der Paralyse selbst in gar nicht so seltenen
Fällen ein Abklingen des Prozesses in diesen und jenen Partien des Ge¬
hirnes und damit ein Ausheilen unter „Narbenbildung“ festzustellen,
sowohl was die degenerativen, wie was die infiltrativen Vorgänge anlangt.
Aber es handelt sich da immer nur um ein lokales Ausheilen; in anderen
Partien des Zentralorganes zeigen solche Fälle ein Weiterschreiten der
Erkrankung. Als stationäre Paralysen können wir aber nur solche Fälle
auffassen, in denen lediglich die irreparablen Veränderungen aufzufinden
sind. Deshalb gehören nach Alzheimers Ausführung seine beiden Fälle
mit ungewöhnlich langdauernder klinischer Remission resp. mit äußerst
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protrahiertem Verlaufe nicht zur stationären Paralyse in diesem Sinne.
Vielleicht haben nach Alzheimer gerade die Fälle von Paralyse die besondere
Tendenz zu sehr langsamer Progression, bei denen die degenerativen
Vorgänge vorherrschen. Die Erfahrungen bei der Tabes dorsalis, bei
welcher es ja auch viel häufiger zu einem Stationärwerden des Prozesses
kommt, und bei welcher doch auch die entzündlichen Erscheinungen
gegenüber den degenerativen sehr zurücktreten, scheinen diese Vermutung
zu stützen. Es wird darauf ankommen, klinisch gut geklärte Fälle ge¬
heilter oder stationär gewordener Paralysen ausführlich anatomisch zu
analysieren, ehe man die Heilbarkeit der Paralyse sicher beweisen kann.
Dabei wird man sich gegenwärtig halten müssen, daß die anatomische
Diagnose einer lang abgelaufenen Paralyse nicht immer leicht sein dürfte.
Der Tuczeksche Fall einer angeblich geheilten Paralyse hat bei der
anatomischen Untersuchung bisher leider keine Klärung gefunden. Knob¬
lauch sah keine der Paralyse entsprechende Veränderungen, während nach
Wissls Untersuchungen sichere paralytische Veränderungen festzustellen
waren.
Bezüglich der Ätiologie kann es hier nicht darauf ankommen,
alle die endogenen und exogenen Momente aufzuführen, welche neben
Syphilis in der Pathogenese der Paralyse von Bedeutung sein könnten
(vgl. das Referat von Plaut und Fischer über die Lues-Paralyse-Frage).
Wir haben auch heute keinen weiteren Aufschluß über die Frage gewinnen
können, was zur Lues hinzukommen muß, damit sich eine Paralyse ent¬
wickelt. Vielleicht läßt sich diese Frage experimentell in Angriff
nehmen, und da man nach Spirochäteninfektionen paralyseähnliche Ver¬
änderungen bisher nicht beobachtet hat, so wäre es vielleicht zweckmäßig,
den Weg vergleichender Krankheitforschung zu
beschreiten und bei den Trypanosomenkrankheiten dieser
Frage nachzugehen. Auch wenn die Schaudinsche Hypothese von der
Verwandtschaft zwischen Trypanosoma und Spirochäte unrichtig sein
sollte, so zeigen doch die experimentell-therapeutischen Bestrebungen
von Uhlenhuth, Ehrlich u. a., daß die Erfahrungen, die man bei Trypano¬
somenkrankheiten mit den Arsenmitteln gemacht hatte, sich mit großem
Nutzen auf die Bekämpfung der Spirillosen übertragen ließen; und wir
selber glauben den Beweis erbracht zu haben, daß auch für die pathologisch-
anatomische Klärung der syphilogenen Nervenkrankheiten eine solche
vergleichende Krankheitforschung von einigem Nutzen war.
Vielleicht gelänge es, Klarheit über die Frage zu bekommen, ob es
eine Syphilis ä virus nerveux gibt, welche bekanntlich den einen als
bewiesen gilt, während sie die anderen ebenso entschieden ablehnen. Vom
allgemeinen biologischen Standpunkte aus erscheint es keineswegs aus¬
geschlossen, daß es Spirochäten mit einer besonderen Affinität zum Nerven¬
system gibt. Bei Trypanosomen jedenfalls sehen wir, daß morphologisch
nicht trennbare Erreger die allerverschiedensten Veränderungen bei ver-
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schiedenen Tieren erzeugen. Wahrscheinlich stammen die pathogenen
Trypanosomen von einer Ausgangform ab und haben in ihrer historischen
Entwicklung je nach Umständen ihrer Weiterzucht diese und jene Eigen¬
schaften erworben. So erzeugen manche Trypanosomen vorwiegend
Veränderungen des Blutes, der Drüsen, der Knochenhaut, während andere
wie das Trypanosoma gambiense, beim Menschen häufig zentrale Er¬
krankungen auslösen. Ich selber beobachtete, daß ein Trypanosoma nach
besonderen Tierpassagen eine spezielle Affinität zum Nervensystem
erlangte, während es gewöhnlich zentrale Veränderungen nicht erzeugte.
Es ist das jenes Trypanosoma Brucei, nach dessen Einimpfung bei Hunden
die von mir sogenannte „Trypanosomentabes“ auftrat. Dieses Trypano¬
soma hat inzwischen seit etwa 4 Jahren die speziellen Eigenschaften ver¬
loren, so daß eine Trypanosomentabes bei den Hunden nicht wieder
beobachtet wurde. Meines Erachtens sprechen diese Beobachtungen
im Sinne einer „Trypanosomiasis k virus nerveux“.
Auch die Spirochäten sind wie die Trypanosomen offenbar von sehr
labiler Art und bilden leicht unter dem Einfluß äußerer Bedingungen
verschiedenartige Rassen. Dafür sprechen die verschiedenen Formen
des Rückfallfiebers, bei denen es sich auch um morphologisch gleichartige
Erreger handelt, die jedoch different sind in ihrer Virulenz für Tiere und
in ihren Immunitätsreaktionen.
Aber auch bei der Trypanosomiasis wird eine scheinbare Regel¬
losigkeit beobachtet, mit welcher bald dieses, bald jenes Individuum
von einer zentralen Erkrankung befallen wird. Nur etwa 1 bis 2 % meiner
Versuchstiere zeigten Veränderungen vom Typus der Schlafkrankheit.
Vielleicht gelingt es so experimentell auch die zweite Frage einer Klärung
zuzuführen, ob und inwiefern hier individuelle Dispositionen
mitwirken. Man wird vor allem im Sinne von Plaut zu untersuchen haben,
ob solche Tiere über mangelhafte Schutzvorrichtungen verfügen, so daß
es leichter zu jener Umstimmung der Gewebe kommt, welche sich in dem
anatomischen Substrat der paralyseähnlichen Schlafkrankheit ausdrückt.
Auch für die Kraepelin sehe Hypothese, daß die Paralyse eine Stoffwechsel¬
krankheit sei, und daß eine Organerkrankung das Zwischenglied
zwischen Syphilis und Paralyse darstelle, wäre vielleicht so experimentell
eine Prüfung möglich.
Von Bedeutung für die Therapie ist schließlich, w T as wir von dem
Wesen der Paralyse wissen. Viele halten sich wohl zu eng an
den Strümpellschen Vergleich, daß die Paralyse eine „Nachkrankheit“
der Syphilis ist wie etwa die postdiphterische Lähmung nach einer Diph-
terie. Eine so enge Fassung des Begriffes der Nachkrankheit ist nicht
bewiesen, und gerade der Verlauf der Paralyse in Schüben und mit Re¬
missionen spricht neben manchem anderen gegen eine solche Auffassung.
Vor allem weist auch das Vorhandensein der Wassermannschen Reaktion
in fast allen Paralysen auf eine aktivere Tätigkeit des syphilitischen
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Virus hin. Daß die Spirochäten bei der Paralyse bisher nicht nachgewiesen
werden konnten, beweist nicht, daß nun der Paralytiker kein Spirochäten¬
träger mehr wäre. Auch bei experimenteller Schlafkrankheit fand ich
am eklatantesten an einem früher von mir veröffentlichten Falle keine
Erreger vor dem Ausbruche der zentralen Erkrankung und während
derselben. — Die pathologische Anatomie kann zur Entscheidung der
Frage, ob die Paralyse noch ein syphilitischer Prozeß oder nur eine Nach-
krankheit der Lues sei, nicht herangezogen werden. Das haben Nissl
und Erb für die Paralyse und Tabes mit großer Energie betont. Wir sind
ja häufig nicht einmal in der Lage zu entscheiden, was syphilitisch ist
(wir müssen uns vielmehr von der Klinik leiten lassen), noch weniger
aber können wir anatomisch erklären, diese oder jene Veränderung sei
nicht mehr syphilitischer Art. Auf dem Boden der Syphilis können die
allerverschiedensten zentralen Erkrankungen entstehen, und wir haben
nicht die Möglichkeit oder das Recht zu sagen, bis dahin handle es sich um
echt syphilitische Prozesse, und von da ab gälte uns die Erkrankung nur
noch als Nachkrankheit der Syphilis. Selbstverständlich stellt die Paralyse
einen eigenartigen anatomischen Prozeß dar, der auch von den gewöhn¬
lichen Formen der Hirnsyphilis abgegrenzt werden kann, aber wir sehen
darin nicht eine Nachkrankheit, sondern einen syphilitischen
Prozeß besonderer Art. Es handelt sich hier wohl im wesent¬
lichen um eine Nomenklaturfrage, die einer Lösung keine besonderen
Schwierigkeiten machen wird, wenn man sich der Eigenart jener verschie¬
denen Prozesse bewußt bleibt.
Für eine systematische chemotherapeutische Beeinflussung der
Paralyse ist es natürlich von besonderer Bedeutung, ob wir in der Paralyse
nur eine Nachkrankheit oder noch einen syphilitischen Prozeß sehen.
Im ersteren Falle wäre die Anwendung eines spirillotropen Mittels sinnlos.
Aber vielleicht beruht das gegen unsere bisherigen Arzneimittel refraktäre
Verhalten der Erreger im paralytischen Organismus auf besonderen Ver¬
änderungen derselben (Hocke). Ehrlich betont, daß das eigenartige Ver¬
halten mancher Trypanosomen gegen Arsenpräparate die Durchführung
einer systematischen Therapie außerordentlich erschwere. Es gibt von
Natur aus arsen- und quecksilberfeste Stämme, wie die Erfahrungen
über die Trypanosomiasis im Kongogebiet (Broden u. a.) lehren. Und
vielleicht spielen gerade solche natürlichen oder im infizierten Organismus
erworbenen Eigentümlichkeiten der Spirochäten bei dem Paralyseerreger
eine Rolle.
Vor allem wird es noch darauf ankommen, das Arzneimittel so im
Organismus zu verteilen, daß der Erreger auch tatsächlich g e •
troffen wird. Bekanntlich stellen die Meningen eine schwer über¬
windbare Scheidewand unseren Arzneimitteln entgegen, und vielleicht
erklären sich zum Teil die Mißerfolge unserer Therapie bei der Paralyse
aus dieser mangelhaften Permeabilität der Meningen gegenüber den ver-
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schiedenen Medikamenten. Auch bei der Schlafkrankheit scheint nach dem
Urteile verschiedener Sachverständiger eine Hauptschwierigkeit in der
therapeutischen Bekämpfung darin zu liegen, daß die Arzneipräparate
nicht in den Liquor und die Zentralorgane überzugehen pflegen. Nur das
Trypanosomenfieber des Menschen ist wie die Syphilis mit Erfolg heilbar;
dagegen erscheint es ebenso wie bei der Paralyse bisher bei voll entwickelter
Schlafkrankheit unmöglich, die Erkrankung zu heilen, — worin ich wieder
eine wichtige verwandtschaftliche Beziehung zwischen Schlafkrank¬
heit und Paralyse sehe.
Alle diese Erfahrungen und Erwägungen konnten nicht dazu führen,
einen neuen Weg für die Behandlung der Paralyse ausfindig zu machen;
sie sollen lediglich die Richtlinien geben für den Versuch einer systematischen
Behandlung dieser Krankheit. (Der Vortrag wird im Archiv für Psychiatrie
veröffentlicht werden.)
2. E. Meyer-Königsberg: Vortr. behandelt die rein praktische
Seite der Frage. Er erinnert zuerst daran, daß früher hydrotherapeutische
Eingriffe, Blutentziehung und andere ableitende Mittel in der Annahme
entzündlich hyperämischer Gehirnzustände bei der Paralyse viel ver¬
wendet wurden, und weist dann hin auf das Verfahren voni. Meyer, künst¬
liche Eiterung durch Einreiben von Brechweinsteinsalbe auf den Schädel
zu erzielen. Um eine weitere Unterlage für die Bewertung der jetzt noch
im Gebrauch befindlichen Behandlungsarten der Paralyse zu gewinnen,
hat Meyer bei den psychiatrischen Anstalten und Kliniken in Deutsch¬
land, Österreich-Ungarn und der Schweiz eine Umfrage veranstaltet.
Von den 141 Antworten enthielten 66 die Mitteilung, daß keine Behand¬
lungsversuche unternommen waren; 75 berichten über die Verwendung
verschiedener Methoden.
Die jetzt am meisten angewendeten Behandlungsversuche sind
entweder allgemein gegen toxische und Autointoxikationsvorgänge
gerichtet, die bei der Paralyse ja sicherlich eine große Rolle spielen, oder
gegen die Syphilis, die spezifische Grundlage der Paralyse. Bei
ersterer Gruppe sind einmal zu nennen: die Salzinfusionen Donaths, ferner
besonders die Tuberkulinbehandlung nach v. Wagner-Pilcz. Diese Ver¬
fahren beruhen darauf, daß nach akuten Infektionskrankheiten usw.
auffallende Besserung und Remissionen bei der Paralyse verhältnismäßig
häufig eintreten. Sie schließen sich in gewisser Weise an die von L. Meyer
versuchte Behandlung an. Sie wollen „allgemein-*, nicht spezifische Gegen¬
wirkungen“ hervorrufen, wie das durch Temperaturerhöhung, Vermehrung
der Leukozyten usw. geschieht. Meyer berichtet, daß Pilcz nach seinen
verschiedenen Mitteilungen sehr günstige Erfolge aufzuweisen hat. Bei
der Umfrage ergab sich, daß die niederösterreichischen Landesanstalten
am Steinhof auf Grund großen Materials ebenfalls im ganzen befriedigende
Resultate bei dieser Behandlung gewonnen haben. Von einigen Seiten
sind auch neuerdings Bakterienvaccine, von demselben Prinzip ausgehend.
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bei der Paralyse versucht. Meyer hat nach allem den Eindruck, daß
sich nach der Tuberkulinkur, die zu wesentlichen Schädigungen nicht
führt, verhältnismäßig häufig Besserungen und Remissionen einstellen.
Da die Erfahrung lehrt, daß ebenso wie Eiterungen und Infektions¬
krankheiten auch gewisse Stoffe, z. B. Nukleinsäure, die antitoxische
Resistenz des Organismus stärken, so haben Fischer und Donath Versuche
mit nukleinsaurem Natron bei Paralyse gemacht. Die Resultate, die teils
veröffentlicht sind, teils aus der Umfrage sich ergeben, sind recht abweichend,
so daß ein abschließendes Urteil wohl noch nicht möglich ist. Meyer
erinnert dann kurz an die Theorien und Versuche von F. Robertson und seiner
Schüler, die außerhalb Englands im ganzen zu sehr wenig Nachunter¬
suchungen geführt haben.
Er geht dann über zu den Verfahren, die sich gegen die syphilitische
Infektion wenden, von der Annahme ausgehend, daß ohne Syphilis eine
Paralyse nicht möglich ist. In beginnenden Fällen kann eine vorsichtige
Quecksilberkur ohne Bedenken erfolgen; in jedem zweifelhaften Falle
erscheint sie geboten. Auch Jodpräparate werden noch heute öfter bei der
Paralyse angewandt, schon mit Rücksicht auf die Möglichkeit, daß eine
Lues cerebrospinalis vorliegt.
Meyer wendet sich dann dem Salvarsan zu, betont aber vorher,
daß die besondere Stellung der Paralyse gegenüber den eigentlichen
syphilitischen Erkrankungen des Zentralnervensystems von vornherein
bei der Beurteilung der Resultate der Salvarsantherapie wie auch der
Quecksilber- und Jodbehandlung in Rechnung gezogen werden müsse.
Zuerst weist Meyer darauf hin, daß das Salvarsan im Atoxyl, Arsacetin
usw. Vorläufer gehabt hat, die ebenfalls in der Ehrlichschen Chemotherapie
ihre Grundlage fanden. Bei der Salvarsanbehandlung ist auch zu beachten
die Leukozytose, ferner die Beeinflussung des Lezithinstoffwechsels und
die allgemein roborierende Wirkung. Eine Übersicht über die Resultate
bei der Paralyse ist schwer zu geben, da die Mitteilungen vielfach sehr
zerstreut sind.
Von Ehrlich und Alt ist darauf hingewiesen, daß nur der allererste
Beginn der Paralyse einen Behandlungserfolg erwarten lasse. Der Ein-
wand ist nicht unberechtigt, daß eine Abgrenzung „beginnender Paralyse“
sehr schwer ist, und daß an sich nicht einzusehen ist, warum es nicht bei
einem Mittel, das überhaupt erfolgreich ist, zu einem Stillstand im Verlauf
der Entwicklung kommen könnte.
Meyer gibt dann einen Überblick über die Literatur der Salvarsan¬
behandlung bei der Paralyse, wobei sich herausstellt, daß eine Reihe
günstiger Mitteilungen zahlreichen mit entgegengesetztem Ergebnis
besonders aus der letzten Zeit gegenüberstehen. Meyer gibt auch einen
kurzen Überblick über die Kontraindikationen bei der Salvarsantherapie
und die ungünstigen Folgeerscheinungen, die danach beobachtet sind. Die
Umfrage zeigte, daß 286 mal Salvarsan bei Paralyse in den betreffenden
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Anstalten und Kliniken angewandt war. Nur 4 mal wurde von einer ge¬
wissen Besserung, 13 mal von einer Remission berichtet, doch ist zu
bedenken, daß in einem großen Teil der Fälle nur kleine Dosen angewendet
waren und auch recht fortgeschrittene Fälle zum Teil behandelt wurden.
Nach Erwähnung einiger anderer Behandlungsversuche und dem
Hinweis, daß die vergleichende biologische Forschung auch therapeutisch
vielleicht zukunftvoll sei, versucht Meyer eine Gesamtzusammen¬
fassung zu geben. Eine solche ist freilich durch die Remissionen
und die Unberechenbarkeit im Verlaufe der Paralyse sehr erschwert.
Die Frage, ob eine der im Gebrauch befindlichen Behandlungsmethoden
der Paralyse auf die Dauer das Fortschreiten des paralytischen Krank¬
heitprozesses zu mindern imstande sei, glaubt Meyer, nach dem vorliegen¬
den Material nicht bejahen zu können. Die weitere Frage, ob wenigstens
ein günstiger Einfluß der jetzt gebräuchlichen Behandlung*
versuche, und bejahendenfalls, welcher, festzustellen sei, möchte Meyer nicht
ohne weiteres verneinen. Die Möglichkeit günstiger Beeinflussung
sei zuzugeben. Zurzeit liegen die besten Resultate von der Wagner-Piltz
sehen Tuberkulinbehandlung vor. Am zweckmäßigsten seien Versuche
mit einer Kombination der Verfahren, welche die syphilitische
Infektion bekämpfen, mit denen, die die Erzielung allgemeiner, nicht
spezifischer Gegenwirkungen im Auge haben. Schäden wesentlicher Art
stiften die Behandlungsversuche unter Einhaltung aller Kautelen nicht.
Nach alledem hält Meyer therapeutische Versuche in dem besprochenen
Sinne jedenfalls für berechtigt, ja, er sieht es bei der Paralyse als Aufgabe
der Psychiater an, therapeutische Versuche, die keine wesentliche Schädi¬
gung befürchten lassen, anzustellen, wenn auch nur die Möglichkeit einer
günstigen Einwirkung durch sie vorhanden ist.
Zum Schlüsse hebt Meyer die große Wichtigkeit der Vorbeugung
der Paralyse hervor, die durch die neueren Forschungen in mancher
Richtung hoffnungvoller sei, und mit der eine zweckmäßige Rassenhygiene
zur Hebung der Widerstandkraft des Organismus Hand in Hand gehen
müsse. (Ausführliche Veröffentlichung im Archiv für Psychiatrie.)
Die Diskussion wird ausgesetzt bis nach Anhörung der Vor¬
träge von Schröder, Eichelberg, Friedländer.
P. Schröder- Breslau: Remissionen bei progressiver
Paralyse.
Die Paralyse verläuft nur selten gleichmäßig progredient vom
ersten Beginn bis zum Tode; Schwankungen, plötzliche Verschlimme¬
rungen, weitgehende Besserungen, anscheinende Stillstände sind häufig:
ebenso häufig ist ein Wechsel in der Art des Zustandbildes. Remissionen
schließen sich fast stets an voraufgehende Exazerbationen an; sie kommen
zustande durch das Abklingen akuter Verschlimmerungen und die Rück¬
kehr zum Status quo ante. Das Studium der Remissionen bei Paralyse
hat auszugehen von den Exazerbationen.
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Als die gröbsten, perakuten Exazerbationen können die paralytischen
Anfälle gelten. Ihnen stehen nahe die gleichfalls häufigen, oft nur kurz¬
dauernden, andere Male sich lang hinziehenden, deliranten und deliriösen
Zustände, welche in späteren Stadien nicht selten als bloße Schwankungen
in Luzidität und Besonnenheit der Kranken zutage treten.
Bei einer weiteren Gruppe von Exazerbationen stehen motorische
Symptome im Vordergrund, sowohl akinetische wie hyperkinetische,
ähnlich den verwandten Zuständen bei Epilepsie, bei schweren toxischen
und infektiösen Prozessen. Von den manischen Erregungen bei Paralyse
hat ein großer Teil wahrscheinlich enge Beziehungen zu den deliriösen
und katatonischen Zuständen; bei anderen kann als endogener ursäch¬
licher Faktor eine manisch-depressive Veranlagung mitspielen. Das gleiche
gilt möglicherweise für einen Teil der abgesetzten initialen Depressions¬
zustände und der anfangs „zirkulär“ verlaufenden Fälle von Paralyse.
Das Material der Breslauer Klinik, das Vortr. durchgesehen hat
(etwa 170 Paralysen mit 8 bis 10% guter Remissionen), spricht für die
Richtigkeit der anfangs gegebenen Auffassung von den Remissionen;
es enthält nur Fälle, bei denen nachweislich die Remission nichts ist als
das Abklingen akuterer Symptomreihen (Exazerbationen), es enthält
keinen Fall von Besserung im Verlauf einer langsam progredienten Demenz
ohne akute Schübe. „Blödsinn“ wird oft vorgetäuscht durch die Kritik¬
losigkeit der Größenideen in der paralytisch-manischen Erregung oder
durch die Stumpfheit in Hemmungszuständen. Akute Exazerbationen
können bereits in sehr frühen Stadien eine Paralyse manifest machen,
zu einer Zeit, in der sonst noch nichts sicher Paralytisches nachweisbar ist;
die Remissionen nach dem Abklingen solcher sehr frühen ersten Attacken
pflegen besonders gut zu sein.
Die Beachtung des schubweisen Verlaufes und der Exazerbationen
bei sehr vielen Paralysen schützt vor Fehlschlüssen bezüglich der thera¬
peutischen Beeinflußbarkeit des Leidens. Die Beeinflußbarkeit der Exa¬
zerbationen hat mit der Therapie des paralytischen Prozesses selber nichts
zu tun.
Eichelberg -Göttingen: Die Bedeutung der Unter¬
suchung der Spinalflüssigkeit.
E. berichtet über Erfahrungen, die er bei Untersuchungen von
1020 Spinalflüssigkeiten und von 3200 Blutseren gemacht hat. Er kommt
zu folgenden Schlüssen:
Eine leichte Drucksteigerung der Spinalflüssigkeit bis auf 200 mm
allein deutet nicht auf eine organische Erkrankung des Zentralnerven¬
systems hin.
Therapeutisch ist die Lumbalpunktion nur von Nutzen bei den
verschiedenen Meningitiden, besonders bei der Meningitis serosa. Bei
Gehirntumoren wird durch die Lumbalpunktion nur eine ganz kurz dauernde
Druckentlastung geschafTen.
Zeitechrift für Psychiatrie. LXIX. 5. 51
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Eine Zellvermehrung in der Spinalflüssigkeit findet sich bei Paralyse
regelmäßig, bei Tabes und Lues cerebrospinalis in etwa 90 % der Fälle.
Außerdem kommt dieselbe aber auch häufig (in etwa 40 %) nach einer
überstandenen Lues vor, ohne daß eine luische oder metaluische
Erkrankung des Zentralnervensystems vorliegt. Auch bei multipler
Sklerose, Hydrozephalus und Tumoren findet man öfter eine Zellver¬
mehrung.
Von den Untersuchungen der Spinalflüssigkeit auf Eiweiß Vermehrung
gibt die praktisch zuverlässigsten Resultate die Nonne-Appelts che Reaktion.
Sie kommt vor in etwa 94% der Fälle von Paralyse, in 92% bei Tabes
und in 80% bei Lues cerebrospinalis. Man findet sie auch vereinzelt bei
anderen organischen Erkrankungen des Zentralnervensystems, doch
kommt sie niemals vor bei funktionellen Nervenerkrankungen, auch wenn
eine Lues vorausgegangen ist. Nur bei frischen Fällen von Lues kann
dieselbe auch positiv sein.
Die Wassermannsche Reaktion ist am zuverlässigsten in ihrer Original¬
methode, doch kann für wässerigen Leberextrakt ebensogut alkoholischer
Organextrakt verwandt werden. Die Wassermannsche Reaktion im Blut¬
serum kommt auch bei Leuten vor, die Lues nicht selbst gehabt haben,
die aber heredtär syphilitisch gewesen sind. E. hat 150 Idioten auf die
Wassermannsche Reaktion untersucht. In 12 % der Fälle war die Reaktion
positiv. Bei 43 Kindern, die geistig und körperlich gesund waren, die aber
von sicher syphilitischen Eltern stammten, war die BPassermannsche
Reaktion in 15% der Fälle positiv. Es ist aber nicht anzunehmen, daß
beim Zustandekommen der Idiotie die Syphilis wirklich eine sehr große
Rolle spielt. Die Wassermann sehe Reaktion im Blutserum war positiv
in 97 % der Fälle von Paralyse und in etwa 90 % der Fälle von Tabes und
Lues cerebrospinalis.
Die Wassermannsche Reaktion der Spinalflüssigkeit wurde positiv
gefunden in 98% der Fälle von Paralyse, in 48% der Fälle von Tabes
und in etwa 8 % von Lues cerebrospinalis. Durch die „höhere Auswertung
des Liquors“ nach Zeißler und Hauptmann scheint es möglich zu sein,
differential-diagnotisch zwischen Paralyse und Lues cerebrospinalis
weiter zu kommen. E. hat bei zwei Fällen von einwandfreier multipler
Sklerose, jedoch bei Verwertung von 0,6 ccm Liquor die Reaktion positiv
erhalten.
Die Befunde von Weil und Kafka über den Hämolysingehalt der
Zerebrospinalflüssigkeit kann E. im allgemeinen bestätigen.
Um einen Prüfstein für das therapeutische Handeln zu bekommen,
ist es wichtig festzustellen, was aus den Fällen von Lues wird, bei denen
nach Behandlung noch Vermehrung der Zellen und auch des Eiweiß -
gehaltes in der Spinalflüssigkeit festgestellt werden kann. Ebenso ist es
wichtig, die Fälle, bei denen trotz energischer Behandlung die Wasser¬
mannsche Reaktion im Blutserum nicht negativ wird, weiter zu verfolgen.
Difitized
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E. hat zwei Fälle von Lues gesehen, bei denen lange Zeit die Wasser-
mannsche Reaktion negativ war, die Spinalflüssigkeit normalen Befund
ergab, und bei denen später dann doch eine Paralyse mit positivem Wasser¬
mann und dem spezifischen Befund in der Spinalflüssigkeit eintrat.
Durch Quecksilberkuren, Salvarsaninfektionen und Tuberkulin¬
behandlung scheinen die verschiedenen Reaktionen bei Paralyse und Tabes
nur vereinzelt beeinflußt zu werden. Bei der Lues cerebrospinalis kann
durch die Quecksilberkur und in selteneren Fällen auch durch Salvarsan-
behandlung die Reaktion zum Schwinden gebracht werden, doch gibt
es auch hier Fälle, bei denen trotz energischer Behandlung die verschiedenen
Reaktionen positiv bleiben. (Vortrag erscheint in der Med. Klinik.)
Friedländer -Hohe Mark: Über die Einwirkung fieber¬
hafter Prozesse auf metaluische Erkrankungen
des Zentralnervensystems.
Die Tatsache, daß fieberhafte Krankheiten Geisteskrankheiten
günstig beeinflussen können, läßt sich an zahllosen Fällen aus der älteren
wie aus der neueren Literatur erweisen. Der Umstand, daß der Typhus
in der erwähnten Beziehung an erster Stelle steht, veranlaßte den Vortrag,
seinerzeit in der Jenenser Klinik an Stelle der von Binsivanger angewandten
abgetöteten Kulturen von Bakterium coli solche des Typhusbazillus
anzuwenden. Da ein fiebererzeugendes Typhusbazillenpräparat späterhin
nicht mehr zu erlangen war, bzw. die abgetöteten Kulturen, welche von
Ehrlich und Neißer zur Verfügung gestellt wurden, keine Reaktion er¬
zeugten, so wandte der Vortr. später, dem Beispiel Wagners folgend,
das KoeÄsche Tuberkulin an und zwar in der Weise, daß er in den meisten
Fällen mit einer Dosis von0,0005 bis 0,001 begann, um zunächst eine
eventuelle tuberkulöse Reaktion abwarten bzw. ausschließen zu können.
Trat kein oder nur geringes Fieber auf, so wurde nach 2 Tagen eine Dosis
von 0,005 bis 0,007 verabfolgt. Trat eine Reaktion auf, wenn auch nur
bis 37*, so wurde nach den Temperaturabfä'llen die gleiche oder eine etwas
höhere Dosis injiziert. Langsam wurden dann die Mengen gesteigert
bis auf 0,1, 0,2, 0,3, auch darüber. Als gelungen betrachtetet, die Be¬
handlung, wenn es gelang, Temperaturen bis zu 39° mit steilem Aufstieg
und ebensolchem Abfall zu erzielen. Zu achten ist auf die kumulierende
Wirkung. Kranke mit sehr schlechtem Ernährungszustand, stärkeren
Herz- oder Nierenkrankheiten schloß F. von der Behandlung aus. Selbst¬
verständlich wurde dabei das Allgemeinbefinden, der Puls usw. genauestens
kontrolliert. Nebenbei wurden feuchte Einpackungen, Bäder und Massagen
je nach den individuellen Verhältnissen verordnet und auf reichliche
Ernährung sowie geregelten Stuhlgang gesehen. In verschiedenen Fällen
wurde die Injektionskur allein verordnet, in anderen mit einer Queck¬
silberbehandlung kombiniert. Unangenehme Nebenerscheinungen ernsterer
Art wurden nicht beobachtet. Einigemale zeigten sich an den Injektions¬
stellen (des Oberarms oder Oberschenkels) Infiltrate, die jedoch niemals
öl*
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
zu Eiterungen führten, vielmehr durch Alkoholumschläge wirksam be¬
kämpft werden konnten. In einem einzigen Falle traten bei einem Kranken,
der die verordnete Bettruhe sehr mangelhaft einhielt, Erscheinungen
schwacher Herztätigkeit auf, jedoch kann der Zusammenhang dieser mit
den Injektionen durchaus nicht als sicher gestellt angesehen werden.
Manche Kranke hatten von den Injektionen überhaupt keine Schmerzen,
andere klagten über leichte ziehende Beschwerden. Der Vortr. beschränkt
sich darauf, von allen seinen Fällen nur zwei herauszugreifen, bei denen
er den Krankheitverlauf eingehender darstellt.
Den einen Fall beobachtete er durch mehr als 3 Jahre ununter¬
brochen bis zu dem Tode des Kranken. Bei diesem handelte es sich um
eine typische Taboparalyse, im Verlaufe welcher unter anderem die Pupillen
lichtstarr wurden und die Kniereflexe verschwanden. In unmittelbarem
Anschluß an die Injektionskur zeigten beide Pupillen mäßig schnelle,
jedoch ausgiebige Reaktion auf Licht und wurden die Kniereflexe beider¬
seits auslösbar. Vortr. kann auf weitere sehr interessante Einzelheiten
an dieser Stelle nicht eingehen und möchte nur bemerken, daß die In¬
jektionskur bei diesem Kranken mehrfach wiederholt und mit einer Schmier
kur kombiniert wurde, und daß die Pupillen noch 3 Tage vor dem Tode
Reaktion zeigten.
In dem zweiten Falle handelte es sich um einen Kranken, der von
einem der ersten Nervenärzte der betreffenden Stadt mit der Diagnose
progressive Paralyse in die Klinik des Vortragenden eingewiesen wurde.
Der Kranke zeigte bei der Untersuchung am 8. Mai 1911:
Die linke Pupille ist absolut licht starr, die rechte reagiert träge,
die Kniereflexe sind different und sehr schwach auslösbar. Der Wassermann
ist positiv. In psychischer Beziehung zeigt der Kranke schwere Depression,
leichte Erschöpfbarkeit, er hält sich für hoffnunglos krank, klagt über
schlechtes Gedächtnis und ist sehr schwer zu sprachlichen Äußerungen
zu bewegen.
Am 15. Mai beginnt die Injektionskur mit 0,005, steigend bis 0,3
bei der 11. und letzten Injektion am 19. Juni. Die höchste Temperatur
betrug 39,4. Anfang Juni zeigt sich der Beginn der Besserung in psy¬
chischer Beziehung. Am 20. Juni ist die Reaktion der rechten Pupille
besser, am 30. Juni beginnt die Quecksilberkur, die am 4. August beendet
wird. Anfang Juli benimmt sich der Kranke durchaus unauffällig, er
verkehrt in der Gesellschaft, macht zunehmende Spaziergänge, glaubt,
daß er gesunden wird, beginnt wieder anseine frühere Tätigkeit zu denken.
Der sehr gestörte Schlaf ist ohne Medikation gut. Patient verträgt sogar
einen ziemlich schweren Eisenbahnunfall, bei welchem er mehrfache
schmerzhafte Quetschungen des Brustkorbes und Verletzungen der
Extremitäten erlitten hat, ohne daß sein psychisches Befinden darunter
leidet. Die Reaktion der Pupillen wird allmählich besser. Vor seiner
Entlassung ist folgender Befund erhoben worden:
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Die rechte Pupille reagiert prompt und ausgibig, die linke reagiert
ebenfalls, jedoch wenig ausgiebig. Die Kniereflexe sind beiderseits gleich
und deutlich auslösbar ohne Hilfsmittel. Der Wassermann ist negativ.
Der Kranke erscheint der ihn begleitenden Frau vollkommen gesund.
Er hat nach kurzer Zeit in zunehmendem Maße seine Tätigkeit wieder
aufgenommen.
Der Vortr. ist sich dessen bewußt, daß man in der Deutung der oben
angegebenen Befunde außerordentlich vorsichtig sein muß. Er legt auch
viel weniger Gewicht auf die Besserungen in psychischer Beziehung, weil
gerade die Taboparalyse und in geringem Grade die progressive Paralyse
oftmals Remissionen aufweisen, die Heilungen vortäuschen können. Es
ist auch bekannt, daß die Tabes häufig Schwankungen bezüglich der
Pupillenbefunde und der an den Sehnenreflexen zeigt, welche sich zuweilen
über viele Jahre erstrecken. Nicht bekannt ist dem Vortr. ein gleiches
bezüglich so schwerer Fälle von Taboparalyse und progressiver Paralyse,
wie er solche der Injektionsbehandlung unterworfen hat. Wenn nun in
den verschiedenen Fällen, von denen der Vortr. aus Raummangel nur
zwei angeführt hat, in mehr oder minder direktem Anschluß an das Fieber
die bis dahin fehlenden oder stark herabgesetzten Pupillen- und Sehnen¬
reflexe wiederkehrten, so dürfte doch der Schluß gerechtfertigt sein, daß
diese Besserungen mit der Therapie in einen direkten Zusammenhang
zu bringen sind. (In dieser Hinsicht hege er überhaupt keinen Zweifel
bezüglich des zweiten Falles.) Nur müsse die Frage offen gelassen werden,
ob die Diagnose der progressiven Paralyse zutreffend war, oder ob es sich
um eine Form der Lues cerebri gehandelt hat, und zwar gerade mit Rück¬
sicht darauf, daß die vorher positive Wassermannreaktion innerhalb
weniger Monate negativ wurde. Der Vortr. kann sich auch nicht ent¬
schließen, das Verschwinden der Wassermannreaktion mit der Fieber¬
therapie in Verbindung zu bringen, sondern er glaubt hierfür die Queck¬
silberbehandlung verantwortlich machen zu müssen. Der Vortr. glaubt,
daß aus seinen zurückhaltenden Schlußfolgerungen zu ersehen ist, daß
er weit davon entfernt ist, vorläufig der Fiebertherapie (wie er sie kurz
nennen möchte) bereits jene Bedeutung zuzuschreiten, wie dies Pila
in seinen letzten Veröffentlichungen getan hat. Die bisherigen Erfolge
erlauben keinesfalls auch nur im entferntesten die Möglichkeit zu be¬
haupten, daß mit dieser Therapie Heilung einer progressiven Paralyse
bereits einwandfrei nachgewiesen sei. Wenn es aber nur gelingen sollte,
besonders bei noch nicht zu weit fortgeschrittenen Fällen, den Eintritt
einer Remission zu beschleunigen und diese selbst zu vertiefen bzw. zu
verlängern, so scheint diese Methode einer ausgiebigen Anwendung wert
zu sein.
Klemens Bergl- Prag: Über das Verhalten des Liquor
cerebrospinalis bei Luikern.
B. untersuchte in 30 Fällen von florider Lues Blutserum und Liquor
mittels der „vier Reaktionen“ und kam zu folgenden Resultaten:
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Das Blutserum zeigte in allen Fällen Komplementbindung.
Pleozytose im Liquor fand sich in 18 Fällen (= 60%).
Von diesen hatten:
10 Fälle Pleozytose allein .( = 33,4 %)
3 Fälle Pleozytose und Ph. I. + ( = 10,0 %)
4 Fälle Pleozytose und Wasser¬
mann im Liquor +.( = 13,3 % )
1 Fall alle 4 Reakt. + .(= 3,3 %)
( = 60 , 0 %)
Außerdem wurde das prozentuelle Verhältnis der Lymphozyten
zu den polynukleären Leukozyten festgestellt und gefunden, daß die Zahl
der letzteren durchschnittlich 53 % der Gesamtzahl betrug. Nur in 8 Fällen
fanden sich weniger als 25 % polynukleäre Leukozyten und auffälligerweise
fanden sich in diesen Fällen entweder klinisch nachweisbare nervöse
Störungen oder Globulinvermehrung + Wassermann im Liquor oder
beides.
Die Resultate geben auf die zugrunde gelegte Frage nach dem mittels
der vier Reaktionen nachweisbaren Beginn der metaluischen Zerebral¬
erkrankungen keine verwertbare Antwort, sind aber geeignet, die Ansicht
zu stützen, daß die Pleozytose die Folge eines — je nach Uberwiegen
oder Zurücktreten der polynukleären Leukozyten — akuten oder mehr
chronischen spezifischen entzündlichen Prozesses in den Meningen ist.
Die Fälle mit manifesten nervösen Erscheinungen — also vor allem
jene mit polynukleären Leukozyten unter 25% — legen den Gedanken
an eine Beteiligung des Parenchyms des Cerebrums an dem Krankheit¬
prozeß nahe.
B. teilt außerdem eine neue Methode zur Herstellung quantitativ
exakt auszählbarer, gefärbter Trocken-, also Dauerpräparate mit.
Diskussion. — Tuczek -Marburg: Die Referate über die Behand¬
lung der Paralyse nahmen naturgemäß ihren Ausgangpunkt von der
Frage der grundsätzlichen Heilbarkeit der Paralyse. Das ist der Grund,
weshalb ich gleich zu Anfang der Diskussion mit wenigen Worten auf den
von Herrn Spielmeyer erwähnten Fall eingehen möchte, den ich im Jahre
1884 als Anhang zu meinen Studien über die Paralyse unter der Bezeich¬
nung: „Ein geheilter Paralytiker“ veröffentlicht habe. Ich schicke voraus,
daß ich das Material zu diesem Fall nicht nochmals eingesehen habe,
daher aus dem Gedächtnis heraus berichte. Die damals von mir gegebene
Schilderung der Krankheit auf ihrer Höhe habe ich der Darstellung des
Herrn Siemens aus seiner Marburger Zeit entnommen. Die Besserung,
die dann bis zu dem als Genesung bezeichneten Grade fortschritt, bahnte
sich an nach einem schweren phlegmonösen Prozeß. Ich habe dann den
Kranken fortdauernd bis zu seinem Tode im Auge behalten und wiederholt,
zum Teil mit Herrn Knoblauch -Frankfurt a. M., untersucht. Er wurde
tabisch und mußte sich bald pensionieren lassen. In seiner letzten Lebens-
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periode bot er das Bild fortschreitender seniler Demenz. Seit jener Pu¬
blikation und dem Zeitpunkt der Sektion hat sowohl die klinische wie
die anatomische Diagnostik der Paralyse eine derartige Verfeinerung
und Ausreifung erfahren, daß dem Maßstab, der heute angelegt werden
müßte, der Fall kaum gewachsen sein möchte. Die Differentialdiagnose
zwischen Paralyse und paralyseähnlichem Herd einer Hirnlues würde
heute eine strenge Prüfung herausfordern. Eine noch eingehendere, etwa
auch durch experimentell-psychologische Untersuchung ergänzte Prüfung
der Intelligenz des Genesenden würde vielleicht doch eine Heilung mit
Defekt ergeben haben. Und, wenn es sich etwa um einen Mann mit einem
verantwortlicheren Beruf und höheren Anforderungen an Anpassungs¬
fähigkeit gehandelt hätte, würde vielleicht die Lebensprobe doch Defekte
ergeben haben.
Zum anatomischen Befund trage ich nach, daß sich im Stirnhirn
eine Lichtung des Fasergehaltes eigab. Dieser Befund ist, wie wir heute
wissen, nicht eindeutig; größere Bedeutung kommt der Nißlschen Fest¬
stellung an den Ganglienzellen zu. Doch fehlt gerade die jetzt so bedeutsam
gewordene Untersuchung der feineren Strukturverhältnisse des Zwischen¬
gewebes. Vielleicht läßt sich das noch nachholen. Ich möchte meine
heutige Stellungnahme zu dem Fall so formulieren, daß, wenn ich ihn
heute zu veröffentlichen hätte, ich vielleicht das Wort „geheilter“ in
Gänsefüßchen fassen würde.
Fischer-Prag teilt mit, daß sich nach seinen Erfahrungen aus der
letzten Zeit die Resultate der Nuklein- und Tuberkulintherapie gleich
günstig zeigen; er empfiehlt auch abwechselnd Nuklein und Tuberkulin
zu injizieren, da man dann mit geringeren Dosen auskommt. Die günstigen
Erfahrungen von Wagners mit der kombinierten Hg-Behandlung haben
ihn veranlaßt, nach einer Kombination von Quecksilber und Nuklein zu
suchen; ein derartiges Präparat, das Nukleinquecksilber der Gesellschaft
für chemische Industrie in Basel, hat F. gerade in Verwendung; dasselbe
zeichnet sich dadurch aus, daß es eine besonders hohe Leukozytose macht,
und die bisherigen Erfolge scheinen viel zu versprechen.
F. betont, daß es einstweilen noch notwendig sein wird, ganz syste¬
matisch die Bedingungen zu studieren, unter denen es zu Remissionen
oder gar zu „Heilungen“ der Paralyse kommt, und meint, daß nach den
bisherigen Erfahrungen zu den wichtigsten Bedingungen eine Blutleuko¬
zytose gehört. Deswegen hat er versucht, dieselbe auch noch mit anderem
Mittel hervorzurufen wie z. B. mit dem Chaulmoograöl, das, per os oder
subkutan gegeben, auch eine beträchtliche Leukozytose macht, ebenso
mit dem Antileprol, einem gereinigten Chaulmoograöl von Bayer u. Co.
Da bekannt ist, daß auch die radioaktiven Substanzen zu einer Blut-
leukozytose führen, wäre es nicht ausgeschlossen, auch diese zur Therapie
der Paralyse zuzuziehen.
Stransky -Wien würde angesichts seiner relativ nicht zu großen
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persönlichen Erfahrung nicht das Wort ergreifen, wäre er nicht der einzige
hier anwesende Vertreter der Wiener Schule. Als solcher möchte er hier
nur sagen, daß v. Wagner ganz besonders die Notwendigkeit betont, tun¬
lichst initiale Fälle — wie man sie nicht in dem Maße in Anstalten sieht
als in Privatsanatorien oder in der Sprechstunde — mit Tuberkulin zu
behandeln. Über die von ihm zurzeit befolgte Methode hat sich v. W.
erst kürzlich wieder geäußert (Wiener klinische Wochenschrift 1912, Nr. 1).
daher Redner darauf nicht zurückzukommen braucht; nur soviel, daß die
Methodik von v. W. gewissermaßen empirisch ausgewertet wurde und an
sich nichts Prinzipielles ist. v. W. verbindet die Tuberkulinbehandlung
mit Vorteil mit zwischendurchlaufenden Quecksilberinjektionen (Hg.
succinimidatum). Die Zahl, Dauer und Tiefe der Nachlässe findet e. W.
bei den von ihm mit Tuberkulin behandelten Fällen erheblich großer,
als er es je vorher bei Paralysen fand; nicht ganz wenige der Fälle wurden
wieder beruffähig in den Remissionen; auch sah v. W. bei demselben
Kranken wiederholt Remissionen auftreten, zumal bei Reprisen der
Behandlung. Ähnlich sind die Erfahrungen von Pilcz, wie dieser dem
Redner mitgeteilt hat. Bezüglich anderer Details sei auf die Mitteilungen
v. W.s und P.s verwiesen. (Nachtrag: Nach einer mündlichen Mitteilung
v. W.s hat dieser einige Fälle gesehen, die von Fischer nach dessen Methode
behandelt worden sein sollen und sehr weitgehende Remissionen darboten.)
Versuche v.W.s mit Staphylokokkentherapie sind noch nicht abgeschlossen,
i Stransky bemerkt dann noch zu den Ausführungen Schröders, daß man
bei der Paralyse in manchen Fällen doch wohl von echten Remissionen
sprechen müsse; namentlich scheint dies dann der Fall zu sein, wenn eine
degenerative Anlage mit der paralytischen Disposition ringt; zumal bei
den zirkulären Paralysen kann man daran denken; Redner erinnert
an die Anschauungen v. W. s, wonach Disposition ein Komplement habe:
Immunität; es sei doch auffällig, wie selten an schwere degenerative Geistes¬
störungen nachträglich eine Paralyse anschließt; bezüglich des manisch-
depressiven Irreseins hat das schon Pilcz hervorgehoben, und Stransky
konnte es neuerdings wieder bestätigen. Natürlich sind damit die von
Schröder geschilderten Fälle nicht zu verwechseln, gerade diese Fälle
scheinen sehr oft degenerativ belastet, und gerade sie zeigen (Kampf der
Anlagen) nicht selten Remissionen.
^nton-Halle führt aus, daß er den Berichten über Salvarsanbehand-
lung der Paralyse, welche aus seiner Klinik durch Dr. Willige veröffent¬
licht wurden, leider summarisch hinzufügen müsse, daß trotz Ver¬
besserung der Technik sich eher ungünstige Resultate ergeben haben.
Der Gedanke der Serotherapie und der Behandlung durch diverse
abgetötete Bakterienkulturen dürfte keineswegs verlassen werden, sintemal
die Zahl der Fälle doch beachtenswert ist, wo interkurrente Infektions¬
krankheiten die Paralyse gebessert haben. A. selbst wurde in den letzten
Jahren überrascht durch zwei Fälle, wo ein interkurrenter Gesichtsrotlauf
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die Paralyse auf längere Zeit zum Stillstand gebracht hat. Bezüglich dieser
Frage muß er ausdrücklich auf die Arbeiten des Direktor Boeck (E. Boeck:
Versuche über die Einwirkung künstlich erzeugten Fiebers bei Psychosen
Jahrb. f. Psych. 1896 S. 199; daselbst auch Bericht über Tuberkulinin¬
jektion) in Troppau verweisen, welche bereits vor 15 Jahren erschienen sind.
In einem Punkte wolle er die vortrefflichen Berichte der Herren
Vorredner wenigstens durch eine Fragestellung ergänzen. Es sei
wohl Zeit, sich die Frage vorzulegen, wie weit die Paralyse operativ
angegangen werden kann, sintemal es derzeit möglich sei, ohne lange
Narkose, auch ganz ohne Narkose mehr durch Lokalanästhesie, das Gehirn
zu eröffnen. Er habe dabei folgende Gesichtspunkte vorzubringen:
Wenn auch beim fertigen Menschen die Beziehungen zwischen
Gehirn und Organismus sehr regsame sind, so darf doch nicht außer acht
gelassen werden die auffällige biologische Selbständigkeit
des Gehirn- und Rückenmarkorganes. Das Gehirn
entwickelt sich relativ selbständig. Gehirngröße und Körpergröße gehen
nicht parallel. Bei Anenzephalen findet sich übrigens oft ein beträcht¬
liches Körpergewicht. In der Kindheit wächst das Gehirn nach ganz
anderen Gesetzen. Mit 2 Jahren erreicht es schon zwei Drittel seines
Gewichts zum Unterschiede vom Körperorganismus. Bei Krankheit¬
prozessen und bei Inanition nimmt das Gehirn wenig Anteil an der hoch¬
gradigen Abmagerung und am Gewichtsverluste des Organismus.
Dieses andersartige Verhalten tritt bekanntermaßen
auch gegenüber der syphilitischen Infektion zutage. Es steht sicher, daß
gerade bei den syphilitischen Nachkrankheiten die Körperorgane relativ
frei von luischen Erkrankungen geblieben sind. Das kann wohl jeder
bestätigen, der einmal 100 Paralytiker obduziert hat. Ja, in dem Referat
von Plaut wurde ausdrücklich erklärt, daß jene speziellen Infektionen,
welche lange latent bleiben und die Körperorgane relativ verschonen,
größere Chancen geben für eine spätere paralytische Erkrankung.
Die Sonderstellung des Nervenapparates läßt sich auch illustrieren
durch das Verhalten gegen die Medikationen. So wird z. B. Jod
bei entsprechender Therapie nicht im Liquor cerebrospinalis nachgewiesen.
Wir alle wissen, daß die Quecksilberbehandlung anders wirkt auf die
syphilitische Erkrankung der Körperorgane wie auf die des Gehirns.
Trotzdem wird fast ausschließlich bisher die Medikation dem Körper
einverleibt in der Erwartung, daß von da in gleichem Maße auf das Gehirn
gewirkt wird, eine Erwartung, welche bekanntlich meistens nicht zutrifft.
Was nun die direkte Einwirkung auf das Gehirn betreffe, so hätten
v. Bramann und er durch ein einfaches Verfahren das Balkendach eröffnet
(Balkenstich) und bei den zahlreichen Operationen dabei Gelegenheit
genommen, die Ventrikel zu sondieren. Dadurch brauche es nur eine
Abänderung des Verfahrens, um mittelst doppelläufiger Kanüle die Medi¬
kation an eine Stelle des Gehirns zu bringen, von wo aus auf das gesamte
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Nervensystem rasch eingewirkt werden kann. Es könne dabei sowohl
eine Applikation von Medikamenten als auch eine Durchspülung des
Gehirnes vorgenommen werden. Sie verwandten für letztere isotone
Lösungen (Ringer). Die Erfolge des Verfahrens könne er noch nicht
registrieren. Tatsache sei, daß das Verfahren möglich ist.
Dabei war auch der Gesichtspunkt beachtenswert, daß jene Teile
direkt angegangen werden, welche für die Beschaffenheit des Liquor
cerebrospinalis maßgebend sind, nämlich das Ependym und die Plexus.
Letztere, wohl sicher drüsige Organe, seien für den Heilplan in Betracht
zu ziehen; wenn auch ihre Rolle bei der fortschreitenden Paralyse noch
nicht klargelegt sei.
Falls sich diese Applikation und operative Beeinflussung des Gehirns
bewähre, könnten auch einfachere Prozeduren, unter anderem die Neißersche
Ventrikelpunktion in Betracht kommen, eventuell die Quinckesche Lumbal¬
punktion, wie dies mit letzterem Verfahren bei Meningitis cerebrospinalis
epidemica bereits durchgeführt werde.
Zum Schlüsse verweise er auf das Verfahren von Horsley, welcher
die Gehirnoberfläche mit 1 :1000 Sublimat abspült, allerdings nachdem
ein Stück der Dura ausgeschnitten wurde.
Cramer-Göttingen berichtet über einen vor 20 Jahren mit einer
Fontanelle behandelten Paralytiker, der jetzt trotz Tabes mit periodischer
Depression seinen Beruf ausfüllt. 10 mit Salvarsan behandelte Falle
zeigten Verschlechterung. Persönlich habe er den Eindruck, daß unter
10 Fällen 4 mal das Tuberkulin nachhaltige Remission herbeigeführt
habe, indem Kardinalsymptome wie Sprachstörung verschwänden, die
Kniereflexe sich besserten, aber die Pupillarreaktion keine Änderung
zeigte.
Plaut -München: An der psychiatrischen Klinik in München wurden
nach Absendung der Berichte an den Ref. Prof. Meyer die therapeutischen
Versuche vorwiegend mit kombinierten Salvarsan-Nukleinkuren fort¬
gesetzt. Wenn wir auch bei ausschließlicher Anwendung des Salvarsans
einige gute Remissionen beobachteten, so schien uns doch noch eine
günstigere Wirkung bei Kombination mit Nuklein einzutreten.
Immerhin waren die bisherigen Erfolge auch hierbei nicht so über¬
wältigende, daß wir eine therapeutische Einwirkung mit völliger Sicherheit
anzunehmen uns für berechtigt halten; aber wir halten sie doch für nicht
unwahrscheinlich. Wir befolgen zurzeit folgenden Kurplan bei Paralyse:
Salvarsan: 1. Injektion 0,2
2. „ 0,4
3. „ 0,6
4. 5. u. 6. ,, je 0,6
Gesamtdosis somit 3,0; Intervall je 8 Tage. Hierauf Nuklein, bis 2.0
pro injectione, für 2 Monate. Dann wiederum Salvarsan 3,0 wie oben.
Anschließend hieran für mehrere Monate Nuklein.
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Wir verwenden also Salvarsan in großen Dosen und haben uns von
der Harmlosigkeit des Salvarsans bei Paralyse völlig überzeugt.
Was in den Frühstadien der Syphilis an störenden Nebenwirkungen
beobachtet wurde (z. B. Labyrintherkrankungen), ist bei Paralyse nicht
mehr zu befürchten. Bemerkenswert ist die deutliche Einwirkung des
Salvarsans in gehäuften Dosen auf die Pleozytose des Liquor bei Paralyse;
es ist möglich, die Zellzahl auf Normalwerte herabzudrücken, was mit Hg.
nicht gelingt. Daraus ist zu folgern, daß das Salvarsan die entzündliche
Komponente des paralytischen Prozesses beeinflußt.
Mit der Auswertung des Liquor nach Hauptmann haben wir recht
günstige Erfahrungen gemacht und können bestätigen, daß eine Unter¬
scheidung der Lues ohne Beteiligung des C.-N.-S. von Lues cerebrospinalis
auf diesem Wege in vielen Fällen durchführbar ist. Es kommen Aus¬
nahmen von der Regel vor, die jedoch selten sind.
Eccard -Frankenthal: Auch ich habe im Verlaufe der letzten 2 Jahre
im ganzen 11 Fälle von progressiver Paralyse resp. Taboparalyse mit den
neuen Mitteln behandelt. Es waren durchweg sogenannte frische Fälle,
das heißt solche, bei welchen die jedenfalls schwereren Symptome wahr¬
scheinlich nicht oder nicht viel über ein Jahr zurücklagen.
Die meisten waren auch nicht als Geisteskranke in die Anstalt ein¬
gewiesen, sondern teils zur Feststellung der Diagnose, teils zur Beobachtung,
ob überhaupt noch ein Heilversuch sich empfehle, von Berufsgenossen¬
schaften und der Landesversicherungsanstalt.
In keinem der Fälle wurden störende Komplikationen oder Nach-
erkrankungen, die dem Mittel zur Last gelegt werden konnten, beobachtet.
Beim Tuberkulin traten einigemale mit kurzem, sehr hohem Fieber
verbundene Lokalreaktionen ein, erst aber, nachdem man bei höheren
Dosen angelangt war.
7 Fälle wurden mit intravenösen Salvarsaninjektionen, zum Teil
0,7 auf einmal, zum Teil in wiederholten kleineren Dosen (2—3 mal
0,35/200) behandelt ohne einen Erfolg, jedenfalls ohne einen, der über
das hinausgeht, was man auch bei der bisher üblichen Behandlung von
progressiver Paralyse sieht.
In 3 Fällen von Behandlung mit steigenden Tuberkulininjektionen
(0,01 bis 1,0 g Alttuberkulin) war ein Erfolg ebenfalls nicht zu erkennen,
dagegen trat im vierten Falle, der noch in Behandlung steht, dieselbe
auffallende, rasch einsetzende Besserung auf, wie sie Herr Dr. Friedländer
in seinem Falle ebenfalls beobachtet hatte.
Nach etwa 300 mg trat auffallend rasch Besserung ein, die ge¬
legentlich der Augenspiegeluntersuchung geprüften, lichtstarren Pupillen
reagierten wieder deutlich, wenn auch noch träge und leicht entrundet,
rechts > links, die nur andeutungweise auslösbaren Kniesehnenreflexe
traten wieder ein, das aufgeregte Wesen mit seinen floriden und läppischen
Größenideen wurde komponiert und geordnet. Während er nicht mehr
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Verhandlung psychiatrischer Vereine.
9x7, 76—18 usw. rechnen konnte, ging dies auch wieder, die häsitierende.
silbenstolpernde Sprache wurde fast ganz gut.
Sein reduzierter körperlicher Zustand hob sich rasch ohne aber
in das Gegenteil, allzu große Adipositas, umzuschlagen, und das alles nicht
im Verlauf von Monaten, sondern in ganz kurzer Zeit, so daß im Verlauf
von 2 Wochen nach der rasch eintretenden Besserung dieser unverkennbar
gute Zustand eingetreten war.
Frankel -Lankwitz hat 60 Fälle mit Salvarsan und Nat. nucleinic.
gespritzt und nur einmal eine kurz dauernde Remission gesehen. Ein
Generalstabsoffizier, der mit 25 Injektionen Nat. nuclein. behandelt wurde,
ist jetzt wieder im Dienst.
Raecke -Frankfurt a. M.: Man muß scharf unterscheiden zwischen
den Ergebnissen der Salvarsanbehandlung in der früheren Anwendungs¬
weise, die unzuverlässig war, und nach der neueren Methode, die bestehe
in intravenöser Gabe fortgesetzter kleiner Dosen, bis 3 g mindestens
erreicht sind, und zwar abwechselnd mit Kalomelinjektionen. Die letzter«
zielbewußtere Methode ist noch ganz ungenügend erprobt, obgleich sie
bessere Aussichten bietet. In Frankfurt habe er bei dieser Methode nie
unangenehme Folgen gehabt. Wieweit die dabei beobachteten Remissionen
in kausalem Zusammenhang mit der Behandlung standen, läßt sich bei der
Kürze der Behandlungszeit noch nicht entscheiden.
Kraepelin -München bestätigt die Plaufschen Erfahrungen. In
einzelnen Fällen fand sich eine Idiosynkrasie gegen Nuklein, die durch
purinfreie Kost gehoben werden konnte.
Gro/ß-Rufach: In Rufach werden alle neuaufgenommenen Paralytiker
systematisch mit Einspritzungen von Nat. nuclein. behandelt. Die Spritz -
kuren von 12—15 g Nat. nuclein. werden mehrfach, in der Regel dreimal,
wiederholt, in die Intervalle je eine antiluisehe Kur (Unguent. einer,
oder Enesol kombiniert mit Jodkali) eingeschoben und die Behand¬
lung mit einer solchen auch abgeschlossen. Während der Nukleinein¬
spritzungen Darreichung von Arsen und Eisen. Außerdem, je nach dem
somatischen und psychischen Zustand, Freiliegekuren oder Dauerbäder.
Die Erfolge sind bisher, insbesondere bei frischen Fällen, recht
befriedigende. Besonders zu bemerken war fast durchweg eine auffällige
Besserung des Kräftezustands unter Zunahme des Körpergewichts. Auf
psychischem Gebiet wurde in der Regel Beruhigung erzielt unter Wieder¬
kehr der Orientierung und Zurücktreten der Wahnideen.
' ’ Meines Erachtens dürfte der wesentlichste Effekt der Nuklein¬
behandlung in der Hebung des Kräftezustands zu suchen sein, womit erst
die Möglichkeit energischer antiluischer Behandlung gegeben und diese
dann gut vertragen wird.
Brückner -Friedrichsberg hat von Salvarsan keine Erfolge gehabt.
Aa/Jca-Hamburg: 1. Wenn wir der Therapie der Paralyse durch
direkte Kontaktwirkung von der Zerebrospinalflüssigkeit aus das Wort
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reden, dann werden wir, wenn wir nicht an die direkte chirurgische Beein¬
flussung oder die Spinalinjektion denken können, immer wieder an die
komplizierten Verhältnisse des Liquor cerebrospinalis erinnert. Sehen
wir doch, daß die meisten Stoffe auch bei der Paralyse nicht in den Liquor
übergehen, eine Reihe anderer aber—und neuere Untersuchungen scheinen
uns immer neue kennen zu lehren —, die eine chemische Affinität zu der
Gehirnsubstanz haben, in Mengen übertreten, die sich zu der im Blut¬
serum enthaltenen wie 1 : 2 oder 1 : 4 verhalten, ja diese sogar über-
treffen können (SchottmüUer und Schümm: Alkohol); auch unsere
Kenntnisse über das Verhalten der den Liquor sezernierenden Gewebe
gegenüber Immunkörpern erweitern sich nur allmählich. Es ist anzu-
nehmen, daß erst reiche Erfahrungen solcher Art uns den Weg weisen
werden, um einen wie immer wirksamen Körper in solcher Dosierung
und solcher Art einzuverleiben, daß er vom Liquor aus seine Heilwirkung
entfaltet.
2. Die interessanten Befunde von Bergl, eigene Untersuchungen,
die positive Wa.-R. im Liquor und Haemolysinübertritt vor Auftreten
sicher paralytischer Symptome zeigten, die Bisgaadschen Arbeiten, die
erweisen, daß der Liquor cerebrospinalis der Paralytiker andere Eiweiß -
arten enthält als die Zerebrospinalflüssigkeit von an Lues cerebri Leidenden,
und andere Tatsachen drängen dazu, den in dieser Versammlung schon
angeregten Liquoruntersuchungen der Luiker in allen Stadien und mit
allen Methoden (besonders auch Eiweiß- und Hämolysinbestimmungen),
so weit es eben möglich ist, entschieden das Wort zu reden, weil dies für
die Pathogenese der Paralyse, für die Frage, wann und warum wird ein
Syphilitiker paralytisch?, von großem Werte sein könnte.
Friedländer- Hohe Mark macht auf zwei wichtige Punkte aufmerk¬
sam. Was die Methodik der Einspritzungen betrifft, so wird dieselbe aus
seiner Arbeit zu ersehen sein. Er möchte nur davor warnen, die Ein¬
spritzungen in zu schnellem Tempo und zu hoher Dosis vorzunehmen.
Unter allen Umständen empfiehlt es sich, mit einer Probeinjektion von
0,0005 zu beginnen und eine eventuelle tuberkulöse Reaktion abzuwarten.
Bleibt dieselbe aus, so kann mit der Injektionskur begonnen werden.
Des weiteren empfiehlt er nicht, die Fiebertherapie mit der spezifischen
(Sublimatinjektion oder Einreibungen mit einem Quecksilberpräparat)
gleichzeitig zu verwenden
1. aus Schonung für den Kranken und
2. um ein eindeutiges Resultat der Fieberwirkung zu erhalten.
Spielmeyer -Freiburg hält eine anatomische Nachuntersuchung der
Stücke des Falles Tuczek für wünschenswert.
4. Sitzung Freitag, 31. Mai, nachm. 2 Uhr.
•Sfertz-Bonn: Über subkortikale sensorische Apha¬
sie nebst allgemeinen Bemerkungen zur Auffassung
a phasischer Symptome.
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760
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Vortr. berichtet über 2 Fälle von Paralyse, bei denen sieb eine partielle
,,reine Worttaubheit“, das eine Mal als erstes erkennbares Krankheit-
Symptom der Paralyse, das andere Mal nach einjährigem Bestehen der¬
selben, entwickelt hatte und konstantes Herdsymptom verblieben war.
In dem zur Sektion gekommenen ersten Falle fanden sich auf beide
Schläfenlappen beschränkte Degenerationen der kortikalen Markfasern
und Veränderungen besonders in der dritten Zellschicht, neben allgemeinen
chronisch entzündlichen Veränderungen paralytischer Natur.
Es werden die Lokalisationsmöglichkeiten der reinen W 7 orttaubheit
im allgemeinen besprochen und im vorliegenden Falle mangels sub¬
kortikaler Veränderungen der Prozeß in der Schläfenlappenriade als
anatomische Grundlage angenommen.
Bei der Deutung des aphasischen Komplexes wird die Möglichkeit
des Hinzukommens bisher nicht näher lokalisierbarer intra- bzw. inter¬
kortikaler Systemerkrankungen erwogen. Die Anwendung physiologischer
Gesetze auf diese Systeme im Sinne funktionell zusammengehöriger
Neuronenverbände wird für die Erklärung des Symptoms der akustischen
Unerreichbarkeit, der fehlenden Selbstwahrnehmung des Defekts, des
auffälligen Schwankens der klinischen Erscheinungen usw. mit herao-
gezogen. (Ausführliche Veröffentlichung erfolgt am anderen Ort.)
Weygandt- Hamburg: Erweiterungen und Reorgani¬
sationen in der Hamburger Irrenpflege, ein Beitrag
zu der Frage: Umbau oder Neubau (mit Demonstrationen).
Hamburg hat erst 1864 Friedrichsberg als damals hochmoderne
Anstalt errichtet. Gegenwärtig zählen Friedrichsberg und Langenhorn
etwa 2900 Kranke, dazu das Hafenkrankenhaus 10 Geisteskranke und '
das Delirantenhaus in Eppendorf 20 Kranke. Wegen der enorm rasch
wachsenden Bevölkerungsziffer, der fluktuierenden Bevölkerung vor
allem im Hafen und anderer Umstände ist ein rasches Fortschreiten der
Irrenfürsorge notwendig. Langenhorn bekommt etwa 500 neue Plätze,
an eine dritte Anstalt muß gedacht werden, aber auch Friedrichsberg
bedarf dringend der Reorganisation. Seine veraltete Heizung, Gas¬
beleuchtung, mangelhaften Bäder usw. müssen alle modernisiert werden.
Bei der Frage: Umbau oder Neubau ? überwogen die Gründe für ersteren.
Letzterer wurde allerdings befürwortet durch die lebhafte vorstädtische
Umgebung der Anstalt sowie den mittlerweile hochgestiegenen Geländewert.
Für einen Umbau sprach jedoch folgendes: Für rasche und zweck¬
mäßige Unterbringung Neuerkrankter, besonders Selbstmordverdächtiger
ist die Stadtnähe sehr wichtig; die Angehörigen frischer Fälle wollen leicht
zu Besuch kommen können; die Pensionäre 1. und 2. Klasse sollen nicht
weit von der Stadt untergebracht sein. Die Anstalt betreibt lebhaft Fort¬
bildungskurse, Physikatskurse, wissenschaftliche Ärzteabende u. dgL
Der Patientenaustausch mit den allgemeinen Krankenhäusern ist oft
segensreich. Zu berücksichtigen ist ferner, daß die stehenden Gebäude
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zum größten Teil noch wertvoll sind, und daß im Hamburger Staatsgebiet
nur sehr schwierig noch Platz für solche Zwecke zu haben ist.
Die Aufgabe ist: Erneuerung der Zentraleinrichtungen, Abschaffung
der Überfüllung, Einrichtung besonders geeigneter Gebäude für die ver¬
schiedenen Krankenkategorien.
Das neue Kesselhaus soll elektrische Leitung, Zentralheizung,
Warmwasserleitung besorgen. Ferner eine neue Küche, außerdem Ver¬
waltungsgebäude unter Verlegung des Haupteingangs, zwei Werkstätten-
gebäude, Gewächshausvergrößerung (mit Aufenthaltraum).
Abgerissen werden nur die zwei alten Baracken und der Zellenbau.
An neuen Pavillons sind geplant 1. zwei Häuser für je 65 Unruhige
mit Liegehallen, 18 kleinen Wachsälen und Dauerbädern auf jeder Seite;
2. zwei Lazarette für 70 pflegebedürftige Kranke mit Dauerbädern, Liege¬
halle, schiefen Ebenen statt Treppe usw.; 3. zwei Pavillons für unruhige
Kranke 3. Klasse; 4. zwei offene Häuser für je 30 Rekonvaleszenten,
die vor der Entlassung erst noch bei offener Tür gehalten und beschäftigt
werden sollen; 5. Anbau an jedes der beiden Pensionate mit Badesaal,
Tageraum, offener Abteilung; 6. Haus für 30 Jugendliche männlichen
Geschlechts.
Die Laboratorien werden bedeutend vergrößert, ferner auch die
Wohnungen für Ärzte und besonders für das Personal.
An sich kann bei der Eigenart Hamburgs nicht unter 1500 Kranke
gegangen werden, eine hohe Zahl, die aber doch auch gewisse Vorzüge hat,
vor allem hinsichtlich der Pflege der Wissenschaft.
Diskussion. — Ko/J-Kutzenberg empfiehlt große Anstalten
nur dann zu bauen, wenn ein anderer Weg nicht möglich erscheint,
möglichst immer müsse man im Interesse der Ärzte, die sich der An¬
stalttätigkeit widmen, kleinere und zahlreiche Anstalten bauen.
Max Fischer -Wiesloch: Zur Frage der großen Anstalten habe ich
mich andernorts eingehend geäußert; es wird immer in der Irrenver¬
sorgung Lagen geben, wo diese Lösung trotz aller Bedenken als die richtige
anerkannt werden muß.
Im übrigen möchte ich kräftig das Wort unterstreichen: Neubau,
nicht Umbau!
Freilich gibt es Ausnahmen. Wir in Baden haben beides erlebt.
Wir haben das alte Illenau in glücklicher Weise baulich reformiert, wir
sind aber jetzt daran, das noch ältere Pforzheim ganz aufzuheben, d. h.
in einer neuen Ersatzanstalt aufgehen zu lassen.
Herrn Kollegen Weygandt will ich gerne zugeben, daß auch für sein
Friedrichsberg die Notwendigkeit der Erhaltung und Umgestaltung
vorliegt; aus dem Lageplan ist ja auch zu ersehen, daß so ziemlich eine
neue Anstalt um die alte herum entstehen soll.
Unrettbar kommt aber für jede ältere Anstalt einmal die Zeit, wo
man aufhören muß, weitere Mittel in sie zu stecken, wenn man nicht
direkt unrationell wirtschaften will.
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Da erhebt sich denn die Frage: „Was wird später aus
unseren alten Irrenanstalten?“
Diese Frage wird immer aktueller werden und künftighin naturgemäß
immer häufiger zu beantworten sein.
Verkaufen oder niederreißen und neu aufbauen.
Die praktischen Amerikaner, die ihre Pavillons leicht, billig und
nicht auf Dauer bauen, brennen, wie ich mir habe sagen lassen, die unzeit¬
gemäß und wertlos gewordenen Krankenhäuser einfach ab und erstellen
dafür neue — das alte Bauernrezept!
Eine regressive Metamorphose unserer Anstalten in Klöster werden
wir wohl kaum zu befürchten haben!
Dagegen werden wir um so sicherer mit einer Umwandlung der alten
Anstalten in andersartige Fürsorgeunternehmungen der Krankenpflege
und der Wohltätigkeit rechnen können.
Es gibt ja noch so viele wichtige kulturelle und soziale Aufgaben,
die noch der Erfüllung harren und nach einem Unterkommen, einer Ört¬
lichkeit des Wirkens förmlich schreien — Siechenasyle, Krüppelfürsorge,
Arbeitsanstalten, Unterbringung epileptischer, idiotischer und schwach¬
sinniger Kinder, psychopathischer Jugendlichen und der Grenzzustände
überhaupt usw.
Für solche sehr bedeutsame Zwecke werden späterhin unsere alten
Anstalten herhalten sollen. Und wir werden uns an den Gedanken ge¬
wöhnen müssen, auf diese Weise mit der Zeit manche der uns lieb ge¬
wordenen Stätten aufzugeben.
So erleben wir auch auf diesem Gebiete das Gesetz vom Wechsel
aller Dinge, vom ewigen Werden und Vergehen!
Weygandt (Schlußwort): Die Ausführungen der Herren Kollegen
Fischer und Kolb kann ich gewiß unterschreiben, daß kleinere Anstalten
in vielen, vielleicht den meisten deutschen Landesteilen vorzuziehen
sind und vor allem hinsichtlich der irrenärztlichen Laufbahn manches
Gute haben. Indes wäre bei einer Forderung von Millionen zur Reorgani¬
sation unter gleichzeitiger Verminderung des Krankenbestandes auf */»
aus schwerwiegenden finanziellen Gründen überhaupt nichts zu erreichen
gewesen Hinsichtlich der Frage, was später einmal aus einer endlich
doch abzubrechenden Irrenanstalt werden soll, bin ich der Anschauung,
daß gerade bei Friedrichsberg, falls es einmal nach 50 Jahren doch verlegt
werden müßte, das Gelände ausgezeichnet zu verwerten ist, und zwar nicht
nur als wertvoller Baugrund, sondern man wird auch glücklich sein, dann
in der volkreichen und dicht bebauten Großstadt noch ein hygienisch
geradezu unschätzbares Parkgelände zu besitzen.
Fischer- Prag: Ein Beitrag zur P r e sb y o p h r e nie f r ag e.
Auf Grund weiterer Studien über die Klinik und Anatomie der
senilen Psychosen, die sich jetzt bereits auf ein Material von 430 Fällen
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beziehen, bestätigt F. wieder seine früheren Angaben über die Klinik
und Anatomie der presbyophrenen Demenz. Eine ausführliche Publikation
wird demnächst erfolgen.
Stier- Berlin: Die funktionellen Differenzen der
Hirnhälften und ihre Beziehungen zur geistigen
Weiterentwicklung der Menschheit.
Drei Tatsachen sind es, die uns gelehrt haben, daß die beiden Hirn«
hälften trotz ihrer anatomisch offenbar völlig übereinstimmenden Struktur
doch funktionelle Differenzen aufweisen. Die alten Erfahrungen der
Pathologie haben uns gelehrt, daß die Zentren für die Sprache, für Lesen,
Schreiben und die höchsten motorischen Funktionen rein oder fast rein
einhirnig angelegt sind, neue Erfahrungen über die Dyspraxie der linken
Hand bei Rechtsgelähmten haben erwiesen, daß die eine Hirnhälfte sogar
bis zu gewissem Grade die Funktionen der anderen dirigiert, und die Er¬
fahrungen der Physiologie über die Rechtshändigkeit zeigen, daß manche
an sich in beiden Hirnhälften vorhandene Zentren doch funktionell
verschieden sind. Durch Schaffung geeigneter Untersuchungsmethoden
hat Vortragender erwiesen, daß gleichgerichtete, wenn auch weniger
hochgradige funktionelle Unterschiede auch für die Zentren der Bewegung
der Beine, des Mundfazialis, ja auch des Augenfazialis bestehen.
Ordnen wir nun die Hirnzentren nach der Intensität der bei ihnen
sich findenden hemilateralen funktionellen Differenzen, so ergibt sich,
daß diese Differenzen am intensivsten sind bei den spezifisch mensch¬
lichsten Hirnleistungen — Sprechen, Lesen, Schreiben, Sprachverständnis,
Praxie, Bewegungen der Hand, des Beines, Gesichtes — und daß sie
fehlen bei den Leistungen, die nicht spezifisch menschlicher Art sind —
Kau-, Augenbewegungen, Seh-, Hörempfindungen. Auch in der Onto¬
genese des Menschen sehen wir die Funktionen mit den größten hemi¬
lateralen Differenzen am spätesten auftreten, z. B. die Sprache und Rechts¬
händigkeit beim Kinde.
Wir müssen demnach annehmen, daß die Entstehung einer funk¬
tionellen Differenzierung der Hirnhälften einen Fortschritt in der Mensch¬
heitsentwicklung bedeutet, da diese Differenz gerade bei den höchst
entwickelten Hirnzentren sich zeigt, eine Annahme, die auch darin ihre
Bestätigung findet, daß wir heute noch bei geistig hochstehenden Menschen
in der Regel eine starke, bei schwachsinnigen eine geringere Differenzierung
der Hirnhälften nachweisen können.
Am klarsten aber bestätigt wird die Annahme, daß eine ausgeprägte
Lateralisierung der Hirnfunktionen die Voraussetzung darstellt
für die höheren geistigen Leistungen, dadurch, daß fast die Hälfte der
hörstummen Kinder, bei denen sich Krankheiten des Gehirns als Ursache
der Hörstummheit nicht nachweisen lassen, leicht linkshändig, d. h. rechts-
hirnig veranlagt und durch die energischen Bemühungen der Eltern zu
ambidextrischen oder, wie man in diesem Falle richtiger sagen müßte,
Zeitschrift für Psychiatrie LX1X. 5. 52
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ambisinistrischen, also mit beiden Händen gleich ungeschickten Kindern
erzogen sind. Die Entwicklung der Sprache und der anderen geistigen
Funktionen tritt dann erst ein, wenn die eine Hirnhälfte, sei es die rechte
oder sei es die linke, das funktionelle Übergewicht erhalten hat.
Die Differenzierung der Hirnhälften in ihrer Gesamtheit gegenein¬
ander ist also anzusehen als der weitere Fortschritt der Differenzierung der
einzelnen Hirnteile jeder Hemisphäre gegeneinander, wie wir sie in der
ansteigenden Tierreihe feststellen können, und dürfte im Interesse der
weiteren geistigen Entwicklung der Menschheit, speziell der Vereinheit¬
lichung unseres geistigen Lebens von Nutzen sein.
Diskussion. — Gaupp -Tübingen erwähnt, daß bei seinem
kleinen Sohn, der Linkshänder ist und es trotz aller mütterlichen Er¬
ziehungsversuche bleibt, die Sprachentwicklung keineswegs verzögert
war, sondern sogar sehr früh und sehr gut sich vollzogen hat. Er frägt
ferner den Vortr., ob ihm bekannt ist, daß Linkshänder ( G . selbst ist ein
solcher) von selbst ebenso gut und rasch mit der linken Hand Spiegel¬
schrift schreiben können als mit der rechten normale Schrift, und daß
sich diese Fähigkeit allmählich mit den Jahren steigert.
Raecke -Frankfurt macht auf jene Fälle leichter zerebraler Kinder¬
lähmung aufmerksam, bei denen die Schwäche der rechten Seite das
Bestehen von Linkshändigkeit vortäuscht. Hier kann infolge Schädigung
der linken Hemisphäre die Sprachentwicklung des Kindes Zurückbleiben.
v. GroÄe-Friedrichsberg bemerkt, daß manche Tiere bei ihren Be¬
wegungen sicher die eine Körperseite bevorzugen; so springen manche
Pferde unabhängig davon, wie sie zugeritten sind, beim Galopp lieber
links an; ebenso bevorzugen Hunde beim Lauf oft die eine Seite.
Stier (Schlußwort): Psychologische Untersuchungen bei Links¬
händern hat Biervliext in Gent gemacht, doch ist seine Teilung in Rechts¬
und Linkshänder nicht einwandfrei, seine Ergebnisse sind daher nicht
beweiskräftig. Erschwerung des Sprechenlernens beobachtet man nicht
bei ausgeprägt linkshändig veranlagten Kindern, da bei ihnen ja die rechte
Hirnhälfte deutlich der anderen funktionell überlegen ist; es sind vielmehr
die wenig differenzierten, leicht linkshändig veranlagten Kinder, die,
wenn man ernste Umgewöhnungsversuche macht, schwer sprechen lernen.
Der Einwand von Herrn Raecke ist sehr ernst zu nehmen; ich glaube aber
Irrtümer nach dieser Richtung vermieden zu haben, da ich stets besonders
darauf geachtet habe. Die Frage der Spiegelschrift ist sehr schwierig.
Ich habe in meinem Buch ausführlich dazu Stellung genommen.
F. Stern-Kiel: Über die akuten Situationspsy¬
chosen der Kriminellen.
Als Situationspsychosen bezeichnet Vortr. in Anlehnung an einen
Vorschlag Sietnerlings diejenigen psychogenen Erkrankungen, welche in
einer bestimmten, die Interessen des Individuums schädigenden oder
bedrohenden Situation auftreten und in ihrem weiteren Verlauf durch weit-
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gehende Abhängigkeit von dieser Situation ausgezeichnet sind. Besonders
charakteristische Typen derartiger Erkrankungen bilden die akuten,
meist in Untersuchungshaft auftretenden Verwirrtheits- und Hemmungs¬
zustände, welche bisher meist als hysterische Dämmerzustände oder
hysterische Stuporen bezeichnet wurden. Eine Hervorhebung vor anderen
hysterischen Erkrankungen empfiehlt sich aber 1. wegen der überwiegenden
Häufigkeit derartiger Zustände bei Kriminellen; 2. wegen der nur in einem
Bruchteil zugrunde liegenden hysterischen Konstitution; oft finden sich
▼bn konstitutionell psychopathischen Zeichen allein Instabilität, Reiz¬
barkeit oder Debilität; 3. wegen der zahlreichen Beziehungen zu anderen
mehr chronischen haftpsychotischen Komplexen, die man nicht hysterische
nennen kann. Da aber in den mit Bewußtseinstrübungen verlaufenden
Fällen, den Stuporen und Verwirrtheitszuständen, der hysterische
Verlaufstyp sich erstens in der schnellen Umsetzung seelischer
Erregungen in Bewußtseinsstörungen und zweitens darin zeigt, daß sich
jedenfalls häufig die Psychose unter dem Einfluß einer bestimmten Willens¬
richtung, hier meist dem Willen zur Krankheit, entwickelt ( Bonhoeffer ),
so kann man diese Erkrankungen als hysterische Situations¬
psychosen von den anderen Formen abtrennen. Die Abhängigkeit
dieser Erkrankungen von einer bestimmten Situation zeigt sich an dem
vom Vortr. bearbeiteten Material am besten dadurch, daß in 40 % der Fälle
Milieuwechsel promptes Schwinden ausgesprochen psychotischer
Erscheinungen in wenigen Stunden oder Tagen bedingte, Situationsver¬
schlechterung in 55 % wiederholt, in 1,5 % mehr als zweimal, eine Psychose
hervorrief, die bei Änderung des Milieus fast immer sich zurückbildete.
Die Bezeichnung „Degenerationspsychose“ ist wegen der schweren Um-
grenzbarkeit dieses Begriffs weniger zu empfehlen; auch kommt es bis¬
weilen vor, daß die Erkrankung auf nicht degenerativem Boden erwächst.
Die Abgrenzung gegen epileptische und katatonische Erkrankungen,
auch gegen Simulation, ist bisweilen schwierig.
Diskussion. — Brücftner-Friedrichsberg erkundigt sich nach
der Häufigkeit und Dauer der Amnesie bei den degenerativen Krank¬
heitzuständen. Wieweit kommt retrograde Amnesie vor?
Moeli- Berlin; Simulationsgeständnis ist oft mehr ein Zeichen gegen
als für Simulation.
Stern: Meist beginnt die Erinnerungslücke scharf mit Eintritt der
Bewußtseinstrübung. In den selteneren Fällen, in denen retrograde
Amnesie besteht oder gar auseinanderliegende Straftaten vergessen waren,
weiß man nie, wieweit Vortäuschung in Betracht kommt. .
Bischo ff-Hamburg: Untersuchungen über das mittel¬
bare und unmittelbare Zahlengedächtnis.
Um eine einfache, allgemein orientierende klinisch-psychologische
Methode zur Prüfung der Gedächtnisleistungen bei Gesunden und Kranken
zu gewinnen, bediente sich Vortr. einfacher yorgesprocbener Zahlen als Reiz.
• , ' 52 *
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Die untersuchte Person hat die Aufgabe, diese Zahlen zunächst sofort, dann
nach einer Minute ohne Ablenkung, dann nach einer Minute mit Ablenkung
nachzusprechen. Es wird nun die Anzahl der Ziffern der richtig nach-
gesprochenen Zahl registriert, so daß man eine dreistellige Zahl als Dar¬
stellung der Leistungen erhält. Als richtig nachgesprochen gilt eine Zahl,
die bei fünf Reizgebungen dreimal richtig reproduziert ist. Die Methode
prüft eine umschriebene Gedächtnisleistung; nur insofern Störungen
dieser Leistung charakteristisch für eine bestimmte Geisteskrankheit
sind, kommt ihr difTerentialdiagnostischer Wert zu; auch ihr Ergebnis
darf nur mit den Ergebnissen der anderen Untersuchungsmethoden zu¬
sammen verwertet werden; dann stellt sie wohl bei relativ sehr großer
Exaktheit und einer großen Handlichkeit der Anwendung und der Registrier¬
möglichkeit die einfachste unserer klinisch-psychologischen Methoden
dar. Bei der Anwendung von Fehleruntersuchungen gestattet sie auch
eine sehr weitgehende Analyse dieser Erscheinungen. Das war ein wichtiger
Grund für die Wahl der Zahl an Stelle der Ziffern als Reiz, da die Zahl
eine weit bessere Charakterisierung und Lokalisierung der Fehler gestattet.
Die Fehler ließen sich vorteilhaft einteilen in: 1. Auslassungsfehler;
2. Hinzufügungsfehler; 3. Stellungsfehler a) vollkommene, b) unvoll¬
kommene; 4. freie Fehler; 5. Iterationsfehler a) Interiteration, b) In¬
traiteration. — Einfache Iteration, stereotype Iteration. Vieregge (Allgem.
Zeitschrift f. Psych. 1908) hat gemeinsam mit dem Vortr. und nach dieser
von ihm gegebenen Anordnung die hauptsächlichsten Psychosengruppen
untersucht und die Resultate veröffentlicht. Die Ergebnisse dieser Unter¬
suchungen werden an der Vieregge sehen Tabelle demonstriert.
Goldstein : Uber die zentrale Aphasie.
Gegenüber der „dezentralisierten“ Organisation des Sprachapparates,
den die klassische Aphasielehre ihren Erklärungsversuchen der aphasischen
Störungen zugrunde legt, vertritt G. die Annahme eines zentralen Asso¬
ziationsfeldes, das der eigentliche Träger der Sprache ist. Um dieses
zentrale Sprachfeld gruppieren sich eine Reihe von Nebenapparaten, die
dem Sprachfelde die sensorischen Anregungen zuführen oder die Aus¬
führung der vom Sprachfelde gegebenen Direktiven übernehmen. Außer¬
dem steht das Sprachfeld in Beziehung zum übrigen Gehirn, in dem die
„räumlich-sachlichen“ psychischen Erlebnisse Zustandekommen. Die
Beeinträchtigung der Nebenapparate resp. ihrer Beziehungen zu anderen
Hirnteilen schafft die sogenannten reinen Krankheitbilder der Aphasie¬
lehre (reine Worttaubheit, reine Alexie, Agraphie, reine Wortstummheit).
Die Affekt ion des zentralen Sprachfeldes führt zur zentralen Aphasie.
G. erörtert zunächst die Zusammensetzung des zentralen Sprachfeldes,
wie es sich auf Grund psychologischer Überlegungen ergibt, und legt dann
dar, wie durch diese Annahme zunächst eine Reihe aphasischer Symptome,
die der klassischen Lehre immer große Schwierigkeiten bei der Erklärung
geboten haben, undvdje auch bisher zum Teil kaum einwandfrei erklärt
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worden sind, eine recht einfache Erklärung finden: die Paraphasie, die
verschiedenen Störungen des Nachsprechens, die sensorischen Sprach¬
störungen bei der motorischen Aphasie, die verschiedenartigen Schreib¬
und Lesestörungen, schließlich die amnestischeAphasie. Alle diese Störungen
erklären sich durch eine Beeinträchtigung der Funktion des zentralen
Sprachfeldes. Sie kommen in ihrer Gesamtheit als einheitliches Krank¬
heitbild vor, das G. als zentrale Aphasie bezeichnet, und das folgende
Symptomatologie aufweist:
Fast völlige Aufhebung des Sprechens oder Paraphasie bei leid¬
lichem Erhaltensein des Reihensprechens, schwere Störung des Nach-
sprechens, eventuell völliges Fehlen desselben, geringe Beeinträchtigung
des Sprachverständnisses, Paralexie, Störungen des Leseverständnisses,
Paragraphie, Beeinträchtigung des Buchst abierens und Buchstaben-
zusammensetzens, eventuell amnestische Aphasie.
Das Symptomenbild entspricht etwa dem der sogenannten Leitungs-
aphasie. Die einzelnen Symptome stellen sich als Ergebnis der Funktions¬
störungen eines einheitlichen Sprachapparates dar, sie entsprechen bis
zu einem gewissen Grade verschieden hohen Graden der Beeinträchtigung
eines Assoziationsapparates. Dies wird an einzelnen Fällen demonstriert.
Die einzelnen Symptome treten bei einer progredienten Affektion in
ziemlich regelmäßiger Reihenfolge auf und klingen bei der Restitution
in umgekehrter Reihenfolge ab. Anatomisch ist für das zentrale Sprach-
feld die Inselrinde in Anspruch zu nehmen. Es gibt jedenfalls keine Be¬
weise gegen diese Annahme. Die vorhandenen Sektionsbefunde sprechen
mit großer Wahrscheinlichkeit dafür. Den Hauptwert seiner Anschauungen,
die nur eine Anwendung seiner allgemeinen Anschauungen über den
Aufbau des Gehirnes sind, sieht G. darin, daß sie veranlassen, von dem
üblichen schematischen Untersuchungsmodus abzugehen, und zwingen,
jeden Fall als psychologisches Problem zu betrachten und zu analysieren.
(Ausführliche Mitteilung im NeuroL Zentralbl. 15. Juni 1912.)
IFanÄe-Friedrichsroda: Psychiatrie und Pädagogik
in Beziehung zur geschlechtlichen Enthaltsam¬
keit.
Vortr. weist zunächst hin auf die vorjährigen Verhandlungen der
„Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten“
in Dresden, wo man unter Hinzuziehung von Nervenärzten die Frage
erörterte, inwieweit mangelnde oder ungenügende Befriedigung der Ge¬
schlechtsfunktion imstande sei, krankhafte Zustände auszulösen oder
zu steigern.
Die Referate und Vorträge, fast noch mehr aber die Diskussion,
mußten jeden Arzt von der Wichtigkeit der Frage überzeugen.
Die Fragestellung wie auch die Erfahrungen und Voraussetzungen
der Ärzte, welche zur Diskussion redeten, waren bei nahezu allen Rednern
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Verschieden x ). Wenn nun auch in dem ebenso ausführlichen wie über¬
zeugenden Häuptreferät (Eulenburg- Berlin) die psychologische Seite
der Frage genügend gewürdigt wurde, so fand doch das psychologische
Moment nicht bei allen Rednern die ihm gebührende Berücksichtigung.
Und das war die eigentliche Ursache dafür, daß die Ausführungen und Vor¬
schläge der einzelnen Redner teilweise voneinander abwichen. — Vortr.
tritt nun dafür ein, daß auch die psychologische Seite voll gewürdigt
werde, und daß man sich dazu verstehen müsse, auch den mit Hilfe der
psychologischen Methode gewonnenen Untersuchungsergebnissen volle
Gültigkeit zuzuerkennen, weil es sich bei den in Rede stehenden Er¬
krankungen oft um solche Fälle handle, bei denen der Arzt aus den sub¬
jektiven Beschwerden der Kranken seine Schlußfolgerungen ziehen und
die Diagnose stellen müsse. Es ist also eine möglichst subtile psychologische
Durchforschung des Menschen notwendig. Dazu hat aber einzig und allein
der psychologisch geschulte Psychiater die nötige Vorbildung, Übung
und Geschicklichkeit. — Die Untersuchung und Behandlung der einzelnen
Fälle muß uns aber auch hinleiten zu einer auf umfassendem Wissen
gegründeten Sexualpädagogik, deren Leitsätze nur von solchen Ärzten
aufgestellt werden können, welche, außer über allgemeines ärztliches
Wissen, auch noch über spezielle klinisch-psychologische und psychiatrische
Erfahrung verfügen, welche aber auch mit der Pädagogik und Anthro¬
pologie hinreichend vertraut sind, soweit die letztere als pragmatische
Wissenschaft unsere Menschenkenntnis zu erweitern imstande ist.
Aus alledem ergibt sich ohne weiteres, daß die Frage, wieweit
mangelnde oder ungenügende Befriedigung der Geschlechtsfunktion
imstande sei, krankhafte Zustände auszulösen oder zu steigern, vor das
Forum der Psychiatrie gehört. Die Streitfrage der sogenannten Abstinenz-
erkrankungen muß also für uns lauten: Wie haben wir den einzelnen Fall
zu bewerten hinsichtlich der Prophylaxe und der Therapie, und welche
allgemeinen Leitsätze haben wir aus den induktiv gewonnenen Ergeb¬
nissen mit Hilfe eines möglichst komplexen Wissens zu ziehen in Hinsicht
auf eine rationelle Sexualpädagogik (welche auch die hypermoderne
„sexuelle Aufklärung“ mit zu umfassen hätte)?
GJüA-Hamburg demonstriert 14 Abgüsse von mikrozephalen
Schädeln, die auf der Hygieneausstellung in Dresden 1911 im Original
ausgestellt gewesen sind, ferner Gipsbüsten und Modelle von Mikrozephalen,
dazu das Modell der Zwergin Fatma; er gibt eine kurze Übersicht über
den derzeitigen Stand der Frage der Mikrozephalie.
Von den 14 Trägern der Mikrozephalie, deren Schädelabgüsse gezeigt
werden, sind 6 Fälle im Alter von 5 bis zu 23 Jahren, unter diesen ein
männliches und drei weibliche Individuen; bei 2 Fällen wurden die Angaben
l ) Die Verhandlungen sind in einem 260 Seiten umfassenden Sonder¬
druck bei J. A. Barth in Leipzig erschienen.
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Ostdeutscher Verein für Psychiatrie.
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des Geschlechts vermißt. Fälle über 25 Jahre sind von den 14 Fällen
3 Fälle im Alter von 31 bis zu 46 Jahren, bei 5 Fällen fehlte die Angabe
des Alters. Unter den letztgenannten 8 Fällen sind 2 männlichen, 4 weib¬
lichen Geschlechtes, bei 2 Fällen fehlt jede Angabe über Alter, Name und
Geschlecht.
Als geringster Schädelumfang wurde ein solcher von 30 cm bei
der 23 jährigen Nana festgestellt; der Schädelinhalt dieser war gleich¬
falls der geringste unter sämtlichen Mikrozephalen; er betrug 240 ccm.
Der Vortr. konstatiert, daß in keinem der 14 Schädel eine voll¬
ständige Verknöcherung aller Nähte vorhanden war, wohl eine teilweise.
Er geht dann auf Schädelmessungen und Schädeluntersuchungen ein,
sodann auf die Körperlänge und das Körpergewicht, er betont die Wichtig¬
keit dieser neben der Nachprüfung des Alters und Geschlechtes der Träger
der Mikrozephalie.
Im Anschluß an die Demonstration der Zwergin Fatma bespricht
Vortr. die Nanozephalie und Nanosomie und reiht die Nana der Mikro¬
zephalie ein, die Fatma rechnet er dieser nicht zu auf Grund der Maße
des Körpers und des Schädels bzw. Kopfes bei Berücksichtigung ihres
Alters und Geschlechtes.
F. Kehrer. F. Stern.
97. Sitzung des Ostdeutschen Vereins für Psychiatrie
in der Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt zu Bunzlau
am 24. Juli 1911.
Anwesend die Herren Adeü-Lublinitz, Bonhoeffer- Breslau, Cantor -
Bunzlau, Casten-, Chotzen- Breslau, Dresen -, Grau-Lüben, Heilemann-
Bunzlau, Hirt- Breslau, HoiA-Lublinitz, Klieneberger- Breslau, von Kunowski -
Leubus, Laegel- Kreuzburg, Löwenstein -Obernigk, Mann- Breslau, Neisser-
Bunzlau, Petersen- Brieg, Plathner-Liegnitz, Schöngarth- Sorau, Schröder-
Breslau, »ScAufte«-Kreuzburg, Seelen-, Seeling- Breslau, Sprengel- Greiflen-
berg, Stein -Plagwitz, Stöcker- Breslau, Ullmann - Bunzlau, Weddy -Poenicke-
Breslau, IFifcfce'-Plagwitz, Ziert mann- Bunzlau.
Direktor Neisser begrüßt den Verein in Bunzlau, wo seit dem Jahre
1888 keine Vereinssitzung mehr stattgefunden hat, und erläutert die
leitenden Gesichtspunkte, die bei dem inzwischen vollzogenen völligen Um¬
bau der alten Anstalt und bei der Anlage der Erweiterungsbauten ma߬
gebend waren. Nach einem einfachen Gabelfrühstück, zu welchem die
Provinzialverwaltung die Mittel bewilligt hatte, wurde um 1 y 2 Uhr eine
kurze geschäftliche Sitzung abgehalten, in welcher auf Antrag des Vor¬
sitzenden die Annahme der neugeformten Statuten beschlossen wird.
Herr Neisser stellt einige Fälle von Psychosen bei orga¬
nischen Prozessen des Zentralnervensystems kurso-
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Verhandlungen psychiatrisch«: Vereine.
risch vor, und zwar zunächst zwei differentialdiagnostisch interessante, früher
als Paralyse diagnostizierte Fälle von organisch bedingten Psychosen
welche seit 9 bzw. 11 Jahren in der Anstaltbeobachtung stehen, sodann
zwei Fälle von multipler Sklerose mit psychischen Störungen (von
denen der eine Fall 15 Jahre lang das Bild der spastischen Spinalparalyse
geboten hatte). Ferner zwei Fälle \on Huntingtonscher Chorea und einen
Fall von Athetose, sämtlich mit psychischen Störungen. (über die
Fälle wird zum Teil an anderem Orte berichtet werden)
An die wissenschaftliche Sitzung schloß sich ein Rundgang durch
die Anstalt und gemeinsames Mittagessen.
98. Sitzung des Ostdeutschen Vereins für Psychiatrie
im Hörsaal der Kgl. Psychiatrischen und Nervenklinik
zn Breslau am 9. Dezember 1911.
Anwesend die Herren 2tertA«/-Rybnik, Bielschowski -, Bonhoeffer-,
C asten- Breslau, Dinter-Bneg, Elias- Rybnik, Förster-, Freund- Breslau.
Freyfterg-Jannowitz, Gotta- Breslau, Hahn-, HamiUon-, Haupt-Breslau.
Hat/n-Beuthen, Hirt-Breslau, JirziTc-Ziegenhals, Kahlbaum- Görlitz, Käthe -
Breslau a. G., JCteser/mg-Lublinitz, Klieneberger- Breslau, JCö6iscÄ-Obernigk,
Kramer- Breslau, v. Kunowski-, JTunze-Leubus, Kutner- Breslau, Löwen-
stein -Obernigk, Läge!-Kreuzburg, Langer- Brieg, AfenscA-Freiburg, Mertz-
Neisse, iVeisser-Bunzlau, iVico/auer-Breslau, Plathner- Liegnitz, Popp-
Bunzlau, Preissner-Lüben, Reich- Breslau, von Rottkay -Leubus, Sachs -
Breslau, »SandAerg-Landeck, Schlesinger-, Schröder- Breslau, von Schuck¬
mann-Plagwitz, Seelen- Breslau, Seemann -Lublinitz, Selling-Breslau, Spren-
gc/-Greiffenberg, Wende-Kreuzburg, WicAt-Lüben, Zu&er-Leubus.
I. Geschäftliches: Aufnahme neuer Mitglieder. Für die Sommer¬
sitzung liegen Einladungen von Lublinitz und Freiburg vor. Die Wahl
des Ortes wird dem Vorstand anheimgestellt.
II. Vorträge.
Herr Plathner- Liegnitz: „Typhus und Ruhr in der
Liegnitzer Idiotenanstalt.“
Das Wilhelm- und Augusta-Stift in Liegnitz besteht in seiner jetzigen
Eigenschaft als Idioten-Bildungs- und Pflegeanstalt seit 1889. In den
ersten 20 Jahren ist kein klinischer Fall von Typhus oder Ruhr vor¬
gekommen. Am 3. Januar 1910 kehrte ein Pflegling des ersten Frauen¬
hauses mit hohem Fieber vom Weihnachtsurlaub zurück. Die Erkrankung
stellte sich sehr bald klinisch und bakteriologisch als Typhus heraus nnd
wurde später auch durch die Sektion bestätigt. Es wurde eine Ansteckung
auf Urlaub angenommen, obwohl die Inkubationszeit eine auffallend kurze
gewesen sein mußte, und obwohl die angestellten kreisärztlichen Recherchen
keinen Anhaltspunkt für eine nachweisbare Ansteckungmöglichkeit er¬
gaben. Am. 15 April kam dann eine weitere Erkrankung im zweiten
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Männerhaüs vor, ebenfalls klinisch, bakteriologisch und pathologisch-ana¬
tomisch als Typhus sichergestellt. Eine Ansteckungsquelle war nicht zu
ermitteln. Sicher unabhängig von diesem Falle erkrankte dann im ersten
Frauenhause am 2. Mai ein zweiter und am 3. November noch ein dritter
Pflegling. Beide Fälle gingen in Genesung über, irgendwelche Einschlep¬
pungsmöglichkeit war nicht nachzuweisen. Eine bei sämtlichen seit dem
1. Januar 1907 in das erste Frauenhaus aufgenommenen Personen, 1 Pflege¬
rin und 14 Pfleglingen, vorgenommene bakteriologische Untersuchung auf
Blut, Stuhl und Urin verlief gleichfalls resultatlos. Anfang Juli 1911
erkrankte in dem gleichen zweiten Männerhause, in dem schon April 1910
ein Fall vorgekommen war und zum Tode geführt hatte, abermals ein
Pflegling und starb. Zeitlich und räumlich davon unabhängig traten dann
in den letzten Tagen des Juli im ersten und zweiten Frauenhause ziemlich
gleichzeitig mehrere sich rasch häufende Fälle auf. Daß Wasser, Milch
oder ein sonstiges Nahrungsmittel nicht Ansteckungsquelle war, konnte
bald festgestellt werden. Die Epidemie blieb auf die Anstalt beschränkt.
Im Laufe des August nahmen die Neuerkrankungen allmählich ab, da
erkrankte in den letzten Tagen dieses Monats — ohne nachweisbaren
Zusammenhang mit der Epidemie auf der Frauenseite — plötzlich ein
Pflegling im ersten Männerhause, ihm folgten am 1. September drei und
im Laufe dieses Monats noch sechs weitere Erkrankungen in diesem Hause.
Ende September kamen mit fast 5 Wochen Abstand noch zwei Nach¬
läufer auf der Frauenseite, und am 1. Oktober erkrankte noch eine Pflegerin
in der Typhusbaracke. Im ganzen sind 2 Pflegerinnen und 31 Pfleglinge
erkrankt, 7 Pfleglinge gestorben.
Um den oder wohl wahrscheinlicher die in Betracht kommenden
Bazillenträger herauszubekommen, schickte ich auf den Rat des Vor¬
stehers des Breslauer Medizinal-Untersuchungsamtes Kreisarzt Dr. Käthe
zunächst nur Blutproben ein, bei denen gleichzeitig die Widalsche Reaktion
mit auf Ruhr vorgenommen wurde. Diese bisher bei 132 nicht Erkrankten
ausgeführte Untersuchung eigab: negativ für Typhus und Ruhr 46,
positiv für Typhus 17,
positiv für Typhus und Ruhr 17,
positiv für Ruhr 52,
also 34 = 337s % positiv für Typhus,
69 = 52,3 % positiv für Ruhr.
Von den Typhuspositiven war in der Anamnese sowie auf Grund der
Krankenakten 3 mal (1896 1, 1910 2) Typhus sicher, 7 ma wahrscheinlich
zurückreichend bis 1899.
Unter den 69 Ruhrpositiven war kein Fall sicher, aber 33 wahr¬
scheinlich.
Diese auffallend hohen Zahlen im besonderen für Ruhr gaben natür¬
lich Anlaß, auch dieser Erkrankung erhöhte Aufmerksamkeit zu schenken.
Es dauerte auch gar nicht lange, da kamen mindestens zwei sichere Ruhr-
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772
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fälle. Irgendeine neuerdings erfolgte Einschleppungsmöglichkeit ließ ach
mit Sicherheit ausschließen. Am 5. November erkrankte ein kräftiges
jüngeres Mädchen unter hohem Fieber mit zahlreichen schleimig-blutigen,
später rein blutigen Stühlen. Tod erfolgte nach 7 Tagen, die Sektion
wurde leider verweigert, aber der noch im September als negativ be¬
fundene Widal war jetzt positiv für Y-Ruhr. Am 19. November erkrankte
der zweite Fall, so leicht, daß' wir früher nie an Ruhr gedacht hätten.
Geringes Fieber, Durchfälle mit Schleim und Spuren von Blut bei einer
von Haus aus herzschwachen Epileptika. Auch hier war der im September
noch negativ befundene Widal positiv für Y-Ruhr. Die Sektion ergab
teils gereinigte, teils schmierig belegte diphtherische Geschwüre im Dick¬
darm, vor allem im Mastdarm.
Wenn ich nun den Versuch wage, unter Zugrundelegung der Ehrlich-
sehen Seitenkettentheorie aus diesen Zahlen einige Schlüsse zu ziehen,
so scheint mir zunächst die Tatsache hervorzugehn, daß die PFüia/sehe
Reaktion sich nach überstandenem Typhus sehr lange erhalten kann.
Aber selbst wenn sie sich nie verlieren sollte, so dürfte das m. E. mit dem
Wesen der Gruber-Widals chen Hypothese bzw. mit der Seitenketten¬
theorie durchaus im Einklang zu bringen sein. Erhält sich aber die Widal-
sche Reaktion länger, als man bisher wohl allgemein annahm, dann ver¬
liert sie sofort sehr viel an praktischer Bedeutung für die klinische Diagnose
Typhus. Dann genügt es bei zweifelhaftem Fieber nicht mehr, einen
positiven Widal nachzuweisen, es sei denn, er wäre vor der Erkrankung
als negativ befunden worden.
Was nun die Entstehung unserer Epidemie betrifft, so nehme ich
selbstverständlich nicht an, daß alle diese 34 Typhuspositiven daran be¬
teiligt sind. Und da wir bisher etwa erst ein Drittel der Insassen unter¬
sucht haben, werden wir voraussichtlich noch eine ganze Anzahl weiterer
finden. Daß aber mindestens mehrere Ausscheider in der Anstalt stecken
müssen, das beweisen m. E. die Vorläufer, die einzelnen Phasen der Epi¬
demie selbst und die Nachzügler. Nun ist aber das Finden dieser Bazillen¬
ausscheider unendlich schwerer als man noch 1905 bei Abfassung des
preußischen Gesetzes betr. die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten
vermutete. Man fand neben den Dauerausscheidern noch die Perioden¬
ausscheider. Man ist schließlich bei keinem, der einmal Typhus oder
gar Ruhr gehabt hat, also auch bei keinem für diese Krankheiten Widal-
positiven, absolut sicher, daß er nicht doch mal wieder Bazillen aus¬
scheidet, auch wenn noch so viele Untersuchungen negativ ausfielen. Auf
der anderen Seite ist aber auch schon beobachtet worden, daß selbst
Dauerausscheider jahrelang keine Ansteckung verursachen. Diese zweifel¬
los vorhandenen unaufgeklärten epidemiologischen Fragen deutet m. E.
in sehr überzeugender Weise die Seitenkettentheorie. Selbstverständlich
gibt es keine Typhuserkrankung ohne Bazillen. Es kommt zunächst auf
die Zahl an, ob mehr Bazillen angreifen als Schutzstoffe (Rezeptoren) im
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Blute vorhanden sind. Die Zahl der Bazillen wird verstärkt durch ihre
' Zahl der Bazillen
Zahl der Receptoren
A
Virulenz
agglutinophore
Kraft.
toxophore Kraft, die Virulenz, die Zahl der Rezeptoren durch ihre
agglutinophore Kraft, die ihrerseits der toxophoren Kraft der Bazillen
gegenübersteht. Wenn nun in diesem Parallelogramm der Kräfte eine
Gleichgewichtsstörung eintritt, indem A zunimmt, D abnimmt oder gar
beides zugleich, erst dann erfolgt die Infektion. Diese Gleichgewichts¬
störung kann nun begünstigt werden durch äußere Einwirkungen, z. B.
ungewöhnlich hohe Temperaturen. Das ist längst bekannt, und es ist
sicher kein Zufall, daß in diesem tropischen Sommer so viele und so schwere
Typhusepidemien vorgekommen sind. Daß dadurch die allgemeine Wider¬
standkraft des Körpers, die Disposition (D) geschwächt werden kann,
das begreift jeder Laie. Die Bakteriologen haben aber auch experimentell
nachgewiesen, daß bei höheren Temperaturen die agglutinophore Kraft
der Rezeptoren ab nimmt. Wenn wir uns aber daran erinnern, daß der
Mensch die wichtigste, wenn nicht gar in letzter Linie ausschließliche,
Ansteckungsquelle für Typhus bildet, daß außerhalb des menschlichen,
Körpers die Bazillen für gewöhnlich nur kurze Zeit lebensfähig bleiben,
in der Gallenblase dagegen jahrelang, so können wir im zoologischen Sinne
von einer Symbiose sprechen, der Typhusbazillus ist der Parasit, der
Mensch der Wirt. Vielleicht wird dann durch die erhöhte Temperatur
das Wachstum dieser Kolonien und die Ausscheidung neugebildeter viru¬
lenter Bazillen begünstigt. Jedenfalls müssen wir heute nach Auffindung
der periodischen Ausscheider mit sehr viel mehr eventuellen Bazillen¬
trägern rechnen, als man früher annahm. Auf einem Vortrage in der
Dresdener Hygieneausstellung hat Lenz im verflossenen September darauf
hingewiesen, es käme alles darauf an, die Bazillenträger von ihrer Gefähr¬
lichkeit zu überzeugen und sie zur größten Sauberkeit zu erziehen. Da
nun Irren- und Idiotenanstalten die natürlichen Sammelstellen für Un¬
saubere und Unbelehrbare sind, so werden wir in Zukunft damit rechnen
müssen, den Typhus- und Ruhrbazillen jederzeit und häufiger als anders¬
wo in unseren Anstalten auch ohne nachweisbare Einschleppung zu be¬
gegnen. Der Kampf gegen die Bazillen des Typhus und der Ruhr, die
wir nach dem gegenwärtigen Stand der Frage wohl ebensowenig werden
ausrotten können, wie die der Lungentuberkulose, die aber in Schranken
zu halten schon von allergrößter Bedeutung für die Allgemeinheit ist,
wird m. E. in Zukunft mit zu den wichtigsten Aufgaben der Anstalts¬
psychiater gehören.
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Diskussion. — Herr Käthe : Die Mitteilungen des Herrn Pkuhner
über die anamnestischen Verhältnisse der Fälle, die wir im KgL Medizinal-
Untersuchungsamte bakteriologisch untersucht haben, sind sehr inter¬
essant. Sie bestätigen speziell bezüglich der Dysenterie Anschauungen über
die Epidemiologie in Irrenanstalten, die ich schon seit längerer Zeit
hege und an anderer Stelle zum Ausdruck gebracht habe.
So skeptisch wie Herr Plathner hinsichtlich der Erfolge einer plan¬
mäßigen Bekämpfung des Typhus in Irrenanstalten bin ich nicht. Im
Gegenteil, wir haben in einer hessischen Anstalt, die früher schwer von
Typhus heimgesucht war, durch systematische Arbeit eine vollständige
Assanierung eintreten sehen. Die Maßnahmen bestanden vor allem in
strengster Isolierung auf Grund bakteriologisch-serologischer Unter¬
suchungen aller neu aufgenommenen Kranken und aller Patienten der
Abteilungen, auf denen sich Typhusfälle ereigneten. Wichtig ist, daß
nicht nur zweifellose Bazillenträger, sondern auch auf Grund des sero¬
logischen Befundes als verdächtig zu bezeichnende Personen abgesondert
werden. Für sehr wünschenswert halte ich die aktive Immunisierung
des auf der Isolierabteilung arbeitenden Pflegepersonals und eine mög¬
lichst häufige Untersuchung ihrer Ausscheidungen.
Der Ruhr in Irrenanstalten läßt sich allerdings mit Hilfe dieser
Maßnahmen allein nicht beikommen. Auf Grund eigener, bisher allerdings
noch nicht umfangreicher Beobachtungen möchte ich die rektoskopische
Untersuchung zur Feststellung chronischer Ruhrkranker empfehlen.
Herr von Kunowski- Leubus: „Willensfreiheit und
Verantwortlichkei t.“
(Erscheint demnächst ausführlich.)
Diskussion. — Herr Neisser.
Herr P. Schröder: „Über Pseudoparalyse.“
„Pseudoparalyse“ bedeutet keine klinische Diagnose, sondern wird
als Sammelname für Zustandbilder sehr verschiedener Genese und Ätio¬
logie gebraucht, die vorübergehend oder für längere Zeit gewisse ominöse
Symptome der allgemeinen Paralyse der Irren aufweisen. Die Bedeutung
der Bezeichnung Pseudoparalyse ergibt sich aus der Bedeutung der echten
Paralyse für die Psychiatrie; der Name stammt aus einer Zeit, in welcher
der Krankheitbegriff Paralyse rein symptomatisch gefaßt wurde, in
welcher die Paralyse nur als eine der Ausgangsmöglichkeiten sehr ver¬
schiedener psychischer Erkrankungen galt. Für uns ist jetzt die Paralyse
der Irren eine genau umschriebene Krankheit sui generis; ihre Erkennung
wird erleichtert durch eine Reihe von neuen diagnostischen Hilfsmitteln,
und für ihre allgemeine Umschreibung ist die Histopathologie maßgebend
geworden; die Paralyse ist in letzter Linie ein anatomischer Krankheit -
begriff, und in klinisch strittigen Fällen kann schließlich immer nur die
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Ostdeutscher Verein für Psychiatrie.
775
anatomische Untersuchung den Ausschlag geben. Solche strittigen Fälle,
in denen es sich um die Unterscheidung Paralyse oder Pseudoparalyse
handelt, sind seltener geworden, seit wir die Wassermannsche Reaktion
besitzen, und seit wir eine Reihe von Abweichungen kennen, die der Liquor
cerebrospinalis in allen Fällen von Paralyse aufweist.
Ernsthafte Schwierigkeiten, auch bei Verwendung des ganzen uns
zur Verfügung stehenden diagnostischen Rüstzeuges, machen vor allem
noch Kombinationen von nichtparalytischen Psychosen bzw.
Defekten mit organischen Hirn-Rückenmarksleiden, welche ganz oder zum
Teil dieselben Befunde wie die Paralyse geben (neben den neurologischen
auch positive Wassermannsche Reaktion, Vermehrung der Lymphozyten,
des Eiweißgehaltes usw. in der Spinalflüssigkeit), d. h. also Kombinationen
ganz vorwiegend mit Tabes, mit Lues spinalis und mit Lues cerebro¬
spinalis in ihren verschiedenen Formen. In allen diesen Fällen können
unsere neurologischen, zytologischen, biologischen usw. Hilfsmittel für
die Paralysediagnose ganz oder fast ganz wertlos sein. Von den nicht¬
paralytischen Psychosen und Defekten kommen als „Pseudoparalysen“
erfahrunggemäß am häufigsten in Betracht: das manisch-depressive
Irresein, die Tabespsychosen, arteriosklerotische Defekte, und sodann
toxische Psychosen, vor allem solche mit dem Korsakowschen Symptomen-
komplex.
Gelegentlich kann es auch Vorkommen, daß sich zu einer anfäng¬
lichen „Pseudoparalyse“ im weiteren Verlauf eine echte Paralyse hinzu-
gesellt.
Vortragender demonstriert im Anschluß daran einen Kranken, der
erhebliche diagnostische Schwierigkeiten macht, bei dem sich jedenfalls
zurzeit ein sicheres Urteil über das Vorliegen oder Nichtvorliegen
einer Paralyse nicht fällen läßt:
H. E., Restaurateur, 52 J. Schwerer Potus mindestens seit 1888,
Lues vor 20—25 Jahren. Seit 1905 wegen alkoholdeliranter Zustände
7 mal in Krankenhausbehandlung. Gleich das erste Delir verlief protra¬
hiert; erhebliche polyneuritische Störungen, bei Entlassung noch schlechte
Merkfähigkeit; 1908 ein „schweres“ Delir; vorher und nachher nur kurze
delirante Zustände. Seit Juni 1910 dauernd in der Klinik.
Die Pupillen reagierten 1905 noch prompt auf L. und K., waren
aber etwas different; seit 1907 ist die linke Pupille reflektorisch starr,
seit 1910 dazu auch die rechte fast starr auf Licht; beide reagieren noch
jetzt auf Konvergenz. Die Achillessehnenreflexe fehlen seit 1905 dauernd;
die Patellarsehnenreflexe waren anfangs schwach, fehlten später (1907 bis
1909), seit 1910 wird notiert: Patellarsehnenreflexe schwach vorhanden,
1 ;> r. 1909 wurde anderwärts die Diagnose Tabes gestellt; im Blut
Wassermannsche Reaktion positiv, Lymphozytose des Liquor spinalis.
Seit 1909 FazialisdilTerenz (r <C 1), seit 1910 dauernd 1. Babinski und zu¬
nehmend verwaschene Sprache; Ohnmächten und Schwindelanfälle sollen
etwa seit 1902 gelegentlich aufgetreten sein, mehrmals mit Zungenbiß.
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776 Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Seit der letzten Aufnahme in die Klinik (Juni 1910) rasche Pro¬
gredienz des Krankheitbildes: sehr bald ständiges remittierendes Deli¬
rieren (bei Tage frei, abends und nachts unruhig), dann in den freieren
Zeiten ausgesprochenes Korsakowsches Bild; Anfang 1911 phantastische
Konfabulationen (Bleirohr verschluckt, Penis abgeschnitten, silberne
Hoden eingesetzt). Zunehmend dement-euphorisch, elementare Kennt¬
nisse kaum noch reproduzierbar, gelegentlich blöde Größenideen (König);
progredient unbeholfen; in den letzten Monaten langsame Gewichts¬
abnahme. August 1910 kurzer „Anfall' mit Zuckungen; August 1911
Anfall mit nachfolgender sensorischer Aphasie, die sich langsam zurück¬
bildete. September 1911 drei epileptiforme Anfälle mit nachfolgender
sensorischer Aphasie. November 1911: Status epilepticus von einigen
Stunden Dauer. Sprache seit den Anfällen 4 stark verschlechtert, ver¬
waschen bis zur Unverständlichkeit, paraphasische Elemente.
September 1910: serologisch Blut +, Liquor —, Lymphozyten nicht
sicher vermehrt, Eiweiß ganz leicht vermehrt.
Januar 1911: serologisch Blut und Liquor -f-, erhebliche Lympho¬
zytose, Eiweiß leicht vermehrt.
Einerseits handelt es sich demnach, wie die Krankheitentwicklung
lehrt, um chronischen Alkoholismus mit anfänglich abgesetzten (aber von
vorherein etwas protrahiert verlaufenden und mit groben polyneuritisehen
Symptomen komplizierten) Alkoholdelirien, die späterhin in ein chroni¬
sches Delir (JTorsaAowsche Psychose) übergingen.
Andererseits allmähliche Entwicklung von reflektorischer Pupillen-
starre und Lymphozytose des Liquor spinalis bei positiver Wassermann¬
scher Reaktion im Blut.
Drittens seit 1910 psychisch ein über die Symptome der Korsakow-
sehen Psychose hinausgehendes Bild, nebst Entwicklung von Sprach¬
störung, Fazialisdifferenz, Babinskischem Zeichen und Anfällen kortikalen
Charakters, zuletzt auch positive Wassermannsche Reaktion im Liquor
spinalis.
An die Möglichkeit muß jedenfalls gedacht werden, daß hier bei
einem Potator sich zu einer alkoholischen JTorsaftowschen Psychose eine
progressive Paralyse gesellt hat. Größere Wahrscheinlichkeit hat die
Annahme der Kombination von alkoholischer Korsakowscher Psychose
mit rudimentärer Tabes (oder auch spinaler Lues), Arteriosklerose oder
Lues cerebri (Endarteriitis?). Jedoch selbst wenn diese Annahme richtig
ist, wird sich nicht ausschließen lassen, daß dazu jetzt noch seit kurzem
eine Paralyse in der Entwicklung begriffen ist.
Eine endgültige Klärung wird erst der Obduktionsbefund geben
können.
Herr (). Formten Demonstration zur Differential¬
diagnose der Paralyse und Pseudoparalyse.
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Fall 1. 61 Jahre alte Frau, von jeher nervös, seit einiger Zeit
vergeßlich und auffallend lebhaft. Wird am 6. Juli 1911 ins Krankenhaus
gebracht, nachdem sie zwei Tage vorher von Hause fortgelaufen war und
mit total durchnäßten Kleidern aufgefunden wurde. Sie behauptet, von
einem fremden Manne überfallen und dann von ihm ins Wasser gestoßen
worden zu sein. Während ihres Aufenthaltes im Krankenhaus bietet
Patientin das ausgesprochene Bild der Presbyophrenie, Patientin ist ört¬
lich und zeitlich völlig desorientiert, verkennt die Personen ihrer Um¬
gebung. Hochgradige Vergeßlichkeit, starke Konfabulationstendenz, die
so weit geht, daß Patientin von einer ihr vorgelegten Postkarte lange
Geschichten herunter vorliest, auch im übrigen erzählt sie fortwährend
von ihren Unternehmungen und Leistungen, berichtet von Personen, die
sie besuchen kommen. Stimmung meist heiter und lebhaft, betätigt sich
bei Tage viel, indem sie beim Austeilen des Essens hilft, sich viel um die
anderen Kranken zu schaffen macht. Macht häufig witzige Bemerkungen
über ihre Umgebung. Manchmal Stimmung ängstlich deprimiert, kon-
fabuliert dann von Leuten, die sie bedrohen, draußen auf sie warten und
sie abholen wollen, gelegentlich auch von Mördern, die sie im Bett ver¬
prügeln, von Personen, die sie aus ihrem Bett herausjagen wollen. Ihre
Kenntnisse sind stark reduziert, immerhin ist sie über die hauptsächlich¬
sten Ereignisse ihres Lebens, mit Ausnahme der letzten Zeitspanne, gut
orientiert. Nicht das geringste Silbenstolpern, keinerlei sonstige Sprach¬
störungen. Nachts sehr häufig delirant, läuft im Hemd umher; am Tage
dann total amnestisch dafür. Zeichen von Arteriosklerose sind bei der
Kranken nicht festzustellen. In körperlicher Beziehung besteht reflekto¬
rische Pupillenstarre; Patellarreflexe beiderseits erhalten, Achillesreflexe
fehlen beiderseits. Babinski beiderseits negativ. Anamnestisch ist nach¬
zutragen, daß die Kranke elfmal abortiert hat. Wassermann im Blut und
Liquor cerebrospinalis positiv; ferner hochgradige Lymphozythose, Nonne-
Apelt positiv, starke Eiweißvermehrung.
Das Interessante des Falles liegt darin, daß die Kranke, die klinisch
durchaus das Bild der senilen, beziehungweise der arteriosklerotischen
Hirnatrophie bietet, doch auf Grund der körperlichen Symptome und
besonders auf Grund des Verhaltens des Blutes und Lumbalpunktates,
in serologischer, zytologischer und chemischer Beziehung, als Paralyse
anzusprechen ist. Dabei bleibt allerdings noch zunächst die Frage offen,
wie weit eventuell doch eine senile beziehungweise arteriosklerotische
Hirnatrophie vorliegt, bei der gleichzeitig auf Grund einer früheren Lues
luische Symptome vorhanden sind. Um diese Frage zu entscheiden
und gleichzeitig damit für die Therapie eventuelle Gesichtspunkte zu ge¬
winnen, habe ich zu einem Verfahren gegriffen, das ich in letzter Zeit
wiederholt zur Differentialdiagnose verwandte, indem ich mittels der
JVeiwerschen Hirnpunktion Stückchen direkt aus der Hirnrinde aspiriere
und dieselben dann einer mikroskopischen Untersuchung unterziehe. Ich
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778
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
nehme dies stets am rechten Frontallappen vor. Es gelingt bei Paralytikern
sehr gut, aber auch bei anderen hirnatrophischen Prozessen, einigermaßen
Aufschluß über die Natur des zugrundeliegenden Prozesses zu gewinnen.
Vortragender verweist auf das ausliegende Präparat von vorliegendem
Fall Es zeigt reichliche perivaskuläre Infiltrationen der Hirngefäße mit
Lymphozyten und einzelnen Plasmazellen; ferner recht deutlich die
Verschiebung des Schichtungszustandes der Rinde.
Fall 2. G. P., 30 Jahre alt, Friseur. Wurde am 28. Juni ins
Hospital geschickt, unter der Diagnose der progressiven Paralyse. Die
Angehörigen des Kranken gaben an, daß er seit mehr als Jahresfrist sehr
erregbar und vergeßlich geworden sei, und daß er deshalb vor einigen
Monaten sein Geschäft habe aufgeben müssen. Vor 10 Tagen plötzlich
Bewußtlosigkeit, vor 5 Tagen Zustand auffallender Ruhe, er sprach nicht,
aß nicht, rührte sich nicht vom Platze weg und vertiefte sich intensiv
in die Berechnung seiner Ausgaben. Am Tage vor der Einlieferung Krampf¬
anfall. Bei der Einlieferung zunächst ausgesprochenes katatonisches
Zustandbild. Patient völlig akinetisch, Augen halb geschlossen, öffnet
auf Geheiß dieselben nur ganz langsam und wenig, wiederholt häufiges
Knirschen mit den Zähnen. Patient völlig mutazistisch, verweigert die
Nahrung ganz oder ist nur mit Mühe zur Aufnahme geringer Flüssigkeits¬
mengen zu bewegen, die ihm in den Mund eingeflößt werden müssen, und
die er dann nach geraumer Zeit herunterschluckt. Ausgesprochene negati-
vistische Starre der Glieder. Linkerseits Babinski positiv. Pupillen gleich
weit, reagieren. Augenhintergrund normal; Patellar- und Achillesreflexe
vorhanden, gesteigert. In den nächsten Tagen bessert sich der Zustand
etwas. Patient antwortet auf Fragen mit langsamer, sehr leiser und
vibrierender Stimme. Ist etwas besser zur Aufnahme der Nahrung und
zum Schlucken zu bewegen; muß aber noch künstlich gefüttert werden.
Läßt Stuhl und Urin unter sich. Im weiteren Verlauf verliert sich der
akinetische Symptomenkomplex mehr und mehr, und es besteht nunmehr
das deutliche Bild einer ausgesprochenen paralytischen Demenz bei dem
Kranken. Patient ist vollkommen desorientiert, die Angaben über die
Ereignisse seines Lebens sind ungenau; Merkfähigkeit schlecht, rechnen
kann Patient überhaupt nicht. Seine Kenntnisse erscheinen vollständig
verarmt; die Sprache ist deutlich vibrierend, leise, deutliches Silben¬
stolpern. Beim Zeigen der Zähne oder beim Vorstrecken der Zunge grimas-
sierende Mitbewegungen des Gesichtes und am Platysma, Ungleichheiten
des Lippenfazialis, der zumeist linkerseits paretisch ist. Ausgesprochen
paralytische Schreibstörung; Schrift zittrig, Auslassen von Buchstaben.
Verstellen von Buchstaben, Verdoppelung von Silben usw.. Im weiteren
Verlauf ändert sich das psychische Bild insofern etwas, als Patient seine
örtliche Orientierung gewinnt und seine Kenntnisse etwas reichlicher
erscheinen; Sprachstörungen und Schriftstörungen bestehen fort, ebenso
die sehr schlechte Merkfähigkeit. Patient ist seinem Wesen nach stumpf.
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Ostdeutscher Verein für Psychiatrie.
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nimmt an den Vorgängen auf der Station nur selten Anteil. Konfabuliert
stark, produziert dabei äußerst phantastische schwachsinnige Erzählungen,
zeitweilig Größenideen. Dieser Zustand dauert etwa bis Ende August,
zum Schluß dieser Zeit war der Kranke immer stumpfer und unaus¬
giebiger geworden. Er läßt Stuhl und Urin fortgesetzt unter sich, er ist
dauernd bettlägerig, zeigt wieder deutliches kataleptisches Verhalten.
Patient hat also bisher in klinischer Beziehung das ausgesprochene Bild
einer paralytischen Demenz geboten. Demgegenüber war die Wassermann-
sehe Reaktion im Blut und Liquor stets negativ. Der Liquor cerebro¬
spinalis hatte eine deutlich bernsteingelbe Farbe und enthielt massenhaft
Leukozyten, positiven Nonne-Apelt und starke Eiweißvermehrung.
Bei den späteren Punktionen waren die Leukozyten allmählich ver¬
schwunden und hatten einer starken Lymphozytose Platz gemacht. Auf
Grund dieses Befundes konnte die Diagnose Paralyse natürlich nicht ge¬
stellt werden. Es handelte sich nur um ein pseudoparalytisches
Zustandbild. Wegen der Leukozytose hatte ich angenommen,
daß eine Meningitis oder ein Hirnabszeß vorläge, auch an Zystizerken-
oder Echinokokkenmeningitis wurde gedacht. Die Echinokokkenserum¬
reaktion fiel negativ aus. Hirnpunktion ist über dem rechten und linken
Stirnhirn gemacht worden, förderte keinen Eiter zutage. Anfang Sep¬
tember setzte nun bei dem Kranken heftiges Erbrechen ein, doppelseitige
Stauungspapille, Zustände tiefer Benommenheit, die Fazialisparese links
wird stärker, es treten im rechten Fuß klonische Zuckungen auf. Eine
erneute Hirnpunktion über dem rechten Slirnhirn fördert deutliche Tumor¬
massen zutage. Trepanation am 5. September (Professor Tietze). Aus¬
gedehntes Sarkom im rechten Frontallappen. Zwei Tage später Exitus.
Die Autopsie zeigt, daß es sich um ein sehr blutreiches Sarkom handelt,
das auch nach der linken Hemisphäre, dem Balken und dem Septum
pellucidum bis in die Stammganglien der linken Hemisphäre hinüber¬
gewachsen ist. Der Fall lehrt erstens, daß ein pseudoparalyti¬
sches psychisches Zustandbild lange Zeit allein vorhanden
sein kann bei einem Tumor cerebri von der eben angegebenen Lokali¬
sation. Beachtenswert ist ferner das Verhalten des Lumbalpunktates,
speziell die goldgelbe Farbe sowohl wie die ausgesprochene Leukozytose.
Vortragender hat genau dasselbe Verhalten in einem anderen Falle von
Tumor des Frontallappens (Fibrosarkom) beobachtet, bei dem die gelbe
Färbung genau die gleiche war, während die Leukozytose nicht so aus¬
gesprochen war, sondern etwa mit der Lymphozytose sich das Gleich¬
gewicht hielt. In klinischer Beziehung hatte dieser Fall anfänglich das
Bild einer Meningitis geboten, zuletzt war ausgesprochene zerebellare
Ataxie und Schwund der Sehnenreflexe hinzugetreten.
Diskussion. — Herr Spengler fragt, wie man sich in solchen
Fällen therapeutisch verhalten solle.
Herr Förster tritt i. Allg. für energische spezifische Behandlung ein.
Zeitschrift für Psychiatrie. LXIX. 5. 53
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Herr Kramer berichtet an der Hand von Oehirnschnitten über
den anatomischen Befund des im Jahre 1 903 de¬
monstrierten Falles von kortikaler Tastlähmung
(Monatsschrift für Psych. und Neur., Bd. 19, S. 132). Es handelte sich
um ein damals 13 Jahre altes Mädchen, das im Alter von 6 Jahren akut
unter Fieber und Krämpfen in der linken Körperhälfte erkrankte. Es
blieben zurück geringe Motilitätsstörungen an der linken Hand (Er¬
schwerung der Opposition des Daumens und Parese der Interossei) und
Reflexsteigerung auf der linken Seite. Ferner bestand an der linken Hand
eine erhebliche Störung der Stereognose bei einer nur andeutungweise
vorhandenen Herabsetzung der Lageempfindung, des Drucksinns und des
Raumsinns.
Die anatomische Untersuchung ergab einen Herd im oberen Teile
des mittleren Abschnittes der vorderen Zentralwindung; er nimmt die
ganze Windungskuppe ein, greift nach vorn etwas in die angrenzende
Frontalwindung über; zerstört ist die Rinde ferner am Abhange der vor¬
deren Zentralwindung nach der Zentralfurche hin, sowie, besonders in
dem mittleren Teile des Herdes, auch die der hinteren Zentralwindung an-
gehörige Hinterwand des Sulcus centralis. Die Kuppe der hinteren
Zentralwindung ist dagegen frei geblieben. Der Herd greift von der Rinde
aus etwas in das Windungsmark, dagegen nicht in das Marklager über;
sekundäre Degenerationen lassen sich nur aus der vorderen Zentralwindung
in das Marklager hinein verfolgen. Der anatomische Befund bestätigt
die klinisch gestellte Diagnose eines kortikalen Herdes.
Bemerkenswert ist bei den geringen Motilitätsstörungen die erheb¬
liche Zerstörung im Bereiche der vorderen Zentralwindung. Bezüglich der
Lokalisation der Tastlähmung läßt sich auf Grund des Befundes nicht ent¬
scheiden, ob dafür die vordere Zentralwindung oder der der Zentralfurche
zugewandte Abhang der hinteren Zentralwindung in Anspruch zu nehmen
ist. Vortragender neigt mehr der letzten Ansicht zu, zumal in den bisher
mitgeteilten Fällen von Sensibilitätsstörungen bei Herden im Gyrus cen¬
tralis anterior sich eine Mitbeschädigung der hinteren Zentralwindung in
der hier gefundenen Ausdehnung in der Regel nicht ausschließen läßt
Herr Bonhoeffer demonstriert das Gehirn des in der
1 e t z t e n W i n t e r s i t z u n g v o r g e s t e 111 e n Kranken mit
Agnosie. Die Diagnose auf doppelseitige, den Schläfenlappen, das an¬
liegende Zervikal- und Occipitalhirn betreffende Erweichungsherde ist
durch den Obduktionsbefund bestätigt worden. Die eingehende Besprechung
wird erst nach erfolgter Zerlegung des Gehirns in Serienschnitte erfolgen.
Was in klinischer Hinsicht schon jetzt gesagt werden kann, ist, daß die
Annahme Wernickes, daß die Lokalisation der sensorischen Aphasie mit
der Lokalisation der Sprachoktave im Schläfenlappen übereinstimme,
nicht zutreffend ist, da trotz doppelseitiger Herde im Bereich der Wernieke
sehen Stelle die kontinuierliche Tonreihe erhalten geblieben ist. Das
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Psychiatrischer Verein zn Berlin.
781
Nicht wiederkehren des Sprachverständnisses bei doppelseitiger Schläfen -
lappenerkrankung muß deshalb anders erklärt werden.
99. Sitzung des Ostdeutschen Vereins für Psychiatrie
zu Freiburg am 29. Juni 1912.
Direktor Buttenberg widmet den Teilnehmern der Sitzung herzliche
Begrüßungsworte, und nach einem Frühstück, welches die Provinz ial-
Verwaltung den Teilnehmern und ihren Damen in dem Festsaal der Anstalt
bot, eröffnet Herr Neisser die Sitzung mit einem N achruf auf das
kürzlich verstorbene Vereinsmitglied, Herrn Sanitätsrat Dr. Kteudgen,
den Besitzer und langjährigen ärztlichen Leiter der Privat-Irrenanstalt
zuObernigk, der sich nicht nur durch seine praktische Tätigkeit einen
Namen gemacht, sondern auch früher namentlich wissenschaftlich lite¬
rarisch betätigt und noch im letzten Jahresberichte seiner Anstalt sehr
beachtenswerte Ausführungen über die rechtlichen Befugnisse der Anstalt-
leiter, über ärztliche Diskretion, Haftung u. dgl. gemacht hat. Die An¬
wesenden erheben sich zum ehrenden Gedenken von ihren Plätzen.
Sodann überbringt Herr Neisser die Grüße des bisherigen Vorsitzen¬
den des Vereins, des Herrn Bonhoeffer, der sich durch die Berufung auf
den Berliner Lehrstuhl an der Weiterführung des Vorsitzes gehindert
sieht, aber erfreulicherweise Mitglied des Vereins geblieben ist. Sowie
früher Wernicke hat auch Herr Bonhoeffer die Ergebnisse aller wichtigeren
Arbeiten seiner Klinik zuerst im Vereinskreise zur Mitteilung gebracht, und
seiner Förderung ist es ganz wesentlich zu danken, daß die Sitzungen
einen dauernd gesteigerten Besuch aufgewiesen haben. Herr Neisser wird
beauftragt Herrn Bonhoeffer den Dank des Vereins für seine langjährige
Mühewaltung auszusprechen.
Herr Buttenberg hielt sodann einen Vortrag über die Entwicklung der
Freiburger Provinzial-Heil- und Pflege-Anstalt und erläuterte deren Anlage
an der Hand eines Planes. Hieran schloß sich eine eingehende Besichtigung
der Anstalt, und danach erfolgte ein Ausflug zu Wagen nach dem Fürsten¬
steiner Schloß und weiter nach Bad Salzbrunn, wo das gemeinsame Mittag¬
essen eingenommen und ein äußerst gemütliches Beisammensein in den
herrlichen Kuranlagen bis zum späten Abend gefeiert wurde.
Dr. Neisser.
138. Sitzung des Psychiatrischen Vereins zu Berlin am
29. Juni 1912.
Anwesend : AnAer-Lichtenrade, Bonhoeffer- Berlin, Brots-Dalldorf,
BattenAerg-Lichtenberg, Gallus -Potsdam, Frau Dr. Geheeb-Lieberknecht-
Gr.-Lichterfelde, //eine-Dalldorf, Hildebrandt -Dalldorf, Juliusburger- Steg¬
litz; Autzmsfti-Berlin a. G., Hans LaeAr-Schweizerhof, Liepmann- Dalldorf,
t». Mach- Bromberg a. G., Afarcuse-Lichtenberg, Moe/i-Lichtenberg, Riebeth-
Landsberg, Sander- Dalldorf, Schmidt - Lichtenberg, .ScAmüz-Neuruppin,
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7g2 Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
»Seeger-Lübben, Viedenz Eberswalde, Vierecke -Lichtenberg, Zinn-Ebers -
walde.
Der Kassenführer Zinn -Eberswalde legt Rechnung über die Vereins¬
kasse ab und erhält Entlastung. Der Jahresbeitrag wird wieder auf 3 M.
festgesetzt.
An Stelle von Ziehen , der nach Wiesbaden verzogen ist, wird Bon -
hoeffer -Berlin in den Vorstand gewählt; die anderen Vorstandmitglieder
werden durch Zuruf wiedergewählt.
Heine -Dalldorf: Ein Fall von Idiotie mit starker
Adipositas.
Der 1878 geborene Patient ist der eheliche Sohn eines Schutzmanns.
Der Vater soll geistig normal sein und nicht trinken. Der Vater der Mutter
war ein körperlich schwächlicher Mann; die Mutter selber ist normaL
Eine Anlage zu Fettsucht besteht in der Familie nicht.
Die Mutter des Pat. machte zwei regelrechte Entbindungen und eine
Frühgeburt durch. Pat. ist aus dem ersten Partus hervorgegangen. Das
zweitgeborene Kind, ein Knabe, starb 5 Tage alt unter Erscheinungen des
Kinnbackenkrampfes. Die Frucht der Frühgeburt, die vom 7. Monat
war, war tot, soll aber nicht totfaul gewesen sein.
Pat. war nach Angabe der Mutter von jeher ein großes starkes Kind,
entwickelte sich aber körperlich wie geistig zunächst normal. Er lernte
zur rechten Zeit laufen und fing mit ersten Sprechversuchen rechtzeitig
an. Mit l 3 / 4 Jahren erkrankte er schwer an Diphtherie, und im Anschluß
daran soll er drei Tage an Krämpfen gelitten haben. Seitdem hat er die
Sprache und den Verstand verloren.
Im Alter von 5 Jahren soll er dann noch schwer krank an Typhus
gewesen sein.
Die Länge des Pat. betrug bei seiner Aufnahme in Dalldorf im Alter
von 6 Jahren 1,19 m, das Gewicht bereits damals 28 kg. Der Schädel¬
umfang war 52 cm. Die Schilddrüse war nicht fühlbar.
Die körperliche Untersuchung ergab im übrigen keine Besonderheiten.
Psychisch bot er das Bild des Vollidioten. Er konnte kein Wort sprechen;
höchstens brachte er als einzig noch erhaltenen Sprachrest dann und
wann mal seinen Namen Ali vor.
In seinem Verhalten war er sehr unruhig, grimassierte viel. Außer¬
dem verunreinigte er sich mit Kot und Urin.
Im Jahre 1894, also in einem Alter von 16 Jahren des Pat., betrug
sein Körpergewicht bereits 75,5 kg. Er war zu keiner, selbst der ein¬
fachsten Arbeit nicht, zu brauchen, ließ Urin und Fäzes in die Kleider
und spielte an seinen Genitalien offen vor allen herum. Er wurde damals
einer Schilddrüsenkur unterzogen, bei der er bis zu 15 gr Hammelschild¬
drüse, aber ohne irgendwelchen Erfolg, erhielt. Eine später eingeschlagene
Behandlung mit Thyreoidintabletten hatte gleichfalls ein negatives Er¬
gebnis.
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Psychiatrischer Verein zu Berlin.
783
Am 4. August 1897 machte Pat. 6 Uhr morgens eine Art von Jackson -
schem Anfall durch. Er sank, als er auf dem Korridor spazieren ging, auf
einmal langsam hin, nachdem er sich vorher mit dem Rücken gegen die
Wand gelegt hatte, und verlor das Bewußtsein. Es traten dann zuerst
Zuckungen in der rechten Gesichtshälfte bei ihm auf, dann in beiden
Armen, schließlich nur noch im rechten Arm. Pat. hatte dabei blutigen
Schaum vor dem Munde, ohne sich jedoch zu verunreinigen. Nach drei
Stunden kehrte das Bewußtsein wieder. Ein derartiger Anfall ist später
nicht mehr beobachtet worden.
Das Körpergewicht erreichte seine größte Höhe bei ihm im August
1906 mit 152 kg.
Zurzeit hat er folgenden Befund:
Der Halsumfang ist 54,9 cm,
der Brustumfang ist 142 cm,
der Schädelumfang beträgt 61,0 cm. Die Schädelform ist sym¬
metrisch, mesokephal; die Stirn ist leicht fliehend, niedrig. Die Ohr¬
läppchen sind adhärent. Die Ohren sind stark über die Fläche gekrümmt.
Es besteht nur ein Anflug von Barthaar. Achselhöhlen- und Scham¬
haare sind gleichfalls schwach. Der Penis ist kurz. Die Testikel aber
sind von normaler Größe. Die Wirbelsäule ist etwas kyphotisch ver¬
krümmt.
Der Puls ist weich, 80 an Zahl. An den inneren Organen findet sich
im übrigen nichts Besonderes. In seinen Bewegungen hat Pat. etwas
ungemein Plumpes, Schwerfälliges. Während Pat. in seiner Jugend ein
erethischer Idiot war, ist er jetzt gänzlich torpide. Sprachliche wie un¬
artikulierte Laute fehlen vollkommen. Ein Sprachverständnis ist auch
fast gar nicht vorhanden. Die beste Verständigung ist noch durch Finger¬
zeichen mit ihm möglich.
Sein ganzer Interessenkreis ist ausschließlich auf das Essen ge¬
richtet, von dem er unglaubliche Quantitäten in tierischer Weise zu ver¬
schlingen imstande ist. Geschlechtlich scheint er vollkommen indifferent
zu sein. Zur Verrichtung seiner Bedürfnisse geht er hinaus und verun¬
reinigt sich nicht mehr wie früher. Das Anlegen der Kleider vermag er
nur mit fremder Hilfe zu bewerkstelligen. Zu irgendeiner nutzbringenden
Tätigkeit ist er gänzlich ungeeignet.
Es lag nahe, im vorliegenden Falle an das Vorhandensein eines
Hypophysentumors zu denken, der zu einer Degeneratio adiposo-genitalis
geführt hat, einem Krankheitbilde von dem von Frankl-Hocbvart Fälle
beschrieben worden sind.
Die Idiotie würde sich durch eine Enzephalitis im Anschluß an die
im Alter von l 3 / 4 Jahren durchgemachte Diphtherie erklären lassen. Auf
eine dabei stattgehabte herdförmige Schädigung des Gehirns würde der
Krampfanfall hinweisen, den Pat. im Jahre 1897 durchgemacht hat, der,
wenn er auch kein typisch /acfoonscher ist, doch mit der Rindenepilepsie
eine gewisse Ähnlichkeit hat.
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Es muß fraglich erscheinen, ob der Fall überhaupt in die Gruppe der
Degeneratio adiposo-genitalis zu zählen ist. Der negative radiologische
Befund im vorliegenden Falle spricht übrigens nicht gegen das Bestehen
einer Hypophysenerkrankung. Bei der Akromegalie sind Fälle beschrieben,
in denen sich im vorderen drüsigen Teil der Hypophyse nur mikroskopische
Veränderungen fanden. In einem Falle war der Tumor im Keilbein ver¬
borgen, so daß er sich einer radiologischen Untersuchung vermutlich ent¬
zogen haben würde. In gleicher Weise könnten ja auch bei der Degeneratio
adiposo-genitalis, die auf eine Schädigung des hinteren, nervösen Teiles
der Hypophyse zurückzuführen ist, oder bei ähnlichen Erkrankungen nur
mikroskopische Veränderungen vorliegen. Es bestände also die Möglich¬
keit, daß auch im vorliegenden Falle neben einer Rindenschädigung, durch
welche die Idiotie bedingt ist, noch eine Erkrankung der Hypophysis ein¬
hergeht, die zu Fettsucht geführt hat. Beide Erkrankungen könnten in
der schweren Diphtherie, die Pat. im Alter von 1*/« Jahren durchgemacht
hat, ihre gemeinsame Ursache haben.
7uiius&urger-Steglitz: Zur Lehre von den Fremdheits¬
gefühlen.
An der Hand der von Loewenfeld veröffentlichten Arbeit über träum-
artige und verwandte Zustände bespricht Juliusburger unter gleichzeitiger
Zugrundelegung seiner einschlägigen früher mitgeteilten Fälle das Auf¬
treten von Fremdheitsgefühlen, wobei das Gefühl der Fremdartigkeit, der
Veränderung, das Bewußtsein der Außenwelt, des eigenen Körpers, der
eigenen Persönlichkeit ergreifen kann. Juliusburger bringt zwei neue Fälle
zur Kenntnis, welche das Auftreten von Fremdheitsgefühlen in ausge¬
sprochener Weise erkennen lassen. Das Gegenstück des Fremdheits¬
gefühles ist das Gefühl der Identifikation mit einem anderen Individuum
oder dessen Leistungen, eine Identifikationstörung, die gleichfalls in der
Psychologie der Psychosen und Neurosen eine große Rolle spielt. Das
Gefühl der Identifikation kann nur zustande kommen durch eine starke
Gefühlsübertragung auf das Objekt. Das Gefühl der Entfremdung tritt
ein, wenn eine Gefühlstrennung mehr oder weniger extensiv und intensiv
durch eine Störung des seelischen Mechanismus sich einstellt. Auch ist
noch folgender Gesichtspunkt in Betracht zu ziehen. Wird der seelische
Mechanismus in seinem harmonischen Zusammenhänge erschüttert, steigen
aus dem Unterbewußtsein Komplexe auf, welche das Oberbewußtsein
ablehnt und als Fremdlinge betrachtet, so wird auch hierdurch naturgemäß
ein Gefühl der Befremdung, ein Fremdheitsgefühl sich einstellen, welches
einerseits das Persönlichkeitsbewußtsein befallen und andererseits in dem
Drange nach Objektivierung sich dem Bewußtsein der Außendinge zu-
gesellen kann. In letzterem Falle wird es sich um einen ähnlichen Vorgang
wie beim paranoischen Mechanismus im Stadium der Bildung des Ver¬
folgungswahnes handeln, dessen Genese darin zu erblicken sein dürfte.
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Psychiatrischer Verein zu Berlin.
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daß im Unterbewußtsein des Individuums diesem gewisse Komplexe zu
schaffen machen» es bedrängen, verfolgen und, auf die Außenwelt proji¬
ziert, in Vorstellungen der Bedrückung und Verfolgung dann wiederkehren.
(Der Vortrag erscheint in der Monatsschrift für Psychiatrie und
Neurologie.)
Diskussion. — Bonhoeffer- Berlin: Ich möchte an den Herrn
Vortragenden die Frage richten, ob er nicht auch der Ansicht ist, daß das
Fremdheitsgefühl kein psychopathogenetisqh einheitlich zu beurteilendes
Phänomen ist. Ich habe die von dem Vortragenden so anschaulich ge¬
schilderte Form am häufigsten bei leichten Depressionszuständen von
periodischem und cyklothymem Charakter gesehen, und zwar stets ver¬
bunden mit einem starken Gefühl des veränderten Fühlens und des ab¬
gestumpften Interesses und der entsprechenden depressiven AfTektlage.
Das spricht in hohem Maße für die von dem Vortragenden vertretene
Anschauung von der affektiven Genese der Störung. Der Herr Vortragende
hat sich wahrscheinlich absichtlich auf die Besprechung der allgemein
pathologischen Seite des Symptoms beschränkt. Ich glaube aber, es ist
doch für die Gesamtbeurteilung der Erscheinung nicht gleichgültig, welche
nosologische Stellung seinen beiden Fällen zuzuweisen isC Ich möchte
glauben, daß die Grundlage des ersten, vielleicht auch des zweiten Falles
ein Depressionszustand von dem Charakter des endogenen periodischen
ist. Das Dominieren der Zwangsvorstellungen im zweiten Fall spricht
nicht dagegen. Im Gegenteil sieht man, wenn man darauf achtet, daß
außerordentlich häufig ein depressiver Symptomkomplex von periodischem
Charakter die Grundlage der Zwangsvorstellungen bildet. Daß dieser
Symptomkomplex leicht übersehen wird, liegt daran, daß die Zwangs¬
vorstellung für den Patienten im Mittelpunkt seines Interesses steht in¬
folge der Befürchtung, daß das der Beginn einer Geistesstörung sei. Die
Feststellung eines solchen primären endogenen Depressionszustandes igt
nicht nur für die prognostische und therapeutische Beurteilung solcher
Fälle, sondern auch für die allgemeine psychopathologische Betrachtung
wichtig, weil es einem dann nicht begegnet, den primären Charakter der
depressiven AfTektlage zu ignorieren und normal psychologische Begleit¬
erscheinungen des depressiven Affektes zu verkennen. Es erscheint mir
nicht zulässig, endogene periodische Störungen, wie es Depressionen sind,
aus unterbewußten Komplexwirkungen erklären zu wollen, es scheint mir
das ein Rückschritt zu den psychologischen Erklärungsversuchen früherer
Autoren. Ich halte es auch nicht für glücklich, von verdrängten unter¬
bewußten kriminellen Tendenzen und Sexualaffekten zu sprechen, wenn
ein Depressiver, in seiner Sucht, seine Vergangenheit pessimistisch zu durch¬
suchen, alte Kinderdiebstähle oder masturbatorische und andere sexuelle
Sünden ausgräbt. Hier handelt es sich doch um keine Affekt Verdrän¬
gungen und um keine unterbewußten Vorgänge, sondern um in letzter
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Linie normalpsychologische Vorgänge in scharfer, sogar oft überwiegender
Bewußtseinsbeleuchtung, wie sie jede starke depressive Stimmung mit
sich bringt. Eine Notwendigkeit, für das Fremdheitsgefühl bei Depressi¬
onen auf unterbewußte affektive Komplexwirkungen zu rekurrieren,
scheint mir nicht vorzuliegen.
Endlich glaube ich, daß das Fremdheitsgefühl, wie es bei depressiven
Zuständen sich findet, auch allgemein pathologisch von dem bei beginnen¬
den paranoischen und paranoiden Prozessen durch das Fehlen der Note
der Eigenbeziehung, von dem bei hysterischen und epileptiformen Zu¬
ständen vorkommenden durch das Fehlen der leicht traumhaften Bewußt¬
seinsherabsetzung sich unterscheidet. Ein affektives .Moment mag auch
bei diesen Formen die Grundlage sein.
Liepmann- Dalldorf: Diese, wenn auch unter sich nicht ganz gleich¬
artigen Fälle stehen in der Tat den leichten Fällen organisch bedingter
Agnosie gegenüber, insofern bei letzteren nicht das Gefühlsmoment,
sondern die Identifikation selbst gestört ist.
Juliusburger : Ich hatte es als meine Aufgabe betrachtet, in meinem
Vortrage die Erscheinung des Fremdheitsgefühles für sich herauszuheben
und einen Einhlick in den Mechanismus seines Zustandekommens zu
geben. Ich habe in meinem Vortrage ausdrücklich hervorgehoben, daß
das Fremdheitsgefühl bei verschiedenen Neurosen und Psychosen vor¬
kommt. Die von Loewenjeld erwähnten Fälle scheinen mir nicht in die
Gruppe der periodischen Depressionen zu fallen. Von meinen in dem
Vortrag mitgeteilten Fällen rechne ich den ersten zu den von mir be¬
schriebenen Fällen von Pseudomelancholie, den zweiten fasse ich als
Angstneurose mit Zwangsvorstellungen auf. Im übrigen ist die sogenannte
Periodizität selbst noch ein Problem, das erst seine Auflösung finden
wird in der Auffindung der determinierenden, insbesondere aus dem
Unterbewußtsein wirkenden Komplexe, deren wechselvolles Siegen und
Erliegen — der Kampf der Teile im Seelenleben — zur Erklärung der
rezidivierenden intrapsychischen Vorgänge herangezogen werden muß.
(Vgl. hierzu meine Arbeit „Zur Psychologie der Zwangsvorstellungen und
Verwandtenehe“, Zentralblatt für Nervenheilkunde u. Psychiatrie, 1909,
S. 838.)
19. Versammlung des Norddeutschen Vereins für
Psychiatrie und Neurolgie zu Danzig am 8. Juli 1912.
Anwesend: Berg-Allenberg, Birnbacher -Danzig, Boege-Sierakowitz,
BoZdi-Graudenz, Braune-Conradstein, Brexendorff-L&uenburg i P., Grai-
chen -Allenberg, Hantelt eustadt/Wp r., Havemann-T apiau, Hermes-Neu -
stadt/Wpr., /ferse-Neustadt, Hieronymus-hauenburg, Baj/ser-Dziekanka,
JTei7-Conradstein, Kefcz-Schwetk, Klieneberger- Königsberg i. Pr., Krebs-
Allenberg, Krüger -Tapiau, LiuAer-Lauenburg, JLafeer-Tapiau, Mangold-
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Original from
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Norddeutscher Verein für Psychiatrie und Neurologie.
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Danzig, Semi Meyer- Danzig, Meyer-Königsberg, Peters -Conradstein, Pflanz-
Danzig, Rehnke- Owinsk, «ScAauen-Schwetz, Schöngarth -Sorau a. G., Schütze-
Owinsk, Siemens-Lauenburg, Stoltenhoff- Kortau, Syring-Neustadt, Ad.
Wallenberg-Danzig, Warschauer- Hohensalza, WicAef-Dziekanka, Witt-
Kosten.
Siemens als Vorsitzender begrüßt die Versammlung. Schriftführer:
Hieronymus. Zu Ehren der verstorbenen Mitglieder Geh. Med.-Rat Dr.
JTrömer-Conradstein und Oberarzt Dr. TawAert-Lauenburg erheben sich
die Anwesenden.
Die Kassenrechnung wird geprüft, und Entlastung wird erteilt. Als
Ort der nächstjährigen Tagung wird wieder Danzig festgesetzt, als Ge¬
schäftsführer werden Braune-Conradstein und Dubbers- Allenberg gewählt.
Ihr Nichterscheinen haben entschuldigt und die Versammlung be¬
grüßt: Werner-Owinsk (Geschäftsführer), Mercklin-, Ermisch-, Vollheim -
Treptow a. R., ÄneeAf-Neuruppin, ScAufcze-Greifswald.
Auf Vorschlag von Meyer- Königsberg wird ein Referat zur nächsten
Sitzung bestimmt: „Fortschritte im Bau und Einrichtung der Anstalten
für psychisch Kranke“, welches WicAef-Dziekanka übernimmt. Es folgen
die Vorträge:
i Semi Meyer - Danzig: Die Lehre von den Bewe¬
gungsvorstellungen.
Die klassische Lehre von den Bewegungsvorstellungen, die von Munk
ausgeht, besagt, daß in den Hirnfeldern, durch deren Reizung Bewegungen
zu erzielen sind, lediglich Vorstellungen der Bewegungen lokalisiert seien,
die aus den Daten gebildet werden, die die Muskeln bei ihrer Arbeit zen¬
tripetal ins Gehirn schicken: kinästhetische Vorstellungen. Die Theorie
geht von der Anschauung aus, daß die Hirnrinde sensorisch ist, und daß
ihrer Funktion stets Vorstellungen entsprechen oder entspringen. Der
Inhalt der Bewegungsvorstellung wäre die Bewegungsausführung selbst
in allen ihren Einzelheiten, und zum wirklichen Stattfinden der Willkür-
bewegungen wäre nichts nötig als die genügende Lebhaftigkeit der Be¬
wegungsvorstellung.
Während diese Lehre noch vielfach auf den verschiedenen Gebieten
arbeitende Forscher zu Anhängern hat, ist in der Pathologie im letzten
Dezennium eine Umgestaltung der Anschauungen über Form und Be¬
deutung der Bewegungsvorstellungen unverkennbar. Die klinischen Er¬
fahrungen über Störungen des Handelns werden heute kaum mehr im
Sinne der sensorischen Theorie gedeutet, an die Stelle der Seelenlähmung
ist die Apraxie getreten. Eine Zergliederung der tatsächlich nachweisbaren
Vorstellungen ergibt immer deutlicher, daß die Vorstellungen, die von
den eigenen Bewegungen zu erzeugen sind, von der dazu notwendigen
Muskeltätigkeit schlechterdings nichts enthalten.
Die fertige Bewegung läßt sich nur in Teilstticke zerlegen, die immer
wieder Leistungen, niemals Muskelaktionen sind, und jede Bewegung
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
stellt sich dar als eine Reihenleistung des Gedächtnisses. Diesem Tat¬
bestand ist in der Apraxielehre in den von Liepmann und Goldstein ge¬
prägten Bezeichnungen „Bewegungsformel“ und ,.Wegvorstellung“ Rech¬
nung getragen. Für das physiologische Gedächtnisbild, das aber heute,
wo die Lehre von der Muskelempfindung ebenfalls gänzlich umgestaltet
ist, keineswegs als ein rein zentripetal kinästhetisches aufgefaßt werden
darf, eignet sich vielleicht der gelegentlich von Monakow gebrauchte
Ausdruck „kinetische Figur“.
Belehrender für die Auffassung des Bewegungsablaufs ist die Be¬
trachtung des Erwerbs der Bewegungen. Dieser geschieht auf einem
Umwege, den die geistige Leistung des Vergleiche ns und Urteilens erforder¬
lich macht, nämlich durch Probieren. Wir gehen dabei aus von ererbten
Bewegungen, die im gesamten Tierreich die vorherrschenden bleiben,
wodurch sich ganz ungezwungen die viel geringere Bedeutung der Hirn¬
rinde und der Pyramidenbahn für jedes Tier ergibt. Wir können nur
lernen durch Probieren, und der Erfolg des Lernens ist selbstverständlich
Gedächtniserwerb. Wir sammeln einen Schatz von Bewegungserfahrungen,
sind aber unabhängig von bestimmten Innervationen. Wir erwerben stets
eine Technik, nicht wie das dressierte Tier bestimmte Muskelleistungen.
Die Bewegungsvorstellung wird unaufhörlich umgestaltet durch den
Vorgang der Mechanisierung der Bewegungen. Die Vorstellung wird dabei
zu einer einheitlichen Vertretung einer mehr oder weniger großen Reihe
von Einzelleistungen, die einem gemeinsamen Ziele dienen. Daß dabei
Teilstücke unwillkürlich werden, ist eine Irrlehre. Jede noch so ver¬
wickelte Leistung kann zu einem Teile einer immer größeren Reihe werden
Die Bewegungsvorstellung aber verhält sich nicht anders als jede andere
Vorstellung. Sie gestaltet sich in jedem Augenblicke so, wie es dem Zwecke
der Tätigkeit entspricht, sie ist für gewöhnlich nur Zielvorstellung und
umgreift in sich ein außerordentlich verwickeltes Hirngeschehen, dessen
einzelne Bestandstücke nicht im Bewußtsein vertreten sind. Eine Vor¬
stellung, die Einzelheiten des Bewegungsablaufs enthielte, gibt es nicht.
Wohl aber können wir uns unsere Bewegungen wie alles andere, was wir
erleben, vorstellen, nur hat diese Vorstellung für die Ausführung der Be¬
wegungen nicht die geringste Bedeutung. Das Problem des Willens findet
in den Bewegungsvorstellungen nicht die einst erhoffte Lösung.
Klieneberger - Königsberg i. Pr.: Über Intelligenz¬
prüfungen.
Ziel und Zweck der Intelligenzprüfung wird besprochen und hervor¬
gehoben, daß die geistige Inventaraufnahme, die Kenntnis- oder Wissens¬
prüfung hinter der eigentlichen Intelligenzprüfung zurücktreten müsse.
K. berichtet sodann über die eingehenden Wissensprüfungen Rodenwaidts
und über eigene in Greifswald angestellte Untersuchungen an Schülern
der Volksschule, Bürgerschule und Studenten. Er bespricht weiterhin dir
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Norddeutscher Verein für Psychiatrie und Neurologie.
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gebräuchlichsten Prüfungen der Merkfähigkeit und gibt dann eine Über¬
sicht und kritische Würdigung der verschiedenen Methoden der eigent¬
lichen Intelligenzprüfungen (Unterschiedsfragen, Begriffsbestimmungen,
Legspielmethode, Ordnen von Worten zu einem Satz, Gleichungsmethode,
Ebbinghaussche Methode, Masselonsche Methode, Auffassen und Deuten
von Erzählungen, Fabeln und Bildern — auch Münchener Bilderbogen,
Heilbronnersche Bilder u. ähnL —, Witz-, Sprichwörter und Kritik¬
methode), die im wesentlichen Prüfungen des Vorstellungs- und Begriffen
Vermögens, der Urteils- und Kombinationsfähigkeit darstellen. K. führt
aus, daß die geschilderten Prüfungen nicht dazu dienen, festzustellen, ob
jemand intelligent ist, sondern daß es uns nur darauf ankommt, festzu¬
stellen, ob jemand Intelligenzdefekte hat, daß hierzu die angegebenen
Methoden durchaus brauchbar sind, daß es aber richtiger wäre, sie statt
Intelligenzprüfungen Defektprüfungen zu nennen. Endlich weist K. auf
die Schwierigkeiten hin, die sich einer Intelligenzprüfung Erwachsener in
den Weg stellen, schildert das von den französischen Psychologen Binet
und Simon geschaffene Intelligenzschema, erläutert die einzelnen Tests,
die in einer Tabelle veranschaulicht werden, und bespricht eingehend
Entstehung und Brauchbarkeit der Binetschen Methode.
Diskussion. — Meyer- Königsberg weist darauf hin, daß die
Methode von Binet sich auch nützlich erweist bei älteren Schwachsinnigen,
um den Grad der geistigen Schwäche festzustellen, und in jeder Weise zu
empfehlen sei
E. Meyer - Königs bergi. Pr.: a) Unfall durch Blitz¬
wirkung.
Gleichzeitiger Absturz dreier Arbeiter von einem Bau zur Zeit
eines Gewitters. Der erste Arbeiter, der einen Halswirbelbruch erlitten
hatte — keine psychischen Störungen —, meinte vom Blitz getroffen zu
sein, sei geblendet worden, resp. habe den Blitz gesehen, Knall gehört;
Gefühl, als sei er gelähmt und stürzte dadurch ab. Der zweite Arbeiter,
der nur eine leichte Kopfverletzung und Rippenfrakturen davongetragen
hatte, ebenfalls ohne psychotische Erscheinungen, hatte plötzlich sehr
starken Luftzug und Druck verspürt und sei heruntergeschleudert, als ob
ihn einer herunterstieße. Gesehen oder gehört habe er nichts. Bewußtlos
nur für einen Augenblick. Bei dem dritten Arbeiter endlich liegt eine
Basisfraktur vor mit den psychischen Störungen der Commotio. Es
besteht nur Erinnerung für den Eintritt des Gewitters, sonst Amnesie.
Ein Arbeiter, der in der Nähe der Verletzten war, hat einen Schlag
wie von einem Leitungsdraht verspürt, war geblendet, sah gleichzeitig
den einen abstürzen. Alle in dem Bau waren durch den Schlag beun¬
ruhigt, hatten das Gefühl, als sei etwas passiert. Am Dach waren ver¬
schiedene Zerstörungen, Spaltung von Pfosten und Sparren usw., ohne
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790 Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Brandspuren. Am Körper und den Kleidern der Verletzten keine Zeichen
von Blitzwirkung.
Af. webt darauf hin, daß echte Blitzwirkung ( Jeüinek ) nicht nach¬
weislich vorliegt, aber auch nicht auszuschließen bt. Nach Laienmeinunr
hat es sich um ‘einen „kalten Schlag“ gehandelt, doch ist dieser Begriff
physikalisch unklar. Der Gedanke liegt nahe, daß der Unfall durch
Schwankungen des Luftdruckes infolge der Blitzwirkungen verursacht
ist (Ausführliche Veröffentlichung in der ärztlichen Sachverständigen
Zeitung 1912).
b) Spinale Erkrankungen und psychotische
Erscheinungen bei schwerer Anämie nebst ana¬
tomischem Befund.
48 jähriger Mann, starker Raucher. Sommer 1910 Schmerzen in den
Beinen, leicht müde, nervös. Zunehmende allgemeine Schwäche, be¬
sonders der Beine, Ödeme, leichtes Fieber. Seit Ende 1910 psychische
Alteration. Januar 1911 psychiatrische Klinik Königsberg. Dauernd
leichte Benommenheit, Desorientiertheit, Auffassung und Merkfähigkei*.
stark beeinträchtigt, Neigung zur Perseveration, einzelne Halluzinationen.
Somatisch: Hochgradige Anämie (1—1 y 2 Millionen rote Blutkörper¬
chen, Hämoglobingehalt nach Sahli 25 %, nicht sicher perniziöse Anämie l
RL + , Parese der Beine mit Steigerung der Sehnenreflexe, Andeutung
von Babinski. Sprache undeutlich.
Sektion: An den inneren Organen hochgradige Anämie. Mikro
skopisch: Spinaler Befund wie bei schwersten Anämien: Herde im ganzer
Rückenmark, am stärksten in Brust und Hals, und zwar in den Hinter¬
strängen, Seitensträngen und Vordersträngen, am wenigsten im Lenden¬
teil. Mit Pal-Weigert resp. Marchi alte und frische Degeneration den Herden
entsprechend, viele Körnchenzellen. Mit Thionin in den Herden Gitter¬
zellen, daneben mächtige Gliazellen von gewohnter Form, an den Gefäßen
kleinzellige Infiltration mit Plasmazellen, auch hyaline Degeneration der
Gefäßwände. Ganglienzellen im Rückenmark ohne gröbere Veränderung.
Im cp. restiforme anscheinend aufsteigende Degeneration, keine Herde
Ebensowenig im Gehirn Herde, Pyramidenzellen zum Teil schwer ver¬
ändert. In den peripheren Nerven zum Teil Schwarztüpfelung mäßigen
Grades. In den Muskeln unregelmäßig frische Degeneration.
M. betont, daß die psychischen Störungen den Bildern entsprechen,
wie wir sie bei äußeren Schädigungen verschiedener Art finden. Sie sin-i
nicht auf Herde im Gehirn zurückzuführen, sondern auf toxische Einfluss*
infolge der Grundursache des gesamten Leidens. Die spinale Erkrankunc
entspricht dem gewohnten Bild. Der deutliche Befund von kleinzellige:
Infiltration und Plasmazellen an den Gefäßen kann die Annahme, daß dir
Herde von den Gefäßen ausgehen, unterstützen.
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Norddeutscher Verein für Psychiatrie und Neurologie.
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Luther - Lauenburg: Zur Verhüt ung und Behand¬
lung von Furunkulosen und Dermatitiden bei
Geisteskranken.
Vortr. gibt eine Übersicht über die prophylaktischen und thera¬
peutischen Maßnahmen bei den infolge Anwendung der Hydrotherapie
auftretenden Hauterkrankungen. Bei der Furunkulose hat sich ihm am
besten das frühzeitige Bepinseln der Furunkel nebst Umgebung mit
5—10 % Salizylkollodium bewährt, bei der Trichophytiasis das 5—10 %
Chrysarobinkollodium.
Weiter empfiehlt er bei der Anwendung feuchter Packungen in allen
Fällen, in denen die Pat. zu Hauterkrankungen neigen, das Wasser durch
eine 3 % Borsäurelösung zu ersetzen, wodurch man das Auftreten von
Hautaffektionen sicher verhütet. Ausgebreitete Furunkulosen heilen unter
fortgesetzter Anwendung dieser Packungen in wenigen Tagen.
(Der Vortrag wird ausführlich in der Psych.-Neur. Wochenschrift
veröffentlicht werden.)
Diskussion. — Bohfc-Graudenz empfiehlt aus seinen Erfahrungen
bei der Strafanstalt Graudenz die Anwendung von Staphylokokkenserum
..Opsonogen“, hergestellt von der chemischen Fabrik Güstrow.
Bohfr-Graudenz: Schutzmaßregeln gegen geistes¬
kranke und minderwertige Verbrecher.
Vortr. berichtet zunächst über die bisherigen Erfahrungen mit den
Irrenabteilungen an preußischen Strafanstalten. Man sucht neuerdings
nach Möglichkeit von der Haftentlassung der in der Strafhaft psychisch
Erkrankten abzusehen und namentlich in den Fällen, wo es sich nur um
kurzfristige Strafen handelt, die Betreffenden durchzuschleppen. Aus¬
geschlossen bleiben natürlich nach wie vor Krankheitformen wie etwa
die Paralyse, Altersformen, gewisse Formen der Dementia praecox und
endlich solche Fälle, bei denen auch der Aufenthalt in der Irrenabteilung
mit ihren so viel günstigeren Existenzbedingungen ersichtlich ungünstig
auf den Zustand einwirkt. Dagegen hat die Erfahrung gelehrt, daß doch
ein noch erheblicher Prozentsatz z. B. der degenerativen Haftpsychosen
sich sehr wohl halten läßt; besonders segensreich hat sich auch hier der
Einfluß einer geregelten Beschäftigung, namentlich Gartenarbeit, erwiesen.
Vermehrt werden sollten die sogen. Abteilungen für Minderwertige, die
mit ihrer speziellen Eigenart gleichfalls wesentlich dazu beitragen dürften,
daß einerseits schwerere Erkrankungen im Strafvollzug überhaupt nicht
Vorkommen, andererseits viele psychisch Defekte unter Umgehung der
Irrenanstalt ihre Strafe abbüßen können.
Weiterhin besprach Vortr. die Maßnahmen, die künftighin den auf
Grund des § 51 St.G.B. freigesprochenen Geisteskranken zuteil werden.
Diese Individuen werden nach wie vor den Provinzialirrenanstalten zu über¬
weisen sein. Anders die kriminellen Trunksüchtigen, welche, sofern es sich
um gesellschaftlich bessere Elemente handelt, in Privatanstalten, anderen-
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792
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
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falls in besonderen Sicherungsanstalten ünterzubringen wären. Diese
besonderen Sicherungsanstalten kämen gleichzeitig in Frage für das große
Heer der Geisteskranken und Minderwertigen, welche bisher nach ver¬
büßter Strafe entweder in die Freiheit entlassen oder in die Provinzial¬
irrenanstalten eingewiesen wurden. Diese Sicherungsanstalten würden für
Preußen ein Novum darstellen. Sie würden ein Mittelding zwischen Heil- j
anstatt und Strafanstalt bilden. Die Leitung müßte unbedingt in den 1
Händen eines Arztes liegen. Durch intensive Arbeit, Feld-, Garten-,
Tischlerarbeiten usw., würde man auf der einen Seite die Leute ganz
wesentlich zur Deckung der Unkosten heranziehen, auf der anderen Seite
den segensreichen Einfluß der Arbeit wirken lassen. Eine Entlassung aus j
diesen Anstalten würde immer nur vorläufig und unter eine gewisse [
Schutzaufsicht, wohlgemerkt nicht Polizeiaufsicht, erfolgen können.
Disksussion. — Wickel: Die von dem Herrn Vortragenden mit-
geteilten neuen Bestrebungen, welche uns die erwünschten Zwischen¬
anstalten bringen sollen, sind von den Irrenanstalten äußerst dankbar
zu begrüßen. Besonders werden sie die sog. Bewahrungshäuser in ge¬
eigneter Weise entlasten. Vier Anstalten und 200 Plätze dürften auf
die Dauer ausreichen.
Stoltenhoff fragt an, auf Grund welcher Bestimmungen die weitere
Verwahrung der Minderwertigen nach verbüßter Strafhaft erfolgen wird
Der Vortragende erwidert, daß zur neuen Strafprozeßordnuug eine
derartige gesetzliche Bestimmung in Vorbereitung ist.
Kets - Schwetz: Über Anstaltabwässer.
Die Abwässerfrage spielte bei der Typhusepidemie in Conradstein
begreiflicherweise eine große Rolle. Alle Abwässer, ca 600 cbm täglich,
gelangen auf ein Rieselfeld, nachdem durch einen Grobrechen und einen
Sandfang die festen Stoffe zurückgehalten sind. Schließlich gehen dir
Wässer in die Ferse, an der stromabwärts die Stadt Pr. Stargard liest.
Nach Ausbruch des Typhus wurde angeordnet, daß die Abgänge der
Klosetts und Waschräume der Infektionsabteilungen in eine besondere
Tonne entleert und desinfiziert würden, daß ferner die Wäsche vor Ein¬
lieferung in die Waschanstalt desinfiziert würde. In die Einsteigschächt*
wurde täglich Kresol geschüttet. Der Reg. Med.-Rat verlangte auch eine
besondere Küche für die Typhusstation, die aber nicht bewilligt wurde.
Dann wurde verlangt, daß das Baden der Typhuskranken eingestellt
wurde, auch wurde der Verkehr mit Gemüse und Gartenfrüchten nach der
Stadt untersagt, der Verkehr mit der Stadt überhaupt beschränkt, z. B
der Besuch des Gymnasiums untersagt. Nachdem einige Stargarder Kinder,
welche sich am Fluß getummelt, erkrankt waren, wurden noch strengere
Absperrmaßregeln gefordert. — Die Untersuchung der in die Ferse ge¬
leiteten Abwässer des Conradsteiner Rieselfeldes erwies sich bei Unter
suchung als frei von Typhuskeimen, doch liegt darin natürlich keine Ge¬
währ. — Die Durchsuchung nach Typhusbazillenträgern ergab 70 solcher.
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Original fro-m
u i OF MICHIGAN
Norddeutscher Verein für Psychiatrie und Neurologie.
793
— Daß die Rieselfelder verseucht waren, ist zweifellos, und daß die Ferse
verseucht war, bewies das Auftreten von Typhusfällen unterhalb Conrad¬
stein. Wie lange sich die Typhuskeime außerhalb des Körpers lebens¬
fähig erhalten, ist ungewiß. Sie sind in organische Substanz (Schleim, Ei-
weißstofTe, Pflanzenteile) eingebettet, Ratten, Krähen und andere Tiere,
welche die Rieselfelder bevölkern, können sie verbreiten und beherbergen.
Vorsicht ist daher geboten. Daher die Forderung eines vor Auslauf ins
Rieselfeld eingeschalteten Klärverfahrens bzw. der vorherigen Desinfek¬
tion mit Chlorkalk oder Kalkmilch. Für Anlagen zu diesem Zweck gibt
es verschiedene Verfahren und Apparate.
Auch die Abwässer der Anstalt Schwetz haben ein Klärverfahren
durch zu machen, welches beschrieben wird. Es folgen allgemeine Be¬
merkungen über die gegen Infektionskranke in den Anstalten zu treffenden
Maßnahmen und Einrichtungen.
Diskussion. — Braune -Conradstein macht auf Wunsch des
Vorsitzenden nähere Mitteilungen über die Conradsteiner Typhusepidemie,
die dort im vergangenen Jahre auftrat. Die Epidemie hat nahezu ein Jahr
gedauert. Es wurden über 200 Fälle beobachtet, darunter eine größere
Zahl Beamter und Angestellter und deren Angehöriger. Die größte Zahl
gelangte im Juli 1911 mit 50 Fällen zur Beobachtung. Die Entstehung
ist wahrscheinlich auf mehrere Ursachen zurückzuführen. Eine große
Gefahr bildet für die Anstalt die Tatsache, daß in dem nahegelegenen
Preußisch-Stargard Typhus endemisch ist und es schon vor Erbauung der
Anstalt Conradstein, die in den Jahren 1893—95 erfolgte, war. Im Jahre
1899 kamen in Preußisch-Stargard allein 48 Typhusfälle zur amtlichen
Kenntnis. Das Aufhören der Epidemie ist darauf zurückzuführen, daß
eine viermalige Untersuchung sämtlicher Anstaltbewohner auf Typhus¬
bazillen erfolgte. Es wurden dadurch im ganzen 65 Typhusbazillenträger
und Dauerausscheider festgestellt. Diese sind in zwei Häusern abgesondert
und werden noch regelmäßig untersucht. Einige von ihnen scheiden
auch jetzt noch Typhusbazillen aus. Es wurden auch unter den An¬
gestellten bzw. deren Angehörigen drei Bazillenträger nachgewiesen, deren
Behandlung und Beobachtung besondere Schwierigkeiten bot.
Wallenberg -Danzig zeigt das Rückenmark einer 75 jährigen Frau,
bei der während des Lebens Erscheinungen eines Tumors in der Höhe
des 6. bis 8. Dorsalsegraents bestanden, und bei der post mortem ein
Endotheliom der Dura mit Psammombildung (Untersuchung durch
Herrn Prosektor Dr. Stahr) in der Höhe des 2. bis 3. Dorsalsegments ge¬
funden wurde. W. zeigt die betreffenden mikroskopischen Präparate, die
außer den bekannten auf- und absteigenden Degenerationen ( Marchi -
Präparate) noch Syringomyelie-ähnliche Veränderungen im Vorderhorn
des 1. sowie des 3. bis 5. Dorsalsegments auf weisen. W. hat bei derselben
Frau einen gut abgegrenzten, seines Wissens bisher nicht beschriebenen
Eigenkern des Ponticulus im kaudalen Dach der Rautengrube gefunden,
den er ebenfalls demonstriert.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Kleinere Mitteilungen.
Die 18. Versammlung mitteldeutscher Psychiater
und Neurologen wird Sonntag, 27. Oktober, von 9 Uhr Vorm, ab
in der psychiatrischen und Nervenklinik zu Halle stattfinden. Vorträge:
1. Herr Abderhalden- Halle: Ausblicke über die Verwertbarkeit biologischer
Methoden auf dem Gebiete der Pathologie des Nervensystems. 2. Herr
Ahrens- Jena: Die Zirkulation des Liquor cerebrospinalis. 3. Herr Anton-
Halle: Pubertätsdysostose mit nervösen Symptomen. 4. Herr Binswanger-
Jena: Über Pseudomyasthenie. 5. Herr Degenkolb -Altenburg: Das Raum¬
umgangsfeld und die Raumerscheinungen. 6. Herr Flechsig -Leipzig: Die
Flächengliederung der menschlichen Großhirnrinde. 7. Herr Gregor -
Leipzig: Thema Vorbehalten. 8. Herr Jaeger- Halle: Über Goldsolreaktior.
im Liquor cerebrospinalis. 9. Herr Jolly- Halle: Über Heredität bei Geistes¬
gesunden und Geisteskranken. 10. Herr Kluge -Potsdam: Wie weit ist
bisher die praktische Mitarbeit des Psychiaters bei der Fürsorgeerziehung
gediehen? 11. Herr Kürbitz-Sonnenstein: Über Zeichnungen Geistes¬
kranker. 12. Herr Neuendorf- Bernburg: Zur Behandlung aufgeregter
Geisteskranker. 13. Herr v. Nießl-Mayendorf -Leipzig: Über die patho¬
logischen Komponenten des choreatischen Phänomens (Projektionsvortrag).
14. Herr iVitecAe-Dresden: Zur Lehre von den paranoischen Psychosen.
15. Herr Pfeifer-N ietleben: Über experimentelle Untersuchungen am
Thalamus opticus. 16. Herr Röper- Jena: Zur Ätiologie der multiplen
Sklerose. 17. Herr JtüAfe-Uchtspringe: Experimentelle Studien über
tumorartig wachsende Fremdkörper im Tiergehirn (mit Demonstrationen).
18. Herr Weier-Chemnitz: Ein Fall von Hirnerschütterung mit anatomi¬
schem Befund. 19. Herr Wichura- Schierke: Über einen Fall von Eklampsie
mit bleibenden schweren Störungen des Gedächtnisses, Erkennens und
Handelns. 20. Herr Wt'Mige-Halle: Über akute Paranoia. — Am Vorabend
8 Uhr gesellige Vereinigung im Hotel Berges nahe dem Bahnhof. Festmahl
am 27. Oktober 5 Uhr Nachm, ebendort, Anmeldungen hierzu bis zum
20. Oktober an den 1. Geschäftsführer Prof. Anton-Halle.
Am 20. September wird in Lübeck anstelle des im Jahre 1786
erbauten Unsinnigenhauses, der heutigen Staatsirrenanstalt, die neue
Heilanstalt Strecknitz für Nervöse und Geisteskranke dem Betriebe über¬
geben.
Preisausschreiben. — Cesare Lombroso hat testamentarisch,
solange das von ihm gegründete Archivio d’Anthropologia criminale be¬
steht, eine Summe von Frcs. 500.— für die beste Arbeit oder die hervor-
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Kleinere Mitteilungen.
795
ragendste Entdeckung auf dem Gebiete der Kriminal-Anthropologie be¬
stimmt.
Dieser Preis soll in jedem zweiten Jahre verteilt werden.
Die Familie Lombroso hat mit der Zuerkennung des Preises das
Organisationskomitee des VIII. int. Kriminal-Anthropologischen Kon¬
gresses beauftragt und als Vertreter der Familie Frau Dr. Gina Lombroso-
Ferrero benannt, unter gleichzeitiger Erhöhung des Preises auf Frcs. 1000.
Das Organisationskömitee hat die Bedingungen des Preisausschrei¬
bens nunmehr so festgesetzt:
Ein Preis von 1000 Lire (Lombroso -Preis) wird für die hervorragendste
Arbeit oder die bedeutsamste Entdeckung auf dem Gebiete der Kriminal-
Anthropologie bei Gelegenheit des internationalen Kriminal-Anthropolo-
gischen-Kongresses in Budapest (Sommer 1914) vergeben werden.
Die Arbeiten der Entdeckungen müssen im Laufe der Jahre 1911
1912, 1913, 1914 veröffentlicht sein oder veröffentlicht werden.
Der Wettbewerb ist international.
Ungedruckte Manuskripte können in Schreibmaschinenschrift zum
Wettbewerb zugelassen werden; die Auszahlung des Preises erfolgt in
dem Falle nach der Drucklegung.
Eine Zusendung der bereits gedruckten Arbeiten an das Preisrichter¬
kollegium ist erwünscht, aber nicht Bedingung.
Die Preisverteilung findet in der Eröffnungssitzung des VIII. int.
Kriminal-Anthropologischen Kongresses statt.
Das Organisationskomitee des VIII. internationalen Kriminal-Anthropo¬
logischen Kongresses: Prof. Dr. G. Ascfiaffenburg- Cöln, Staatssekretär
Prof, von Balogh- Budapest, Prof. Dr. Enr. Ferri- Rom, Dr. Hans Kurella -
Bonn, Geh- Medizinalrat Prof. «Sommer-Gießen, Frau Dr. Gina Lombroso -
Ferrero (Vertreterin der Familie Lombroso).
Nekrolog P. W. Jessen. — Peter WiUers Jessen wurde am
5. März 1823 in Schleswig geboren als Sohn des Direktors der 1820 ge¬
gründeten Irrenanstalt bei Schleswig. Schon früh erwachte daher sein
Interesse für die Psychiatrie; um so mehr als die damals noch dänische
Anstalt im Norden rasch Ruf und Ansehen gewann, so daß Patienten aus
Schweden und Norwegen sowie besonders aus Kopenhagen und Hamburg
Aufnahme fanden. Jessen studierte in Kiel, Göttingen und Berlin; 1847
wurde er in Kiel zum Dr. med. promoviert und war dann 1847/48 unter
Flemming Assistenzarzt auf dem Sachsenberg bei Schwerin. Sein Vater
hatte 1845 die Privat-Irrenanstalt Hornheim bei Kiel gegründet; nach¬
dem Vater und Sohn diese jahrelang zusammen geleitet hatten, wurde
der Sohn 1875 alleiniger Inhaber.
Im Jahre 1853 wurde Jessen Privatdozent für Psychiatrie und
psychisch-gerichtliche Medizin an der Universität Kiel. 1870 wurde er
zum Mitarbeiter bei dem Provinzial-Medizinal-Kollegium, 1875 zum
Zeitschrift für Psychiatrie. LX1X. 5. 54
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
796
Kleinere Mitteilungen.
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Medizinalrat in demselben und 1893 zum Geheimen Medizinal-Rat er¬
nannt. 1906 schied er aus dem Dozentenköiper der Universität aus. Er
starb am 13. Februar 1912.
Jessen ist in seinem langen Leben öffentlich nicht viel hervorgetreten,
obwohl er vielseitige wissenschaftliche Interessen verfolgte, wie aus dem
Verzeichnis seiner Publikationen im Register des Bandes 38 dieser Zeit¬
schrift hervorgeht. In der Debatte konnte er scharf auftreten, traf aber
meistens den Nagel auf den Kopf. Unter seinen Arbeiten sind einige von
größerer Bedeutung geblieben, z. B. die mit Esmarch gemeinschaftlich
geschriebene Abhandlung über „Syphilis und Geistesstörung“, welche
besonders auch dadurch beachtenswert ist, daß sie die heute so brennende
Tagesfrage „Syphilis und Paralyse“, allerdings unbewußt, erörtert, denn
unter den angeführten Fällen befinden sich einige zweifellose Paralytiker,
doch, dem damaligen (1857) Stande der Psychiatrie entsprechend, noch
nicht als einheitliche Krankheitbilder erkannt, ln einigen Abhandlungen
„Über die Konvulsionen unter den Jansenisten in Paris“, Bd. VII dieser
Zeitschrift, „Über die Inspirierten und Fanatiker von Languedoc 16*>
bis 1780“ (e. 1. Bd. IX), „Bedenken über die angebliche Predigerkrankheit
zu Niedereggen“ Bd. XIV, tritt die schon erwähnte kritische Seite auch
auf historischem Gebiet stark hervor. Mehrere Abhandlungen betreffen
psychisch-gerichtliche Medizin, unter ihnen „Über Zurechnungsfähigkeit"
(e. 1. Bd. XXVII), diese ist auch jetzt noch bedeutungvoll. Mit seinem
Vater zusammen machte er für die IV. Versammlung deutscher Psychiater
in Frankfurt a. M„ September 1864, Vorlagen, welche „Thesen zur gericht¬
lichen Psychiatrie“ in eingehender Weise begründeten (e. 1. Bd. XX).
Jessen hat auch den technischen Einrichtungen der Anstalten sowie der
Frage der Irrenkolonie Interesse gewidmet. Er las und referierte über
ausländische Zeitschriften und über neue Erscheinungen im Gebiete der
Psychiatrie und Psychologie. Das Hauptinteresse aber widmete er ge¬
richtlichen Fragen; 1876 reichte er eine Petition an den deutschen Reichs¬
tag ein in betreff der Entmündigung von Geisteskranken.
Sein wichtigstes Werk „Die Brandstiftungen in Affekten und Geistes¬
störungen, ein Beitrag zur gerichtlichen Medizin für Juristen und Ärzte"
erschien 1860 in Kiel bei Ernst Homann; „Pyromanie“ zu widerlegen,
setzte er sich darin als Ziel. Die Sorgfalt und Klarheit mit der er diese
Aufgabe zu lösen unternahm, machen das Buch noch heute lesenswert.
Kirchhoff.
NekrologBöh me. — Am 4. März 1912 starb im eben vollende¬
ten 61. Jahr der Anstaltsdirektor von Colditz i. Sa., Obermedizinalrat
Dr. Ernst Max Böhme, an Leberkrebs, der zum Glück kein zu langes
Siechtum erforderte. Mit erstaunlichem Mute ging er dem Tode entgegen,
ordnete alle seine Sachen und suchte bis zuletzt den Seinen die Gefahr
zu verheimlichen. Geboren 1851 (Dez.) zu Radeberg bei Dresden, wo sein
Vater praktischer Arzt war, machte er im 14. Lebensjahre einen schweren
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Kleinere Mitteilungen.
797
Typhus durch, der ihm in seinen Folgen lange nachhing. Von 1866—73
besuchte er das Gymnasium zum heiligen Kreuze in Dresden, bezog zu
Ostern die Universität Leipzig und ward 1878 daselbst als praktischer
Arzt approbiert. Im April dieses Jahres ward er als Hilfsarzt an die Landes¬
anstalt Hubertusburg angestellt, und neben seiner Tätigkeit als Psychiater
betrieb er noch eine ziemlich große ärztliche Praxis im Dorfe und in der
Umgegend. 1887 kam er als Anstaltsarzt an die Epileptiker-Anstalt Hoch-
weitzschen, ward 1889 zum Oberarzt (erstem Arzt) und im März 1899
zum Medizinalrate ernannt. Gleich darnach ward er als ärztlicher Vorstand
der Männerabteilung nach der Anstalt Hubertusburg berufen, die er aber
schon am 1. Oktober 1902 verließ, um als Direktor nach Hochweitzschen
zurückzugehen. In gleicher Eigenschaft kam er dann Dezember 1907
nach Colditz und ward 1909 zum Obermedizinalrat befördert. Soweit die
trockenen Daten. Vom Typhus her behielt er offenbar durch sein ganzes
Leben einen sehr schwachen Magen, der ihn zur größten Zurückgezogenheit
und Solidität zwang. Daher beteiligte er sich wenig an Versammlungen
usw. und ist so verhältnismäßig wenigen Kollegen bekannt geworden.
Er besaß äußerst wertvolle Eigenschaften, die ihn namentlich zum Anstalt-
direktor prädestinierten. Er war höflich, gefällig, verstand sehr gut mit
den Leuten und seinen Kranken umzugehen, hatte, trotzdem er nur
wenig gereist war und wenig mit der Welt verkehrte, ein sehr geschärftes
und feines Urteil über seine Mitmenschen und bemühte sich stets gerecht
zu sein. Als praktischer Arzt war er s. Z. sehr gesucht gewesen und zeigte
auch als Direktor überall einen praktischen Blick, der ihn fast immer
das Richtige trefTen ließ. Er war ferner die personifizierte Gewissen¬
haftigkeit und wirkte so entschieden erzieherisch auf seine Umgebung.
Die schon früher angebahnten Verbesserungen der alten Anstalt durch
Umbauten im Innern brachte er zu einem gewissen Abschlüsse. Im schrift¬
lichen Verkehr mit den Behörden zeigte er sich gewandt und allen An¬
forderungen gewachsen. Daß er sich mit seinen Ärzten gut stand, ver¬
steht sich von selbst. Ganz im Anfang seiner Karriere hat er auch einige
wissenschaftliche Arbeiten geliefert. Ehre seinem Andenken! Näcke.
Personalnachrichten.
Dr. Paul Näcke, Med.-Rat u. Prof., bisher in Hubertusburg ist zum
Direktor der Landesanstalt Colditz,
Dr. Friedr. Ungemach, Oberarzt in Eglfing, zum Direktor der unter-
fränkischen Kreisanstalt Lohr,
Dr. Ad. Schmidt, Oberarzt in Altscherbitz, zum Direktor der neuen
Landesanstalt Pfafferode bei Mühlhausen i. T.,
Dr. Leop. Oster, Med.-Rat, Oberarzt in Illenau, zum Direktor der noch
im Bau befindlichen badischen Anstalt zu Reichenau bei
Constanz ernannt worden.
Dr. Hans Weyermann ist als Oberarzt von Werneck nach Lohr,
Dr. Im. Hoff mann als Oberarzt von Altscherbitz nach Pfafferode,
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UMIVERSITY OF MICHIGAN
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Kleinere Mitteilungen.
Dr. Rud. Großmann als Oberarzt von Nietleben nach Altscherbitz,
Dr. Herrn. Bockhorn als Oberarzt von Uchtspringe nach Nietleben,
Dr. Arth. Ketz als Oberarzt von Conradstein nach Sch wetz und
Dr. Ernst Brückner als Oberarzt von Hamburg - Friedrichsberg nach
Langenhorn versetzt worden.
Dr. Carl Schmidt in Altscherbitz und
Dr. Ad. Hug. Hasche-Klünder in Hamburg-Friedrichsberg sind zu Ober¬
ärzten befördert worden.
Dr. Emil Jach in Altscherbitz wurde Oberarzt in Pfafferode,
Dr. Kurt Schröder in Altscherbitz Oberarzt in Uchtspringe,
Dr. Fritz Ast in Eglfing Oberarzt in Haar,
Dr. Paul Reiß in Bayreuth Anstaltsarzt in Ansbach.
Dr. Paul Langer, ordentl. Arzt in Jerichow, wurde nach Altscherbiti
versetzt.
Dr. Mart. Pappenheim, bisher in Heidelberg, hat sich als Nervenarzt in
Bad Reichenhall niedergelassen.
Dr. Paul Schröder, Prof., und
Dr. Franz Kramer, Prof., bisher in Breslau, haben sich an der Universität
Berlin habilitiert.
Dr. Gusu Rabbas, San.-Rat, Dir. d. Prov.-Anstalt Neustadt, W.-Pr., ist
zum Medizinalrat,
Dr. Ad. Schmidt, Dir. der Landesanstalt Pfafferode,
Dr. Rud. Großmann, Oberarzt in Altscherbitz, und
Dr. Rud. Wahrendorff, dirig. Arzt der Privatanstalt Ilten, sind zu S a n i t ä t s-
räten ernannt worden.
Dr. Heinr. Schüle, Geh.-Rat, Dir. von Illenau, ist zum Ehrenmitglied des
badischen staatsärztlichen Vereins gewählt worden.
Dr. Gusu Flügge, Dir. der Prov.-Anstalt Bedburg, hat den Roten
Adlerorden 4. Klasse,
Dr. Albr. Pätz, Geh. Sanitätsrat, Dir. von Altscherbitz, den Kronen¬
orden 3. KL
Dr. Alfons Schäfer, Med.-Rat, Dir. des Genesungshauses in Roda, das
Ritterkreuz 2. KL des Ernestinischen Hausordens und
Dr. Emil Krimmel, Med.-Rat, Dir. d. Landesanstalt Zwiefalten, das Ritter¬
kreuz 1. Kl. des Friedrichsordens erhalten.
Dr. WiUers Jessen, Geh. Med.-Rat u. ehern. Dir. der früheren Privatanstalt
Hornheim bei Kiel, ist am 13. Februar d. J. im 89. Lebensjahre,
Dr. Max Böhme, Obermed.-Rat u. Dir. der Landesanstalt Colditz, am
4. März im 62. Lebensjahre gestorben.
Dr. Max Schönfeldt, Dir. d. Privatanstalt Atgasen bei Riga, ist am 19. Juli,
51 Jahre alt, von einem Geisteskranken erschossen worden.
Dr. Anton Gutsch, Strafanstaltsarzt a. D., ist im 88. Lebensjahre am
26. Juli in Karlsruhe,
Dr. August Cramer, Geh. Med.-Rat u. Prof, in Göttingen, am 5. September,
fast 52 Jahr alt, gestorben.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Über den Einfluß des Abdominaltyphus auf be¬
stehende geistige Erkrankung.
Von
Dr. Wern. H. Becker, Oberarzt an der Landesirrenanstalt Weilmünster
in Nassau.
Daß Psychosen durch interkurrierenden Unterleibstyphus sich
bessern, ist schon öfter beobachtet worden. Kraepelin 1 sagt darüber:
„In einer kleinen Anzahl von Fällen hat man das Eintreten psychischer
Genesung während oder nach einer fieberhaften Erkrankung (nament¬
lich Typhus, Erysipel, Intermittens).beobachtet. Am häufig¬
sten handelte es sich dabei natürlich um verhältnismäßig frische Er¬
krankungen, Melancholie, Manie, Amentia der Autoren, aber bisweilen
tritt die günstige Wendung auch nach längerer Dauer und in an¬
scheinend aussichtlosen Fällen ein.“. Ziehen * erinnert daran,
daß Typhus gleich anderen akuten fieberhaften Erkrankungen ge¬
legentlich eine „Spätheilung“ auszulösen vermag. Andere Lehr¬
bücher übergehen die Frage, die sonst in der Literatur schon häufiger
angeschnitten worden ist. Ich jitiere nur einige Bekanntgebungen
jüngeren Datums.
Direktor Frölich -Königsfelden * schreibt im Mai dieses Jahres:
„Wir haben dann dies Jahr auch wieder einmal eine günstige Be¬
einflussung der Psychose durch die Infektionskrankheit erlebt. Es handelt
sich um eine Frau, die vor einem Jahre in ganz akuter Weise in Form
der Verwirrtheit an Dementia praecox erkrankt war, und die dann im
Laufe des Typhus immer klarer wurde und bald nach der Genesung von
der körperlichen Krankheit auch psychisch als genesen entlassen werden
konnte. Wenn man nun auch berücksichtigt, daß es sich hier um einen
prognostisch nicht ungünstigen Fall von Dementia praecox handelte
so darf man bei aller kritischen Zurückhaltung doch annehmen, daß
die akute Infektionskrankheit den Heilungsvorgang bei der Psychose
eingeleitet und beschleunigt hat. Bei den alten Fällen von Dementia
^«iUchrift tttr Psychiatrie. LXIX. 6.
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hallen immer noch ruhig, geordnet,
freundlich und lenksam.“
April 1908: „Patientin war seit-
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Lebensjahr (im |l2.Novemberl900|katatonischeForm| bemerkbar, setzte jetzt mit dem
Ober den Einfluß des Abdomin<yphus usw.
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Becker
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
nicht zur Entlassung ge-
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806
Becker,
praecox, die in den letzten Jahren Typhus durchmachten, konnten wir
nie eine günstige Beeinflussung der Psychose beobachten.“
Und das Kgl. Medizinalkollegium Württembergs schreibt im Jahre
1910 aus Winnenthal 4 :
„Ein schon seit Jahren schwer melancholisch Deprimierter, dessen
Ernährung während des Typhus auf besonderen psychischen Widerstand
gestoßen war, ist so erheblich freier geworden, daß seine Beurlaubung
für absehbare Zeit in Aussicht genommen werden kann. Bei zwei Defekt-
zuständen vom Charakter der Dementia praecox hat sich die Sperrung
der psychischen Vorgänge teilweise gelöst, so daß sie aus bettlägrigen
Pfleglingen mit allerlei unangenehmen Stereotypien jetzt zu brauchbaren
Arbeitern geworden sind, die mit der Zeit auch vielleicht dem bürgerlichen
Leben zurückgegeben werden können.“
Auch OmoroTcow 6 sah die Besserung, besonders akuter, Psychosen:
Melancholie, Manie, Amentia, seltener Dementia praecox. Den größten
Einfluß schreibt auch er neben dem Erysipel dem Typhus zu.
Im Gegensatz dazu konnte Krell 6 keinen wesentlichen Einfluß
auf den Verlauf der geistigen Störungen durch interkurrenten Ab¬
dominaltyphus feststellen, und er knüpfte daran den m. E. etwas
kühnen Schluß:
„Anscheinend hat es sich übrigens bei verschiedenen in der Literatur
angeführten Fällen von posttyphösen Besserungen um periodische
Störungen gehandelt.“
Sollten wirklich Psychiater wie Kraepelin und Ziehen sich so
haben düpieren lassen? — Das ist doch kaum anzunehmen.
Mich eingehend mit der in Rede stehenden Frage beschäftigend,
habe ich in diesem Frühjahr die ärztlichen Akten der Landesirren-
anstalt Weilmünster daraufhin durchgesehen und mir über jeden
einzelnen Fall Notizen gemacht. Bei der Aufstellung einer tabellarischen
Übersicht konnte ich das gewonnene Material in 5 große Tabellen
unterbringen. Dieser große Umfang schien mir indes die Aufnahme
der Arbeit in diese Zeitschrift in Frage zu stellen, und ich habe mich
deshalb begnügt, die 10 wichtigsten Fälle auszulesen und in einer
neuen Tabelle (siehe S. 800—805) zusammenzufassen.
Der Abdominaltyphus ist im Jahre 1897 gleich nach Eröffnung
der Anstalt in den ersten Monaten hier eingeschleppt worden und
dann — vermutlich meist durch Bazillenträgerinnen x ) fortgepflanzt —
D Zurzeit weilt ein bakteriologisch vorgebildeter Arzt hier zwecks
Eruierung der Bazillenträger, von denen bereits drei (weibliche) gefunden
und in einer Isolierbaracke untergebracht worden sind.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Ober den Einfluß des Abdominaltyphus nsw.
807
nach bald längeren, bald kürzeren Zwischenräumen immer wieder
aufgeflackert. Bei den Geisteskranken fand ich im ganzen 82 Fälle,
von denen 22 letal endigten. Bei diesen Todesfällen sind allerdings
alle Fälle mitgerechnet, die an Pneumonie, an „schlechtem“ Herzen
usw. zugrunde gingen oder die einer Nachkrankheit zum Opfer fielen *).
Die übrigen 60 Fälle *) verteilten sich auf die einzelnen Kranheit-
gruppen und auf die je nach dem Grad der psychischen Besserung
auf gestellten drei Rubriken folgendermaßen:
Psychiatrische Diagnose
Rubrik I.
Fälle ohne
wesentliche
Besserung:
Rubrik II.
Fälle von
länger als
einige Wo¬
chen dauern¬
der deutlioh
wahrnehm¬
barer Besse¬
rung
Rubrik HL
Fälle von
Besserung
bis zur Ent¬
lassung¬
fähigkeit
Paranoia-Gruppe
9
—
—
nicht näher diagnostiziert
3
—
—
Dementia prae-
Hebephrenie
Katatonie
6
8
i
4
2
1
cox-Gruppe
Spätkatatonie
1
Paranoid
3
1
2
rnach unbekannter primärer
Dementia
Psychose
1
—
—
secundaria
nach Puerperalpsychose
1
—
—
nach Melancholie
1
1
—
Manisch-depressives Irresein
2
1
1
arteriosclerotica
1
—
i —
Dementia
praesenüis
1
—
—
senilis
1
—
—
Akute primäre Demenz
1
—
—
Idiotie
3
—
—
Epilepsie
1
—
—
Progressive Paralyse
3
—
—
*) Eine Patientin starb z. B. nach überstandenem Abdominal¬
typhus. Bei der Sektion fanden sich die Typhusgeschwüre fast verheüt,
als Todesursache eigab sich eine frische Peritonitis, die von der vereiterten
und perforierten Gallenblase ausgegangen war. Solche Fälle sind also
in obige 22 mit eingerechnet und erklären neben anderen Umständen
(zeitweise schwerer genius loci, Unreinlichkeit Geisteskranker, Nicht -
erkennung des Prodromalstadiums bei stumpfen Patienten usw.) den
hohen Prozentsatz.
•) Sämtlich bakteriologisch einwandfrei als Typhusfälle festgestellt.
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808
Becker,
Die Diagnosen sind nicht nach einem einheitlichen Gesichts¬
punkt gestellt. Es liegt das daran, daß die Fälle sich über 15 Jahre
verteilen, und daß ferner die Patienten zum Teil aus fremden Anstalten
zu uns kamen; die dort gestellte Diagnose wurde dann meist nicht
mehr geändert.
Dem Geschlecht nach war die Verteilung ungleich: ich fand
50 Frauen, aber nur 10 Männer. Das erklärt sich offenbar aus der
erhöhten Disposition der Frauen, Dauerausscheider zu werden, was
ja auch Neißer 7 bestätigt fand. Nebenbei bemerkt sei nur, daß ich
eine bedeutende Verschlimmerung bestehender oder latenter Lungen¬
phthise durch den Typhus mehrfach bemerkte. Sodann sah ich auf¬
fallend viele Dementia praecox-Kranke, die ja an sich schon mehr
weiblichen Geschlechtes zu sein pflegen, an Typhus erkranken, was
sich wohl daraus erklärt, daß beide Erkrankungen vorwiegend das
jugendliche Lebensalter befallen. Es mag nun wundemehmen, daß
die von anderen Autoren betonten akuten Krankheiten, wie Manie,
Melancholie, Amentia usw. so wenig bei uns vom Typhus betroffen
wurden. Das liegt aber an unserem Krankenmaterial, das nicht nur
wenig fluktuiert, sondern auch etwa zur Hälfte aus Fällen besteht,
die vorher in anderen Anstalten (Beobachtungstationen und Kliniken)
untergebracht waren. So entfallen unsere wesentlich gebesserten
Fälle fast ausschließlich in die Kategorie der Dementia praecox, die
nach meinen Erfahrungen zweifellos die Neigung hat, sich durch
Typhus zu bessern. Hatte ich doch in 17,4% meiner Dementia praecox-
FäUe eine „Besserung bis zur Entlassungfähigkeit“ 1 ) und gar 34,4°;,
Besserungsfälle, wenn Fälle mitgerechnet werden, die für einige
Monate eine deutliche Besserung zeigten.
Noch günstiger wird das Resultat, wenn ich nur die Fälle von
Dementia praecox berücksichtige, die noch nicht länger als 6 Jahre
bestanden; denn dann finde ich von 16 Fällen 5 entlassungfähige,
4 wesentlich gebesserte und nur 7 ungebesserte, von denen man bei
3 auch noch von einer „Besserung von einigen Wochen Dauer“ hätte
reden können, falls man diese Rubrik eingeschoben hätte, im Gegen¬
satz dazu blieb die Psychose ganz unbeeinflußt, wenn Idiotische
x ) Ich spreche absichtlich von „Besserung bis zur Entlassung -
fähigkeit“, nicht von „Heilungen“, damit nicht der Anschein erweckt
wird, als ob ich „Dauerheilungen“ im Auge hatte.
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Original fro-m
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Über den Einfluß des Abdominaltyphns usw.
809
typhös erkrankten; ganz erklärlich. Auch die Paralyse, die chronische
Paranoia und die Epilepsie besserten sich höchstens bis zu einigen
Wochen. Auffallend ist, daß die 4 Fälle von manisch-depressivem
Irresein sämtlich sich besserten, denn auch die 2 unter Rubrik I ver-
zeichneten Fälle ließen für einige Wochen eine Remission erkennen,
daß hingegen die senilen Geistesstörungen absolut unbeeinflußt blieben.
Das Lebensalter spielt eben eine wichtige Rolle bei dieser Frage. Ich
fand in Rubrik I (ungebesserte Fälle und Fälle von Besserung bis
zu höchstens einigen Wochen) bei den 46 Fällen ein Durchschnitts¬
alter von 41 % Jahren, in Rubrik II bei den 8 Fällen merklicher und
längerer Besserung ein solches von 33 y 2 und in Rubrik III bei den
bis zur Entlassungfähigkeit gebesserten 6 Fällen ein solches von
27*/ 3 Jahren.
Ähnliche Resultate erhalten wir, wenn wir in den einzelnen Rubriken
die Durchschnittsdauer der Psychose bis zum Ausbruch des Typhus
vergleichen. Da haben wir in Rubrik I eine durchschnittliche Dauer
der Geisteskrankheit von 12,4 Jahren, in Rubrik II eine solche von
etwa 8% Jahren und in Rubrik III eine solche von weniger als 5 Jahren.
Nun noch ein paar Worte zu den von mir wiedergegebenen 10
Krankengeschichten in der Tabelle. Sie gehören sämtlich zu den in
Rubrik II und III genannten Fällen mit Ausnahme des Falles 6, den
ch als nur gering gebessert der Rubrik I zugerechnet habe; Fall 3, 4, 8
und 9 fallen in Rubrik II, Fall 1, 2, 5, 7 und 10 in die Rubrik III.
Die Fälle von manisch-depressivem Irresein und die Testierenden
5 Fälle von Dementia praecox bieten kein solches Interesse mehr,
laß ihre ausführliche Wiedergabe sich gelohnt hätte. Wert der Auf-
lahme in die Tabelle schienen mir hauptsächlich die Fälle zu sein,
lie während und nach der typhösen Erkrankung besonders eingehend
bezüglich ihres Geisteszustandes beobachtet worden waren, und deren
Krankengeschichten — letztere sind natürlich auch nur auszugweise
wiedergegeben — bezüglich unseres Themas besonders instruktiv
su sein schienen.
Ich fasse meine Resultate folgendermaßen zusammen:
1. Es ist berechtigt, in der psychiatrischen Wissenschaft die
Möglichkeit und das nicht selten tatsächliche Vorkommen von Besserung
ler geistigen Störungen durch interkurrierenden Abdominaltyphus
ils feststehend anzunehmen.
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810
Becker, Ober den Einfluß des Abdominaltyphus usw.
2. Dieses Ereignis ist von 3 Faktoren abhängig: a) von der Art
der Psychose, b) von dem Lebensalter, c) von der Dauer der psychischen
Erkrankung bis zum Ausbruch des Typhus.
3. Idiotie, Epilepsie, Paralyse [hier muß ich z. B. Fischers 8 An¬
sicht völlig beipflichten] und die senilen Geistesstörungen bleiben
fast ganz unbeeinflußt; Dementia praecox dagegen wird sehr oft
gebessert, in manchen Fällen bis zur Entlassungfähigkeit; das man'scfc-
depressive Irresein entzieht sich wegen seines an sich schon periodischer,
und zirkulären Charakters einstweilen noch der Beurteilung; über
andere funktionelle Psychosen fehlt mir das Material zum Urteil
Literatur.
1. Kraepelin, Psychiatrie, 8. Auflage, Leipzig 1909.
2. Ziehen, Psychiatrie, 4. Auflage, Leipzig 1911.
3. Jahresbericht der kantonalen Heil- und Pflegeanstalt Königsfelde:
(Aargau) 1911, Brugg 1912.
4. Bericht über die im Kgr. Württemberg bestehenden Staats- und Privat
anstalten für Geisteskranke usw. für das Jahr 1908, Stuttgar
1910.
5. Omorohow, Über die günstige Wirkung interkurrenter Infektion;
krankheiten auf den Verlauf von Psychosen, Obosrenje psi
chiatrii Nr. 6, 1909.
6. Krell, Typhus in Großschweidnitz, Psychiatrisch-neurologische Wochen
Schrift Nr. 9 u. 10, 1909/10.
7. Neißer, Die Bedeutung der Bazillenträger in Irrenanstalten, Referat,
erstattet auf dem IV. internationalen Kongreß zur Fürsow
für Geisteskranke zu Berlin am 6. Oktober 1910.
8. Fischer in der Diskussion zu Meyers und Spielmeyers Vorträgen (,,!'»
Behandlung der Paralyse“) auf dem diesjährigen Psychiater
kongreß am 31. Mai in Kiel.
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Über die Sterblichkeit, die Todesursachen und die
Sektionsbefunde bei Epileptikern.
Von
Dr. R. Hahn in Hochweitzschen.
Soweit die Epileptiker im Königreich Sachsen staatlicher
Fürsorge unterstellt werden, gelangen sie seit dem Jahre 1891 fast
ausschließlich in der Landesanstalt Hochweitzschen zur
Unterbringung. Die Zahl der hier Verpflegten schwankte alljährlich
zwischen 222 bis 377 weiblichen und 310 bis 528 männlichen Kranken;
jetzt — im April 1912 — beläuft sich der Bestand auf 371 weib¬
liche und 451 männliche Kranke; im Durchschnitt dürften sich
innerhalb der letzten 21 Jahre andauernd etwa 300 weibliche und
gegen 420 männliche, also insgesamt gegen 720 Kranke zur Behand¬
lung und Pflege in der hiesigen Anstalt befunden haben.
In klinisch-ätiologischer Beziehung handelt es sich bei diesem
Krankenmaterial in mindestens 80—90% der Fälle um Formen echter
genuiner oder idiopathischer Epilepsie, in einigen wenigen Fällen ohne
die weiteren psychischen Komplikationen, in der überwiegenden Mehrzahl
ler Fälle aber verbunden mit Zuständen angeborener oder im Verlaufe
ier Krankheit erworbener geistiger Abschwächung mehr oder minder
erheblichen Grades, zum Teil auch kompliziert durch chronische Psychosen
ind andere psychopathische Zustände, wie sie auf dem Boden der somatisch-
psychischen Degeneration so leicht zu erwachsen pflegen. Formen sym¬
ptomatischer Epilepsie mit sicher nachweisbarer Ätiologie oder schon
m Leben sicher festzustellendem anatomischen Gehirnleiden bilden unter
len hier zur Aufnahme gelangenden Krampfkranken stets nur eine ver¬
schwindende Minderheit. Immerhin wird man bei den Sektionen nicht
illzu selten durch palpable Gehirnbefunde überrascht, die man nach dem
riinischen Bilde, unter dem die Epilepsie verlief, nicht vermuten konnte,
jftßt sich doch die symptomatische, ätiologisch oder anatomisch mehr
»der minder wohl charakterisierte Epilepsie ihrem Verlaufe nach nicht
rnmer scharf und deutlich von der genuinen Epilepsie abgrenzen, und
verlaufen viele dieser Fälle, bei denen die Sektion Rindenläsionen, Arterio-
kJerose, Dementia paralytica, Lues, Tumor, Cysticercus cerebri u. ä. m.
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Original from
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812
Hahn,
ergibt, doch durchaus unter dem Bilde einer genuinen Epilepsie, ganz
zu schweigen von den zahlreichen, auf Mißbildungen oder entzündlichen
Erkrankungen des Gehirns usw. beruhenden Formen, die bei genauerer
Feststellung aller klinisch hervortretenden Krankheiterscheinungen die
anatomische Gehirndiagnose oft schon im Leben ermöglichen. Dazu
gesellen sich die Fälle symptomatischer Epilepsie, bei denen man toxische
Einflüsse oder sonstige Schädigungen als ätiologischen Faktor mit mehr
oder minder großer Bestimmtheit voraussetzen darf, z. B. Traumen,
Lues, chronischer Alkoholismus, chronische Nephritis u. dgL m. Fällt
dieser Art pflegen, auch wenn sie schon im Leben richtig erkannt wurden
zu weiterer Behandlung in der hiesigen Anstalt beibehalten und in den
statistischen Aufstellungen einfach als Epileptiker aufgeführt zu werden,
während Kranke, bei denen echte epileptische Krampfanfälle fehlen
oder irrigerweise angenommen worden waren, z. B. Hysterische ode:
Katatoniker mit konvulsionären Zuständen, nach Ermittlung der zu
treffenden Diagnose zur Entlassung oder zur Überweisung in die ihren
Wohnsitze entsprechende Irrenanstalt gelangen. Ganz besonders ist d*
der Fall bei den als Dementia paralytica erkannten Krankheit zu standen
Das Material der hiesigen Anstalt setzt sich daher fast ausschließlich
aus Kranken zusammen, die man dem Charakter der bei ihnen vom?
weise hervortretenden Krankheiterscheinungen entsprechend als eehtt
Epileptiker zu bezeichnen berechtigt ist, wennschon sie, nach ätiologisches
und pathologisch-anatomischen Gesichtspunkten gruppiert, wohl zun
größten Teil der idiopathischen, zu einem Teile aber auch der sympte
matischen Epilepsie zuzuweisen sind.
Daß ein so beschaffenes Krankenmaterial ganz besonders geeignet
erscheint, über einige die Mortalität der Epileptiker betreffende Frag«
Aufschluß zu geben, liegt auf der Hand, ln den meisten Abhand¬
lungen über Epilepsie pflegen darüber indessen nur spärliche Be¬
merkungen enthalten zu sein. Trotz vielseitiger und eingehender
Erfahrungen sprechen sich die verschiedenen Autoren oft sehr unter¬
schiedlich über die Frage der Lebensdauer der Epileptiker und übe:
die Ursachen ihres Todes aus; es mangelt no«h durchaus an umfäng¬
licheren statistischen Erhebungen, um die verschiedenen sich hi«
aufdrängenden Fragen einer Lösung näher zu führen. Es erschie:
daher nicht überflüssig, das gesamte Material der hiesigen Anstalt
einer eingehenden Durchsicht zu unterwerfen und nachzuprüfea
inwieweit die in der Literatur enthaltenen Angaben über die Mortalität
der Epileptiker, über die Ursachen ihres Todes und andere bei dei
Sektion zu erhebende bemerkenswerte Befunde nach den Ergebnisse
dieser Untersuchungen Bestätigung finden oder einer Korrekte
zu bedürfen scheinen.
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Die Sterblichkeit, Todesursachen und Sektionsbefunde bei Epileptikern. 813
Schon über die Frage der bei den Epileptikern tatsächlich auf’ i
tretenden Sterblichkeit ist es schwer, aus den in der Literatur
enthaltenen wenigen Angaben ein einigermaßen zuverlässiges Urteü
zu gewinnen.
Bvazard stellte, wie Gocvers anführt, unter 2828 in einem Zeiträume
von 34 y 2 Jahren im allgemeinen Krankenhause für Gelähmte und Epi¬
leptiker zu London zur Behandlung gelangten Fällen von Epilepsie
38 Todesfälle fest. Nach Heimann starben in den preußischen Irrenanstalten
von 100 wegen „Seelenstörung mit Epilepsie“ behandelten im Jahres¬
durchschnitt 1876—1879 9,0 männliche und 7,9 weibliche Kranke, während
die entsprechenden Ziffern für den Jahresdurchschnitt 1880—1891 8,3
und 7,4 und für den Jahresdurchschnitt 1892—1897 6,6 und 6,7 lautem
Aus den in den offiziellen Berichten der Stadt Berlin über die Anstalt
Wuhlgarten enthaltenen Angaben läßt sich für die letzten 10 Jahre
eine zwischen 4% bis 6% schwankende Sterblichkeit herausrechnen.
Wie sich die Sterblichkeitsverhältnisse während des Zeitraumes
von 1891—1911 in der hiesigen Anstalt gestalteten, ergibt sich aus
Tabelle L
Tabelle I: Sterblichkeit.
Es starben im
Jahre
männliche
Kranke
weibliche
Kranke
insgesamt
Prozente
1891
36
5
41
5,7
1892
24
12
36
5,2
1893
18
23
41
5,8
1894
15
10
25
3,7
1895
16
5
21
3,6
1896
6
8
14
1.9
1897
9
6
15
1,8
1898
5
4
9
1,2
1899
8
20
28
3,2
1900
13
13
26
3,3
1901
12
7
19
2,4
1902
12
9
21
2,6
1903
13
6
19
3,7
1904
9
9
18
2,6
1905
11
13
24
3,6
1906
14
5
19
2,6
1907
15
5
20
2,6
1908
25
7
32
4,2
1909
19
17
36
4,7
1910
27
12
39
5,2
1911
25
9
34
4,3
insgesamt
882
205
537
3,5
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Original fro-m
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814
Hahn,
Die Gesamtzahl der vom Jahre 1891 bis zum Jahre 1911 einschliefi*
lieh verstorbenen Kranken belief sich darnach auf 537, und zwar gingen
332 m. und 205 w. Kranke innerhalb dieser 21 Jahre mit Tod ab. Da
nun die Zahl der während dieses Zeitraums alljährlich hier verpflegten
Epileptiker im Durchschnitt gegen 300 w. und 420 m., insgesamt also
etwa 720 Kranke betrug, so berechnet sich der Prozentsatz der Mortalität
überhaupt auf 3,5%, und zwar belief sich die Sterblichkeit bei den m.
epileptischen Kranken auf 3,7%, bei den w. dagegen auf 3,2%. Die
Schwankungen während der einzelnen Jahre, auf die Gesamtzahl der im
Durchschnitt jeweilig hier Verpflegten bezogen, ergibt sich aus oben*
stehender Tabelle.
Zieht man in Erwägung, daß die Sterblichkeit in den verschiedenen
Kulturstaaten nicht unerheblichen Schwankungen unterliegt, und
daß die Mortalität der Gesamtbevölkerung eines Landes nur selten
unter 2% herabgeht, meist aber den Wert von 2% überschreitet,
so wird man die Sterblichkeit der Epileptiker, die doch die Mortalität
in der Bevölkerung des Deutschen Reiches z. B. nur um
ein mäßiges übersteigt, als hoch nicht bezeichnen können. Es bestätigt
sich damit, was Gowers , Oppenheim u. a. betonen, ohne freilich be¬
weisende Zahlen beizubringen, daß die Lebensgefahr für die mit
Epilepsie behafteten Kranken an sich nicht allzu groß ist. Soweit
es sich um Verhältnisse im Königreich Sachsen handelt, blieb
die Sterblichkeit in der Epileptikeranstalt auch stets wesentlich
zurück hinter der Mortalität, wie sie in den ausschließlich zur Auf-
t nähme für nicht epileptische Geisteskranke bestimmten Anstalten
auf trat: unter 5% des durchschnittlichen Gesamtbestandes ging sie
hier auch unter den günstigsten Verhältnissen nie herab; meist aber
betrug sie über 7%, ja erreichte oft noch wesentlich höhere Werte.
Dabei machte sich stets eine auffällige Differenz zwischen der Sterb¬
lichkeit bei den m. und derjenigen der w. Verpflegten geltend, und
zwar stieg sie dort nicht selten auf über 10% des durchschnittlichen
Krankenbestandes an, während sie hier immer um 2—5% niedriger
blieb. Man wird indessen kaum fehlgehen, wenn man annimmt, daß
die in den Irrenanstalten zu beobachtende höhere Sterblichkeit in der
Hauptsache auf die hier so zahlreich ins Gewicht fallenden Todesfälle
der an Dementia paralytica Erkrankten zurückzuführen ist; die größere
Häufigkeit der progressiven Paralyse bei den Männern dürfte gewiß
auch die höhere Sterblichkeit bei diesen den weiblichen Kranken
gegenüber zur Folge haben. Ohne die Paralytiker würde die Sterb-
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Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die Sterblichkeit, Todesursachen und Sektionsbefunde bei Epileptikern. 815
lichkeit wohl auch in den Irrenanstalten kaum nennenswert diejenige
der Gesamtbevölkerung eines Landes übersteigen; das ergibt sich
auch aus den statistischen Feststellungen Heimanna über die Sterb¬
lichkeit in den preußischen Irrenanstalten für die Jahre 1876 bis 1897.
Wenn aber die Lebensgefahr für die Epileptiker an sich auch
gewiß nicht groß ist, so erhebt sich immerhin noch die Frage, ob sie
nicht doch in relativ jungen Jahren ihrem Leiden erliegen.
Oppenheim z. B. vertritt die Anschauung, daß ein nicht geringer
TeU der Epileptiker vorzeitig stirbt; Binstvanger hält es auf Grund statisti¬
scher Berechnungen für festgestellt, daß die Epileptiker im Durchschnitt
kein hohes Alter erreichen, und auch sonst wird in fast allen Abhand¬
lungen übereinstimmend betont, daß die Epilepsie die Lebensdauer ab-
kürzt. Genauere Angaben vermißt man zumeist jedoch, oder die vereinzelt
mitgeteilten Ziffern stützen sich auf ein so kleines Beobachtungsmaterial,
daß bindende Schlüsse nur mit Vorsicht daraus gezogen werden können.
Köhler, der bei einer Gesamtzahl von 121 Epileptikern der Anstalt
Hubertusburg 19 Todesfälle fand, berechnet das Durchschnittsalter
der Lebenden auf 26,4 Jahre und gibt an, daß bis zum 30. Lebensjahre
57,6%, vom 30. Jahre ab aber 42,9% der Epileptiker starben. Er kommt
zu dem Schlüsse, daß die Lebensdauer der Epileptiker geringer ist als
bei anderen Gehirnkranken, und zwar stürben die epileptischen Irren
durchschnittlich um 9 Jahre früher als die nicht epileptischen und die
übrigen Epileptiker 7 Jahre früher als die Nicht-Epileptiker; während
bis zum 25. Jahre namentlich das m. Geschlecht gefährdet sei, sei in den
späteren Jahren mehr das w. Geschlecht dieser Lebensverkürzung aus¬
gesetzt. Nach Habermaas' Ermittlungen waren unter den 937 Epileptikern
der Anstalt Stetten aus den Jahren 1869—1898, über die er berichtet,
66,6% der noch Lebenden über 20, 30,2% über 30, 11,3% über 40 und
nur noch 4,5% über 50 Jahre alt. Die mit Tod abgegangenen 166 Epi¬
leptiker erreichten ein Durchschnittsalter von 25 Jahren, 72% starben
vor Ablauf des 30. Lebensjahres und 2,8% wurden über 50 Jahre alt.
Unter Zugrundelegung der Fierord/schen Tabellen spricht er sich dahin
aus, daß die Sterblichkeit unter den Epileptikern bis zum 11. Lebensjahre
so ziemlich den normalen Verhältnissen entspricht, während sie dieselben
im 15. Lebensjahre um das vierfache übersteige, im 20. Lebensjahre das
loppelte betrage, im 21. Lebensjahre trete wieder eine Steigerung auf
las dreifache ein; dann halte sie sich bis zum 25. Lebensjahre auf doppelter
iöhe, erreiche im 30. Jahre annähernd normale Verhältnisse, sinke von
la ab immer tiefer unter den Durchschnitt und betrage im 50. Jahre nur
toch ein Zehntel.
CJm Vergleiche anstellen zu können, wurden im April 1912 die
dtersverh<nisse der zum Bestände der hiesigen Anstalt gehörigen
Zeitschrift fttr Pavohiatrie. LXIX. 6.
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Original fro-m
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816
Hahn.
und der seit 1891 hier verstorbenen Kranken — insgesamt 547 —
genau ermittelt und in Tabelle II verzeichnet.
Tabelle II: Altersverhaltnisse.
Alter
der lebenden Kranken
männlich 1 weiblich
insgesamt
der gestorb. Kradken
männlich weiblich
insgesamt
5—10J.
| 7 = 1,5%
3= 0,8%
10= 1,2%
| 2= 0,5%
3= 1,4%
5= 0,9
10—15 ,,
38= 8,4%, 27= 7,2%
65= 7,9%
18= 5,3% 10= 4,7%
28= 5.1
15-20 „
57=12,6%
; 28 = 7,5%
85=10,3%
28= 8,2%
15= 7,1%
43 = 7,6
20—30 „
115=25,4%
88 =23,7%
203=24,6%
81 =23,9%
44=21,0%
125 =22.*
30—40 „
120=26,6%
94=25,3%
214=26,0%
86=25,4%
58 =27,7 %
144 =26.3
40—50 „
65=14,4%
85=22,9%
150=18,2%
55=16,2%
47 =22,4%
102 =18.6
50—60 „
39= 8,6% 35= 9,4%
74= 9,0%
36=10,6%
20= 9,5%
56 =10.2
60—70 „
10= 2,2%,
5= 1,3%
15= 1,8%
25= 7,3%
9= 4,3%
34 = 6J
über70 „
j
6= 1,6%
6= 0,7%
7= 2,0%
3= 1,4%
10= IS
insges.
451 !
i
371
822
338
209
547
Das Durchschnittsalter der lebenden, teils hier aufhältlichen, teils
„auf Urlaub“ befindlichen 451 m. Kranken berechnet sich darnach auf
31,7, das der 371 w. Kranken auf 34,6, das Durchschnittsalter der noch
lebenden 822 Kranken überhaupt auf 33 Jahre, während sich als Durch¬
schnittsalter für die verstorbenen 338 m. Kranken 37,5, für die verstorbenen
209 w. Kranken 36,1, für die hier verstorbenen 547 Kranken überhaupt
36,3 Jahre ergeben. Bis 20 Jahre alt waren vom noch lebenden Kranken-
bestande 102 = 22,6% m. und 58 = 15,6% w., insgesamt 160 = 19,4%
Kranke; bis zum 20. Jahre verstarben 48 = 14,6 % m. und 28 = 13,3 % w.,
insgesamt 76 = 13,8% Kranke. In welcher Weise sich die Verhältnisse
für die nachfolgenden Jahre gestalten, ist aus Tabelle III zu ersehen.
Tabelle III: Altersverhältnisse.
Alter
Jahre
der lebenden Kranken
männlich 1 weiblich
insgesamt
derverstorb. Kranken
männlich : weiblich
-
msgesan
üb. 20 J
„ 30„
„ 40„
>, 50,,
ff 60,,
ff 70,,
349 =77,3% 313=84,3%
234 =51,8% 225=60,6%
114 =25,2% 131 =35,3%
49=10,8% 46=12,3%
10= 2,2% 11= 2,9%
- j 6= 1,6%
662 =80,5%
459=55,8%
245=29,8%
95=11,5%
21= 2,5%
6= 0,7%
290=85,7% 181 =86,6%
209=61,8% 137 =65,5%
123=36,3% 79 =37,7%
68=20,1 % 32=15,3%
32= 9,4% 12= 5,7%
7= 2,0% 3= 1,4%
471 =86.1
346 =63..’
202 =36'
100=1*--'
44= 8/1
10= i.ij
Verglichen mit den Ermittlungen von Köhler und Habermaas findet
man für die Kranken der hiesigen Anstalt erheblich günstigere Alters¬
verhältnisse, insbesondere auch bei den verstorbenen Kranken. Starben
doch bis zum 30. Lebensjahre hier nur 129 = 38,1 % m. und 72 — 34,8 % w..
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Di« Sterblichkeit, Todesursachen und Sektionsbeimsde bei Epüeptjkfiii, g!7
insgesamt 3ü.t A*. 36,7% Kmoke, während vom äö, I^ijonsjahr« eh
209 » 6 t.. 8$ *». nnd 137 » 65,5$ w.» m^esftfnt also 1i56 W 03 f 2 %
Kranke mH Tod' ibgiogeri, £lq Alter vom über 50 Jgttafti enreiolilen
immerhin - noch 68 - S0.,t-% 4er versturbenim ;o. u nd 32 .«* 15.3% der.
cerMorbeoen *. Kranken, insgesapfit.. also 100 « 18,2% Personen, Die
iwischen der ^trrldirhfeU. drr m, und w,Ktaujk*o. m .den 'yefc;bfedräfo.
Lebensabschnitten hervmlretenrten Differenzen sind *u uiihetieöiend,
als daß darauf iVeitcrKehende Shhiües* gesogen xyyrifen könnten. Die
übeirwit-gende Mehrzahl der Todesfälle^ jereigpete' wylshheft dein t\K
bis 50. sitarbob wt&iptd tilgte von den
'>38 n». Kranken .loch '222. - £&.*>%> '•>n den 20o \>. Kranken 149 = 71,2%,
miesem! also 371 * f>7.S%. Indolen i*b v.u bearhien.- daß hei an sich
gleicher Lulskehlioher Lebondtedrob» jag • ' ; .^ös
KmnkeHhe^tÄndes einddmäßigerendon KihdbÖ, md
JkUkeit nftUti^wiifiÄr iJem liranfeeidjje^ftiifide dw hies^ejO Ajnkijalt
•iüd aber, wie die -vorstehend . mitgeUdUew Tabellen erC- ;>i<e tü i.a.-.seü-,
vnrxugweise diese- AOerstclassoo Veiireteik 3 IVgr beallsndSge Wechsel der
ddnfßhrnngen uhd Abgänge gibt wohl vdrObefgehend AhM^.-Aid.-Vd*-'
^cltiebuDgäa dar • AH eit^ru ppet» ;u : aber die elntreteßdeo SchwiätokvtHKei»
;'. : l?afiA'kirnt Ausgleich, hM sb .hUeJ) der iüiteri? -
.4«fbaw des K-raukerüjostttndeiä Ad»ttftt seit dem Jtüit* -180t
im wesentlirtiei» stets ?ler gleiche \ : .’;■ '".'V ,. ’' •' '•'■ /‘'Vy,''
:' Wies sieh das Verhältnis der Oest-ntlieistyi a« d«t Zahl tlxtf iel^ejiden
Kranken fc: jeder Altersklasse gestaltet, wenn man einen liiirehscbiiitt-
Hoheit GdSÄmtbeätand von all jährlich etwa 720 Kranheij jnajp*ün<le
logt und- aus der Gesamt stimim 1 - dor von 1891 bis Ende 1911 gestorbenen
Am JaliFhsmittei t»ereeiinet> ergibt sich aus Tabelle TV,
Tafeöife IV: Verhältnis der in jeder
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Gr e * i ft rb ö aeo z u d ah 1 de r L eben d.e n
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Altersgruppe
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V ^ : ef r> jV/
»isse di öfrstibrh.
7U 'ieti Lebenden
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818
Hahn,
Hieraus ist der maßgebende Einfluß, den das Alter auf die Sterb¬
lichkeit der Epileptiker ausübt, ohne weiteres zu erkennen; zugleich
aber bestätigt sich, was die Mortalitätstatistiken überhaupt lehren,
daß die Sterblichkeit bei gleicher tatsächlicher Lebensbedrohung
mit zunehmendem Alter wächst. Sicherlich geben die vielen üblen
und nicht selten mit Lebensgefahr verbundenen Zufälle, denen die
Epileptiker — besonders die häufiger von Krampfanfällen heim-
gesuchten — durch ihre Krankheit ausgesetzt sind, ganz allgemein
betrachtet zu einer Verkürzung der Lebensdauer nicht allzu selten
Anlaß; aber daß bestimmte Alterstufen lediglich durch das epi¬
leptische Leiden stärker gefährdet wären, geht aus den hier gewonnenen
statistischen Erhebungen nicht einwandfrei hervor; die Mortalität
innerhalb der einzelnen Altersgruppen erweist sich wohl etwas größer
als in der Gesamtbevölkerung, ist aber keineswegs so erheblich ge¬
steigert, daß man zuverlässigere Schlüsse auf das Maß der durch¬
schnittlich eintretenden Lebensverkürzung zu ziehen vermöchte.
Offenbar kommt es hierbei nicht nur auf die Schwere des einzelnen
Krankheitfalles an, insbesondere auf die Häufigkeit, die besondere
Form und die sonstigen Begleiterscheinungen der Krampfanfälle,
sondern auch auf eine große Reihe einflußreicher Faktoren, die sich
einer allgemeinen statistischen Verwertung schwer zugänglich erweisen,
z. B. auf die körperliche Konstitution, auf etwa sonst noch vorhandene
lebensgefährliche Krankheitzustände, auf das Milieu, in dem die
Kranken während der Dauer ihres Leidens leben usw.
Wenn man bedenkt, wie häufig die Epileptiker durch ihre Anfälle
und die damit einhergehenden psychischen Alterationen in schwere
Gefahr geraten können, wie häufig sie ernsten Verunglückungen und
bedenklichen Verletzungen ausgesetzt sind, dann muß man sich eigent¬
lich wundern, daß der Prozentsatz der Todesfälle in der Anstalt kein
höherer ist. Nach den hier geführten Listen kommen alljährlich im
Durchschnitt etwa 3000—4000 körperliche Erkrankungen unter den
Verpflegten vor, das sind bei dem angenommenen Durchschnitts¬
bestände von alljährlich 720 epileptischen Kranken gegen 4—6 Er¬
krankungen auf die Person. Dabei sind die m. und w. Kranken in
annähernd gleich hohem Maße betroffen, doch so, daß ein Teil —
schätzungweise etwa Vs bis l / 7 — stets ganz frei blieb von bemerkens¬
werten körperlichen Erkrankungen, während namentlich von den
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Die Sterblichkeit, Todesursachen und Sektionsbefunde bei Epileptikern. 819
wegen chirurgischer Affektionen in Behandlung getretenen Kranken
sich viele wiederholt im Paroxysmus durch Fall nach derselben Seite
und auf dieselben Körperteile die gleichen Verletzungen zugezogen
hatten. Nur 25,5 Kranke gingen im Durchschnitt alljährlich mit Tod
ab, also nur 0,7% der von akzessorischen Krankheiten befallenen
Verpflegten. Gegen 50% der sämtlichen Erkrankungen entfielen
dabei auf chirurgische Affektionen, etwa 7—10% auf akzessorische
Gehirnerkrankungen wie Status epilepticus usw., der Rest auf an¬
steckende Krankheiten, auf Erkrankungen des Verdauungsapparates
der Atmungsorgane, der Haut, des Herzens und der Gefäße, der Nerven,
Muskeln, Ohren, Augen, Harn- und Geschlechtsorgane usw. Handelte
es sich bei den chirurgischen Erkrankungen auch oft nur um relativ
harmlose Ereignisse wie Erosionen, Exkoriationen, Kontusionen,
Furunkel, Abszesse, leichte Verwundungen, Zahnaffektionen und
dergleichen mehr, so kamen nicht allzu selten doch auch bedenk¬
lichere Verletzungen im Paroxysmus vor, z. B. Verbrennungen, Distor¬
sionen, Verrenkungen, Knochenbrüche, tiefe, klaffende Hautwunden,
Gefäßläsionen usw. Dazu gesellen sich noch die Gefahren einer Er¬
stickung im Anfall, sowie die aus anderen schweren Zuständen sich
ergebenden Lebensbedrohungen. Immerhin ist der Eintritt lebens¬
gefährlicher Zustände im Anschluß an Anfälle keineswegs so häufig,
wie man in Anbetracht der Häufigkeit und Schwere der Paroxysmen
bei der überwiegenden Mehrzahl unserer Kranken und in Berück¬
sichtigung des Umstandes, daß nur ein relativ beschränkter Prozent¬
satz unserer Kranken vor Eintritt des eigentlichen Krampfanfalles
eine ausgesprochene Aura zeigt, von vornherein anzunehmen geneigt
ist, eine Wahrnehmung, die auch in der dankenswerten Arbeit von
H. Fischer über die chirurgischen Ereignisse in den Anfällen der
genuinen Epilepsie aus der Anstalt Wuhlgarten ihre Bestätigung
findet.
Man wird kaum fehlgehen, wenn man diese überraschend günstigen
Ergebnisse zu einem wesentlichen Teil der eingetretenen Anstalt¬
behandlung und -pflege zugute schreibt. Nach den üblen Erfahrungen
zu schließen, die man nicht selten mit beurlaubten Kranken macht,
ist es mehr als wahrscheinlich, daß die Epileptiker, solange sie unter
vielfach recht zweifelhaften hygienisch-sozialen Verhältnissen in
der Außenwelt oder in der Familie zubringen, weitaus häufiger Lebens-
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820
Hahn,
gefährdungen ausgesetzt sind als unter den — nach den obigen Dar¬
legungen dar! man wohl sagen — schützenden und konservierenden
Verhältnissen innerhalb einer Anstalt, wo sie an Exzessen aller Art
gehindert werden und unter den Segnungen einer sachgemäßen und
geordneten Pflege und Behandlung, sowie einer steten sorgsamen
Überwachung durch ein geschultes Personal in erhöhtem Maße Schutz
vor Insulten und Unglücksfällen finden. Es entzieht sich einer genaueren
statistischen Feststellung, wie hoch sich etwa das Perzent der Fälle
beläuft, die draußen einem im Anfall sich ergebenden üblen Zufalle
erliegen; denn da man es bei den von Angehörigen erhaltenen Aus¬
künften über die Ursache des Todes in der Kegel mit Laiendiagnosen
zu tun hat, ist denselben eine allzu große Bedeutung nicht beizumessen;
es ist indessen ohne weiteres klar, daß Selbstmorde, lebensgefährliche
Verletzungen, Todesfälle durch Erstickung, Verbrennung oder Er¬
trinken sich in der Außenwelt leichter ereignen können als unter dem
wohltätigen Schutze des Anstaltlebens. Dennoch würde eine genauere
Ermittlung mutmaßlich auch für die Außenwelt keine allzu beträcht¬
liche Zahl von durch Zufall erfolgten Todesfällen ergeben.
Vielleicht trägt diese an sich nur geringe Gefährdung des Lebens
der Epileptiker einen TeU der Schuld mit daran, daß das Publikum zu¬
meist erst unverhältnismäßig spät von der gebotenen Hilfe Gebrauch
zu machen pflegt; zum TeU freilich wirken ohne Zweifel auch andere
Faktoren mit, etwa eine unbegreifliche, oft nur schwer zu überwindende
Scheu vor der Unterbringung in einer Anstalt und vor damit verknüpften
Unbequemlichkeiten und Mehrausgaben, ganz besonders aber gewiß
auch die Tatsache, daß das epileptische Leiden nicht selten erst allmählich
mit dem Eintritt ins Pubertätsalter oder unter dem Einfluß ungünstiger
äußerer Momente eine solche Verschlimmerung erfährt, daß die Kranken
ln stetig zunehmendem Maße lästig und unerträglich für ihre Umgebung
werden. Jedenfalls haben die Kranken meist schon seit geraumer Zeit
an EpUepsie in der schwersten Form gelitten und bereits erstaunlich
lange unter vielfach recht traurigen Verhältnissen in der Außenwelt zu-
gebracht, bevor überhaupt daran gedacht wurde, sie in angemessene
Anstaltpflege zu verbringen. Nach den Beobachtungen in der hiesigen
Anstalt gelangte die Epilepsie in mindestens 80—85% aller Fälle bereits
in der Kindheit oder längstens bis zum 20. Lebensjahre in vollausgebildeter
Form zum Vorschein, ein Ergebnis, wie es übereinstimmend in allen
statistischen Erhebungen über den Zeitpunkt des Beginns der EpUepsie
gewonnen wird (vgl. die Ziffern und Tabellen in den einschlägigen Ab¬
handlungen von Köhler, Binswanger usw.); aber erst zwischen dem 20.
bis 40. Lebensjahre, oft erst nach bereits 5—30 jährigem Bestehen der
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Die Sterblichkeit, Todesursachen and Sektionsbefande bei Epileptikern. 821
Epilepsie erfolgt in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle die Zuführung
in die Anstalt; nur in einer verschwindend kleinen Zahl der Fälle — höch¬
stens in etwa 7—10% der Gesamtsumme der Aufnahmen — geschieht
die Unterbringung schon innerhalb der ersten 2 Jahre nach Ausbruch
der Krankheit.
Wenn aber die Lebensgefahr für die Epileptiker nach den Er¬
gebnissen der voranstehenden Erörterungen an sich gewiß auch nicht
allzu groß ist, so ist es doch von nicht geringem praktischen Interesse,
festzustellen, woran die Epileptiker selbst unter den schützenden
und konservierenden Einflüssen eines geordneten Anstaltlebens
eigentlich zugrunde gehen. Zu diesem Zwecke sind in erster Linie
die Todesursachen und die aus den klinischen Beobachtungen
und insbesondere aus den Sektionsprotokollen sich ergebenden be¬
merkenswerten Befunde näher ins Auge zu fassen. Zuvor
aber mögen zur besseren Orientierung noch einige klinisch-ätiologische
Ermittlungen hier Erwähnung finden.
Die von 1891 bis April 1912 hier verstorbenen 547 Kranken galten
bei der Aufnahme durchweg als Epileptiker. Nach den Ergebnissen
der vorgenommenen Untersuchungen und nach den klinisch hervor¬
getretenen Krankheiterscheinungen wurde diese Diagnose auch in
541 Fällen bis zum Tode aufrecht erhalten. 3 m. und 3 w. Verpflegte
wurden indessen schon bei Lebzeiten als an Dementia paralytica
erkrankt erkannt, und da die bei der Sektion erhobenen Gehirn¬
befunde die Diagnose zu bestätigen schienen, wurden sie hier nicht
weiter berücksichtigt. Alle übrigen Fälle dagegen fanden Verwendung.
Die nachfolgende Übersicht fußt also auf einem 335 m. und 206 w.
epileptische Kranke umfassenden Materiale, das innerhalb der Zeit
vom 1. Januar 1891 bis zum 30. April 1912 in der hiesigen Anstalt
mit Tod abging.
Alle diese Kranken wurden bei Lebzeiten und während der Dauer
ihres Aufenthalts in der hiesigen Anstalt trotz ausgiebigster fortlaufender
Behandlung mit den gebräuchlichen antiepileptischen Mitteln im Durch¬
schnitt zumeist noch ziemlich häufig — nur in ganz wenigen Fällen unter
50 mal im Jahre, in der Regel weitaus häufiger — von typischen all¬
gemeinen Krampfanfällen in wechselnden Zwischenräumen heimgesucht.
Kaum einer der Kranken war freigeblieben von Veränderungen auf psy¬
chischem Gebiete; die überwiegende Mehrzahl bot neben den in wechselnder
Stärke und Häufigkeit wiederkehrenden Krampfanfällen und im Zu¬
sammenhänge damit auftretenden Bewußtseinsstörungen Zustände an-
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822
Hahn,
geborenen oder erworbenen Schwachsinns dar, viele zeigten auch in den
anfallfrei verlaufenden Zwischenzeiten psychotische Zustände schwererer
Art, fast alle ließen die typische epileptische Charakterentartung erkennen
und waren häufigen inneren Aufregungen, jähen exzessiven Stimmung¬
schwankungen, plötzlichen expansiven Neigungen und impulsiven Hand¬
lungen unterworfen. In einem Teil der Fälle waren auch Residuen einer
früheren zerebralen Kinderlähmung und andere auf anatomische Läsionen
des Zentralnervensystems hindeutende Krankheiterscheinungen vorhanden;
stets aber handelte es sich bei allen ad exitum gekommenen Krankheit¬
fällen um allgemeine tonisch-klonische Muskelkrämpfe von typisch¬
epileptischem Gepräge, und wenn auch fast jeder Fall durch Besonderheiten
des klinischen Verlaufs sich auszeichnete und mehr oder minder konstant
auftretende Begleitsymptome zuweilen auf eine organische Ursache der
Krampfanfälle hinzudeuten schienen, so entsprach das klinische Krank¬
heitbild in seinen wesentlichsten Zügen doch stets dem der echten genuinen
Epilepsie; anatomische Gehirndiagnosen ließen sich auf Grund der klinisch
hervorgetretenen Krankheiterscheinungen bei Lebzeiten wohl kaum
in einem einzigen Falle auch nur mit einem größeren Maße von Wahr¬
scheinlichkeit stellen.
Über die Ursache der Epilepsie war aus der Vor¬
geschichte nur selten absolut Zuverlässiges in Erfahrung zu bringen
Zwar fehlt es in den Krankengeschichten nicht an Angaben über die
mutmaßliche Ursache der Epilepsie; wenn man aber kritisch zu Werke
geht, wird man sich keiner Täuschung darüber hingeben dürfen, daß
man in der überwiegenden Mehrzahl aller Fälle trotz solcher Angaben
über die eigentliche Ursache der Epilepsie völlig im unklaren bleibt.
Allgemein wird der erblichen neuropathischen Anlage, wie sie so
häufig bei Nachkommen von Geisteskranken, Epileptischen, Hysterischen,
Psychopathen, Verbrechern, Selbstmördern und Trinkern vorzukommen
scheint, wohl mit Recht eine große Rolle bei Entstehung der Epilepsie
zugeschrieben. Aber der sichere Nachweis einer hereditären bzw. familialen
psychopathischen Belastung begegnet nicht selten unüberwindlichen
Schwierigkeiten. Oft wird eine hereditäre oder individuelle Belastung
ganz in Abrede gestellt, weil man sie als ein Stigma, als einen Makel für
die ganze Familie ansieht; in anderen Fällen wieder wird sie nur voraus¬
gesetzt oder stützt sich beispielweise etwa auf die kurze Behauptung,
daß der Vater dem Trünke ergeben gewesen sei, während nähere Angaben
darüber fehlen, ob diese Trunksucht nicht etwa erst nach Erzeugung
des kranken Abkömmlings ihren Anfang genommen hatte. So wird man
allen statistischen Angaben über die angenommene Ursache des Leidens
nur mit großem Skeptizismus gegenübertreten können, ganz besonders
auch in den zahlreichen Fällen, wo neben oder statt der erblichen bzw.
familialen Belastung allen möglichen anderen Dingen teils absichtlich,
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Die Sterblichkeit» Todesursachen und Sektionsbefunde bei Epileptikern. 823
teils unabsichtlich die Schuld an der Erkrankung aufgebürdet wird. Ist
es schon schwer, die Wirkung einer in der Aszendenz oder vielleicht gar
nur in der kollateralen Verwandtschaft vorgekommenen Psychose oder
Neurose auf die vorliegende Erkrankung einwandfrei festzustellen, so
ist es fast unmöglich, den Anteil zu ermitteln, den etwa eine bei der Geburt
aufgetretene Asphyxie oder die Dentition, eine infektiöse Kinderkrankheit,
ein Schreck, ein Unfall oder eine Verletzung, die Pubertätsentwicklung,
angeborene oder erworbene Syphilis, individueller Alkoholismus oder
eine sonstige körperliche Schädigung auf den Ausbruch oder die weitere
Ausgestaltung des epileptischen Leidens gehabt hat. Die Möglichkeit,
daß einigen der letzterwähnten Faktoren, namentlich auf dem Boden
der erblichen Anlage, ein Einfluß, wennschon vielleicht nur ein ganz
beiläufiger und sekundärer, auf die Entwicklung der Epilepsie einzuräumen
sei, mag zugegeben werden; oft aber dürfte solchen Äußerungen nur der
zweifelhafte Wert einer Laienhypothese zukommen, oder es liegt ihnen
ein Erinnerungsfehler, ein Irrtum, eine Verlegenheilsangabe oder eine
ofTensichtige Verwechslung von Ursache und Wirkung zugrunde, indem
irgendein früher einmal vorgekommener Unfall oder eine sonstige soma¬
tische oder psychische Schädigung mit Findigkeit hervorgesucht und
dann kurzerhand als Ursache in Anspruch genommen wird, obwohl die
Epilepsie nachweislich vielleicht schon mehrere Jahre vorher zum Aus¬
bruch gelangt war; jedenfalls scheint es dringend geboten, insbesondere
der häufig wiederkehrenden Angabe mit Mißtrauen zu begegnen, daß die
Epilepsie lediglich als die Folge eines Schrecks, einer heftigen Gemüts¬
bewegung, eines erlittenen Unfalls usw. anzusehen sei
Nach diesen Hinweisen auf das Erfordernis vorsichtiger Ver¬
wertung aller diesbezüglichen statistischen Feststellungen sei nur
kurz angeführt, daß bei den verstorbenen epileptischen Kranken
eine erbliche, bzw. familiale Belastung im üblichen Sinne in 214
Fällen = 39,5% erwähnt wird, und zwar bei m. Kranken 128 mal
= 38,2%, bei w. Kranken 86 mal = 41,7%. Teils in Verbindung damit,
teils aber auch ohne Geltendmachung des Faktors der erblichen Be¬
lastung bzw. der angeborenen Anlage wird ein maßgebender Einfluß
auf die Entwicklung des epileptischen Leidens zugeschrieben psy¬
chischen Einwirkungen bei 68=20,2% m. und 53=25,7% w., ins¬
gesamt also bei 121=22,3% Kranken, während somatische Ursachen
bei 54=16,1% m. und 31=15,0% w., insgesamt also bei 85=15,7%
Kranken angenommen und bei 22=6,5% m. und 12=5,8% w., ins¬
gesamt also bei 34=6,2% Kranken psychische und somatische Ein¬
wirkungen zugleich geltend gemacht werden. Unter den psychischen
Ursachen findet ein plötzlicher Schreck bei weitem am häufigsten
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824
Hahn,
Erwähnung, unter den somatischen Ursachen wird außer Traumen
und Verletzungen, die den Schädel direkt trafen, auch allen mög¬
lichen anderen Unfällen und Erkrankungen eine verhängnisvolle
Wirkung beigemessen, so u. a. der zerebralen Kinderlähmung, den
verschiedenen infektiösen Kinderkrankheiten, den etwa eingetretenen
Geburt Störungen, der Dentition, der Pubertätsentwicklung, sogar der
zweiten Impfung. Individuelle Alkoholintoxikation wird als ätiologi¬
scher Faktor bei 15=4,4% m. und 3=1,4% w., insgesamt also bei
18=3,3% Kranken angeführt; sie spielte unter den hier zur Aufnahme
gelangten Kranken bei Entwicklung der Epilepsie auch sonst keine
so gewichtige Rolle, wie es nach den statistischen Ermittelungen in
anderen Ländern der Fall ist. Auch Syphilis wird als krankheit-
auslösendes Moment im ganzen nur 4 mal (= 0,7%) erwähnt, und
zwar bei je 2 m. und w. Kranken. Keine der vorerwähnten Krank¬
heitursachen wird namhaft gemacht bei 96=28,6% m. und 60=29,1%
w., insgesamt bei 156=28,8% der verstorbenen Kranken.
Über die Zeit des Eintritts der Epilepsie bei
den verstorbenen 541 Kranken gibt Tabelle V Aufschluß.
Tabelle V: Alter der Verstorbenen beim Auftreten
der Epilepsie.
Die Epilepsie
trat auf
bei
männlichen | weiblichen
Kranken
insgesamt
bei
im 1.—10. Jahre
133=39,7%
79=38,3%
212 =39,1 %
„ 10.—15. „
79=23,5%
55=26,6%
134 =24,7%
d
(N
1
\6
w*
65=19,4%
40=19,4%
105=19.4%
*
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O
CO
1
d
26= 7,7%
18= 8,7%
44= 8,1%
o
l
d
CO
17= 5,0%
10= 4,8%
27= 4,9%
nach dem 40. ,,
15= 4,4%
4= 1,9%
19= 3,5%
Darnach waren bis längstens zum Eintritt ins 20. Lebensjahr an
Epilepsie erkrankt 277=82,6% m. und 174=84,4% w’., insgesamt 451 =
83,3% Kranke; nach dem 20. Lebensjahre erkrankten 58=17,3% m.
und 32=15,5% w., insgesamt 90=16,6% Kranke, nach dem 30. I^ebens-
jahre nur noch 32=9,5% in. und 14=6.7% w., insgesamt 46=8.5%
Kranke.
Es bestätigt sich somit auch für die hier verstorbenen Epileptiker
die allgemein gemachte Erfahrung, daß die Epilepsie in der weitaus
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Die Sterblichkeit, Todesursachen and Sektionsbefande bei Epileptikern. 825
überwiegenden Mehrzahl aller Fälle eine Erkrankung des jugendlichen
Alters darstellt.
Es wurde aber bereits erwähnt, daß die Zuführung der Kranken
in die Anstalt höchstens in etwa 7—10% der Fälle schon innerhalb
der ersten 2 Jahre nach Ausbruch der Epilepsie erfolgt. Auch die
verstorbenen Kranken gelangten zumeist erst zwischen dem 20. bis
40. Lebensjahre zur Unterbringung, nachdem die Epilepsie bereits
5—30 Jahre bestanden hatte. Berücksichtigt man, daß die Form
der Epilepsie bei allen ad exitum gekommenen Fällen ausnahmlos
eine sehr schwere war, und daß ein nicht geringer Teil dieser Kranken
in durchaus verwahrlostem oder in körperlich und geistig ganz herunter¬
gekommenem Zustande zugeführt zu werden pflegt, so wird man sich
wundem müssen, daß sie vielfach überhaupt noch so lange unter den
zweifelhaftesten hygienisch-sozialen Verhältnissen in der Außenwelt
fortvegetieren konnten, man wird aber andererseits auch nicht er¬
staunt sein dürfen zu hören, daß gegen 11% der verstorbenen Kranken
bereits im ersten Jahre ihres Aufenthaltes in der Anstalt mit Tod
abgingen. Genaueren Aufschluß über die Dauer des Anstaltaufent¬
haltes der verstorbenen Kranken gewährt Tabelle VI.
TabelleVI: Dauer des Aufenthaltes der Verstorbenen
in der Anstalt.
Es verweilten in
der Anstalt
männliche
Kranke
weibliche
Kranke
insgesamt
unterst Jahr
40=11,9%
21 =10,1 %
61 =11,2%
1— 2 Jahre
13= 3,8%
14= 6,7%
27= 4,9%
2— 5 „
72=21,4%
61 =29,6 %
133=24,5%
5—10 „
86=25,6%
48=23,3%
134=24,7%
10—15 „
66=19,7%
36=17,4%
102=18,8%
15—20 „
41=12,2%
14= 6,7%
55 =10,1 %
über 20 ,,
17= 5,0%
12= 5,8%
29= 5,3%
insgesamt
335
206
541
Darnach verwehten insgesamt 320 Verstorbene = 59,1 % über
5 Jahre in der Anstalt, über 10 Jahre aber immerhin noch 186=34,3%
Personen, ein Prozentverhältnis, das den Ermittelungen von Köhler
gegenüber — speziell für die letzterwähnte Gruppe — als ausnehmend
günstig bezeichnet werden muß und daher mit noch größerem Rechte
den Schluß zu ziehen erlaubt, daß dem geordneten Anstaltleben im all*
gemeinen ein schützender und konservierender Einfluß beizumessen ist
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826
Hahn,
Bevor nun in eine Erörterung der Todesursachen ein¬
getreten werden kann, bedarf es noch einer kurzen Verständigung
darüber, nach welchen Gesichtspunkten deren Bezeichnung hier
erfolgt ist. Da es in erster Linie galt festzustellen, in wievielen Fällen
der Tod als Folge der Epilepsie selbst zu betrachten sei, bzw. in wievielen
Fällen sich ein Zusammenhang zwischen dem tödlich verlaufenen
Ereignisse und der Epilepsie nachweisen ließe, so durfte aus den zur
Verfügung stehenden Sektionsprotokollen nicht einfach irgendein
bemerkenswerter pathologisch-anatomischer Befund oder etwa gar
nur eine letale Erscheinung bzw. eine chronische, an sich aber nicht
als todbringend zu betrachtende Organveränderung herausgegriffen
werden, es kam vielmehr noch wesentlich auf Berücksichtigung der
jeweilig hervorgetretenen klinischen Krankheitbilder und darauf an,
ob dieser tödlich verlaufene Krankheitprozeß eine nähere oder ent¬
ferntere Beziehung zu vorausgegangenen epileptischen Zuständen
erkennen ließe oder als ein mehr oder minder zufällig zustande ge¬
kommenes Ereignis aufzufassen sei. Eine Herzlähmung, ein Gehirn-,
ein Lungenödem, eine Hyperämie, eine hypostatische, eine Schluck¬
pneumonie, eine Lungengangrän usw. kann unter den verschiedensten
Umständen eintreten, ohne daß ein Zusammenhang mit dem epi¬
leptischen Leiden bestanden zu haben brauchte, während in anderen
Fällen wieder solche Zustände im unmittelbaren Anschluß an einen
einzigen schweren Krampfanfall oder an eine Häufung von Paroxysmen
zur Entwicklung gelangt sein können oder einem dabei eingetretenen
besonderen Ereignisse ihre Entstehung verdanken, das sich aber
nach Lage der Dinge eben nicht verhüten ließ und deshalb auch mit
auf das Konto des epileptischen Leidens zu setzen ist. Erst nach Fest¬
stellung des Anteils, den das epileptische Leiden selbst an den ein¬
getretenen Todesfällen hat, konnte weiter zu ermitteln versucht
werden, welche Krankheitprozesse in Wirklichkeit den tödlichen
Ausgang herbeigeführt haben, und welche bemerkenswerten Befunde
die Sektion sonst etwa noch ergab.
Auch in der Literatur wird in dieser Beziehung zumeist mit
großer Willkür verfahren; die in einschlägigen Abhandlungen ent¬
haltenen Angaben lassen sich daher vielfach nur mit Vorbehalt be¬
nutzen. Im übrigen ist die literarische Ausbeute an genaueren statisti¬
schen Erhebungen über die Todesursachen der Epileptiker überhaupt
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Die Sterblichkeit, Todesursachen und Sektionsbefunde bei Epileptikern. 827
keine allzureiche; die Mehrzahl der Autoren beschränkt sich auf einige
kurze, ganz allgemein gehaltene Bemerkungen, aus denen sichere
Anhaltpunkte für die Häufigkeit der einzelnen Todesursachen nament¬
lich auch im Hinblick auf die Kleinheit des herangezogenen Materials
nur selten zu gewinnen sind. Alle Autoren sind sich aber darüber
einig, daß das epileptische Leiden als solches hohe Gefahren für das
Leben in sich birgt, teils durch die Krampfanfälle selbst, teils durch
die damit einhergehenden Bewußtseinstrübungen und sonstige psycho¬
pathische Zustände, teils durch allerhand unberechenbare Heben¬
umstände.
Die Kasuistik ist reich an Mitteilungen über tödlich verlaufene
Ereignisse, die sich mehr zufällig während des Anfalls oder während des
Bestehens einer Bewußtseinstrübung oder eines sonstigen psychotischen
Zustandes zutrugen. Sie berichtet über plötzliche Todesfälle, die dadurch
zustande kamen, daß Kranke im Bade von einem Paroxysmus überrascht
wurden oder bei einem solchen ins Wasser oder ins Feuer oder gegen heiße
Gegenstände fielen und so ertranken bzw. verbrannten; sie berichtet von
Erfrierungen, von tödlich wirkenden Verunglückungen und Verletzungen,
insbesondere auch von Schädelbrüchen, die Kranke im Paroxysmus
erlitten; sie berichtet endlich von Erstickungen, die durch mechanischen
Verschluß der Luftwege oder durch Aspiration von Fremdkörpern zustande
kamen. Gerade hier ergeben sich ja der üblen Zufälle so viele: der Tod
kann eint p eten bei nächtlichen Anfällen durch passive Bauchlage, bei
Tagesanfällen durch Eindrücken des Gesichts in weichen Boden wie Sand,
frisch gepflügte Erde, Torfboden usw., durch traumatisch bedingte
Blutkoagula im Bereiche des Mundes und der Nase, zuweilen vielleicht
bei Rückenlage auch durch Herabsinken der im komatösen Stadium
gelähmten Zunge gegen die Trachea; er kann erfolgen durch Aspiration
von gerade im Munde befindlichen Nahrungsmitteln, von erbrochenen
Massen, von Blutgerinnseln, Steinen, Gebissen, Pfeifenspitzen, großen
Knöpfen, Kautabak u. dgl. m. Finden Todesfälle dieser Art auch vorzug¬
weise während des Verweilens in der Außenwelt statt, so sind sie, wie
gelegentliche statistische Angaben in einschlägigen Berichten erkennen
lassen, selbst bei sorgsamster und gewissenhaftester Pflege, Abwartung
und Überwachung nicht immer ganz zu verhüten. Die offiziellen Mit¬
teilungen aus der Anstalt Wuhlgarten z. B. führen ziemlich häufig
Erstickung im Anfall als Todesursache auf, vereinzelt auch tödlich ver¬
laufene sonstige Unglücksfälle der erwähnten Art, insbesondere auch
Schädelbrüche. Nach Bourneville war unter 255 verstorbenen Epileptischen,
über die er im Laufe der Jahre Bericht erstattet hat, bei 14 der Tod auf
ein Trauma im Anfall zurückzuführen = 5,5 %. Gehören Todesfälle dieser
Art auch gewiß zu bedauerlichen Vorkommnissen, die man bemüht sein
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828
Hahn,
wird nach Kräften einzuschränken, so lassen sie sich nach Lage der Dinge
doch nicht immer sicher verhüten; man muß also mit ihrem Eintritt auch
in der Anstalt rechnen und wird sie daher mit auf das Konto des epi¬
leptischen Leidens setzen müssen.
Das gleiche ist der Fall mit Selbstmorden. Bei der Neigung vieler
Epileptiker zu impulsiven Handlungen und den häufig bei ihnen auf¬
tretenden Bewußtseinstrübungen und depressiven Stimmungen sind
Selbstmordversuche kein allzu seltenes Vorkommnis. Man wird trotz
aller Vorsichtsmaßregeln gelegentlich auch in den Anstalten geglückte
Selbstmordfälle zu beklagen haben, wie es sich mannigfach auch aus der
Literatur durch Beispiele belegen ließe.
Sehr viel seltener führt jedoch der einzelne Paroxysmus als solcher
zum Tode; das betonen übereinstimmend Binswanger , FM, Gotvers,
Oppenheim u. a. Indessen lassen sich auch hierfür aus neueren Publikationen
einwandfreie Beispiele anführen: der Tod kann ohne eintretende schwere
Verletzungen und anderweitige unberechenbare Nebenumstände im
tonischen wie im klonischen Stadium des Krampfanfalles erfolgen, teils
durch Asphyxie infolge des gewaltsamen Spasmus des respiratorischen
Muskelapparates resp. durch Herzruptur (Short, Lunier), teils durch
Herzstillstand ( Magnan, Gowers) resp. durch hochgradige nervöse Er¬
schöpfung (FM), vielleicht zuweilen auch infolge Lähmung des Atmungs¬
zentrums. Wo grobe anatomische Veränderungen des Gehirns und seiner
Häute oder der Gefäße bestehen, steht der plötzliche tödliche Ausgang
meist in engem Zusammenhänge mit dem anatomischen Grundleiden;
so mutmaßlich wohl auch in dem von Babinski geschilderten Falle, wo
ein Syphilitiker an einer subarachnoidealen Blutung infolge eines Anfalls
zugrunde ging (vgl. FM, Binswanger). Auch nach starken Trinkexzessen
und hierdurch ausgelösten epileptischen Insulten tritt, wie Binswanger
angibt, nicht selten plötzlich der Tod ein, noch häufiger aber bei aus¬
geprägtem Delirium tremens, wenn dasselbe mit epileptischen Kon¬
vulsionen einhergeht (Handfield Jones). Die Leichenuntersuchung führt
bei solchen plötzlichen Todesfällen im Paroxysmus indessen nur selten
zu positiven Ergebnissen und liefert in der Regel nur Befunde, wie sie
auch sonst nicht allzu selten erhoben werden. Statistische Angaben über
die Häufigkeit solcher Ereignisse lassen sich aus der Literatur im übrigen
nicht machen; sie florieren hier nur als Kuriosa.
Anders liegen die Verhältnisse bei plötzlich in großer Häufung sich
einstellenden Anfällen, d. h. bei Entwicklung des sogenannten Status
epilepticus und namentlich bei Entstehung eines komatösen Zustandes.
Wodurch solche Zustände zur Auslösung gelangen, ist bis jetzt noch immer
eine vielumstrittene Frage. Wohl ist es gelungen, durch Fernhaltung
aller „seelischen und körperlichen Reizpotenzen“, durch aufmerksamste
Pflege und Beobachtung der Kranken, besonders der Siechen und Elenden
unter den Epileptikern, durch sofort einsetzende sachgemäße Behandlung
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Die Sterblichkeit, Todesursachen und Sektionsbefunde bei Epileptikern. 829
der Gefährdeten mit den gebräuchlichen hygienisch-diätetisc en und
medikamentösen Hilfsmitteln die Entstehung schwerer Formen von
Status epilepticus einzuschränken; aber alle Fälle lassen sich eben nicht
auf zu vermeidende Schädlichkeiten zurückführen; manche Kranken
neigen zum Status epilepticus, andere werden trotz aller schädlichen Ein¬
flüsse nie von einem solchen befallen, ohne daß es gelänge, die Gründe
aufzudecken. Vielfach geht ihm ein schwerer psychischer Erregungs¬
zustand voraus. In einem Teil der Fälle aber kommt es, ohne daß Krampf¬
anfälle zur Auslösung gelangten und eine besondere Schädlichkeit voraus¬
gegangen wäre, zu zunehmender Benommenheit, die allmählich zu völliger
Bewußtlosigkeit forlsehreitet, und gerade diese Zustände von Coma er¬
weisen sich therapeutischen Einwirkungen am schwersten zugänglich
und verlaufen nach den hier gewonnenen Erfahrungen fast immer tödlich.
Über die Häufigkeit des Eintritts solcher Zustände unter den Anstalt-
insassen lassen sich schwer zuverlässige Angaben machen; allzu häufig
scheinen sie sich jedenfalls nicht einzustellen. Aber Wildermuth und
Oppenheim sehen gewiß zu schwarz wenn sie meinen, daß etwa die Hälfte
der von einem Status epilepticus Befallenen zugrunde geht. Immerhin
gehört ein Status epilepticus trotz aller mehr oder minder erfolgreich
angewandten therapeutischen Hilfsmittel, wie wohl alle Autoren an¬
erkennen, noch immer zu den gefährlichsten Vorkommnissen, namentlich
dann, wenn ein Koma zur Entwicklung gelangt, mögen nun schwere
Störungen des Stoffwechsels oder Intoxikationszustände oder sonstige
Schädigungen das auslösende Moment abgeben, und Clark und Prout
dürften den Tatsachen jedenfalls nahe kommen, wenn sie die infolge von
Status epilepticus eintretenden Todesfälle auf etwa 25 % taxieren. Wenn
Worcester unter 70 gestorbenen Epileptischen 45 mal Tod infolge von
Anfällen konstatierte und nach Heimann in den preußischen Irrenanstalten
während des Zeitraumes von 1876 bis 1897 18,5% an den Folgen eines
epileptischen Anfalles starben, so bleibt es zwar zweifelhaft, um welche
Ereignisse es sich dabei im einzelnen gehandelt hat, man wird aber kaum
fehlgehen mit der Annahme, daß hierbei besonders auch Status epilepticus
eine sehr ins Gewicht fallende Rolle spielte. Die Angabe Köhlers, daß
unter 145 in der Anstalt Hubertusburg verstorbenen Epileptikern in
61,6% ein „Hirninsult“ Vorgelegen habe, bezieht sich auf alle möglichen
Zustände, auf frisch hervorgerufene Läsionen, wie auf ältere Gehirnleiden
und einfache letale Befunde wie Hyperämie und ödem; Status epilepticus
findet sich in seiner Tabelle 20 mal = 14% als Todesursache angeführt.
Nach den Mitteilungen Brehms aus der Anstalt Burghölzli er¬
eigneten sich innerhalb 17 Jahren unter 111 behandelten Epileptikern
14 Todesfälle, davon 1 durch Fractura cranii, 2 durch Erstickung, 7 durch
Kollaps im Status epilepticus bei Hirnerschöpfung. Unter den von Buzzard
zusammengestellten 38 Todesfällen standen 12 mit dem epileptischen
Leiden in Zusammenhang; 7 mal lag Status epilepticus vor. Nach Häher -
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830
Hahn,
maas gingen von den innerhalb der Anstalt Stetten Gestorbenen
47,6 % an Status epilepticus zugrunde, von den außerhalb Gestorbenen
59%; nach Ganter erlagen in Saargemünd von 87 zwischen 1880
bis 1904 gestorbenen Epileptikern 26=29,8% einem Status epilepticus.
und auch aus den Berichten über die Todesfälle in der Anstalt Wühl-
garten ließe sich ein ziemlich hoher Prozentsatz von Todesfällen infolge
von Status epilepticus herausrechnen. Jedenfalls ergibt sich aus alledem,
daß unbeschadet der guten Erfolge, die man vielfach mit rechtzeitiger
sachgemäßer Anwendung von Amylen- oder Choralhydrat usw. erzielt,
die Anzahl der Todesfälle an Status epilepticus überall noch immer eine
recht erhebliche zu sein scheint.
Nicht unerwähnt bleibe schließlich, daß nach Fire die Epileptiker
leicht akuten Krankheiten erliegen und oft von Phthise befallen werden
Er hält es für möglich, daß die Epilepsie durch die zirkulatorischen, respira¬
torischen und nutritiven Störungen, vielleicht im Bunde mit der bestehen¬
den kongenitalen Inferiorität, eine Disposition zur Phthise schafft, und
daß die den nervösen Entladungen folgenden Alterationen des Blutes
die Empfänglichkeit des Organismus für Krankheiten steigern. Auch
über tödlich verlaufene Kopf- und Gesichtsrosen — sie kommen in der
Regel traumatisch zustande — wird in der Kasuistik wiederholt berichtet
(vgl Fischer und Brehm).
Wenden wir uns nach dieser allgemeinen Umschau den in der
hiesigen Anstalt gewonnenen Ergebnissen zu, so sei zuvor noch folgen¬
des bemerkt: Die Todesursachen waren nicht lediglich aus den er¬
hobenen Sektionsbefunden zu ermitteln, es bedurfte zugleich einer
genauen Berücksichtigung der klinischen Beobachtungen und Fest¬
stellungen. Sektionsberichte standen von 533 epileptischen Kranken
zur Verfügung; bei den fehlenden 6 m. und 2 w. Kranken, die einer
Obduktion nicht unterworfen worden waren, boten sich zu Rück¬
schlüssen wenigstens in den vorhandenen Krankcnjoumalen aus¬
reichende Anhaltpunkte dar. Schwierigkeiten ergaben sich nur da,
wo sich mit an sich schon lebensgefährlichen Krankheitprozessen
noch andere nicht minder bedenkliche Krankheitzustände kom¬
binierten. Von manchen Befunden war es natürlich ohne weiteres
klar, daß sie keine Beziehung zu der tödlich verlaufenen Grundkrank¬
heit aufwiesen, daß sie mehr sekundär zur Entwicklung gelangte
Organveränderungen oder Residuen früherer Krankheiten u. dgl. m.
dar stellten, so etwa der Befund eines akuten Magendarmkatarrhs,
einer chronischen Leptomeningitis, eines alten Erweichungsherdes
im Gehirn, eines Niereninfarktes usw. Wenn sich dagegen neben
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Die Sterblichkeit, Todesursachen und Sektionsbefunde bei Epileptikern. 831
einer ausgebreiteteren Lungenaffektion eine schwere Herzstörung
oder neben einem Erysipel eine akute Meningitis, ein Lungenödem,
eine septische Allgemeinerkrankung u. ä. m. vorfanden, so konnten
Zweifel entstehen, welcher anatomisch nachweisbare Krankheit¬
prozeß als eigentliche Todesursache in Anspruch zu nehmen sei. In
Fällen dieser Art wurde in erster Linie die Grundkrankheit festzustellen
versucht und alle erst sekundär zur Entwicklung gelangten Organ-
yerändcrungen oder sonst noch erhobenen Sektionsbefunde, auch
wenn sie an sich vielleicht die eigentliche Todesursache abgegeben
hatten, als Nebenbefunde registriert.
Besonderen Schwierigkeiten begegnete diese Methode natur¬
gemäß bei Feststellung der im Anschluß an Anfälle zur Entwicklung
gelangten Folgekrankheiten. Hier kamen primär und sekundär am
allerhäufigsten lebensgefährliche Lungenaffektionen zustande, ver¬
bunden in der Regel mit Herzerschlaffung. Primär gab nicht selten
die Aspiration von Schleim und Speichel aus der Mundhöhle resp.
die Aspiration im Anfall erbrochener Massen zur Entstehung einer
schweren Pneumonie Anlaß; bei etwas längerem Bestehen rief dieselbe
dann leicht typische Gangränerscheinungen hervor. Die im Anfall
so oft akut ein setzende Herzschwäche andererseits hatte nicht selten
hochgradigste Blutstauungen zur Folge, die außer im Gehirn nament¬
lich auch in den Lungen die bedenklichsten Hyperämien und Ödeme
bewirkten. Sekundär stellten sich im weiteren Verlaufe dann oft
noch mehr oder minder ausgedehnte entzündliche Affektionen in den
Lungen ein. Es liegt auf der Hand, daß sich gerade hier für Kom¬
binationen der verschiedensten lebensgefährlichen Krankheitzustände
untereinander, besonders reiche Gelegenheit bot; scharfe Grenzen
zwischen den einzelnen Krankheitprozessen ließen sich daher gerade
hier am schwierigsten ziehen. Wo sich der Unterscheidung der Grund¬
krankheit von erst sekundär zur Entwicklung gelangten lebens¬
gefährlichen Zuständen unüberwindliche Schwierigkeiten entgegen¬
stellten, wurde dadurch eine gewisse Einheitlichkeit in den Angaben
herbeizuführen versucht, daß der klinisch im unmittelbaren Anschluß
an die Krampfanfälle am augenfälligsten hervorgetretene Krankheit¬
zustand als Todesursache in Anspruch genommen wurde. War eine
scharfe Abgrenzung der tödlich verlaufenen Grundkrankheit gegen
die Folgekrankheit oder gegen sonstige konkomittierende Krankheit-
ZtitMfarlft (Br Payobifttrie. LXIX. 6. 57
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832
Hahn,
Tabelle VII: Todesursachen der verstorbenen Epileptiker.
Todesursachen
Todesfälle überhaupt
M. | W. | 8 "e'| Prozent
In Zusammenhang
mit epileptischenZu-
ständen aufgetretene
Todesfälle
M. I W. S “T 'Prot
Selbstmord.
8
3
11
2,0
8
3
11
t
1 2,0
Asphyxie.
16
8
24
4,4
16
8
24
4,4
Plötzlicher Tod im Anfall.
5
5
10
1,8
5
5
10
1,8
Status epilepticus, bez.Coma
epilepticum .
63
54
117
21,6
63
54
117
21,6
Schädelbrüche.
8
3
11
2,0
8
3
! n
2,0
Tödliche Folgekrankheiten
nach Knochenbrüchen
anderer Art.
1
2
3
0,6
1
2
3
0,6
Gehirnaffektionen.
17
3
20
3,7
12
2
! 14
2,6
Marasmus.
9
5
14
2,6
\ —
Nennlasmen.
5
4
9
1,7
Herz - und GefäßafTektionen
28
18
46
8,5
12
7
19
3,5
Herz- und Gefäßruptur...
1
2
3
0,6
1
2
3
0,6
HerzerschlafTung und deren
Folgen (Hyperämienund
Ödeme).
33
23
56
10,3
33
23
56
10,3
Pneumonia crouposa .
7
3
10
1,8
—
—
—
—
Lungengangrän.
6
2
8
1,5
6
2
8
1,5
Emphysema pulmonum ...
4
1
5
0,9
1
—
1
0,2
Tuberkulose.
32
15
47
8.6
1
1
0,2
Lungenblut., Lungeninfarkt
2
2
4
0,7
1
1
2
0,4
Andere entzündliche Lun-
genaflektionen.
58
26
84
15,5
33
16
49
9,0
Erysipelas faciei.
5
4
9
1,7
5
3
8
1.5
Influenza (Pneumonie usw.)
10
5
15
2,8
—
—
—
—
Rp.harlarh ...
1
1
0,2
_
Peliosis rheumatica .
—
2
2
0,4
_
—
—
—
RkorVmt. .
1
1
2
0.4
Typhus exanthematicus ..
1
1
0,2
—
—
—
—
Septikopyämie.
3
1
4
0,7
2
1
3
0,6
Peritonitis purulenta.
5
3
8
1,5
2
1
3
0,6
Cholelithiasis. t . T ,„ f t , t .
2
2
0.4
Leberzirrhose .____ r T T ..
1
1
2
0,4
Magendarmblutung.
1
1
2
w >
0,4
—
—
—
—
Nenhritis.
2
6
8
1.5
_
Diabetes mellitus.
1
2 ,
3 1
0,6
—
—
— i
\
—
Summe.
CO
CO
206 [541
100,0
209
134 |343
63,4
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Die Sterblichkeit, Todesursachen und Sektionsbefunde bei Epileptikern. 833
zustände nach alledem auch nicht immer durchführbar, so wurde
möglichste Annäherung an die Wahrheit in den nachfolgenden An¬
gaben doch wenigstens allenthalben erstrebt.
Das so gewonnene Ergebnis aller einschlägigen Ermittlungen
findet sich in Tabelle VII zusammengestellt.
Wie diese Übersicht erkennen läßt, führten epileptische Zustände
oder deren Folgeerscheinungen in 343 =63,4% Fällen den Tod herbei,
während sich bei den Testierenden 198 =36,6% Todesfällen ein Zusammen*
hang mit dem epileptischen Leiden nicht sicher nachweisen ließ. Die
Einzelheiten ergeben sich aus der tabellarischen Zusammenstellung selbst.
Der Hauptanteil aller Todesfälle überhaupt entfällt auf Status epilepticus,
resp. Coma epilepticum = 21,6 %; nächstdem sind am stärksten vertreten
entzündliche Lungenaffektionen und aus plötzlicher Herzerschlaffung
hervorgegangene lebensgefährliche Zustände; es folgen, mit annähernd
gleich starker Beteiligung (8,5 bzw. 8,6%), Herz- und GefäßafTektionen
sowie Tuberkulose, vorzugsweise der Lungen; unter den übrigen Todes¬
ursachen entfallen etwas höhere Prozentzahlen nur noch auf „Asphyxie“
und akzessorische „Gehirnaffektionen“, auf erstere 4,4%, auf letztere
3,7%; die sonstigen Todesursachen erreichen durchweg nicht die Höhe
von 3 %.
Die Influenza stellte sich während der Berichtszeit auch in der
hiesigen Anstalt wiederholt in ausgedehnterem Maße ein, raffte in¬
dessen durch die in ihrem Gefolge auftretenden Nebenkrankheiten,
insbesondere durch Lungen- und Herzaffektionen, speziell unter
den Schwachen und Elenden nur verhältnismäßig wenige Patienten
dahin. Im übrigen traten schwere Epidemien nicht auf. Die tödlich
verlaufenen Fälle von Skarlatina, Typhus exanthematicus, Peliosis
rheumatica und Skorbut blieben vereinzelt; Typhus und Skorbut
waren von außen eingeschleppt worden. Infektiöse Kinderkrank¬
heiten wie Scarlatina, Morbillen, Rubeolen, Diphtherie, Varicellen
gelangten hier zwar wiederholt zur Behandlung; der Tod trat jedoch
nur bei einer an Scarlatina erkrankten und zugleich an bedeutender
Herzhypertrophie und chronischer Endokarditis leidenden 19 Jahre
alten Epileptica infolge von Herzschwäche ein. Leichtere und schwerere
Anginen, eventuell mit stärkerer Beteiligung der Atmungswege am
Krankheitprozesse, sind hier ein recht häufiges Vorkommnis; nicht
allzu selten stellte sich darnach — namentlich bei jugendlichen weib¬
lichen Personen und vorzugweise in den Frühjahrs- und Herbst¬
monaten — mehr oder minder ausgedehntes Erythema nodosum
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Original fro-m
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834
Hahn.
an den Unterschenkeln, gelegentlich auch an den oberen Extremitäten
unter Fieber und Gelenkschmerzen ein; aber nur ganz vereinzelt
gesellten sich — insbesondere bei Rezidiven — unter zunehmendem
Fieber seröse Ergüsse in die Gelenke, periartikuläre Ödeme, Endo¬
karditis, Perikarditis, Pleuritis und Hautblutungen hinzu, also Krank¬
heiterscheinungen, die eine starke Wesensverwandtschaft zum akuten
Gelenkrheumatismus erkennen lassen; einen tödlichen Verlauf
nahmen hiervon nur die zwei als Peliosis rheumatica bezeichneten
sehr schweren Krankheitfälle, von denen der eine eine 31, der andere
eine 37 Jahre alte Frau betraf. Die beiden Falle von Skorbut gelangten
bei einem 11% Jahre alten Knaben und bei einer 58 Jahre alten Frau
zur Beobachtung und endeten im ersteren Falle durch schwere innere
und Hautblutungen, sowie schließlich hinzugetretenes Lungenödem,
im letzteren Falle durch Herzmuskelentartung und allgemeinen
Marasmus tödlich.
Von diesen wenigen Fällen abgesehen, gelangten besondere
Schädlichkeiten, die vorübergehend oder dauernd eine Steigerung
der Sterblichkeit über das natürliche Maß hinaus herbeizuführen
geeignet gewesen wären, in der hiesigen Anstalt wohl nie zu verhängnis¬
voller Wirksamkeit, man wird die in der obigen Tabelle niedergelegten
Ergebnisse daher unbedenklich als Durchschnittswerte betrachten
dürfen.
Das ergibt sich namentlich auch aus der verhältnismäßig kleinen
Zahl von Opfern, die die Tuberkulose gefordert hat. Der
Prozentsatz der Todesfälle an Tuberkulose war hier nicht wesent¬
lich höher als in der Gesamtbevölkerung Sachsens überhaupt; pflegte
sie im Lande alljährlich doch mit etwa 8% unter den Todesursachen
vertreten zu sein. Da von den hier Verstorbenen keiner länger als
3 Jahre in der Anstalt verweilt hatte, so darf wohl angenommen
werden, daß dieselben ihre Tuberkulose nicht erst in der Anstalt
erworben, sondern schon von außen mitgebracht hatten. Das erreichte
Alter betrug bei 6 m. und 2 w. Kranken 9—20, bei 21 m. und 6 w.
Kranken 20—40 und bei den verbleibenden 12 Kranken 40—58 Jahre.
Immer zeigten sich in erster Linie die Lungen von ausgedehnten
Zerstörungen betroffen; außerdem fanden sich bei 10 m. und 7 w.
Kranken tuberkulöse Geschwüre im Darm, bei 6 m. und 5 w. Kranken
ausgebreitetc Veränderungen an den Lymphdrüsen vor, kombiniert
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Die Sterblichkeit, Todesursachen und Sektionsbefunde bei Epileptikern. 835
in 5 Fällen mit schwerster tuberkulöser Pleuritis und Peritonitis;
allgemeine Tuberkulose lag bei einer w. Kranken vor, während eine
andere w. Kranke neben Lungen- noch Hauttuberkulose und ein
m. Kranker neben vielfachen anderen Veränderungen insbesondere
noch Knochentuberkulose darbot. Jedenfalls handelte es sich in
allen diesen Fällen stets um schwerste Formen der Tuberkulose, um
Formen, die allgemeine Emaziation zur Folge hatten.
Soweit die in der Literatur vorhandenen spärlichen Angaben einen
Schluß zulassen, werden so günstige Zahlenverhältnisse im übrigen jedoch
nirgends gewonnen. Je nach den herrschenden hygienischen Verhältnissen
und nach der physischen Beschaffenheit des zur Unterbringung gelangten
Krankenmaterials unterliegt freilich die Sterblichkeit infolge von Tuber¬
kulose in den verschiedenen Anstalten und innerhalb derselben Anstalt
selbst in den einzelnen Jahren großen Schwankungen. Erlagen doch auch
hier 17 m. und 6 w. Kranke bereits in den ersten 4 Berichtsjahren der
Tuberkulose, während in den folgenden 17V 3 Jahren nur noch im ganzen
15 m. und 9 w. Kranke diesem Leiden zum Opfer fielen. Im allgemeinen
aber ergibt sich aus den Mitteilungen Ganters u. a., daß speziell in den
Irrenanstalten die Sterblichkeit an Tuberkulose trotz aller hygienischen
Vervollkommnungen fast überall noch eine recht hohe ist, und ein gleiches
war für die sächsischen Irrenanstalten festzustellen, wo innerhalb der
letzten Jahre zwar ein gewisser Rückgang in der Tuberkulosesterblichkeit
eingetreten zu sein scheint, der Prozentsatz der Todesfälle an Tuberkulose
nach den Erhebungen der letzten 10—15 Jahre sich aber immerhin noch
auf etwa 15,5 % beläuft, über die Sterblichkeit der Epileptiker an Tuber¬
kulose liegen im übrigen nur vereinzelt Mitteilungen vor: sie betrug nach
Köhler in Hubertusburg 16,7%, nach Habermaas in Stetten
10%, nach Ganter in Saargemünd 21,8% und scheint nach den
offiziellen Berichten aus der Anstalt Wuhlgarten auch dort recht
häufig konstatiert zu werden.
Spuren von Tuberkulose werden freilich auch hier nicht allzu
selten bei den Obduktionen gefunden, teils in Form verkäster, mit
Bindegewebe umgebener Knötchen oder verkalkter Herde, teils in
Form von narbigen Einziehungen und Verwachsungen; die Sektions¬
berichte erwähnen dergleichen Nebenbefunde bei 185=34,3% an
anderen Erkrankungen zugrunde gegangenen Individuen, und zwar
bei 108 m. und 77 w. Epileptikern; aber die ausnehmend günstigen
Lebensverhältnisse, in die die Epileptiker nach ihrer Unterbringung
hierselbst gelangen, bringen den Krankheitprozeß selbst bei ursprüng¬
lich sehr stark ausgeprägten Erscheinungen in der Regel überraschend
schnell zum Stillstand oder lassen ihn wenigstens nur langsam und
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836
Hahn.
in weit auseinanderliegenden Intervallen fortschreiten. Jedenfalls
konnte die Vermutung Feres, daß neben der kongenitalen Inferiorität
den durch die Anfälle herbeigeführten zirkulatorisehen. respiratorischen
und nutritiven Störungen ein verhängnisvoller Einfluß auf die Ent¬
stehung und Fortentwicklung der Tuberkulose zuzuschreiben sei,
ebensowenig wie seine Behauptung, daß die Epileptiker ,.sehr oft"
der Lungenschwindsucht erliegen, an dem Material der hiesigen Anstalt
bestätigt werden; nur soviel ist sicher, daß die Mehrzahl der Epileptiker
körperlich entartet und wenig kräftig und rüstig ist: wenn die Kranken
aber nicht schon bei der Aufnahme mit Tuberkulose behaftet waren,
so blieben sie in der hiesigen Anstalt selbst bei jahrelangem Aufent¬
halte und bei sehr häufig sich einstellenden Krampfanfällen völlig
frei davon.
Die Widerstandkraft der Epileptiker gegen akute
fieberhafte Krankheiten zeigte sich nach den Beobach¬
tungen in der hiesigen Anstalt nicht in dem Maße herabgesetzt, wie
vielfach angenommen wird. Dem widerspricht schon die relativ geringe
Zahl der hier an interkurrenten Infektionskrankheiten zugrunde
gegangenen Patienten; dieselben forderten im allgemeinen nur unter
von vornherein Siechen und Elenden oder sonst durch chronische
Leiden Gefährdeten ihre Opfer, eine Wahrnehmung, die wohl all¬
gemeine Gültigkeit beansprucht und nichts für Epileptiker Spezifische?
erkennen läßt. Nach den hier gewonnenen Erfahrungen, die auch
sonst ( Fert , Goirers ) Bestätigung finden, sistieren die Krampfanfälle
während einer akuten fieberhaften Krankheit in der Regel oder treten
wenigstens nur selten und in stark abgeschwächter Form in die Er¬
scheinung, um erst einige Zeit nach Ablauf der interkurrenten Er¬
krankungen wieder in der früheren Weise sich bemerkbar zu machen:
gefährdet sind die Epileptiker aber weitaus am meisten durch ihre
Krampfanfälle selbst bzw. durch die in deren unmittelbarem Gefolse
sich einstellenden lebensgefährlichen Krankheitzustände, vor allen,
durch Herzschwäche und gleichzeitig zur Entwicklung gelangende
Lungenaffektionen. Das ergibt sich aus den hier gewonnenen Resultaten
mit unzweifelhafter Gewißheit: den im Zusammenhang mit epilepti¬
schen Zuständen erfolgten Todesfällen gegenüber treten alle übrigen
Todesursachen weit zurück; außer den besprochenen tödlich ver¬
laufenen Erkrankungen führten unabhängig von epileptischen Zu-
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Die Sterblichkeit, Todesursachen and Sektionsbefunde bei Epileptikern. 837
ständen nur noch vereinzelt schwere allgemeine Erkrankungen wie
hochgradigster Marasmus, Diabetes mellitus, Septikopyämie und
Peritonitis purulenta oder chronische Leiden wie Herz- und Gefäß -
affektionen, Emphysema pulmonum, Neoplasmen, Nephritis, Leber¬
zirrhose und Cholelithiasis oder akut unter ähnlichen Bedingungen
wie gewöhnlich zustande gekommene lebensgefährliche Affektionen
wie Apoplexie, Lungen-, Magendarmblutung, Erysipel, krupöse und
katarrhalische Lungenentzündungen, resp. ausgedehnte eitrige Bron¬
chitis und schwere Pleuritis usw. den Tod herbei.
Bei den 14 an Marasmus zugrunde gegangenen Kranken
handelte es sich 2 mal um jugendliche, 12 mal um ältere, mit aller¬
hand chronischen Leiden behaftete Individuen. Die hier oder dort
festgestellten Organveränderungen waren für sich und in ihrer Gesamt¬
heit wohl geeignet, allmählich einen fortschreitenden Verfall der
Kräfte herbeizuführen; im einzelnen aber waren sie nicht derartig,
um sie für sich als spezielle Todesursachen in Anspruch nehmen zu
können. Von lediglich agonalen Befunden wie Herzerschlaffung und
allgemeinen Stauungserscheinungen in den inneren Organen abgesehen,
fanden sich dabei u. a. sehr oft pleuritische Verwachsungen und Kesi-
duen früherer Tuberkulose, ferner 3 mal Dekubitalgeschwüre, die
sich sonst im ganzen nur selten bei Epilepsie einstellen, 8 mal chro¬
nische Meningitis, 7 mal chronische Herzleiden, 6 mal schwerere
sklerotische Veränderungen an den Gefäßen, 3 mal chronische Bron¬
chitis, 2 mal Emphysem, 6 mal Fettleber, 2 mal Gallensteine, 1 mal
Pyelonephritis und Zystitis, 3 mal Zystenniere, 1 mal chronische
Enteritis, 1 mal auf tuberkulöser Basis erwachsene Periproktitis,
1 mal ausgedehnte Karies der Halswirbelsäule.
Der letztere Fall betraf ein 14 ^jähriges Mädchen, bei dem der
Zerstörungsprozeß mehrere Wirbelkörper in Mitleidenschaft gezogen
und die dadurch herbeigeführte Deformation der Halswirbelsäule unter¬
halb des Foramen magnum eine Verengerung des Wirbelkanals und damit
zugleich eine Kompression der Medulla bewirkt hatte.
Im übrigen verdienen noch besondere Erwähnung vier akzessorische
Gehirnbefunde: Ein 20*72 Jahre alt gewordener Kranker zeigte ausge¬
sprochenen Hydrocephalus externus und internus, eine über 70 Jahre
alte Frau mehrere alte Erweichungsherde im Gehirn, bei einer anderen
über 50 Jahre alten Frau fand sich im Bereiche der dritten linken Stirn-
und vorderen Zentralwindung ein wallnußgroßer, derber, gestielt auf-
sitzender Tumor nicht näher beschriebener Art, während ein 60*4 Jahre
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838
Hahn,
alter Mann an der unteren inneren und seitlichen Fläche des linken Stirn -
hirns nahe dem Gyrus rectus und dem Lobus parietalis eine gänseeigroße
Dermoidzyste aufwies. Ob diese Veränderungen am Zentralnervensystem
besondere Symptome im Leben gemacht haben, war aus den Kranken¬
journalen leider nicht zu ersehen; stets wird nur von allgemeinen tonisch -
klonischen Muskelkrämpfen berichtet, wie sie der genuinen Epilepsie
zukommen.
In den neun Fällen von Neoplasmen handelte es sich durch -
gehends um bösartige Neubildungen mit Ausgang in allgemeine Kachexie.
5 Männer und 3 Weiber gingen, zwischen 33 Yz und 56 Jahren alt. an
Karzinom zugrunde. Einmal lag Kardia- bzw. Ösophagus-, dreima]
Pyloruskarzinom vor, zweimal war die Geschwulst in der kleinen Kurvatur
des Magens zur Entwicklung gelangt, einmal im Uterus, einmal bestand
primär Kankroid der rechten Ohrmuschel. Bei 3 Männern und 2 Weibern
werden Metastasen erwähnt, teils in umgebenden Lymphdrüsen. teils
in entfernteren Organen. Eine 57 1 4 Jahre alte Frau erlag einem recht¬
seitig aufgetretenen Beckenschaufelsarkom, das Metastasen im linken
Oberarm und in den Rippen zur Folge hatte. Metastasen im Gehirn ge¬
langten in keinem dieser Fälle zur Beobachtung; ebensowenig war eine
Veränderung des epileptischen Grundleidens nach Form und Verlauf
wahrzu nehmen.
Von den akzessorischen Gehirnaffektionen standen
nur 6 Todesfälle in keiner erkennbaren Beziehung zu epileptischen
Zuständen.
2 Männer im Alter von 47 und 54 Jahren erlagen plötzlich ein
getretenen „Schlaganfällen“; in dem einen Falle bestand neben chronischer
Myo- und Endokarditis hochgradigste allgemeine Arteriosklerose, die
schließlich zu einer größeren Blutung aus einem Aste der rechten Arteris
fossae Sylvii führte, in dem anderen Falle waren schon wiederholt kleinen:
Blutungen in die Zentralganglien erfolgt, die Erweichungsherde hinter¬
ließen, während die letzte Blutung in die innere Kapsel tödlich endete.
Ein 32 Jahre alter Kranker, der seit geraumer Zeit an eitriger Mittelohr¬
entzündung und Karies des rechten Felsenbeins litt, ging an Thrombo¬
phlebitis und anschließender eitriger Meningitis zugrunde. Man muß
erstaunt sein, daß solche Ereignisse bei der Häufigkeit chronischer Mittel-
ohrkatarrhe unter den hiesigen Epileptikern nicht öfter sich zu trugen
Allmählich sich steigernde Erscheinungen von Hirndruck, bedingt durch
Tumoren, lagen bei drei Kranken vor: ein 12 Jahre alter Knabe, der
schließlich im marastischen Zustande einer hinzugetretenen rechtsedigrr
Lungenentzündung zum Opfer fiel, wies an den Spitzen beider Stirnlapperi
Verwachsungen auf „durch ein — wie es im Sektionsprotokoll heißt —
atypisches, aus der Rinde wucherndes Gewebe von derber gelatinöse
Beschaffenheit und unregelmäßiger Ausdehnung, in Größe und Fonr
einer Morchel entsprechend“. Bei einem 36 Jahre alten Manne waren di«
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Die Sterblichkeit, Todesursachen und SektionBbefunde bei Epileptikern. 839
Gehirndrucksymptome hervorgerufen worden durch eine vom vierten
Ventrikel ausgegangene, zum Teil zystisch entartete Geschwulst, die sich
unter dem Kleinhirn und der Brücke hin bis zum Chiasma opticum er¬
streckte; die Hypophysis fand sich dabei mäßig vergrößert. Der dritte
Fall betraf eine 32% Jahre alte Frau, bei der sich zu beiden Seiten der
rechten Zentralwindung eine über gänseeigroße, typische Echinokokkus¬
blase fand. Auch in diesen Fällen werden wesentliche Abweichungen
vom Bilde einer gewöhnlichen genuinen Epilepsie in den Kranken¬
geschichten im übrigen nicht erwähnt.
Die Fälle von Diabetes mellitus, Nephritis, Leberzirrhose und Chole-
lithiasis verliefen durchaus chronisch und führten wie gewöhnlich durch
Erschöpfung resp. durch akute Herzinsuffizienz und sonstige Neben¬
krankheiten den Tod herbei. Von einer Beeinflussung des epileptischen
Grundleidens durch diese erst im späteren Verlaufe hinzugetretenen
Krankheiten wird nichts berichtet. Die hämorrhagischen Lungeninfarkte
waren bei geschwächter Zirkulation im Anschluß an Herzklappenfehler
resp. bei ulzeröser Endokarditis zur Entwicklung gelangt, beide Male
rechts; in dem einen Falle — bei einer 20% Jahre alten Kranken — trat
der Tod erst nach konsekutivem brandigen Zerfall des ganzen rechten
Lungenunterlappens ein. Den tödlich verlaufenen Magendarmblutungen
lag das eine Mal ein Ulcus ventriculi, das andere Mal eine Leberzirrhose
zugrunde. In den 5 unabhängig von epileptischen Zuständen eingetretenen
Fällen von Peritonitis purulenta handelte es sich stets um Weiterver¬
breitung entzündlicher Prozesse aus der Umgebung über das Peritoneum;
3 mal bestand primär Perityphlitis, 1 mal inkarzerierte Hernia femoralis,
t mal Pyosalpinx. Eine 38% Jahre alte Frau erlag einer durch Strepto¬
kokken hervorgerufenen Septikopyämie, ohne daß es bei der Unter¬
suchung im Leben und nach dem Tode gelungen wäre, die Eingangpforte
für die Kokken aufzufinden. Der einzige Fall von tödlich verlaufenem
Erysipelas faciei, bei dem es nicht möglich war, eine Beziehung zu epi¬
leptischen Zuständen festzustellen, ereignete sich bei einer 47 Jahre alten
Frau, die an ausgedehnter chronischer Tuberkulose der Mesenterial- und
Halslymphdrüsen litt und im Anschluß an das mutmaßlich von einer
Fistel ausgegangene Erysipel noch allgemeine Streptokokkensepsis
akquirierte.
Lungenemphysem führte unabhängig von epileptischen Zuständen,
wie sich aus der obigen Übersicht ergibt, 4 mal zum Tode, stets nach
jahrelanger Dauer der Krankheit, 2 mal durch Herzschwäche, 2 mal
durch interkurrente fieberhafte Bronchialkatarrhe. Bei den übrigen
unabhängig von epileptischen Zuständen Gestorbenen handelte es sich
um folgende Krankheitprozesse, bei denen in der Regel plötzliche Herz-
erschlaffung die unmittelbare Todesursache bildete: 10 mal um Pneumonie
crouposa (7 M., 3 W.), 28 mal um katarrhalische Pneumonie resp. um
schwerste Bronchitis (21 M., 7 W.), 7 mal um exsudative Pleuritis resp.
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840
Hahn,
um Empyem (4 M., 3W.), 3 mal um Pericarditis exsudativa (i M.. 2 W.),
8 mal um Klappenfehler mit Herzhypertrophie (5 M, 3 W.), 9 mal um
schwerste Formen von Arteriosklerose (7 M., 2 W.), 7 mal um Fettherz
und sonstige Erkrankungen des Herzmuskels (3 M., 4 W.).
Besonderes Interesse beanspruchen unter den Todesfällen natur¬
gemäß diejenigen, welche im Zusammenhang mit epileptischen Zu¬
ständen eingetreten sind; ihre Zahl beläuft sich, wie die obige Über¬
sicht zeigt, auf etwa 6 /s aller überhaupt vorgekommenen Todesfälle.
Der Häufigkeit nach an der Spitze stehen, wie bemerkt, die durch
Status epilepticus resp. Coma herbeigeführten Todesfälle. War es
schon klinisch nicht immer möglich, die Ursache des Eintritts eines
solchen Zustandes festzustellen, so gelang es auch durch die Obduktion
nicht, sicheren Aufschluß darüber zu gewinnen. Nur die schon im
Leben so hochgradig hervortretende venöse Stauung machte sich durch-
gehends auch an der Leiche bemerkbar; im übrigen erinnerten die
Befunde durchaus an diejenigen bei gewöhnlicher Asphyxie. Alle
Eingeweide zeigten sich blutüberfüllt, ebenso die Venen, die venösen
Sinus des Gehirns, das rechte Herz. Die Stauung pflegte namentlich
auch in den Lungen und im Gehirn stets sehr ausgesprochen hervor¬
zutreten und hierzu erheblichen Hyperämien und Oedemen zu führen.
Der Tod kommt unmittelbar wohl in der Regel durch zunehmende
Herzinsuffizienz zustande, mag dieselbe nun durch nachweisbare
organische Herz- und Gefäßleiden, durch fettige Degeneration des
Herzmuskels, durch die im Anfall so erheblich gesteigerten mechani¬
schen Anforderungen an die Herzkraft oder durch toxische Wirkungen
bedingt sein. Die Angabe Ffoe s, daß die stark injizierten Gehirnhäute
bei längerer Dauer des Status an den Gehirnwindungen adhärierten
und sich nur schwer abziehen ließen, fand bei den hiesigen Obduktionen
keine Bestätigung; immer wird vielmehr ausdrücklich bemerkt, daß
die weichen Häute leicht in zusammenhängenden Lamellen sich
ablösen ließen. Vielleicht erklärt sich die Verschiedenheit der Befunde
daraus, daß dort die Sektionen erst längere Zeit nach dem Tode, hier
dagegen meist schon 2—10 Stunden darnach vorgenommen wurden.
Alle übrigen Befunde bei Status epilepticus bzw. Coma epilepticum
unterliegen vielfachem Wechsel und lassen nichts für diese Zustände
Spezifisches erkennen. Ekchymosen auf dem Herzbeutel, auf der
Pleura, auf der Gehirnoberfläche finden sich nur gelegentlich, ebenso
Hämatom der Dura mater und größere Blutaustritte oder dadurch
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Die Sterblichkeit, Todesursachen and Sektionsbefande bei Epileptikern. 841
herbeigeführte Gewebszerstörungen im Zentralnervensystem; sie
kommen in der Regel wohl nur — ähnlich wie Haut- und Konjunktival-
blutungen — bei abnorm heftigen Krampfanfällen infolge der hoch¬
gradigen mechanischen Kongestion oder bei allgemein bestehender
Arteriosklerose zustande. Nicht allzu selten findet sich bei längerem
Bestehen des Komas hypostatische und Schluckpneumonie resp.
beginnende Gangrän im Unterlappen als Nebenbefund; der Tod wird
aber wohl auch in diesen Fällen schließlich durch Herzlähmung herbei¬
geführt. Ekchymosen an der Oberfläche der genannten Organe werden
in den Sektionsprotokollen bei 17 m. und 16 w. im Status resp. Koma
erlegenen Kranken erwähnt. Größere Blutaustritte im Gehirn fanden
sich bei 7 m. und 4 w., Hämatom der Dura mater bei 13 m. und 6 w.
Kranken. Anschoppungen oder entzündliche Veränderungen der
Lungen in allen Übergängen von einfacher Hypostase in den hinteren
unteren Abschnitten bis zu mehr oder minder weit fortgeschrittener
Pneumonie und Gangrän, meist kombiniert mit Ödem und allgemeiner
Hyperämie in den übrigen Lungenbezirken, wurden bei 53 m. und
49 w. Kranken, also bei insgesamt etwa 8 /« aller im Status resp.
Koma Gestorbenen festgestellt.
Befunde dieser Art sind überhaupt, wie die obige Tabelle er¬
kennen läßt, etwas sehr Gewöhnliches bei allen im Anschluß an Krampf¬
anfälle zugrunde gegangenen Kranken. Ein Teil derselben über¬
windet freilich die eintretenden bedrohlichen Symptome allmählich
wieder unter dem Einfluß der angewandten therapeutischen Ma߬
nahmen ; nur zu oft aber versagen alle Mittel, die Herzschwäche nimmt
stetig zu, die Kranken sterben zwar nicht im Anfall oder im Koma
direkt, erliegen aber schließlich doch noch den durch die Anfälle
herbeigeführten schweren Störungen der Herztätigkeit, resp. den
durch die Stauungen und durch die Aspiration von Schleim, Speichel
oder Erbrochenem zustande gekommenen Hyperämien, Ödemen und
entzündlichen Lungenaffektionen. Zieht man alle im Anschluß an
Krampfanfälle zugrunde Gegangenen, bei denen außer gewöhnlicher
Herzerschlaffung, allgemeiner Stauung und entzündlichen Affektionen
in den Lungen weitere lebensgefährliche Erkrankungen weder klinisch
soch pathologisch-anatomisch sich zeigten, in eine größere Gruppe
zusammen, so ergibt sich, daß 72 m. und 41 w. = 20,8% Kranke
solchen Zuständen zum Opfer fielen. Die Sektionen ergaben in diesen
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Hahn,
Fällen stets Herzschlaffheit und allgemeine Stauungserscheinungen.
daneben aber 57 mal entzündliche Lungenaffektionen, und zwar
lagen 56 mal = 10,3% in den Lungen nur Hyperämien und Ödeme
resp. einfache Hypostasen vor, 49 mal = 9,0% handelte es sich um
hypostatische resp. um aspirative Pneumonien, 8 mal = 1,5% um
typische Lungengangrän. Die entzündlichen Prozesse waren stet?
in den hinteren unteren Lungenabschnitten lokalisiert, meist beider¬
seits, in den Fällen mit einseitiger Erkrankung aber etwas häufiger
rechts als links, ein Ergebnis, wie es wohl gewöhnlich gewonnen wird.
Mit Todesfällen dieser Art ist aber die Zahl derjenigen nicht
erschöpft, die erst einige Tage oder Wochen nach Ablauf der Paroxysmen
zunehmender Herzerschlaffung oder sonstigen Folgekrankheiten zum
Opfer zu fallen pflegen. Selbstverständlich konnten dabei immer nur
solche in der Regel tödlich verlaufende Krankheitprozesse Berück¬
sichtigung finden, die im unmittelbaren Anschluß an abgelaufeoe
Krampfanfälle oder sonstige epileptische Zustände zur Entwicklung
gelangt waren oder wenigstens sofort darnach eine bedenkliche Form
angenommen hatten. In dieser Hinsicht wirkten für einen Teil der
Epileptiker namentlich begtehende schwere Herz- und Gefäßaffektionen
verhängnisvoll. Unter dem Einflüsse solcher Krankheiten trat der
Tod bei 3 m. und 4 w. Kranken sogar direkt im Anfalle selbst ein,
während 10 m. und 5 w. Kranke erst später den eingetretenen schweren
Alterationen erlagen.
Bei den 7 direkt im Anfall Gestorbenen handelte es sich um folgend"
Zustände: Ein 63% Jahre alter Mann, der an Myokarditis infolge von
Koronararteriensklerose litt, bekam eine Ruptur des linken Herzventrikeb:
als Nebenbefunde ergaben sich Lungenemphysem, Leberzirrhose mäßigen
Grades, Kolloidentartung der Nebennieren und Verwachsensein derselben
mit den Nieren; ein 42 Jahre alter Mann wies totale Obliteration de^
Herzbeutels auf und zeigte außerdem ausgedehnte Adhäsivpleuritis und
-peritonitis neben hämorrhagischen Infarkten in beiden Lungen, sowie
Cholelithiasis; bei einem 53 % Jahre alten Manne lag hochgradigste Arterio¬
sklerose insbesondere der Aorta und der Koronararterien vor, während
sich zugleich noch zahlreiche Ekchymosen auf der Brust, im Gesicht,
unter der Pleura und dem Epikard sowie zahlreiche Blutaustritte in beiden
Lungen fanden. Zwei an allgemeiner Arteriosklerose leidende 41 Jahre
alte Frauen gingen an Aneurysmarupturen der linken Arteria subclavia
bzw. der Aorta zugrunde; die eine bot als Nebenbefunde chronische Bron¬
chitis und chronischen Blascnkatarrh dar. Die beiden anderen Falle
betrafen ein 13 jähriges, an Mitralklappeninsuffizienz leidendes Mädchen.
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Die Sterblichkeit, Todesursachen und Sektionsbefunde bei Epileptikern. 843
bei dem punktförmige Blutaustritte in die Haut und unter die Pleura
angeführt werden, und eine 62 Jahre alte Frau mit ausgedehnter Arterio¬
sklerose und Aortenklappeninsuffizienz. Die übrigen erst im Anschluß
an Krampfanfalle Gestorbenen 15 Herz- und Gefaßkranken litten an
folgenden AiTektionen: 4 Männer und 1 Frau an allgemeiner Arterio¬
sklerose, 3 Männer und 1 Frau an chronischer Endokarditis, 2 Männer
und 3 Frauen an Herzhypertrophie und Herzmuskelentartung, 1 Mann
an fibrinöser Perikarditis. Unter den Nebenbefunden standen überall
die Erscheinungen allgemeiner Stauung im Vordergründe.
Weniger Gefahren als chronische Herz- und Gefäßleiden resp.
plötzlich einsetzende Herzschwäche scheinen chronische Lungenleiden
bei Krampfanfällen zu bedingen.
Freilich boten auch die im Anschluß an Anfälle Gestorbenen vielfach
chronische Veränderungen an den Lungen dar, teils in Form tuberkulöser
Prozesse, teils in Form pleuritischer Verwachsungen und emphysematöser
oder bronchitischer Erscheinungen; aber in ausgedehnterem Maße lagen
solche Affektionen nur bei zwei im Anschluß an Paroxysmen erlegenen
Kranken vor, bei einem 64 Jahre alten Emphysematiker, der nebenbei
allgemeine Arteriosklerose und einige ältere Erweichungsherde im Gehirne
aufwies, und bei der oben bereits berücksichtigten, 28 Jahre alten Frau,
die außer an vorgeschrittener Lungen- noch an Hauttuberkulose litt.
Ob zwei im Anschluß an Anfälle tödlich verlaufenen schweren Lungen¬
blutungen bei einem 24*/« Jahre alten Manne und einer 22*/« Jahre alten
Frau Tuberkulose zugrunde lag, ist weder aus den Krankengeschichten
noch aus den Sektionsprotokollen mit Sicherheit zu entnehmen.
Gehirnaffektionen gaben bei 14 im Zusammenhang mit Krampf¬
anfällen Gestorbenen die Todesursache ab = 2,6%. 3 Männer und
2 Frauen starben direkt im Anfall, die übrigen 9 Männer erst später.
Bei den direkt im Anfall Gestorbenen wurde der Tod 2 mal durch
Gehirnblutungen, 1 mal durch ausgedehntes Hämatom der Dura mater
herbeigeführt, stets nach vorausgegangenem Kopftrauma. Bestehende
Arteriosklerose resp. chronische Endokarditis scheint begünstigend
gewirkt zu haben.
Bei einer 33 Jahre alten, im Anfall verschiedenen Frau fand sich
linkerseits ein „aus zwei Abschnitten bestehender, weicher, gallertartiger,
aus der Fossa Sylvii hervortretender, ausgebreiteter Tumor“, der im
übrigen nicht näher untersucht worden ist, während bei einem 34*/« Jahre
alten Manne der plötzliche Tod durch einen obsoleten Zystizerkus im
vierten Gehirnventrikel herbeigeführt wurde; als Nebenbefunde fanden
sich hier neben einem weiteren obsoleten Zystizerkus in der Leber all¬
gemeine Hyperämie, Hydrocephalus internus und Ependymkörnung.
Bei den 9 erst später gestorbenen Männern ließen sich, von sonstigen
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Nebenbefunden wie Erweichungsherden, chronischer Meningitis, ödes
und Hyperämie abgesehen, feststellen: 5 mal ausgedehnte Durahäma*
tome, 3 mal frische zerebrale Blutungen, 1 mal eitrige Basilarmeningiiis,
die ihren Ausgang von einer ausgedehnten, sekundär vereiterten Ver¬
letzung der Kopfschwarte genommen hatte.
Im übrigen handelte es sich bei den im Zusammenhang mit epi¬
leptischen Zuständen aufgetretenen Todesfällen 11 mal um Schädel¬
brüche = 2 %, 3 mal um andere Frakturen und daraus hervorgegangen«
schwere Folgezustände = 0,6%, 3 mal um sekundäre Peritonitis poru-
lenta = 0,6 %, 3 mal um Septikopyämie = 0,6 %, 8 mal um Erysipelas facki
= 1,5%, 24 mal um Asphyxie = 4,4%, 11 mal um Selbstmord = 2,0 f_.
10 mal um sonstige plötzlich im Anfall erfolgte Todesfälle = 1,8%.
Die Schädelbrüche waren stets durch direkte Gewalteinwirkung
beim Niederstürzen herbeigeführt worden. Immer lag Basisfraktur
vor, nur 4 mal zugleich ausgedehntere Zertrümmerung des Stirn-
und Hinterhauptbeins. Verletzungen der Hautdecken und stärkere
Hautblutungen an der Kopfschwarte waren 6 mal notiert, während
sekundäre Veränderungen an den Häuten und am Gehirn in Form
von Blutungen, Gewebszerstörungen, Erweichungen usw. sich in allen
Fällen fanden, teils in geringerem, teils in größerem Umfange.
Die tödüch verlaufenen sonstigen Knochenbrüche betrafen: Fraktur
der sechsten linken Rippe bei einem 60 Jahre alten marastischen Manne,
der schließlich zunehmender Herzschwäche und hinzugetretener Unter¬
lappenpneumonie erlag, Fraktur des rechten Unterschenkels mit an¬
schließender Fettembolie und ödem der Lungen, sowie Atelektase der
Unterlappen bei einer 22 Jahre alten, sonst rüstigen Frau und Schambein-
und Rippenfrakturen mit anschließender Herzlähmung bei einer 65 Jahre
alten marastischen Frau.
Der im Anschluß an Krampfanfälle aufgetretenen Peritonitis puru-
lenta lag das eine Mal eine Zerreißung des Darms zugrunde, die sich ein
49 Jahre alter Kranker durch Fall an die Kante eines Stuhls zugezogen
hatte; bei einem anderen an Lat-nnecscher Leberzirrhose leidenden Kranken
ging dieselbe von einein im Anfall zustande gekommenen Nabelbrueh
mit Inkarzeration aus. Nicht einem Anfälle, sondern hochgradigster
geistiger Abschwächung mit interkurrenten depressiven Stimmungsan¬
wandlungen w’ar die Peritonitis zuzuschreiben bei einer 41 Jahre alten
Frau, die durch Verschlucken von Holzstücken eine Dünndarmperforation
bekommen hatte. — Die 3 Fälle von Septikopyämie waren stets durch
tiefe, in Vereiterung ausgegangene Hautwunden bedingt, die die Kranken
im Anfall akquiriert hatten.
Die 8 Fälle von Erysipelas faciei waren aller Wahrscheinlichkeit
nach durch im Anfall eingetretene Gesichtshautverletzungen verursacht;
doch lag für einige an ausgebreiteter Gesichtsakne leidende Kranke auch
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Die Sterblichkeit, Todesursachen und Sektionsbefunde bei Epileptikern. 845
die Möglichkeit einer von dort oder von Kratzwunden ausgegangenen
Infektion vor. Der Tod trat bei den zumeist hinfälligen Kranken wohl
stets nach Hinzutritt von Lungen- und Gehirnhyperämien und -Ödemen
unter den Erscheinungen der Herzlähmung ein.
Die Asphyxie im Anfall wurde herbeigeführt bei 7 m. und 4 w.
Kranken durch passive Bauchlage und mechanischen Verschluß der
Luftwege während nächtlicher Anfälle, bei 3 m. und 1 w. Kranken durch
gerade im Munde befindliche Bissen, bei 6 m. und 3 w. Kranken durch
Aspiration erbrochener Massen. Die Obduktion ergab in allen diesen
Fällen stets die typischen Erstickungsbefunde: intensiv entwickelte
Totenflecke, dunkle, flüssige Beschaffenheit des Blutes, Ekchymosen in
der Haut des Gesichts, in der Bindehaut der Augen, in der Pleura, im
Peri- und Epikard, Blutüberfüllung des rechten Herzens, Hyperämie der
inneren Organe, in der Lunge und im Gehirn verbunden in der Regel mit
ödem. In ihrer Intensität hingen diese anatomischen Befunde ab von
der Intensität und Dauer der Erscheinungen während der einzelnen
Erstickungsstadien.
Die Fälle von Selbstmord waren stets auf bestehende psychische
Alterationen zurückzuführen; teils lag ein Dämmerzustand, teils eine
Depression, teils ein mit Neigung zu impulsiven Handlungen einher-
gehender jäher Gefühlsausbruch vor. 6 Männer und 2 Frauen im Alter
von 24 y 2 bis 41 *4 Jahren entwichen in einer solchen Verfassung aus der
Anstalt und fanden den Tod dadurch, daß sie sich in der Nähe entweder
in der Mulde bzw. in einem Teiche ertränkten (2 M., 2 W.) oder vom Eisen¬
bahnzuge überfahren ließen i4 M.). Ein Mann von 61 % Jahren und eine
Frau von 33% Jahren stürzten sich aus einem Fenster des ersten Stock«
werks und zogen sich dabei zahlreiche komplizierte Frakturen zu, der
Mann außer Schädelbruch mit weitgehender Zertrümmerung der Knochen
und ausgedehnten Gehirnzerstörungen noch Frakturen des 7. Halswirbels,
des Brustbeins, der 2.—4. Rippe links und rechts, die Frau außer ebenso
schwerem Schädelbruch noch eine rechtseitige Femurfraktur. Ein
25*/* Jahre alter Mann fand seinen Tod durch hartnäckige Nahrungs¬
verweigerung und anschließende Aspirationspneumonie.
Bei 10 plötzlich im Anfall erlegenen Kranken wurde als Todes¬
ursache zwar durchweg „nervöse Erschöpfung“ angenommen, aber einmal
handelte es sich — bei einer 59 3 / 4 Jahre alten Frau — offenbar um Larynx*
stenose infolge enormer Struma, 5 mal — bei 3 Männern und 2 Weibern —
um Herzlähmung bei organischen AfTektionen des Herzmuskels resp. der
Gefäße, und so bleiben nur 4 unklare Fälle übrig, bei denen die Sektion
nichts weiter als allgemeine Stauungserscheinungen, insbesondere stets
hochgradigste Lungen- und Gehirnhyperämie, verbunden mit ödem
ergab. Besonders erwähnenswert erscheint unter diesen Fällen eine
39jährige Frau, die seit der Jugend an epileptischen Anfällen, verbunden
mit geistiger Abschwächung mittleren Grades, litt und hier wiederholt
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Hahn,
im Anschluß an schwere Paroxysmen von akutem Lungenödem befallen
wurde. Dieselbe zeigte in sehr charakteristischer Weise alle für tuberöse
Sklerose typischen Veränderungen, wie sie Bourneville und in neuester
Zeit namentlich H. Vogt beschrieben haben: zahlreiche tuberöse
Herde in der Rinde des Großhirns, ferner an der Grenze von Thalamus
und Corpus striatum sitzende tumorartige Prominenzen von ähnlicher
Beschaffenheit in den erweiterten Seitenventrikeln, daneben derbe fibröse
Nieren-, Pleura- und Uterustumoren, sowie auf dem Rücken unterhalb
der Schulterblätter und im Gesicht die als Adenoma sebaceum bezeichnete
Hautaffektion, die die Diagnose mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit
schon im Leben stellen ließ. Die sonstigen anatomischen Befunde be¬
standen in Herzerschlaffung, Hyperämie der inneren Organe, im Gehirn
und in den Lungen verbunden mit ödem, sowie in zahlreichen Ekchymosen
an der äußeren Haut und auf der Oberfläche der Lungen und des Herzens.
In Tabelle VIII wurden die gewonnenen Ergebnisse in anderer
Gruppierung nochmals kurz zusammengestellt und zu denen Ganters
in Vergleich gebracht.
Für die Gruppen „Herzerschlaffung und deren Folgen“ und „plötz¬
licher. Tod im Anfall“ fand sich in der Übersicht Gante, s keine entsprechende
Rubrik. In welcher Weise die übrigen Rubriken der Tabelle VII hier
zusammengestellt wurden, ergibt sich aus den in Klammern beigefügten
Angaben. Die Einzelheiten sind teils aus den voranstehenden Erörterungen,
teils aus den beiden Tabellen selbst zu ersehen. Die größten Gefahren
erwachsen dem Epileptiker aus Krampfanfällen, teils durch etwa ein¬
tretenden Status epilepticus resp. Coma epilepticum, teils durch Herz¬
störungen, teils durch etwa entstehende entzündliche Lungenaffektionen,
teils durch Unglücksfälle und lebensgefährliche Verletzungen. Im übrigen
sind sie keinen größeren Lebensbedrohungen ausgesetzt, wie andere Gehirn¬
kranke auch. Speziell die Tuberkulose und akute fieberhafte Infektions¬
krankheiten forderten unter den hiesigen Epileptikern nicht häufiger
ihre Opfer wie sonst. Einem schweren Anfalle direkt erlagen, wenn man
die Selbstmordfälle in Abzug bringt, 46 Kranke = 8,5 %; doch wurden,
wie wir oben sahen, von diesen Fällen nur 4 =0,7 % nicht hinreichend
durch die Sektion aufgeklärt; alle übrigen waren durch ein pathologisch -
anatomisch nachweisbares Leiden bzw. durch Asphyxie bedingt.
Im übrigen ergaben die Sektionen, wie schon die obigen Mitteilungen
erkennen lassen, fast in jedem Falle noch eine Reihe mehr oder minder
belangreicher Nebenbefunde. Fast aus allen Kapiteln der Pathologie
fanden sich Befunde vertreten, so großem Wechsel sie bei den einzelnen
Individuen auch sonst unterlagen. Ihre genaue Registrierung würde
hier zu weit führen; nur einiges wenige sei kurz berührt.
In der Mehrzahl aller Fälle führte, wie bemerkt, Herzschwäche
zum Tode; es kann daher nicht wundernehmen, daß durch agonale Blut¬
stauung bedingte Hyperämien ungemein häufig zu konstatieren waren.
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Tabelle VIII: Todesursachen der verstorbenen Epileptiker.
Die Sterblichkeit, Todesursachen und Sektionsbefunde bei Epileptikern. 847
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In den Lungen und im Gehirn gesellten sich besonders oft noch Ödeme
hinzu. Der Wert solcher Befunde für die im Leben vorhandenen Krank¬
heiterscheinungen ist schwer abzuschätzen. Speziell intrakranielle Hyper¬
ämien und Ödeme, denen man oft eine große Bedeutung beigemessen
findet, dürften in der Regel wohl nur als agonale Erscheinungen zu deuten
sein. Charakteristische und einheitliche, nur bei Epilepsie vorhandene
Organbefunde wurden im übrigen vermißt. Relativ am häufigsten fanden
sich neben allgemeinen Hyperämien und einfachen Herzerschlaffungen
akute entzündliche Veränderungen in den Lungen und chronische Hera-
und GefäßafTektionen, ferner nicht allzu selten chronische tuberkulöse
Prozesse, sowie Residuen früherer Entzündungen an den Hirnhäuten
und in Form von Verwachsungen und sehnigen, schwartigen und schwieligen
Verdickungen an der Pleura, am Peritoneum, am Perikard, an der Milz-.
Nieren- und Leberoberfläche.
Eines besonderen Interesses wert erscheinen unter diesen Neben-
befunden namentlich die an den Zirkulationsorganen
hervortretenden chronischen Veränderungen, weil in ihnen vielleicht,
unterstützt durch intoxikatorische und sonstige Schädlichkeiten,
die verhängnisvolle Wirkung des im Anfall gesteigerten Blutdrucks
bis zu einem gewissen Grade zum Ausdruck gelangt. In der Tat sind
Herzmuskelentartungen, Herzhypertrophien und -dilatationen, endo-
karditische, perikarditische und ganz besonders allgemeine arterio¬
sklerotische Veränderungen, wie schon Weber (Beiträge zur Patho¬
genese und pathologischen Anatomie der Epilepsie, Jena 1901) betont
hat, ein recht häufiges Vorkommnis bei Epileptikern. Die oben er¬
örterten Fälle eingeschlossen, wo solche Befunde direkt als Todes¬
ursachen in Anspruch zu nehmen waren, fanden sich organische Herz-
und Gefäßaffektionen der erwähnten Art in den hiesigen Sektions¬
protokollen im ganzen bei 397 Kranken = 73,4% beschrieben. Um
welche Prozesse es sich dabei im einzelnen handelte, ist aus der Zu¬
sammenstellung in Tabelle IX zu ersehen. Selbstverständlich wiesen
dieselben Individuen von den erwähnten Veränderungen vielfach eine
ganze Reihe auf. Der Intensität nach zeigten sich dieselben in den
verschiedenen Fällen großem Wechsel unterworfen. Namentlich
die arteriosklerotischen Prozesse an den Gefäßen bestanden bald
nur in leichtesten Verfettungen der Intima, bald war es zu hoch¬
gradigsten Verdickungen und zur Bildung von Geschwüren und Kalk¬
platten gekommen. Nur leichteste Veränderungen fanden sich bei
194 m. und 83 w., schwerste sklerotische Veränderungen dagegen bei
Difitized
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Die Sterblichkeit, Todesursachen und Sektionsbefunde bei Epileptikern. 849
Tabelle IX: Herz- und Gefäßerkrankungen.
Art der Erkrankung
M.
W.
Sa.
ooj3 o
s-ga|
« s h §
5 -ä ®
m
Auf 100 über¬
haupt Oe¬
storbene be-
sogen
Perikarditis.
26
23
49
12,3%
9,0%
Hypertrophie, Fettherz, Herzmuskel¬
erkrankung .
225
107
332
83,6%
61,4%
Herzruptur .
1
1
0,3%
90,9%
0 ,2%
66,7%
Arteriosklerose.
258
103
361
Aneurysmaruptur.
Klappenfehler.
' 126
2
65
2
191
0,5%
48,1%
0,4%
35,3%
Zahl der mit Herz- und Gefäßaffektionen
behafteten Kranken .
263
134
397
73,4%
64 m. und 20 w. Kranken. Am deutlichsten trat die Arteriosklerose
in der Regel an den Herzgefäßen, d. h. an der Aorta und an den
Koronararterien, hervor, nur in wenigen Fällen zeigten sich die basilaren
Gehirngefäße scheinbar allein affiziert. Wo erheblichere Arteriosklerose
vorlag, dehnte sich der Prozeß wohl stets über alle Gefäße aus und
fanden sich daher Herz- und basilare Gehirngefäße zugleich betroffen.
Atheromatose der Aortenbasis, der Koronargefäße und der großen
Gehirnarterien zugleich lag vor bei 74 m. und 27 w., insgesamt bei
101 Kranken = 18,7% (bez. 25,4%), Atheromatose des Herzens
allein bei 175 m. und 73 w., insgesamt bei 248 Kranken = 45,8%
(bez. 62,5%), Atheromatose der basilaren Gehirngefäße allein bei 9 m.
und 3 w., insgesamt bei 12 Kranken = 2,2% (bez. 3,0%), ein Ergebnis,
das annähernd mit den von Ganter gewonnenen Zahlenwerten in
Übereinstimmung steht.
Daß viele der zur Obduktion gelangten Kranken ebenso wie ein
großer Teil der lebenden Anstaltinsassen die charakteristischen Haut¬
eruptionen des Bromismus zeigten, daß sie nicht selten allerhand
von chirurgischen Eingriffen oder von im Anfall akquirierten Ver¬
letzungen und Hautverbrennungen herrührende Narben und Wunden
aufwiesen, bedarf keiner weiteren Ausführung. Die vorspringenden
Partien des Körpers, insbesondere die Gegend der Superziliarbögen,
der Stirn- und Schläfenbeinhöcker, der Protuberantia occipitalis
externa, des Jochbeins, des Akromion, des Olekranon, des Kinns,
der Nase usw. boten oft hypertrophische Wucherungen des Unter¬
hautzellgewebes dar, als deren Ursache durch wiederholten Fall auf
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Original fro-m
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850
Hahn,
die gleiche Stelle zustande gekommene Entzündungsvorgänge zu
betrachten waren. Auch Residuen von im Anfall erfolgten Kon¬
tusionen, von Blutungen, von Schleimbeutelergüssen am Olekranon,
von sonstigen traumatisch entstandenen Organveränderungen fanden
sich nicht allzu selten, z. B. Hyperostosen, geheilte Frakturen und
Kalluswucherungen, durch häufige Wiederholung irreponibel ge¬
wordene Luxationen im Schultergelenk u. ä. m.
Auch sonst lieferten die Autopsien oft noch Befunde, die Be¬
achtung verdienten, aber kaum je Ergebnisse, die auf die Pathogenese
des epileptischen Leidens und auf dessen Entstehungsort ein Licht
zu werfen oder die wahrgenommenen Krankheitbilder restlos aus
körperlichen Veränderungen zu erklären vermocht hätten. In der
Literatur wird freilich nicht selten allen möglichen Befunden eine
mehr oder minder große Wichtigkeit für die Entwicklung der epi¬
leptischen Krankheitzustände und für die Art der im Leben hervor¬
getretenen Krankheiterscheinungen beigemessen, ob mit Recht, muß
jedoch bei der Wandelbarkeit und der fehlenden Konstanz der fest¬
gestellten Organveränderung einigermaßen bezweifelt werden. Die
Besonderheiten, die sich in dem einen oder anderen Krankheitfalle
etwa fanden, waren in der Regel wohl nur von sekundärer Bedeutung,
insofern es sich um Residuen früherer Krankheitprozesse, um einfache
anatomische Anomalien oder um ganz zufällig zustande gekommene
und konstatierte krankhafte Veränderungen resp. um nebensächlichere
Erscheinungen handelte, deren näherer oder entfernterer Zusammen¬
hang mit dem epileptischen Leiden zum mindesten sehr unklar bleibt.
Degenerationszeichen sind bei unseren Kranken
recht häufig zu finden gewesen. Bald handelte es sich um Anomalien,
die die gesamte körperliche Entwicklung, bald um Abweichungen
vom gewöhnlichen Bau und Aussehen, die nur einzelne Organe be¬
trafen, bald um Mißbildungen und Entwicklungsstörungen. Genauere
Ermittlungen würden gewiß ergeben haben, daß alle überhaupt schon
beschriebenen „Degenerationszeichen“ auch bei an genuiner Epilepsie
Erkrankten Vorkommen können. Konstant auftretende oder ledig¬
lich auf Epileptiker und auf bestimmte Organe sich beschränkende
„Degenerationszeichen“ findet man hier jedoch ebensowenig wie bei
anderen „Gehirnkranken“. Ihre Verwertung ist daher erschwert,
wenn nicht völlig illusorisch: sie liefern keine Beiträge zur Erkenntnis
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Die Sterblichkeit, Todesursachen und Sektionsbefunde bei Epileptikern. 851
der eigentlichen Ursache, des Sitzes, des Wesens und des speziellen
Charakters der epileptischen Krankheitsymptome, sondern können
nur die Annahme stützen, daß die Epilepsie am häufigsten auf dem
Boden einer allgemeinen somatischen Entartung erwächst.
Auch die gerade bei Epileptikern so häufigen Asymmetrien und
sonstigen Besonderheiten am Schädel und am Zentralnervensystem
vermögen das über die anatomischen Grundlagen der Epilepsie herr¬
schende Dunkel nicht zu zerstreuen. Ihr etwaiges Vorhandensein
kann uns über deren mutmaßlichen Zusammenhang mit dem epi¬
leptischen Krankheitzustande um so weniger Aufschluß gewähren,
als sie bei den einzelnen Individuen nicht unerheblichem Wechsel
unterliegen und bei anderen ganz ähnliche Krankheitsymptome auf¬
weisenden Patienten in einem mindestens ebenso hohen Prozentsatz
der Fälle überhaupt vermißt werden. Immerhin pflegen teils an¬
geborene, teils traumatisch oder durch Bachitis und andere Krank¬
heiten erworbene Unregelmäßigkeiten neben Exostosen, Impressionen
und anderen Formveränderungen und Abnormitäten am äußeren
Schädel nicht minder oft zur Wahrnehmung zu gelangen wie an der
inneren Oberfläche des Kraniums und an dessen Basis. Auffällig
oft, nämlich bei 154 m. und 101 w., insgesamt also bei 25ö Kranken
= 47,1% fand sich das Schädeldach verdickt, bei 41,9% (145 M., 82 W.)
annähernd „normal“, nur bei 30 m. und 21 w., insgesamt bei 51=9,4%
Kranken, wird es als abnorm verdünnt bezeichnet. Ob die Vermutung
Ganters, daß einem dünneren Schädeldache zumeist ein größeres und
schwereres, einem dickeren Schädeldache dagegen ein kleineres und
leichteres Gehirn entspreche, zu Recht besteht, erscheint mehr als
zweifelhaft; die hier so häufigen erheblichen Verdickungen des Schädel¬
daches fanden sich bald bei größeren und schwereren, bald bei kleineren
und leichteren Gehirnen und erklären sich vielleicht lediglich daraus,
daß das epileptische Leiden, wie oben erörtert wurde, in der über¬
wiegenden Mehrzahl aller Fälle in der Jugend zum Ausbruch gelangt
und so Gelegenheit findet, das Wachstum und die sonstige Entwicklung
des Schädeldaches maßgebend zu beeinflussen; erst nach Abschluß
der Entwicklungszeit aufgetretene Krankheitprozesse dürften im
allgemeinen wohl keinen Einfluß mehr auf die Gestaltung des Schädel¬
daches gewinnen, wie auch Ganter zugibt. Meist bestanden die ver¬
dickten Schädeldächer fast nur aus Compacta, die Spongiosa trat in
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852
Hahn,
der Regel stark zurück. Die Gefäßfurchen an der Innenfläche zeigten
sich bei fast allen Epileptikern ausnehmend deutlich, tief und reich
entwickelt; ob sich hierin eine Wirkung der durch die Krampfanfälle
herbeigeführten Zirkulationstörungen und Blutdrucksteigerungen zu
erkennen gibt, möge dahingestellt bleiben. Selten bestand bei den
hier zur Obduktion gelangten Kranken ausgesprochene Mikrozephalie,
weitaus häufiger Makrozephalie resp. Hydrozephalie mäßigen Grades.
Im übrigen waren die zur Beobachtung gelangten Schädelformen
durchgehends zu wenig genau beschrieben, um weitergehende Schlüsse
über deren besondere Beschaffenheit zu gestatten.
Einfache Deformitäten des Hinterhauptloches, wie sie Solbrig
beschrieben hat, werden nur 2 mal, bei 1 m. und 1 w. Kranken, erwähnt.
Auf den Fall von Karies der Halswirbelsäule, speziell des Atlas und Epistro-
pheus, und auf die dadurch herbeigeführte Verengerung des Wirbelkanals
bei einem 14 ^jährigen Mädchen wurde S. 837 bereits hingewiesen. Bei
einem 21 V 4 Jahre alten Manne war es durch eine vom Dens epistrophei
ausgehende knorpel- bis knochenharte Wucherung zu einer Kompression
der Medulla gekommen. Fälle von Atlassynostosen, wie sie Sommer be¬
schrieben hat, gelangten hier nicht zur Wahrnehmung.
Der Angabe Schuppmanns, daß die Schädelkapazität der Epileptiker
im allgemeinen größer sei als normalerweise, scheint nach den hier ge¬
wonnenen Ergebnissen eine gewisse Berechtigung zuzukommen; doch
bedürfte die Nachprüfung eingehender, sich auf ein großes Material er¬
streckende Messungen. Die Sektionsprotokolle lassen dergleichen Er¬
hebungen vermissen, ebensowenig wie sie in der Mehrzahl der Fälle An¬
gaben darüber enthalten, ob zwischen den beiden Gehirnhemisphären
bei makroskopisch nicht hervortretenden gröberen Veränderungen Ge¬
wichtsungleichheiten bestanden, wie sie Follet bei allen Epileptikern
konstatiert haben will (vgl. Binswan^er). Wo einseitig grobe anatomische
Veränderungen bestanden, sind Differenzen im Volumen und Gewicht
beider Hemisphären natürlich nicht weiter verwunderlich; sie pflegten
dann auch in den Berichten Erwähnung zu finden und mehr oder minder
eingehend beschrieben zu werden.
Meynert hat beim epileptischen Irresein eine Abnahme des Gehim-
gewichtes festgestellt, während nach Buchnül und Echieverra das
Gehirn der Epileptiker eine größere Schwere besitzt als normalerweise.
In den 533 hier vorhandenen Sektionsprotokollen fehlten bei 40 m.
und 25 w. Kranken Angaben über das Gewicht des Gehirns; es konnten
daher nur von 468 epileptischen Kranken die Gehirngewichte registiert
werden. Die gewonnenen Ergebnisse finden sich in Tabelle X zu¬
sammengestellt.
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X>ie Sterblichkeit, Todesursachen und Hektionsbefunde bei^Epileptikera. 853
Tabelle X: Gehirngewichte.
Gehirngewicht
in g
6—15 J.
M. | W.
15—
M.
J
-20J.
W.
ilter
20—40 J.
M. | W.
über 40 J.
M. | W.
ii
M.
asgesamt
| W. | Sa.
712—1000
2
1
1
3
1
8
1
2
5
14
19
1000—1200
6
4
2
4
14
22
15
29
37
59
96
1200—1250
1
3
3
3
11
17
12
7
27
30
57
1250—1300
2
—
3
1
9
18
10
9
24
28
52
1300—1350
2
—
4
—
21
7
17
7
44
14
KU
1350—1400
—
1
2
3
24
9
7
6
33
19
52
1400—1450
—
—
4
—
23
3
14
5
41
8
49
1450—1500
—
—
2
! _
13
—
14
3
29
3
32
1500—1550
2
—
—
—
12
1
3
1
Q
2
19
1550—1600
—
—
—
—
10
1
4
o
f 1
1
15
1600—1650
—
—
1
—
o
5
H
Hl
—
11
1650—1700
—
—
—
—
^9
H
1
2
über 1700
—
—
—
—
3 !
—
3
H
6
—
6
Summe
15 |
9
22
14
147 |
87
289
179
468
Durchschnitts¬
gewicht in g
1314
1167
n
■
1356
1221
Durchschnittl.
Körperlänge in cm
132
128|
160
149
169
158
168
157J
166
156
161
Darnach sind schwerere Gehirne unter den Epileptikern in der Tat
nicht selten; wiesen doch immerhin 152=52,6% m. und 34=19% w.
Kranke ein Gehirngewicht von mehr als 1350 g auf. Das Durchschnitts¬
gewicht der 468 Epileptikergehirne überhaupt betrug freilich nur 1302 g;
die durchschnittlich festgestellte Differenz zwischen dem Gewicht der
m. und w. Gehirne betrug 135 g, und zwar zuungunsten der letzteren.
Berücksichtigt man, daß das mittlere Gehirngewicht m. Europäer auf
1360 g, beim w. Geschlecht auf 1220 g angenommen wird, so ergibt sich,
daß die bei den hiesigen Epileptikern gefundenen Durchschnittsgewichte
von 1356 bzw. 1221 g annähernd den sonst ermittelten Durchschnitts¬
werten entsprechen.
Auf die geistigen Qualitäten ihrer Träger ließen die ermittelten
Gehirngewichte im übrigen keinen sicheren Rückschluß zu: annähernd
gleichweit vorgeschrittene Demenz fand sich bald an kleinere und
leichtere, bald an größere und schwerere Gehirne geknüpft. Bemerkt
sei ausdrücklich, daß sämtliche Gewichte am unzerschnittenen Gehirne
festgestellt wurden; der Gehalt an Zerebrospinalflüssigkeit ist also
meist einbegriffen. Aus den Beschreibungen geht indessen so viel
mit Sicherheit hervor, daß hochgradigerer Hydrocephalus internus
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Hahn,
in nur ganz wenigen Fällen bestanden hatte; meist lag nur geringe
oder mäßige Erweiterung der Seitenventrikel vor, während freilich
Hydrocephalus externus und allgemeines Gehirnödem in vielen Fällen
nicht unbeträchtlich gewesen zu sein scheinen. In den 19 Fällen mit
Gehirngewichten von 712 bis 1000 g lag wohl ausnahmlos ein gewisser
Grad von Mikrozephalie vor, während die schwereren Gehirne sich
bei mehr oder minder deutlicher Makrozephalie fanden. Die schwersten
überhaupt gefundenen Gehirne wogen zwischen 1720 und 1760 g;
ausgenommen eine 36 Jahre alte Frau, die ein Gehirngewicht von
1680 g aufwies, zeigten lediglich Männer über 1600 g schwere Gehirne.
Die Struktur ließ makroskopisch Abweichungen in der Regel nicht
erkennen, doch war vielfach Zunahme der Bindesubstanz wahr¬
scheinlich.
Der lebhafte Wunsch, für die klinisch hervortretenden Krank-
heiterscheinungen der Epilepsie ebenso wie für andere psychoneuro-
tische „Gehirnaffektionen” charakteristische anatomische Verände¬
rungen ausfindig zu machen, hat ganz besonders auch das Zentral¬
nervensystem zum Zielpunkt eingehendster Untersuchungen werden
lassen. Bekanntlich wurde auch hier schon allen möglichen Befunden
eine Bedeutung für die Entstehung epileptischer Zustandbilder bei¬
gemessen: kongenitalen Gehirnmißbildungen, Windungsanomafien
und sonstigen atypischen Form Veränderungen; in frühester Kindheit
oder später zustande gekommenen destruierenden Prozessen, poren-
zephalischen Defekten, zirkumskripten oder mehr diffusen Ver¬
änderungen an den Gehirnhäuten, Verdickungen, Verwachsungen.
Trübungen derselben, vaskulären Störungen, intrakraniellen Hyper¬
ämien und Ödemen, Hämorrhagien, Hämatomen der Dura mater.
Sinusthrombosen, Endarteriitis der Basilargefäße und ihrer Aste.
Aneurysmen, durch Embolie, Thrombose, Traumen oder Entzündungen
herbeigeführten Zerstörungen und Erweichungen, einseitig oder
doppelseitig, begrenzt oder ausgedehnt aufgetretenen, oberflächlich
oder tief gelegenen Indurationen und Hypertrophien, der tuberösen
oder hypertrophischen Sklerose, allen möglichen in ihrer Lokalisation
nicht minder wie in ihrer Größe, Form und Natur wechselnden Tumoren
der Schädelhöhle usw. usw. Mit mehr oder minder großer Exaktheit
fanden sich dergleichen Befunde nicht allzu selten auch in den hiesigen
Sektionsprotokollen erwähnt; aber wenn einzelne Befunde auch
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Die Sterblichkeit, Todesursachen und Sektionsbefunde bei Epileptikern. 855
relativ oft erhoben wurden, so fehlte es doch durchaus an charakte¬
ristischen und konstanten anatomischen Veränderungen, und so
blieben auch hier die Beziehungen zu den im Leben hervorgetretenen
epileptischen Zuständen in der Hegel durchaus zweifelhaft. Es seien
daher die hauptsächlich hervorgetretenen Veränderungen am Gehirn
und seinen Häuten nur kurz registriert, unter Einschluß der bereits
bei Besprechung der Todesursachen erörterten Befunde.
Tabelle XI: Erkrankungen des Gehirns und seiner
Häute.
Erkrankung
M.
W.
Sa.
%
E ntwicklu ngsstöru ngen, Mißbildu ngen, Rück -
bildungen, Defekte.
68
42
110
20,3
Verwachsensein der Dura mater mit dem
Schädeldach.
93
67
160
29,6
Knochenplättchen.
6
5
11
2,0
Sinusthrombose.
4
3
7
1,3
Meningitis purulenta.
2
1
3
0,5
Pachymeningitis haemorrhagica interna,
Hämatom der Dura.
77
51
128
23,6
Chronische Veränderungen an den weichen
Häuten.
211
136
347
64,1
Hydrocephalus internus oder externus.
147
106
253
46,7
Erweiterung der Ventrikel.
69
48
117
21,6
Granulationen.
63
51
114
21,1
Gehirnhyperämie, Gehirnödem.
244
113
357
66,0
Arteriosklerose.
83
30
113
20,4
Blutungen .
42
21
63
11,6
Encephalomalacie, Encephalitis non purul.
79
43
122
22,5
Tumoren.
9
9
18
3,3
Auf Einzelheiten soll hier nicht näher eingegangen werden; nur
einige wenige Bemerkungen seien beigefügt.
Ganz frei von krankhaften Befunden am Gehirn und seinen Häuten
zeigte sich, wenn man von leichtesten Hyperämien und Ödemen absieht,
nur höchstens etwa V* aller zur Obduktion gelangten Kranken. Besonders
oft wurden, wie Tabelle XI erkennen läßt, außer Hyperämien und Ödemen
Veränderungen an den Gehirnhäuten notiert. Die gefundenen Werte
waren durchweg höher als bei Ganter. Dabei traten die krankhaften
Veränderungen bald isoliert, bald einseitig, bald diffus, bald inleichterer,
bald in schwererer Form hervor, nicht selten die verschiedensten AfTek-
tionen bei dem gleichen Individuum in buntester Mischung und Häufung.
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856
Hahn,
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Nur selten — in 2% der Fälle — begegnete man kleinen dünnen
Knochenplättchen, teils an der Konvexität der Dura mater, teils an den
weichen Häuten, vorzugweise im Bereiche der Sichel. Ob sie auf Traumen
oder auf Entzündungen oder auf Weiterentwicklung verlagerter Knochen¬
kerne zurückzuführen waren, ließ sich mit Sicherheit nicht fest stellen.
Ähnlich unklar blieb in der Regel die Entstehungsgeschichte der
Verwachsungen zwischen Dura mater und Schädeldach, die sich im ganzen
in 29,6 % Fällen fand, fast stets bei Leuten mittleren und höheren Alters,
nur gelegentlich auch bei jugendlichen Personen.
Bei den entzündlich-hämorrhagischen Erscheinungen an der inneren
Fläche der Dura handelte es sich meist um leichtere Prozesse, teils um
einfache rostbraune membranöse Auflagerungen, teils um frischere
Blutungen. Nur gelegentlich waren sie so massig entwickelt, daß si-
Hirndrucksymptome hervorriefen und, wie wir sahen, als Todesursache
in Betracht kamen. Die Gegend über dem Scheitellappen, sowie über
der mittleren und hinteren Schädelgrube zeigte sich am häufigsten be¬
troffen.
Die bei den Schädelbrüchen aus den zerrissenen Ästen der Arteria
meningea erfolgten extraduralen Hämorrhagien fanden ebenso wie sonstige
dabei zustande gekommene intrakranielle Blutungen und Gewebsläsionen
hier keine Berücksichtigung weiter.
Schwächere und stärkere Trübungen, Verdickungen und ödematöse
Entartungen der weichen Häute waren hier ein ungemein häufiges Vor¬
kommnis, während Verwachsungen mit der Hirnrinde nur vereinzelt
erwähnt werden. Die Intensität der Prozesse unterlag ebenso großem
Wechsel, wie deren Ausbreitung und Lokalisation; mit Vorliebe zeigten
sich stets die Umgebungen der größeren Gefäße von chronischer Lepto
meningitis befallen.
Die Ansammlung von Flüssigkeit zwischen Dura mater und weichen
Häuten war nicht selten recht bedeutend. Hydrocephalus internus dagegen
pflegte nur da stärker hervorzutreten, wo erheblichere Erweiterungen
der Ventrikel Vorlagen. Daß das nur relativ selten der Fall war, daß die
Erweiterung der Ventrikel in der Regel nur mäßige Grade erreichte, wurde
oben bereits bemerkt. Mit der Erweiterung der Ventrikel fiel gew'öhnlkh
auch deren Granulierung zusammen. Hydrocephalus internus, Erweiterung
der Ventrikel und Ependymkörnung waren überhaupt meist gemeinsam
vorhanden. Sehr oft fanden sich auch Hydrocephalus externus und öde-
matöse Entartung der weichen Häute zugleich vor, während sich all¬
gemeines Gehirnödem teils für sich, teils mit Hydrocephalus zusammen
zeigte.
Von den bei Schädelbrüchen entstandenen Blutungen abgesehen,
stellten sich Gehirnhämorrhagien teils im Anschluß an schwere Krampf¬
anfälle, teils im Anschluß an Schädelkontusionen, teils ohne bekannte
äußere Veranlassung mehr oder minder spontan infolge von Arterie-
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Original fro-m
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Die Sterblickheit, Todesursachen und Sektionsbefunde bei Epileptikern. 857
sklerose ein. Zwischen kleinsten punktförmigen Blutungen aus Miliar¬
aneurysmen und hühnereigroßen hämorrhagischen Herden fanden sich
alle Übergänge. Meist hatten sie ihren Sitz im Bereiche von Ästen der
Arteria fossae Sylvii, vorwiegend links, gelegentlich auch in anderen
Großhirnbezirken. Soweit sie direkt als Todesursache in Anspruch zu
nehmen waren, wurden sie oben bereits eingehender berücksichtigt.
Blutungen im Kleinhirn, in Pons und Medulla oblongata werden nicht
erwähnt, wiederholt dagegen subarachnoideale Blutungen von wechselnder
Lokalisation und Ausdehnung.
Enzephalitische Herde waren gleichfalls ein nicht seltener Befund.
Auch sie hatten ihren Sitz meist in den Stammteilen, zum Teil aber auch
in anderen Abschnitten des Gehirns. Sehr häufig fanden sie sich im Stirn-
und Schläfenlappen, nicht allzu selten auch im Kleinhirn. Außer durch
abgelaufene entzündliche Vorgänge dürften sie teils durch Traumen,
teils durch Embolien und Thrombosen zustande gekommen sein. Ihre
Ausdehnung überschritt kaum je die Größe einer Haselnuß. Durch Bildung
zahlreicher kleiner Erweichungsherde nebeneinander kam zuweilen ein
Etat cribl6 zustande, durch narbige Umwandlungen entstanden an der
Gehirnoberfläche oft sogenannte Plaques jaunes.
Entwicklungshemmungen, Mißbildungen, Rückbildungen, angeborene
und erworbene Gehirndefekte werden im ganzen 110 mal erwähnt = 20,3 %.
Es handelte sich in diesen Fällen teils um partielle Hemmungen des Gehirn¬
wachstums, teils um Mikrogyrie. um porenzephalische Gehirndefekte
in der Umgebung der Zentralwindungen, um Atrophien und Sklerosen usw.,
die auf einzelne Abschnitte beschränkt blieben oder ausgedehntere
Schrumpfungen und Verhärtungen des Gehirns herbeigeführt hatten.
Scharfe Lokalisation vermißte man in der Regel, und selbst in den wenigen
Fällen, wo sie für bestehende Hemiplegien und Kontrakturen — solche
wiesen unter den Verstorbenen 7 männliche und 8 weibliche Kranke auf —
die anatomische Ursache klarlegten, vermochten sie doch in keinem Falle
über die sonst noch beobachteten allgemeinen epileptischen Krampf¬
anfälle Licht zu verbreiten.
Die Sinusthrombosen waren stets bei allgemeinen Schwächezuständen
zur Entwicklung gelangt, die eitrigen Hirnhautentzündungen schlossen
sich an Thrombophlebitis der Hirnsinus, an vereiterte Hautwunden resp.
an Gesichtserysipel an.
Die sonstigen Gehirnbefunde, insbesondere die Arteriosklerose der
Basisgefäße, wurden oben zum Teil bereits eingehend gewürdigt. Soweit
die zur Beobachtung gelangten Tumoren noch keine Erwähnung fanden,
betrafen sie folgende Fälle: einen nach oben stark vaskularisierten, im
Zentrum erweichten Tumor von graugelatinöscm Aussehen im linken
Schläfenlappen bei einem 35jährigen Manne; einen weichen, den dritten
Ventrikel durchsetzenden blutreichen Tumor bei einem 39jährigen Manne;
einen Solitärtuberkel im rechten Stirnlappen bei einem 50jährigen Manne;
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858
Hahn,
multiple, zum Teil verkalkte Zystizerkenbläschen an der Großhirnrinde
bei einem 42 und einem 52 Jahre alten Manne; ein Psammogliom in der
rechten Großhirnhemisphäre bei einer 26 Jahre alten Frau; eine hasel¬
nußgroße Zystizerkusblase am verlängerten Mark bei einer 27jährigen
Frau; eine gummiartig sich anfühlende, derbe, homogen rötlich grau
gefärbte Geschwulst bei einer 29 Jahre alten Frau, die sich links unter¬
halb des Nucleus caudatus und Thalamus opticus in sagittaler Richtung
bis in den Gyrus occipito-temporalis erstreckte; einen stellenweise von
Pia überzogenen, aus weißlichen, krümligen, perlmutterglänzenden
Massen bestehenden Tumor bei einer 58jährigen Frau, der sich durch
den Schläfenlappen bis in den rechten Ventrikel verfolgen ließ; schließlich
noch einen Fall von tuberöser Sklerose bei einer 39 V 2 Jahre alten Frau.
Von etwa vorhanden gewesenem Adenoma sebaceum wird hier im Gegen¬
satz zu dem oben bereits erwähnten Falle nichts berichtet; doch ließ
der im übrigen so charakteristische Befund zahlreicher bohnengroßer,
derber Geschwülstchen an der Großhirnrinde und am Boden der Seiten¬
ventrikel, sowie derber, gelblich gefärbter Tumoren im Herzfleisch des
linken Ventrikels und in beiden Nieren kaum einen Zweifel an der Diagnose
zu. In der Umgebung der Geschwülste fand sich das Gewebe bald er¬
weicht, bald sklerosiert, bald annähernd normal.
Wiederholt wird auch von Vergrößerungen der Hypophysis cerebri,
in einem Falle selbst von „Exulzeration der Glandula pituitaria“ be¬
richtet; doch stehen solche Angaben in den Sektionsprotokollen zu ver¬
einzelt da, um ihnen größere Bedeutung beimessen zu können.
Fassen wir die angestellten Erörterungen zum Schluß kurz zu¬
sammen, so führten sie in der Hauptsache zu folgenden Er¬
gebnissen:
1. Die Sterblichkeit der Epileptiker übersteigt nicht wesentlich
die Sterblichkeit in der Gesamtbevölkerung; sie belief sich in der
hiesigen Anstalt nach dem Jahresdurchschnitt 1891—1911 auf etwa
3,5% des Krankenbestandes.
2. Wenn die Lebensgefahr für die Epileptiker an sich auch nicht
groß ist, so sind sie durch ihr Leiden doch oft Gefahren ausgesetzt,
in der Außenwelt freilich öfter als in der Anstalt; der Aufenthalt in der
Anstalt wirkt im allgemeinen schützend und konservierend.
3. Daß bestimmte Alterstufen lediglich durch das epileptische
Leiden in stärkerem Maße Lebensbedrohungen ausgesetzt wären, ließ
sich nicht feststellen; die Gefahren sind für alle Alterstufen annähernd
gleich. Wie in der Gesamtbevölkerung wächst die Sterblichkeitsziffer
im allgemeinen mit dem zunehmenden Alter.
4. Die größten Gefahren drohen dem Epileptiker aus Krampf-
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Die Sterblichkeit, Todesursachen und Sektionsbefunde bei Epileptikern. 859
anfällen. Von den hier eingetretenen Todesfällen standen 63,4% in
Zusammenhang mit epileptischen Zuständen. Außer Status epilepticus
resp. Coma epilepticum (21,6%) wirkten besonders gefährlich: ein¬
tretende Herzstörung (14,4%), sich entwickelnde entzündliche Lungen¬
affektionen (11,1%), Unglücksfälle und schwere Verletzungen (7,0%).
Im übrigen zeigten sich die Epileptiker, wie die obigen Erörterungen
ergaben, keinen größeren Lebensbedrohungen ausgesetzt, als andere
„Gehirnkranke“ auch. Speziell die Tuberkulose und akute fieber¬
hafte Infektionskrankheiten forderten unter ihnen nicht häufiger
ihre Opfer wie sonst. Einem schweren Anfalle direkt erlagen 8,5%;
doch wurden von diesen Fällen nur 4 = 0,7% nicht genügend durch
die Sektion aufgeklärt; alle übrigen waren durch ein pathologisch¬
anatomisch nachweisbares Leiden, bez. durch Asphyxie bedingt.
Selbstmord ließ sich auch in der Anstalt nicht immer verhüten.
5. Die Sektionen Epileptischer liefern manche beachtenswerten
Befunde, aber keine, die auf die Pathogenese und auf den Sitz der
im Leben hervorgetretenen Krankheiterscheinungen ein Licht zu
werfen vermöchten. Die Einzelheiten ergeben sich aus den obigen
Darlegungen selbst.
Literatur.
Binswanger, Die Epilepsie. 1899. — Artikel „Epilepsie“ in Eulenburgs
Realenzyklopädie der ges. Heilk. 3. AufL
Firi, Die Epilepsie. Ubers, von Ebers. Leipzig 1896.
Govrers, Epilepsie. 2. Aufl. Deutsch von Weiß. 1902.
Oppenheim, Lehrbuch der Nervenkrankheiten. 4. Aufl. Berlin 1905.
Köhler, Die Lebensdauer der Epileptiker. Allg. Ztschr. f. Psych. 1887,
Bd. 43, S. 431.
Brehm, Über die Todesfälle und Sektionsbefunde der Zürcherischen
kantonalen Irrenheilanstalt Burghölzli vom 17. März 1879
bis 17. März 1896. Ebenda 1898. Bd. 54, S. 373.
Heimann, Die Todesursachen der Geisteskranken. Ebenda 1900. Bd. 57,
S. 520.
Habermaas, Über die Prognose der Epilepsie. Ebenda 1901. Bd. 58, S. 243.
Ganter, Uber die Beschaffenheit des Schädeldaches und über einige innere
Degenerationszeichen — Uber die Todesursachen und andere
pathologisch-anatomische Befunde bei Geisteskranken. Ebenda
1908 und 1909. Bd. 65, S. 916; Bd. 66, S. 460.
Fischer, Die chirurgischen Ereignisse in den Anfällen der genuinen Epi¬
lepsie. Arch. f. Psych. 1903, Bd. 36.
Jahresberichte des KönigL Sächs. Landes-Medizinal-Kollegiums 1891 ff.
Abschnitt „Irrenwesen“.
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Beitrag zur Frage der Fähigkeit, seinen Aufent¬
haltsort seihst zu bestimmen.
Von
Oberarzt Dr. Schott, leitendem Arzt der Heil- und Pflegeanstalt Stetten L R.
Die isolierte Beurteilung der Fähigkeit, den Aufenthaltsort selbst
zu bestimmen, wird nicht gerade häufig zu den Aufgaben des Irren¬
arztes gehören. Wegen der prinzipiellen Bedeutung der im Gesetz
vertretenen Anschauung ist es berechtigt, einen hierher gehörigen
Fall aufzuführen.
Es handelt sich hierbei um den Streit zweier Ortsarmenbehörden,
betreffend die Ersatzforderung für Verpflegung des N. im Spital zu E.
für die Zeit vom 27. November bis 6. Dezember 1911. Die in Betracht
kommende Summe beläuft sich auf 12,60 Mark. N. befand sich vom
22 . April 1902 bis 17. Juli 1910 in hiesiger Anstalt. Er ist am 10. Oktober
1893 geboren. Der Vater ist Potator, die Mutter leidet an tertiärer Lues.
N. zeigte schon in früher Jugend eine geistige Schwäche, welche ihm
den erfolgreichen Besuch der Volksschule unmöglich machte und die
Überführung in die Anstalt bedingte. In der Anstaltschule konnten nur
geringe Fortschritte erzielt werden. Schon frühzeitig traten starke sitt¬
liche Mängel störend in Erscheinung und spotteten erzieherischer Beein¬
flussung. Sachbeschädigung und Diebstahl kamen des öfteren vor. Auch
im Praktischen, z. B. in der Korbmacherei, leistete N. fast nichts. In
seinem Wesen war er heimtückisch und meist unzufrieden, daneben in
allem flatterhaft und unbeständig, so daß seine Rückkehr in das Leben
für absehbare Zeit nicht ratsam erschien, zumal im Hinblick auf die un¬
günstigen Verhältnisse im Elternhause. Am 16. Juli 1911 entwich X.
aus der Anstalt, wurde am anderen Tage vom Vater zurückgeführt mit
der Erklärung, seinen Sohn nunmehr wieder nach Hause zu nehmen.
In der Folgezeit scheint N. vagabundierend nach E. gekommen und dort
für einige Tage spitalbedürftig geworden zu sein.
Auf Ersuchen der Ortsarmenbehörde E. wurde nachfolgendes Gut¬
achten hinsichtlich der Anstaltbedürftigkeit des N. ab¬
gegeben:
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Beitrag za der Fähigkeit seinen Aufenthaltsort selbst zu bestimmen. 861
„P. N., geb. 10. Oktober 1893 zu G., ist vom 22. April 1902 bis
17. Juli 1910 wegen Schwachsinns mittleren Grades
hier untergebracht gewesen. N. hat sich in der Anstaltschule nur geringe
Kenntnisse angeeignet und schon frühzeitig starke sittliche Mängel er*
kennen lassen. Diese Mängel zu beseitigen, ist der Anstalterziehung nicht
geglückt. Fälle von Diebstahl und Sachbeschädigung kamen des öfteren
vor. In seinem Wesen war N. vielfach frech und widersetzlich; Strafen
waren ohne nachhaltige Wirkung. Später wurde N. in der Korbmacherei
beschäftigt; dort standen den Leistungen Trägheit und Flatterhaftigkeit
des N. hemmend im Wege. Am 16. Juli 1910 entwich N. aus der Anstalt.
Der Vater brachte ihn zurück, kündigte aber gleichzeitig seinen unweiger¬
lichen Entschluß an, es mit dem Kranken zu Hause zu versuchen. Dem¬
zufolge schied N. ungebessert, gegen ärztlichen Rat, aus der Anstalt aus.
In der Folgezeit sind mancherlei Klagen, auch vom Vater selbst, über N.
eingelaufen. Die geistige Schwäche und die sittliche Mangelhaftigkeit
des N. sind so hochgradig, daß von einer freien Willensbestimmung des
Kranken keine Rede sein kann. N. wird infolge seiner krankhaften Eigen¬
schaften und Mängel nicht in der Lage sein, außerhalb der Anstalt sich
ohne Störung der Rechtssicherheit und des Gemeinwohls zu halten und
durchzubringen.
N. bedarf nach ärztlichem Ermessen bis auf weiteres der Unter¬
bringung in einer Anstalt.“
Die Ortsarmenbehörde G. weist die Ersatzansprüche der Orts¬
armenbehörde E., welche sich darauf stützen, daß N. beim Eintritt der
Hilfsbedürftigkeit und seit dein Austritt aus der Anstalt in der freien
Willensbestimmung behindert gewesen sei und daher den Unterstützungs¬
wohnsitz in G. nicht habe verlieren können, zurück unter folgender Aus¬
führung: Der Einwand, daß N. seit dem Austritt aus der Anstalt in der
freien Willensbestimmung behindert gewesen sei und er dadurch keinen
Unterstützungswohnsitz habe erlangen können, wird zurückgewiesen.
Aus dem ärztlichen Zeugnis geht hervor, daß N. ein sittlich verkommener,
geistesschwacher Mensch ist. Dr. S. kommt zu dem Schluß, die geistige
Schwäche und die sittliche Mangelhaftigkeit des N. seien so hochgradig,
daß von einer freien Willensbestimmung des N. keine Rede sei, und daß
N. infolge seiner krankhaften Eigenschaften und Mängel nicht in der
Lage sei, außerhalb der Anstalt sich ohne Störung der Rechtssicherheit
und des Gemeinwohls zu halten und durchzubringen.
Demgegenüber ist die Ortsarmenbehörde G. der Ansicht, daß für
die freie Willensbestimmung die sittliche Verkommenheit des N. gar nicht
in Betracht kommt, auch nicht, ob er sich mit ehrlichen oder unehrlichen
Mitteln durch das Leben bringt, sondern einzig und allein die Fähig¬
keit, seinen Aufenthaltsort selbst zu bestimmea
Daß N. diese Fähigkeit besitzt, beweist in erster Linie sein Durchgang
aus der Anstalt, ferner folgende von der Ortsarmenbehörde G. festgestellten
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Schott,
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Tatsachen: Bei seinen Eltern in C. wohnte N. vom 17. Juli 1910 bis
26. November 1910, von da ab bis 17. Dezember 1910 im Jugendheim
in C., dann wieder bis 6. Juli 1911 bei seinen Eltern. Am 6. Juli 1911
ging N. auf die Wanderschaft. Gearbeitet hat N. in dieser Zeit mit kurzen
Unterbrechungen bei verschiedenen Werkmeistern in C. als Bautaglöhne?
und verdiente täglich 4—4,20 Mark. Mit einem solchen Verdienst war
er auch ganz gut in der Lage, sich selbst zu ernähren und für sein Fort¬
kommen zu sorgen.
Aus diesen Tatsachen geht nach Ansicht der Ortsarmenbehörde G.
deutlich hervor, daß N. trotz seiner geistigen Schwäche seinen Aufenthalt
mehreremal selbständig gewechselt hat, so daß die freie Selbstbestimmung
bei der Wahl seines Aufenthaltsorts zur Genüge bewiesen ist.
Als weiterer Beweis hierfür darf sodann wohl auch noch der Um¬
stand anzusehen sein, daß N., so viel bekannt, jetzt noch fortgesetzt aus¬
wärts in Arbeit steht und für seinen Lebensunterhalt zu sorgen vermag.
Unter diesen Umständen konnte die Ortsarmenbehörde G. den An¬
spruch der Ortsarmenbehörde E. nicht anerkennen.
Bevor wir von psychiatrischen Gesichtspunkten die Streitfrage
beleuchten, ist es unerläßlich, auf die bestehenden gesetzlichen Vor¬
schriften und ihre Auslegung hinzuweisen.
§ 12 des Reichsgesetzes über den Unterstützungswohositz vom
6 . Juni 1870 in der Fassung vom 12. März 1894 lautet: Wird der Aufenthalt
unter Umständen begonnen, durch welche die Annahme der freien Selbst¬
bestimmung bei der Wahl des Aufenthaltsorts ausgeschlossen wird, so
beginnt der Lauf der zweijährigen Frist erst mit dem Tage, an welchem
diese Umstände aufgehört haben. Treten solche Umstände erst nach
Beginn des Aufenthalts ein, so ruht während ihrer Dauer der Lauf der
zweijährigen Frist.
Nach G. Eger 1 hindert der Mangel eines vernünftigen
Willens unstreitig die freie Selbstbestimmung (ebenso Rocholl * S. 82
und Arnold * S. 196—198); jedoch könne der Begriff der Willensunfäbig-
keit nicht streng im Sinne des Privatrechts der einzelnen Bundesstaaten
aufgefaßt werden. Es komme lediglich auf die Beurteilung des
konkreten Falles an, ob die Geistestätigkeit derartig
gestört ist, daß sie einen Mangel der freien Selbstbestim¬
mung in sich schließt. Die Feststellung der Geisteskrankheit und des
Grades der durch sie beeinträchtigten Willensstörung unterliege der
Kompetenz und freien Beurteilung der armenrecht¬
lichen Spruchbehörden.
So hat sich das Bundesamt lediglich nach Maßgabe der im armen-
rechtlichen Streitverfahren erfolgten Beweisaufnahme in mehreren
Fällen dafür ausgesprochen, daß ein die freie Selbstbestimmung aus¬
schließender Zustand geistiger Krankheit vorhanden sei. In mehreren
Fällen ist vom Bundesamt nach Prüfung des konkreten Falles verneint
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
I
Beitrag zu der Fähigkeit seinen Aufenthaltsort selbst zu bestimmen. 863
worden, daß aus einem gewissen Zustande geistiger Schwäche der Mangel
freier Selbstbestimmung bei der Wahl des Aufenthaltsorts zu folgern sei.
Aus einem, wenn auch großen Grade geistiger Beschränkt*
heit oder Geistesschwäche könne ebensowenig wie aus nur
periodischem Auftreten von Irrsinnsanfällen ohne weiteres der
Einwand hergeleitet werden, daß die betreffende Person der freien Selbst*
bestimmung und damit der Fähigkeit, selbständig einen Unterstützungs-
wohnsitz zu erwerben, entbehrt habe.
Auch daraus, daß jemand an Wahnvorstellungen und
an Melancholie gelitten habe, sei nicht ohne weiteres zu folgern,
daß er der freien Selbstbestimmung bei der Wahl des Aufenthaltsorts
beraubt gewesen sei (4, 5, 7, 8, 9 u. 10). Die Geisteskrankeit muß also
so beschaffen sein, daß der Kranke der Fähigkeit, seinen Aufenthaltsort
nach freier Selbstbestimmung zu wählen, tatsächlich beraubt
ist (4, 7 u. 8).
Die zur Entscheidung einer Armenstreitsache berufenen Spruch¬
behörden haben die Frage, ob in dem vorliegenden Falle die freie Selbst¬
bestimmung in der erwähnten Richtung ausgeschlossen war, selbständiger
Prüfung zu unterziehen, bei der sie nach Scharpff 4 an den Ausspruch
der Sachverständigen oder Zeugen usw. nicht unbedingt ge¬
bunden sind (4, 7 u. 9).
Auch kommt für sich allein nicht in Betracht, ob eine Person wegen
Geisteskrankheit oder Geistesschwäche entmündigt ist (4, 8 u. 10);
doch hat nach Scharpff 4 andererseits die wirtschaftliche Selbständigkeit
einer Person nicht notwendig zur Folge, daß freie Selbstbestimmung
anzuerkennen ist, z. B. bei einem beurlaubten Geisteskranken (11).
Aus dem Auf geführten ergibt sich ohne weiteres, daß die Fähig¬
keit der freien Selbstbestimmung des Aufenthaltsortes im Gesetz
als ein besonderes geistiges Vermögen angesehen wird und* nach der
bestehenden rechtlichen Handhabung auch von seiten des Sach¬
verständigen entsprechend beurteilt werden muß. Weder irgend
eine Form der Geisteskrankheit oder der geistigen Schwäche noch die
Tatsache der Pflegschaft oder Entmündigung, endlich auch nicht
der Begriff der Anstaltbedürftigkeit genügen an sich zur Bejahung
oder Verneinung der hier in Betracht kommenden Frage. Daß eine
so isoliert hervorgehobene geistige Fähigkeit ausschließlicher Begut¬
achtung unterzogen wird, entspricht nicht den Grundsätzen irren-
ärztlicher Beurteilung. Die im Gesetz und seinen Auslegungen sowie
Ausführungsbestimmungen enthaltenen Ansichten werden vielfach
der psychiatrischen Auffassung zuwiderlaufen. Es wäre deshalb von
Wert, wenn noch ähnliche Gutachtenfälle zur Veröffentlichung kämen,
Zeitiohrlft für Psychiatrie. LXIX. 6. ßß
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Schott,
um durch eine Zusammenstellung der veröffentlichten Fälle eine
gewisse Richtlinie für den irrenärztlichen Gutachter zu schaffen. Da
die armenrechtlichen Behörden vollkommen frei in ihren Ent-
Schließungen sind, so werden vermutlich überhaupt nicht viele Fälle
der irrenärztlichen Begutachtung unterstanden haben. Der vor¬
liegende Fall lehrt außerdem, daß die das Gutachten einverlangende
Behörde sich möglichst präzise darüber ausdrücken muß, was begut¬
achtet werden soll; ferner ist es durchaus notwendig, daß dem Gut¬
achter gleichzeitig Hinweise auf die in Betracht kommenden Gesetzes¬
paragraphen sowie ihre Auslegung und Ausführungsbestimmungen
an die Hand gegeben werden. Die Befolgung dieses Grundsatzes
wird mancherlei Mißverständnissen Vorbeugen und beiden Teilen
die Arbeit erleichtern. In unserem Falle wäre die zutreffende Stellung¬
nahme dann sofort gesichert gewesen.
Eine weitere Verfolgung der Rechtsangelegenheit von seiten der
Ortsarmenbehörde E. wurde unterlassen, nachdem Verf. unter Zugrunde¬
legung der Erhebungen durch die Ortsarmenbehörde G. und gestützt
auf die Gesetzesbestimmungen folgende gutachtliche Äußerung abgegeben
hatte: „Nach Einsichtnahme des Standpunktes der Ortsarmenbehörde G.
und nach Studium von Scharpff und Eger hält der Unterzeichnete zwar
noch N. für anstaltbedürftig, vermag aber nicht — unter Voraussetzung
der Richtigkeit der gemachten Erhebungen — die Fähigkeit des N., seinen
Aufenthaltsort selbst zu bestimmen (im Sinne des Unterst. -Wohns. -Ges),
zu bestreiten."
Literatur.
1. Dr. jur. G. Eger, Das Reichsgesetz über den Unterstützungswohnsitz usw.
Breslau, J. U. Kerns Verlag.
2. C. Rocholl, System des deutschen Armenpflegerechts. Berlin 1873.
3. Arnold -Berlin, Kommentare z. Unterst.-Wohns.-Ges. 1872.
4. Entscheidungen des Bundesamtes für das Heimatwesen. H. III, 35
— VI, 4 — VII, 6 — VIII, 19 — VIII, 22 — XIII, 8 u. 10 —
XV, 3 — XVI, 8 — XIX, 13 — XXII, 5 — XXIII, 11 u. 13 -
XXV, 2, 4 u. 7 — XXXVI, 11.
5. Bad. Verwaltungsgerichtshof vom 2. Mai 1876 in Ztschr. f. Bad. Verw.
1876, S. 220.
6. R. Scharpff, Handbuch des Armenrechts. II. AufL Stuttgart 1909.
7. Württemb. Archiv für Recht und Rechtsverwaltung. Stuttgart 1858/81.
Bd. 20, 242 — Bd. 22, 165 — Bd. 20, 207 — Bd. 19, 389.
8. Entscheidungen der Gerichte und Verwaltungsbehörden, herausgegeben
von Jfoger-München. Beck. I, 254 — II, 136 — XIII, 89.
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Beitrag za der Fähigkeit seinen Aufenthaltsort selbst zu bestimmen. 865
9. Württemb. Verwaltungsgerichtshof — 30. November 1878 — 10. Juli
1878.
10. Wielandt, Rechtspflege des Bad. Verwaltungsgerichtshofes 1864 bis
1890.
11 . Sächs. Oberverwaltungsgerichtshof I, 146.
12. Seydel, Das Reichsarmenrecht in den Annalen 1877.
13. Roscher, System der Armenpolitik. 1894.
14. Arnoldt, Freizügigkeit und Unterstützungswohnsitz. Berlin 1892.
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Eine Hysterie-Analyse und ihre Lehren. 1 )
Von
Oberarzt Dr. Bruno Sanier.
Die Analyse, die ich mitteilen will, macht weder Anspruch darauf,
als „Psychoanalyse“ zu gelten, noch will sie es sein. Es hatte anfangs
nicht einmal die Absicht bestanden, eine Analysierung der Erkrankung
im Freudsehen Sinne vorzunehmen. Erst nachdem durch die Auf¬
dringlichkeit und Durchsichtigkeit gewisser Symptome der Verdacht
einer sexuellen Grundlage wachgerufen war, und nachdem die Krankt
die auf Grund Freudseher Theorien gemachten Schlußfolgerungen
als mit den Tatsachen übereinstimmend bezeichnet hatte, sah ich mich
veranlaßt, die vita sexualis der Kranken und ihre Beziehungen zur
Neurose näher ins Auge zu fassen. Die Freudsehe Methodik, die durch
ihre Willkür in der Einschätzung von „Widerständen“ wohl mit am
meisten zur Diskreditierung der Lehre beigetragen hat (Isserlin
bezeichnet die Methodik als eine völlige Verkehrung aller wissen¬
schaftlichen Maximen), kam dabei nicht in Anwendung. Auch wider¬
stand ich, wie ich glaube, erfolgreich der Versuchung, eine Inter¬
pretation anzunehmen, deren Richtigkeit nicht über jeden Zweifel
erhaben war. Das Resultat, zu dem ich gelangt bin, wird daher wohl
den Psychoanalytiker nicht zufriedenstellen. Daran liegt mir nichts:
wohl aber daran, zu zeigen, daß zum Verständnis gewisser hysterischer
Erkrankungen die Freudsehe Lehre in der Tat unentbehrlich ist.
Für diesen Zweck ist der vorliegende Fall aus dem Grunde außerordent¬
lich geeignet, weil die kindliche Psyche der Patientin, die trotz ihrer
20 Jahre intellektuell das Bild eines geistig geweckten 10—12jährigen
*) Aus dem Sanatorium „Fichtenhof“ in Schlachtensee. Leitender
Arzt: Prof. Dr. Boedeker.
*) Isserlin, Die psycho-analytische Methode Freuds. Ztschr. f. d.
ges. NeuroL u. Psychiatrie Bd. 1, H. 1.
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Eine Hysterie-Analyse und ihre Lehren.
867
Kindes repräsentierte, mit denkbar einfachen Mitteln arbeitete. Ich
gehe wohl nicht zu weit, wenn ich behaupte, daß es unmöglich war,
den Fall zu beobachten und dabei die Tätigkeit FrmZscher Mechanismen
zu übersehen. So gelang es denn auch ohne Schwierigkeit, zu den
biologischen Wurzeln der Neurose vorzudringen, die mit einer — wie
ich glaube — seltenen Klarheit enthüllt werden.
Es sei mir gestattet, die wichtigsten Punkte, die aus der Beob¬
achtung des Falles resultieren, der Mitteilung der Krankengeschichte
vorauszuschicken:
1. Die Neurose ist die Folge des Versuchs, eine sexuelle Per¬
version zugunsten normaler sexueller Betätigung aufzugeben.
2. Die Neurose ist das Negativ der Perversion:
a) Der an die verdrängte sexuelle Begehrungsvorstellung ge¬
knüpfte Affekt wird in das Gegenteil verwandelt (Angst statt Lust),
während die verdrängte Vorstellung selbst unter Zuhilfenahme der
Symbolik in einen anderen Vorstellungskomplex konvertiert wird
(Entstehung der Angstvorstellung).
b) Die körperlichen Symptome sind in der Hauptsache die Folge
von Innervationen, die sich antagonistisch verhalten zu denen, die
eine Rolle gespielt hätten, wenn die sexuelle Begehrungsvorstellung
nicht verdrängt worden wäre (z. B. Erhöhung eines physiologischen
Spasmus anstatt Lösung desselben).
3. Die Analyse liefert den Beweis für die Existenz einer infantilen
Sexualität, auf deren Boden die Perversion des Geschlechtstriebes
entsteht („Pervers sein heißt nicht pervers geworden, sondern pervers
geblieben“).
4. Sie macht wahrscheinlich, daß die infantile Sexualität der
männlichen Komponente der bisexuellen Anlage des Menschen ent¬
spricht.
5. Charakteristische Sensibilitätstörungen rechtfertigen den
Schluß, daß Sexualzentren im Gehirn tatsächlich existieren, und deuten
auf die Möglichkeit hin, daß beim Weibe ein mit vorwiegend männ¬
lichen Sexualeigenschaften ausgestattetes Zentrum auf der rechten
und eines mit vorwiegend weiblichen auf der linken Hirnhemisphäre
angelegt ist. Das linke gelangte hiernach normalerweise erst in der
Pubertät zur vollen Entwicklung, löste das rechte gewissermaßen ab,
welches dann andere Funktionen erhielte.
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Saaler,
6. Die IfrankengeBchichte stützt die Fließschen Lehren von
der 28 und 23 tägigen Periodizität des biologischen Geschehens, in¬
dem sie es wahrscheinlich macht, daß die Tätigkeit der Sexualzentren
der genannten Periodizität untertan ist.
7. Sie bringt den Nachweis für die Richtigkeit der FUeßs ch€a
Theorie von dem Zusammenhang von Nase und Geschlechtsorgan.
Am 6. Dezember 1911 wurde die 20 Jahre alte, den wohlhabenden
Ständen angehörende, verehelichte Maria B. in die Anstalt aufgenommen.
Über die Vorgeschichte machte der sie begleitende Hausarzt fol¬
gende Angaben:
Referent kennt die Patientin erst, seitdem sie in A. wohnt, d. h.
seit etwa 2 y 2 Monaten. Eltern beide nervös. Sie verheiratete sich zu
dieser Zeit mit dem Gutsbesitzer in A., mit dem Ref. persönlich gut be¬
kannt ist. Im Frühjahr 1909 soll Pat. von einer Leiter gestürzt sein und
sich dabei eine Verletzung im Unterleib zugezogen haben. Sie blieb einige
Monate zu Hause, soll Fieber gehabt haben, wurde dann im Spätsommer
1909 auf y 4 Jahr nach einem Badeort geschickt, war vermutlich schon
damals hochgradig nervös. Nach y 4 Jahr wurde sie aus dem Pensionat
dort als angeblich geheilt entlassen. Die Beschwerden fingen jedoch zu
Hause gleich wieder an, bestanden hauptsächlich aus Schmerzen im Unter¬
leib. Sie machte gleichwohl in Leipzig sehr viel Vergnügungen mit, tanzte
usw. Die Menstruation war seitdem unregelmäßig, blieb mitunter monate¬
lang ganz aus. Nach der Verheiratung ging es der Patientin zunächst
ganz gut. Vor etwa 14 Tagen war sie mit ihrem Gatten beim Referenten
zu Tisch, saß neben dem Referenten, wurde während des Essens blaß,
stocherte im Essen herum, klagte über Schmerzen im Unterleib, be¬
ruhigte sich aber nach entsprechendem Zuspruch usw. Ein paar Tage
darauf klagte sie abermals über Schmerzen. Die Untersuchung durch
den Ref. und durch einen Frauenarzt ergab lediglich eine Retroflexi»
und leichte narbige Verdickung im linken Parametrium. Nachdem der
Patientin eröffnet worden war, daß nichts besonderes zu finden
sei, traten die ersten schweren hysterischen Anfälle auf. Diese charakteri¬
sierten sich dadurch, daß die Kranke offensichtlich ängstlich wurde,
umhertobte und heulte, sich herumwarf, gelegentlich sich aus dem Fenster
stürzen zu wollen schien, den sie verfolgenden Arzt (siehe unten) sah.
angeblich auch sprechen hörte. Sie war Suggestion insofern zugänglich,
als sie ausfahrende Bewegungen in den Extremitäten machte, als man
in der Umgebung das Bevorstehen derartiger Bewegungen besprach.
Pat. wurde auch, abgesehen von diesen Anfällen, unruhig, war absolut
schlaflos trotz Brom (6 gr. pro die), Veronal, Bromidia usw. Vor Jahren
war Patientin mit einem älteren Mediziner verlobt. Die Verlobung ging
auf ihren Anlaß zurück, vermutlich weil ihr Bräutigam kein Staatsexamen
machte. Letzterer soll ihr dann (angeblich schriftlich) mitgeteilt haben.
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Eine Hysterie-Analyse und ihre Lehren.
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er werde, falls sie sich mit einem anderen verheirate, sie erst eine Zeitlang
in Ruhe lassen, dann aber beide umbringen. Dieser frühere Bräutigam
spielt in den Anfällen, wie es scheint, die einzige Rolle. Sie quälte den
Ref. mit diesen Vorstellungen derartig, daß diesem nichts übrig blieb
als sie zu versichern, sein Assistent sei nach Leipzig gereist, um jenen
unschädlich zu machen. Wesentlich geholfen hat diese Versicherung
bisher nicht; die Pat. wurde vielmehr von Tag zu Tag schlechter. Die
Ehe war im übrigen glücklich. Andere ursächliche Momente sollen fehlen.
Pat. leidet seit 1909 an hartnäckiger Stuhlverstopfung, gegen die nur
Eingießungen halfen, die zuletzt täglich gemacht wurdeD.
Die Eltern der Pat. leben in Leipzig, sollen beide nervös sein. Sie
erzogen ihre Tochter ganz als modernes Kind, d. h. sie machte sehr viel
Vergnügungen usw. mit. Soll sich übrigens bereits hinter dem Rücken
der Mutter Veronal verschafft haben.
Bei der Aufnahme ängstlich erregt, weint und schreit laut, er¬
hält subkutan Morfin-Hyoscin.
7. XII. Status praesens:
Die Kranke ist eine kindlich aussehende kleine Frau von grazilem
Körperbau, blassem Aussehen, in reduziertem Ernährungszustand. Die
Wangen sind eingefallen. Der Gesamteindruck ist der einer schwer Leiden¬
den. Das Körpergewicht beträgt 95 Pfund.
Der Kopf ist dem kindlichen Habitus entsprechend sehr klein, der
Gaumen ist schmal und steil, der Oberkiefer leicht prognat. Die Ohr¬
läppchen sind angewachsen.
Herz und Lungen o. B.
Der Leib ist überall etwas druckempfindlich. Im linken Hypo¬
gastrium wird Druck sehr schmerzhaft empfunden.
Der Urin ist frei von Eiweiß und Zucker.
Die Pupillen sind ungleich (Pat. gibt an, daß die Weite der Pupillen
häufig wechselt). Licht und Konvergenz-Reaktion prompt.
Kniesehnen- und Achillessehnenreflexe gesteigert.
Patellar- und Fußklonus ist beiderseits leicht auszulösen.
Die Haut- und Schleimhautreflexe fehlen völlig. Die Sensibilität
und Schmerzempfindung ist am ganzen Körper erloschen bis auf die
Nasenschleimhaut, die normal empfindlich ist. Auch der Temperatursinn
ist erheblich gestört, während der faradische Strom überall normale
Reaktion auslöst.
Gehen und Stehen ist ganz unmöglich (Astasie, Abasie).
Die Blase funktioniert mangelhaft.
Pat. hustet fortwährend, obwohl keinerlei katarrhalische Er¬
scheinungen nachweisbar sind. Beim Entblößen der Beine steigert sich
der Husten zu einem förmlich beängstigenden AnfalL
Sie ist orientiert und besonnen und antwortet auf Fragen geordnet.
Sie gibt an, vor drei Jahren einmal einen ähnlichen Husten gehabt zu
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Saaler,
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haben wie jetzt. (Wiederholt darüber befragt sagt sie, sie wisse nicht
mehr genau, wann es gewesen sei; schließlich will sie sich genau darau
besinnen, daß es vor 2 J ähren war. Sie habe sich sogar deswegen in ärzt-
’ liehe Behandlung begeben; der Arzt habe eine Erkältung festgestellt
Ihre jetzige Erkrankung datiert von dem Tage nach der Hochzen
Sie befand sich auf der Hochzeitreise in München und mußte wegen starker
Schmerzen auf der linken Seite des Leibes 10 Tage zu Bett bleiben. Weges
der Blasenlähmung, die sich gleichzeitig einstellte, ist sie mehrf«
katheterisiert worden. Zu Hause, wohin sie, ohne die Hochzeitreise fort
zusetzen, von München aus zurückkehrte, ging es zunächst besser, «iie
Leibschmerzen verloren sich (bis zu einem bestimmten Grade bestanden
sie allerdings dauernd). Katheterismus war nicht mehr nötig. Dann kämet
die Schmerzen wieder, waren zunächst mehr oder weniger stark und
steigerten sich am 21. November auf der Gesellschaft bei dem Hausant
plötzlich enorm. Im übrigen weichen ihre Angaben nicht von denen des
Hausarztes ab.
Die Ursache ihres Leidens sieht Pat. in einem Unfall, den sie im
Mai 1909 erlitten hat. Sie stürzte damals infolge eines Schwindelanfall'
von einer Leiter, die sie bis zu etwa 1 m Höhe vom Fußboden bestiegen
hatte, herab und erhielt beim Fallen einen Stoß gegen ihren Leib. Im
Anschluß daran stellten sich Fieber und heftige Schmerzen auf der linken
Seite des Unterleibes ein. Die ärztliche Untersuchung ergab das Bestehen
einer Entzündung im linken Beckenbindegewebe. Die Behandlung und
auch eine daran angeschlossene Badekur konnten indessen die Schmerzen,
an denen sie seitdem dauernd leiden will, nicht völlig beseitigen. Immerhin
haben dieselben sie nicht gehindert, ihre Jugend zu genießen, sie machte
alle Vergnügungen mit, die sich ihr in großer Zahl boten und hat, wie
voll Stolz erzählt, mindestens 2—3 mal wöchentlich getanzt.
8 . XII. Nachts schwerer ängstlicher Erregungszustand. Sie halt
laut heulend die Hände vor das Gesicht, und ab und zu sieht sie mit allen
Zeichen des Entsetzens unter den Händen hervor, um mit gellem Auf¬
schrei die Augen aufs neue zu bedecken. Dabei wirft sie sich wie im Orgas¬
mus im Bett herum, öffnet immer wieder krampfartig den Mund und
lutscht gierig mit der Zunge an den Lippen.
Trotz Morfm-Hyosdn-Injektion wenig Schlaf. Sie jammert di?
ganze Nacht hindurch, wenn auch weniger laut.
Nach der Ursache der nächtlichen Erregung befragt, gibt sie an.
wieder ihren früheren Bräutigam unmittelbar vor sich gesehen zu haben,
der sie mit einer Pistole bedrohte. Sie will schon des öfteren bemerkt
haben, daß^sich ihr Mund während der Anfälle ohne ihr Zutun ganz von
selbst öffnet.
Nach dem Frühstück Erbrechen. Besserung des Befindens im Laufe
des Tages. Gehversuche mit leidlichem Erfolg. Darauf Weinanfall wegen
„Quälens seitens des Arztes“. Bald wieder heiter.
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Eine Hysterie-Analyse and ihre Lehren.
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9. XII. Gut geschlafen, heiter, freundlich, zuversichtlich. Geh¬
versuche mit gutem Erfolg.
10. XII. Ausgelassen heiter. Abends am ganzen Körper nur noch
Hypalgesie nachweisbar. Sie empfindet überall „Kribbeln“.
11 . XII. Nachts starkes „Kribbeln“. Heute ist die Schmerz¬
empfindung überall normal. Die Oberflächenreflexe sind sämtlich, wenn
auch schwach, auslösbar.
Sie habe keine Spur von Angst mehr. Schiebt die Besserung in
ihrem Befinden auf einen Brief ihres Mannes, in dem dieser schreibt, er
habe bestimmte Nachricht, daß sich der frühere Bräutigam jetzt in Königs¬
berg aufhalte, also sehr weit weg sei. Dadurch sei sie von ihrer Angst
befreit. Es fehle ihr jetzt nichts mehr.
Die Erklärung von der Wirkung des Briefes ihres Mannes erschien
von vornherein wenig glaubhaft. Vor allem sprach dagegen, daß die ihr
früher bereits gegebene Versicherung, der Mann, von dem sie sich bedroht
fühle, sei verreist, verschollen, unschädlich gemacht, nicht das geringste
geholfen hatte. Ferner hatte die Besserung bereits eingesetzt, bevor der
Brief eingetroffen war.
Die Erkrankung, wie sie sich bisher dokumentierte, ist nun mittels
Freudscher Hypothesen unschwer zu deuten. Rief schon der Husten,
der sich bei Entblößung der Beine enorm steigerte und dadurch seine
Beziehung zur Sexualität verriet, die Erinnerung an die von Freud im
„Bruchstück einer Hysterieanalyse“ gegebene Deutung wach, so wurde
man zu der Annahme einer sexuellen Grundlage der Krankheit förmlich
gedrängt durch den ausgesprochen sexuellen Charakter des Angstanfalls,
der durch das gleichzeitig wahrnehmbare gierige Lutschen an den Lippen
noch eine besondere Nuance erhielt. Die Freudsche Deutung des Falles
w’ürde nun so ausfallen müssen: Die Kranke hat Angst, weil sie irgend
einen sexuellen Wunsch verdrängt hat. Der Reizhusten, sowie das
gierige Lutschen an den Lippen weist auf den Mund als die in Betracht
kommende erogene Zone hin. Das Gefühl des Bedrohtseins mit der Pistole
ist ein Erklärungsversuch, den d 5 e Kranke macht, um den wahren Grund
der Angst zu cachieren. In der Tat hat der Bräutigam ihr ja einmal brieflich
gedroht, sie zu erschießen. Es wird also der Affekt auf eine Vorstellung
übertragen, mit der er ursprünglich nichts zu tun hat. Denn in Wahrheit
ist die Pistole nur das Symbol für das männliche Glied, und die Furcht
vor der Pistole des Bräutigams entspricht dem verdrängten Verlangen
nach einem geschlechtlichen Verkehr mit ihm und zwar mittels Betätigung
der Mundzone, also nach einem coitus per os.
Ich habe nun, nachdem ich die Möglichkeit eines solchen Zusammen¬
hanges immerhin nicht von der Hand weisen konnte, die Kranke am
11. XII. gefragt, welcher Art ihre Beziehungen zu ihrem früheren Bräutigam
gewesen seien. Sie antwortete nach einigem Zögern, und nachdem ich ihr
das Versprechen gegeben hatte, daß alles geheim bliebe, es hätten gegen-
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seitige Berührungen stattgefunden, häufig habe sie auch das Glied des
Mannes in den Mund genommen. Schließlich gab sie zu, daß es stets tu
einem regelrechten coitus per os gekommen sei. Normaler Geschlechts¬
verkehr habe nicht stattgefunden. Als sie ihren jetzigen Mann kennen
lernte, habe sie das Vorgefallene vergessen wollen.
„Tatsächlich habe ich auch nie wieder daran gedacht. Ich bin über¬
haupt ganz anders geworden, als ich meinen Mann kennen lernte, bit
nicht mehr ausgegangen und war ganz solide.“
Im Januar dieses Jahres habe sie begonnen, mit ihrem jetzigen
Manne, damaligen Verlobten, in der gleichen Weise geschlechtlich za
verkehren wie vorher mit dem früheren Bräutigam. Der erste normale
Geschlechtsverkehr habe erst nach der Verheiratung stattgefundea
Nachdem das Befragen der Pat. einen Tatbestand ergeben hatte,
der mit dem vorher erschlossenen leicht in Einklang zu bringen war, hatte
ich keinen Grund mehr daran zu zweifeln, daß die Erkrankung, die ja
unmittelbar nach dem ersten normalen Geschlechtsverkehr einsetzte,
als die Folge des Versuchs anzusehen ist, eine sexuelle Perversion zu¬
gunsten normaler sexueller Betätigung aufzugebea
Am Abend des 11. XII. gab ich der Pat. die entsprechende Auf¬
klärung. Ich sagte ihr, der Angstanfall sei nichts anderes als das Verlangen
nach sexueller Befriedigung durch einen Verkehr, wie sie ihn mit dem
früheren Bräutigam auszuüben gewohnt war. Dieses Verlangen äußeit
sich als Angst, weil es ihrem bewußten Ich unannehmbar erscheine und
deshalb dauernd unterdrückt werde. Die Trockenheit des Mundes und
des Rachens, der daraus resultierende Reizhusten und das unwillkürliche,
gierige Lutschen an den Lippen seien Symptome, die ihre Entstehung
dem Umstande verdankten, daß der Wunsch nach einem Lustgewinn
durch Betätigung der Mundzone verdrängt und in das Gegenteil ver¬
kehrt sei. Da der Mund neben dem Zweck, sexuelle Lustgefühle zu er
zeugen, ja vor allem auch der Nahrungsaufnahme diene, so teile sich die
Unlust auch allen mit dieser in Beziehung stehenden Funktionen mit
Die Folge davon seien Eßunlust, Übelkeit, Erbrechen.
Ich sei ferner der Ansicht, daß sie einerseits den normalen Verkehr
wünsche, schon deshalb, weil sie sich als Frau dazu verpflichtet fühle,
andererseits aber von ihm nicht voll befriedigt werde und aus diesem
Grunde die frühere Art der sexuellen Betätigung nicht aufgeben könne.
Der infolgedessen immer wieder auftretende Wunsch nach Befriedigung
mittels des Mundes werde aber in der Verdrängung gehalten, da sie von
ihm nichts wissen wolle. So sei sie nun außerstande, überhaupt zu ge¬
schlechtlicher Befriedigung zu gelangen; es sei ein Konflikt zweier diametral
entgegengesetzter, um die Vorherrschaft ringender sexueller Wünsche
entstanden; die Krankheit sei die Folge ihrer Unfähigkeit, den Konflikt
anders zu lösen.
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Eine Hysterie-Analyse and ihre Lehren.
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Die Erklärungen mußten auf die Pat. einen starken Eindruck ge¬
macht haben. Sie widersprach nicht und schien sehr erregt zu sein. Dann
wurde sie unruhig, rieb die Oberschenkel aneinander und bat mit Hinblick
auf ihre sexuelle Erregung, ohne Aufsicht schlafen zu dürfen, da sie sich
geniere. Kurz darauf ging sie völlig sicher, ohne jede Unterstützung, über
den Korridor, wozu sie vorher noch völlig außerstande war.
Abends ließ sie mich nochmals kommen, um mir spontan zu sagen,
daß der Husten, den sie vor zwei Jahren gehabt habe, in Abwesenheit
ihres damaligen Bräutigams aufgetreten sei. In dieser Zeit habe sie mit
einem anderen Manne in Beziehungen gestanden, die aber durchaus harm¬
loser Natur gewesen seien (dies ist nicht die volle Wahrheit, wie sich später
herausstellte; siehe S. 888).
12 . XII. Die Nacht verlief ruhig. Angeblich hat sie nur wenig
geschlafen und ist im Zimmer wegen „Prickelns“ in der Haut umher¬
gegangen. Heute früh ist ihr übel (wie bisher an jedem Morgen). Sie
gibt an, es sei unzutreffend, daß der normale Geschlechtsverkehr sie nicht
befriedige, sie habe zu Hause mit ihrem Manne allerdings meist per os
verkehrt, aber auch in normaler Weise und sei davon voll befriedigt worden
(die letzte Behauptung wird später widerrufen).
Klagt heute über ein eigenartiges Ziehen im Unterleib, das angeblich
schon seit ihrer Aufnahme besteht, von dem sie aber heute zum erstenmal
spricht (die letzte Menstruation war am 8. XI). Sie sei vor einiger Zeit
von einem Frauenarzt untersucht worden, der ihr gesagt habe, daß sie
nicht schwanger werden könne, bevor sie nicht operiert werde; die Gebär¬
mutter stehe umgekehrt. Sie müsse immer daran denken, denn sie möchte
doch so gerne Kinder bekommen. Ich erwiderte ihr etwa Folgendes:
„Bevor Sie das Ziehen im Leib verspürten, hielten Sie sich für
gesund. In der Tat waren die Leibschmerzen geschwunden, die Blasen¬
funktion war geregelt, das Geh - und Stehvermögen, die Schmerzempfindung
wieder da. Wir müssen nun zunächst untersuchen, wie sich das alles so
schnell gebessert hat. Ich habe schon gesagt, daß die Krankheit ent¬
standen ist infolge des Versuches, die Ihnen bekannte sexuelle Perversion
zugunsten normaler sexueller Betätigung aufzugeben. Sie merkten nun
aber in der Hochzeitnacht, daß Sie der normale Verkehr keineswegs
befriedige, und kamen daher in Versuchung, wieder dem Wunsche nach
munderotischem Verkehr (nennen wir ihn mal so) nachzugeben. Sie
unterdrückten dieses Verlangen aber wieder, noch bevor es Ihnen recht
zum Bewußtsein kam, da Sie von dieser Art der Betätigung ja nichts mehr
wissen wollten. Am nächsten Tage hatten Sie Leibschmerzen und konnten
nicht Urin lassen *). Später verschwanden diese Symptome wieder, offen¬
bar, weil Sie sich inzwischen wieder munderotisch betätigten. Sie hatten
jetzt wahrscheinlich doch bemerkt, daß die krankhaften Erscheinungen
*) Über die Entstehung dieser Symptome siehe S. 895 und 898.
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mit der mangelhaften Befriedigung durch den normalen Verkehr in gewisses
Beziehungen stehen. Sie sagten sich nun: wenn ich bereits schwanger
wäre, hätte ich meine Pflicht meinem Manne gegenüber erfüllt, und auch
mein Wunsch, ein Kind zu bekommen, wäre realisiert. Damit fiele aber
auch die weitere Verpflichtung zu dem unbefriedigenden normalen Ver¬
kehr. Sie suchten nun eine gynäkologische Untersuchung durch Ihren
Hausarzt unter Hinweis auf Ihre Schmerzen im Unterleib herbeizuführeu.
die er ja auf der Gesellschaft in seinem Hause selbst hatte beobachten
können. Sie erhofften damals von dieser Untersuchung, wie gesagt, die
Verpflichtung zu normalem Verkehr loszuwerden und zwar
1. weil im Falle des Bestehens einer Schwangerschaft Sie Ihrt
ehelichen Pflichten erfüllt zu haben glaubten,
2 . weil, im Falle eine Schwangerschaft nicht festgestellt werden
könnte, sich doch vielleicht eine ernst zu nehmende Erkrankung
der Unterleibsorgane finden würde, die ein Verbot des vaginalen
Verkehrs rechtfertigte.
Auf eine von beiden Eventualitäten glaubten Sie die Sch menen,
die Sie ja tatsächlich empfanden, beziehen zu müssen. Als die Unter-
suchung durch Ihren Hausarzt und den von ihm zugezogenen Frauenant
aber „nichts Besonderes“ (siehe Anamnese) ergab, also erstens kein-
Schwangerschaft, zweitens keine nennenswerte Erkrankung der Unter¬
leibsorgane, sahen Sie sich in Ihren Hoffnungen getäuscht. Von neues
standen Sie der Verpflichtung zu normalem Verkehr, zum Verzicht aut
volle sexuelle Befriedigung, die ja nur der perverse bringen konnte, gegen¬
über. Diesen erneuten Verzicht, die erneute Fixierung Ihrer sexuellen
Triebe im Unbewußten, beantwortete Ihr Körper mit dem Ausbruch der
Erkrankung in ihrer ganzen Schwere. Sie ersehen aus alledem, daß die
Neurose gewissermaßen eine vorläufige Lösung des Konflikts bedeutete
Wenn Sie jetzt plötzlich wieder gesund geworden sind, so kann man skii
das nicht anders erklären, als daß Sie den verdrängten Wunsch na<h
munderotischem Verkehr wieder aufgenommen haben. Ist das aber der
Fall, so muß sich für die Lösung des Konflikts eine Möglichkeit ergeben
haben, die vorher nicht bestand. Wie diese zustande gekommen ist, kann
ich zunächst noch nicht sagen (siehe hierüber S. 876). Jedenfalls fiel der
Widerstand, der dem Eintritt des Verlangens nach munderotischer Be¬
tätigung aus dem Unbewußten in das Bewußtsein entgegenstand, und
es schwand die Neurose mit allen ihren Symptomen. Sie verspüren heule
wieder ein Ziehen im Leibe, welches zweifellos darauf zurückzuführen ist
daß der Konflikt der Sexualitäten von neuem begonnen hat. Wenn Sk
sich in diesem Augenblick ganz besonders mit der Frage beschäftigt
ob Sie überhaupt Kinder bekommen können, so tun Sie das offenbar
deshalb, weil Sie sich darüber ins Klare kommen wollen, ob der normal«
Verkehr überhaupt einen Zweck hat. Stellt es sich nämlich heraus, daß
Sie nicht gebären können, so würden Sie in dieser Tatsache eine Lösung
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Eine Hysterie-Analyse und ihre Lehren.
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des Konfliktes sehen, weil dann Ihrer Ansicht nach kein vernünftiger
Grund für eine Verpflichtung zu normalem Verkehr bestünde.“
Die Pat. erwiderte mir auf diese Ausführungen nur, daß schon der
Arzt, der sie, als sie in München erkrankte, untersuchte, Andeutungen
gemacht habe, daß bereits eine Schwangerschaft eingetreten sei Ich
erwiderte ihr:
„Dies trifft wohl kaum zu, da es unmöglich ist, so kurze Zeit nach
Beginn des ehelichen Verkehrs eine Schwangerschaft festzustellen. Sie
haben jedenfalls eine Äußerung des Arztes mißverstanden, wohl (unbe¬
wußt) mißverstehen wollen, weil Sie schon damals aus dem gleichen Grunde
wie jetzt hofften, schwanger zu sein.“
Während der Unterredung lutschte die Pat. wieder auffallend viel
mit der Zunge an den Lippen. Kurz nach der Visite stellt sich von neuem
Reizhusten ein, der sich im Laufe des Tages enorm steigert. Mittags ist
die ganze linke Körperhälfte nahezu gefühllos. Sie hustet, jammert nach
ihrem Mann, die Hände öffnen und schließen sich krampfartig, fahren
auf der Bettdecke in wischender Weise auf und ab, wobei sie teils flach
ausgestreckt, teils zur Faust geballt sind. Der Mund ist geöffnet, die Zunge
lutscht gierig an den Lippen. Nachmittags jammert sie, weil sie die zur
Faust gebauten Hände nicht öffnen könne und ein schreckliches Prickeln
in den Fingerspitzen und in den Füßen verspüre. Beruhigung auf Zu¬
spruch. Abends ist sie übermäßig heiter, singt und tanzt. Lehnt ab, die
Eier zu essen mit der Behauptung, sie röchen.
13. XII. Auf 1 g Ver.-Natr. gut geschlafen. Morgens wie gewöhn¬
lich Übelkeit. Mittags nichts gegessen. Abends wurde sie im Bad blaß
und ist nach Angabe der Krankenschwester eine halbe Minute ohne Be¬
sinnung gewesen. Der hinzugerufene Arzt vom Tagesdienst fand sie blaß
und motorisch unruhig.
Stuhlgang wurde bisher mittels täglichen Einlaufs erzielt. Heute
war der Einlauf ohne Erfolg.
14. XII. Weint. Äußert, sie bekomme täglich mehr Angst vor
dem Assistenzarzt, der komme ihr so schrecklich vor. Ferner quäle sie
der Gedanke, ob sie Kinder bekommen könne (sie schrieb in einem Briefe
an ihren Mann, die Ärzte rieten ihr dringend zu einer Operation, eine
Behauptung, die völlig erfunden war). Sie bittet mich dringend, sie
gynäkologisch zu untersuchen, um ihr über diesen Punkt Aufklärung zu
verschaffen. Sie habe keine Ruhe, bis sie wisse, woran sie sei Unter¬
suchung durch einen Gynäkologen lehnt sie ab. Sie könne unmöglich
so lange warten, bis der komme.
Mittags blaß. Klagen über Übelkeit. Verlangt Validol, das sofort
hilft, worauf sie mit großem Appetit zu Mittag ißt.
Die nachmittags von mir vorgenommene gynäkologische Unter¬
suchung ergab: leichte, nicht fixierte retroflexio uteri; wallnußgroße
Verdickung im linken Beckenbindegewebe, die auf Druck wenig schmerz-
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haft ist. Ich teile ihr mit, daß eine Schwangerschaft nicht festgestellt ]
werden konnte, daß aber der Befund keineswegs gegen die Möglichkeit i
einer Konzeption spreche.
Ist angeblich sehr damit zufrieden, daß sie doch Kinder bekomm«
könne.
Während vor der Untersuchung die Schmerzempfindung nur an!
der linken Seite aufgehoben war, fehlt sie heute Abend wieder gänzlich.
Herpes-Eruption im Bereich des linken n. maxilL sup.
15. XII. Gut geschlafen. Morgens heiter, mittags plötzliche:
Angstanfall. Sie fürchtet, der Assistenzarzt werde zur Tür hereintretea
und sie mit einer Pistole bedrohen. Jammert, schreit. Auf Zuspruch
keine Beruhigung. Ißt zwar etwas zu Mittag, jammert dann aber noch
stundenlang weiter. Bei meiner Nachmittagsvisite um 5 Uhr erkhft
ich ihr Folgendes:
„Ich habe Ihnen bereits angedeutet, daß Sie im Begriffe standen,
das Verlangen nach munderotischem Verkehr von neuem zu unterdrücken
Nach unserer letzten Unterredung kam gewissermaßen die Bestätigung
dieser Auffassung durch den erneuten Husten und Krampfanfall und
besonders auch durch das Verschwinden der Schmerzempfindung auf der
linken Körperhälfte. Die rechte Körperhälfte blieb zunächst noch empfind¬
lich, was wohl so zu verstehen ist, daß die Verdrängung der mund-
erotischen Wünsche erst zur Hälfte vorgenommen war. Bevor Sie die
Verdrängung vollendeten, wünschten Sie nämlich von mir gynäkologisch
untersucht zu werden, genau wie seinerzeit von Ihrem Hausarzt, um
darüber informiert zu werden, ob diese Verdrängung überhaupt not¬
wendig ist. Wäre ich zu dem Ergebnis gekommen, daß Sie bereits schwanger
sind oder infolge einer Anomalie der Geschlechtsorgane keine Kinder
bekommen können, so hätten Sie wahrscheinlich auf die Verdrängung
Ihrer munderotischen Wünsche verzichtet; so aber sahen Sie sich wiederum
der Verpflichtung zu normalem sexuellen Verkehr gegenüber und vollen¬
deten die bereits begonnene Verdrängung des Verlangens nach mund
erotischer Betätigung. Körperlich kam das zum Ausdruck durch das
Verschwinden der Schmerzempfindlichkeit auch auf der rechten Körper-
hälfte.
Ich bin übrigens der Ansicht, daß Sie die Untersuchung durch mich
und nicht durch einen Frauenarzt aus mehreren Gründen wünschten.
1 . hätte es Ihnen, wie Sie selbst sagten, zu lange gedauert, bis derselbe
gekommen wäre; denn der Verdrängungsprozeß war im Gange und konnte
nicht warten, 2. aber versprachen Sie sich, nachdem Sie schon so häufig
von Frauenärzten untersucht worden sind, die wohl in der Mehrzahl nicht-'
besonderes festgestellt hatten, von meiner Untersuchung immerhin am
ehesten ein Ihnen genehmes Resultat, vielleicht, weil Sie bei mir ab
Nervenarzt einen gewissen Mangel an Sachverständigkeit annah men
und ja auch wiederholt versucht hatten, mir das Bestehen einer erbeb-
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Eine Hysterie-Analyse und ihre Lehren.
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liehen Anomalie der Genitalorgane zu suggerieren. Der Konflikt ist nun
wieder recht schön veranschaulicht worden. Ihr Oberbewußtsein wünscht
normalen sexuellen Verkehr, Ihr Unterbewußtsein dagegen wünscht die
munderotische Betätigung und bringt seinen Protest gegen die Wünsche
des Oberbewußtseins vermittels körperlicher Symptome zum Ausdruck.
Angst ist, wie ich Ihnen schon sagte, das psychische Symptom, das infolge
der Verdrängung sexueller Begehrungsvorstellungen entsteht. Als Gegen¬
stand Ihrer Angst dient Ihnen jetzt der Assistenzarzt, weil ich Ihnen
infolge meiner Ihnen früher gegebenen Aufklärung die Möglichkeit ge¬
nommen habe, sich vor Ihrem früheren Bräutigam zu ängstigen.“
Unmittelbar im Anschluß an diese Erklärungen ist Pat. völlig be¬
ruhigt. Sie entschuldigt sich bei dem Assistenzarzt mit dem Bemerken,
daß es ihr jetzt unverständlich erscheine, wie sie solchen Unsinn habe
denken können. Im übrigen protestiert sie aber wiederum gegen meine
Behauptung, daß sie an normalem sexuellen Verkehr keinen Genuß habe,
gibt aber zu, daß er ihr etwas schmerzhaft sei. Abends ist sie ausgelassen
lustig.
16. XII. Wenig geschlafen. Sehr verstimmt.. Müsse daran denken,
daß sie infolge der Gefühllosigkeit am ganzen Körper auch keine Empfindung
für den sexuellen Verkehr habe. Wenn sie zu Weihnachten nach Hause
beurlaubt werde, so sei das schrecklich für sie und ihren Mann. Macht
einen völlig indifferenten Eindruck. Es sei ihr momentan alles so egal.
Man könne neben ihr jemanden umbringen, sie kümmere sich nicht darum.
Herpes-Eruption am rechten Unterarm, abends am linken Bein.
17. XII. Ließ nachts den Arzt holen wegen Schmerzen im After.
Jammerte, schlief aber schließlich ein.
Sie ist heute den fünften Tag ohne Stuhlgang, trotzdem tägliche
Einläufe gemacht sind. Abends hoher Einlauf, gegen den sie sich sehr
sträubt, ebenfalls ohne Erfolg. Unmittelbar im Anschluß daran furcht¬
bares Jammern über Schmerzen im After. Sie läßt mich rufen und bittet
flehentlich um Hilfe. Zwischendurch ändert sich der Gesichtsausdruck
und spiegelt anstatt qualvollen Schmerzes unverkennbare sexuelle Er¬
regung wieder. Gleichzeitig hebt sie mit hastigen rhythmischen Bewegungen
das Becken auf und ab.
Beruhigung auf subkutane Injektion von Morfin-Hyoscin.
18. XII. Unruhig geschlafen. Schreckhafte Träume, auf die sie
sich nicht mehr genau besinnt.
Die Schwester gibt an, daß Pat. nachts zu ihr gesagt habe: „Schwester,
eben habe ich geträumt, Sie rauften sich mit Schwester Marie.“ „Glauben
Sie, daß Dr. X. auch treu sein kann?“
Ich erkläre ihr, daß der gestrige Schmerzanfall im After mit der
fünftägigen Stuhlverhaltung im Zusammenhang stand. „Das Entstehen
dieser Erscheinungen“, sagte ich ihr, „denke ich mir so. Durch die Ihnen
am 15. XII. gegebene Aufklärung wurde Ihnen zwar die Bedeutung des
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Angstzustandes klar, Sie konnten sich aber trotzdem nicht entschließen,
den verdrängten Wunsch nach munderotischer Betätigrung wieder auf¬
zunehmen, da er eben Ihrem bewußten Ich in hohem Grade unannehmbar
erschien. Ihre Sexualität blieb daher in der Verdrängung, kann aber nicht
als Angst in Erscheinung treten, da, nachdem Sie über die Bedeutung
der Angst aufgeklärt sind, dieses Versteckspiel Ihres unterbewußten Ich
illusorisch gemacht worden ist. Die Unfähigkeit, einen Ausweg zu finden,
nachdem Ihnen also auch dieser Weg der Flucht in die Krankheit ab¬
geschnitten war, äußerte sich als psychische Indifferenz, .die gewisser¬
maßen einen Waffenstillstand im Kampf Ihrer Wünsche, ein vorläufiges
Aufgeben, eine Lösung des Konfliktes herbeizuführen veranschaulicht.
Nichtsdestoweniger war ein neuer Ausweg für die in der Verdrängung
befindliche Sexualität bereits gefunden, ein Ausweg, der geeignet ist, ein
helles Licht auf die Art und Weise zu werfen, wie die körperliche sexuelle
Befriedigung sich bei Ihnen vollzogen hat. Es gibt neben der Vaginai-
und der Mundzone noch eine dritte erogene Zone, die AnalöfTnung, die
zweifellos auch bei Ihnen eine große Rolle gespielt hat. Vor 3 Jahren,
mehrere Monate bevor Sie zu ihrem früheren Bräutigam in sexuelle Be
Ziehungen traten, setzte eine Stuhlverstopfung ein, die schließlich so
hochgradig wurde, daß nur noch Eingießungen imstande waren, eine
Stuhlentleerung herbeizuführen. In dem Auftreten dieser Stuhlver¬
stopfung erblicke ich ein Anzeichen dafür, daß sich damals eine Änderung
in der Art und Weise, wie der Körper sich seine sexuelle Befriedigung
verschaffte, vollziehen sollte. Bis zu dem Beginn der Geschlechtsreiff
nämlich steht normalerweise die sexuelle Erregung und Entspannung
noch in Beziehungen zu gewissen körperlichen Funktionen, besonders
zur Stuhlentleerung. Um diese Zeit nun beginnt der Körper diese Be¬
ziehungen zu lösen und das weibliche Individuum für seine spätere Auf¬
gabe, den normalen Geschlechtsverkehr, zu präparieren. Der Umwandlungs¬
prozeß vom Kinde zum Weibe setzte offenbar an dem Tage ein, an dem
Sie den Schwindelanfall hatten (Mai 1909). Dieser ist nämlich ein Zeichen
dafür, daß die Umwandlung zunächst mißlang 1 ).
*) Es handelt sich hierbei offenbar um Vorgänge, die Freud mit
dem Namen „Verdrängungsschub der Pubertät“ belegt hat. Der Schwindel¬
anfall, der sich ja später noch häufig wiederholte, ist offenbar das Negativ
eines coitus, also die Folge der Verdrängung der normalen Triebrichtung.
Als Ursache für das Mißlingen des Verdrängungsschubs kommt wahr¬
scheinlich in erster Linie die Onanie in Betracht, die zwar dauernd, aber
zeitweilig mit geringer Entschiedenheit bestritten wurde. Für ihre An¬
nahme spricht aber neben anderem auch der Schmerz auf der linken Seite
des Leibes, der sich damals zum ersten Male bemerkbar machte, über
dessen Bedeutung siehe S. 899. Als ursächliches Moment spielt außerdem
ein sexuelles Trauma eine Rolle. Siehe hierüber S. 882.
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Es begann also damals schon ein Kampf zwischen der erwachenden
normalen weiblichen Triebrichtung und der kindlichen Art der sexuellen
Befriedigung. Die Stuhlverstopfung, die kurz darauf eintrat, bedeutet
nichts anderes als einen Verzicht des Körpers auf die Analerotik zugunsten
der normalen weiblichen Sexualität. Diese Auffassung steht durchaus
im Einklang mit den jetzt aufgetretenen Darmerscheinungen. Nachdem
Ihre verdrängten sexuellen Wünsche nicht wieder ins Bewußtsein auf¬
genommen worden, es ihnen also nicht vergönnt war, sich in der Wirk¬
lichkeit oder in der Phantasie auszuleben, aber auch die Äußerung als
Angstanfall unmöglich geworden war, griff der Körper wieder als einzigen
Ausweg auf die Analzone zurück. Entsprechend der Verdrängung der
Sexualität trat aber anstatt Stuhlgangs nur noch intensivere Stuhl¬
verstopfung ein *), so daß wir schließlich zu einem hohen Einlauf unsere
Zuflucht nehmen mußten. Würde sich Ihre Sexualität nicht in der Ver¬
drängung befunden haben, so hätten Sie natürlich Lustgefühle bei diesem
Einlauf verspüren müssen, so aber trat an Stelle der Lust Unlust (Angst
vor der dem bewußten Ich ja nicht genehmen sexuellen Erregung. Sie
wehrten sich ja auch sehr gegen den hohen Einlauf). So ist es zu erklären,
daß Sie die Reizung als Schmerz empfanden, es trat also ein Schmerz¬
anfall *) an die Stelle sexueller Lustgefühle.“
Abends wird festgestellt, daß die Medianlinie, die den Körper sagittal
in zwei Hälften zerlegt, sowohl vorn wie hinten gegen Nadelstiche normal
empfindlich ist, während im übrigen nach wie vor völlige Analgesie besteht.
Die Stimmung ist eine gute. Ich weise Pat. darauf hin, sich etwaige
Träume zu merken.
19. XII. Heute früh erfolgt ohne Einlauf lediglich auf Abführ¬
mittel reichlich Stuhlgang (während der ganzen Beobachtungsdauer
hatten sich im übrigen sämtliche Abführmittel, auch die stärksten Drastica,
als völlig nutzlos erwiesen).
Gibt an, in der Nacht drei Träume gehabt zu haben, auf die sie sich
noch in allen Details genau besinnen könne. Nach jedem Traum sei sie
>) Die körperliche Grundlage der 5 Tage anhaltenden intensiveren
Stuhlverstopfung erblicke ich in einer Verstärkung des zweifellos dauernd
bestehenden Darmspasmus, dessen Sitz wahrscheinlich am unteren Teil
der Flexura sigmoides (am sphincter ani tertius) zu suchen ist. Die Stuhl¬
retention erscheint somit der Harnretention völlig homolog. Der untere
Flexurabschnitt dient als Reservoir, der sphincter tertius als Ventil für
die bei der Defäkation zu entleerende Kotsäule (vgl. Singer und Holz¬
knecht, Die objektiven Symptome des chronischen colospasmus. D. med.
Wschr. 1912, Nr. 23).
*) Es handelte sich offenbar um einen Krampf des Schließmuskels,
also um eine Innervation, die der bei der Stuhlentleerung entgegen¬
gesetzt ist.
Zeitschrift für Psychiatrie. LXIX 6, 60
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aufgewacht. Aufgefordert, sie zu erzählen, beginnt sie mit dem zweiten
Traum, den ersten könne sie nicht erzählen. Nachdem sie den zweiten
und dritten mitgeteilt, läßt sie sich schließlich bewegen, auch den ersten
zu erzählen. Die Träume folgen jetzt in der richtigen Reihenfolge.
1. Traum: Dr. X. habe sie gestern Abend angefahren (de facto:
etwas energisch zu ihr gesprochen; d. Ref.). Das habe ihr weh getan,
weil sie so empfindlich sei. Im Traum habe sie dann geweint. Das habe
Dr. X. gehört, sei zu ihr gekommen und habe sie getröstet; gesagt, es sei
nicht so gemeint, wie sie es aufgefaßt habe. Dann habe er sie geküßt und
mit ihr einen Verkehr per vaginam ausgeführt. Dann habe er ihr gesagt,
sie solle sich von ihrem Manne scheiden lassen.
2. Traum: Sie sei wieder zu Haus und völlig gesund. Bei dem
Hausarzt auf der Gesellschaft. Da hätten alle sie riesig bedauert, daß sie
krank gewesen sei Dem Assistenten des Hausarztes und dem Tierärzte
habe sie nun erzählt, wie Dr. X. sie „ramponiert“ habe, indem er sie immer
mit der Stecknadel gestochen, und habe dabei die Stiche in den Armen
gezeigt; darauf hätten die beiden gesagt, das wären rechte Barbaren im
Fichtenhof, und sie würden sie niemals wieder Weggehen lassen von A.,
sondern sie würden sie selbst wieder gesund machen, wenn sie von neuem
erkranken sollte. Was der Tierarzt dabei zu tun habe, wisse sie allerdings
selbst nicht. Der Assistenzarzt sei sehr nett zu ihr gewesen und habe wie
früher öfters zu ihr gesagt: „Mein Kerlchen“, was sie so gerne höre.
3. Traum: Zu diesem gibt sie folgende Vorbemerkung: Der
frühere Bräutigam hatte mit seinem besten Freund ihretwegen ein Duell
auf Säbel sine sine ausgefochten wegen einer Bemerkung, die der Freund
zu ihr gemacht habe, und die sich der Bräutigam nicht gefallen ließ.
Der frühere Bräutigam und der Freund hätten Kenntnis bekommen,
daß sie im Fichtenhof sei. Darauf habe der Bräutigam Briefe geschickt,
die alle nicht angenommen und zurückgeschickt worden seien. Daraufhin
sei er gekommen und habe mit Steinen gegen ihr Fenster geworfen. Auf
einem Spaziergang, den sie mit Schwester Kaethe machte, sei er auf sie
zugekommen und habe sie ansprechen wollen, worauf sie ausgerissen sei
und Schwester Kaethe mit sich fortgezogen habe. Da sei ihr plötzlich
der Freund des Bräutigams aus der Richtung, in der sie lief, entgegen¬
gekommen. In furchtbarer Angst vor beiden sei sie gerannt, bis sie an den
Fichtenhof zurückgekommen sei. Sie habe noch gesehen, wie der alte
Bräutigam überall, wo sie gegangen sei, mit einem Blaustift Striche zog.
Ich gebe ihr darauf folgende Deutung der Träume:
„Träume sind Wunscherfüllungen. Auch in Ihren Träumen kommt
das recht prägnant zum Ausdruck. Es Hegt auf der Hand, daß im ersten
Traum Ihnen der verdrängte Wunsch nach normalem sexuellen Verkehr
erfüllt wird. Wie es kommt, daß Sie im Traume diesen Verkehr nicht mit
Ihrem Manne, sondern mit einem der hiesigen Ärzte ausüben, darauf will
ich nicht näher eingehen.
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Der zweite Traum knüpft an unsere Besprechung von gestern abend
betreffs Ihrer Beurlaubung über die Festtage an. Sie sind im Traum schon
xu Haus und befinden sich in Unterhaltung mit Ihrem Hausarzt, den Sie
im Traum etwas kraß mit dem Tierarzt identifizieren, offenbar weil er
bei seiner Behandlung das Körperliche dem Psychischen, dem spezifisch
Menschlichen, voranstellte, und dessen Assistenten, denen Sie von Ihren
Erlebnissen im Fichtenhof erzählten. Die von Ihnen erwähnte Tatsache,
Dr. X. habe Sie mit einer Stecknadel gestochen, ist nicht wortgetreu,
sondern symbolisch zu verstehen; hinter dieser harmlosen Äußerung
von der Prüfung der Sensibilität mittels einer Stecknadel versteckt sich
die Erinnerung an den im ersten Traum mit diesem Herrn ausgeübten
Verkehr. So erklärt sich auch die Erregung des Assistenten über diese
Tatsache, den Sie mit der Bemerkung offenbar auf Dr. X. haben eifer¬
süchtig machen wollen.
Der dritte Traum ist eine recht charakteristische symbolische Dar¬
stellung des nach wie vor ungelösten psycho-sexuellen Konfliktes. Er
resultiert gewissermaßen aus dem Vorhergehenden. Der Assistent des
Hausarztes hatte gesagt, er werde Sie nicht wieder nach dem Fichtenhof
lassen. Wenn Ihre Rückkehr hierher (von dem Weihnachtsurlaub) aber
verhindert wurde, standen Sie wieder vor der Entscheidung, welche Art
des sexuellen Verkehrs Sie wählen sollten. Der frühere Bräutigam im
Traum repräsentiert Ihre verdrängten Wünsche nach munderotischem
Verkehr. „Seine Briefe werden zurückgewiesen“ bedeutet: diese Wünsche
werden aus dem Bewußtsein verdrängt; sie lassen sich aber nicht so leicht
verdrängen, darauf deutet die Vorstellung hin, daß der Bräutigam Steine
gegen das Fenster wirft, daß Sie schließlich die Flucht vor ihm ergreifen
müssen. Während Sie sich aber vor den munderotischen Wünschen zu
retten suchen, stoßen Sie auf das Verlangen nach normaler sexueller
Betätigung. Dies und nichts anderes bedeutet nämlich der Freund im
Traum. Wie es kommt, daß der Freund als Symbol für das Verlangen
nach normalem sexuellen Verkehr eintritt, kann ich zunächst noch nicht
erklären (über die Entstehung dieses Symbols siehe S. 888). In Ihrer Er¬
zählung von dem Duell kann ich einen Anhaltpunkt dafür nicht finden.
Der Traum gibt übrigens eine recht schöne Erklärung für die psychologische
Auffassung Ihrer Angstanfälle. Sie träumten, Sie seien in furchtbarer
Angst vor dem Bräutigam und dem Freunde davongelaufen. Sie ersehen
daraus, daß die Angst in der Tat nichts anderes bedeutet als Furcht vor
dem Wiederauftreten der mühsam unterdrückten sexuellen Wünsche,
also Furcht vor Ihren eigenen Begierden *). Daß Sie am Schluß des
Traumes sahen, wie der frühere Bräutigam überall da, wo Sie gegangen
waren, mit einem Blaustift Striche zog, deutet auch wieder darauf hin,
daß Sie das Verlangen nach munderotischem Verkehr verfolgt. Blaustift
l ) Vgl. Ernest Jones, The pathology of morbid anxiety. Journal
of abnormal psychology June—July 1911.
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Saaler,
ist das Symbol für das in erigiertem Zustande befindliche und daher
bläulich aussehende männliche Glied. Die Bedeutung des Stricheziehens
dürfte Ihnen ohne weiteres klar sein. Daß Sie sich im Traum in den
Fichtenhof retten, beweist, daß Sie in einer Rückkehr vom Weihnachts
Urlaub hierher zunächst die einzige Mögichkeit sehen, dem Konflikt
zu entgehen.“
Meine wiederholten Fragen nach einem sexuellen Erlebnis der
Kindheit, das als sexuelles Trauma in Betracht kommen könnte, waren
bisher von der Pat. stets in verneinendem Sinne beantwortet worden.
Heute erzählt sie spontan, daß sie doch einmal etwas erlebt habe, wa?
vielleicht von großem Einfluß auf sie gewesen sein könne. Im Alter von
16 Jahren (erst sagte sie 14, dann 15, dann wieder 14, schließlich gab sie
an, daß es sich nicht lange vor dem Schwindelanfall im Mai 1909 zu¬
getragen habe) ist sie auf Veranlassung ihres Vaters zu einem verheirateten
Offizier gegangen, um einen Brief abzuholen. Plötzlich, während sie mit
dem Offizier allein im Zimmer war, holte dieser sein Glied heraus und
ersuchte sie, es anzufassen. Vor Schreck und Abscheu ist sie davon¬
gelaufen. Sie glaubte damals bestimmt, er habe mit ihr den Geschlechts¬
verkehr ausüben wollen.
Die besondere Bedeutung, die diesem sexuellen Trauma zukommt,
liegt in dem Umstande begründet, daß es in die Zeit fällt, in der durch den
Verdrängungsschub der Pubertät sich der Wechsel in der leitenden erogenen
Zone vollziehen soll. Es ist wohl denkbar, daß das mit dem Erlebnis
verbundene Unlustgefühl hemmend auf den physiologischen Vorgang
des Weibwerdens eingewirkt und so die „Sexualablehnung“ verursacht
hat. Diese wiederum kann wohl zu einem erhöhten Verlangen nach auto¬
erotischer Befriedigung geführt und somit zur Masturbation (bzw. zum
Onanismus conjugalis) geführt haben, die ja an und für sich, wie schon
erwähnt, als Hindernis für den Umwandlungsprozeß der Pubertät anzu¬
sehen ist. Es kommen daher als Ursachen für die Frigidität der Pat. gegen
normalen Verkehr im wesentlichen zwei Momente in Betracht:
1. eine psychische, das sexuelle Trauma;
2. eine körperliche, die Onanie. Von dieser wird später noch zu
reden sein.
Natürlich konnte man auch an die Möglichkeit denken, daß seinerzeit
die perverse sexuelle Betätigung gewählt wurde, um eine Schwängerung
zu verhindern, und daß dann eine Gewöhnung des Körpers an diese Art
der Befriedigung eintrat. Diese Annahme erschien mir aber schon deshalb
wenig wahrscheinlich, weil ich mit Hinblick auf die ausgesprochen „sexuelle
Konstitution“ der Pat. den intellektuellen Faktoren bei der Wahl der
geschlechtlichen Betätigung eine durchaus untergeordnete Bedeutung
beimessen zu müssen glaubte.
Nachdem ich mit der Pat. von diesen Dingen gesprochen und sie
in ganz heiterer Stimmung verlassen hatte, traf ich sie abends wieder
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Eine Hysterie-Analyse und ihre Lehren.
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sehr verstimmt an. Sie behauptete, während des Abendbrotes seien wieder
heftige Schmerzen in der linken Seite des Leibes aufgetreten, wozu sich
eine Übelkeit gesellt habe, genau wie heute vor 4 Wochen
auf der Gesellschaft bei dem Hausarzt. Es sei ihr
übrigens etwas eingefallen, was sie mir morgen sagen wolle.
20. XII. Schlief unruhig. Habe nachts dauernd Schmerzen gehabt,
die auch heute noch bestünden. Erzählt, was ihr gestern „eingefallen“
war: Sie empfinde in der Tat, wie sie jetzt zugeben wolle, bei Ausübung
des normalen geschlechtlichen Verkehrs in normaler Lagerung so gut
wie nichts, dagegen habe sie vollen Genuß, wenn sie sich oben, der Mann
unten befinde. Sie bittet mich, ihr zu erklären, woher das komme. Ich
erwidere ihr, es komme wohl daher, daß sie sich bei der früheren Art ihrer
geschlechtlichen Betätigung in ähnlicher Stellung befunden habe (sie
lag auf dem Partner, oder saß auf seinem Schoße). Diese Erklärung weist
sie als unzutreffend zurück. Mittags weint sie, angeblich weil sie von
ihrem Manne noch keine Antwort auf ihren Brief hat. Da sie aus solchem
Anlaß noch nie geweint hat, äußere ich, sie weine, weil sie noch keine
befriedigende Antwort auf ihre Frage erhalten habe. Ich gebe wieder
eine Erklärung auf die mir gestellte Frage, die wiederum als unzutreffend
abgewiesen wird, was mir immerhin als Beweis dafür diente, daß die Pat.
in der Tat nur Erklärungen akzeptiert, die zum mindesten der Wahrheit
sehr nahe kommen, eine Tatsache, auf die Freud bekanntlich mit beson¬
derem Nachdruck hinweist.
Abends behauptet sie, sie werde unwohl, nachdem sie morgens
schon mitgeteilt hatte, sie hätte wieder starken Ausfluß. Ein geringer
Ausfluß bestand in der Tat dauernd, indessen wurde die Behauptung,
daß er stärker als sonst sei, von der Krankenschwester nicht bestätigt.
Auch vom Eintritt der Menstruation ist nichts zu bemerken. Ich nahm
daher an, daß die Leibschmerzen und die Behauptung, starken Ausfluß
zu haben, mit dem plötzlich aufgetauchten Gedanken an die umgekehrte
Lagerung beim Geschlechtsverkehr in gewisser Beziehung stehen.
Die Behauptung, an starkem Ausfluß zu leiden, konnte sehr leicht
der Erinnerung an ein Ausfließen des Samens aus der Scheide bei Aus¬
übung des Geschlechtsverkehrs in umgekehrter Lage seine Entstehung
verdanken.
Die Angabe, daß die Schmerzen den gleichen Charakter hätten
wie vor 4 Wochen, als sie die gynäkologische Untersuchung durch den
Hausarzt erzwang, ließ darauf schließen, daß der momentane Gedanken¬
gang, den die Empfindung von Schmerzen begleitete, der gleiche war
wie zu jener Zeit. Damals wünschte sie aber festgestellt zu wissen, ob
sie schwanger sei. Es quälte sie also offenbar der Gedanke, daß bei der Art
des ehelichen Verkehrs (in umgekehrter Lagerung) vielleicht eine Schwänge¬
rung nicht eintreten könne, weil der Samen wieder ausfließt. In der Tat
bestätigt sie mir auf Befragen ohne weiteres, daß sie diese Befürchtung
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Saaler,
aus dem angegebenen Grunde hegte. Sie fügte sogar hinzu, daß sie sich
schon gestern vorgenommen hatte, mir die Frage vorzulegen, ob eine
Schwängerung in der betreffenden Lage möglich sei. — Ich erkläre der
Pat. nun Folgendes 1 ):
„Nachdem ich Ihnen durch Deutung des dritten Traumes den psycho
sexuellen Konflikt wieder deutlich vor Augen geführt hatte, sahen Sie
sich genötigt, irgend etwas zu unternehmen, was geeignet ist. die Lösung
des Konfliktes herbeizuführen. Es „fiel Ihnen nun ein,“ daß Sie ja im¬
stande sind, sich normal sexuell zu betätigen, wenn auch nur in um
gekehrter Lagerung. Im gleichen Moment fiel Ihnen aber auch ein/daß
dieser Verkehr gar keinen Sinn hat, da infolge Ausfließens des Samens
eine Schwängerung doch nicht eintreten könne. So entstanden Unlust¬
gefühle, die Sie .auf Ausfluß und Schmerzen bezogen. In Wirklichkeit
bestanden gar nicht die gleichen Schmerzen wie vor 4 Wochen auf der
Gesellschaft beim Hausarzt •), sondern es plagt Sie momentan nur der
gleiche Gedanke wie damals, den Sie wieder mittels der gleichen körper-
liehen Symptome zum Ausdruck bringen. Sie haben sich also jetzt ent¬
schlossen, diese Art des Verkehrs wieder aufzunehmen, vorausgesetzt,
daß er zu dem erhofften Ziele, der Schwängerung, führt. Er ist also offenbar
nur ein Kompromiß, auf den Sie eingehen wollen, um Ihren ehelichen
Pflichten nachkommen zu können, denn volle Befriedigung erhalten Sie
durch ihn nicht. — Ich will nun versuchen zu erklären, wie es kommt,
daß Sie von diesem^ Kompromißverkehr, wie ich ihn einmal nennen will
wenigstens einigermaßen befriedigt werden. Um das herauszufinden,
ist es nötig, erst einmal zu untersuchen, wie sich überhaupt die sexuelle
Befriedigung bei Ihnen vollzieht. Es kann keinem Zweifel unterliegen,
daß die Munderotik, die Sie ja vor der Ehe zwei Jahre lang getrieben haben
volle Befriedigung im Gefolge hatte. Bei dieser Art der sexuellen Be
tätigung lagen oder saßen Sie auf dem Manne, nahmen sein Glied in den
Mund und empfingen gleichzeitig Reizungen der Vaginalzone durch Mani-
pulationen, die der Mann mit dem Finger ausführte. Es kam also zu
gleichzeitiger Reizung der Mund- und Vaginalzone. Möglicherweise
kommen auch Reizungen der Afterzone durch Stuhlgang bzw. Eingießungen
in Betracht; ich glaube aber allerdings, daß diese keine so große Rolle
mehr spielen wie früher. Welcher Art war nun der psychische Genuß,
den Sie bei der Geschlechtsbetätigung empfanden? Die Empfindungen
des normalen Weibes beim geschlechtlichen Verkehr sind schrankenlos?
x ) Die folgende Auffassung von dem Wesen der sexuellen Perversion
entspricht nicht ganz meiner endgültig gebildeten, die ich weiter unten
entwickeln werde. Nichtsdestoweniger soll sie unverändert stehen bleiben.
*) Ich halte es heute für wahrscheinlicher, daß die gleichen Schmerzen
(infolge körperlicher Ursachen) die gleichen Gedankengänge auslösten:
siehe S. 908.
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Eine Hysterie-Analyse und ihre Lehren.
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Hingebung, während die Lustgefühle des Mannes identisch sind mit der
Freude an der Unterwerfung des Weibes. Der Rolle des Weibes als der
Unterworfenen entspricht ihre Lagerung unter dem Manne, wie ihr auch
als dem erduldenden ein mehr passives, dem Mann als aggressiven Teil
ein aktives Verhalten zukommt. Bei der Art, wie Sie sich vor der Ehe
sexuell betätigten, liegen die Verhältnisse genau umgekehrt. Ihre Stellung
war über dem Mann, die Rolle, die Sie dabei spielten, bei weitem die
mehr aktive. — Ich vermute daher, daß Ihr Sexualziel keineswegs ein
normales masochistisches, d. h. in der Freude an der Hingabe, dem Sich-
unterwerfen wurzelndes war. Sie hatten es offenbar darauf abgesehen,
den Mann in diese eigentlich Ihnen zukommende Rolle des Erduldens
hinabzudrücken, und gerade diese Umkehrung des normalen Verhältnisses
bereitete Ihnen Lustgefühle. Ich nehme an, daß diese Lustgefühle gipfelten
in einem Anschauen und sich Weiden an dem sexuellen Orgasmus des
Mannes. Das Sexualziel war also ein ausgesprochen sadistisches. Für
die Annahme, daß Sie in der Tat zu einer mehr sadistischen Auffassung
des Geschlechtsgenusses hinneigen, spricht auch Ihre ganze Charakter¬
anlage. Es fehlt Ihnen noch jede frauenhafte Weichheit, Ihre ganze Persön¬
lichkeit in körperlicher und geistiger Hinsicht macht einen auffallend
knabenhaften Eindruck. Sie selbst erwähnten häufig Ihre Herrschsucht,
Ihr unbotmäßiges Wesen, Ihre Neigung zu tollen Streichen, wie man sie
mehr von Jungen als von Mädchen erlebt, und wiesen ganz besonders
darauf hin, daß Sie mit großer Vorliebe Männer, die sich um Sie bemühten,
verulkten und an der Nase herumführten. Obwohl Sie keine besonderen
körperlichen Vorzüge besitzen, glaube ich Ihnen nichtsdestoweniger, daß
um Ihretwillen Männer des öfteren schon gehörig aneinandergeraten
sind. Denn Sie gehören zweifellos zu den weiblichen Wesen, die durch
ihr kindlich naives und doch kokettes Wesen einerseits ein Anziehungs¬
punkt, durch die rücksichtlose Befriedigung Ihrer sadistischen Instinkte,
d. h. Ihrer Freude an Grausamkeit, andererseits eine Gefahr für manche
Männer bilden. Wie Ihr ganzes Wesen ein unentwickeltes ist, ist eben
auch Ihre Sexualität eine unreife, wie wir Ärzte sagen, infantile. Es über¬
raschte mich daher keineswegs zu hören, daß Sie an normalem Geschlechts¬
verkehr keine Freude haben. Sie wissen, daß ich das längst angenommen
habe, bevor Sie mir diese Tatsache berichteten. Daß der Verkehr in
umgekehrter Lage Sie einigermaßen befriedigt, erklärt sich einfach so,
daß Sie bei dieser Art des Verkehrs eben auch Aktivität und Stellung des
Mannes innehaben und daher Ihren sadistischen Instinkten die Zügel
schießen lassen können. Zu einer vollen Befriedigung kommt es aber
auch dabei nicht, da keine Reizung der Mundzone stattfindet, und da Sie
offenbar dabei auch die Situation nicht in dem Maße beherrschen können,
wie es bei dem munderotischem Verkehr der Fall war.
Sehr charakteristisch für Ihre sexuellen Wünsche sind auch zwei
kurze Träume, die Sie in der letzten Nacht hatten und mir vorhin mit-
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Saaler,
teilten. Der Inhalt des einen ist der: Auf dem Divan sahen Sie einen Ihnen
bekannten Herrn mit nach oben verschränkten Armen liegen und mit
den Beinen zappeln. Die Deutung ist einfach genug. Die Lage des Mannes
entspricht der Stellung, in der Sie ihn bei Ausübung des Geschlechts¬
verkehrs zu sehen wünschen, das Zappeln der Beine deutet auf seine
sexuelle Erregung. Der andere Traum lautet so: Schwester Kaethe (Ihre
Pflegeschw'ester) reicht der Kronprinzessin einen Löffel Suppe. Kun
vorher hatten Sie in der Zeitung gelesen, daß die Kronprinzessin ein Kind
bekommen hat. Der Traum ist eine Wunscherfüllung. Sie identifizieren
sich mit der Kronprinzessin, da Sie ja eine Schwangerschaft herbeiseh nen.
um — und das besagt der Rest des Traumes — wieder voll und ganz zur
munderotischen Betätigung zurückkehren zu können. Das Bild de?
Suppenlöffels steht hier für das des männlichen Geschlechtsteils, die Suppe
ist der in ihm befindliche Samen, den Sie wieder in den Mund zu bekommeo
wünschen, was Sie aber erst für möglich halten, nachdem Sie Ihren ehe¬
lichen Pflichten nachgekommen sind.“
Die vorgetragenen Auffassungen, auch die Deutung der Träume,
werden von der Pat. ohne weiteres akzeptiert. Ihre Frage, ob eine Schwänge¬
rung beim Geschlechtsverkehr in umgekehrter Lage möglich sei, beantworte
ich in bejahendem Sinne.
22. XII. Ruhig, heiter. Liegt viel auf dem Bauch! Äußerte schon
früher, sie liege gerne so.
23. XII. Wird von ihrem Gatten abgeholt, um die Weihnachts¬
tage zu Hause zu verleben. Geht in bester Stimmung. Die Schmerz¬
empfindung ist noch überall, bis auf die normal empfindliche Mittellinie
aufgehoben.
Am 27. XII. erhalte ich ein Schreiben von der Pat., aus dem ich
Folgendes wiedergebe:
-Die Fahrt ging ohne jeden besonderen Zwischenfall
vonstatten, und war ich selbst erstaunt, daß es so schön ging. Ich habe
mich unendlich gefreut, als ich wieder in den lieben Räumen zu Hause
war, und habe mit meinem Mann ein schönes Weihnachtsfest verlebt.
Am ersten Tag habe ich offengestanden sehr wenig gelegen, dafür aber
den gestrigen Tag bis abends im Bett zugebracht und ebenso heute. Die
Nächte waren sehr sehr unruhig. Kein Auge habe ich zugetan, die grä߬
lichsten Bilder entstanden vor meinen Augen. Am meisten verfolgt mich
das Bild, daß mich jemand veranlaßt, mich von meinem Mann scheiden
zu lassen. Ich habe auch das Empfinden, daß das Gefühl der Mittellinie
wieder etwas zurückgegangen ist, und halten wir es alle für das Beste,
wenn ich morgen wieder zurückkehre, denn hier bin ich doch etwas auf¬
geregter. Angstanfälle sind nicht wieder aufgetreten, nur die bösen Bilder
verfolgen mich immer.-
Nach einer anstrengenden, durch wiederholte Pannen unter-
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Eine Hysterie-Analyse und ihre Lehren.
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jrochenen Automobilfahrt kommt Pat. abgespannt und blaß um 11 Uhr
ibends in der Anstalt an.
28. XII. Auf 1 g Ver.-Natr. leidlich gut geschlafen. Zu Hause
iahe sie so gut wie gar nicht geschlafen und sei des Nachts von ängst-
ichen Träumen geplagt worden, deren stets wiederkehrender Inhalt der
var, daß sie von einem Manne vergewaltigt würde, daß der alte Bräutigam
.vieder da sei, daß er oder ein anderer ihren Mann umbringen wolle. Über
lie während des Aufenthalts zu Hause vorgefallenen sexuellen Ereignisse
gefragt (ich hatte sie natürlich ermahnt, sich des Geschlechtsverkehrs
su enthalten), gibt sie an, daß sie mit ihrem Mann per vaginam, aber in
iimgekehrter Position verkehrt habe. In normaler Lage habe sie gar nicht
den Versuch gemacht. Der sexuelle Genuß, der anfangs normal gewesen
sei, habe sich dann sichtlich verringert, so daß sie schließlich selbst darauf
drang, wieder in die Anstalt zurückzukehren. Die Deutung der ängst¬
lichen Träume machte auf Grund dieser Mitteilungen keine Schwierig¬
keiten. Da sie sich ausschließlich vaginal betätigte, war die sexuelle
Befriedigung eine mangelhafte, es meldete sich daher wieder mächtig
das Verlangen nach Munderotik in Gestalt des alten Bräutigams, der
den Mann, der den Wunsch nach normalem sexuellen Verkehr repräsen¬
tiert, umbringen will. Die fortwährende Angst vor einer Vergewaltigung
(um eigentliche Träume hat es sich wohl gar nicht gehandelt) entspricht
den verdrängten masochistischen Sexualtrieben, dem Wunsche nach
einem Geschlechtsverkehr, in dem sie die Rolle des Unterworfenen, des
Weibes spielt. Daß sie sich sowohl vor dem früheren Bräutigam wie vor
einer Vergewaltigung ängstigt, zeigt, daß beide Sexualitäten sich in der
Verdrängung befinden.
Die Gefühlsabstumpfung auf beiden Körperhälften besteht nach
wie vor, nur hat sich die normal empfindliche Mittellinie etwas nach links
verbreitet, so daß sie jetzt ein etwa 1 cm breites Band darstellt.
Starker Juckreiz am rechten Unterarm, ausgehend von dem in
Abheilung begriffenen Herpes.
29. XII. Schmerzen in der linken Brustdrüse.
30. XII. Außerdem Schmerzen auf der linken Seite des Leibs.
31. XII. Schmerzen wie gestern und vorgestern. Außerdem
Schmerzen im linken Auge, an dem sie fortwährend reibt.
Außer Bett. Heiter, nimmt an der Sylvesterfeier teil.
1. I. 1912. „Die ganze linke Körperhälfte tut weh.“
Während ich in meinen früheren Äußerungen der Pat. gegenüber
es noch als immerhin wahrscheinlich hingestellt hatte, daß ihre sexuelle
Perversion eine erworbene und daher heilbare sei. sagte ich ihr heute,
daß sie doch vielleicht mit der Tatsache werde rechnen müssen, daß ihre
Sexualität sich noch in einem Entwicklungsstadium befinde und erst
im Laufe der Jahre zu einer normalen weiblichen heranreifen werde.
Daraufhin erzählte mir die Pat. folgende Begebenheit: Vor 2 Jahren
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hatte sie, während der frühere Bräutigam verreist war, sich von eimt
Freunde desselben verführen lassen und mit diesem einmal in völlig ner-
maler Weise geschlechtlich verkehrt; dabei habe sie voüen Genuß gehst*.
Letztere Behauptung erscheint aber nicht glaubwürdig. Denn wie --
schon früher angegeben hatte, war zu der gleichen Zeit, als der Bräotigai
verreist war und sie mit dessen Freunde in, wie sie damals behaupte*'-
harmlosen Beziehungen stand, zum ersten Male der nervöse Husten v.'
getreten. Dieser charakterisiert sich aber, wie ich nachgewiesen har-
als die Folge des Versuchs, die perverse munderotische durch noma-
sexuelle Betätigung zu ersetzen, und drückt gleichzeitig ein Mißhas
dieses Versuchs aus. Es ist außerdem mit Hinblick auf ihren au=c
sprochenen Mangel an Hemmungen nicht anzunehmen, daß sie sich s.:
einem einmaligen Verkehr begnügt hätte, wenn sie von ihm voBe b
friedigung gehabt hätte.
Die Mitteilung der Pat. von diesem Ereignis schaffte übrigens
Erklärung für das bisher noch unaufgeklärte Eintreten des ,,Freund*
als Symbol für normalen Geschlechtsverkehr in dem am 19. XII. er
geteilten Traum.
2. I. Schlief gut und traumlos. Vonnittags plötzlich stan*
Schmerzen im Leib. Weint.
Nachmittags ruhig, heiter. Die Schmerzempfindung ist über*
wieder vorhanden. Die Oberflächenreflexe sind auslösbar. Die Schm*::'
der linken Körperhälfte sowie das Jucken am rechten Unterarm
angeblich völlig verschwunden. Während des Schmerzanfalls hec-
vormittag habe sie intensiv daran denken müssen, daß sie ein Kind hab r
wolle.
Zur Ergänzung ihrer Mitteilungen gibt sie an, daß sie nach de-'
einmaligen normalen Verkehr mit dem Freunde des früheren Bräutka&
auch einmal mit letzterem per vaginain verkehrt habe. Von diesem V-
kehr habe sie keine Befriedigung gehabt, das sei aber daher gekoms^.
weil der Bräutigam ein Kondom benutzt habe. Aus Furcht vor
Schwangerschaft habe sie dann ganz auf den Verkehr per vaginam T *
zichtet. Es bedarf keiner Erläuterung, daß die Erklärungen der P*
auf einer Selbsttäuschung beruhen, die sie zur Rechtfertigung der 2*
genehmen perversen Betätigung herangezogen hatte. Ich hielt es ab*
zunächst nicht für richtig, sie hierüber aufzuklären, zumal sie jetzt,
sie sich für gesund hielt, sehr auf Entlassung drängte und der Ehema® :
ihr zugesagt hatte, sie in einigen Tagen abzuholen. Ich suchte sie dab*
in ihrer Ansicht zu bestärken, daß sie jetzt gesund und in der Lage *>•
ihren ehelichen Pflichten nachzukommen. In Wirklichkeit war ich ce*
Ansicht, daß die Wiederkehr des Gefühls am ganzen Körper der Bereit
schaft für die perverse Art der Befriedigung entsprach und die Frigide j
für den normalen Verkehr nach wie vor bestand.
4. I. Menstruiert. (Die letzte Menstruation war am 8. XI.)
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Menstruationsbeschwerden. Steigerung der Schmerzen auf der
I i nken Seite des Leibes, die von Antipyrin -f Atropin nicht beeinflußt werden,
dagegen auf 1,1 g Pantopon subkutan weichen, sich aber nach einigen
Stunden wieder einstellen.
Die Pat. klagt gleichzeitig spontan, daß sie keine Luft durch die
Nase bekomme. Ihr Hausarzt habe früher einmal festgestellt, daß in der
Nase etwas nicht in Ordnung sei.
6. I. Die menstruellen Blutungen haben sistiert. Pat. ist an¬
geblich beschwerdefrei. Ist außer Bett, ruhig, heiter. Träumte nachts,
sie sei von einem ihr bekannten Herrn furchtbar geschlagen worden.
Drängt sehr auf Entlassung. Als Grund ihres Drängens gibt sie an, sie
könne es nicht erwarten, so brenne sie darauf, mit ihrem Manne normalen
sexuellen Verkehr zu beginnen.
8. I. Verläßt heute, ungeachtet des ärztlichen Rats, noch 4—6
Wochen zu bleiben, die Anstalt.
Am 15. I. erhielt ich von ihr ein Schreiben, in dem sie mir über ihr
Befinden wie folgt berichtet:
-8 Tage bin ich nun bereits zu Haus und kann Ihnen
erfreulicherweise mitteilen, daß es mir ziemlich gut ergangen ist. Der
Appetit hat sich bedeutend gebessert, ich esse jetzt viel, viel mehr. Ich
gehe mit meinem Mann vor- und nachmittags spazieren, was mir sehr
gut bekommt. — Nun über die Einzelheiten. Betreffs des sexuellen Ver¬
kehrs kann ich Ihnen Gott sei Dank mitteilen, daß sich alles so normal
eingestellt hat, wie Sie es mir vorausgesagt hatten *). In den ersten Tagen
wollten meine Zweifel, die ich Ihnen gegenüber noch am letzten Tage
ausgesprochen habe, nicht recht weichen und war ich erst noch hoffnung¬
los, was aber nun vorüber ist und mich beruhigt. — Nun sind aber noch
so verschiedene Symptome wieder aufgetreten, die mich beunruhigen
und bitte ich Sie, mir Ihre Meinung darüber zu äußern. Sie werden sich
gewiß erinnern, daß ich, als ich Weihnachten zu Ihnen zurückkam, über
heftige Schmerzen in der Herzgegend und der linken Brust klagte. Diese
Schmerzen sind seit einigen Tagen wieder aufgetreten und steigern sich
manchmal zur Unerträglichkeit. Ebenso verspüre ich auch im Leib oft
Schmerzen, aber nicht nur an der alten Stelle. — Nun muß ich Ihnen,
lieber Herr Doktor, leider auch noch mitteilen, daß ich seit heute wieder
eine Gefühlsstörung, die sich auf die rechte Körperhälfte bezieht, bemerkt
habe. Das Gefühl ist ganz bedeutend zurückgegangen, und bitte ich Sie,
mir mitzuteilen, was ich dagegen tun soll, damit es sich nicht etwa wieder
über den ganzen Körper verbreitet. — Mein Schlaf ist leider auch nicht
besonders und nehme ich auf Anraten des Hausarztes noch jeden Abend
Veronal. Trotzdem wache ich aber noch sehr oft auf und werde manchmal
unruhig und weine etwas. — Alles übrige ist ja in Ordnung, nur mit der
*) Diese Bemerkung illustriert treffend die Fähigkeit der Kranken
zur Verdrängung unlustbetonter Gedanken.
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Verstopfung ist es noch das alte und haben die Einläufe, die wir bis jetii
gemacht haben, noch nicht so recht gewirkt. Auch wollte ich noch be¬
merken, daß zeitweise der Ausfluß recht stark auftritt und zwar meiste®,
wenn wir spazieren waren; vielleicht hängt das auch mit den Nerve*
zusammen. So ganz das Richtige ist es doch noch nicht.-
Am 16. I. wandte sich der Gatte telephonisch an uns mit der BiUf
seine Frau wieder aufzunehmen, da sie von neuem in der gleichen Webe
wie damals erkrankt sei.
Ist bei der Aufnahme ruhig, verstimmt. Gibt an, wieder Ac?-
zu haben. Ferner klagt sie über Schmerzen in der linken Brustdnb-
auf der linken Seite des Leibs und im linken Arm. Sie lutscht wie* -
auffallend viel an den Lippen. Auf der ganzen rechten Körperhälfte erfck'
auf Nadelstiche keine Reaktion, dagegen ist die Mundhöhle auch mb’:
normal empfindlich.
18. I. Schlaf auf Mittel. Habe zu Hause mit ihrem Manne re¬
in normaler Weise in der ihr als Frau zukommenden Lage verkehrt, dal
zuerst keinen, dann etwas mehr Genuß gehabt. Schließlich habe sie wie*-
so gut wie nichts empfunden, und gleichzeitig hätten sich wieder steu
wachsende Schmerzen auf der linken Seite des Leibes, dann in der link::
Brustdrüse und im linken Arm eingestellt. Mit der GefühlsabstumpfuK
rechts sei dann auch die Angst wiedeigekommen. Sie drängt sehr aJ
gynäkologische Behandlung und Untersuchung durch einen Frauenan’
19. I. Nachts viel Schmerzen. Angst nur noch sehr gering.
20. I. Die Gefühlsabstumpfung hat sich inzwischen auch auf ü-
inke Körperseite und auf die Mundhöhle erstreckt. Untersuchung durt
Frauenarzt. Derselbe stellt außer dem bereits früher erhobenen Befua
einen Scheidenkatarrh und eine Vergrößerung und Druckempfindliche
des rechten Eierstocks fest. Die Schmerzen auf der linken Ser
des Leibes finden durch den gynäkologischen Befund nach Ansicht * -
Spezialisten keine Aufklärung.
Behandlung: Ichtyol-Glyzerin-Tamponade. Scheide nspülußf^
Wärme - Applikation.
Im Anschluß an die Untersuchung gab ich der Pat. gegenüber
Möglichkeit zu, daß ihre Unfähigkeit zu ehelichem Verkehr ihre Ursaci?
in der Empfindlichkeit des rechten Eierstocks habe, die wohl geeigi*
sei, beim sexuellen Akt Schmerzen und Unlustgefühle hervorzuruffr.
Ich sagte ihr, man müsse zunächst einmal abwarten, bis die Anomal
beseitigt sei, dann erst könne sich herausstellen. ob diese Vermutung
zutreffe. Pat. ist sehr hoffnungfreudig, glaubt bestimmt, daß sich afe-
so verhalte, sie habe auch immer Schmerzen beim Verkehr gehabt, **
sich wohl nur nicht eingestehen wollen. Auf ihre diesbezügliche Fra^
betone ich die Notwendigkeit einer monatelangen sexuellen Abstinent
worauf sie entgegnet, daß sie das nicht aushalten könne. Ich erwidere,
daß ein normaler Verkehr jedenfalls zunächst verboten sei, wie sie >«■-'
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Eine Hysterie-Analyse und ihre Lehren.
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nzwischen mit ihrer Sexualität abfinde, darüber könne ich ihr einen Rat
rieht erteilen.
Pat. hatte nun die Lösung des Konflikts erreicht, die sie von Anfang
n mit dem Verlangen nach gynäkologischen Untersuchungen erstrebte,
lämlich das ärztliche Verbot des ehelichen Verkehrs auf Grund des Be-
tehens einer Anomalie an den Sexualorganen. Es stellte sich
I ann auch fast unmittelbar im Anschluß an meine
J nterredung mit ihr die Schmerzempfindung am
: anzen Körper wieder ein. Der innere Zusammenhang dieser
Erscheinung mit der erzielten Lösung des Konflikts wird treffend dadurch
llustriert, daß sie sofort ihrem Manne schrieb in dem Sinne, sie sei wieder
;anz gesund und eine nervenärztliche bzw. Sanatoriumsbehandlung
•rührige sich, sie müsse sich nur noch eine Zeitlang in Behandlung eines
''rauenarztes begeben; sie erörtert allerhand Pläne, wie das zu machen sei,
ind weist auch daraufhin, daß ja vielleicht der Hausarzt die Behandlung
ibernehmen könne. Als ich ihr daraufhin entschieden erkläre, daß eine
Rückkehr zu ihrem Manne auf Monate hinaus ausgeschlossen sei, ist sie
ichtlich enttäuscht, und gleichzeitig ist eine deutliche
Herabsetzung der Schmerzempfindung auf der
inken Körperhälfte festzustellen.
21. I. Heute sind auch die Schmerzen wieder da.
Ich äußere, daß sie „gesund“ gewesen sei, weil sie gehofft habe, mit
lern ärztlichen Verbot des ehelichen Geschlechtsverkehrs in der Tasche
iu ihrem Manne zurückkehren zu können und nun gewissermaßen ein
verbrieftes Recht zu der ihr genehmen perversen Sexualbetätigung zu
jesitzen. Die ihr bereitete Enttäuschung habe wieder zur Verwerfung
ies Wunsches nach dieser Art der Befriedigung geführt und körperlich
hren Ausdruck gefunden in erneuter Gefühlsabstumpfung auf der linken
Körperhälfte.
22. I. Links ist völlige Analgesie, rechts Hypalgesie eingetreten.
Die Schmerzen und Druckempfindlichkeit im linken Hypogastrium sind
>ehr erheblich. Die Druckempfindlichkeit entspricht einer scharf ab-
jegrenzten, etw r a dreimarkstückgroßen Zone, in deren Bereich Sensibilität
and Schmerzempfindung nicht aufgehoben ist. Während ich anfangs der An¬
sicht war, daß diese Schmerzen einem hysterischen Symptom entsprechen,
das in der im linken Beckenbindegewebe nachweisbaren Verdickung sein
somatisches Entgegenkommen findet, habe ich mich mehr und mehr
davon überzeugt, daß wir es hier mit einer Neuralgie zu tun haben. Schon
während der Menstruation am 4. XII. war mir aufgefallen, daß gleich¬
zeitig mit der Steigerung der Schmerzen sich eine Schwellung der Nasen¬
schleimhaut eingestellt hatte, die mir die Fließ sehe *) Theorie von dem
i j *) Wilhelm Fließ, Über den ursächlichen Zusammenhang von Nase
und Geschlechtsorgan. Zugleich ein Beitrag zur Nervenphysiologie.
Carl Marhold, Halle 1910.
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nasalen Ursprung dysmenorrhoischer Beschwerden in Erinnerung bracht*
Schon damals habe ich der Pat. denVersuch vorgeschlagen, zur Besehiguae
der Leibschmerzen die Nasenschleimhaut mit Kokain zu pinseln, was si?
aber lachend ablehnte. Inzwischen war nun auch wiederholt eine later
kostalneuralgie aufgetreten, mit der nach Fließ die intermenstnielk:
Schmerzen häufig vergesellschaftet sind. Außerdem lag auch die vc
Fließ als typische Ursache der nasalen Dysmenorrhoe bezeichnet« Ti',
sache, die Onanie bzw. der Onanismus conjugalis, vor. (Die Änderung
Auffassung bezüglich der Genese dieser Schmerzen hatte natürlich kein*'
Einfluß auf die Annahme ihrer Bedeutung als hysterisches Symptom
Lediglich das somatische Entgegenkommen wurde in einer anderen Grün:
läge gesehen.) Ich habe nun, dem Vorgehen von Fließ folgend, die Nase:
Schleimhaut der Pat. mit Kokain gepinselt, wobei ich nur eine 5 proientk-
Lösung (Fließ verwendet eine 10 prozentige) zur Anwendung bracht*
Nach drei Minuten wurden die Schmerzen im Leib geringer und war:
nach sieben Minuten völlig verschwunden. Nach 3}» Stunden stellt?:
sie sich allmählich wieder ein. Abends wurde die Pinselung wiederhol
23. I. Hat infolge der Kokainpinselung zum erstenmal seit i ‘'
Wiederaufnahme wirklich gut geschlafen.
Heitere, übermütige Stimmung. Die linke Körperhälfte ist nach*! 1
vor analgisch, auf der rechten werden Nadelstiche als Berührung eiq
funden. Auf dem Rücken, von der Schulter bis zur Ferse, läßt sich beid¬
seits eine sagittal verlaufende durch den angulus scapulae gehende, nonca!
empfindliche Linie nachweisen, die gewissermaßen jede der beiden Körpr’
hälften in zwei Teile teilt. Diese Linien bleiben auch nach Pinselung c?r
Nasenschleimhaut mit 10 prozenliger Kokainlösung unverändert be¬
stehen, während die schmerzempflndliche Zone im linken Hypogastm*
nahezu ausgelöscht wird.
25. I. Die Kokainpinselungen haben stets den gleichen Erf<k
Die Schmerzen verschwinden in 3—8 Minuten und treten nach 3—•
Stunden wieder auf. Appetit und Schlaf sehr gestört.
26. I. Weint nach Empfang eines Briefes von ihrem Manne. E*
tue ihr so leid, daß er durch ihre Krankheit immer allein sein müsse. Dal-
ist die ganze rechte Körperhälfte normal empfindlich, die linke wie vorhr.
Nachdem sie sich beruhigt hatte, konnte bezüglich der Schmerzempfindur.-'
der gleiche Befund wie vorher (siehe Eintrag vom 23. I.) erhoben wer-ie:
(über die Entstehung dieser Erscheinung siehe S. 9(8).
27. I. Konsultation Dr. Fließ. Kokainversuch positiv. Dane;’
wird die Schleimhaut beider unteren Muscheln mit Trichloressigsäu - *
verätzt. Nach der Behandlung ist Pat. sehr angegriffen, klagt üb?'
Schwindelgefühl. Besserung nach Koffeininjektion.
28. I. Die Schmerzen auf der linken Seite des Leibs sind völik
verschwunden, auch die entsprechende empfindliche Zone ist ausgelös*^'
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Eine Hysterie-Analyse nnd ihre Lehren.
893
»agegen klagt Pat. jetzt über Schmerzen an der korrespondierenden
teile der rechten Seite des Leibs.
31. I. In den letzten Tagen starke Erregung im Anschluß an
impfang eines anonymen Briefes, in dem behauptet wurde, ihr Mann
nterhalte in ihrer Abwesenheit ein Verhältnis. Sie klammerte sich an
iesen Gedanken mit dem ganzen abfuhrbedürftigen Affekt der ver-
rängten Sexualität. Sie behauptete, die Beschuldigung sei wahr, führte
Ile möglichen unwahrscheinlichen Gründe an, die für die Untreue des
[annes sprächen, telegraphierte den Eltern, verbat sich den Besuch des
fannes, sprach von Scheidung, jammerte, heulte, habe Angst vor dem
lann.
2. II. Menstruiert.
3. II. Der Besuch der Eltern brachte ihr wenig Beruhigung. Sie
ß so gut wie nichts mehr, klagte über starken Durst und trank enorme
Iengen Pomril. Trockenheit des Mundes und des Rachens. Zunge belegt,
'oetor ex ore. Erbrechen. Starke Magenschmerzen. Schlaf völlig auf-
ehoben. Hyperalgische Zonen im Epigastrium und im rechten Hypo-
astrium. Eine hyperalgische Linie reicht von der Mitte der Symphyse
um Nabel, knickt rechtwinklig ab und verläuft horizontal nach links.
Steigerung der Erregung vor dem Besuch des Mannes, lautes Jammern,
-roße Angst. Dann allmählich Beruhigung.
4. II. Schon nach dem ersten Besuch des Mannes war Pat. völlig
lusgesöhnt und gab zu, daß sie ihm Unrecht getan habe.
Heute ist während des Besuches des Mannes die Sensibilität und
>chmerzempfindung am ganzen Körper wieder aufgetreten. Auf Befragen
vie das gekommen sei, gibt Pat. an, daß sie mit ihrem Mann einen coitus
»er os ausgeführt habe, unmittelbar darauf habe sie Kribbeln in den
Fingerspitzen verspürt, und dann habe sie bemerkt, daß das Gefühl wieder-
'ekommen sei.
Es bestehen jetzt wieder Schmerzen auf der linken Seite des Ab-
lomens (wohl durch die Menstruation hervorgerufen), gegen die Pantopon-
njektionen mit Erfolg verabreicht werden.
6. II. Besserung. Magenkatarrh beseitigt.
7. II. Die Schmerzen links verschwinden auf nochmalige Ätzung
ler Schleimhaut der unteren Nasenmuscheln durch Dr. Fließ. Die angeb-
ich vorhandenen rechtseitigen Schmerzen sind von der Nase aus nicht
:u beeinflussen.
11. II. Fühlt sich recht wohl. Allgemeinbefinden gut. Nahrungs-
lufnähme, Schlaf befriedigend. Keine Sensibilitätstörungen. Die Leib-
schmerzen links sind nicht wieder aufgetreten. Außer Bett.
13. II. Nachts nahezu schlaflos infolge sexueller Erregung (eigene
Angabe der Pat.). Die Leibschmerzen der rechten Seite steigern sich gegen
Abend.
14. II. Gestern abend auffallend still, lutschte wieder viel an den
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Saaler,
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Lippen, grimassierte, wie wenn sie von unangenehmen Gedanken gepeinir
würde. Schlief erst nach der zweiten Pantoponinjektion, die sie stürmt-::
und eigensinnig verlangt hatte. Gibt heute an, daß sie am ganzen Korpc-
starkes Hautjucken habe. Äußert spontan, das sei daher gekommen, «ii
sie sich normalen Verkehr mit ihrem Mann vorgestellt habe. Sie wolle vre
Munderotik nichts mehr wissen. Gibt die Absicht zu, bei dem wku-:
bevorstehenden Besuch des Mannes normalen Verkehr zu versuchen ?>
glaube, daß sie jetzt dazu imstande sei, nachdem die gynäkologis- -
Behandlung 4 Wochen lang durchgeführt sei.
21. II. Schmerzen unterhalb des linken Rippenbogens. Hier is
eine hyperalgische Zone von etwa Dreimarkstückgröße nachweisbar.
I. III. Im Anschluß an den Besuch des Mannes, mit dem sieget
den ausdrücklichen Rat des Arztes sexuell (normaliter) zu verkehrt
versuchte, wieder erregt, schlaflos; hustet, hat leichte Angst, Schmer:«
überall, auch Kopfschmerzen, Übelkeit, vorübergehend auch Erbrecht
Abneigung gegen jedes Fleisch, besonders Hammd
fleisch, Vorliebe für Eierspeisen (Sexualsymbolik). Gü:
zu, durch den Verkehr nicht befriedigt worden zu sein.
4. III. Steigende Erregung. Reizbar, launisch; unmotiviert
Stimmungschwankungen. Abendliche Unruhe. Leichte Angst. Mango
hafte Nahrungsaufnahme. Schlafstörung.
6. III. Unfolgsam. Fügt sich weder den ärztlichen Anordnung?:.
noch der Hausordnung. Beklagt sich über unfreundliche Behandlung
ist zwischendurch ausgelassen heiter, macht sich über die Umgebuc?
lustig, kommt fortwährend in Konflikte.
7. III. Hat wieder Leibschmerzen links. Legt sich spontan ::
Bett. Abends ängstliche Unruhe. Völlige Analgesie der rechten Körpt-
hälfte. Weint. Wirft sich in deutlicher sexueller Erregung im Bett hen.
und verhält sich schließlich so störend, daß die Verlegung nach der g
schlossenen Abteilung vorgenommen werden muß. Während ich sie hk
in energischem Tone ermahne sich zu beruhigen, wirft sie sich in
gesprochenem Orgasmus herum, stöhnt wie beim Erdulden eines Kor¬
und schreit zwischendurch wütend auf.
8. III. Ruhiger.
9. III. Die Analgesie hat sich auf den ganzen Körper ausgeb reit?:
Abends Angst und Schmerzen.
II. III. Wesentliche Besserung. Versucht noch ab und zu dun-
Heulszenen etwas durchzusetzen. Großer Durst. Trinkt viel Mil'-
dieselbe muß roh sein und etwas Kognak enthalten, sonst trinkt sie sie
nicht (Sexualsymbolik!).
13. III. Gewichtzunahme. Hebung des Allgemeinbefinden
Besserung des Schlafs. Heitere Stimmung. Heute ist auch die Anals** 1
wieder verschwunden. Pat. gibt selbst an, das sei geschehen infolge Wiede:-
aufnah me des Wunsches nach munderotischer Betätigung. Schon ser
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Eine Hysterie-Analyse und ihre Lehren.
895
mehreren Tagen keine Schmerzen mehr, höchstens eine Spur auf der
linken Seite des Leibs.
16. III. Zu ihren Eltern entlassen mit dem Rat, sich sexuellen
Verkehrs auf Monate hinaus zu enthalten.
Suchen wir uns nun ein klares Bild von der Erkrankung und
ihren wahren Ursachen zu machen. Die Analyse hat einwandfrei
den Nachweis erbracht, daß bei der Pat. eine Frigidität gegenüber
normalem sexuellen Verkehr besteht, daß die Betätigung der Sexualität
eine perverse ist, und daß die Erkrankung die Folge des Verlangens
ist, die perverse Sexualität zugunsten der normalen zu verdrängen.
Um zu einem vollen Verständnis von der Art der Sexualbetätigung
und auch, wie wir sehen werden, der Neurose zu gelangen, ist es zweck¬
mäßig, die Symptome, die der Verdrängungsprozeß gezeitigt hat,
einer eingehenden Betrachtung zu unterwerfen. — Die ersten Sym¬
ptome, die unmittelbar im Gefolge der Vorgänge in der Hochzeitnacht
auftraten, waren gesteigerte Schmerzen auf der linken Seite des Leibes
und Blasenlähmung. Auf die ersteren komme ich weiter unten zu
sprechen. Was die Blasenlähmung betrifft, so ist mit Hinblick darauf,
daß sie unmittelbar im Anschluß an den versuchten vaginalen Verkehr
auftrat, die Annahme, daß sie als Folge des Verdrängungsprozesses
anzusehen ist, von vornherein recht wahrscheinlich. Man könnte zu
!
ihrer Erklärung allerdings auch die von Havelock EUis 1 ) erwähnte
Tatsache heranziehen, daß die Füllung der Blase „wahrscheinlich
nicht nur auf mechanischem, sondern auch auf reflektorischem Wege
Erregung und Genußfähigkeit steigert“. Es würde dann also die
Harnretention gewissermaßen die anästhetische oder nur wenig
empfindliche Scheidenschleimhaut bei der Erzeugung sexueller Er¬
regung unterstützt haben. In diesem Sinne ist die Auffassung aber
nicht zutreffend, schon deshalb nicht, weil die Hamretention über die
Dauer des sexuellen Verkehrs hinaus sinnlos gewesen wäre, und sie
ja auch vom Willen völlig unabhängig war. Nichtsdestoweniger
kommen wir zur einzig zutreffenden Erklärung des Symptoms, wenn
wir bei Havelock Ellis weiterlesen: „Umgekehrt steigert sexuelle
Erregung die Explosibilität der Blase, Harndrang tritt auf, und beim
Weibe begleitet den sexuellen Orgasmus nicht selten eine unwill-
l ) Havelock Ellis, Das Geschlechtsgefühl. Deutsch von Hans Kurella.
Würzburg, A. Stübers Verlag, 1909.
Zeitschrift für Psychiatrie. LXIX. 6. 01
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Saaler,
kürliche, manchmal reichliche und starke Urinergießung. ‘ 1 Ist als»
eine unwillkürliche Urinentleerung in diesem Zusammenhänge al?
Begleiterscheinung eines sexuellen Orgasmus aufzufassen, so eigibt sieh
die Bedeutung der Blasenlähmung ohne weiteres als Abwesenheit
eines solchen, ja als Fehlen einer sexuellen Erregbarkeit überhaupt.
Die Urinentleerung erscheint mit einem Schlage als Teil er schein imr
der sexuellen Befriedigung, als Mittel zur sexuellen Entspannung,
und beweist gerade durch ihr Unterbleiben, daß zurzeit eine sexueil-
EntSpannung unmöglich ist und zwar deshalb, weil infolge der Ver¬
drängung der Sexualität die Erregungsleitung eine Unterbrechung
erlitten hat. Um sich in den Stand zu setzen, normal sexuell zu ver¬
kehren, hatte die Pat. ihr Verlangen nach perverser Betätigung ver¬
drängt, damit aber auch die Möglichkeit, zu einer körperlichen Be¬
friedigung zu gelangen, da diese ja mit der perversen Betätigung
untrennbar vereint war. Die Folge der Verdrängung ist daher soma¬
tische Anästhesie gegen jede Art des geschlechtlichen Verkehrs, dir
sich in der Aufhebung aller Innervationen 1 ), die mit der sexuellen
Entspannung zu tun haben, äußern mußte. Betrachten wir uns nun
die übrigen Innervationsstörungen, die zur Beobachtung kamen, unter
dem gleichen Gesichtswinkel, so erkennen wir ohne weiteres, dafi
außer der Innervation der Blase die der Haut, des Darmes und der
gesamten, der Bewegung dienenden Körpermuskulatur in Beziehung
zu der körperlichen sexuellen Befriedigung stehen müssen, da de:
Verdrängungsprozeß Analgesie, gesteigerte Obstipation und Abasi-
im Gefolge hatte. Letztere war allerdings erst kurz vor der Aufnahro
eingetreten, und bezüglich des Zeitpunktes, in dem sich die Gefühl;
abstumpfung der Haut einstellte, habe ich Sicheres nicht in Erfahrne
bringen können, da Pat., bevor sie hier auf das Bestehen dieser
Störung aufmerksam gemacht wurde, von ihr überhaupt nichts wußte.
Im übrigen ist aber der anfängliche Wechsel im Auftreten und in der
Intensität der Symptome, wie bereits gesagt, zwanglos mit der mehr
oder minder starken Energie, mit der die Verdrängung ausgeführt
wurde, zu erklären. Zeitweise hatte Pat. sicherlich auf eine Verdrängung
der perversen Neigung überhaupt ganz verzichtet. Bei ihrer Aufnahme
in die Anstalt war die Verdrängung hingegen eine absolute, was sich
l ) Der Spasmus des sphincter vesicae entspricht völlig dem Darm-
spasmus (siehe S. 879 Anm. 1).
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Eine Hysterie-Analyse nnd ihre Lehren.
897
in der weitgehenden Ausbildung der Symptome zu erkennen gab.
Die Auffassung von den Beziehungen der Innervationen der genannten
Organe zu der körperlichen sexuellen Befriedigung entspricht nun
durchaus den Theorien Freuds 1 ) von den Quellen der infantilen
Sexualität. Die sexuelle Erregung entsteht nämlich nach Freud
„erstens als Nachbildung einer im Anschluß an andere organische
Vorgänge erlebten Befriedigung, zweitens durch geeignete periphere
Reizung erogener Zonen, drittens als Ausdruck einiger uns in ihrer
Herkunft noch nicht voll verständlicher „Triebe“, wie der Schau*
trieb und der Trieb zur Grausamkeit.“ Die sogenannten erogenen
Zonen zeigen aber nach Freud nur eine Steigerung einer Art von Reiz¬
barkeit, welche in gewissem Grade der ganzen Hautoberfläche zu¬
kommt. Demnach treten bei manchen Arten allgemeiner Haut¬
reizung, von denen Freud besonders die Temperaturreize hervorhebt,
sehr deutliche erogene Wirkungen auf. (Hierauf beruht auch die
Vorliebe unserer Pat. für besonders heiße Bäder, die nicht unter 40° C.
geduldet wurden. In einem Bad von 38° C. trat regelmäßig eine deut¬
liche „Gänsehaut“ auf.) Ferner wird von Freud auf ausgiebige aktive
Muskelbewegung als Quelle außerordentlicher Lust für das Kind
hingewiesen.
Die Beweiskraft, die dem vorliegenden Falle innewohnt, beruht
meines Erachtens unter anderem darauf, daß ich imstande bin, um
mit Freud zu sprechen, neben dem Negativ auch das Positiv der
sexuellen Perversion zu zeigen. Indem sich dabei ergibt, daß die
im Anschluß an den Versuch eines normalen Verkehrs aufgetretene
Neurose in der Tat nichts anderes als das Negativ der früher geübten
Perversion ist, zeigt sich nicht allein das Wesen der Neurose selbst
im klaren Licht, sondern auch der Mechanismus der sexuellen Be¬
friedigung wird aufgedeckt. Die Pat. schöpfte ihre sexuelle Lust
tatsächlich aus einer Reizung der Mundzone mittels Lutschens am
Gliede des Mannes, der Analzone durch Eingießungen *), der ganzen
*) Freud , Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Leipzig u. Wien,
Franz Deutieke, 1910.
*) Da das Negativ der Analerotik, die Stuhlverstopfung, schon seit
Jahren besteht, so könnte man denken, daß die Analerotik jetzt keine
Holle mehr spielte. Wahrscheinlicher ist aber die Annahme, daß die
Obstipation heute gar nicht mehr als ihr Negativ anzusehen ist, sondern
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Saaler,
Haut durch Temperaturreize (heiße Bäder) und aus einem ausgiebigen
Gebrauch der Muskulatur des Bewegungsapparates. Denn die Freude
der Pat. an kindischem Umhertollen (wobei natürlich auch Haut¬
reize infolge des Anpralls der Luft eine Rolle spielen), ist zu den Zeiten,
in denen die Krankheitsymptome mehr zurückgetreten waren, ihrer
Umgebung recht häufig aufgefallen. Dazu kamen als psychische
Komponenten der Sexualität die Freude am Anschauen der sexuellen
Lust des Partners und an seiner Unterwerfung, also die Triebe, die
Freud Schau- und Grausamkeitstriebe genannt hat. Diesem Positiv
entsprechen als Negativ die Symptome: Unempfindlichkeit der Haut,
unangenehme Sensationen im Munde bzw. dem mit der Mundöffnung
beginnenden Intestinaltraktus (Trockenheit, Reizhusten, Ekel vor
dem Essen, Erbrechen), im After (Spasmen), Lähmung der der Be¬
wegung dienenden Körpermuskulatur (Astasie, Abasie) und als
psychisches Symptom Angst.
Neben den genannten Erregungsquellen kommt im Sexualleben
unserer Pat. nun noch die in Betracht, die durch die digitalen Mani¬
pulationen des Partners gereizt wurde. Daß es sich hierbei nicht um
die Scheidenschleimhaut, sondern um die Klitoris handelt, dafür
scheint mir neben anderem vor allem der Umstand zu sprechen, daß
sie bei Ausübung des coitus in normaler Lage keine, in umgekehrter
Stellung etwas Befriedigung empfand. Im letzteren Falle hatte sie es
eben völlig in der Hand, eine ausgiebige Reizung der Klitoris zu er¬
zielen, was bei Aktivität des Mannes nicht der Fall ist. (Daneben
kommen zur Erklärung dieser Tatsache auch noch die früher an¬
gegebenen Dinge in Betracht.) Sehen wir uns nun nach dem Negativ
der Klitoriserregung um, so fällt uns sofort der bald stärkere, bald
schwächere Schmerz im linken Hypogastrium ins Auge, der von den
Hauptsymptomen allein noch einer Erklärung harrt. Daß es sich
bei diesen Schmerzen um die von W. Fließ beschriebenen handelt,
halte ich nach dem eklatanten Erfolg der Flaschen Therapie in
dem vorliegenden Falle für völlig erwiesen. Die Entstehung dieser
vielmehr als Folgezustand eines ungeheilten hysterischen Symptoms,
das ursprünglich allerdings dem Negativ der Analerotik entsprach. Als
auf diese später wieder zurückgegriffen wurde, Stuhlgang aber in aus¬
reichender Menge nicht mehr erzielt werden konnte, wurde die Reizung
der Analzone durch Eingießungen erzielt.
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Eine Hysterie-Analyse und ihre Lehren.
/
899 .
Schmerzen führt Fließ nun auf Veränderungen an den nasalen Genital¬
stellen zurück, die ihrerseits wieder auf die Onanie bzw. den Onanismus
wnjugalis zurückzuführen sind. Da die Onanie bei jungen Mädchen,
vie Freud überzeugend nachweist, stets Klitorismasturbation ist,
50 ist der Zusammenhang der Schmerzen mit der Erregung der Klitoris
neines Erachtens klar. Sie sind gewissermaßen eine unangenehme
Begleiterscheinung der Lust, die durch Beizung der Klitoris entsteht;
iin geeigneteres somatisches Entgegenkommen kann der in der Ver¬
drängung befindliche Wunsch nach Befriedigung durch Klitoris¬
reizung zum Zwecke der Konversion in ein körperliches Symptom
überhaupt nicht finden.
Wir haben somit die wesentlichsten Symptome der Neurose
völlig aufgeklärt und gefunden, daß sie in der Tat nichts anderes
sind als das Negativ der bisher geübten sexuellen perversen Betätigung
der Kranken. Wir haben gesehen, daß die Sexualität der Pat. sich
zusammensetzt aus Lustempfindungen, die Reizungen der Klitoris,
der Mund- und Afterzone, der gesamten Haut, der Urinentleerung
und der Bewegung ihre Entstehung verdanken. Zu diesen somatischen
Lustquellen kamen als psychische Komponenten die als Schau- und
Grausamkeitstrieb bezeichneten Faktoren. Diese Regungen kann
man mit Recht sadistische nennen, sie repräsentieren nach Freud
die Sexualität des geschlechtlich noch indifferenzierten Kindes; es
fehlen ihr noch alle spezifisch weiblichen Triebregungen, wie ja über¬
haupt die Sexualität des Kindes, wie Freud treffend bemerkt, ein
Stück Männlichkeit darstellt. Erst die Pubertät bringt die Entwicklung
zum Weibe,, was körperlich dadurch zum Ausdruck kommt, daß die
früheren erogenen Zonen an Bedeutung verlieren und die Erregung
von der Klitoris auf die Scheidenschlcimhaut fortgeleitet wird. Freud
führt des weiteren aus, daß sich die Klitoris mitunter weigert, ihre
Erregung abzugeben, was gerade durch ausgiebige onanistische Be¬
tätigung im Kinderleben vorbereitet wird, woraus die Anästhesie für
den normalen sexuellen Akt resultiere. In der Tat läßt der vorliegende
Fall eine andere Deutung nicht zu. Man könnte ja nun annehmen,
daß die Sexualität der Pat. überhaupt eine kindliche ist, entsprechend
dem kindlichen Habitus ihrer gesamten Persönlichkeit, entsprechend
den Äußerungen der psychischen Komponenten ihres Geschlechts¬
triebes. Man darf aber nicht vergessen, daß die Letzteren Partialtriebe
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Saaler,
der kindlichen Sexualität und somit mit den entsprechenden somatischen
Komponenten untrennbar vereint sind. Man ist wohl zur Annahme
berechtigt, daß die Pat., wenn es ihr vergönnt wäre, sich weiblich zu
befriedigen, auch weiblich empfinden würde. Gerade diese Tatsache
scheint mir auch die eigentliche Ursache des psychosexuellen Kon¬
fliktes zu sein. Der lediglich auf intellektuellen Faktoren basierende
Wunsch, den ehelichen Pflichten nachzukommen, würde zur Erzeugung
des Konfliktes kaum ausgereicht haben, andererseits würde die Ver¬
drängung der infantilen Sexualität nicht immer wieder erfolgt sein,
wenn sie nicht in dem inneren Empfinden der Kranken stets auf Wider¬
stand gestoßen wäre. Auch einige der Erregungszustände der Pat.,
besonders der am 7. III., charakterisierten sich recht deutlich als
Folge der Verdrängung einer ausgesprochen weiblichen, masochistischen
Sexualität. Ich halte mich daher zu der Annahme für berechtigt,
daß der psychische Umwandlungsprozeß der Sexualität vom Infantilen
zum Weiblichen schließlich, wenn auch verspätet, so doch in durchaus
normaler Weise einsetzte x ), daß hingegen der körperliche Umwand¬
lungsprozeß, die Abgabe der Erregung von der Klitoris auf die Scheiden¬
schleimhaut, mit diesem nicht hat Schritt halten können, so daß der
Konflikt sich gewissermaßen als ein Mißverhältnis zwischen den
psychischen und somatischen Komponenten des Geschlechtstriebs
darstellt. Der normalen Libido ist der normale Weg zur Befriedigung
versagt, sie verhält sich, um die Worte Freuds zu gebrauchen, „wie
ein Strom, dessen Hauptbett verlegt wird; sie füllt die kollateralen
Wege aus, die bisher vielleicht leer geblieben waren.“ Das verlegte
Hauptbett ist die anästhetische Vagina, die Kollateralen sind die
Lustquellen der infantilen Sexualität.
Die vorgetragene Auffassung von dem Wesen der Frigidität gegen
normalen sexuellen Verkehr, als deren letzte Ursache also die Onanie
anzusehen ist, führt natürlich zu einer wesentlich günstigeren Prognose
als die Annahme einer defekten Anlage, einer Entwicklungshemmung,
der eine Weiterentwicklung zu normalen Verhältnissen versagt ist,
gestatten würde. Wir haben uns daher auch für berechtigt geglaubt,
die Prognose günstig zu stellen, vorausgesetzt, daß die Pat. unseren
eindringlichen Rat, sich während mehrerer Monate jeglicher sexueller
*) Hemmend auf die Umwandlung wirkte allerdings auch das sexuelle
Trauma.
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Eine Hysterie-Analyse und ihre Lehren.
901
Betätigung zu enthalten, befolge. Dabei haben wir uns nicht ver¬
hehlt, daß die Durchführung der sexuellen Abstinenz in Anbetracht
der Minderwertigkeit der Pat. und ihrer starken sexuellen Triebe
auf vielleicht unüberwindliche Schwierigkeiten stoßen würde. Aus
diesem Grunde haben wir uns nur mit einer Entlassung zu den Eltern
und nicht zu dem Manne einverstanden erklärt. Die erfolgte dann
auch; wie aber nicht anders zu erwarten war, ist die Pat. wenige Tage
nach ihrer Entlassung zu ihrem Manne durchgebrannt. Weitere
Nachrichten über ihr Befinden habe ich nicht erhalten 1 ).
Auf eine Tatsache will ich nun hinweisen, die aus der Betrachtung
der Sensibilitätstörungen erhellt, und die, wenn sie durch fernere
Beobachtungen bestätigt werden sollte, meines Erachtens eine nicht
unwesentliche Bereicherung biologischer Erkenntnis bedeuten würde.
Ich will zu diesem Zwecke die hauptsächlichen Sensibilitätstörungen,
die beobachtet wurden, kurz rekapitulieren:
Bei der Aufnahme: Totale Analgesie.
Am 11. XII.: Sensibilität normal.
„ 12. XII.: Rechte Körperhälfte normal, linke analgisch.
,, 14. XII.: Totale Analgesie.
„ 18. XII.: Auftreten einer normal empfindlichen Mittellinie.
,, 2. I.: Das Gefühl breitet sich über den ganzen Körper aus.
„ 17. I.: Linke Körperhälfte und Mundhöhle normal, rechte
unempfindlich.
„ 18. I.: Totale Analgesie.
„ 20. I.: Sensibilität normal.
„ 21. I.: Analgesie links.
„ 22. I.: Totale Analgesie.
,, 26. I.: Vorübergehend normale Empfindlichkeit rechts, links
wie vorher.
„ 4. II.: Sensibilität normal.
„ 14. II.: Paraesthesien.
„ 7. III.: Analgesie rechts.
„ 9. III.: Totale Analgesie.
„ 13. III.: Normale Sensibilität.
Aus der vorstehenden Tabelle geht hervor, daß die Analgesie
stets zuerst die eine Körperhälfte betraf und sich dann erst mehr oder
weniger plötzlich auf den gesamten Körper erstreckte. Natürlich
Ich habe die Pat. inzwischen wiedergesehen. Es ist ihr seitdem
relativ gut gegangen. Allerdings hatte sie auf normalen Geschlechtsverkehr
gänzlich verzichtet.
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Saaler,
muß dieses verschiedene Verhalten verschiedenen psychischen Pro¬
zessen entsprechen; daß es sich beim Schwinden der Sensibihtit uc
Verdrängungsprozesse der Sexualität handelt, wurde bereits emhr.
Ins hellste Licht gerückt wird diese Tatsache ja durch das Schwini:
der Analgesie am 4. II. im Anschluß an einen Coitus per os. I)a w?
wie ich ausgeführt habe, mit einem Kampf zweier Sexualitäten
infantilen und der weiblichen, zu tun haben, so hegt es sehr nahe ann-
nehmen, daß dem Schwinden der Schmerzempfindung auf der eins
Körperhälfte die Verdrängung der infantilen, dem auf der ander :
Seite die der normalen Sexualität entspricht. Tatsächlich zeigt es
daß jedesmal, wenn die Pat. die perversen Neigungen verdrängte, ü
Analgesie auf der linken, im anderen Falle auf der rechten Seite began.
Die totale Analgesie entsprach stets der totalen Verdrängung te
einer der beiden Sexualitäten, während die gleichzeitige Verdränge
beider Sexualitäten in der normal empfindlichen Medianlinie bei mi
analgischem Verhalten der gesamten übrigen Körperoberfläche nr
Ausdruck kam. Die Analgesie der rechten Körperhälfte, die am 1”. -
beobachtet wurde, erstreckte sich zwar auch auf die Nasen schleimig,
der rechten Seite, nicht aber auf die Mundhöhle, die in ihrer gam-:
Ausdehnung normal empfindlich war und damit die Bereitschaft fir
die munderotische Betätigung eklatant zum Ausdruck brachte. Leie
habe ich am 7. III., als wieder Analgesie der rechten Körperhälfte bestaec
nicht rechtzeitig auf das Verhalten der Mundhöhle geachtet. Immert"
scheint mir aus alledem zur Genüge hervorzugehen, daß die Media:
linie des Körpers gewissermaßen eine Zone sexueller Indifferenzienr.
darstellt, daß die rechte Körperhälfte der weiblichen, die linke o
infantilen Sexualität entspricht. Hält man sich nun die Tatsart
vor Augen, daß die infantile Sexualität mit ihrer sadistischen Eigen*'
im ausgesprochenen Gegensatz steht zu der masochistischen ge¬
liehen, erinnert man sich ferner der Auffassung Freuds , die in
infantilen Sexualität überhaupt ein Stück Männlichkeit sieht, so for
die Vermutung nahe, in der rechten Körperhälfte die Repräsentativ
der weiblichen, in der linken die der männlichen Anlage zu sehen
Die Analyse liefert daher in der Tat, worauf Freud häufig h-‘
gewiesen hat, die Bestätigung der heute allerdings wohl kaum n>-
bestrittenen Theorie von der bisexuellen Anlage des Menschen.
wenn man bedenkt, daß sich das Individuum aus männlichem
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Eine Hysterie-Analyse nnd ihre Lehren.
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weiblichem Keimmaterial entwickelt, ja eigentlich auch selbstver¬
ständlich erscheint. Das Besondere aber, das der vorliegende Fall
lehrt, ist, daß wir gezwungen sind, beim Weibe ein der Sexualität
des eigenen Geschlechts entsprechendes Zentrum auf der linken und
ein die infantile oder männliche Sexualität verkörperndes Zentrum
auf der rechten Hirnhemisphäre anzunehmen 1 ). Das linke Zentrum
würde demnach das persistierende sein, das in der Pubertät erst zur
vollen Entwicklung gelangt und das rechtseitige primitive ablöst.
Die an das letztere gebundenen Sexualtriebe würden normalerweise
der Sublimierung anheimfallen müssen und, im Falle diese ausbleibt,
die Vorbedingungen für die Inversion bzw. Perversion des Geschlechts¬
triebes des Weibes abgeben. Dieses selbe Zentrum müßte beim Manne
natürlich, da aus ihm die männliche Sexualität hervorgeht, das
persistierende sein und auf der linken Hemisphäre liegen. Aus Analogie¬
schlüssen würde man genötigt sein, bei ihm auf der rechten Seite ein
der weiblichen Sexualität entsprechendes Zentrum anzunehmen,
dessen übermäßige Entwicklung Homosexualität zur Folge haben
würde. Eine Bestätigung dieser Theorien erblicke ich in dem analogen
Verhalten des Sprachzentrums, das, wie allgemein angenommen wird,
sich nur bei Rechtshändern auf der linken Hirnhemisphäre befindet,
bei Linkshändern dagegen rechts, entsprechend der überwiegenden
Entwicklung der rechten Hemisphäre 2 ). Auch das gleichzeitige Vor¬
kommen von Inversion und Linkshändigkeit erfährt durch die An¬
nahme von der Persistenz eines rechtseitigen, die Triebe des anderen
Geschlechts enthaltenden Zentrums eine zwanglose Erklärung. Von
dieser Beobachtung ausgehend, ist W. Fließ s ), wie ich allerdings erst
‘) Dies kann natürlich nur bedeuten, daß das linke Zentrum mit
vorwiegend weiblichen, das rechte mit vorwiegend männ¬
lichen Eigenschaften ausgestattet ist, da nichts Organisches denkbar ist,
das nicht männliche und weibliche KSimelemente enthielte.
*) Die durch die Beobachtung Mendels (Über Rechtshirnigkeit
bei Rechtshändern. Neurol. Zentralbl. 1912, Nr. 3) jetzt wohl feststehende
Tatsache, daß sich das Sprachzentrum bei Rechtshändern ausnahmweise
auch auf der rechten Hirnhemisphäre entwickelt, ist ein vollgültiger
Beweis für die ursprünglich doppelseitige Anlage des Sprachzentrums.
Die Entwicklung desselben auf der im übrigen nicht dominierenden Hirn¬
hälfte würde ihr Analogon haben im Bestehen von Homosexualität bei
Rechtshändern bzw. normaler sexueller Triebrichtung bei Linkshändern.
*) W. Fließ, Der Ablauf des Lebens. 1906.
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904
S aaler,
wesentlich später erfuhr, schon vor mir zu einer ähnlichen Ansckum:
gelangt, die er in seinem „Ablauf des Lebens“ niedergelegt hat Ii
konnte nachweisen, daß manche Menschen, besonders Künstler, den*
Wesen die psychischen Ausstrahlungen der Sexualität des anderes
Geschlechts erkennen ließen, entweder Linkshänder waren, oder ht
stärkere Ausbildung der linken Körperhälfte aufwiesen, eine Tatsache,
die er als Linksbetonung des Künstlers beschrieben hat. In de
Übergewicht der linken Körperhälfte, also der rechten Hirahemisphän
erblickt er ein Plus von Weiblichkeit bei Männern, von Männlich^
bei Frauen.
Die Annahme eines primitiven Sexualzentrums, das bei beider
Geschlechtern die infantile, indifferenzierte Sexualität verkörptn
beim männlichen die Vorstufe zur endgültigen Sexualität da rsteli'
beim weiblichen mit dem Eintritt ins Pubertätsalter seinen Zweu
erfüllt hat und sublimierte höhere Funktionen erhält, steht aber iud
durchaus im Einklang mit unseren biologischen Anschauungen.
wissen, daß die Ontogenie, die Entwicklungsgeschichte des Individuum-
nichts anderes ist als eine kurze Rekapitulation der Phylogenie, d«
Entwicklungsgeschichte der Art. Läßt sich die Richtigkeit die*
Satzes an der Entwicklung der Organe nachweisen, warum sollte m£
nicht berechtigt sein anzunehmen, daß auch die Psyche mit allen
Teilerscheinungen, also auch die Sexualität, einen ähnlichen
wicklungsgang durchmacht?
Wir wissen, daß die sekundären Geschlechtsmerkmale bei df'
übrigen Säugetieren bei weitem nicht so ausgesprochen sind wie beis
Menschen 1 ). Je weiter wir die Stammesgeschichte zurückverfo^ 1
um so geringer wird der Unterschied zwischen den Geschleckten
Eben beim erwachsenen Menschen erst sehen wir die Differenz^
der ursprünglich eingeschlechtigen Anlage in eine männliche und fl*
weibliche in ihrer Vervollkommnung. Die Sexualität des Kindes 1 '
aber nichts anderes als indifferenzierte Sexualität entsprechend ^
Tätigkeit eines primitiven Sexualzentrums.
Die Annahme des Bestehens einer Sexualität beim Kinde
meines Erachtens keineswegs im Gegensatz zu der kindlichen Unschuld
Wer dem Begriff der infantilen Sexualität voll gerecht wird, verbind
eben mit ihr ganz andere Anschauungen als mit der des Erwachs^ 1
*) Vgl. Oskar Schläue, Das Weib in anthropologischer Betracht
Würzburg, A. Stübers Verlag, 1906.
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Eine Hysterie-Analyse und ihre Lehren.
905
Am meisten hat man sich gestoßen an der Behauptung Freuds von der
polymorph-perversen Anlage des Kindes. Streng genommen ist auch
die Bezeichnung „pervers“ für die Sexualität des Kindes nicht passend;
denn von einer Perversion des Geschlechtstriebs kann ja nur da die
Rede sein, wo eine normale Libido, die Libido des Erwachsenen,
Voraussetzung sein sollte. Von einer solchen ist aber beim Kinde
nicht die Rede. Man hat daher unter der polymorph-perversen Anlage
keine Perversion zu verstehen, sondern eine Anlage, die, wenn sie über
die Geschlechtsreife hinaus fort besteht, die Vorbedingung für die
Perversion abgibt. Meines Erachtens ist es auch nicht statthaft, beim
Kinde von einer erotischen Phantasie im Sinne bewußter Sexualität
zu sprechen. Denn auch die Onanie wird normalerweise beim Kinde
nicht von sexuellen Phantasien begleitet, sie geschieht lediglich zur
Bereitung von Lustgefühlen, deren sexuelle Natur dem Kinde nicht
einmal bekannt zu sein braucht. Man kann übrigens zweifelhaft sein,
ob man masturbatorische Betätigung vor Beginn der Geschlechtsreife,
wenigstens soweit sie nicht auf Verführung zurückzuführen ist, nicht
schon in das Bereich des Pathologischen zu verweisen hat. Es ist ja
bekannt, daß bei neurotisch veranlagten Individuen das „Primat der
Genitalzonen“ (Glans penis, Clitoris) sich früher einstellt als bei
Gesunden, eine Tatsache, die mit der sexuellen Frühreife der meisten
Neurotischen wohl im Einklang steht. Auch Freud weist daraufhin,
daß das Interesse, das die Kinder schon in relativ zartem Lebensalter
der Frage der Fortpflanzung entgegenbringen, nicht sexuellen Ursprungs
ist, sondern nur ihrer Wißbegier entspringt. Tatsächlich berührt
das Problem der Fortpflanzung die Sexualität des Kindes nicht,
solange sie sich im Stadium des Autoerotismus befindet. Erst mit dem
Erwachen der heterosexuellen Triebe gewinnt die Frage eine neue und
völlig ungeahnte Bedeutung.
Das primitive Sexualzentrum muß ja naturgemäß auch viel
weniger differenziert sein, als das bleibende; es empfängt wahrschein¬
lich seine Impulse hauptsächlich durch Fortieitung der Erregung
von dem auf reflektorischem Wege gereizten, im Sakralmark gelegeüen
niederen Sexualzentrum. Erinnert man sich der Tatsache, daß dieses
ja in unmittelbarer Nähe der Zentren für die Urin- und Stuhlentleerung
gelegen ist, so ist es auch verständlich, wie es kommt, daß so innige
Beziehungen zwischen der sexuellen körperlichen Entspannung und
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906
Sa&ler,
der Blasen-Mastdarm-Tätigkeit bestehen. Es ist bis zu einem gewissen
Grade ja auch wahrscheinlich, daß die im Sakralmark gelegenen
Zentren beim Kinde noch nicht differenziert sind und nur e i n Zentrum
darstellen, von dem sich das Sexualzentrum erst mit beginnender
Geschlechtsreife absondert. Bis dahin geschieht sexuelle Reizung
und Entspannung eben vermittels der Blasen-Mastdarm-Tätigkeit
und ist mit ihr untrennbar verbunden.
Daß die Hysterie nicht in dem Sinne eine psychogene Erkrankung
ist, wie man gewöhnlich annimmt, sondern, um einen treffenden
Ausdruck Strohmayers x ) zu gebrauchen, mit einem Fuße im Organi¬
schen steht, geht schon aus dem Vorstehenden recht deutlich hervor.
Ich bin aber in der Lage, diese Tatsache in noch wesentlich helleres
Licht zu rücken. Die Annahme, daß zu bestimmten Zeiten körperliche
Ursachen eine hervorragende Rolle spielten, resultiert schon aus der
Erfahrung, daß mitunter der Aufklärung eines Symptoms, dem zu
anderen Zeiten auf psychischem Wege beizukommen war, die Be¬
seitigung nicht auf dem Fuße folgte. Dies zeigt sich besonders in der
zweiten Erkrankungsperiode, aber auch während der ersten Periode
trat „Heilung“ erst ein, nachdem lange nichts mehr zu analysieren
war. Ich sah mich daher* veranlaßt, anzunehmen, daß Symptome,
selbst wenn sie psychogen entstanden sind, keineswegs zu jeder Zeit
auf psychischem Wege beseitigt werden können, sondern daß ganz
bestimmte im Körperlichen begründete Bedingungen für ihre Be¬
seitigung (wie auch für ihre Entstehung) vorhanden sein müssen.
Diese Annahme fand ihre Bestätigung durch Untersuchungen, die sieb
auf den Flaschen biologischen Lehren aufbauen. Diese gipfeln
darin, daß allen Lebensvorgängen in der Natur die Periodizität von
28 und 23 Tagen gemeinsam ist. Fließ betont, daß auch die Funktionen
des Gehirns, insbesondere die psychischen Leistungen, dem periodischen
Geschehen untertan sind. Betrachten wir uns nun die wichtigsten
Daten der Krankengeschichte, die ich zu diesem Zwecke in zwei
Gruppen einteüe, nach dem Gesichtspunkte der Periodizität:
I. Gruppe: II. Gruppe:
10. XII. 11. abends 20. XI. 11. abends
2. I. 12. ., 13. XII. 11. „
‘) Strohmayer , Kinderhysterie mit schweren Störungen der Lage-
und Bewegungsempfindungon. Ztsohr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. Bd. VIII.
Heft 6.
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Eine Hysterie-Analyse and ihre Lehren.
907
4. II. 12. 18. XII. 11. abends
13. III. 12. morgens 15. I. 12. „
12. II. 12.
7. III. 12. morgens.
Die Zeitabstände der ersten Gruppe sind:
1. 10. XII.—2. I. = 23 Tage.
2. 2. I.—4. II. = 33 = 2 X28 — 23 Tage. 28
3. 4. II.—13. III. morgens = 37 = 23 + 14 = 23 + % Tage.
Abstand 1 + Abstand 2 = 56 = 2 x28 Tage. ^
„ 2 + „ 3 = 70 = 3 x23 + 1 Tage.
„ 1 + ,, 2 + Abstand 3 = 93 = 4 x23 + 1 Tage.
Die Zeitabst&nde der zweiten Gruppe sind:
1. 20. XI.—13. XII. = 23.
2. 13. XII.—18. XII. = 5.
3. 18. XII.—15. I. = 28.
4. 15. I.—12. II. = 28.
5. 12. II.—7. III. morgens = 23.
Abstand 1 + 2 = 28 Tage.
„ 2+3+4+5=84=3x28 Tage.
„ 1 + 2+ 3+ 4+ 5 - 107 *3x28 + 23 Tage.
In der ersten Gruppe habe ich die Daten zusammengestellt, an
denen die Sensibilitätstörungen verschwunden sind. Die Abstände
lehren, daß diese Erscheinung in der Tat an irgend welche periodische
körperliche Vorgänge geknüpft sein muß. Wer jemals Menstruations¬
abstände in größerer Zahl gemessen hat, der weiß, daß die Abstände
23, 33 = 56 — 23 und 37 = 23 + 14 ungemein häufig Vorkommen.
Am 4. II. verschwanden die Gefühlsstörungen allerdings nicht von
selbst, sondern im Anschluß an einen coitus per os. Es muß aber in
Betracht gezogen werden, daß das Verlangen nach dieser Art des
Verkehrs nur an wenigen Tagen während der Erkrankung vorhanden
war; man muß daher auch annehmen, daß, wenn er zu einer anderen
Zeit stattgefunden hätte, keinesfalls eine Wiederkehr der Hautempfin¬
dung, wahrscheinlich sogar nervöse Störungen in seinem Gefolge auf¬
getreten wären. Da nun, wie ich gezeigt habe, die Beseitigung der
Analgesie stets auf eine Wiederaufnahme des verdrängten Wunsches
nach munderotischer Betätigung zurückzuführen war, so liegt es nabe,
anzunehmen, daß an diesen Tagen irgendwelche körperlichen Vorgänge
zu einer sexuellen Erregung im Sinne der infantilen Sexualität führten.
Ich könnte den vier Daten der ersten Gruppe noch ein fünftes hinzu-
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908
Saaler,
fügen, nämlich den 26.1. vormittags, 23 Tage nach dem 2. L Damals
war vorübergehend die rechte Körperhälfte gegen Nadelstiche empfind¬
lich. Die Kranke weinte, angeblich weil ihr Mann unter ihrer Krank¬
heit leiden müsse. Wenn es zutrifft, daß sie an diesem Tage ihre Un¬
fähigkeit zu normalem sexuellen Verkehr in erhöhtem Maße empfand,
so erscheint die Annahme, daß es damals zu einer erneuten Ver¬
drängung der infantilen Sexualität gekommen ist, wohl begründet.
Da die Kranke bereits völlig analgisch war, so trat nicht wie sonst
Analgesie links, sondern Algesie rechts auf. Man kann diese natürlich
auch als Folge von Reaktionsverstärkung des entgegengesetzten
Verlangens, also der normalen Triebrichtung auffassen, was praktisch
auf das gleiche hinausläuft.
Was bedeuten nun die Daten der zweiten Gruppe? Ich bin da
ausgegangen von dem 18. XII. 1911, nachdem ich ausgerechnet hatte,
28 X 23
daß die Pat. an diesem Tage 14 x 23* = 23x —-— Tage alt war.
Folgt man den Fließ sehen Theorien, so muß man dieser Zahl eine
hervorragende Bedeutung im Leben der Pat. beimessen. Des näheren
kann ich hier darauf nicht eingehen. An diesem Tage abends trat nun
die normal empfindliche Medianlinie auf, deren Entstehung ich als Folge
der Verdrängung beider Sexualitäten aufgefaßt habe. Da sich die
infantile bereits in der Verdrängung befand, so mußte an diesem Tage
ein Verdrängungsschub der normalen Sexualität stattgefunden haben,
der aber nur erfolgen konnte, wenn ihm eine durch entsprechende
körperliche Vorgänge begründete Stärkung der weiblichen Anlage
vorangegangen war. Die Neurose verwandelt eben alles in das Gegen¬
teil. Die Bedeutung des Tages läge demnach in der Tendenz des
Körpers, die infantile durch die weibliche Sexualität zu ersetzen.
Am folgenden Tage, dem 19. XII. gab die Kranke an, die gleichen
Leibschmerzen zu haben wie genau 4 Wochen vorher, während sie
sich auf der Gesellschaft bei dem Hausarzt befand. Ich habe auf S.884
nachgewiesen, daß an diesem bzw. am folgenden Tage auch ihr Ge¬
dankengang der gleiche gewesen ist wie 4 Wochen vorher, was gewiß
für die Identität der physiologischen Vorgänge spricht. Am 21. XL
war die Gesellschaft bei dem Hausarzt, damals begann die Erkrankung.
Am 19. XII. (richtiger am 18. XIL) beginnt ein neuer Krankheitschub.
4 Wochen später, am 15.1.12. setzt die zweite Krankheitperiode ein
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Eine Hysterie-Analyse und ihre Lehren.
909
mit Analgesie rechts, am 16. I. folgen Schmerzen (wie am 19. XII.
und am 21. XI.) und Angst. Am 17. I. verlangt sie energisch nach
gynäkologischer Untersuchung mit der Begründung, daß etwas im
Unterleib nicht in Ordnung sein müsse, ganz ebenso wie 2 mal 28 Tage
vorher, während sie 28 Tage früher, am 20. XIL Sensationen im
Unterleib hatte, die sie als Menstruation deuten zu müssen glaubte.
Wahrscheinlich hätte sie an diesem Tage auch die Untersuchung
verlangt, wenn diese nicht am 14. XII. auf ihren Wunsch bereits erfolgt
wäre, nachdem sie am 13. XII. im Bade einen leichten Ohnmacht¬
anfall gehabt hatte, der wohl nichts anderes als das Symbol eines
normalen coitus vorstellt. Am 13. XIL waren aber 23 Tage seit dein
20. XI. vergangen. 28 Tage nach dem 15. L, in der Nacht vom 12. zum
13. II. ist sie schlaflos infolge sexueller Erregung. Am 13. II. hat sie
Schmerzen im Leib, am 14 IL Paraesthesien, stellt sich normalen
Verkehr vor und glaubt jetzt infolge der gynäkologischen Behandlung
dazu imstande zu sein. Am 7. III., 23 Tage nach dem 13. IL, hat sie
Angst, Analgesie rechts und eine schwere Erregung, in der sie sich
verhält wie beim Erdulden eines coitus.
Wir sehen also an den Tagen der zweiten Gruppe und den darauf¬
folgenden dieselben Erscheinungen mit fast photographischer Treue
wiederkehren. Daß es sich dabei um einen Zufall handelt, wird wohl
niemand behaupten. Zweifellos ging an den genannten Tagen im Körper
irgend etwas vor sich, was auf eine Erregung im Sinne der weiblichen
Sexualität hinauslief 1 ). Am 18. XIL, 15. I. und 7. III. reagierte die
Psyche auf diesen Vorgang mit der Verdrängung (wahrscheinlich
aus denselben Gründen wie im Mai 1909), während sich am 13. II. eine
sexuelle Erregung einstellt, die nicht verdrängt wurde, offenbar deshalb
nicht, weil die Kranke damals hoffte, infolge der gynäkologischen
Behandlung von ihrer Frigidität gegenüber normalem Verkehr geheilt
zu sein. Am 7. III. kam es wieder zur Verdrängung, da inzwischen
der Versuch eines normalen coitus mißglückt war. Die „Welle“ vom
21. XL gab, wie aus der Art der Angstvorstellung, die kurz darauf
auf trat, hervorging, Anlaß zur Verdrängung der perversen Trieb-
*) Bei dem Verlangen nach gynäkologischen Untersuchungen spielt
neben den genannten Momenten wohl auch das Faktum eine Rolle, daß
solche Untersuchungen eine Reizung der Genitalien mit sich bringen, die
gerade in Zeiten sexueller Erregung erwünscht war.
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910
Saaler,
richtung, was offenbar infolge des Wunsches, den ehelichen Pflichten
nachzukommen, geschehen war. Aus alledem geht mit großer Deut¬
lichkeit hervor, daß die unmittelbare Ursache der Sensibilitätstörungen
in der Tat eine psychische ist, während der psychische Vorgang wiederum
aus körperlichen Prozessen resultiert.
Was nun das Wesen dieser körperlichen Vorgänge betrifft, so geht
man wohl nicht fehl in der Annahme, daß die innere Sekretion eine
hervorragende Bolle dabei spielt. Die Beziehungen der Schilddrüse
und der Hypophyse zur Sexualität (ersterer besonders zur weiblichen!
sind bekannt. Möglicherweise spielt auch die innere Sekretion der
Ovarien dabei eine Rolle. Meines Erachtens sind diese Vorgänge aber
in erster Linie auf besondere Funktionen der Ganglienzellen der Hirn¬
rinde zurückzuführen.
Stellt man die Daten der Krankengeschichte zusammen, an
denen ein Schmerzanfall auftrat (der sich naturgemäß über mehrere
Tage erstrecken kann), so sieht man, daß auch der 29. XII. (Schmerzen
in der linken Brustdrüse, denen solche im linken Hypogastrium, im
linken Auge, auf der ganzen linken Körperhälfte folgen) und der 21.1.
(Schmerzen im linken Hypogastrium) die Periodizität der 23 Tage
erkennen lassen, ferner daß der Abstand vom 21. L bis zum 13. IL
(Schmerzen im rechten Hypogastrium) wiederum 23 Tage ist. Es
gehören also der 29. XIL und der 21. I. ebenfalls in die zweite Gruppe.
In dieser spielt demnach auch die Periodizität der 23 Tage eine Rolle,
offenbar aber eine wesentlich geringere als die der 28, während in der
ersten Gruppe die Periodizität der 23 Tage überragt. Erinnert man
sich daran, daß die infantile Sexualität der männlichen Anlage ent¬
spricht, so kann man in diesem Verhalten eine Bestätigung des Flie߬
achen Satzes erblicken, daß die 23 Tage die Lebensdauer der männlichen,
die 28 die der weiblichen Substanzeinheit bedeuten x ).
Zum Schluß will ich nicht verfehlen, auf die völlige Bedeutung-
losigkeit von Anomalien an den Genitalorganen für die Neurose hinzu¬
weisen. Es wäre dies allerdings überflüssig, da die Theorie von der
Entstehung der Hysterie auf dem Boden der Erkrankungen des Uterus
und seiner Adnexe eine längst überwundene ist, wenn nicht gerade
*) Gleichzeitig eine Bestätigung der Annahme, daß das linke Sexual¬
zentrum vorwiegend weibliche, das rechte vorwiegend männliche Eigen¬
schaften enthält. Vgl. S. 903 Anm. 1.
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Eine Hysterie-Analyse and ihre Lehren.
911
in neuerer Zeit von gynäkologischer Seite (Schultee, Bossi ) wieder
auf diese alten Anschauungen zurttckgegriffen würde. Aber auch noch
etwas anderes lehrt die Analyse, nämlich daß man auch in der Annahme
von Anomalien am Genitalapparat bei Neurotischen nicht vorsichtig
genug sein kann. In unserem Falle ist, wie mir berichtet wurde, vorher
eine Operation von Gynäkologen tatsächlich in Erwägung gezogen
worden und zwar wegen Beschwerden, die, wie ich habe zeigen können,
mit dem Genitalapparat selbst in keinerlei Beziehungen standen.
Es war ein bloßer Zufall, daß der Sitz der neuralgischen Schmerzen
mit einer alten, kaum empfindlichen und völlig belanglosen Narbe im
Beckenbindegewebe zusammenfiel.
Nachtrag bei der Korrektur: Ich möchte noch darauf hinweisen,
daß die Angaben der Pat. über die Art des sexuellen Verkehrs regel¬
mäßig durch den Gatten bestätigt worden sind. Leider war es nicht
möglich, über die sexuellen Erlebnisse vor der Ehe objektive Mit¬
teilungen zu erhalten. Im wesentlichen wird man aber den Angaben
der Pat. Glauben schenken dürfen, da das Gedächtnis keine Defekte
aufwies und auch nichts für das Bestehen einer Pseudologia phan-
tastica sprach, wie überhaupt die Artung der Kranken mehr die Züge
des psychischen Infantilismus als die des sogenannten hysterischen
Charakters erkennen ließ.
Ztitaohrift für Psyohiatrie. LXIX. 6.
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
88. ordentliche Generalversammlung des Psychiatri¬
schen Vereins der Eheinprovinz am 15. Juni 1912 in
Bonn.
Anwesend sind die Mitglieder: Adams, Bastin, Becker, Bernerd,
Beyer, Beyerhaus, Bodet, v- Ehrenwall, Ennen, Fabricius, Förster- Bonn,
Gerhartz, Giesler, Gudden, Herting, Herzfeld, Höstermann, Hübner, Kentenith-
Gladbach, Lenneper, Liebmann, Linzbach, Lücnerath, Mappes, Märchen,
Neu, Oebeke, Pelman, Peretti . Pfahl, Pollitz, Rademacher, Rosenthal, Rilj,
Rusak, Schaumburg, Schmitz-Bonn, Schulten, Sioli, Strasmann, Thomsen,
Thywissen, Umpfenbach, Vohs, Wassermeyer, Westphal, Wilhelmy.
Als Gäste sind anwesend: Dr. Bergerhoff -Bonn und Dr. Wildenrath
Beuel bei Bonn.
Der Vorsitzende teilt bei Beginn der Sitzung mit, daß seit der letzten
Versammlung gestorben sind: Sanitätsrat Behrendt-Ö&yn, Geh. Sanitätsrat
Brandis -Godesberg, früher in Aachen, Sanitätsrat Länderer, Direktor
der Prov.-Heil- und Pflegeanstalt in Andernach a. Rh., und Geh. Medizinal¬
rat Marx- Bonn, früher Kreisarzt in Mülheim a. Ruhr.
In den Verein werden aufgenommen: Dr. Kellner, Anstaltsarzt,
und Dr. Leber, Assistenzarzt, beide in der Prov.-Heilanstalt Johannistal
bei Süchteln, Dr. Recktenwald- Langenfeld, Anstaltsarzt der Prov.-Heil¬
anstalt Galkhausen, und Dr. Strasmann, Arzt für innere und Nerven-
Krankheiten in Godesberg.
Zur Aufnahme in den Verein melden sich: Dr. Lorenz, Assistenzarzt
der Prov.-Heilanstalt in Düren, und Dr. Steinbrecher, Assistenzarzt der
Prov.-Heilanstalt in Merzig a. Saar.
Es folgen die Demonstrationen und Vorträge:
Westphal- Bonn: Krankenvorstellungen.
1. Komplikation von Tetanie mit Hysterie oder
hysterischer Pseudotetanie?
Der demonstrierte Patient, der 60 jährige Schuhmacher Sch., ist seit
dem Jahre 1894 zu wiederholten Malen in der hiesigen Anstalt wegen
dipsomanischer Anfälle und Tetanie in Behandlung gewesen. Bei einem
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913
mehrmonatigen Aufenthalt in der medizinischen Klinik im Jahre 1896
-wurden auch epileptische Anfälle und akute halluzinatorische Verwirrt¬
heitszustände bei dem Patienten beobachtet. Der Fall ist damals vom
Herrn Geh. Rat Schultze l ) eingehend beschrieben und veröffentlicht
worden. Der Umstand, daß in dem Krankheitbilde jetzt wesentliche
Symptome verschwunden, andere krankhafte Erscheinungen neu auf-
getreten sind, rechtfertigt die erneute Besprechung und Demonstration
des Falles. Die Auslösbarkeit der Anfälle ist noch im wesentlichen dieselbe
außerordentlich mannigfaltige, wie sie von Fr. Schultze beschrieben worden
Ist. Durch Druck auf die Gefäße oder Nervenstämme (Trousseausches
Phänomen), durch Kompression von Muskeln und Hautfalten gelingt
es regelmäßig die Anfälle an oberen und unteren Extremitäten bald ein¬
seitig, bald doppelseitig hervorzurufen. Auch bei intendierten Bewegungen,
kräftigem Händedruck, Heben des Armes über die Horizontale werden
typische Tetanieanfälle in den betreffenden Extremitäten ausgelöst.
Auch durch Hautreize, Nadelstiche, Kitzeln der Haut der Nierengegend
(Fr. Schultze) gelingt es, die Krampfzustände hervorzurufen.
Im übrigen fehlen zurzeit die Kardinalsymptome der Tetanie völlig.
Galvanische Übererregbarkeit, Fazialisphänomen, Übererregbarkeit der
anderen motorischen Nerven, Erscheinungen, die im Jahre 1895 von Herrn
Geh. Rat Schultze, mit Ausnahme der auch damals nicht deutlich vor¬
handenen elektrischen Veränderungen, festgestellt wurden, lassen sich
jetzt weder in den anfallfreien Zeiten, noch nach den Anfällen nach-
weisen. Auch die von Fr. Schultze 2 ) beschriebene eigentümliche Falten¬
bildung in Zunge und Gesichtsmuskeln bei Perkussion derselben ist nicht
vorhanden.
Das Fehlen aller wesentlichen Symptome der Tetanie macht die
Beurteilung der noch in voller Ausbildung vorhandenen eigenartigen
Krampfzustände jetzt zu einer schwierigen. Eine Reihe von Unter¬
suchungen ( A. Weatphal, Curschmann jun. u. a.) haben gezeigt, daß die
hysterische Pseudotetanie alle Erscheinungen der echten Tetanie in
frappanter Weise Vortäuschen kann, mit Ausnahme des Frischen Phäno¬
mens, welches bei der Pseudotetanie stets fehlt, demnach als differential-
diagnostisches Kardinalsymptom ( Curschmann jun.) bezeichnet werden
muß.
Die große Mannigfaltigkeit in der Auslösbarkeit der AnfäBew bei
der psychische autosuggestive Momente sicher eine Rolle spielen, kommt
gewöhnlich bei der hysterischen Pseudotetanie, mitunter aber auch bei
der echten Tetanie zur Beobachtung. Handelt es sich nun in dem vor¬
liegenden Fall um eine hysterische Pseudotetanie, welche sich bei unserem
Patienten auf dem Boden einer früher vorhandenen echten Tetanie ent-
») Weiterer Beitrag zur Lehre von der Tetanie. Deutsche Zeitschrift
für Nervenheilkunde 7. Bd., 1895.
*) Münchener medizinische Wochenschrift 1911, Nr. 44.
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914
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
wickelt hat, oder um eine Kombination von echter Tetanie mit hysterischen
Beimengungen? Wir glauben, daß die Beobachtungszeit des erst vor
kurzem wieder aufgenommenen Kranken noch nicht ausreicht, um sichere
Schlüsse über die Frage zu ziehen. Wiederholte Untersuchungen werden
erst Aufschluß darüber geben können, ob elektrische oder mechanische
Erregbarkeitsteigerungen der Nerven bei unseren Kranken jetzt dauernd
fehlen, oder ob diese Erscheinungen vielleicht im weiteren Verlauf der
Beobachtung wieder in die Erscheinung treten werden. Ein hysterische*
Moment spielt in dem Krankheitbilde jetzt zweifellos eine Rolle. Wb
haben bei der Einlieferung des Kranken einen typisch hysterischen Anfall
mit Herumwälzen und Schlagen, Beißen nach der Umgebung usw. kon¬
statieren können. Epileptische Anfälle sind noch nicht wieder aufgetreten
Die früheren dipsomanischen Anfälle scheinen jetzt mehr einem chroni¬
schen Alkoholismus Platz gemacht zu haben. Von körperlichen Er¬
scheinungen sind wie bei den früheren Beobachtungen die Patellarreflexe
sehr schwach, mitunter nicht deutlich auslösbar, und es fehlen die Bauch-
deckenreflexe.
2. Hysterische Pseudotetanie.
Die Anfälle in den oberen Extremitäten der jugendlichen demon¬
strierten Patientin, welche bei Druck auf den Sulc. bicip. int. oder durc-i
beliebige suggestive Einflüsse ausgelöst werden, entsprechen ganz dem
Bilde der echten Tetanie.
Die Entwicklung des Leidens heraus aus einer hysterischen Geh¬
störung, zahlreichen hysterischen Stigmata (Hemianästhesie, zeitweilig
auftretender hysterischen Aphonie, Globus usw.), typisch-hysterische
Schüttelanfälle sichern in diesem Falle die Diagnose. Es besteht keine
galvanische oder mechanische Übererregbarkeit der Nerven.
3. Fall von beginnender Akromegalie mit deut
lichem Röntgenbefund an der Sella turcica 1 )
Die 36 Jahre alte, früher gesunde Frau A. K. erkrankte vor 3 Jahren
im Anschluß an das vorletzte Wochenbett unter allgemeinen nervösen
Beschwerden, Schwindel, Herzklopfen, Schmerzen in der Herzgegend.
Angst und Depressionsgefühl. Zu gleicher Zeit merkte sie, daß sich ihre
Hände vergrößerten. Sie mußte Herrenhandschuhe tragen und sich ihren
Trauring erheblich weiter machen lassen. Auch die Füße vergrößerten
sich, ihre Schuhe paßten ihr nicht mehr. Die Verwandten gaben an, daß
auch das Gesicht größer, besonders länger geworden sei
Objektiv finden sich bei der Patientin auffallend große Hände mit
plumpen verdickten Fingern. Die Verdickung betrifft anscheinend sowohl
*) Von diesem Fall konnten nur Photographien und Röntgen¬
aufnahmen des Schädels demonstriert werden, da die Patientin nicht zur
Vorstellung erschienen war.
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Psychiatrischer Verein der Rheinprovinz.
915
die Knochen, wie die Weichteile. Die Füße und Zehen sind groß, wenn
auch nicht so auffallend verändert wie die Hände. Der Gesichtsschädel
ist groß, die Nase lang, die Jochbogen breit, das Kinn tritt stark hervor.
Opht almoskopisch findet sich beiderseits
Stauungspapille r. >1.
Es besteht keine Hemianopsie.
Das Röntgenbild des Schädels (Chirurgische
UDiversitäts-Klinik) ergibt eine ausgesprochene
Vertiefung und Verbreiterung der Sella turcica.
Im übrigen ist der Befund an den inneren Organen und dem Nerven¬
system ein negativer. Es besteht keine Albuminurie oder Glykosurie.
Die Vergrößerung der distalen Teile der Extremitäten und des Gesichts,
‘in Verbindung mit der Stauungspapille und dem Befunde an der Sella
turcica, lassen die Diagnose auf Akromegalie und Hypophysentumor
mit großer Wahrscheinlichkeit stellen.
Der Fall beweist die Wichtigkeit der von Oppenheim zuerst aus¬
geführten Röntgenuntersuchung des Schädels bei Fällen, deren klinische
Erscheinungen auf Akromegalie hinweisen.
Der vorliegende Fall muß als ein beginnender mit noch nicht sehr
ausgesprochenem akromegalischen Veränderungen bezeichnet werden,
so daß der Röntgenbefund besonders bemerkenswert ist. Hervorzuheben
ist ferner die Tatsache, daß die Sexualfunktion der Patientin noch nicht
erloschen ist, die klinischen Erscheinungen vielmehr im Anschluß an ein
Wochenbett zuerst in die Erscheinung traten. Ziehen *) hat vor kurzem
das Verhalten der Sexualfunktion bei Hypophysentumoren eingehender
besprochen und das Erlöschen derselben als das wichtigste und charakte¬
ristischste Symptom dieser Tumoren bezeichnet. Unser Fall zeigt, daß
auch dies Symptom nicht ausnahmlos vorhanden ist, vielmehr in Früh-
Stadien des Leidens die Zeugungsfähigkeit beim Weibe noch erhalten
sein kann.
4. Fall von Tabes bei einer Zwergin auf hereditärer
luischer Basis.
Es handelt sich um eine 40 jährige imbezille Zwergin, bei der die
körperliche Untersuchung als zufälligen Befund reflektorische Pupillen¬
starre und Fehlen der Kniephänomene ergeben hat. Patientin ist virgo
intacta! Wassermann im Blut negativ. Die Spinalpunktion ist bei der
stark rachitisch verkrümmten Wirbelsäule der Zwergin nicht ausführbar
gewesen.
Anamnestisch ergibt sich, daß der Vater früh an einer Gehirnkrank¬
heit gestorben ist, und daß Patientin selbst mit einem „roten pöckchen-
artigen“ Ausschlag bedeckt zur Welt gekommen ist. Sehr wahrscheinlich
i) Vers, der Charitö-Ärzte. Sitzung 7. März 1912. BerL klin. Wschr.
1912, Nr. 20.
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916
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
ist es, daß es sich um Syphilis gehandelt hat, auf deren Boden sich im
späteren Leben eine Tabes entwickelt hat, über deren Beginn nichts
bekannt ist.
Da die serologische Untersuchung der Spinalflüssigkeit nicht möglich
war, kann der Fall leider keinen ganz einwandfreien Beitrag zu dem inter- '
essanten, neuerdings von Nonne und Hauptmann l ) beigebrachten Tat¬
sachenmaterial „über serologische Untersuchungen von Familien syphi-
logener Nervenkranker“ bringen.
«Strasmonn-Godesberg stellt eine 63 jährige Patientin vor mit einer
seit jetzt 6 Jahren bestehenden Atrophie beider Vorderarme
und der Handmuskulatur. Es handelt sich um eine Paralyse
aller großer Fingerbeuger und eine mäßige Parese aller kleinen Hand¬
muskeln, die ganz symmetrisch verteilt sind. Elektrisch besteht völlige
und partielle Entartungsreaktion. Die Radialismuskulatur ist beiderseits
. intakt. Die Reflexe sind vorhanden, am rechten Arm etwas lebhafter
als links. Die Sehnenreflexe der Beine nicht different, nicht besonders ge- 1
steigert. Keine Rigidität der Muskulatur, keine fibrilläre Zuckungen. Links
deutlicher Babinski. Keinerlei Sensibilitätstörung.
Dem klinischen Symptomenbilde nach handelt es sich um eine
Erkrankung der gesamten zentralen motorischen Leitungsbahnen, d. h.
um eine amyotrophische Lateralsklerose. Auffallend ist der ganz abnorm
lange Verlauf, das sehr langsame Fortschreiten der Erkrankung, das
Fehlen der Rigidität und der fibrillären Zuckungen.
Interessant ist ferner die Tatsache, daß die Kranke vor langen
Jahren zweimal operiert wurde wegen „angeborener“ HalsfisteL Es
handelte sich um einen Testierenden Kiemengang, der durch Kauterisation
entfernt wurde. Diese abnorme Entwicklungsanlage ist deshalb von
Wichtigkeit, weil sie einen weiteren Beitrag bildet zu der Ansicht Strüm¬
pells, daß es sich bei diesen symmetrischen chronischen Erkrankungen
des Rückenmarks wahrscheinlich um eine abnorme Anlage der motorischen
Bahnen handele, die dann im späteren Alter versage.
Jüfcrnng-Galkhausen: „Über Hausindustrie in den
Anstalte n.“
Als Hausindustrie im eigentlichen Sinne sind die fabrik¬
mäßig und zur Rechnung anderer gehenden Arbeiten zu bezeichnen, im
weiteren Sinne auch die, zum Teil erst in den letzten Jahren ein¬
geführten Beschäftigungsarten, deren Produkte entweder im Anstalt -
haushalt selbst verwendet oder über den Bedarf hinaus angefertigt werden.
Mit der Steigerung des irrenärztlichen Interesses an der Arbeitstherapie
wuchs auch das Verlangen nach größerer Mannigfaltigkeit der Arbeits¬
zweige, und zwar wünschte man 1. Massenbeschäftigung für zu Feld- und
*) Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie Bd. VIII,
S. 1.
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Psychiatrischer Verein der Rheinprovinz.
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Werkstattarbeit unfähige Kranke und 2. geeignete Einzelbeschäftigungen
für intelligente, fluchtverdächtige, vielfach auch gemeingefährliche Kranke.
Aus gesundheitlichen Rücksichten verdienen die Feld-, Garten-
und Forstarbeiten vor allen anderen den Vorzug, aus wirtschaft¬
lichen die Arbeiten in den allgemein üblichen und .notwendigen Werk¬
stätten der Anstalt, in Küche, Waschhaus und den Nähstuben. Als
Massen beschäftigung für den körperlich schwachen oder geistig stumpfen
Kranken sind Arbeiten zu wählen, -die keine besondere Handfertigkeit
und keinen besonderen Apparat erfordern, nicht gesundheitschädlich
sind und im Sitzen, vielleicht auch im Bett ausgeübt werden können:
Kleben von Schachteln und Tüten, Verlesen von Hülsenfrüchten, Heft¬
arbeiten verschiedenster Art, Entkletten gereinigter Wolle, Sortieren
von Wollfäden, Entrippen von Tabakblättern, Verknüpfen von Bind¬
fadenresten usw. Diese Arbeiten sind möglichst den lokalen Fabrik¬
betrieben anzupassen.
Einzel beschäftigungen sind: Anfertigung von Peddigrohr- und
Bambusmöbeln und feineren Korb- und Bürstenwaren, Zigarrenmachen,
Druckerei, Teppichknüpfen, Maschinenstricken, Weben von Gobelins
und GebrauchstofTen. Alle Betriebe sind nach Krankenbestand, Jahres¬
zeit, Angebot und Nachfrage, nach dem Interesse der Ärzte, Beamten
und des Personals und nach Stimmung der Kranken großem Wechsel
unterworfen; vielfach wird über Erschwerung des Absatzes der fertigen
Waren geklagt; es wird empfohlen, daß entweder der mehr fabrikmäßige
Betrieb durch Mannigfaltigkeit ersetzt wird, oder daß die einem größeren
Verbände angehörenden Anstalten sich spezialistisch ausbilden und, anstatt
zu konkurrieren, sich mit ihrer Überproduktion und ihren Aufträgen gegen¬
seitig aushelfen.
In der Diskussion bemerkt GerAortz-Rheinbach: So gut, wie die
Anstalten sich nach dem zweckmäßigen Vorschläge des Herrn Direktors
der Galkhausener Anstalt ihre Aufträge, die oft von einer Anstalt in der
verlangten Divise nicht effektuiert werden können, gegenseitig verteilen,
wäre es auch vielleicht ratsam, daß die einzelnen Anstalten ein bestimmtes
Arbeitgebiet bevorzugten, daß nur sie mit besonders teuren Einrichtungen
reichlich ausgestattet würden, andere mit anderen, und daß dann die
Direktionen jene Insassen, welche für diese bestimmten Branchen sich
vorzugweise eignen, sich gegenseitig austauschten. Es gibt um so mehr
Lust und Liebe zur Sache, je mehr Hervorragendes erzielt wird. Auch
könnten beispielweise Landwirte dahin ausgetauscht werden, wo der
Anstalt reichlich Gelegenheit zu landwirtschaftlicher Tätigkeit geboten
ist, Gärtner dahin, wo reichlich Warmhäuser usw. zur Verfügung stehen usw.
PoMite-Derendorf schlägt vor, daß die zuständigen Behörden, Landes¬
hauptmann, Regierungspräsident usw., in irgend einer Weise ein gegen¬
seitiges Unterbieten der Anstalten durch Abmachungen verhindern müßten,
damit diese Arbeiten einen gewissen Ertrag lieferten.
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918
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
.Peretti-Grafenberg befürchtet, daß die Gewerbetreibenden sich mit
der Zeit über die durch die Anstalten geübte. Konkurrenz beklagen werden.
Der Absatz ist für die Anstalten schwierig; die Kranken liefern mehr,
als die Anstalten selbst brauchen. Andererseits müssen wir uns wehren
gegen die Zumutung, Geschäfte zu machen.
Gefängnisdirektor Dr. Pollitz : „Zur Psychologie des
Strafvollzuges.“
Der Strafvollzug steht heute ganz besonders im Brennpunkt einer
scharfen Kritik von allen Seiten. Die einen halten ihm seine mangelnden
Erfolge bei der Bekämpfung des gewohnheitmäßigen Verbrechertums
vor, die anderen seine ungenügenden sittlichen Einwirkungen und weitere
Kreise ganz allgemein den Mangel an psychologischer Vertiefung des
gesamten Problems. Es scheint fast, daß bei all diesen Kritiken nicht
immer genügend berücksichtigt wird, was der Strafvollzug leisten kann,
und was er leisten soll. Ich darf gerade in diesem Kreise daran erinnern,
daß ein großer Teil der Vorwürfe, der dem heutigen Strafvollzüge gemacht
wird, besonders von seiten der Irrenärzte ausgeht. Und doch fehlt vielleicht
gegenüber einer sehr eingehenden Behandlung der Verbrecherpsychologie
und der Kriminalpsychiatrie eine Analyse der psychologischen Wirkung
des Strafvollzuges noch fast vollständig. Ein großer Teil der Kenntnisse
über die Wirkungen des Strafvollzuges erhält die Öffentlichkeit aus den
meist sehr kritisch-ablehnenden Mitteilungen früherer Strafgefangener.
Diese Veröffentlichungen, die ich als subjektive psychologische Unter¬
suchungen über den Strafvollzug bezeichnen möchte, sind trotz vieles
Falschen und Übertriebenen nicht ohne Wert. Als zweite Methode würde
eine Untersuchung der'Strafvollzugswirkungen auf das Seelenleben durch
scharf kontrollierte Mitteilungen und Beobachtungen der Gefangenen
zu nennen sein, wie sie Freudenthal in der Form von Strafvollzugsenqueten
gefordert hat. Freudenthal schlägt vor, die Gefangenen vor ihrer Ent¬
lassung vor einer besonderen Kommission über ihre Eindrücke zu ver¬
nehmen. Versuche dieser Art hat bekanntlich Fritz Auer gemacht, indem
er öffentlich zu Mitteilungen über Strafvollzugserfahrungen früherer
Sträflinge aufforderte. Man kann aus derartigen objektiv-subjektiven
Untersuchungen recht viel verwertbare und bemerkenswerte Aufschlüsse
erhalten. Wir erfahren aus einer solchen Zusammenstellung, wie ich sie
selbst gelegentlich von höher gebildeten Gefangenen habe machen lassen,
mancherlei über die Wirkungen und die Eindrücke des Gefangenenlebens,
der plötzlichen Inhaftierung, der Einzelhaft, über die eigenartige Ver»
Stärkung des Innenlebens, die Neigung zu optimistischen Zukunftsträumen,
die Wirkungen der Kost, über Abstumpfung infolge der Einsamkeit und
des Schweigegebots, Schlaflosigkeit, Wirkung und Wert der Zellenbesuche
durch höhere^ Beamte, Einschätzung der Straftat und der verhängten
Strafe selbst und manches andere.
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Psychiatrischer Verein der Rheinprovinz.
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Die psychologischen Wirkungen des Strafvollzuges auf den einzelnen
Inhaftierten hangen von einer großen Zahl von Faktoren ab. Alter und
Geschlecht, Vorstrafen, Strafdauer, Art des Strafvollzuges, ob Einzelhaft
ob Gemeinschaftshaft, besonders aber frühere Lebensbedingungen, Zu¬
kunftsaussichten, die durch die Strafe vernichtet werden, Familien-
Verhältnisse geben eine ganze Reihe besonderer Gesichtspunkte. Daß
der Geisteszustand und die Charakteranlage ein weiteres, sehr wichtiges
Moment in dem Wirkungskreis der Strafvollzugsbedingungen abgibt,
bedarf keiner speziellen Ausführungen.
Es ist bekannt, daß der heutige Strafvollzug im allgemeinen durch
zwei Gesichtspunkte charakterisiert wird. Einmal durch das Vorherrschen
der Einzelhaft, sodann durch die Arbeit. Gerade gegen diese Einzelhaft,
die die Männer des Strafvollzugs für einen großen Fortschritt der neuen
Gefängnisreformen halten, werden heute die meisten Angriffe erhoben.
Die Erfahrung lehrt allerdings, daß ein gewisser Prozentsatz der Ge¬
fangenen, besonders geistig labile Elemente, die Einzelhaft auch in der
abgeschwächten Form des heutigen Vollzugs schlecht vertragen. Falsch
ist dagegen und übertrieben, ihr jeden Vorzug abzusprechen. Diese Trennung
der Gefangenen, die, wie man zugeben muß, stets immer nur eine relative
bleiben wird, da ein geheimer Verkehr zwischen den Gefangenen nie
ganz vermieden werden kann, hat zu einer erheblichen Humanisierung
des Strafvollzuges beigetragen.
Von ganz besonderem Interesse ist die Stellung der Arbeit im Straf¬
vollzüge. Es ist bekannt, daß die Strafgesetzgebung die Intensität der
Arbeit zum Maßstab der Schwere der Strafe gemacht hat. Die Erfahrung
lehrt, daß die Gefangenen nur mit den seltensten Ausnahmen regelmäßige
intensive Arbeit ablehnen, sie vielmehr als große Erleichterung ihrer
Lage betrachten. Abneigung gegen die Arbeit wird man nur dann häufiger
finden, wenn die Art der Tätigkeit dem Gefangenen nicht zusagt oder
er sie nicht leisten kann. Einer psychologischen Analyse bedürfen weiterhin
die mancherlei Fragen, die sich an die allgemeine Führung der Gefangenen,
an seine Stellung zur Strafe und ihre Berechtigung knüpfen. Reiches
Material bietet ferner die Korrespondenz, sowohl die eingehende wie die
ausgehende und nicht zuletzt die geheime, die in Form von Kassibern
und Fleppen in der Anstalt fast unvermeidlich hin und hergeht. Zoten¬
gedichte und Zotenbilder von unglaublich zynischem Inhalt, Verhöhnung
und Verspottung der Gerichte und Beamten, Anwerbung von Entlastungs¬
zeugen, Grüße von Zuhältern an die Dirnen mit den Gelöbnissen ewiger
Treue ergänzen oft das Bild, das gar mancher ruhige und harmlose Ge¬
fangene darbietet. Eine Hauptrolle spielen in dieser Korrespondenz die
lebhafteren und unruhigen jüngeren Elemente. So ergibt sich aus diesen
Beobachtungen ein überaus reiches Material für die psychologische Analyse
des Strafvollzugs.
Schließlich bleibt aber als wichtigste Methode zur Erforschung
der Psychologie der Strafe ” ’ naturwissenschaftliche, wie sie Wundt,
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Sommer, Aschaffenburg und' andere ausgearbeitet haben. Hier bleibt
einer zukünftigen wissenschaftlichen Forschung noch ein weites Arbeit -
feld, auf dessen Umfang und Bedeutung Referent nur hinweisen kann.
Hübner - Bonn: „UberTrugwahrnehmungen ohne
Wahnvorstellungen bei erhaltener Krankheitein*
sicht (Demonstration ).“
Vater gestorben an Schlaganfall, Mutter Hysterica, hatte vor 3 Jahren
auch einen Schlaganfall. Zwei Schwestern und ein Bruder sind gesund,
eine Schwester nierenleidend. Patientin, jetzt 43 Jahre alt, war als Kind
sehr schwächlich. Lernte ziemlich gut, beschäftigte sich geistig stark,
musizierte viel, war „zur Sentimentalität geneigt“. Musikstücke und
sentimentale Gedichte behielt sie, das trockene Schulwissen vergaß sie
vom Abend bis zum folgenden Morgen. Sehr lebhafte Phantasie.
Bis zum 17. Lebensjahre sehr schwach. Auch später schwankte
der körperliche Zustand häufig. Patientin nahm plötzlich zu und ebenso
wieder ab. Seit etwa 1903 schwerhörig (alte otitis media). 1903 Blut¬
andrang nach dem Kopf, Kopf-, Schulter-, Magenschmerzen von wechseln¬
der Stärke und wechselndem Sitz, Mattigkeit, Neigung zum Weinen.
1908 wegen ähnlicher Beschwerden in der Heilstätte Roderbirken. Damals
Magengegend druckschmerzhaft, Reflexe sehr lebhaft, Händezittern,
Lidflattern, zeitweilige mäßige Tachykardie. Gedächtnisschwäche. Nach
3monatiger Behandlung gebessert nach Bonn zurück.
Mit dem Tage der Rückkehr wurde sie „plötzlich taub“. Gleich¬
zeitig stellten sich Gehörstäuschungen ein. Sie hörte aus ihrem Innern,
vorwiegend „aus dem Herzen“, Orgel- und Flötenspiel, Kindergeschrei,
die Stimme eines alten Mannes, Fastnachtstrubel mit Hähneschreien
und Karusselmusik. Einen Teil dieser Trugwahrnehmungen lokalisierte
sie auch ins „Gehirn“, einen weiteren in die Ohren.
Diese Gehörstäuschungen waren an stillen Orten — z. B. auch
Nachts — stärker, als in belebten Gegenden. Patientin war deshalb eine
Zeitlang nachts schlaflos, wanderte mitunter auf den Straßen umher,
weil jedes von außen kommende Geräusch die Sinnestäuschungen ver¬
ringerte. Im Jahre 1909 wurde sie wegen der letzteren in die Klinik auf¬
genommen, hielt es aber nur einen Tag aus, weil es ihr hier zu still war.
In der Folgezeit sind noch Gesichtstäuschungen und solche des
Gefühlssinns hinzugekommen.
Patientin sieht jetzt ganze Szenen (Begräbnisse, Fastnachtstrubel,
Konzerte, Schlachtmusik u. ähnl.). Sie sieht ferner nachts, wenn sie
wach ist, mitunter auch am Tage, einen bestimmten Mann, den sie genau
beschreiben kann. Er spricht mit ihr, hat ihr-mehrfach Liebeserklärungen
gemacht und sie auch wiederholt geschlechtlich berührt. Sie hat dabei
an den Genitalien erotische Empfindungen.
Ihre Trugwahrnehmungen, namentlich soweit sie szenischer Natur sind,
betreffen häufig solche Dinge, mit denen sie sich früher viel beschäftigt
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hat. Sie ist z. B. gern auf Kirchhöfe gegangen, hat Konzerte gehört u. ähnL
Daneben hört und sieht sie aber auch andere Dinge. Nur liegt das meiste,
wie sie selbst angibt, in der Richtung ihrer früheren Neigungen. Um
Gedankenlautwerden handelt es sich dabei nicht. ‘Letzteres fehlte stets.
Patientin besitzt absolute Kritik dafür, daß es sich um Sinnes¬
täuschungen handelt. Sie sagt selbst, das sei krankhaft, dessen sei sie sich
wohl bewußt. Es belästige sie auch sehr. Sie sei, wenn die Sinnestäuschungen
zu stark würden, genötigt, nachts auf der Straße umherzulaufen. Die
Stärke der Trugwahrnehmungen hänge von ihrem körperlichenBeflnden sehr
ab. Wenn es ihr körperlich schlechter gehe, nähmen die Geräusche usw. zu.
Wahnideen fehlen vollkommen. Die Sinnestäuschungen sind gut¬
artiger Natur. Sie sei nie bedroht oder mißhandelt worden. Sie fürchte
auch keine Feinde. An den Mann, der ihr erscheine, habe sie sich so ge¬
wöhnt, daß sie sich nach seinen Worten im allgemeinen richte, obwohl
sie wisse, daß es sich um krankhafte Vorstellungen handle. Sie erlebt
mit demselben ein Liebesidyll.
Körperlich: In beiden Trommelfellen große Löcher. Ab-
gelaufene Otitis media (Prof. Eschtveiler), Tachykardie, Hyperalgesie
am ganzen Körper, Globusgefühl, zeitweise Klavus, gesteigerte Sehnen¬
reflexe, Myopie beiderseits.
Subjektiv wurde früher vielfach über Hyperakusis, Lichtscheu,
Überempfindlichkeit der Haut geklagt.
Behandlung des Ohrenleidens 1909 auf Veranlassung des Vortr.
eingeleitet, hatte keinen Erfolg, brachte überhaupt keine Änderung.
Beim Durchleiten galvanischer Ströme durch den Kopf gleichfalls keine
Änderung im Befinden.
Die Abhängigkeit vom körperlichen Befinden trat im Verlauf einer
längeren Behandlung deutlich hervor.
Vortr. faßt den Fall als Hysterie auf.
Dem Ohrenleiden ist er nicht geneigt ätiologische Bedeutung zuzu-
erkennen, weil es bei Eintritt der Sinnestäuschuncen bereits abgelaufen
war, und weil ferner das akute Eintreten der Herabsetzung des Gehörs
durch die abgelaufene Otitis nicht erklärt werden kann. Andererseits stehen
die Trugwahrnehmunden quoad Stärke und Zahl in engsten Beziehungen zu
den übrigen hysterischen Symptomen. Kaltes Wetter, Aufregungen und
ruhige Umgebung wirken ungünstig auf den Gesamtzustand der Pat. ein.
Besonders betont Vortr. auch noch, daß die Sinnestäuschungen
inhaltlich mit dem übereinstimmen, womit sie sich früher viel beschäftigthat.
Für die von einzelnen Autoren aufgestellte Theorie, daß die Sinnes¬
zentren derartiger Kranker sich in einem Zustande gesteigerter Erreg¬
barkeit und Empfindlichkeit befinden, spricht der Umstand, daß sowohl
zu Beginn der Erkrankung wie auch später Geräuschfurcht, Lichtscheu
und Überempfindlichkeit der Haut bestand.
Eine echte Psychose glaubt Vortr. deshalb ausschließen zu müssen,
weil dauernde Krankheiteinsicht besteht und außer den hysterischen
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Verbandlangen psychiatrischer Vereine.
Symptomen andere psychische Krankheiterscheinungen wie Wahn¬
vorstellungen, Bewußtseinstrübungen, Negativismus, Zerfahrenheit des
Denkens, Gemütsverblödung u. a. fehlen.
Ätiologisch ist Lues (Wassermann) und Arteriosklerose auszu¬
schließen. Dagegen ist neuerdings die Periode bei der Patientin unregel¬
mäßig geworden 1 ).
ifanen-Merzig: Bemerkungen zu Bossii „Die gynäkolo¬
gische Prophylaxe bei Wahnsinn.“
Kritik der bekannten Bossischen Broschüre. Von den 32 Kranken¬
geschichten, die Bossi bringt, beziehen sich 18 auf Fälle von Hysterie.
Von den übrigen Kranken sind ebenfalls mehrere hysterisch; bei anderen
ist die Diagnose ganz unbestimmt. Eine einigermaßen einwandfreie Dia¬
gnose ist nur bei 4 Fällen vorhanden, 2 von Dementia praecox und 2 von
manisch-depressivem Irresein. Daß die gynäkologischen Erkrankungen
Ursache der Geistesstörung sind, und daß durch die,operative Beseitigung
der ersteren noch die Heilung der Geistesstörung verursacht worden ist,
ist durch das von Bossi vorgebrachte Material nicht bewiesen.
Den Behauptungen und Forderungen Bossis kann daher nicht
zugestimmt werden.
Diskussion. — Peretti weist auf den von Bossi in seiner Broschüre
angeschlagenen, zum Teil vielleicht auf das südländische Temperament und
die zu geringe Beherrschung der deutschen Sprache zurückzu führenden
Ton hin, den wir Anstaltsärzte nicht ohne Widerspruch lassen dürfen,
so, wenn er nicht nur von „Schande und Schaden der Einschließung
in ein Irrenhaus“ und davon spricht, daß „nach Verurteilung wegen
Verbrechens es die größte, dem Menschen aufzuerlegende Kränkung ist,
ihn für unzurechnungfähig zu erklären und in ein Irrenhaus einzuschließen“,
sondern sogar fragt: „Ist es billig, ist es anständig, daß soviel und solange
dauerndes Unglück ungestraft bestehen und noch immer geschaffen werden
darf, jetzt, nachdem die Aufmerksamkeit des Publikums, der Ärzte,
Gynäkologen, Neuropathologen, Psychiater nicht nur auf die Möglichkeit
solch verhängnisvoller Irrtümer, sondern auch auf die Weise, sie zu ver¬
meiden, gelenkt ist?“
Während Bossi die Patientinnen vor und aus den Irrenanstalten
retten will, so gesteht doch Schultze in Jena, der seit mehr als 30 Jahren
für die systematische gynäkologische Behandlung der psychischkranken
Frauen eintritt, wenigstens die Behandlung innerhalb einer Irrenanstalt
zu. Die von ihm angeführten Hobbsschen gynäkologisch-therapeutischen
Erfolge bei Geisteskranken betreffen anscheinend fast ausschließlich
manisch-depressive Formen, bei denen überhaupt für den Anfall die Prognose
eine günstige ist, und erscheinen deshalb nicht so über das Maß glänzend.
*) Uber weitere Versuche, die Vortr. mit der Pat. gemacht hat,
wird im Arch. f. Psych. berichtet werden.
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Psychiatrischer Verein der Rheinprovinz.
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Der Schultzesche Vorschlag, einmal „einen als Diagnostiker und Operateur
bewährten Gynäkologen zum Direktor einer großen Weiberirrenanstalt“
einzusetzen, wird wohl so leicht nicht ausgerührt werden, schon aus dem
Grunde nicht, weil schwerlich ein gynäkologischer Operateur seine ein¬
träglichere Spezialpraxis mit einer weniger lukrativen und für ihn beim
Fehlen der Kenntnis in Psychiatrie und Anstaltwesen wohl auf sonst
nicht befriedigende Tätigkeit vortäuschen wird.
F. Sioli-Bonn: „Über amyloidähnliche Degene¬
ration im Gehirn.“
Bei einem Fall von Paralyse fand sich eine auf mehrere Hirnwindungen
ausgedehnte tumorartige Veränderung; die mikroskopische Untersuchung
des seit Jahren in der Sammlung der Anstalt Galkhausen aufbewahrten
Präparats zeigte, daß es sich um die Ablagerung einer homogenen Sub¬
stanz handelt, die einige Amyloidreaktionen noch gab, andere vermissen
ließ. Die Degeneration geht von den Gefäßwänden aus und erstreckt
sich als massige Ablagerung in das Gehirngewebe. Es fand sich kein
Anhaltpunkt, daß in Glia- und Ganglienzellen die fremdartige Substanz
gebildet wird, das histologische Bild läßt vielmehr vermuten, daß das
Grundgewebe eingeschmolzen und zum Aufbau der Substanz mitverwendet
wird. In der Literatur sind ähnliche Veränderungen beschrieben, meist
unter dem Namen Kolloiddegeneration, der vorliegende Fall übertrifft
die der Literatur bei weitem durch die Mächtigkeit der Ablagerung. Es
erscheint berechtigt, die Veränderung als lokale Amyloidbildung in para¬
lytisch verändertem Gewebe zu betrachten. (Der Vortrag erscheint aus¬
führlich in der Zeitschrift für die gesamte Psychiatrie und Neurologie.)
Umpfenbaeh.
Digitizso By Gougle
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Kleinere Mitteilungen.
Die nächste Jahresversammlung des Deutschen Vereins
für Psychiatrie findet in Breslau am 15. u. 16. Mai 1913 statt.
Da das Referat über die sog. verminderte Zurechnungfähigkeit auf
Wunsch der Referenten für später zurückgestellt wurde, haben die
Herren Bleuler- Zürich u. Z/ocAe-Freiburg ein Referat über den Wert der
Psychoanalyse übernommen, ln das zweite Referat über Psychiatrie u.
Fürsorgeerziehung werden sich die Herrn Sfier-Rerlin u. Mönkemöller-
Hildesheim teilen. Über die zweckmäßige Größe von Anstalten für
Geisteskranke wird auf Wunsch des Vorstandes Herr Starlinger Mauer-
öhüng vortragen.
Der 17. internationale medizinische Kongreß
soll am 6. bis 12. August 1913 in London unter dem Protektorat S. M.
des Königs Georg V. stattftnden. Präsident: Sir Thoma Barlow; General¬
sekretär: Dr. W. P. Herringham. In der (11.) Sektion für Nervenkrank¬
heiten wird Sir David Ferrier präsidieren; an Referaten sind vorgesehen:
Die Symptome der Kleinhirnerkrankungen und ihre Bedeutung ( Babinski •
Paris, Rothmann- Berlin); Motorische Aphasie, Anarthrie und Apraxie
(Dejerine- Paris, Liepmann- Berlin); Beziehungen der Myopathien ( Oppen -
heim- Berlin, Spi'Mer-Philadelphia); Die Behandlung der Gehirntumoren
und die Indikationen für deren Operation (Bruns -Hannover, Harvey
Cushing-\. St. A., v. Eiseisberg -Wien, TootA-London); Natur des krank¬
haften Zustandes Parasyphilis (Afott-London; Nonne- Hamburg). Präsident
der (12.) Sektion für Psychiatrie ist Sir J. Crichton-Browne; Referate: Die
psychiatrische Klinik, ihr pädagogischer und therapeutischer Zweck und
die Resultate mit Beziehung zur Genesungsförderung (Ad. Meyer-Balti-
more, Sommer-Gießen); Psycho-Analyse (/anef-Paris, Jung-Zürich); Die
Infektions- und Autointoxikationspsychosen (Bonhöffer- Berlin); Die
syphilitischen und parasyphilitischen Geisteskrankheiten (v. Bechterew -
Petersburg, A. Marie-Paris); Die Psychologie des Verbrechens (Cramer-
Göttingen, Morseüi- Genua).
bv Google
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Kleinere Mitteilungen.
926
Nekrolog Gutsch. — Am 26. Juli d. J. verschied in Karls¬
ruhe nach langem Leiden im hohen Alter von 87 Jahren Geheimrat
Dr. Anton Gutseh , früher Strafanstaltsarzt in Bruchsal. Seine hervor¬
ragende Tätigkeit auf forens-psychiatrischem Gebiet, die er vor über
zwei Menschenaltern begann und 31 Jahre lang, zum Teil bahnbrechend
führte, rechtfertigt es, sein Lebensbild in diesen Blättern in einem kurzen
Umriß wiederzugeben. Wir folgen dabei, oft wörtlich, den Aufzeich¬
nungen, die der Verewigte in seinem 84. Lebensjahr selbst nieder¬
geschrieben hat.
Gutseh wurde 1825 in Bruchsal als Sohn des dortigen Oberamts-
physikus Dr. Gutseh geboren und widmete sich nach Besuch der Gymnasien
zu Bruchsal und Rastatt von 1844—1849 in Heidelberg dem Studium
der Medizin. Nach vorzüglich bestandenem Staatsexamen und eben¬
solchem Doktorat war Gutsch ein Jahr lang Assistent der inneren Klinik
unter Puchelt und hatte dort zugleich Gelegenheit, auf der chirurgischen
Station bei Chelius an zahlreichen Schwerverwundeten aus den Gefechten
des badischen Aufstandes seine chirurgischen Kenntnisse zu vervoll¬
kommnen.
Nach weiterer Ausbildung an den großen Krankenhäusern zu Paris
ließ sich Gutsch im Jahre 1850 in seiner Vaterstadt zur Ausübung der
ärztlichen Praxis nieder und bekam noch im gleichen Jahre die Stelle
des Hausarztes am neuen Männerzuchthause übertragen. Letzteres war
nach dem amerikanischen System des Isolierungsgefängnisses als erster
Versuch auf dem europäischen Kontinent im Jahre 1848 eröffnet worden.
Uber 30 Jahre hat Gutsch an dem Zellengefängnis gewirkt und wesent¬
lich mit dazu heigetragen, daß dieses Institut sich bald zu einer Muster¬
anstalt entwickelte, die mit Vorliebe das Ziel von Besuchskomissionen
auswärtiger Regierungen wurde. In den Beginn seiner dortigen Tätigkeit
fällt auch die von Bruchsal ausgegangene Gründung des „Vereins der
deutschen Strafanstaltsbeamten“ und dessen Organs, der „Blätter für
Gefängniskunde“, die noch heute ihre fruchtbringende Tätigkeit ent¬
falten. Gutsch selbst war bis zu seinem Ausscheiden aus dem Gefängnis¬
dienst Mitglied des Ausschusses dieses Vereins gewesen und wurde 1889
Ehrenmitglied desselben.
Sein Lebenswerk hat er dem Bruchsaler Gefängnis gewidmet und
sich dabei zu seiner Hauptaufgabe gemacht, seine besondere Fürsorge
und Aufmerksamkeit den psychischen Anomalien und Krankheitzuständen
zuzuwenden, die an Verbrechen und Gefangenschaft sich knüpfen und
namentlich in der Einzelhaft ihre Entstehung finden sollten.
In mehreren umfangreichen, auch heute nach Jahrzehnten noch
lesenswerten Arbeiten hat Gutsch seine dort gewonnenen Erfahrungen
niedergelegt. Diese Aufsätze sind zum Teil in den „Blättern für Gefängnis¬
kunde“, zum Teil in der „Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie“ er¬
schienen.
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926
Kleinere Mitteilungen.
Stets war er bemüht, seine ärztlichen Befugnisse sowohl durch
individuelle Verordnungen als durch allgemeine Maßnahmen zur Erleich¬
terung der Lage der Gefangenen innerhalb des Rahmens der Hausordnung
zur Geltung zu bringen, und hat es auch erreicht, daß bei manchen Modi¬
fikationen der Einzelhaft die auf seinem Gebiet gewonnenen Erfahrungen
raitwirkten. So ist z. B. die Abschaffung der urteilmäßigen Strafver¬
schärfungen durch Dunkelarrest und Hungerkost, die in den fünfziger
Jahren reichlich von den Gerichten verhängt wurden, und die sich in der
Statistik der Gesundheitsverhältnisse der Sträflinge in jenen Jahren so
ungünstig bemerkbar machten, wohl mit in erster Reihe seinen unaus¬
gesetzten Bemühungen zu verdanken (siehe die Jahresberichte der Anstalt
für 1853—1856).
Als erste größere Arbeit veröffentlichte Gutsch 1862 im XIX. Band,
1. Heft der Allg. Ztschr. f. Psychiatrie den Aufsatz über „Seelenstörung
in Einzelhaft“. Er legt darin die Ergebnisse seiner in 12 Jahren im Zellen-
gefängnis Bruchsal gewonnenen Erfahrungen nieder, die darin gipfeln,
daß wohl die allgemeine Disposition des Verbrechens und der Gefangen¬
schaft zur Entwicklung von Seelenstörungen sowie angeborene individuelle
Anlagen durch die hinzutretenden seelischen Einflüsse der Isolierung
eine Förderung erfahren und unter ihrem Einfluß eher zur Geltung kommen,
daß dagegen die ausschließlich Einflüssen des Alleinseins zur Last fallenden
Psychosen entschieden die weitaus mindere Zahl bilden, sich meist schon
durch einfache Aufhebung der Isolierung als heilbar erweisen und keine
dauernden Nachteile zur Folge haben. Er will deshalb auch die Einzelhaft
wegen ihrer sonstigen Vorzüge im allgemeinen beibehalten haben.
Schon früher hatte Gutsch erkannt, daß zur Erreichung günstiger
Erfolge bei geisteskranken Sträflingen ein rasches Einschreiten
und eine besondere Unterkunft unter ärztlicher Leitung für dieselben
erforderlich seien. Mit der ihm eigenen Tatkraft verfolgte er in Wort
und Schrift dieses Ziel, und er drang auch bald mit seiner Ansicht bei
seiner Vorgesetzten Behörde durch, trotzdem ihm in Geheimrat RoUsr
ein nicht zu unterschätzender Gegner entgegengetreten war, der in einer
scharfen Kritik manche Ansichten Gutschs bekämpfte.
Entsprechend Gutschs Vorschlägen wurde ein mitten im Straf¬
anstaltgebiet freistehendes Krankenhaus nach psychiatrischen Grund¬
sätzen im Jahre 1864 eingerichtet und damit ein erster Versuch einer
Verbindung von Straf- und Irrenanstalt in Deutschland gemacht. In
seiner äußeren und inneren Einrichtung wurde dieses Gebäude möglichst
jedes gefängnisartigen Eindrucks entkleidet und bot trotzdem alle Er¬
fordernisse einer sicheren Verwahrung. Auch war zur Trennung, je nach
Krankheitskategorien, Charakter und Bildungsgrad, jede gewünschte
Gelegenheit geboten, und in der gesamten Behandlung der Insassen wurde
ohne Zustimmung des Arztes keine Anordnung getroffen. Es wurde in
dem geisteskranken Verbrecher nicht der Verbrecher, sondern nur der
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Kleinere Mitteilnngen.
927
Kranke und dessen Bedürfnisse im Auge behalten (Gutseh, Das Zellen¬
gefängnis Bruchsal nebst der dazu gehörigen Hilfsstrafanstalt. Heidel¬
berg bei G. Weiß 1867).
Die nach diesem Vorgang in Fluß gekommene Frage, ob größeren
Gefangenenanstalten besondere Abteilungen für geisteskranke Sträflinge
anzugliedern seien, fand von da an in allen einschlägigen Zeitschriften
eine lebhafte Erörterung und bildete in zahlreichen psychiatrischen und
gefängniswissenschaftlichen Vereinsversammlungen ein ständiges Thema.
In mehreren derselben (München, Hannover, Wien) war Gutseh das Referat
übertragen worden. Besonders eingehend hat er in der Versammlung
südwestdeutscher Irrenärzte in Heidelberg im Jahre 1873 diese Frage
in einem Vortrag erörtert („Wohin mit den geisteskranken Sträflingen?“
Allg. Ztschr. f. Psych. Bd. XXX). Er kommt darin zu dem Ergebnis,
daß die geisteskranken Verbrecher in besonderen Abteilungen von Straf¬
anstalten, sogenannten Hilfsstrafanstalten, unterzubringen seien, denen
neben der formellen Fortsetzung des Strafvollzuges alle Hilfsmittel der
Irrenpflege zu Gebote stehen müssen, also in Anstalten, wie er in Bruchsal
eine gegründet hatte.
Auf der Versammlung der deutschen Irrenärzte in München im
Jahre 1875 wurden seine Anträge bezüglich der Frage, welche Wünsche
vom psychiatrischen Standpunkte hinsichtlich der in der Justizkommission
des Reichstags zur Beratung stehenden „Strafvollstreckung“ in den
Gefängnissen zu äußern seien, mit großer Majorität angenommen.
Gulschs Anregungen folgend, wurden auch bald in einer größeren
Zahl von Strafanstalten Einrichtungen zur Behandlung der akuten Fälle
von Geisteskrankheit entweder in dem psychiatrisch erweiterten Kranken¬
hause oder in besonderen Abteilungen getroffen. So entstanden in Preußen
in den Strafanstalten Berlin-Moabit, Köln, Halle, Graudenz, Breslau,
Münster besondere Irrenstationen.
Seine weiteren humanen Bestrebungen, auch für die große Zahl
zu Geisteskrankheit disponierter und psychisch defekter, minderwertiger
Sträflinge, die Grenzfälle, die überall in den Strafanstalten zahlreich
vorhanden sind, Herausnahme aus dem gefährdenden Zwange rücksicht-
losen Strafvollzugs und individualisierende Behandlung zu erlangen,
hatten nicht den von ihm erhofften Erfolg. Er hätte seine Bemühungen
in dieser Hinsicht wohl noch länger fortgesetzt, wenn nicht die angestrengte
jahrzehntelange Anstalttätigkeit in Verbindung mit einer großen Privat-
praxis in der Stadt und der Besorgung der chirurgischen Abteilung des
städtischen Krankenhauses seine Nervenkraft allmählich untergraben
hätte. Zur Wiederherstellung seiner Gesundheit zog er sich 1881 von
jeder Tätigkeit zurück und siedelte nach Karlsruhe über, wo er die nächsten
Jahre seinen Sohn — jetzt einer der geschätztesten Operateure unseres
Landes — bei Einrichtung einer chirurgischen Privatklinik unterstützte.
Nach und nach kräftigte sich seine Gesundheit wieder mehr, so daß
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er sich entsprechend der an ihn ergangenen Aufforderung noch viele Jahre
in erfolgreichster Weise Vereinsbestrebungen widmen konnte, die einen
seiner früheren Tätigkeit verwandten Zweck verfolgten. So wurde er
zum Mitglied der Zentralleitung des Landesverbandes der badischen
Schutzvereine für entlassene Sträflinge ernannt sowie zum Mitglied des
Verwaltungsrates des Vereins sittlich verwahrloster Kinder, in welchen
Stellungen Gutsch seine reichen Erfahrungen vielfach verwerten konnte.
Aber auch dem speziell psychiatrischen Gebiet wandte er in gleicher
Weise wie in früheren Jahren sein lebhaftes Interesse zu, besuchte noch
manche Versammlung, wo er sofort durch seinen energischen, durch¬
geistigten Gesichtsausdruck auffiel und vielfach wirksam in die Diskussion
•ingriff.
Mehr noch betätigte er seine Mitarbeit an dem Gefängniswesen,
wozu ihm das Jahr 1890 ganz besonders Gelegenheit bot, als er als offizieller
Delegierter Badens und Vertreter des Vereins der deutschen Strafanstalts-
beamten dem IV. internationalen Kongreß für Gefängniswesen in
St. Petersburg beiwohnte, über den er im Auftrag des genannten Vereins
in den „Blättern für Gefängniskunde“, Band XXV, Heft 2, ein inter¬
essantes ausführliches Referat erstattete.
Die Bedeutung Gutschs auf forens-psychiatrischem Gebiete ist in
vorstehenden Ausführungen gewertet. Vieles, was er schon vor 50 J ähren
erkannt und erstrebt hatte, wurde erst in neuerer Zeit allgemeiner, auch
von Kriminalisten, gewürdigt, und mit Genugtuung erfüllte es ihn noch
in hohem Alter, bei vielen eine Übereinstimmung mit seinen Ideen und
Bestrebungen zu sehen.
Das Wirken Gutschs wäre aber nicht erschöpfend behandelt, wenn
wir nicht hinzufügen würden, daß er auch in somatischen Krankheiten
ein viel erfahrener und viel gesuchter Arzt war. Mit Stolz konnte sein
pietätvoller Sohn als Einführender der chirurgischen Abteilung der
vorigjährigen 83. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in
Karlsruhe, welcher der 86 jährige Vater noch selbst anwohnte, in seiner
Begrüßungsansprache von ihm sagen, daß er seinerseit auch Kaiserschnitt
und Staroperationen mit Erfolg ausgeführt habe. Im Kriege 1870/71
hatte er seine Kräfte auch in den Dienst des Vaterlandes gestellt und
stand als Chefarzt an der Spitze der Reservelazarette der freiwilligen
Hilfstätigkeit in BruchsaL
Bei seinen Kollegen und den Strafanstaltsbeamten erfreute sich
Gutsch auch wegen seiner ausgezeichneten Charaktereigenschaften alle¬
zeit einer großen Beliebtheit und hoher Achtung, von den Sträflingen
und seinen Klienten wurden sein humanes Wirken und seine mitfühlende
Teilnahme an Unglück und Krankheit hochgeschätzt. Dabei zierten
ihn, trotz hoher Auszeichnungen und Ehren, die ihm in reichem Maße
zuteil wurden, eine wohltuende Zurückhaltung und Bescheidenheit, die
ihn sogar zu der Bestimmung führten, daß sein Hinscheiden erst nach der
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in aller Stille gewünschten Feuerbestattung Öffentlich bekanntgemacht
werden durfte.
Sein Leben war bis in sein 6. Jahrzehnt hinein Mühe und Arbeit
gewesen, die nicht spurlos an seinen Nerven vorübergingen. Die dadurch
erzwungene Ruhe in Verbindung mit mehrfachen längeren Winteraufent¬
halten im Süden brachten ihm zwar wieder Erholung, doch nie voll¬
ständig. Von Zeit zu Zeit traten immer wieder stärkere Beschwerden
auf, vermehrt auch durch interkurrierende somatische Erkrankungen
und Operationen. Schließlich gesellten sich qualvolle Beschwerden des
Alters hinzu. Diese ließen trotz liebevollster Teilnahme seiner Angehörigen
und trotz sorgsamster Pflege von seiten seiner Schwägerin, die sich die
treffliche Frau nach schweren Schicksalschlägen zur Lebensaufgabe
gemacht hatte, den greisen Kollegen oft den sehnlichen Wunsch aus¬
sprechen, es möge ihm ein baldiger Tod Erlösung bringen. Nach des
Lebens Mühe und Arbeit, aber auch voll schöner und dauernder Erfolge,
nach überstandenen schweren Krankheitsnöten ging ihm dieser Wunsch
am 26. Juli in Erfüllung. Sein Andenken wird bei den badischen Kollegen
und in der Geschichte der Psychiatrie, weit über unser Land hinaus,
immer in Ehren bleiben.
Oster.
Nekrolog August Cramer. — Wie sich der Sturmwind
aus den Bäumen des Waldes zuweilen den gewaltigsten herausgreift und
zu Boden schmettert, so hat sich ein tückischer Tod gerade den Mann
aus unseren Reihen zum Opfer erkoren, dem wir bis vor kurzem in Gesund¬
heit und Kraft willig die erste Stelle einräumten.
Am Abend des 5. September 1912 ist August Cramer von uns ge¬
schieden. Er ist dahingegangen vor dem vollendeten 52. Lebensjahre
und in der Fülle der Manneskraft, ein Liebling der Götter, die ihn rasch
zu der Höhe geführt, die einem deutschen Psychiater beschieden sein
kann, und die ihn wieder zu sich nahmen, bevor er dem alles zerstörenden
Alter den unabwendlichen Tribut zahlen mußte.
Cramer war am 10. November 1860 in St. Pirminsberg, der St. Gallener
Irrenanstalt, als der Sohn des damaligen Direktors dieser Anstalt geboren,
und Befähigung und Liebe zur Psychiatrie waren ihm schon in die Wiege
gelegt. Sein Vater, der auf dem Wege über Solothurn und Köln die Anstalt
und Professur an der Universität Marburg übernommen hat und dort
gestorben ist, war ein geradezu einziges Gemisch von kindlichem Gemüt
und scharfem Verstand, und dabei Psychiater mit Leib und Seele, der
wie kein Anderer dazu angetan war, die Begeisterung auf seinen Sohn
zu übertragen, die er selber für sein Fach empfand.
Was er damals als Knabe und Jüngling dem Vater abgelauscht hat,
das konnte er später bei dem berufensten Meister weiter vervollkommnen,
bei Zinn zu Eberswalde, der, wenn ich nicht irre, sein Pate und wo er als
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Assistenzarzt tätig war. Zinn war unstreitig einer der klügsten Menschen
seiner Zeit, in allen Sätteln gerecht und ein Mann, den die Stürme des
Lebens frühzeitig gereift, und dessen angeborene praktische Befähigung
sie zur vollen Blüte entfaltet hatten. Die beiden Alten, Cramer und Zinn.
bildeten in der tief empfindenden Milde des Einen und der urwüchsigen
Kraft des Anderen einen Gegensatz, der sich in dem jüngeren Cramer,
dem Sohne und Paten, zu einem harmonischen Ganzen ausgeglichen hatte,
das ihm überall Vertrauen und Liebe erwarb.
Seiner machtvollen Persönlichkeit gegenüber hatte man den Ein¬
druck, daß er seinen Mann stehen und seine Stelle ausfüllen werde, gleich¬
viel wohin ihn Zufall und Geschick führen würden. Als es sich im Jahre
1904 um die Besetzung der durch meinen Abgang freiwerdenden Stelle
in Bonn handelte, sagte mir Allhoff: „Auf Cramer brauchen Sie sich keine
Hoffnung zu machen, den lassen die Hannoveraner nicht fort“; das war
auch tatsächlich nicht der Fall, so sehr hatte er sich in der kurzen Zeit
seiner dortigen Tätigkeit das Vertrauen der maßgebenden Persönlichkeiten
zu erwerben und sie zu veranlassen gewußt, ihm die zur Verwirklichung
seiner Pläne unerläßlichen Mittel zur Verfügung zu stellen. Und dieser
Pläne und der hierfür aufzubringenden Geldmittel waren nicht wenige,
da schon bald nach seiner Berufung als Nachfolger Ludwig Meyers zum
Professor für Psychiatrie und Nervenheilkunde, und gleichzeitig zum
Direktor der Göttinger Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt (April 1900)
auf sein Betreiben eine Poliklinik für psychische und Nervenkrankheiten
errichtet und später zur Klinik ausgebaut wurde. Wie hier dem Staate,
so wußte er der Provinz in der Errichtung eines Provinzial-Sanatoriums
für Nervenkranke die erforderlichen Mittel abzugewinnen, und die
Schöpfung der Rasemühle ist sein eigenstes Werk, das allein schon genügen
würde, seinem Namen die Unvergessenheit zu sichern. Man muß dieses
Idyll gesehen haben und seinen eigenartigen Heb auf sich einwirken
lassen, um den Eindruck zu gewinnen, wie er einen Teil seines eigenen
Ichs in seine Schöpfung hineingelegt hat, aus deren Einfachheit, und
Gediegenheit uns das Wesen ihres Schöpfers entgegenleuchtet. Nehmen
wir hinzu, daß auf seine Veranlassung das Provinzialverwahrungshaus
für unsoziale Geisteskranke bei Göttingen errichtet, und eine Heil- und
Erziehungsanstalt für psychopathische Fürsorgezöglinge, die erste ihrer
Art, gegründet wurde, deren Leitung ihm mehr oder weniger unterstand,
so bedurfte das einen Aufwand an Zeit und Kraft, den zu leisten nur
wenige berufen sind. Wer wie ich Direktor einer großen Anstalt und dabei
verpflichtet war, gleichzeitig den psychiatrischen Unterricht an der Univer¬
sität zu leiten, der weiß, was arbeiten heißt, und kann ruhig zugestehn,
daß ihm zuweilen des Guten etwas viel wurde. Hier aber waren es der
Ämter noch viel mehr, und jedes erforderte seinen Mann und dessen Zeit,
während manches davon bei seiner Eigenart der treibenden Fürsorge
seines Schöpfers überhaupt nicht entbehren konnte und sie in ganz be-
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sonderem Maße in Anspruch nahm. Wem könnte man es alsdann ver¬
denken, wenn er unter sotanen Umstanden der Überlastung in vermehrter
Reizbarkeit und Hast auch nach außen hin Ausdruck geben würde und
hin und wieder etwas kurz und deutlich geworden wäre?
Ob andere bei Cramer eine derartige Erfahrung gemacht haben,
möchte ich auf Grund meiner eigenen bezweifeln. Ich wenigstens habe
stets seine Ruhe und seinen Gleichmut bewundert, und es ist mir ein
Rätsel, wo er die Zeit zur Erledigung seiner massenhaften Geschäfte
gefunden hat. Erledigt aber hat er sie, und zwar gut erledigt, und nie
habe ich von ihm ein Wort der Klage oder der Ungeduld gehört. Für ihn
gilt das Horazische: Aequam in arduis servare mentem, und dieser Gleich¬
mut bildete nicht die am wenigsten gewinnende Seite des Verstorbenen.
Dabei habe ich seiner wissenschaftlichen Tätigkeit noch keine Er¬
wähnung getan, und doch kann Eichelberg in seinem warm empfundenen
Nachrufe die Zahl seiner Veröffentlichungen auf mehr als 60 beziffern,
die das gesamte Gebiet unserer Fachwissenschaft umfassen und den wissen¬
schaftlichen Ruf Cramers begründet haben.
Auch in ihnen ist es das zielbewußte Erfassen des jeweiligen Gegen¬
standes, das uns von vornherein in seinen Bann stellt, und uns der ebenso
klaren wie einfachen Darstellung bis zum Schlüsse willig folgen läßt.
Man hat das Gefühl, daß hier ein Mann zu uns redet, der uns etwas zu
sagen, etwas Neues zu bieten hat und daß die Zeit, die man in seiner
Gesellschaft verbringt, nicht verloren ist. Daher auch die Verbreitung
und Beliebtheit seiner Lehrbücher, und die, wie ich glaube, ebenso all¬
gemeine wie neidlose Zustimmung seiner Fachgenossen, als ihm nach
Ziehens Abgang die Berliner Professur angeboten wurde. Daß hier der
richtige Mann an der richtigen Stelle gewesen und er wie kein Anderer
diesen nicht ganz ebenen Pfad gewandelt wäre, aufrecht und unbeirrt
wie ein Dürerscher Ritter, daran wird wohl niemand zweifeln, der ihn
gekannt, und das ganze Elend seines Geschicks greift uns an, daß es ihm
nicht mehr vergönnt war, diesem Rufe zu folgen.
In diesem Ausgang liegt gewiß eine Tragik, und doch, wer sollte
den nicht beneiden, der auf der Höhe seiner Leistungfähigkeit, in voller
Wehr und Waffen, abberufen wird, ein Liebling der Götter?
Pelman.
Bei dem hundertjährigen Jubiläum des Sonnensteins wurde wieder¬
holt hervorgehoben, daß diese Anstalt die erste in Deutschland gewesen
sei. Diese Annahme ist indes irrig; 11 Jahre früher hatten bereits die
Stände der Kurmark eine Anstalt zur Behandlung Geisteskranker in Be¬
trieb gesetzt, die bis vor drei Jahren wenig verändert, wenn auch seit
45 Jahren anderen Zwecken dienend, in Neuruppin bestanden hat.
Während aber Sonnenstein in einer alten aufgelassenen Feste, Sorau in
einem Kurfürstlich sächsischen Schlößchen errichtet wurden, kam in
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Neuruppin ein Neubau zur Ausführung, der am 1. März 1801 seiner Be¬
stimmung übergeben wurde. Es war die erste für diesen Zweck in Deutsch¬
land erbaute Anstalt; die nächste völlig neue Irrenanstalt, der
Sachsenberg bei Schwerin, folgte ihr erst 1830.
Die Anstalt lag innerhalb der Stadtmauer in deren südöstlicher
Ecke. Eine 3 m hohe Mauer grenzte den Anstalthof von der Schiffer -
straße ab, von der eine durch ein großes Tor verschlossene Einfahrt zur
Anstalt führte. Das Krankenhaus bestand aus einem in der Flucht der
Häuser der Schifferstraße liegenden Flügel von 11 Fenster Front nach
der Straße zu und rechtwinklig dazu einem kleineren Flügel von 6 Fenster
Front nach dem Hofe zu. Die Länge des Gebäudes war auf der Ostseite
41,9 m, auf der Südseite 33,35 m; es hatte ein Kellergeschoß von 3,55 m
und zwei Obergeschosse von je 3,45 m Höhe. Den Zwischenraum von
10 m, der den östlichen Flügel des Krankenhauses von den Häusern der
Schifferstraße trennte, füllte ein Haus von vier Fenster Front und geringerer
Stockwerkhöhe aus, das von dem Eingang des Krankenhauses aus zu
betreten und etwa 1,50 m niedriger war. Es befanden sich Bureauräume
für die Anstalt und die Wohnung des Inspektors darin.
Die Anstalt war für 100 Kranke (*/* m., 7» w.) bestimmt; die Männer
nahmen den Flügel an der Schifferstraße, die Frauen den rechtwinklig
dazu gelegenen ein. In dem ersten Oberstock lagen Zimmer für Pensionäre,
sowie zwischen Männer- und Frauenfiügel ein Betsaal und Versammlung¬
saal. Das Kellergeschoß nahmen die Küche mit Nebenräumen, die Wasch¬
küche, das Bad und 9 Isolierräume, 6 für Männer, 3 für Frauen, ein. Auf
der der Stadtmauer zugew r andten Seite des Gebäudes lief in jedem Stock¬
werk ein breiter Korridor entlang, Zimmer von verschiedener Größe
lagen nach der Hofseite. Sämtliche Fenster waren vergittert. Zwei große
ummauerte, mit Bäumen bestandene Gärten füllten den Raum bis zum
Gange um die Stadtmauer aus, je einer für die Männer und die Frauen.
Von dem Kellergeschoß führten Ausgänge in die Gärten.
Ende der 30er Jahre wurden infolge zunehmender Krankenzahl
noch an der Seite der Heinrichstraße Grundstücke gekauft und da noch
ein Gebäude mit zwei Obergeschossen errichtet. Darin war eine Schneider¬
und Schuhmacherwerkstatt untergebracht, es wohnten mehrere Be¬
dienstete darin, und die Obeigeschosse wurden von Kranken bewohnt.
Von wem der Plan zu der für die damalige Zeit zweckmäßigen und
geräumigen Anstalt entworfen ist, habe ich nicht ermitteln können. Auch
war aus der ersten Zeit über den ärztlichen Dienst in der Anstalt nichts
festzustellen. Er wurde wahrscheinlich vom Kreisphysikus mit versorgt.
Ein ärztlicher Direktor wurde erst 1841 in der Person des Dr. Wallüs
eingesetzt. Dessen Nachfolger Dr. Sponholz ging bei der Aufhebung der
Anstalt (1. Nov. 1865) mit nach Eberswalde über.
Während der Direktor außerhalb wohnte, w’ar mindestens seit
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Kleinere Kitteilangen.
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Anfang der 50er Jahre ein unverheirateter Arzt in der Anstalt wohnhaft
(um 1860 Dr. Ideler, der spätere Direktor von Dalldorf, bei Aufhebung
der Anstalt Dr. Wendt, später Direktor in Schwetz).
Wenn die Anstalt sich zu sehr füllte, wurden die unheilbaren Kranken
nach Wittstock überführt, wo anscheinend schon vor der Eröffnung von
Neuruppin gemeingefährliche Geisteskranke, zusammen mit Landarmen,
Siechen und Korrigenden, untergebracht waren. (Aus einem Aufsatz von
Geh. San.-Rat Dr. Knecht in der Märkischen Zeitung v. 18. 8. 1912.)
Aus dem Verein zum Austausch der Anstalt¬
berichte ist das Sanatorium Rockwinkel bei Bremen ausgetreten.
Per8onafoi<whAricfoten*
Dr. Wilhelm Alter, Geh. San.-Rat, bisher Direktor von Leubus, ist am
1. Oktober in den Ruhestand getreten. Sein Nach¬
folger ist
Dr. Joh. Hinter, San.-Rat, bisher 2. Arzt in Brieg.
Dr. V. Magnan, Prof. u. Chefarzt von St. Anne in Paris, ist ebenfalls
in den Ruhestand getreten.
Dr. Albr. o. Kunowski wurde als Oberarzt von Leubus nach Brieg,
Dr. Wilh. Weidenmüller, Oberarzt, von Uchtspringe nach J erichow
versetzt.
Dr. Guido Kunze in Leubus und
Dr. Hugo Heilemann in Bunzlau wurden zu Oberärzten befördert.
Dr. Rieh. Stöckle in Eglfing ist Oberarzt in Lohr geworden.
Dr. Karl Brandl, Anstaltsarzt in Eglfing,
Dr. Karl v. Hößlin, Anstaltsarzt in Eglfing,
Dr. Alb. Imhof, Anstaltsarzt in Gabersee, und
Dr. Emil Krapf, Anstaltsarzt in Haar (bisher in Kaufbeuren), haben
Titel u. Rang eines Oberarztes erhalten.
Dr. Max Seige, früher Assistent in Jena, hat sich in Partenkirchen
als Nervenarzt niedergelassen.
Dr. Ernst Schultze, o. Prof., bisher in Greifswald, ist nach Göttingen
als Dir. der Prov.-Anstalt u. als Leiter der Klinik berufen
worden und hat die Berufung angenommen.
Dr. Georg Stertz, bisher Priv.-Doz. in Bonn, ist Oberarzt an der psy¬
chiatrischen Klinik zu Breslau geworden u. hat sich an der
dortigen Universität habilitiert.
Dr. W. Spielmeyer, Priv.-Doz. in Freiburg, ist zum Leiter des anatom.
Laboratoriums der psychiatr. Klinik zu München ernannt
worden.
Dr. Hane W. Maier, 2. Arzt im BurghölzH zu Zürich, und
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Dr. Jos. Berte, Primararzt am Steinhöf zu Wien, haben sich als Privat¬
dozenten habilitiert.
Dr. Kurt Goldstein, Priv -Doz. in Königsberg, und
Dr. Jos. Peretti, Geh. San.-R., Dir. d. Prov.-Anst. Grafenberg u. Dox.
an der Akademie Düsseldorf, haben den Titel Professor
erhalten.
Dr. Alfr. Richter, Dir. in Buch,
Dr. Reinh. Otto, Oberarzt in Herzberge, und
Dr. Friedr. Kortum, Oberarzt in Dalldorf, sind zu Geh. Sanitäts¬
räten,
Dr. Walter Levinstein, Dir. der Maison de Santö in Schöneberg, zum
Sanitätsrat ernannt worden.
Dr. Wilh. Alter, Geh. San.-R., bisher in Leubus, jetzt in Knetern b.
Breslau, und
Dr. Ad. Schmidt, Geh. San.-Rat, Dir. der Prov.-Anstalt Sorau, haben den
Kronenorden 3. Kl.,
Dr. 08k. Kluge, Dir. der Prov.-Anstalt f. EpiL in Potsdam, den Roten
Adlerorden 4. KL,
Dr. Gust. Länderer, San.-R., die Kar 1-0Iga-Medaille in Silber,
Dr. Heinr. Schloß, Reg.-Rat, Dir. der Landesanstalt am Steinhof in
Wien, den Orden der Eisernen Krone 3. Klasse er¬
halten.
Dr. Gerh. v. Seidlitz, Assist.-Arzt in Teupitz, ist am 2. Sept. an InflueDza-
pneumnie,
Dr. Julius MüUer, Oberarzt der Pflegeanstalt St. Thomas in Andernach,
am 9. Sept., 34 J ahre alt, infolge eines Schlaganfalls g e -
s t o r b e n.
Dr. Edm. Ribstein, Geh. Med.-Rat, Dir. Arzt am Landesgefängnis zu
Freiburg i. B.,
Dr. Stöwesand, Anstaltsarzt in Kreuzburg L SchL, zuletzt Schiffsarzt, u.
Dr. Herrn. Früstück, Oberarzt in Hochweitzschen, sind gestorben.
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ALLGEMEINE ZEITSCHRIFT
FÜR
PSYCHIATRIE
UND
PSYCHISCH-GERICHTLICHE MEDIZIN
HERAUSGEGEBEN VON
DEUTSCHLANDS IRRENÄRZTEN
UNTER DER MITREDAKTION VON
BONHOEFFER CRAMER v. GRASHEY KREUSER PELMAN SCHÜLE
BERLIN GÖTTINGEN MÖNCHEN WINNENTAL BONN ILLENAC
DURCH
HANS LAEHR
SCHWEIZERHOF
NEUNUNDSECHZIGSTER BAND
I. LITERATURHEFT
BERLIN
W. 36. GENTUINERSTRA8SE 38
DRUCK UND VERLAG VON GEORG REIMER
1912
Original fro-rn
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BERICHT
ÜB£ß DIE
PSYCHIATRISCHE LITERATUR
IM JAHRE 1911
REDIGIERT
VON
OTTO SNELL
DIREKTOR DER BEIL* C. PFLEGEA58TALT LtSEBCRO
I.
I. LITERATURHEFT
ZUM 69. BANDE
DER ALLGEMEINEN ZEITSCHRIFT FÜR PSYCHIATRIE
BERLIN
W. 35. GENTHINERSTRASSE 38
DRUCK UND VERLAG VON GEORG REIMER
1912 .
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a*
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Schießen mit der Handfeuerwaffe“. (Mit einer Figur.) Arch.
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nehmungsgeschwindigkeit von Licht und Schallreizen.
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gefühls. Ztschr. f. Sinnesphysiol. Bd. 45, H. 2, S. 71—87.
194. Stoffels, Jos., Die Angriffe der Dämonen auf den Einsiedler
Antonius. Theologie u. Glaube II. Jahrg., 9.—10. H. Pader¬
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195. Stumpf, C., Differenztöne und Konsonanz. (Zweiter Artikel.)
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209. Washbum siehe Craioford.
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umgeaib. Aufl. Bd. III. Mit 71 Figuren im Text undSach-und
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228. Ziehen, Th. (Berlin), Leitfaden der physiologischen Psychologie
in 15 Vorlesungen. 9., teilweise umgeärbeitete Aufl. 313 S.
Jena, G. Fischer, 1911. (S. 17*.)
Eine Reihe nennenswerter zusammenfassender Darstellungen liegen wiederum
vor. Wundt hat eine kleine Einführung in die Psychologie neu geschrieben (225).
Von seinen früheren bekannten Werken liegen der 3. Band der „Grundzüge“ (22t)*
der „Grundriß der Psychologie“ (227), die „Vorlesungen über Menschen und Ti«*
seele“ (223) in neuen Auflagen vor, alles durchgesehen, entsprechend venneW
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Isserlin, Psychologie und Psychophysik.
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bzw. umgearbeitet. Auch von den „Kleinen Schriften“, einer Sammlung früher
verstreut erschienener, zum Teil auch neuer Aufsätze, ist der 2. Band heraus-
gekommen (226); er enthält die Aufsätze: Über psychische Kausalität; Die Defini¬
tion der Psychologie; Über psychologische Methoden; zur Lehre von den Gemüts¬
bewegungen; Hypnotismus und Suggestion; letzterer ist auch als Sonderdruck
erschienen (222). In neuen erweiterten Auflagen erschienen sind auch die bekannten
Bücher von Ziehen (228) und Mach (123).
Ein ganz neues Buch — gegenüber seiner ersten Auflage — ist Siems Diffe¬
rentielle Psychologie (188) geworden, es enthält umfassende und gehaltreiche Aus¬
führungen in drei Hauptteilen über die „Feststellungsmethoden“, „Variationen
und Korrelationen“ und „die Erforschung der Individualitäten“; eine sehr aus¬
gedehnte Bibliographie ist angefügt. — Eine Geschichte der Psychologie haben
Dessoir (33) und Klemm (104) in mäfiigem Umfang geliefert.
Über psychologische Methoden im allgemeinen handelt eine Arbeit von
Anschütz (8); eine Übersicht über die Methodik für die Zwecke der Psychiatrie
gibt Sommer (182).
Aus dem Gebiete der Sinnespsychologie können die Arbeiten von Jaensch (93),
Katz (99), Köhler (106) trotz ihres Interesses für die Pathologie hier nur genannt
werden, wie dieser Bericht überhaupt gezwungen ist, sehr aphoristisch und zum
Teil willkürlich zu verfahren. Etwas eingehender sei über eine Arbeit von Pauli (146)
berichtet — besonders auch wegen ihrer Beziehungen zum Problem der Aufmerk¬
samkeitswanderung. Ausgangspunkt der Untersuchung war eine Beobachtung
Mache , daß von zwei gleich großen roten Quadraten das direkt gesehene rot, das
indirekt gesehene grün erscheint, und zwar oft sehr intensiv. Mach suchte das
Phänomen durch die Wanderung der Aufmerksamkeit zu erklären; die verspätete
Aufmerksamkeit findet das indirekt gesehene Quadrat schon im Stadium des
negativen Nachbildes vor. P. kommt auf Grund eigener, in besonderer Anordnung
angestellter Versuche, zu folgenden Ergebnissen, die die verschiedenen Seiten des
Problems anlangen:
Die Schwellen (die 60% richtige und 60% falsche Beobachtungen angebenden)
für die Auffassung des zeitlichen Verhältnisses zweier kurzdauernder, optischer
Beize, die beide indirekt gesehen werden, liegen unter 0,1 Sek.; die Endschwellen
(die durch das 1- tzte falsche Urteil gebildeten) zwischen 0,1 und 0,2 Sek.
Der Einfluß des relativen Abstandes der Beize ist dabei weder eindeutig und
unabhängig von der Person des Beobachters, noch sehr wesentlich. Nur ganz
allgemein kann man behaupten, daß ein kleiner Gesichtswinkel die Beobachtung
eher erleichtert, ein großer dieselbe eher erschwert.
Der konstante Fehler ist von der monokularen Beobachtung in der Weise
abhängig, daß der Eindruck bevorzugt ist, der auf seiten des beobachtenden Auges
liegt.
Fixation eines Beizes bewirkt eine erhebliche Verschiebung der Schwellen
zugunsten desselben und zuungunsten des peripher gesehenen.
Die Konzentration der Aufmerksamkeit auf einen Beiz hat keine Zeittäuschung
zur Folge.
Zeitschrift für Psychiatrie. LXIX. Lit. b
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
Bei Fixation eines Beizes wachsen die Fehler mit dem Gesichtswinkel
Die durch ausschließliche Beachtung eines bestimmten zeitlichen Verhält¬
nisses hervorgerufene Zeittäuschung beträgt V*o—Vio Sek.
Ihre Größe hängt unter andern ab von dem Gesichtswinkel sowie den Intec-
sitäts- und Größenverhältnissen der Reize; auch die Lage der Reize im Sehfeld
ist nicht ohne Einfluß.
Trennung von Fixationspunkt und Aufmerksamkeit bewirkt einen nur un¬
wesentlichen Rückgang der Täuschung.
Die Zeittäuschung kann nicht durch Aufmerksamkeitswanderung im Sinne
von Mach und Bethe erklärt werden und beruht nicht auf einer Veränderung der
Empfindungen.
Dagegen läßt sie sich aus dem Verhalten der Funktionen erklären, die skh
auf die Empfindungen richten, nämlich der Aufmerksamkeit und Zeitauf¬
fassung.
Zur Bestimmung der Geschwindigkeit der Aufmerksamkeitswanderunr
diente eine besondere, von Külpe angegebene Methode.
Die Werte, die man auf diese Weise findet, hängen von der Person des Beob¬
achters und der Richtung der Wanderung ab: je nachdem betragen sie 80—170;.
Dagegen sind sie unabhängig von der Größe des Gesichtswinkels.
Aus der Möglichkeit von Augenbewegungen läßt sich kein Einwand gegen
die Methode ableiten.
Die Erklärung des Machschen Phänomens durch die Aufmerksamkeitstheorie
ist hinfällig.
Dasselbe verläuft in drei Phasen, die bei rotem Licht sind: rot — weiß — grün.
Seine Bedingungen sind: Ausschaltung von Kontrasteinflüssen, eine gewisse,
nicht zu kurze Reizdauer und indirektes Sehen.
Das Machsche Phänomen ist wahrscheinlich als ein Ausdruck für die be¬
sonderen Verhältnisse des Farbensehens anzusehen, die in der Netzhautperipherie
herrschen.
Die Erscheinung läßt sich sowohl nach der Dreikomponententheorie als auch
nach der Theorie von Hering verständlich machen.
Zur Psychologie des Gedächtnisses liegt der erste Teil umfassender und
wichtiger Untersuchungen vor in demBuch von G. E. Müller (140), das hier auch nur
erwähnt werden kann. Eine schöne und sehr brauchbare Übersicht über patho¬
logische Verhältnisse gibt Ransckburg (159); von für die Psychiatrie bemerkens¬
werten Arbeiten mit dem Assoziationsversuch sei die von Levy-Suhl (116) und
Ley-Menzerath (117) genannt.
Über das wichtige Problem der Bedeutung von Gefühlsvorgängen für die
Erinnerung hat Peters (147) Untersuchungen angestellt. Er suchte über diese
Beziehungen Klarheit zu gewinnen, indem er den Assoziationsversuch für diesen
speziellen Untersuchungszweck modifizierte. P. stellte seinen Vp. die Aufgabe,
auf Reizworte immer nur mit einer persönlichen Erinnerung zu reagieren. Durch
genaueres Befragen suchte er dann die Gefühlsbetonung des Erlebnisses, das er¬
innert wird, festzustellen und mit der Gefühlsbetonung der Erinnerung selbst zu
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vergleichen, ferner die Beziehungen zwischen der Gefühlsbetonnng, dem Alter
and der Häufigkeit der Erinnerung zu untersuchen. Die Reaktionszeit wurde mit
der Fünitelsekundenuhr gemessen. Auf der Grundlage dieses Versuchsmaterials
suchte P. die Frage nach dem Einfluß des Gefühls auf die Erinnerbarkeit von Erleb¬
nissen zu eTörtem. Was nun den Gefühlston der Erlebnisse und Erinnerungen
anlangt, so stellte P. fest, daß der größte Teil der erinnerten Erlebnisse beim Erleben
gefühlsbetont war. Von den gefühlsbetonten Erlebnissen waren */» lustbetont.
Die lustbetonten Erlebnisse bilden etwa die Hälfte aller erinnerten Erlebnisse;
die unlustbetonten Erlebnisse sind zahlreicher als die indifferenten. Die häufigsten
Erlebnisse waren zugleich alte Erlebnisse, und zog man die Gefühlsbetonung in
Betracht, so zeigte sich, daß die älteTenErlebnisse mehr Lust¬
betonung, weniger Unlustbetonung und weniger In¬
differenz aufweisen als die jungen Erlebnisse. Suchte
man dagegen festzustellen, ob das einzelne Erlebnis vor dem Erinnertwerden
im Versuch häufig oder selten erinnert wurde, und zieht zugleich seine Qualität
in Betracht, so zeigt sich nach P., daß die Unlusterlebnisse am zahl¬
reichsten unter den häufig erinnerten Erlebnissen
sind und hier an Zahl die Lust- und Indifferenzerlebnisse übertreffen. Diese Tat¬
sache, daß die unlustbetonten Erlebnisse, während sie im allgemeinen in der Er¬
innerung weniger begünstigt sind als die lustbetonten, wenn sie einmal erinnert
wurden, sich als „häufig“ erinnerte erwiesen, führt P. auf die persönliche Bedeutung,
die das Erlebnis für den Erlebenden besitzt, zurück. Wichtig sind die Ausführungen,
die P. über die Erinnerung unlustbetonter Erlebnisse macht. Während sich nach
seiner Ansicht der gefundene Unterschied in der Erinnerbarkeit gefühlsbetonter
und indifferenter Erlebnisse erklären läßt aus der verschiedenen persönlichen Be¬
deutung dieser Erlebnisse, reicht diese Erklärung nicht aus, um den Unterschied
in der Erinnerung lust- und unlustbetonter Erlebnisse verständlich zu machen.
Er glaubt vielmehr, daß seine Versuche zeigen, daß die unlustbetonten Erlebnisse
von geringerer Bedeutung weniger Chancen haben erinnert zu
werden, als die lustbetonten Erlebnisse von der gleich en
Bedeutung. Ferner konnte P., wenn er den Gefühlston des Erlebnisses während
des Erlebens mit dem Gefühlston verglich, den die Erinnerung daran hatte, zeigen,
daß die lustbetonten Erlebnisse etwas häufiger kon¬
stanten Gefühlston haben als die unlustbetonten Er¬
lebnisse, und daß bei den unlustbetonten Erlebnissen
häufiger eine Verschiebung des Gefühlstons eintritt,
ferner, daß unlustbetonte Erlebnisse häufiger beim Er¬
innern indifferent sind, als lustbetonte. Weiterhin konnte P. zeigen,
daß die Reaktionszeit der unlustbetonten Erlebnisse größer ist als die der indiffe¬
renten und lustbetonten, ferner bei Reproduktionsversuchen im Sinne Jungs, daß
die unlustbetonten Erlebnisse am seltensten richtig reproduziert werden. P. schließt
deshalb auf eine allgemeinbestehende Tendenz zur Unlust¬
verminderung in der Erinnerung. Von den unlustbetonten Erleb¬
nissen wendet sich die Aufmerksamkeit ab, sie werden unterdrückt, stehen darum
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
in der Wiederholungszahi (im Sinne der Gedächtnispsychologie) und damit in dn
Chance, neuerlich erinnert zu werden, zurück hinter den Erinnerungen an hstbetonte
oder indifferente Erlebnisse.
Gilt das eben Mitgeteilte von Erinnerungen bzw. Erlebnissen mittlerer Be¬
deutung, so haben jene zusammengesetzten Erlebnisse, die man mit Jung als
Komplexe bezeichnet, nach P. besondere Gesetzmäßigkeiten. Unter ihnen
sind weniger lustbetonte und mehr unlustbetonte, als
unter den Erlebnissen, die außerhalb der Komplexe
waren. Ein stärkeres Hervortreten der Unlust zeigt sich auch, wenn man die
Gefühlsbetonung der zu Komplexen gehörigen Erinnerungen im Erinnern be¬
trachtet. Zweifellos erhalten nach P. die Komplex erlebnisse
in weit höherem Maße ihren Gefühlston konstant, als
die Erlebnisse außerhalb der Komplexe. Besonders Komplexe, welche den Charakt«
des „Unabgeschlossenseins“ hatten, zeigten dies abweichende Verhalten gegenüber
den nicht zu Komplexen gehörenden Erlebnissen.
Endlich fand P. bei seinen Vp. charakteristische persönliche Typen. Ir
unterscheidet zwei Gruppen seiner Vp., die erste dieser ist ausgezeichnet durch
die große Zahl der unlustbetonten Erinnerungen. Bei einer Reihe von Vp. war»
die erinnerten unlustbetonten für Erlebnisse besonders zahlreich. Deutlicher wird
dieser Unterschied zwischen den Typen, wenn man den Gefühlston der Er¬
innerungen in Betracht zieht. Es zeigt sich, daß die Vp., die mehr unlust¬
betonte Erlebnisse erinnern, auch in der Erinnerung mehr den Gefühlston der Un¬
lust haben, und weniger Verschiebungen des Gefühlstons der Unlusterlebnis^
aufweisen. Ferner trat hervor, daß die Personen vom ersten Typus durchweg mcht
Komplexerlebnisse erinnerten, als die Vp. der zweiten Gruppe. Auch beim Er¬
innern der Erlebnisse außerhalb der Komplexe haben alle Vp. der ersten Grupp
mehr' Unlustbetonung als die Vp. der zweiten Gruppe.
Den letzten Grund dieser Typenunterschiede sieht P. in einer Disposition
unlustbetonte Erlebnisse häufiger zu erinnern und Erlebnisse in einer Weise n
erleben und zu erinnern welche die Bildung von Komplexen begünstigt. Auö
alltägliche Erlebnisse werden offenbar von diesem Typus mehr mit dem Geftl
des Unbefriedigtseins, der Unabgeschlossenheit erlebt. Offenbar ist bei die«"
Personen (drei von den vier Vp. dieses Typus hatten übrigens leichte ahnora«
Verstimmungszustände gehabt) die Tendenz zur Unlu st v ermindf-
rung nur von geringer Stärke.
Ref. selbst hat zu der Frage der Beziehungen von Gefühl und Erinnerau?
unter Berücksichtigung der vorliegenden Daten und der Abwägung der vorgetrsgenet
Lehren besonders der der Schule Freuds in einer kritischen Übersicht Steilung
genommen (90).
Mit den Tatsachen und Grundlagen desWiedererkennens beschäftigt sich
eine Arbeit von Meumann (133). Dieser stellte Versuche an mit Hilfe der Methode
des fraktionierten Lernens. Hierbei war die Möglichkeit gegeben, die einzelnen
Stadien des Wiedererkennens und den Charakter unbekannter Eindrücke zu beob¬
achten. Die Vpn. hatten Reihen sinnloser Silben zu lesen. Es wurde dann vsA
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Isserlin, Psychologie and Psychophysik.
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jeder Lesung festgestellt, welche Silben die Vpn. wieder erkannten nnd zwar ob
sicher oder vermutungsweise. Zur Kontrolle wurden zwischendurch auch neue
Silben in unregelmäßiger Reihenfolge dargeboten. Von der 2. bis 3. Lesung ab
wurden niemals neue Silben als gelesen oder bekannt bezeichnet. Unbestimmt
wiedererkannte und unbekannte neue Silben erhalten gewissermaßen einen psychi¬
schen Index, der bei den gelesenen Silben bisweilen versagt, bei den neuen unbedingt
sicher ist. Sobald die gelesenen Silben ein gewisses Maß von Bekanntheit haben,
heben sich die neuen wie durch ein unmittelbares Gefühl ihrer Neuheit ab. Nach
der Beschreibung der subjektiven Erlebnisse tritt bei der Unbekanntheit eine
Empfindung des Stockens und Stutzens, eine Hemmung des Vorstellungsablaufs,
ein Bewußtsein innerer Leere, ein Ausbleiben der gewohnten Vorstellungsreproduk¬
tion, ein Gefühl der Unlust ein. Bei Bekanntheit ist von diesen Merkmalen keine
Spur vorhanden. Die ersten Symptome der Bekanntheit bestehen im Wieder-
erkennen, welches den Charakter der reinen Vermutung trägt. Die Bekanntheits¬
schwelle wird allmählich erreicht, wenn die inneren Kennzeichen so stark werden,
daß sie zum Bewußtsein kommen. Diese Kennzeichen sind: leichterer Ablauf der
psychischen Prozesse, charakteristische Gefühle und Organempfindungen (Ent¬
spannung, leichte Lustgefühle). Wichtig für die Unterscheidung zwischen Bekannt
und Unbekannt ist das verschiedene Verhalten der Aufmerksamkeit, die durch
Unbekanntes sehr gefesselt wird, bei Bekanntem leichter von einem zum anderen
schreitet. Ferner ist bedeutungsvoll das Ausbleiben der Reproduktion beim Un¬
bekannten; das reguläre Eintreten reproduktiver Vorstellungen, die sich an einen
Eindruck knüpfen, bei Bekanntem. Bisweilen scheinen alle Kennzeichen zu fehlen;
vielleicht ist die Hypothese berechtigt, daß der faktische Charakter des schon
dagewesenen Eindrucks genüge, um die Reproduktion des Urteils „bekannt“ usw.
herbeizuführen, als Erklärung hierfür wäre eine Art von Bahnung anzunehmen.
Wahrscheinlicher jedoch ist, daß schon ein Minimum von dunkel bewußten Kriterien
genügt, die Vorstellung des Bekannten auszulösen und daß diese auslösenden
Prozesse nicht in an den Inhalt der Vorstellungen anknüpfenden Vorstellungen
zu bestehen brauchen, sondern daß Formalgefühle, Organempfindungen und moto¬
rische Begleitvorgänge genügen. Am Anfang ist das Kriterium für die Unbekannt¬
heit sicherer; die Silbe scheint als schon dagewesen, aber nicht bekannt; in den
meisten Fällen ist die Bekanntheit nicht unmittelbar vorhanden, sondern er¬
schlossen. Das Erkannte hat dann wohl alle Merkmale des Erlebten außer
den bestimmten, an den Inhalt der wiedererkannten Vorstellung anknüpfenden
reproduktiven Vorstellungen; zugleich fehlen ihm die Merkmale des Unbekannten;
nur daß es sich weder vollkommen glatt in das psychisch Geschehene auf der Seite
der reproduktiven Vorstellungen einreiht, noch das Stocken wie bei neuen Vor¬
stellungen zeigt, sondern eine Mittelstellung einnimmt, die der Unsicherheit ent¬
spricht. Beim unmittelbaren Erkennen tritt das Schwanken des Urteils nicht ein,
vielleicht weil die psychischen Indizes des schon Dagewesenen intensiver wirken.
Die Indizes des schon Dagewesenen bewirken dabei faktisch das Urteil bekannt,
werden aber nicht als Kriterien aufgefaßt. So entsteht der Schein des unmittelbaren
Wiedererkennens. Das unmittelbare Wiedererkennen wäre danach ein Bewußtsein
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
des schon Erlebten, das vermittelt wird ohne inhaltlich bestimmte,'an den Inhalt
des als schon erlebt bezeichneten Eindrucks anknüpfende reproduzierte Vor¬
stellungen, das vielmehr ausgeht von lauter formalen. Kriterien, die sich an die An
des Ablaufs der psychischen Prozesse des schon Erlebten anknüpfen; durch diese
Kennzeichen hebt sich das unmittelbar Bekannte scharf ab von dem im Bewußtsein
durch besonders deutliche Kennzeichen charakterisierten Unbekannten (Xoch-
nicht-erlebten). Der Sinn unseres Urteils über das unmittelbar Wiedererkannte
ist mehr der, dieses als für uns schon dagewesen, schon erlebt zu bezeichnen, ab
der, es für „bekannt“ erklären.
Der auch für die Psychopathologie wichtigen Frage nach den Vorstellungs¬
typen suchte Feuchtuxmger (52) sowohl mit Hilfe subjektiver Verfahren (Methode
der unmittelbaren Selbstwahrnehmung) wie objektiver näher zu treten. Es seien
seine Ergebnisse hier angeführt:
Bei Anwendung der Methode der unmittelbaren systematischen Selbstwahr¬
nehmung zur Bestimmung des Vorstellungstypus (direkten Methode) wurden
wohl taktil-motorische Empfindungen, nicht aber auch taktil-motorische Vor¬
stellungen gefunden.
Es zeigte sich, daß Wörter einfielen, ohne daß hierbei irgendwelche Vor¬
stellungen oder Empfindungen vorhanden waren (Wortbewußtseins¬
lagen). Es zeigte sich ferner, daß das Bewußtsein des innerlichen Sprechens
auftrat ohne gleichzeitige Vorstellungen und Empfindungen (Bewußtseins¬
lage des innerlichen Sprechens).
Bei allen Vpn. traten akustische Vorstellungen seltener auf als Reaktionen
des innerlichen Sprechens und seltener als visuelle Vorstellungen.
Die akustischen Vorstellungen waren zum größten Teile WortvorsteUungen,
zum geringeren Sachvorstellungen.
Der wortvisuelle Vorstellungstypüs trat deutlich beim Anhören vorgesprochener
Silben, Wörter und Sätze, beim Anhören und Beantworten von Fragen und beim
Assoziieren hervor, nur undeutlich beim lauten und leisen Lesen und beim Ab¬
schreiben, überhaupt nicht beim Ansehen von Ornamenten und Bildern.
Beim. Abschreiben hatten alle Vpn. mehr sprechmotorische Reaktionen als
beim Anhören von Silben, Wörtern und Sätzen. Einen Einfluß der sensorischen
Qualität der Reize auf die Reaktion konnte F. nicht feststellen.
Beim Anhören sinnloser Silben traten am wenigsten sachvisuelle Vorstellungen
auf, beim Anhören von Wörtern mehr, beim Anhören von Sätzen am meisten.
Beim Anhören von sinnlosen Silben traten mehr sprechmotorische Reaktionen
auf als beim Anhören von sinnvollen Sätzen.
Die besondere Einstellung der Aufmerksamkeit auf taktil-motorische oder
auf visuelle Reaktionen ergab keine deutliche Vermehrung der Zahl dieser Reak¬
tionen.
Die visuelle Vp. (A) konnte besser, deutlicher, leichter und schneller visuelle
Vorstellungen willkürlich hervorrufen als die akustisch-motorische Vp. (B), diese
aber besser, deutlicher, leichter und schneller akustische und taktile Vorstellungen
als A. Es besteht eine Übereinstimmung zwischen dem direkt ermittelten Vor-
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Isserlin, Psychologie und Psychophysik.
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Stellungstypus (Methode der systematischen Selbstwahrnehmung) und dem mit
der Methode der Einprägung und Reproduktion indirekt ermittelten Vorstellungs*
typus.
Das Reproduzieren eingeprägter Zahlen wird bei der akustisch-motorischen
Vp. B. durch die akustisch-motorische Ablenkung des Zählens und Rechnens, bei
der visuellen Vp.A. durch die visuelle Ablenkung des leisen Lesens stärker geschädigt
(modifizierte Eckhardtsche Methode).
Die Versuche mit der Kräpelins chen Methode zur Bestimmung des Vor¬
stellungstypus (Aufzeichnung während einer bestimmten Zeit der Namen von
Sinneseindrücken mit Farben, von Wahrnehmungen im Bereich des Gehörs) er¬
gaben keine gute Übereinstimmung mit den Resultaten der direkten Methode.
Die Kräpelinsche Methode kann zur Bestimmung des Vorstellungstypus
dadurch modifiziert werden, dafi die Vpn. durch die Stellung der Aufgabe veranlaßt
werden, auch wirklich die Vorstellungen hervorzurufen, deren Namen sie nieder¬
schreiben. Eine solche Modifikation der Methode wurde verwendet zur Unter¬
suchung der sachvisuellen (Form-, Größen- und Farben-) Vorstellungen und zur
Untersuchung der wortakustischen Vorstellungen. Die motorische Veranlagung
wurde geprüft durch eine Kombination dieser Methode mit der Methode der Störung.
Die (aus der Kräpelinschen Methode entstandene) neue indirekte Methode
zur Bestimmung des Vorstellungstypus zeigt dieselben Unterschiede der Vpn.
in bezug auf die Zahlen der wortakustischen, sprechmotorischen und sachvisuellen
Reaktionen wie die direkte Methode.
Im Gebiet der Erforschung der Affektäußerungen liegen neue pneumo-
graphische und Pulsuntersuchungen aus dem IFundfechen Institut vor [Drozynski
(41), Rehwoldt (160)], welche den Wert dieser Ausdrucksmethoden weiter dartun
und die IFundfcche Lehre von den Gefühlen stützen sollen.
Viel Interesse findet noch bei den Psychiatern die Untersuchung von Gefühls¬
vorgängen mit Hilfe des Galvanometers. Moravczik (126) hat bei solchen
Studien im wesentlichen die Befunde Veragulhs und anderer bestätigen und inter¬
essante Details (z. B. bei Versuchen in der Hypnose) bringen können.
Sehr besonnen und sorgfältig sind die Untersuchungen von Wells und Forbes
(214). Ihre Versuche suchen zunächst in sehr sorgfältiger Weise (unpolarisierbare
Elektroden, Widerstandsmessungen) die physikalischen und physiologischen Tat¬
bestände festzustellen. Sie kommen in Rücksicht dieser, wie schon andere vor ihnen,
zum Schlüsse, daß sowohl Schwankungen der elektromotorischen Kraft wie des
Widerstandes bei den in Rede stehenden Phänomenen wirksam werden. Als Ursache
sehen sie vor allem Tätigkeit und Sekrete der Schweißdrüsen an. Nach der Art
der Schwankungen glauben sie die durch die Änderungen der elektromotorischen
Kraft von den durch Widerstandsschwankungen bedingten einigermaßen aus¬
einander halten zu können. Ein zweiter Abschnitt der Arbeit beschäftigt sich mit
den Fehlerquellen und der Bedeutung der Einführung einer körperfremden Strom¬
quelle. In dem dritten Kapitel wird die Bedeutung der Galvanometerablenkung
als Test für Gefühlsprozesse im Assoziationsexperiment dargetan und ihre Uber-
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24*
Bericht Aber die psychiatrische Literatur 1911.
legenheit Aber die Zeitmessung betont; ein Anhang endlich berichtet über einige
Untersuchungen an Kranken.
Über die Frage der Sparen interessebetonter Erlebnisse
(Komplexforschung) orientiert in geschickter Weise die Schrift Lipmanm
(119). Ans dem Gebiet der Willenspsychologie sei eine Diskussion von J.cA und
Selz (177, 3, 4) und eine Arbeit von Westphal (218) genannt.
Über IntelligenzprAfungen im Anschluß-an die Methode Binet s be¬
richtet Boberlag (19); die Herstellung allgemeiner psychologischer Profile durct
Tests für die verschiedenen Gebiete des Seelenlebens erstrebt Rossolimo (166),
auch dieser, wie andere vor ihm, gehemmt durch eine bislang anscheinend un¬
vermeidliche Willkür der Verrechnung.
Von der psychophysiologischen Bedeutung der atmosphäri-
schen Verhältnissehandelt eine sorgfältige Arbeit von Gaedeken (62). Erbringt
sehr eingehende Unteruschungen, die den Weg vergleichender statistischer Feststellung
bestimmterVerhältnisse unter denBedingungen verschiedenerZonen, Milieus und Ras¬
sen wählt, um über die einzelnen zusammenwirkenden Ursachen Klarheit zu gewinnen.
Besonders untersucht sind nach dieser Richtung die Häufigkeitskurven von Selbst¬
mord, Kriminalität bestimmter Art und Konzeptionen. Indem das Erscheinen
einer bestimmten Tatsache, z. B. Zunahme der Selbstmorde und der Konzeptionai
im Frühjahr in sehr verschiedenen Milieus und Zonen in gleicher Weise konstatiert
wird, sucht Verfasser die Bedeutung der einzelnen Faktoren — soziale, klimatische,
und unter diesen wieder z. B. Wärme, Licht, Luftdruck usw. — herauszuheben.
Als Hauptergebnis solcher Erwägungen meint Gaedeken feststellen zu können,
daß das Frühjahr in den europäischen Ländern auf das sexuelle Leben einen Einßnfi
hat, der durch den Einfluß sozialer Faktoren modifiziert wird, sich aber aus diesen
allein nicht erklären läßt; in den südeuropäischen Ländern scheint der Einfluß des
Frühjahrs am stärksten zu sein, und es ist charakteristisch für Serbien, daß das
Maximum der Konzeptionen wie das der Selbstmordfälle hier in den Anfang des
Sommers fällt, wohingegen Mord und Totschlag in der Herbstzeit am häufigsten
sind, wo die Festtage der Südslaven ein besonders zügelloses Gepräge haben.
Daß dieser Einfluß des Frühjahrs auf das Seelenleben nicht etwa einer ererbten
Periodizität oder irgendeiner „Tradition“ zuzuschreiben ist, beweist G. ans der
Tatsache, daß bei Bewohnern der südlichen Erdhälbkugcl (auch Kolonisten) die
entsprechenden Frühjahrs- und Sommermonate das Steigen der betreffenden
Zahlen aufweisen. Aus mannigfachen Überlegungen und Nachweisen glaubt G.
ableiten zu können, daß vor allem die chemische Wirksamkeit der gesteigerten
Lichtintensität Ursache der erörterten Erscheinungen ist. Auf zahlreiche inter¬
essante Einzelheiten der inhaltreichen Arbeit kann hier nicht eingegangen werden.
Einen Überblick über das Gesamtgebiet der geopsychischen Tatsachen gib;
wohl zum erstenmal das Buch von Hellpach (79). Der schwierige Stoff wird in
umfassender, gefälliger und kritischer Weise bewältigt; der letzte Teil über Land¬
schaft und Seelenleben enthält besonders Eigenarbeit des Autors.
Wichtige Tatsachen — schon in einem Grenzgebiet nach der Pathologie hin —
bringt die schöne Arbeit von Hacker über den Traum (76). Gegenüber den Phan-
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Isserlin, Psychologie und Psychophysik.
25*
tasien, in denen Adepten Freuds jetzt auf diesem Gebiet schwelgen (186), finden
wir hier ruhige und kritische Beobachtungen. Ich gebe die Ergebnisse H .s im
wesentlichen nach seiner eigenen Zusammenfassung wieder. Danach ist das Seelen¬
leben im Traum etwa in folgenden Zügen verändert:
Wegen des Zurücktretens aller psychischen Funktionen vermag die ganze
noch vorhandene psychophysische Energie den Vorstellungen zugute
zu kommen. Die Vorstellungen werden nach außen projiziert, und da sie in ein
räumliches Sehfeld eingeordnet werden und auch nicht in einer vom Willen ab¬
hängigen Weise auftreten, werden sie realisiert und erscheinen als Wahrnehmungen,
wovon diejenigen Vorstellungen, die auch dem Träumenden als Vorstellungen
erscheinen, zu unterscheiden sind. Die Lebhaftigkeit der Vorstellungen nimmt
mit der abnehmenden Schlaftiefe zu.
Während im wachen Leben schon in der Wahrnehmung die Bedeutung
von Empfindungen bzw. Vorstellungen enthalten ist, tritt im Traum eine Disso¬
ziation von Vorstellungen und Gedanken (im Sinne Külpes
und Bühlen) ein, die dazu führt, daß die Vorstellungen entweder auftreten, ohne
von der Bewußtheit einer Bedeutung begleitet zu sein, oder aber
häufig mit einer Bedeutung, die ihnen nach den Erfahrungen des wachen Lebens
nicht zukommt. Auch die Beziehungen zwischen den einzelnen Traumvorstellungen
untereinander oder auf das träumende Subjekt treten namentlich im tieferen Schlaf
fast völlig zurück.
Diese Erscheinung macht sich besonders geltend bei der Sprache im
Traum, wo oft die Wortvorstellungen nicht als die Träger der ihnen zukommen¬
den Bedeutung auftreten. Das begriffliche Denken tritt hinter dem Denken in der
Anschauung zurück, Objektsurteile sind häufiger als Begriffsurteile, doch sind
alle logischen Funktionen überhaupt erst im weniger tiefem Schlaf wieder in Tätig¬
keit. Der Vorstellungsablauf ist wegen des Mangels eines geordneten
Denkens, wegen des Fehlens der determinierenden Tendenzen und der großen
Ablenkbarkeit der Aufmerksamkeit als ideenflüchtig zu bezeichnen; in der Kegel
tritt eine Vorstellung besonders hervor und ordnet sich durch die Wirkung der
Konstellation andere Vorstellungen unter. An ein solches Bild reiht sich assoziativ,
aber meist ohne jeden kontinuierlichen Übergang, ein neues. Doch haben nament¬
lich in dem leichten Schlaf vor dem Erwachen neue, rasch auftauchende Empfin¬
dungen bzw. Vorstellungen eine rückwirkende Kraft, der zufolge sie das voraus¬
gehende Bild im Sinne des folgenden verändern, so daß scheinbar ganz lange Zu¬
sammenhänge sich abwickeln können.
Hierzu muß Referent bemerken, daß nicht in genügendem Maße zwischen
der Verknüpfung von Vorstellungs- bzw. Gedankenabläufen, die dem Träumenden
als solche erscheinen, und der Verknüpfung der Traumerlebnisse, welche allerdings
letzten Endes auch „Vorstellungen“ sind, unterschieden wurde. Diese letzteren
sind aber nur in bedingtem Maße für die Theorie zu verwerten. Auch bezüglich
der ersteren wären manche wichtige Unterschiede gegenüber der Ideenflucbt,
wenigstens der manischen, hervorzuheben gewesen.
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26*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
Das Selbstbewußtsein tritt im tiefen Schlaf sehr zurück. Obwohl
das Ich als empirisches Zentrum gewöhnlich der Mittelpunkt der Handlungen
ist, sind doch alle Formen von doppelter Persönlichkeit usw. möglich, da die Bewußt¬
heit der Beziehungen auf das Ich fehlt.
Willensregungen kommen namentlich am Morgen öfters und in ver¬
schiedenen Formen vor, doch fehlt ein eigentlicher Willensakt dem Traum völlig,
ebenso wie wirkliche Willenshandlungen, da die Vorstellung von Bewegungen des
Willensimpuls ersetzt.
Die von verschiedenen Autoren beschriebene Unabhängigkeit der Gefühle
von den Vorstellungen ist oft zu beobachten. Die Gefühle scheinen nur durch den
Gefühlston namentlich der Organ- und Temperaturempfindungen bedingt zu sein.
Im tiefen Schlaf treten gewöhnlich die Gefühle gänzlich zurück. Gefühlsbetonte
Vorstellungen haben im Traum keine größere Ideationstendenz als andere Vor¬
stellungen. Funktions- und Determinationsgefühle kommen nur im Morgenschlafe
und auch hier nur recht selten vor.
Beize werden infolge der geringen Aufmerksamkeit nicht identifiziert, und
wegen des Mangels einer Einstellung tritt nicht der ganze ihnen zukommende Vor¬
stellungskomplex ins Bewußtsein. Im tieferen Schlaf haben die Beize eine viel
geringere Wirkung auf den Traumverlauf als im leichten. Die Träume im tiefen
Schlaf bestehen fast ausschließlich aus optischen Vorstellungen.
Die Dauer einzelner Träume kann 10 Minuten betragen, wohl auch mehr, viel
häufiger aber mag sie kürzer sein. Dem Erwachen zur gewohnten Zeit geht wahr¬
scheinlich immer eine längere Reihe von Träumen voraus.
Während im tiefen Schlaf Vorstellungen von weiter zurück
liegenden Erlebnissen stark überwiegen, kommen beim oberflächliches
Schlaf vor dem Erwachen zur gewohnten Zeit die mit der TagesbeschäJtigung
zusammenhängenden Träume mehr zur Geltung, während die Frühträume
ein Übergewicht von Erlebnissen des Traumtages ent¬
halten. Die Anschauung Freuds, daß jeder Traum eine Wunscherfüllung sei, ist
namentlich für die Träume des tieferen Schlafs empirisch nicht als richtig zu er¬
weisen.
In das Gebiet der pathologischen Psychologie hinein führt eine geistvolle
Arbeit von Pick (149) über Störungen des Realitätsurteils, die im Rahmen
dieses Berichts nur genannt werden kann.
2 . Gerichtliche Psychopathologie.
Ref. Karl Wendenburg-Osnabrück.
I. Allgemeine gerichtliche Psychiatrie.
1. Aschafleriburg, G., Sachverständigenerlebnisse. Mtschr. f. Kriminal-
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
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28*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
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Mtschr. f. KriminalpsychoL u. StrafrechtsreL Jahrg. 8, ,
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22. Sello, Irrtümer der Strafjustiz und ärztliche Sachverständige.
Berlin 1911, R. v. Deckers Verlag. G. Schenck, Hofbuch¬
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23. Simons, R., L’dcole positive et ses adversaires. Arch. d’anthropoL
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24. Straßmann, F. (Berlin), Medizin und Strafrecht. (Ein Handbuch
für Juristen, Laienrichter und Ärzte.) Berlin 1911, Dr. P.
Langenscheidt. (S. 30*.)
25. Vorkastner, W. (Greifswald), Wichtige Entscheidungen auf dem
Gebiet der gerichtlichen Psychiatrie. 63 S. 1 M. Halle a..S.
1911, Carl Marhold.
26. Vorkastner, W. (Greifswald), Wichtige Entscheidungen auf dem
Gebiet der gerichtlichen Psychiatrie. X. Aus der Literatur
des Jahres 1910 zusammengestellt. Psych.-neuroL Wschr.
Jahrg. 8, Nr. 1, 3, 4. (S. 29*.)
27. Voß, Beitrag zur Psychologie des Brautmordes. Mtschr. L Kriminal¬
psychoL u. StrafrechtsreL Jahrg. 8, H. 10, S. 622 ff. (S. 31*.)
28. Weygandt, W. (Hamburg), Die Entwicklung der gerichtlichen
Psychiatrie und Psychologie. Mtschr. f. KriminalpsychoL
u. StrafrechtsreL Jahrg. 8, H. 4, S. 209. (S. 29*.)
29. Weygandt, W. (Hamburg), Psychiatrische Begutachtung von
Mördern. Jahrbücher der Hamburgischen Staatskranken¬
anstalten Bd. XV. Hamburg 1911, Verlag von L. Voß.
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Original fro-m
UNIVERSITY GF MICHIGAN^—
Wendenbarg, Gerichtliche Psychopathologie. 29*
30. Ziemte^ Emst (Kiel), Minderwertigkeit, geistige Minderwertigkeit»
verminderte Zurechnungsfähigkeit. Enzyklop. Jahrb. d. ges.
Heilk. Neue Folge, Bd. 8. Herausgeber: Prof. Dr. Albert
Eulenburg-Berlin. (S. 32*.)
Emst Schnitze (21) bekämpft nachdrücklich die gegen die Arzte erhobenen
Vorwürfe, sie wären zu leicht mit der Diagnose Geisteskrankheit bei der Hand.
Gerade in letzter Zeit hat ja die Tagespresse wieder viel von ungerechtfertigten
Aufnahmen und Zurückhaltungen in Irrenanstalten geschrieben und Berichte von
unbegründeten Entmündigungen gebracht. Unter diesen Umständen muß man
es hoch anerkennen, daß Schultze sich die Mühe macht, die dort vorgebrachten
Bedenken zu zerstreuen. Ob’s was hilft, ist freilich eine andere Frage, ich habe
bis jetzt nirgends gelesen, daß man in der Tagespresse von seinen sachlichen Aus¬
führungen Kenntnis genommen hätte.
Weygandt (28) betont mit aller Entschiedenheit, daß die forensische Psychiatrie
ein notwendiger Bestandteil des Gerichtsverfahrens ist, dem freilich aus der Sucht
mancher Ärzte, ihre Kompetenzen weiter auszudehnen, als notwendig ist, oder sich
in übertriebener Weise selbst zu beschränken, noch manche Schwierigkeiten er¬
wachsen.
Placzek (16) beklagt, daß der Stand der Psychiater zu wenig Aktivität bei
der Abwehr der gegen ihn in der Tagespresse gerichteten Angriffe zeigt. Er beklagt
ferner, daß wir einen Teil dieser Angriffe uns selbst zuzuschreiben haben, weil die
erstatteten Gutachten oft unnötigerweise divergieren und führt mehrere Fälle aus
seiner Gutachtertätigkeit an, die diese Tatsachen illustrieren. Auch er verlangt»
daß zur Erstattung psychiatrischer Gutachten möglichst nur psychiatrisch wirklich
erfahrene Ärzte herangezogen werden, und spricht sich gegen den Brauch aus, dem
Gerichtsarzt auch diese Tätigkeit zuzuweisen, obwohl sein eigentliches Arbeitsfeld
doch vorwiegend pathologisch-anatomischer Natur ist.
Vorkastner (26) hat die wichtigsten Entscheidungen auf dem Gebiete der
gerichtlichen Psychiatrie aus dem Jahre 1910 zusammengestellt. Auf diese inter¬
essante und viel praktisch Wichtiges enthaltende Zusammenstellung sei hier ganz
besonders hingewiesen. Der Stoff ist sehr übersichtlich geordnet.
Auf ein Buch möchte ich hier ganz besonders hinweisen, daß zwar in erster
Linie für Juristen geschrieben, aber auch für den Psychiater und den sachver¬
ständigen Arzt von höchstem Interesse ist. Es ist das Buch von Seih (22) über
die lrrtümer der Strafjustiz und ihre Ursachen. Es ist hier nicht der
Ort, die juristische Seite des Buches zu erörtern; ob es sich in den vorliegenden
Fällen wirklich um lrrtümer der Justiz handelt oder nicht, das zu entscheiden ist
Sache der Juristen. Aber einige andere Punkte verdienen um so mehr die Beachtung
der ärztlichen Leserwelt. Das Buch zeigt uns nämlich evident, welch’ ungeheure.
Verantwortung oft der Sachverständige auf sich nehmen muß, wieviel für ein
Menschenleben manchmal davon abhängt, daß er sein Gutachten wirklich nach
reiflichster Überlegung erstattet und daß er in Fällen, die ihm nicht besonders
liegen, lieber einen anderen Gutachter, der auf dem Spezialgebiete mehr Erfahrung
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
30*
Bericht über die- psychiatrische Literatur 1911.
besitzt, verschlagen soll, als nach eigenem, wenn auch bestem, aber doch in
Funkte vielleicht beschränkterem Wissen zu urteilen. Es zeigt uns auch, da£ ••
von größter Wichtigkeit ist, daß der Jurist sich den richtigen Sachverständig
als Gutachter auswählen kann. Da das Buch in einem geradezu glänzenden Lapidar-
Stil geschrieben ist, der trotz prägnantester Kürze alles Wichtige bringt, ist &&
Lektüre ein Genuß. Der ärztliche Leser bekommt ein plastisches Bild davon, v-
es vor Gericht zugeht und worauf es bei der Erstattung forensischer Gutacht-i
ankommt.
Straßmann (24) hat unter Mitwirkung von H. Hofmann und H. Marx
Handbuch für Richter und Ärzte herausgegeben, das den Titel Medizin bi:
Strafrecht führt. Es ist im Langenscheidtschcn Verlage erschienen ah «t
Teil der Enzyklopädie der modernen Kriminalistik und zeichnet sich wie alle d-.
bisher erschienenen Bände durch vorzüglichen Druck und ganz hervorraget
Reproduktion der beigegebenen Abbildungen aus, die größtenteils photographisch-
Aufnahmen nach der Natur sind. Das Handbuch zerfällt in vier Abschnitte. I-:
erste erläutert die Methodik der gerichtlichen Medizin, der zweite schildert de
gewaltsamen Todesarten, der dritte bringt eine eingehende Darstellung der forci-
sischen Psychiatrie (über 200 Seiten), der vierte beschäftigt sich mit den Beziehung:
zwischen den sexuellen Vorgängen und dem Strafrecht und in einem Anhang <:■:
von P. Fraenkel bearbeitet ist, werden die kriminellen Vergiftungen kurz besprocfcti.
Der klare Text wird durch die zahlreichen naturwahren Abbildungen aufs bcs-
illustriert, ganz besonders sei noch auf die vielen eingeschalteten Protokolle n-:
praktischen Fällen hingewiesen. Gerade diese werden durch ihre Anschaulich^:
und vor allem durch das verständliche Deutsch der Gutachten auch dem Xiehtan;
das Verständnis für die Aufgaben der gerichtlichen Medizin erleichtern und da;,
beitragen, daß die gerichtliche Tätigkeit des Arztes bei Richtern und Laien o
Würdigung und Anerkennung findet, die sie verdient. Der gerichtlich-psychiatriset-
Teil besteht vorwiegend aus Einzeldarstellungen praktischer Fälle. Marx.
diesen Teil bearbeitet hat, macht darauf aufmerksam, daß es in der forensisch:
Praxis weniger darauf ankommt, eine psychiatrische Diagnose bei dem zu Unter¬
suchenden zu stellen, als vielmehr auf den Nachweis, daß er geisteskrank oder nid:
geisteskrank ist. Simulation von Geisteskrankheit kommt nach seinen Erfahrne?-::
selten vor, sie wird sich leichter durch Beobachtung in einer Irrenanstalt fest steh:
lassen als durch Beobachtung im Gefängnis. Der § 81 soll deshalb so oft wie möglk:
Anwendung finden. Auch der Vorentwurf des Strafgesetzbuches wird erwähn.
Zum 100 jährigen Bestehen des Wiener Lehrstuhles für gerichtliche Medin:
hat Kolisko (8) einen Band Beiträge zur gerichtlichen Mediii:
herausgegeben. Die Beiträge sollen hauptsächlich der Verwertung des Rie*s-
materials dienen, das die Zweimillionenstadt Wien dem gerichtsärztlichen Instin:
der Universität liefert. Die Einleitung bildet eine Geschichte der W i e n t r
Lehrkanzel für gerichtliche Medizin von A. Häberda, von dem auch der drin*
Aufsatz stammt: zur Lehre vom Kindesmorde. Dieser Aufsatz bringt en-
umfassende Darstellung aller beim Kindesmorde vorkommenden gerichtlid¬
medizinischen Fragen auf Grund eines ungewöhnlich reichen Materiales. Es r.
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Wendenburg, Gerichtliche Psychopathologie.
31*
. deshalb hier besonders darauf hingewiesen. Den Psychiater wird die Arbeit KoKskos
: über Hirnruptur besonders interessieren, die namentlich den Unterschied
zwischen Spontanruptur infolge Blutung und traumatischer Ruptur erörtert und
dem Gerichtsarzt wertvolle Aufschlüsse bringt. Fritz Revier bespricht die forensische
Bedeutung der Selbstbeschädigung, ihre Motive, die nicht selten
krankhafter Natur sind, häufiger aber in der Absicht zu suchen sind, durch Selbst¬
beschädigung vom Militärdienst frei zu kommen, oder durch Vortäuschung von
Unfallfolgen zu einer Rente zu gelangen. Auch die Operationen zur Verhütung
der Konzeption finden ihre Besprechung. Den Schluß des Bandes bildet eine aus¬
führliche Untersuchungsreihe K. Meimers über den Glykogengehalt
der Leber bei den verschiedenen Todesarten. Der Glykogenbefund ist nament¬
lich dann wichtig, wenn es sich um die Entscheidung der Frage handelt, ob der
Tod rasch oder langsam eingetreten ist, ob Verstümmelungen intra vitam oder
post mortem entstanden sind, doch ist die Methode der Untersuchung der Leber
auf Glykogen, die chemische wie namentlich die mikroskopische, so kompliziert,
daß sie nach M. nur in der Hand des mit ihr vertrauten Arztes zu bündigen Schlüssen
berechtigt. Druck und Ausstattung des Bandes, dem hoffentlich bald viele von
gleicher Güte folgen, genügen allen Anforderungen.
Lochte (12) macht auf einige Fehler aufmerksam, welche häufig bei Aus¬
stellung von ärztlichen Attesten begangen werden. Zunächst das Format
des Papieres: Man schreibe nicht auf kleinen oder bunten Briefbogen oder gar auf
Rezeptformularen. Man schreibe ferner deutlich und gebrauche deutsche Aus¬
drücke, hüte sich, subjektive Angaben, deren Wahrheit nicht bewiesen ist, als Tat¬
sachen anzuführen und der Beurteilung zugrunde zu legen und lasse sich nie mals
von falscher Humanität leiten. Dies gilt namentlich der Begutachtung nervöser
Personen. Zeugnisse brauchen sich nicht nur auf die Bezeugung unmittelbar wahr¬
nehmbarer Tatsachen zu beschränken, sondern haben auch die sachverständige
Würdigung der Folgen dieser Tatsachen für die Gesundheit zu enthalten. Im zu-
■ v künftigen Strafrecht werden auch die Totenscheine wie die ärztlichen Zeugnisse
behandelt.
Voß (27) geht mit einem psychiatrischen Gutachten über einen Schwach¬
sinnigen, der seine Braut zu erschießen versucht hatte, scharf ins Gericht. Er ver¬
mißt in dem von dem Meuizinalkollegium des Hamburgischen Staates erstatteten
Gutachten namentlich den Nachweis des Schwachsinns durch Erhebung einer
genauen Vorgeschichte, ein Einwand, der Dicht ungerechtfertigt erscheint,
wenn das Gutachten so erstattet ist, wie V. es referiert.
Nach Lochte (11) liegt kein Grund vor, den Kreis der Tatsachen, die der ärzt¬
lichen Schweigepflicht unterworfen sind, zu erweitern oder das bestehende
Strafmaß zu erhöhen. Erwünscht wäre, wenn auch im V.-E. zum Strafgesetz¬
buche zum Ausdruck käme, daß gelegentlich höhere sittliche Pflichten die Preis¬
gabe des Berufsgeheimnisses an eine beteiligte Person fordern können.
- Heilbronner (5) rät in seiner Arbeit dem Gutachter dringend zur Vorsicht
> bei der Diagnose Epilepsie in Kriminalfällen. Dies gilt in gleicher Weise
für die großen und kleinen Anfälle, besonders aber für die psychischen epileptischen
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32*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
Veränderungen, zu denen auch die Dämmerzustände gehören. Allen sibjtkrv:
Angaben stehe man mit Mißtrauen gegenüber und verwerte nur Selbstbeob*£h < ?i
zu ausschlaggebenden Schlüssen im Gutachten.
Eine umfassende Darstellung des Begriffs und der rechtlichen Befarq
der Minderwertigkeit gibt Zierrike (30) in Eulenburgs Enzyklopädie
Jahrbüchern. In dem Aufsatz findet sich auch zahlreiche Literatur angts-iH
Die Frage der Minderwertigkeit ist in diesen Berichten so oft besprochen, dai ; J
eine eingehende Inhaltsangabe erübrigt.
Rittershaus (19) hält die sogenannte Komplexforschung noch -‘i
für juristisch-kriminalistische Zwecke geeignet und setzt sich namentlich ult J
Lvpmanns chen Untersuchungen auseinander.
Einen guten Einblick in die französische gerichtliche Psychiatrie gwäl
das kleine Buch von Dubuisson und Vigouroux (3). Es bringt im ersten Ti
positiven Theorien des Strafrechts, der Verantwortlichkeit und der Geistesirr
heiten, der zweite klinische Teil beschäftigt sich praktisch mit den Beziehst
zwischen Kriminalität und Geisteskrankheit. Zahlreiche praktische Fälle ühistri
die Formen der Geisteskrankheiten und ihre Begutachtung in Strafrechts*^
Auch die Simulation wird erörtert.
Mit Recht beklagt Raecke (18) die Übertreibungen, Einseitigkeit« a
Entstellungen auf dem Gebiete der sexuellen Perversitäten i
sich durch eine halb wissenschaftliche Literatur in den Vorstellungskreis der h
und Richter in den letzten Jahren eingeschlichen haben und zum Teil auch scii
im Publikum ihre unheilvolle Wirkung geltend machen. Er betont, daß nur erli
liehe Beherrschung der klinischen Psychiatrie, aber nicht die Beschältigune 1
vagen Hypothesen den medizinischen Gutachter befähigt, sexuelle Delikte nc
zu beurteilen, und daß die bisherige Einteilung der sexuellen Delikte in Masochist
Sadismus, Fetischismus usw. ganz unwissenschaftlich ist, weil sie nur den zußüJ
Inhalt des perversen Gedankenganges, nicht aber die Art seiner Entstehung be¬
sichtigte. Er bevorzugt die Ztehensche Bezeichnung der sexuellen Perversni
als Parhedonien und berichtet unter diesen Gesichtspunkt über 60 Sexualverbnti
deren Täter in der Kieler Klinik zur Beobachtung gekommen sind. Er teilt sin
in konstitutionelle Parhedonien, hierher gehören die echten Konträrempfindea.
in assoziative (Zwangsvorstellungen), implantierte (Verführung) und kos?
satorische (Mangel an normaler Befriedigung) Parhedonien. Die letzten fe*
Gruppen möchte Raecke besser unter dem Sammelnamen Situationsparhediä
zusammengefaßt wissen. Bei seinem Material handelte es sich nur 2 mal um
stitutionelle, 9 mal um assoziative und 15 mal um Situationsparhedonien, lo 3
lag eine Psychose dem Sittlichkeitsverbrechen zugrunde.
Glaser (4) betont, daß die leichten Formen des zirkulären Irrest
eine erhöhte forensische Bedeutung haben, weil sie meist längere Zeit uneria3
bleiben, während die schweren rasch zur Anstaltsaufnahme führen. Kamectä
die Hypomanen neigen zu strafbaren Handlungen infolge ihrer Selbstüberschits'l
ihres gesteigerten Tätigkeitsdranges und ihrer Reizbarkeit. Auch in zivibeefcltf
Hinsicht ist sowohl die Hypomanie wie die Hypomelancholie nicht unbedesk^
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Wendenbarg, Gerichtliche Psychopathologie.
33*
eranr :■
afe die Geschäftsfähigkeit fast immer beeinträchtigt ist. Meist genügt die Einsetzung
ramer Pflegschaft zur Korrektur der Störungen der Geschäftsfähigkeit. Von der
ltmündigung soll man im allgemeinen absehen, da sie die Kranken unnötig erregt
«rrad der Zustand kein dauernder zu sein pflegt. In Fällen, wo dies nicht zutrifft,
ckircflß aber die Entmündigung eingeleitet werden, selbst auf die Gefahr hin, daß die
mkychischen Störungen dadurch eine Verschlimmerung erfahren,
viv- Möllers (14) Arbeit über die geistigen Störungen nach Sch lag -
n f ä 11 e n und ihre gerichtsärztliche Bedeutung ist eine Literaturzusammen-
5 «.;;: ettung, die im Anhänge ein Literaturverzeichnis von 48 Nummern über dieses
r- aema bringt. Störungen des Gedächtnisses, der rückläufigen Assoziation und
» Urteils von leichter Kritiklosigkeit bis zur völligen Urteilslosigkeit finden sich
- allen Graden nach Schlaganfällen. Wahnideen, Zwangsvorstellungen und Sinnes-
. [rT . .uschungen sind selten, dagegen findet man regelmäßig Afiektstörungen, Apathie
. r - 1er Reizbarkeit und Erregungszustände. Schrift und Sprache leiden je nach dem
!ifi . tz des Herdes mehr oder weniger, rechtsseitig Gelähmte sind häufig beider Aus-
r% ., rucksmittel beraubt. Kriminelle Handlungen sind bei der Dementia postapoplectica
^„...cht allzuhäufig. Die Affektstörungen führen manchmal zu Gewalthandlungen
fgen Angehörige und Umgebung, die gemütliche Stumpfheit läßt die Kranken
: sweilen Sittlichkeitsdelikte begehen. Je nach dem Grade der psychischen Störungen
■ ’ ird man den § 51 in Anwendung bringen müssen oder nicht, das Gros fällt unter
,1 ie Grenzzustände, die der Vorentwurf des Strafgesetzbuches berücksichtigt, die
• I ber das geltende Recht noch nicht kennt. Die meisten Apoplektiker sind nicht
aftfähig (§ 487 StPO.), Aufschub der Haft kann ihnen nicht bewilligt werden
" § 488), da die Störungen gewöhnlich nicht heilbar sind. Häufig werden sie nach
56 StPO, und § 393 ZPO. unbeeidigt zu vernehmen sein, weil sie nicht das ge-
ügende Verständnis für Wesen und Bedeutung des Eides haben. Die Geschäfts-
ihigkeit in zivilrechtlicher Hinsicht kann leiden, kann aber auch erhalten bleiben,
' gelbst Aphasische sind manchmal imstande, ihre Angelegenheiten zu besorgen.
l! ‘' st der Apoplektiker in seinen geistigen Leistungen geschwächt, so wird je nach
v age des Falles eine Pflegschaft einzusetzen oder die Entmündigung anzuordnen
ein. Ehescheidung nach §1569 BGB. kommt bei Dementia postapoplectica selten
; ' u Frage, da es sich meist um ältere Leute handelt, manchmal werden sie aber in
L igennütziger oder gewinnsüchtiger Absicht zur Eingehung einer Ehe überredet.
Nichtiger ist die Frage nach der Testierfähigkeit, die nach einer Apoplexie nicht
-' hne weiteres aufgehoben zu sein braucht. Andererseits ist gerade die bekannte,
sichte Besti mm barkeit der vom Schlage Getroffenen ein wichtiges Moment, das
ri ' om Arzte nicht übersehen werden darf. Besondere Schwierigkeiten macht die
Beurteilung der Testierfähigkeit bei Aphasischen; diese sind nicht testierfähig,
venn sie auch der Schrift beraubt sind, da ein Testament schriftlich oder durch
i- nündliche Erklärung, nicht aber durch Zeichen errichtet werden darf (§§ 2243,
^ !238, 2247 BGB., § 188 GVG. und § 178 FGG.).
'I II. Strafrechtliche Psychiatrie,
i 1. Eingabe des Vorstandes der Ärztekammer für die Provinz
^ Brandenburg und den Stadtkreis Berlin betreffend den
Zeitschrift für Psychistrie. LXIX. Lit. C
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UNIVERS1TY OF MICHIGAN
34*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
Entwurf zu einem deutschen Strafgesetzbuch- Ärztehr::
für die Provinz Brandenburg und den Stadtkreis Be::
Berlin, Mai 1911. (S. 38*.)
2. Bericht der Kommission der Ärztekammer für die Rev* i
des Strafgesetzbuches. Ärztekammer für die Provinz Bnrnd :
bürg und den Stadtkreis Berlin. Berlin, Mai 1911. ($. £'
3. Birnbaum, K., Psychiatrie und Strafrechtspflege vor 75 Jabi
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UNIVERSETY OF MICHIGAN
tenrs »-
Wendenburg, Gerichtliehe Psychopathologie.
35*
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1.
des-
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UNIVERSETY OF MICHIGAN
36*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
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gemeingefährliche Geisteskranke und der Vorentwurf:
einem deutschen Strafgesetzbuch. Arch. f. Psych. u. Ner-:
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Jahrg. 8, H. 9, S. 555.
31. Simon (EUwangen), Unzurechnungsfähigkeit, geminderte j
rechnungsfähigkeit, Trunksucht — in einem kficftJ
Strafgesetzbuch. Mtschr. f. KriminalpsychoL u. Sn
rechtsref. Jahrg. 7, H. 10, S. 593.
32. Stransky, Erwin, Das Aßektdelikt. Separatabdruck au» J
„Allgemeinen österr. Gerichts-Zeitung“ 1911, Nr. 8 a
S. 1 ff. (S. 39*.)
33. Thomsen, Andreas, Gesetzgeberische Bekämpfung neuzeiii j
Delikte. Nebst einem Vorschlag betr. Titel und Teun
der Entwürfe zu einem Strafgesetzbuch. Mtschr. f. Krim
psychoL u. Strafrechtsref. Jahrg. 7, H. 11/12, S.
34. Wagner v. Jauregg (Wien), Der ZurechnungsunfähigkeitsparnrJ
im Strafgesetzentwurf. Wien. med. Wschr. Nr. 3 -
(S. 41*.)
35. Weiter, Hugo, Die schwere Körperverletzung im jetzigen Sn
recht (§ 224 StGB.) vom gerichtsärztlichen Standpuul
Friedreichs BL f. gerichtL Med. H. 1—3. (S. 38*.)
36. Wellstein, Die Strafprozeßreform in der Kommission des K-
tags. Mtschr. f. KriminalpsychoL u. Strafrechtsref. Jah-
H. 11/12, S. 695 ff.
37. Wollenberg (Straßburg), Der Vorentwurf vom deutschen S"i
gesetzbuch, Vjhrschr. f. gerichtL Med. u. üffentL Saniti 1
• 1911 Bd. 41, 2. Supplementheft.
38. Ziemke, Emst (Kiel), Der § 56 StGB, und seine Beziehung' 1
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UMIVERSITY OF MICHIGAN
Wendenburg, Gerichtliche Psychopathologie.
37*
'ULUU.'
Schwachsinn. Mtsohr. I. Kriminalpsychol. u. Strafrechtsref.
Jahrg. 8, RÖ, S. 266. (S. 39*.) >_kLJ
- in
ja i- Unser heutiges Strafrecht enthält keine einzige Vorschrift über£die Sicherung
. r Gesellschaft vor Geisteskranken, die außer Verfolgung gesetzt oder freigesprochen
.. ld. In Preußen beruht die Möglichkeit, gegen solche Geisteskranke Sicherungs-
aßregeln zu ergreifen, noch auf dem Allgemeinen Landrecht (§ 10, Titel 17,
>il II). E. Schnitze (28) macht auf den § 6 des Gesetzes zum Schutze der persön-
en e hen Freiheit vom 12 . II. 1860 aufmerksam. Nach diesem sind Personen in Ver-
^.vthrung zu nehmen, wenn der eigene Schutz oder die öffentliche Sicherheit dies
fordert. Es gestattet die Verwahrung von geisteskranken Verbrechern, die nicht
meingefährlich sind. Sch. kritisiert dann die verschiedenen Ministerialerlasse
~etzfc ; 3. 6 . u. Io. 12 . 01, 6 . 1 . 02, 20. 6 . 04) über die Entlassung geisteskranker Ver-
tjVCM- • scher und beklagt das geringe Verständnis untergeordneter Polizeiorgane für
ychiatrische Dinge, namentlich die Scheu vor irgend welchen Kosten führt bei
, nen oft zu krassen Mißständen. Nach dem § 65- des neuen Gesetzes können Leute,
} sich einer strafbaren Handlung schuldig gemacht haben und geisteskrank oder
rmindert zurechnungsfähig sind, auf Gerichtsbeschluß in einer Anstalt verwahrt
■fljnifC-rden, wenn sie die öffentliche Sicherheit zu gefährden drohen. Hierzu bemerkt
hultze , daß freigesprochene Minderwertige und solche, die nur eine Person gefährdet
, _.ben, nach jenem Paragraph nicht verwahrt werden können, und daß die Ein-
isung auch ohne Anhörung eines ärztlichen Sachverständigen geschehen könnte.
:uü? gse Mängel erscheinen ihm beachtenswert. Zum Schlüsse fordert er für jeden
rwahrten einen Fürsorger, der seine Interessen während der Verwahrung vertritt,
die Einführung der bedingten Aussetzung der Verwahrung.
j.. In dem Verlangen nach strafrechtlicher Berücksichtigung der vermin*
^ ' rten Zurechnungsfähigkeit möchte Kahl (19) kein -Zeichen
)lich- lehmender Degeneration, sondern vielmehr eine verfeinerte Höhenlage des Straf-
v ,", £'hts auf der Linie der Individualisierung des Verbrechertums erblicken. In England
ifl 0 ?ll!$'d man der v. Z. allein durch die Freiheit des richterlichen Ermessens und dem
. ^ ehanismus des Strafvollzuges gerecht, in Frankreich ist es bisher bei dem Wunsche
'■ >h geeigneten Anstalten für die Leute mit ResponsabilitG limitöe geblieben,
hrend in der Schweiz die Kantonalgesetzgebung seit langem die v. Z. berück-
etzffl? ^ ltigt und Italien dafür eine minutiöse Strafskala besitzt. In Österreich be-
äftigt sich der neue Entwurf des Strafgesetzes mit der v. Z., das geltende Hecht
^ int sie nicht, ähnlich liegen die Verhältnisse in Ungarn und Serbien. Griechenland
, vennt sie seit langem an, auch in Rußland, Finnland, Schweden und Norwegen
r 1 in Dänemark wird sie berücksichtigt. In Deutschland ist sie schon zu Zeiten
ll. Stra^ Partikularstrafgesetzgebung erwogen und z. T. auch eingeführt, also keines-
p etwas Neues. Zu allen Zeiten und auch heute dreht sich der Streit hauptsäch-
5 um die vier Grundfragen des Begriffs, des Strafprinzips, des Strafvollzuges
*1 der Sicherung.
iirf
Marx (24) hält die strafrechtliche Anerkennung der geistigen Minder-
rtigkeit für eine logische und gerechte Forderung, hält aber die Form,
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38*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
in der sie im V.-E. und in dem Komischen Gegenentwurf anerkannt wird, nicht für
glücklich. Nach ihm liegt der Schwerpunkt der strafrechtlichen Behandlung geistig
Minderwertiger im Strafvollzüge, und wir bedürfen deshalb eines Gesetzes, das den
Strafvollzug und die Fürsorge für entlassene Strafgefangene regelt, damit eine
zweckentsprechende Behandlung der geistig Minderwertigen stattfinden kann.
Im Strafgesetzbuch wird man ihnen am besten durch generelle Einführung mildernder
Umstände gerecht werden, wie sie der Gesetzentwurf vorsieht.
Neben dem deutschen Verein für Psychiatrie, der seine Vorschläge zur Straf¬
rechtsreform auf der Stuttgarter Tagung durch Cramer formulieren ließ, hat auch
die Berliner Ärztekammer (1, 2) Stellung zum V.-E. genommen. In ihrer Eingabe
an den Staatssekretär des Reichsjustizamtes verlangt sie vor allem Schutz für den
ärztlichen, operativen Eingriff durch einen Zusatz zu § 67 des V.-E.s. Außerdem
hat sie noch zu den Paragraphen über das ärztliche Berufsgeheimnis, über die
widerrechtliche Behandlung von Leichen, über unberechtigte Abgabe von Arznei
und über Verletzung von Schutzmaßregeln gegen die Verbreitung ansteckender
Krankheiten Stellung genommen.
Von den im V.-E. vorgesehenen Strafschärfungen kann sich Glau-
ning (7) keinen praktischen Erfolg versprechen. Nach seinen Erfahrungen als
Strafanstaltsbeamter bliebe der §18 am besten ganz fort.
Auch Heinicke (11) wendet sich gegen die Einführung von Strafschärfungen
bei der Strafvollstreckung, wie sie der V.-E. vorsieht. Sie sind geeignet, die Gesund¬
heit der Inhaftierten schwer zu schädigen, weil z. B. die Kostentziehung oder
Schmälerung zu einem erheblichen Abbau der eigenen Körpersubstanz führen muß,
und weil sie bei dem meist recht degenerierten Material keine bessernde Wirkung
auf die Psyche haben würden. Außerdem wird durch gerichtliche Anordnung von
Strafschärfungen der Strafanstaltsbeamte seiner wichtigsten Disziplinarmittel
beraubt.
Heilung (12) sieht in der Tatsache, daß nur ein kleiner Teil der Päderastec
zur Verantwortung gezogen wird, ebensowenig einen Grund zur Beseitigung des
§175 wie in der Möglichkeit, daß durch das Vorhandensein eines solchen Para¬
graphen das Erpressertum großgezogen wird. Wenn er sich trotzdem für Abschaffung
des § 176 (250 d. V.-E.) ausspricht, so tut er dies nur aus dem Grunde, weil er aus
der homosexuellen Betätigung keinen Schaden für das Individuum oder den Staat
herleiten kann. Außerdem darf der Gesetzgeber aus der großen Zahl von moralisch
tadelnswerten Unzuchtsakten nicht einige wenige herausgreifen und unter Strafe
stellen. Dies erscheint ihm willkürlich und ungerecht.
Hiller (13) spricht sich gegen die Strafbarkeit der Homosexualität aus und
bekämpft namentlich die Anschauungen des Vorentwurfs.
Eine Zusammenstellung der von den Psychiatern bisher am V.-E. geübten
Kritiken bringt Göring (8). Das Literaturverzeichnis enthält 51 Nummern.
Eingehend begründet Weller (35) die im § 224 StGB, aufgezählten Möglich¬
keiten, durch deren Eintritt die sie verursachende Verletzung zu einer schweren
gestempelt wird. Die Leser dieser Zeitschrift interessieren natürlich vor allem
seine Ausführungen über den Verfall in Geisteskrankheit. Ref. kann aber
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Wendenbarg, Gerichtliche Psychopathologie.
39 *
nicht seinen Ausführungen beistimmen, daß darunter jeder dauernde, krankhaft
veränderte Geisteszustand zu verstehen ist, auf den auch § 1910 II. BGB. zutrifft;
denn diese Bestimmung sagt nichts über die Schwere der unter sie fallenden Psychose.
Gegen die Fassung des entsprechenden Paragraphen im V.-E. des StGB, hat Verf.
erhebliche Bedenken. Die lange Dauer des Folgezustandes der Verletzung wird
nicht ausdrücklich gefordert. Vor allem ist seine Fassung zu allgemein gehalten
mit der nicht zutreffenden Begründung, die Kasuistik des §224 StGB, sei nicht
erschöpfend. Verf. fürchtet, daß die neue Fassung eine sehr verschiedene Beurteilung
des Sachverhaltes zuläßt und dadurch eine große Rechtsunsicherheit herbeiführt.
Die Reform soll daher von der alten Fassung ausgehen, mit der Verf. sich, soweit
sie die Folge der Verletzung betrifft, einverstanden erklärt.
(Emst ScÄultee-Greifswald.)
Ziemke (38) äußert sich dahin, daß die Einsicht, welche der § 66 RStG.
erfordert, lediglich das kriminelle Unterscheidungsvermögen und nicht die Fähigkeit,
das Unmoralische der strafbaren Handlungsweise einzusehen, bedeutet. Der jugend¬
liche Täter muß im konkreten Falle unterscheiden können, ob seine Tat strafbar
ist oder nicht. Dies Unterscheidungsvermögen ist von einem gewissen Grade der
lntelligenzentwicklung abhängig, und es ist nun die nicht immer leichte Aufgabe
des Sachverständigen, festzustellen, ob dieser Grad der Intelligenzentwicklung
von einem Jugendlichen erreicht ist oder nicht. Dieses fehlt meist nur bei höheren
Graden des Schwachsinns und deshalb ist den meisten jugendlichen Kriminellen
die Einsicht zuzusprechen. Eine Frage ist dabei, ob sie, trotz vorhandener Einsicht,
zurechnungsfähig sind. Diese Frage kann sehr oft verneint werden müssen.
Die Geringfügigkeit, die Partialität und die Unbeständigkeit der pathologischen
Symptome machen nach Birnbaum (4) die Hauptschwierigkeiten bei der strafrecht¬
lichen Beurteilung der Degenerierten. Bei nachgewiesener psychopatischer
Durchschnittsverfassung muß die Zurechnungsfähigkeit als herabgesetzt gelten,
Steigerung einzelner, schon in der Durchschnittsverfassung vorhandener seelischer
Zustände kann oft die Veranlassung eines Deliktes sein und diese zeitlich begrenzten
Verstärkungen der Psychopathie können die Zurechnungsfähigkeit noch weiter
herabsetzen, ja aufheben. In foro empfiehlt es sich, den psychologischen Gesamt¬
eindruck einer degenerierten Persönlichkeit der Beurteilung zugrunde zu legen.
Mit Ausdrücken wie partielle oder bedingte Zurechnungsfähigkeit ist da wenig
anzufangen.
iStransky (32) behandelt die Affektdelikte in Beziehung zum öster¬
reichischen und deutschen Vorentwurf zum Strafgesetz. Beim Kindesmord bemerkt
er die glückliche Fassung des österreichischen Entwurfs vor dem deutschen, da
in ihm die von Hocke an dem deutschen Entwurf getadelte Unterscheidung zwischen
ehelich und unehelich fortfällt und außerdem an Stelle des unbestimmten Begriffes
„gleich nach der Geburt“ die biologische Bestimmung der Geburt und ihrer Nach¬
wirkungen gesetzt ist.
Bei einem Manne, Epileptiker, der sich und sein Töchterchen mit Leuchtgas
zu vergiften versucht hatte, bestand nach dem Abklingen der Gasvergiftung Er¬
innerungslosigkeit. Es handelte sich nun um die Frage, ob diese Erinnerung 8 *
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40 *
Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
losigkeit eine Folge der Epilepsie oder der Gasvergiftung wäre. Hoffmann
und Marx (16) entschieden sich in ihrem Gutachten für die letzte Annahme und
faßten die Amnesie als retrograde auf. Exkulpation könnte also nicht stattfinden.
Trotzdem wurde der Angeklagte freigesprochen, weil Leppmann in der Verhandlung
zur Ansicht kam, daß man einen epileptischen Dämmerzustand nicht ausschließen
könnte.
Keferatein (20) berichtet über einen hereditär belasteten Menschen, der aus
Eifersucht seine Braut zu erschießen versuchte und dann sich selbst zwei Schüsse
in den Kopf beibrachte. Er verliert ein Auge, wird aber wieder hergestellt und be¬
hauptet nun, in einem Zustande geistiger Verwirrung gehandelt zu haben, und daß
ihm die Erinnerung an die Tat fehle. Es konnte nachgewiesen werden, daß er schon
vor der Tat alkoholintolerant gewesen war und nach Alkoholgenuß
die Erinnerung verloren hatte, und daß er die Tat in einem derartigen Zustande
begangen hatte. Es wurde deshalb angenommen, daß seine Angaben glaubwürdig
wären, worauf er vom Gericht freigesprochen wurde.
Seelig (29) vergleicht die Bestimmungen über die Jugendlichen im
alten Strafgesetz mit denen des Vorentwurfs. Verbesserungen möchte er in dem
Hinaufrücken der Altersgrenze auf das 14. Lebensjahr, im Fortfall des Diszemements
nach §66 und in der Einführung von Erziehungsmaßnahmen anstatt oder neben
einer Freiheitsstrafe erblicken, doch müßte im letzten Falle Erziehung die Kegel,
Strafe die Ausnahme bilden. Freiheitsstrafen gegen Jugendliche könnten nach
seiner Auffassung auch durch den Aufenthalt in Heil- oder Erziehungsanstalten
als vollzogen gelten, eine Ansicht, die von vielen bekämpft wird, die eine strikte
Trennung der Strafmaßnahmen von denen zu Heil- oder Erziehungszwecken für
notwendig halten.
Fürstenheim (6) unterscheidet bei den jugendlichen Angeklagten drei Gruppen.
Die eine umfaßt die Angeklagten mit ernsterer krankhafter Beeinträchtigung der
Geistestätigkeit, die zweite jugendliche Kriminelle mit leichten angeborenen oder
erworbenen Defekten, die dritte die Gesunden. Auf die erste Gruppe ist meist der
§ 61 anzuwenden, zu ihr gehören z. B. jugendliche Epileptiker, Debile und Hysteriker,
die unter Alkoholwirkung kriminell geworden sind. Bei der zweiten Gruppe handelt
es sich meist um einen Erziehungsschaden auf dem Boden einer krankhaften Ver¬
anlagung, die hierher gehörenden Kriminalen tragen meist zahlreiche Degenerations¬
zeichen und Zeichen psychopathischer Konstitution. Hier kann der § 61 nur unter
besonderen Umständen angewandt werden. Eine besondere Gruppe bilden denn
noch die Jugendlichen, bei denen mangels jeder Erziehung das tatsächliche Wissen
um die Strafbarkeit einer Handlung fehlt oder nicht zur Geltung kommen kann.
Diese besitzen nicht die notwendige Einsicht und sind deshalb nach § 66 zu exkni-
pieren.
Haymann (10) vermehrt die in der deutschen Literatur nicht allzu häufig
beschriebenen Fälle von Selbstanzeigen Geisteskranker durch einige Bei¬
spiele. Er unterscheidet Selbstanzeigen Geisteskranker infolge Störung des Be¬
wußtseins, Störung des Affektlebens und Störung der Denkprozesse. Von den inter¬
essanten Fällen, die Haymann mitteilt, zeigt besonders der zweite, wie schwer
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Wendenburg, Gerichtliche Psychopathologie.
41 *
es oft ist, bei Selbstanzeigen notorisch Geisteskranker die Schnldfrage zu klären.
Ein Mann, der vor 4 Jahren der Brandstiftung beschuldigt und aus Mangel an Be¬
weisen freigesprochen war, hatte einen Schädelbruch erlitten mit nachfolgender
traumatischer Demenz. In diesem Zustande krankhafter Störung der Geistes -
tätigkeit bezichtigte er sich nun jenes Verbrechens, dessen er einst angeklagt war.
Das neue Verfahren mußte aber wieder eingestellt werden, weil der Mann geistes¬
krank und nicht verhandlungsfähig war, so daß die Schuldfrage nach wie vor unge¬
klärt blieb. Auch in dem fünften Falle lagen ähnliche Schwierigkeiten vor, diesmal
handelte es sich um einen von Jugend auf pathologischen Menschen, der an Pseudo¬
logia phantastica und wahrscheinlich auch an Epilepsie litt und sich .des Verrats
militärischer Geheimnisse bezichtigte. Hier konnte nur eine genaue Beobachtung
die Wahrscheinlichkeit eines pathologischen Ursprungs der Selbstanzeige erbringen.
Der Mann wurde deshalb und aus Mangel an Beweisen freigesprochen.
A. Leppmann (22) teilt einen interessanten Fall von falscher Selbst-
bezichtigung mit. Ein junger Mann hatte sich der Urkundenfälschung
und Unterschlagung bezichtigt, war verurteilt, hatte seine Strafe verbüßt und
betrieb danach das Wiederaufnahmeverfahren, weil er unschuldig verurteilt wäre.
Er hätte in Wirklichkeit keine der Straftaten begangen. L. kam auf Grund seiner
Nachforschungen zu dem Gutachten, daß der Verurteilte zur Zeit der Anklage
geisteskrank gewesen wäre, und daß es nicht ausgeschlossen sei, daß er sich infolge
krankhafter geistiger Vorgänge zu Unrecht falsch bezichtigt hätte. In der Wieder¬
aufnahmeverhandlung stellte sich heraus, daß der Angeklagte den größten Teil
der in Frage kommenden Straftaten unmöglich begangen haben konnte, und er
wurde als unschuldig freigesprochen.
Ein 17 jähriger Kaufmannslehrling, dessen Krankengeschichte Juliusburger (17)
mitteilt, war nach einer Szene mit seiner Muttör, die ihm übertriebene Vorwürfe
machte, in der darauf folgenden Nacht plötzlich mit der Vorstellung erwacht, er
hätte gestohlen. Er benahm sich am anderen Morgen etwas anders als sonst, ohne
gerade aufzufallen, ging aber nicht ins Geschäft, sondern schrieb Briefe an seinen
Handlungsherm, in denen er sich selbst bezichtigte, an seine Mutter, er befände
sich auf einer Geschäftsreise, und fuhr dann zu Verwandten, die ihn festhielten.
Am Abend kehrte die richtige Orientierung wieder zurück, die Dauer der Psychose
währte also kaum 24 Stunden. Die in diesem Zustande geschriebenen Briefe zeigten
die Flüchtigkeit manischer Briefe, und die Schriftzüge waren von denen, die der
Patient im normalen Zustande schrieb, deutlich verschieden.
Wagner von Jauregg (34), der den Zurechnungsunfähigkeitsparagraphen
im österreichischen Strafgesetzentwurf kritisiert, sieht als wesentliche Vorzüge
der Neufassung dieses Paragraphen an, daß er eine zeitgemäße Nomenklatur der die
Zurechnungsfähigkeit ausschließenden geistigen Störungen einführt, und daß er,
wenigstens in der Theorie, die ärztlichen von den richterlichen Kompetenzen ab¬
grenzt. Auch daß die strafausschließende Wirkung geistiger Störungen von ihrer
Art und ihrem Grad abhängig gemacht und die Beurteilung der Zurechnungs¬
fähigkeit in Beziehung auf die konkrete Tat gefordert wird, erscheint ihm als wesent¬
licher Fortschritt.
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42 *
Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
III. Kriminal-Anthropologie und -Psychologie.
1. Behrend , Gewohnheitsverbrecher in England. Mtschr. f. Kriminal-
psvchol. u. Strafrechtsref. Jahrg. 8, H. 5, S. 290 ff.
2. Bell, Clark (New York), Drunkenness as a defence for homicide.
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3. Birnbaum, Die krankhafte Willensschwäche und ihre Erscheinungs¬
form. Wiesbaden, Bergmann. 75 S. (S. 51*.)
4. Birnbaum, K., Einige wichtige Gesichtspunkte für die strafrecht¬
liche Beurteilung konstitutionell-psychopathischer Personen.
Mtschr. f. KriminalpsychoL u. Strafrechtsref. Jahrg. 7,
H. 10, S. 606. (S. 51*.)
5. Buchbinder (Lahr in Baden), Einige nach epileptischen Krampf¬
anfällen beobachtete körperliche Veränderungen vorüber¬
gehender Art. Beitrag zur gerichtsärztlichen Diagnose
epileptischer Krampfanfälle. Vjhrschr. f. gerichtL Med. u.
öffentl. Sanitätsw. Bd. 41, H. 2, S. 263. (S. 52*.)
6. Del Oreco, F ., La mentalitä criminala. Rivista di psicologia appli-
cata 7 an., no. 5, p. 356.
7. Deroubaix (Proidmont), Tentative d’assassinat; dflire de Jalousie
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8. du Lac , A., Une mercuriale beige. Arch. d’anthropol. crim. p. 119.
9. Fehlinger, H., Ist Alkoholismus eine Ursache der Entartung?
H. Groß’ Archiv Bd. 41, H. 3 u. 4, S. 302 ff.
10. Filassier, D6g6n6rö öpileptique: syndrome episodique; idöes de
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11. Fomenko , B. P. (St. Petersburg), Uber Mandschurische Taschinen.
Psych.-neuroL Wschr. Jahrg. 13, Nr. 26, S. 255.
12. Fursac, J. R. de, Observation d’un mythomane; contribution
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Wendenbarg, Gerichtliche Psychopathologie.
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83. Wilhelm, Eugen (Straßburg i. E.), Beseitigung der Zeugungs¬
fähigkeit und Körperverletzung de lege lata und de lege
ferenda. Die künstliche Zeugung beim Menschen und ihre
Beziehungen zum Recht. Jur.-psych. Grenzfr. Bd. 7.
H. 6 u. 7. Halle a. S. 1911, Carl Marhold. (S. 52*.)
Die Kriminalpsychologie ist nach Sommer (66) ein Teil der
analytischen Psychologie, und zwar derjenige, der sich mit dem Studium der Personen
beschäftigt, welche durch Rechtsverletzungen eine Gefahr für die soziale Gemein¬
schaft bilden. Sie führt zu einer systematischen Untersuchung der menschlichen
Handlungen in bezug auf ihre Motive und den geistigen Zustand, aus dem sie ent¬
springen; die strafrechtliche Handlung erscheint bei ihr als Ausdruck eines inneren
Zustandes. Sie wird ergänzt durch soziologische Untersuchungen und Unter¬
suchungen der Gesetze als Folge und Ausdruck von bestimmten, in der kulturellen
Entwicklung eines Volkes gegebenen Momenten. Die allgemeine Kriminalpsychologie
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48*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
umfaßt die Beschaffenheit der einzelnen geistigen Funktionen in Beziehung zur
Kriminalität, die spezielle stellt bestimmte Gruppen aus dem übergangsgebiet
zwischen Psychiatrie und Strafrecht sowie eine Reihe rein krimineller Typen dar.
MönkemöUers (44) Arbeit über die Kriminalität des Kindesalters
beschäftigt sich eingehend mit allen den Ursachen, welche 686 Fürsorgezöglinge
unter 14 Jahren in 10 Anstalten der Provinz Hannover frühzeitig auf den Weg
des Verbrechens getrieben hatten. 73% von ihnen waren Straftaten nachgewiesen,
psychische Defekte waren bei den Mädchen häufiger als bei den Knaben. Zam
Schluß der sehr gründlichen Arbeit wirft der Verfasser die Frage auf, ob die Defekten
überhaupt der Fürsorgeerziehung überwiesen werden dürfen und kritisiert die
heutige Ausführung der Fürsorgeerziehung. Die Einrichtung von Zwischenanstalten
für geistig defekte F.-Z. hielt er für wünschenswert.
Das Fortlaufen und Fortbleiben von Hause hat bei Jugendlichen und
Kindern nach Schröder (63) verschiedene Ursachen. Es kann Epilepsie zugrunde
liegen, dann kommt es zu richtigen plan- und ziellosen Wanderungen, es t»nn sich
einfach um psychopathische, moralisch minderwertige Kinder handeln, dann beob¬
achtet man einfaches Umhertreiben auf der Straße oder es handelt sich um jugend¬
liche Phantasten, diese stellen die Gruppe der Ausreißer, Durchbrenner und jugend¬
lichen Abenteurer. Die erstgenannte Gruppe sind Kranke, die man entsprechend
behandeln muß. Beobachtet man ihre Verstimmungen genau, so läßt sich das
Fortlaufen verhindern. Die zweite Gruppe gibt eine ungünstige Prognose. Ihre
angeborenen Defekte lassen sich weder durch Behandlung noch Erziehung bessern.
Die Jugendlichen der dritten Gruppe können dagegen sehr brauchbare Menschen
werden. Ihre Abenteuerlust vergeht meist mit fortschreitender Reife.
Uber straffällige Jugend und psychopathische Minder¬
wertigkeit verbreitet sich der Münchener Jugendstaatsanwalt RupprecJU (56),
dem die zahlreichen von Psychiatern während zweier Jahre im Strafverfahren
gegen Jugendliche gemachten Beobachtungen und erstatteten Gutachten zur Ver¬
fügung stehen. Er unterscheidet drei Gruppen von Straffälligen, nämlich die
Imbezillen, die Hysterischen und die Psychopathischen. Nur den letzteren, speziell
den psychopathisch Minderwertigen gelten seine Ausführungen. Die psychopathische
Minderwertigkeit ist keine Geisteskrankheit im Sinne des §61 RStGB., sie stellt
sich entweder als ein Defekt im Willen oder als ein Mangel im Intellekt oder als
eine Verbindung beider Erscheinungen dar. Äußere Degenerationszeichen treten
nur selten auf. Der Mangel im Intellekt äußert sich in der Regel in einem allgemeinen
Zurückbleiben hinter der Durchschnittsnorm des jeweiligen Alters, er muß aber
immer noch ein verantwortliches Handeln zulassen, sonst liegt Imbezillität vor,
auf die die Voraussetzungen des §61 RStGB. zutreffen. Schwieriger feststellbar
sind die Defekte im Willen. Sie sind auf eine Reihe von Ursachen zurückzuführen,
von denen erbliche Belastung, Erziehungsfehler, Entwicklungsmängel und ins¬
besondere die beginnende Pubertät die wichtigsten sind. An Stelle der Willens¬
handlungen treten durch Ausschaltung oder Herabsetzung der HemmungsmÖglicb-
keit Triebhandlungen. Mit einer übertriebenen Steigerung des Selbstgefühles gebt
eine Minderung, wenn nicht gar der Verlust der Achtung vor fremden Rechten
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Wendenburg, Gerichtliche Psychopathologie.
49*
Hand in Hand. Die überwiegende Mehrzahl der minderwertigen Jugendlichen
sind Knaben. Ob die psychopathische Veranlagung die Verletzung bestimmter
Rechtsgüter (Eigentum, körperliche Integrität, Geschlechtsehre) fördert, oder
ob umgekehrt diese Rechtsgüter den psychopathischen Jugendlichen besonders
zum Angriff reizen, oder ob er die Straftat gleich normalen Jungen je nach Gelegen¬
heit und innerem Anreiz begeht, läßt sich nach den bisherigen Erfahrungen nicht
mit Sicherheit feststellen. Sittlichkeitsverbrechen an Kindern wurden von normalen
und imbezillen Jugendlichen begangen, nur in einem Falle ließ sich psychopathische
Minderwertigkeit feststellen. Zwei zur Anzeige gelangte Fälle von Exhibitionismus
wurden von verblödeten Geisteskranken verübt. Jugendliche, die sich nach § 176
RStGB. verfehlt haben, waren in keinem Falle Psychopathen; das Motiv der Straftat
war meist Verführung oder Gewinnsucht, nicht innerer Drang. Das von Psycho¬
pathen weitaus am häufigsten begangene Delikt ist der Diebstahl. Da aber dieses
Vergehen zugleich das typische Jugenddelikt ist, so ist die Häufigkeit seines Er¬
scheinens beim minderwertigen Jugendlichen keine Besonderheit. Die Ausführungen
Rupprechts , die durch Beispiele aus der Präzis ergänzt werden, klingen in den
Wunsch aus, daß die in Erziehungsanstalten untergebrachten Zöglinge rechtzeitig
einer psychiatrischen Untersuchung unterstellt werden, und daß Anstalten errichtet
werden, in denen die psychopathischen Elemente von den normalen Zöglingen
getrennt werden können, da auch bei den Minderwertigen noch Erziehung möglich
ist, aber Erziehung in anderer Form und mit anderen Mitteln als bei den normalen
Jugendlichen. (M. Kaiser-München.)
Eine sehr eingehende Studie über die Kriminalität von 86 Jugendlichen,
die dem Jugendgericht in Mannheim vorgeführt wurden, bringt Gruhle (14). Hervor¬
zuheben ist namentlich, daß die Kriminalität sich bei verschiedenen Volksstämmen
verschieden gestaltet, wie namentlich Vergleiche des Mannheimer mit dem Frank¬
furter Material ( Poüigketl ) zeigen.
Die Sexualdelikte Jugendlicher gleichen nach den Erfahrungen
Rupprechts (66) auffallend den Unzuchtshandlungen alternder Männer. Die Ein¬
sichtsfrage ist gerade bei den Triebhandlungen auf sexueller Basis häufig schwer
zu beantworten. Die Hinzuziehung eines Psychiaters und des Lehrers läßt sich nur
selten umgehen. Von rund 1000 Anzeigen gegen jugendliche Personen betrafen
33 Verbrechen im Sinne des § 176 und § 177 des StGB. 17 wurden angeklagt, in
16 Fällen wurde das Verfahren eingestellt. Die Mehrzahl der Verurteilten war
vollsinnig, bei den übrigen Angeklagten bestand eine psychopathische Minder¬
wertigkeit, bei der bedingte Begnadigung angebracht ist. In anderen Fällen fehlte
die Einsicht oder ein Schwachsinn führte zur Freisprechung. Die eingestreute
kurze Kasuistik ist lesenswert. Schließlich rät Verf. zur Vorsicht, wenn der Jugend¬
liche gegenüber den alleinigen Belastungsaussagen des angegriffenen Mädchens
die Tat in Abrede stellt; die Glaubwürdigkeit des Mädchens bedarf einer genauen
Prüfung. (Emst Se/wÜze-Greifswald.)
Den üblen Einfluß, den die Kinematographentheatcr auf die kindliche
Psy che ausüben können, demonstriert der von Laquer (31) mitgeteilte Fall, in dem
ein aus ärmlichem, aber sittlich einwandsfreiem Milieu stammender Knabe, der
Zeitschrift für Psychiatrie. LXIX. Lit. d
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JNIV Aiffa
50*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
allerdings schon früher Neigung zu verbotenen Handlungen gezeigt hatte, einen
T&schendiebstahl auf offener Straße beging. Er hatte kurz vorher die Darstellung
eines solchen Diebstahls im Kientopp gesehen und es dem Helden des Stückes
gleich tun wollen.
Türkei (72) schildert zwei Degenerierte, die durch die Lektüre von Schund¬
literatur zu Verbrechern geworden waren. Der unheilvolle Einfluß dieser Literatur
auf die psychisch Minderwertigen wird durch die mitgeteilten Fälle deutlich demon¬
striert.
K. Rupprecht (64) sieht die Hauptaufgaben, der Jugendgerichte
in der Bestrafung der Jugendlichen und in der Fürsorge für die noch Besserungs¬
fähigen. Der Jugendrichter, der diese beiden Forderungen erfüllen will, steht deshalb
vor der Notwendigkeit, sich eingehender, als es sonst geschieht, mit der Individualität
des Täters zu beschäftigen, und dabei ist der Psychiater sein bester und unentbehr¬
licher Berater. Während der Jahre 1909 und 1910 hat Rupprecht alle Strafverfahren
gegen Jugendliche in München bearbeitet, und er hat beobachtet, daß der Schwach¬
sinn, die Psychopathie und die Hysterie die größteRolle unter den geistigenAnomalien
spielt, welche den Straftaten Jugendlicher zugrunde liegen können. Eltern und
Schule sind nur selten in der Lage, diese Anomalien zu erkennen, auch der Polizei
und den Vormundschaftsgerichten entgehen sie. Deshalb fällt dem Psychiater
die Hauptarbeit bei ihrer Feststellung zu, und da es sich hierbei um eine der wich¬
tigsten Aufgaben der Psychiatrie handelt, sind deren Vertreter verpflichtet, ihre
besten Kräfte in den Dienst der guten Sache zu stellen.
Hotter (23) weist auf die traurigen, aber leider recht engen Beziehungen hin,
die in Niederbayern zwischen Alkohol und Verbrechen bestehen. In
Straubing wurden 1900—1909 207 Fälle von Totschlag oder Körperverletzung
mit Todeserfolg abgeurteilt. Von 208 getöteten Personen mußten 131 = 63 %
an Sonn- und Feiertagen ihr Leben lassen, 176 Todesfälle = 84% kamen auf die
Wirtshäuser, überhaupt waren 187 = 90,3% dem Alkohol in Rechnung zu setzen,
während nur 9,7% der Delikte von nüchternen Leuten begangen wurden.
Von 200 Geisteskranken, die aus der Untersuchungshatt und aus dem Straf¬
vollzüge überwiesen waren, und von Lückerath (38) untersucht wurden, gehörte
ein Drittel zu den Degenerationspsychosen. Die meisten waren
erblich belastet, besaßen eine ihrem Stande entsprechende Bildung, zeigten aber
schon seit der Kindheit degenerative Züge. Die erste Strafe lag bei den meisten
zwischen dem 16 und 26., der Ausbruch der Psychose zwischen dem 20. bis 30.
Lebensjahr. Übertreibung war häufig, Simulation selten. Es handelte sich bei dem
L.sehen Material um drei Gruppen: Degenerierte mit psychogenen Erregungs¬
zuständen, Degenerierte mit Psychosen vom Bilde des Ganserschen Symptomen-
komplezes und um degenerierte mit paranoiden Zustandsbildern. Dies ist die
wichtigste von allen Gruppen, die sich übrigens kombinieren können. Allen gemein¬
sam ist der degenerative Einschlag, und sie unterscheiden sich durch progressive
Wahnbildung, die von äußeren Umständen abhängig ist und durch sie beeinflußt
werden kann (Labilität der degenerierten Psyche) und nicht zur Verblödung führt,
von den Psychosen nicht Degenerierter. Für die Diagnose ist es wichtig, den ganzen
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Wendenburg, Gerichtliche Psychopathologie. 51*
Lebensgang ins Auge zu fassen und die Entwicklung der Persönlichkeit. Die Prognose
ist günstig, die meisten können dem Strafvollzug zurückgegeben werden.
Die Besonderheit der Grenzfälle mit ihrer pathologischen Charakter¬
anlage fordert nach Birnbaum (4) besondere Berücksichtigung einiger Punkte
bei ihrer forensischen Beurteilung. Das erste betrifft die Feststellung eines abnormen
Gefühlslebens bei solchen Personen, der zweite die Berücksichtigung des raschen
Wechsels, der Labilität ihres Geisteszustandes, drittens muß man das Verhältnis
der Strafhandlung zur psychischen Eigenart des Täters berücksichtigen.
Birnbaum (3) erörtert zunächst allgemein den Begriff Wille und Willens¬
schwäche, ihre Grundlagen und ihre Äußerungen. Sodann befaßt er sich mit
der pathologischen Willensschwäche bei einzelnen Krankheiten und bei verkehrter
Erziehung. Die für den Juristen sehr wissenswerten Erscheinungen der Willens¬
schwäche bei den psychischen Grenzzuständen werden eingehend erörtert, ebenso
die bei Geisteskranken und Schwachsinnigen bei Alkoholisten und Morphium¬
süchtigen vorkommenden Formen. 4
Von den Ergebnissen der eingehenden Untersuchungen, welche Viemstein (76)
an den Züchtlingen zu Kaisheim gemacht hat, ist besonders bemerkenswert
die Ziffer der Belasteten (mit Geisteskrankheit und Alkoholismus etwa 40%, mit
Tuberkulose etwa 25%) und der früh kriminell Gewordenen. Von 216 Untersuchten
waren 118 vor dem 18. und von diesen 118 wieder 66, also die Hälfte, vor dem
18. Lebensjahre mit dem Strafgesetz in Konflikt geraten. Die überwiegende Zahl
der Züchtlinge war körperlich schwächlich und mit allerhand Gebrechen behaftet,
Geisteskranke fanden sich selten, Psychopathen sehr häufig unter ihnen, namentlich
Debile und moralisch Imbezille, aber auch alle anderen Formen.
Heinicke (20) schildert einige der häufigsten Formen psychischer Erkrankung
in der H a f t. Die anschauliche Darstellung wird Strafanstaltsbeamten und allen,
die mit dem Strafvollzug zu tun haben, ein willkommener Behelf zur Erkennung
psychischer Abnormitäten bei Strafgefangenen sein.
Uber die Beziehungen zwischen Epilepsie und V erbrechen macht
Veit (74) auf Grund von Untersuchungen am Wuhlgartener Krankenmaterial
folgende Angaben. Von 687 epileptischen Männern waren 320, von 499 Frauen
30 und von 87 Kindern 6 bestraft, während in den Anstalten Dalldorf, Buch und
Herzberge sich unter 2231 Männern nur 860 und unter 1817 Frauen 106 fanden,
die mit dem Strafgesetz in Konflikt gekommen waren. Die meisten Verbrechen
und Vergehen waren von den Alkoholepileptikern begangen. 70 von 128 Alkohol¬
epileptikern waren mehr als 10 mal bestraft, aber auch 20, 30 und 40 mal Bestrafte
fanden sich darunter. Sehr häufig war bei allen Epileptikern Diebstahl und Unter¬
schlagung, Arbeitsscheu, Obdachlosigkeit und Betteln, Körperverletzung, Be¬
leidigung und Widerstand, dagegen fanden sich wenig Sittlichkeitsverbrecher
unter ihnen. Die Fürsorgezöglinge bildeten auch unter den Wuhlgartener Pfleg¬
lingen eine besonders unangenehme Gruppe, ihnen nahe standen die Affektepileptiker
in bezug auf Kriminalität. Verblödete Epileptiker werden auch nicht selten zu
Werkzeugen gesunder Verbrecher. Zwei Kriminelle, die im übrigen geisteskrank
waren, versuchten Anfälle zu simulieren, also eine verschwindende Zahl gegen den
d*
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52* Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
Bestand von 1286. Alles in allem werden die Epileptiker sehr häufig und sehr früh
straffällig, die Alkoholepileptiker stehen inbezug auf Kriminalität an der Spitze.
Die gefährlichsten Verbrechen werden nicht von Leuten mit vielen und schweren
Anfällen begangen, sondern von solchen, die hauptsächlich an psychischen, epi¬
leptischen Veränderungen und selten an Krämpfen leiden.
Von vorübergehenden körperlichen Veränderungen naeh epileptischen Krampi¬
anfällen beobachtete Buchbinder (6) mehrfach Fieber bis 39,6*, das in einem Falle
so lange anhielt, wie ein postparoxysmaler Verwirrungszustand und nicht selten
bei verhältnismäßig niedriger Pulszahl (60 bei 38*) auftrat. Es trat auch öfter
nach Einzelanfällen auf; einmal, im sekundären Stadium der Syphilis, trat Fieber
mit einer Serie von Krampfanfällen auf und verschwand nach spezifischer Kur
ebenso wie die Krämpfe dauernd. Beulen fanden sich am Hinter- und Vorderkopf
gleich häufig, selten Kratzwunden im Gesicht, ein Musketier bekam vom Kragen
eine Schnürfurche, als der Hals im Anfall schwoll. Ekchymosen finden sich oft
besonders lange im Gehör^ang und auf dem Trommelfell. Besonders interessant
ist die Beobachtung B.s, daß die Pupillenreaktion nieht immer aufgehoben zu
sein braucht, vielmehr abhängig ist von der Stärke der angewandten LichtqueDe,
manchmal blieben die Pupillen während des ganzen Anfalls eng oder sie waren
ungleich weit, fast immer kehrte die Lichtreaktion vor dem Bewußtsein wieder.
Der Arbeit von v. Gruber und Rüdin (13) sei hier kurz Erwähnung getan,
da sie das Wichtigste und alles Neue auf dem Gebiete der Bassenhygiene
enthält und die Bedeutung der Vererbung in helles Licht rückt.
Über die Nachkommen eines Trinkers berichtet H. Richter (50).
Von 6 Kindern wurde der älteste Sohn Trinker und gefürchteter Schwerverbrecher,
die Tochter Prostituierte, der dann folgende Sohn verfiel in späteren Jahren ebenfalls
dem Trünke, er erschlug seine Frau und seinen idiotischen Sohn.
Huwali (24) faßt in einem sehr interessanten Artikel über die forensische
Bedeutung der Familienähnlichkeit alles zusammen, was dem Gut¬
achter an sicheren Merkmalen zur Beurteilung dieser Frage zur Verfügung steht.
Mehr als ein Wahrscheifilichkeitsurteil kann man freilieh heutzutage über diesen
Punkt noch nicht abgeben. Es ist zu hoffen, daß uns die Zukunft weitere Aufschlüsse
über die Frage bringt, die nicht selten große praktische Wichtigkeit erlangen kann.
Man denke nur an den Kwilecki-Prozeß.
Die juristisch-psychiatrischen Grenzfragen bringen einige sehr interessant»
Abhandlungen, unter denen ich die von Salgo (b7) über Willensentschließung und
Rechtspraxis und die von Obersteiner (67) „der Geisteskranke und das Gesetz
in Österreich in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ besonders hervorheben
möchte. Den Gerichtsarzt und den Juristen wird die eingehende Behandlung,
die Wilhelm (83) der Beseitigung der Zeugungsfähigkeit angedeihen läßt, besonders
interessieren, da ja in heutiger Zeit die Technik der Sterilisierung namentlich durch
die Vasektomie große Fortschritte gemacht hat. Ein zweiter Artikel von Wilhelm (83)
behandelt die künstliche Zeugung beim Menschen in ihrer Beziehung zum Recht,
es wird vielleicht in Zukunft von praktischer Wichtigkeit werden.
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. Wendenburg, Gerichtliche Psychopathologie.
53*
Amnesie kann nach Heine (19) bei sehr verschiedenen Krankheitsformen
Vorkommen. Er teilt aus der Literatur (116 Nummern) einschlägige Fälle mit und
kommt zu dem Resultat, daß Amnesie unter Umständen der einzige Hinweis auf
vorhergegangene Bewußtseinsstörung sein kann. Sie ist wichtig für die Diagnose
Dämmerzustand, darf aber wegen der Gefahr der Simulation nur in Gemeinschaft
mit anderen Symptomen dafür verwandt werden. Handlungen im Zustande ein¬
facher Amnesie sind nach §61 straffrei, bedingen keine Verantwortlichkeit zum
Schadenersatz nach §827 BGB. und Willenserklärungen, die in einem solchen
Zustande abgegeben sind, müssen als nichtig nach § 106 BGB. angesehen werden.
Handlungen in einer Zeit, für die retrograde Amnesie besteht, sind in jeder Weise
verantwortlich, Zeugenaussagen über Vorgänge, die in Zuständen einfacher oder
retrograder Amnesie wahrgenommen sind, sind mit Vorsicht zu verwerten. Schwere
Formen der anterograden Amn esie können auch die Testierfähigkeit aufheben,
sowie die Identifikation von Personen erschweren.
Bei fortgesetzten Besudelungen darf man nicht ohne weiteres annehmen,
daß sie von Geisteskranken ausgeführt sind. Manchmal besudeln auch Geistes¬
gesunde ganz planmäßig Gegenstände oder Liegenschaften, um sich Vermögens¬
vorteile zu verschaffen. Einen solchen Fall teilt Liebemann von Sonnenberg (34)
mit, dem er einen zweiten hinzufügt, bei dem die Täterin allerdings psychopathisch
gewesen zu sein scheint.
E. Meyer und G. Puppe (43) betrachten das Aliensteiner Drama als das
Resultat psychischer Infektion zwischen zwei psychopathischen Persönlichkeiten.
Linke (36) berichtet über einen psychopathischen und an chronischer Ver¬
rücktheit leidenden Verbrecher, der schon 6 mal nach Österreich ausgewiesen,
dort in Anstaltsbehandlung genommen, aber immer bald wieder entlassen war
und der sein Verbrecherleben von neuem aufgenommen hatte.
Den früher mitgeteilten Fällen von Diebstählen infolge Zwangsvorstellungen
fügt Gudden (16) einen neuen Fall an. Er betrifft eine Dame der Gesellschaft, die
in Geschäften Sachen entwendete (an einem Tage in nicht weniger als 6 Geschäften);
sie wollte stehlen lernen, weil sie fürclftete, der österreichische Staat, bei dem sie
ihr Geld angelegt hatte, könnte Bankerott machen. Freisprechung in der zweiten
Instanz, entsprechend dem ärztlichen Gutachten. (Emst ScÄutee-Greifswald.)
Ein Mann hatte ip Gemeinschaft mit seiner Schwiegermutter seine hysterische
Ehefrau auf deren Verlangen getötet und zwar hatte er sie vergeblich durch Er¬
schießen, Erstechen und Pulsaderaufschneiden zu töten versucht, aber schließlich
durch Erhängen vom Leben zum Tode gebracht. Schütze (66) macht an der Hand
des Falles darauf aufmerksam, wie viel und wie schwere Verletzungen ein Mensch
vertragen kann.
Slorfer s (69) kleine Schrift über die Sonderstellung des Vatermörders bringt
viele entwicklungsgeschichtliche Angaben über die Grundlagen des Vater-
m o r d e s , schildert seine ökonomischen und psychologischen Wurzeln, wobei
auch Freudsche Theorien herangezogen werden, und beschäftigt sich zum Schluß
mit dem paricidium der Römer und der bei ihnen üblichen Tiersyrabolik bei Be¬
strafung des Vatermörders.
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54* Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
Hahn (17) teilt das Gutachten über einen Erpresser mit, der außer
einigen hysterischen Stigmen nichts Krankhaftes bot, bei dem die Tat aber in einen
solchen Gegensatz zu seinem bisherigen Lebenswandel stand, daB dem Richter
Bedenken aufstiegen, ob der Angeklagte zurechnungsfähig sei. Da die Handlung
einem plötzlichen Impulse entsprungen war, hielt H. bei dem Vorhandensein hysteri¬
scher Stigmen die Möglichkeit einer krankhaften Störung der Geistestätigkeit für
vorliegend. Das Gericht sprach den Angeklagten frei.
Eine tuberkulöse 20 jährige Bettnässerin war von ihrem Arzte mehrfach mit
Hypnose zur Beseitigung der Enuresis behandelt und gestand eines Tag«
ihrem Beichtvater, daß der Arzt sie im Zustande der Hypnose geschlechtlich mi߬
braucht hätte. Schrenck-Nolzing (62), der zur Begutachtung herangezogen wurde
gab sein Gutachten dahin ab, daß es sich in diesem Falle wohl mit Sicherheit u&
lascive Träume einer Tuberkulösen gehandelt hätte. Das Verfahren wurde eic-
gestellt. Der Fall mahnt zur allergrößten Vorsicht gegenüber hysterischen nnc
psychopathisch veranlagten Personen, die man, wenn überhaupt, nur in Gegenwar
von Zeugen hypnotisieren und behandeln soll.
Die japanische Rückfallstatistik unterscheidet sich nact
Makino (40) nicht von der europäischen, trotzdem Sitten, Gewohnheiten und wirt¬
schaftliche Zustände hier und dort ganz verschieden sind. Die Zahl der Rück¬
fälligen wächst in Japan mehr und mehr, die kurzen Freiheitsstrafen zeigen sieb
ihnen gegenüber machtlos. Bei den Jugendlichen hat sich Strafaufschub uni
Anklageaufschub — ein japanischer Rechtsusus — gut bewährt. Die Erfolge d«
Fürsorge für entlassene Jugendliche, die etwa unserer Fürsorgeerziehung entspricht,
sind noch nicht eindeutig.
IV. Zivilrechtliche Psychiatrie. Psychologie
der Aussage.
1. Bolle (Bremen), Geistesstörung bei Dercumscher Krankheit.
Ärztl. Sachv.-Ztg. Nr. 1. (S. 57*.) i
2. Crasetnann, Edgar, Berufs Vormundschaft und die volljähriges |
geistig Minderwertigen, unter besonderer Berücksichtigung
des Schutzes der menschlichen Gesellschaft vor den Un-j
sozialen. Mtschr. f. Kriminalpsych. u. Strafrechtsref. Jahrg. 8 ,;
H. 8, S. 465 ff. (S. 57*.)
3. Keferstein, Ablehnung der Entmündigung bei einem wegen
chronischer Verrücktheit pensionierten Beamten. Ztschr.
f. med. Beamte Jahrg. 24, Nr. 7. (S. 56*.) j
4. van Erp Taalman Kip, M. J. (Arnheim, Holland), Ein Novum
im Strafrecht. Mtschr. f. Kriminalpsychol. u. Strafrechtsref
Jahrg. 8, H. 3, S. 143. (S. 58*.) j
Difitized
bv Google
Original frn-m j
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Wendenbarg, Gerichtliche Psychopathologie.
55*
5. Lambrami, R., In causa d’annullamento di matrimonio per im-
potenza virile funzionale. Rivista Sperimentale di Freniatria
vol. XXXVII, p. 384—406.
6. Mach (Bromberg), Die Eheanfechtung und Ehescheidung wegen
Geisteskrankheit seit Inkrafttreten des BGB. in Deutschland.
Vjhrschr. f. gerichtl. Med. u. öffentl. Sanitätsw. Bd. 41,
H. 2, S. 229. (S. 56*.)
7. Maier, Hans W., Kasuistische Beiträge zur Psychologie der Aus¬
sage vor Gericht. Mtschr. f. Kriminalpsychol. u. Straf-
rechtsref. Jahrg. 8, H. 8, S. 480 fl. (S. 57*.)
8. Pfeiffer , Hermann , Ärztliches zur Ehereform. H. Groß’ Archiv
Bd. 42, H. 3 u. 4, S. 193 ff.
9. Raecke (Frankfurt a. M.), Entmündigung wegen Imbezillität.
Friedreichs Bl. f. gerichtl. Med. (S. 55*.)
10. Raecke (Frankfurt a. M.), Aktengutachten über den Geistes¬
zustand eines inzwischen verstorbenen Alkoholisten. Vjhrschr.
f. gerichtl. Med. u. öffentl. Sanitätsw. Bd. 42, H. 1. (S. 67*.)
11. Schouten, H. «/., Ein wegen Zeugenaussage merkwürdiger Fall
aus der alten niederländischen Kriminalgeschichte. H. Groß
Archiv Bd. 41, H. 1 u. 2, S. 67 ff.
12. Seidel, Johannes, Kinder als Zeugen im Strafprozeß. Mtschr. f.
KriminalpsychoL u. Strafrechtsref. Jahrg. 7, H. 11/12,
S. 679 ff. (S. 58*.)
13. Sturm, Zur Lehre vom psychologischen Beweise im Zivil- und
Strafverfahren. Mtschr. f. Kriminalpsychol. u. Strafrechtsref.
Jahrg. 8, H. 9, S. 566 ff. (S. 58*.)
14. Tamburini, A., Questioni medico-forensi relative alla Paralisi
generale progressiva specialmente in relazione alla capacitä
di testare. Rivista Sperimentale di Freniatria vol. XXXVII,
p. 456-480. (S. 57*.)
15. ThomaUa, R., Eine merkwürdige Entmündigung. Ztschr. f. med.
Beamte Jahrg. 24, Nr. 13. (S. 56*.)
16. Varendonck, M. «/., Les temoignages d’enfants dans un proces
rotentissant. Arch.de Psycholog. 1911 Bd. 11, S. 29.
Raecke (9) hebt hervor, daß die berechtigte Forderung Crame rs, man sollte
alle schwachsinnigen Fürsorgezöglinge bei Eintritt der Volljährigkeit
entmündigen, häufig deshalb unerfüllt bliebe, weil die zur Begutachtung
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
56* Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
herangezogenen Ärzte außerstande wären, die Symptome leichteren Schwachsinns
gerade richtig zu erkennen und in ihren Folgen für dieGeschäf tsfähigkeit zu würdigen.
Er teilt dann ein Gutachten über eine schwachsinnige 21 jährige Person mit, die
überall gescheitert war und lebhafte unsoziale Neigungen hatte. Er kam im Gegen¬
satz zu den Vorgutachten zu der Ansicht, daß die Person geistesschwach im Sinne
des § 6 des BGB. wäre. Die abweichenden Anschauungen der Vorgutachter wären
dadurch zustande gekommen, daß sie sich durch die verhältnismäßig guten Ge¬
dächtnisleistungen der Person darüber hatten täuschen lassen, daß bei ihr große
Mängel der Urteilsfähigkeit bestanden.
Thomalla (15) wurde in einem Anfechtungsverfahren gegen Entmündigung
als Sachverständiger gehört. Es handelte sich um ein 21 jähriges Mädchen, einen
früheren Fürsorgezögling, der sich nach der Entlassung aus der Fürsorgeanstalt
gut geführt hatte und keine Spur von Schwachsinn aufwies, während ein Zeugnis
des Anstaltsarztes sie für schwachsinnig erklärt hatte. Die Entmündigung wurde
aufgehoben. Th. verlangt unter Hinweis auf den Fall, daß zu Entmündigungs¬
gutachten nur unabhängige und entsprechend vorgebildete Ärzte als Gutachter
herangezogen werden sollten.
Ein Staatsbeamter, der seinen Dienst immer einwandsfrei getan hat, mußte •
wegen Paranoia pensioniert werden, da ihm als Geisteskranken die Ver¬
antwortlichkeit für seine Handlungen fehlte. Ein von der Staatsanwaltschaft
eingeleitetes Verfahren auf Entmündigung kam nicht zum Abschlüsse. Denn wie
Keferstein (3) mitteilt, wurde festgestellt, daß der Untersuchte zwar geisteskrank
wäre, aber trotzdem den größten Teil seiner Angelegenheiten zu besorgen ver¬
möchte.
t;. Mach (6) gibt eine Zusammenstellung von Entscheidungen der Gerichte
auf dem Gebiete der Eheanfechtung und Ehescheidung wegen
Geisteskrankheit seit Inkrafttreten des BGB., er bringt auch die einschlägigen
Gesetzesparagraphen mit Kommentaren der juristischen und medizinischen Begriffe.
Der Ausfall der einzelnen Entscheidungen war im wesentlichen von der Auslegung
des Begriffes „geistige Gemeinschaft“ abhängig und deshalb keineswegs gleichartig.
Die einen verlangten zur Aufhebung der geistigen Gemeinschaft „völligen geistigen
Tod“ des kranken Ehegatten, die anderen, und das ist die Mehrzahl, bestritten,
daß dieser Grad der Störung notwendig wäre, doch stimmten fast alle Entscheidungen
darin überein, daß das bloße Bewußtsein von dem Bestehen des ehelichen Bandes
noch keine geistige Gemeinschaft bedeute. Eine Entscheidung sprach sich auch
dahin aus, daß die bloße Möglichkeit einer Besserung der Psychose nicht genüge,
um eine Ehe weiter bestehen zu lassen, es müssen vielmehr reale Anhaltspunkte
vorhanden sein, aus denen man auf die Möglichkeit einer baldigen Besserung
schließen kann. Diese Entscheidung ist vom Reichsgericht aufgestellt. Der § 1586,
aus dem die Möglichkeit einer Ehescheidung wegen Trunksucht hergeleitet werden
kann, leistet nicht das, was im medizinischen Sinne vom BGB. für die Ehegatten
und für die Nachkommenschaft gefordert werden muß. Zur Ehescheidung ist
erforderlich, daß die Trunksucht beharrlich und z. Z. der Klageerhebung vorhanden
gewesen ist, außerdem muß der Trunksüchtige für die Zerrüttung der Ehe durch
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Wendenbarg, Gerichtliche Psychopathologie. 57*
seine Trunksucht verantwortlich sein. Bei angeborener Minderwertigkeit ist dies
z. B. nicht der Fall und die Ehe kann nicht geschieden werden.
Crasemann (2) wünscht für ganz Deutschland eine allgemeine, staatliche
Berufsvormundschaft für die geistig Minderwertigen, die sich im Leben
nicht behaupten können, um ihrer selbst willen oder im Interesse der Gesellschaft
einer besonderen, sachgemäßen Aufsicht bedürfen. Zur Einsetzung einer solchen
Vormundschaft für die geistig Minderwertigen genügt vollko mm en § 6 BGB., die
Überweisung solcher Entmündigten muß stets an die Berufsvormundschaften
erfolgen, zu deren Organisation Cr. ausführliche Vorschläge macht.
Ein sehr instruktives Aktengutachten über den Geisteszustand
eines verstorbenen Alkoholisten veröffentlicht Raecke (10). Er betont, daß ein
derartiges Gutachten zu den schwierigsten und undankbarsten Aufgaben der foren¬
sischen Psychiatrie gehört Die in den Akten enthaltenen Zeugenaussagen sind oft
wertlos, weil sie zu unbestimmt sind oder oft einander widersprechen. Es ist deshalb
oft unmöglich, den Nachweis einer geistlichen Störung, und auf diesen ko mm t
es an, wenn es sich um die Giltigkeit eines Rechtsgeschäfts handelt, zu führen,
und wenn das gelingt, so ist oft der zweite notwendige Nachweis, nämlich daß die
geistige Störung so hochgradig war, daß sie die freie Willensbestimmung ausschloß,
unmöglich. Gerade bei diesen Gutachten ist es besonders notwendig, daß der Sach¬
verständige zum Ausdruck bringt, auf Grund welcher Zeugenaussagen er zu den
einzelnen Ergebnissen gelangt ist, und er darf sich nicht verleiten lassen, etwas mit
Bestimmtheit zu behaupten, was sich nicht überzeugend dartun läßt. Für die Art
und Weise, wie man in diesen Fällen zu verfahren hat, ist das mitgeteilte Gutachten
ein gutes Beispiel. Es handelte sich um einen Potator, der an Leberzirrhose und
Wassersucht gestorben war. Er hatte eine Lebensversicherungspolize zurück¬
gekauft ohne ersichtlichen Grund. Verschiedene Zeugenaussagen und ein Attest
des Hausarztes machten es wahrscheinlich, daß der Begutachtete an Verfolgungs-
ideen gelitten hatte. Diese wurden aber später durch andere Zeugenaussagen wieder
unwahrscheinlich gemacht, und das Gericht wies die Klage auf Anfechtung des
Rückkaufs ab.
Bolle (1) beobachtete einen Mann, der an Derkumachei Krankheit litt. Die
Derkumache Krankheit äußerte sich durch symmetrisch sitzende, schmerzhafte
Fettgeschwülste, Gelenkveränderungen, Kopfschmerzen, Ohnmächten, profuse
Schweißausbrüche und Verblödung. Im vorliegenden Falle kam noch chronischer
Alkoholismus hinzu, auch Krämpfe wurden beobachtet. Der Patient hatte ein
Testament gemacht, das von den Kindern angefochten wurde. B. kam zu
der Ansicht, daß er nicht geschäftsfähig gewesen wäre, als er vor 2 Jahren das
Testament abfaßte.
Tomburini (14) untersucht die Testierfähigkeit der Para¬
lytiker und beschäftigt sich in seiner Arbeit auch mit dem schwierigen Kapitel
der Beurteilung der Testierfähigkeit Paralytischer nach deren Tode.
Zwei lehrreiche Fälle zur Psychologie der Aussage teilt B. W.
Maier (7) mit. Im ersten hatte ein schwachsinniges 16% jähriges Mädchen an¬
gegeben, sie wäre von einem alten Mitbewohner ihres Hauses geschwängert, der
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58*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
daraufhin verurteilt wurde. Nach einigen Jahren stellte sich heraus, daß der eigene
Vater Blutschande mit seiner Tochter getrieben hatte und ihre frühere Angabe
unter dem Drucke von Drohungen seitens des Vaters zustande gekommen war.
Alle Leute, die sich mit sog. gesunden Menschenverstände über den Fall geäußert
hatten, hatten der schwachsinnigen Zeugin und ihrem Vater das beste Zeugnis
ausgestellt. Der zweite Fall berichtet, über einen Hebephrenen, der
in der Remission zwischen zwei Schüben seiner Krankheit behauptete, er hätte
nur simuliert. Er wurde dementsprechend verurteilt, erkrankte aber schon wenige
Tage nach seinem Strafantritt aufs neue mit katatonischen Symptomen.
Einen sehr schönen zusammenfassenden Bericht über Kinder als Zeugen
im Strafprozeß liefert Seidel (12). Er bringt alles, was auf diesem Gebiet
an praktischen und experimentellen Erfahrungen vorliegt, und macht auch prak¬
tische Vorschläge, wie man Kinder als Zeugen vernehmen soll. Sturm (13) gibt
theoretische und praktische Anweisungen zur Erhebung des psychologischen Be¬
weises im Zivil- und Strafverfahren, die den Richter mehr interessieren als den
Sachverständigen, aber auf naturwissenschaftlichen Anschauungen aufgebaut sind.
E. T. Kip (4) teilt ein Novum aus der holländischen Strafrechtspflege mit.
das besonders die Bedeutung der Möglichkeit auch Zeugen psychiatrisch
untersuchen zu können in helles Licht rückt. Ein Arbeiter hatte gegen
zwei Gendarmen die Beschuldigung erhoben, sie hätten ihn mißhandelt. Ein Proze߬
agent nimmt sich seiner an, und schließlich entsteht ein großer Prozeß aus der
Sache, bei dem es zu schweren Anschuldigungen gegen die Gendarmen kommt.
Nach den Untersuchungen von Kvp ist es nun aber wahrscheinlich, daß der Kläger,
ein Schwachsinniger, und sein Prozeßagent, ein Querulant, die ganzen Beschul¬
digungen rein aus krankhaften Motiven erhoben hatten.
V. Irrenrecht. Verwahrungsmaßnahmen. Für¬
sorgeerziehung und Psychiatrie.
1. Arango y de la Luz, Fr., Organizacion del servicio de locos crimi-
nales en Cuba. Kevista frenopätica Espafiola no. 106, p. 298.
2. Bericht über die Verhandlungen des Ersten Bayerischen Jugend¬
fürsorge- und Zwangserziehungstages am 20. 21. und
22. Juni 1911 in München. 96 S. 2 M. München 1911, Verlag
von Ph. L. Jung. (S. 62*.)
3. Bührer, Irrenanstalten und Strafrecht nach dem Vorentwurf zu
einem deutschen Strafgesetzbuch. Mtschr. f. Kriminal-
psychol. u. Strafrechtsref. Jahrg. 8, H. 8, S. 505 ff. (S. 61*.)
4. Freudenthal, B., Die Aufenthaltsbeschränkung im Vorentwurf
zu einem deutschen Strafgesetzbuch. Mtschr. f. Kriminal-
psychol. u. Strafrechtsref. Jahrg. 8, H. 3, S. 132 ff.
5. Freymuth, Sind die in Irrenanstalten untergebrachten Geistes-
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Wendenburg, Gerichtliche Psychopathologie.
59*
kranken Gefangene im Sinne der §§ 120 und 121 StGB.
Ztschr. f. Versieh. Med. Nr. 7.
6. Fürstenheim, W., Zur Frage der gesetzlichen Fürsorge für geistig
schwächliche und kränkliche Kinder. Ztschr. f. d. Erforsch,
u. Behandl. d. jugendl. Schwachsinns Bd. IV, H. 5—6,
S. 485. (S. 61*.)
7. Horstmann (Stralsund), Zur psychiatrischen Beurteilung der
Jugendlichen. Ärztl. Sachv.-Ztg. Nr. 4, S. 79.
8. Hudovemig, C. (Budapest), Der Entwurf des neuen ungarischen
Irrengesetzes (von Otto Freiherrn von Babarczi-Schwartzer).
Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. Bd. 4, H. 4, S. 494. (S. 60*.)
9. Jaquelier et Füassier, La jurisprudence des tribunaux en matiere
de divorce et d’aliönation. Ann. m6d.-psychol. no. 1, p. 91.
10. Köhne (Berlin), Berichtigung betr. Fürsorgeerziehung. Psych. -
neurol. Wschr. Jahrg. 12, Nr. 48, S. 450.
11. Lagriffe, L. (Auxerre), Quelques considörations sur l’assistance
des aliönös et sur le projet de rßforme de la loi du 30. VI. 1838.
Ann. möd.-psychol. 69 e annöe, no. 2, p. 243.
12. de la Luz, F. A., Organizacion del servicio de locos criminales
en Cuba. Rivista Frenopätica Espanola no. 106, p. 298.
13. Major , Gustav (Zirndorf), Fürsorgeerziehung und Heilpädagogik.
Ztschr. f. Psychother. u. med. Psychol. Bd. III, H. 4, S. 193.
(S. 62*.)
14. Mönkemöller, 0. (Hildesheim), Die geistigen Abnormitäten bei
schulpflichtigen Fürsorgezöglingen und ihre Behandlung.
Ztschr. f. Erforsch, u. Behandl. d. jugendl. Schwachsinns
Bd. VI, H. 5—6, S. 431. (S.62*.)
15. Näcke, P., Die Notwendigkeit ärztlicher Leitung an Defekten-
anstalten (Anstalten für Idioten, Schwachsinnige, Epileptiker,
Taubstumme, Fürsorgezöglinge usw.). H. Groß’ Archiv
Bd. 41, H. 1 u. 2, S. 88 ff. (S. 61*.)
16. Obersteiner, H., Der Geisteskranke und das Gesetz in Österreich.
Jur.-psych. Grenzfr. Bd. 7, H. 5. 1 M. Halle, C. Marhold.
17. RoMe, Wann muß eine Trinkeranstalt und besonders eine Irren¬
anstalt einen gegen seinen Willen festgehaltenen Trinker
entlassen? Mtschr. f. Kriminalpsychol. u. Strafrechtsref.
Jahrg. 8, H. 1, S. 1 ff. (S. 61*.)
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60*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
18. Schnitzer, Hubert, Bericht über das Ergebnis der psychiatrisch-
neurologischen Untersuchung und Behandlung der Fürsorge¬
zöglinge in den Erziehungsanstalten Züllchow, Warsow und
Magdalenen-Stift bei Stettin. Sonderabdruck aus der Ztschr.
f. d. Erforsch, u. Behänd! d. jugendl. Schwachsinns Bd. 5,
S. 97 ff. Jena 1911. (S. 62*.)
19. Schnitzer, H. (Stettin), Die Mitwirkung des Psychiaters bei der
Fürsorgeerziehung. Ztschr. f. d. ges. NeuroL u. Psych.
Bd. V, H. 1, S. 1. (S. 62*.)
20. Schröder, P., Die geistig Minderwertigen und die Jugendfürsorge¬
erziehung. Ztschr. f. d. ges. NeuroL u. Psych., Sonderabdruck
aus Bd. II! H. 5, S. 705 ff. (S. 61*.)
21. Stooß, Karl, Zur Natur der sichernden Maßnahme. Mtschr. 1
Kriminalpsycho! u. Strafrechtsref. Jahrg. 8, H. 6 «i. 7,
S. 368 ff.
22. Victor io, A. F. (Reus), Enfermedades, nerviosas y mentales y un
aplndice conteniendo la legislacion referente a los alienados.
467 S. Barcelona 1911, Manuel Marin.
23. Weber, L. W. (Göttingen), Ist ein gemeingefährlicher Anstalts¬
kranker ein Gefangener im Sinne der §§ 120, 121 StGB.?
Mtschr. f. KriminalpsychoL u. Strafrechtsref. Jahrg. 8,
H. 2, S. 103.
24. Wümanns, Karl (Heidelberg), Die praktische Durchführbarkeit
der Bestimmungen über die verminderte Zurechnungs¬
fähigkeit im Vorentwurfe. Mtschr. f. Kriminalpsycho! u.
Strafrechtsref. Jahrg. 8, H. 3, S. 136. (S. 61*.)
25. Wynibow, N., Zur Frage der Fürsorge und Behandlung geistes¬
kranker Verbrecher. Revue f. Psych., Neuro! u. experim.
Psycho! (russ.) H. 16.
In Ungarn war das Irrenwesen bisher nur^ durch 6 Paragraphen des Gesetzes
XIV vom Jahre 1876 geregelt. Die Paragraphen betrafen hauptsächlich die admini¬
strative Seite des Irrenwesens, das im übrigen durch eine Unzahl von Ministerial-
verfügungen zu konkreten Fällen „geregelt“ war. Neuerdings ist nun ein Irren¬
gesetz von Barbaren -Schwärteer ausgearbeitet und im Entwurf vom Landes¬
sanitätsrat approbiert. Der Entwurf wird von Hudovemig (8) mitgeteilt, er umfahr
104 Paragraphen in 12 Abschnitten. Der erste Abschnitt stellt fest, daß die Beauf¬
sichtigung des Irrenwesens eine staatliche Aufgabe ist, und daß die Bestimmungen
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Wendenburg, Gerichtliche Psychopathologie. 61*
des Gesetzes auf jede Form von Geisteskrankheit Anwendung finden sollen. Der
zweite beschränkte die Anstaltsaufnahme lediglich auf die Gemeingefähriichen,
während früher auch die Heilbarkeit ein Grund zur Anstaltspflege war. Der dritte
Abschnitt bestimmt, dafi jede Lokalität oder Kolonie, die nicht zur Familie gehörige
Geisteskranke pflegt, unter das Gesetz fällt, damit sich keine derartige Unter*
nehmung der Aufsicht entziehen kann. Ferner soll der Direktor in jedem Falle
ein Arzt sein, der über mindestens 2 jährige psychiatrische Vorbildung verfügt.
Ihm untersteht das Pflegepersonal, dessen Annahme und Entlassung von ihm
abhängt. Für je 10 Kranke muß ein Pfleger vorhanden sein. Der vierte Abschnitt
unterscheidet zwischen Krankenaufnahme und -Übernahme; diese geschieht auf
Grund ärztlicher Notwendigkeit, jene auf Gerichtsbeschluß. Ein Entmündigungs¬
verfahren braucht dazu nicht eingeleitet zu werden. Gegen den Beschluß kann
Revision eingelegt werden. Bezirksgericht, Vormundschafts- und Aufsichtsbehörde *
sind von der Übernahme binnen 24 Stunden zu benachrichtigen. Für die Ent¬
lassung gelten ähnliche Bestimmungen. Der siebente Abschnitt verfügt, daß nicht
nur die in Anstalten befindlichen, sondern auch die in Familienpflege oder sonstwo
untergebrachten Kranken der behördlichen Aufsicht unterstehen, über alle Kranken
sind genaue Personalregister zu führen. Kriminelle Kranke sind von den anderen
gesondert zu halten, geistig minderwertige in besonderen Anstalten unterzubringen,
so lange der pathologische Zustand besteht und zu befürchten ist, daß sie die öffent¬
liche Ordnung stören. Im elften Abschnitt finden sich Strafbestimmungen für
Vergehen gegen das Gesetz, der zwölfte enthält die Ausführungsbestimmungen.
Auf Rohdes (17) juristische Ausführungen über die Entlassung von
Trinkern aus Trinker und Irrenanstalten sei wegen ihrer Gründlichkeit und der
Wichtigkeit des Themas besonders hingewiesen.
Willmating (24) glaubt, daß sich bei der Verwahrung der gemindert
Zurechnungsfähigen, wie sie der V.-E. vorsieht, nicht unerhebliche
praktische Schwierigkeiten einstellen werden. Namentlich wird bei strenger An¬
wendung der betr. Paragraphen eine große Zahl von Minderwertigen in Verwahrung
genommen werden müssen.
Näcke (15) hält, unter dem Hinweis auf die traurigen Zustände des belgischen
Irrenwesens, Personal, das einem geistlichen Orden angehört, nicht für Irren¬
anstalten geeignet. Er tritt ferner dafür ein, daß auch die Leitung der Defekteh-
anstalten in ärztliche Hände gelegt wird.
Bührer (3), ein Jurist, verlangt dringend rechtlichen Schutz gegen unge¬
rechtfertigte Einsperrung in Irrenanstalten. Den Beweis, daß
solche Einsperrungen wirklich Vorkommen, führt er leider nicht.
Fürstenheim (6) beklagt, daß Debile und Psychopathen weder durch das
Gesetz vom 11. Juli 1891 noch durch das Fürsorgeerziehungsgesetz eine gesetzlich
geregelte Fürsorge gefunden hätten, weil diese psychischen Krankheitszustände
damals, als man diese Gesetze gab, noch nicht so genau bekannt gewesen wären.
Er verlangt, daß diese Zu stände in Zukunft durch eine entsprechende Formulierung
des F.-E.-G. berücksichtigt werden, damit auch sie der Heilerziehung unter mediko-
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63*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
pädogischen Gesichtspunkten teilhaftig werden können. Der Erfolg der Erziehung
würde die vermehrten Kosten reichlich aufwiegen.
Der Bericht über den ersten bayerischen Jugendfürsorgetag i v 2i
bringt mehrere sehr anregende Vorträge über die körperliche und geistige Ent-
-wicklung und die Psychopathologie im Kindesalter von Seite, Isserlin und Rüdin.
Auch die Erziehung jugendlicher Minderwertiger und die Asylbehandlung werden
eingehend erörtert.
Ein Vortrag Mönkemöüers (14), der besonders den Vorstehern und Lehren:
an den Rettungshäusern das Verständnis für geistige Abnormitäten-
bei schulpflichtigen Fürsorgezöglingen vermitteln sollte, hebt hervor, d&£
die Normalschule schon lange die geistigen Mängel der Schüler berücksichtigen ge¬
lernthätte, während die Schulen für Fürsorgezöglinge hierin noch nicht soweit wären.
• Er schildert dann eingehend die bekannten krankhaften Veränderungen welche
wir als Resultat der psychiatrischen Untersuchungen bei Fürsorgezöglingen in den
letzten Jahren kennen gelernt haben und bespricht ihre Ursachen und ihre Behandlung.
P. Schröder (20) hat 80 Minderjährige untersucht, bei denen das Gericht üb«
■die Notwendigkeit der Fürsorgeerziehung entscheiden sollte. Die Hälfte
von ihnen war noch nicht 13 Jahre alt, einzelne noch nicht einmal 6. 60% wäret
schwachsinnig, viele erinnerten in ihren Handlungen, ihrer Stimmungslage und
Unmoralität am chronisch Manische.
Schnitzer (19), dessen Untersuchungen an Fürsorgezöglingen die bekanntet
Resultate ergeben haben, tritt ebenfalls für stärkere Mitwirkung des
Psychiaters bei der Fürsorgeerziehung ein. Sie hätte schon
bei der Anordnung der F.-E. einzusetzen, damit für eine dem psychischen Zustande
entsprechende Unterbringung Sorge getragen wird. Die Möglichkeit zu längerer
Beobachtung in Adnexen von Irren- oder Erziehungsanstalten ist unbedingt not¬
wendig. Die Abnormen müssen von den Normalen oder leicht Abnormen strenr
getrennt werden. Lehrer und Erzieher müssen in regelmäßigen Kursen mit der
Psychopathologie vertraut gemacht werden. Geistig Abnorme sind nach Ablauf
der F.-E. zu entmündigen. Anstalten, die keinen psychiatrischen Beirat haben,
müßten durch Besuchskommissionen kontrolliert werden. Diesen Kommissionen
muß ein Psychiater angehören.
Schnitzer (18) berichtet ferner über die Untersuchungsergebnisse an pommer-
schen Fürsorgezöglingen. Auch er kommt zu dem Resultat, daß der Prozentsatz
der Abnormen erschreckend hoch (62%) ist und daß namentlich unter den Krimi¬
nellen sich besonders viel pathologische Naturen finden. Auch Major (13), der eine
größere Zahl (178) von kriminellen und unerziehbaren Kindern auf psychische
Abnormitäten untersucht hat, weist auf den hohen Prozentsatz der psychisch
Abnormen (73%) unter ihnen hin und richtet an die maßgebenden Behörden den
eindringlichen Appell, diese Tatsachen zu berücksichtigen und ihnen abzuhelfen.
VI. Psychiatrie und soziale Gesetzgebung.
1. Ascher , Selbstmord angeblich infolge von Sonnenstich. Ent¬
schädigung abgelehnt. Med. Klinik Nr. 32. (S. 67*.)
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.Wendenburg, Gerichtliche Psychopathologie.
63*
2. Ascher, Progressive Muskelatrophie-Armverletzung. Sonder¬
abdruck aus der ÄrztL Sachv.-Ztg. 1911 Nr. 14, S. 1 ff.
(S. 68*)
3. Becker, L., Die Bestimmung des Beginns der dauernden Erwerbs¬
unfähigkeit bei der Invalidenversicherung. Ärztl. Sachv.-Ztg.
Nr. 19, S. 393.
4. Bischoff, E. (Langenhorn), Über einen Fall von Starkstrom¬
verletzung. Die Restitutionsreihe der körperlichen und
geistigen Störungen. Med. Klinik Nr. 28, S. 1080. (S. 68?.)
5. Boldt, K. (Graudenz), Schwere hysterische Lähmung eine Züch¬
tigungsfolge? Ärztl Sachv.-Ztg. Nr. 14, S. 289. (S. 68*.)
6. Bolten, Traumatische Neurose. Tydschr. voor Geneesk. no. 9.
Ref.: Deutsche med. Wschr. Nr. 38, S. 1764.
7. Bruch, Carl, Psychisches Trauma und Gehirnentzündung. Med.
Klinik Nr. 24. (S. 68*.)
8. Engelen (Düsseldorf), Simulation und Aggravation neurasthenischer
Beschwerden. Ärztl. Sachv.-Ztg. Nr. 8, S. 158. (S. 67*.)
9. Erben, S., Vorschläge zur Beurteilung und Behandlung der Unfall¬
neurosen. Wien. med. Wschr. Nr. 61, S. 2241.
10. Glueck, B., Traumatic psychoses and post traumatic psychopatic
States. Journ. of the Americ. med. Assoc. no. 13.
11. Jolly, Ph. (Halle), Selbstmord nach Unfall. Ärztl. Sachv.-Ztg.
‘ Nr. 15. (S. 67*.)
12. Juliusburger , Otto (Steglitz), Über einen Fall von akuter auto-
psychischer Bewußtseinsstörung, ein Beitrag zur Lehre von
Kriminalität und Psychose. Zentralbl. f. Psychoanal S. 308.
13. Kieman, J. 0. (Chicago), Forensic aspects of fright caused trau-
matism. The alienist and neurol. 1911 vol. XXXII, no. 4, p. 642.
14. Koppen, M., Zur Frage der Beurteilung des Selbstmordes in
Versicherungsangelegenheiten. Charite Ann. XXXV. (S. 66*.)
15. Kurthen, Jacob Theodor, Über atypische Unfallpsychosen und ihre
unfallrechtliche Bedeutung. Inaug.-Diss. Bonn 1911.
16. Laignel-Lavastme, Les troubles psychiques dans les accidents du
travail. Paris Medical no. 48, p. 461.
17. Leppmann, A. (Berlin), Die traumatischen Psychosen (und Neu¬
rosen) mit besonderer . Berücksichtigung der Unfallgesetz¬
gebung. Ztschr. f. ärztl. Fortbildung Nr. 22. (S. 64*.)
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64*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
18. Mametschke (Breslau), Geisteskrankheit und Unfall. Med. Klinik
Nr. 52, S. 2035. (S. 66*.)
19. Placzeh , 8. (Berlin), Selbstmord, Geistesstörung, UnfalL Med.
Klinik Nr. 49, S. 1910. (S. 66*.)
20. Plaezek , S. (Berlin), Simulation von Geistesstörung und Schwer¬
hörigkeit. Med. Klinik Nr. 30, S. 1176.
21. Plaezek (Berlin), Gutachtliche Seltsamkeiten. 36 S. 1 M. Leipzig.
J. A. Barth. (S. 65*.)
22. Räuber , Geisteskrankheit nach Entziehung der Invalidenrente.
Ztschr. f. Versicherungsmed. Nr. 2.
23. Reinhard , Ein Fall von Bentenkampfhysterie. Med. Klinik Nr. 36,
S. 1400.
24. Reinhard (Bautzen), Tod an delirium tremens als Unfallfolge
anerkannt. Med. Klinik Nr. 40, S. 1558.
25. Schnüer , E., Gliose des Gehirns und Schwachsinn; forensischer
Fall, auf Grund der histopathologischen Untersuchungen
entschieden. Sonderabdruck aus der Ztschr. f. d. Erforsch,
u. Behandl. d. jugendl. Schwachsinns Bd. 4, S. 212 f. Jena
1910. (S. 68*.)
26. Zmgerle (Graz), Bemerkungen über Unfallneurosen. Mtschr. L
Unfallhlk. Nr. 9. (S. 67*.)
Das Trauma ist nach A. Leppmann (17) selten die alleinige U r •
sache einer Psychose oder traumatischen Neurasthenie, es kommen fast
immer noch andere Momente bei der Entstehung dieser Zustände in Frage, welche
vom Arzt bei der Begutachtung als Mitursachen ip Rücksicht zu ziehen sind. Für
den § 224 StGB. (Verfall in Geisteskrankheit nach Körperverletzung) ist es aller¬
dings nach einer Reichsgerichtsentscheidung gleichgültig, ob der Boden, anf den
die Verletzung fiel, schon vorbereitet war oder nicht. Durch die soziale Gesetz¬
gebung des BGB., den Tierhalterparagraphen, das Haftpflichtgesetz für die Eisen¬
bahnen und die private Unfallversicherung kommt der Arzt nun häufig in die Lage,
in zivilrechtlichen Prozessen sein Gutachten abgeben zu müssen. Da ist zunächst
interessant, daß die Privatgesellschaften häufig durch Klauseln die Entschädigung
für rein psychisch erzeugte Geistes- und Nervenkrankheiten, sog. Schreckpsychosen
und Neurosen, ausschließen und ferner für Neurosen nur 60% der wirklichen Er¬
werbsbeschränkung entschädigen. Für die Entstehung von psychischen Krank¬
heiten durch Unfälle kommen zwei Momente hauptsächlich in Frage: die mechanische
Erschütterung des Gehirns, die nicht immer durch Kommotionssymptome sich zn
dokumentieren braucht, und der Schreck. Ein drittes Moment bilden die Folgen:
Krankenlager, Schmerzen und Notlage, schließlich auch der Rentenhunger. Trau-
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Wen den bürg, Gerichtliche Psychopathologie.
65*
matische Psychosen können unter dem gewöhnlichen klinischen Bilde der primären
Geistesstörungen verlaufen, sie können als primäre Demenz auftreten, ein Zustand,
der wohl noch am meisten den Namen der traumatischen Demenz verdient, während
es eine eigentliche traumatische Psychose nicht gibt, es können Dämmerzustände
nach Traumen Vorkommen, es können aber auch sekundär alle möglichen Geistes¬
krankheiten sich einstellen, auch Katatonie und Hypochondrie und Paralyse.
Nicht selten tritt nach Kopftraumen auch eine Veränderung der Psyche im Sinne
seelischer Minderwertigkeit auf und schließlich folgt ihnen noch das Heer der trau¬
matischen Neurosen. Dies sind Zustände von reizbarer Schwäche des Nerven¬
systems, die gewöhnlich erst dann auftreten, wenn der Verletzte cliirurgisch geheilt
ist und wieder ins Leben hinaustritt. Für die Schadenabschätzung gibt L. folgende
Angaben: traumatische Psychosen 100%, Neurastheniker, die nicht zu schwerer
Arbeit fähig sind, 33\'<%, solche, die nicht zu schwerer und mittlerer fähig sind,
66‘/s%» und solche, die auch keine leichte Arbeit tun können, 100%. Die Prognose
ist unsicher, namentlich in höherem Lebensalter. Häufig finden sich bei den Trau-
matikern zahlreiche körperliche Degencrationszeichen.
Der Arzt, der Placzeks (21) gutachtliche Seltsamkeiten liest,
kommt aus dem Erstaunen nicht heraus. Gleichzeitig muß ihn aber das Gefühl
der Beschämung überkommen, daß es in unserem Stande noch so viel Kollegen
gibt, welche, um es gelinde auszudrücken, so wenig Ahnung von den Anforderungen
haben, welche die soziale Gesetzgebung heute täglich an uns stellt. Der selbstver¬
ständlichen Forderung, daß die jeweilige Behandlungsart eines Unfallverletzten
mit seinem sozialen Milieu, seinen bisherigen Lebensbedingungen und den darauB
resultierenden Ansprüchen im Einklänge stehen soll, entspricht es doch gewiß nicht,
wenn ein Arzt für einen Ingenieur mit 2600 M. Einkommen täglich eine Flasche
Wein zu 4 M., Kaviar zum Frühstück und Abendbrot und einen täglichen Ver¬
pflegungssatz von 20 M. (notabene in der eigenen Häuslichkeit) für angemessen
hält. Und was soll man dazu sagen, daß eine Telegraphengehilfin in 300 Tagen
für 347 M. Schabefleisch, für 109 M. Milch, für 66 M. Eier, ferner Malzextrakt,
Ananas u. dgl. verordnet werden, oder wenn jemand „einem kräftigen Manne mit
reichlichem Fettpolster“ in 3 Jahren für 1166,84 M. Stärkungsmittel wegen „trau¬
matischer Ischias“ vorschreibt? Auch in der Verordnung von Badekuren wird
unglaublich gesündigt, wenigstens erscheint die Verordnung einer Reise nach Kon¬
stantinopel ebenso seltsam, wie die Bescheinigung, daß ein Kaufmann Frau, Kind
und Spreewälderin im teuersten Sanatorium um sich haben mußte, um genesen
zu können. Alle diese angeführten Tatsachen geben zu denken, und es ist uns ein
schwacher Trost, daß auch Nichtärzte irren können, wie Placzek weiter ausführt.
Sehr beachtenswert ist noch, was er über die Beziehungen zwischen Paralyse und
Nervosität mit Unfällen sagt, bei denen in den meisten Fällen die Gutachter wohl
nur deshalb einen Zusammenhang annehmen müssen, weil der Nachweis fehlt,
daß die Paralyse oder die Nervosität schon vor dem Unfall bestanden hat. Den
Schluß des äußerst lesenswerten Werkchens bilden Beiträge zur Psychologie der
Rentenbewerber und kritische Besprechungen der Symptome der Unfallneurasthenie,
Zeitschrift für Psychiatrie. LXIX« Lit. e
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66*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
der Untersuchungstechnik und der Gepflogenheit, den Unfallverletzten die Gut¬
achten in extenso mitzuteilen, so daß sie sich danach einüben können.
Eine sehr interessante Mitteilung über den Zusammenhang von Traanu
und Psychose macht Marmetschke (18). Ein Maurer war 1906 etwa 4 m hoch
.herabgestürzt, hatte sich am Halse und am Kopfe gequetscht, war auch weh
vorübergehend bewußtlos gewesen, hatte aber nach kurzem Krankenlager die Arbe.t
wieder aufgenommen und 3 Jahre lang gearbeitet. Er hatte dabei fast immer üb<:
Kopfschmerzen geklagt und zuletzt auch Zeichen geistiger Veränderung geböte:.
Er erhängte sich schließlich, wurde als unbekannt beerdigt, nach 14 Tagen exhumiert
und obduziert. Die Sektion stellte am Gehirn die für Paralyse typischen Ver¬
änderungen fest, außerdem an dem linken, verletzten Stirnhöcker eine Knecher.-
verdickung und Verwachsung mit der harten Hirnhaut. M. sprach sich auf Gm
des früher erhobenen klinischen Befundes und nach dem Ergebnis der Sektion
dahin aus, daß ein Zusammenhang der Paralyse mit dem Unfall wahrscheinM
wäre, die Hinterbliebenen erhielten Rente, da das Suizid als eine mittelbare Fok?
des Unfalles angesehen wurde.
Vier interessante Gutachten über die Frage, ob ein Selbstmord durrt
einen Unfall mittelbar oder unmittelbar veranlaßt wäre, teilt Koppen (14 1
mit. In drei Fällen konnte der Suizid auf eine nach dem Unfall aufgetretene Geistes¬
störung zurückgeführt werden, im vierten hatte der Kranke nach dem Unfall Lungen-
gangrän bekommen und war zum Fenster hinausgesprungen. Obwohl hier keiur
Geisteskrankheit Vorgelegen hatte, glaubte K. doch, daß der Kranke unter einem
besonderen Zwange gehandelt hätte, weil er unheilbar und durch den aashafttr
Geruch des Auswurfs sich und anderen widerlich geworden wäre. In allen Gutachten
hatte das Reichsversicherungsamt die Frage vorgelegt, ob eine die freie Willens-
bestimmung ausschließende Unzurechnungsfähigkeit bestanden hätte. K. macht
darauf aufmerksam, daß diese Frage für den Psychiater besondere Schwierigkeit^
enthält, weil der Begriff „Unzurechnungsfähigkeit“ weder juristisch noch ps\-
chiatrisch ist. Dies hat seine Nachteile, die namentlich in der wenig präzisen Font
des Ausdrucks liegen, aber auch seine Vorteile, weil dem Gutachter, wenn er über¬
haupt solche in Ausdrücken des täglichen Lebens gehaltenen Fragen beantwortet
will, größere Bewegungsfreiheit bleibt in dem, was er als Unzurechnungsfähigkeit
ansehen will und was nicht. Er kann nämlich Handlungen, die unter einem abnormen
äußeren Zwange stehen, als unzurechnungsfähig ansehen, auch wenn der Nachweis
einer Geisteskrankheit nicht geführt werden kann. Und dies ist kein Nachteil,
da man einen Unfallkranken entschieden anders beurteilen muß wie einen Ver¬
brecher.
Placzek (19) teilt ein Aktengutachten über einen Maurer mit, der durch ein
Mauerstück an Kopf, Oberarm und Kreuz verletzt wurde, drei Monate nach dem
Unfall einen Selbstmordversuch durch Erhängen machte und sich
eine Woche danach wirklich erhängte. Es ließ sich feststellen, daß eine Melancholie
Vorgelegen hatte, und da diese Krankheit sich unmittelbar an den Unfall angeschlossen
hatte, kam PI. zu dem Gutachten, daß Unfall, Krankheit und Selbstmord in unmittel¬
barem, ursächlichem Zusammenhänge gestanden hätten.
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Wendenburg, Gerichtliche Psychopathologie. 67*
Ein Maurergeselle war von seinem Polier getadelt. Er verließ, ohne ein Wort
zu sagen, seine Arbeit und erhängte sich. Die Witwe machte Ansprüche auf Hinter¬
bliebenenrente geltend, zuerst, weil der Verstorbene früher ein Kopftrauma erlitten
hätte und seitdem nervenkrank gewesen wäre, später, weil er an dem Todestage
einen Sonnenstich erlitten hätte und dadurch der Besinnung beraubt wäre. Ascher (1)
kam, trotzdem die Temperatur an dem Tage wohl imstande war, einen Sonnenstich
hervorzurufen, zu einem ablehnenden Gutachten, weil die bloße Möglichkeit eines
Sonnenstichs nicht genügte zur Annahme eines Betriebsunfalles. Es ließ sich nicht
nachweisen, daß der Verstorbene an dem Tage Veränderungen seines Wesens gezeigt
hätte, welche auf eine psychische, durch Sonnenstich hervorgerufene
Erkrankung schließen ließen. Da demnach nicht einmal eine Wahrschein¬
lichkeit für einen solchen Betriebsunfall vorlag, konnte auch der Selbstmord nicht
auf einen Unfall zurückgeführt werden. Das Reichsversicherungsamt schloß sich
dieser Auffassung an.
Jolly (11) macht auf die Tatsache aufmerksam, daß die Zahl der Selbstmorde
dauernd zunimmt (20,6 :100 000) und sich in Deutschland seit 1873 fast ver¬
doppelt hat. Nicht wenige Selbstmörder sind geisteskrank, die Angaben darüber
schwanken zwischen 20—30—40%. Er hatte in einem Falle zu begutachten, ob
der Selbstmord eines Unfallverletzten (kompl. Knöchelbruch mit folgendem
delirium trem.) auf den Unfall zurückzuführen wäre. Da der Verletzte nach
dem Unfall ein depressives Wesen gezeigt hatte, kam Jolly zu der Ansicht, daß
ein mittelbarer Zusammenhang zwischen Suizid und Trauma bestände, das Schieds¬
gericht erkannte demgemäß, das Reichsversicherungsamt hob den Beschluß aber
wieder auf, weil der Selbstmord nicht einer plötzlichen krankhaften Eingebung
entsprungen wäre, sondern als eine wohlüberlegte Handlung anzusehen sei. J.
zitiert dann Fälle, in denen das R.-V.-A. über den Zusammenhang von Unfall und
Suizid zu entscheiden hatte, beklagt, daß nur in wenigen eine Untersuchung der
Psyche stattgefunden hätte, und kann sich der Entscheidung des R.-V.-A. nicht
anschließen, da sie vom psychiatrischen Standpunkt aus in mehr als einem Punkte
anfechtbar ist.
Eine kurze, aber zusammenfassende Übersicht über die Anschauungen, welche
in den letzten Jahren in der Literatur über die Unfallneurosen zutage
getreten sind, bringt Zingerle (26). Man erkennt aus ihnen namentlich das Mi߬
verhältnis von körperlichem oder psychischem Trauma und Schwere der Neurose,
den ungünstigen Einfluß der Rentensucht und den günstigen der Kapitalsabfindung
auf den Verlauf. Aber auch die Notwendigkeit, daß die Ärzte noch mehr als bisher
sich der Verantwortlichkeit und der Folgen ihrer Gutachtertätigkeit bewußt werden
müssen, wird scharf beleuchtet.
Engelen (8) hält Simulation von nervösen Beschwerden für recht
häufig, namentlich in der mit der Invaliden- und Unfallgesetzgebung in Verbindung
stehenden Praxis treten dem Arzte die Schattenseiten der sozialen Fürsorge deutlich
vor Augen. Wehleidigkeit, Energielosigkeit und Verweichlichung bei den Ver¬
sicherten finden sich häufig. Es ist dringend notwendig, die Nervösen nicht zu
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
milde zu beurteilen, namentlich allen Aggravationsversuchen energisch entgegen¬
zutreten, um der Gefahr, den Volkscharakter zu verderben, entgegenzutreten.
Über einen interessanten Fall von Starkstromverletzu ng (24'.’
Volt) mit nachfolgender psychischer Störung berichtet E. Bischoff (4). Die unmittel¬
baren Folgen waren: lokale Brandblasen, weißer Schaum vor dem Munde, Mydriasij
und Starre der Pupillen, tonische Starre des ganzen Körpers, Oppenheim unc
Babinski, Bewußtlosigkeit, Jaktationen, dann Ruhe und langsam wieder eintretenc#
Reaktion der Muskeln auf Schmerzreize und der Pupillen auf Licht. Der Puls
schwankte, anfangs 90, später 44. Nach 16 Stunden Rückkehr des Bewußtsein-,
es bestand aber deutliche retrograde Amnesie von 7 Tagen und Abnahme der ilerk-
fähigkeit, die beide erst nach 4 Wochen verschwanden.
Bruch (7) nahm bei einem Steuermann, der einen heftigen Schreck erlitten
hatte und etwa ein Jahr später nach längerer Krankheit starb, einen Zusammen¬
hang der bei der Sektion gefundenen serösen Enzephalomeningitis mit dem psychi¬
schen Trauma an.
Ein Schmied hatte durch einen herabfallenden Mauerstein eine Kontusion
des linken Handgelenks erlitten und führte Muskelschwund und Schwäch#
des linken Unterarms auf die Verletzung zurück. Als ihn Ascher (2) untersucht#,
fand er an beiden Armen Zeichen progressiver Muskelatrophie, die am rechten
Arme stärker ausgeprägt war als am linken, verletzten. Auf Grand dieses Befundes
glaubte A. einen Zusammenhang zwischen dem Unfall und dem bestehenden Leider
nicht annehmen zu dürfen. Die Unfallansprüche wurden abgelehnt.
Boldt (ö) begutachtete einen 10 jährigen Jungen, der nach einer Züch¬
tigung durch den Lehrer schwere hysterische Lähmungen be¬
kommen hatte. Er konnte nachweisen, daß das Kind schon vor der Züchtigung
nervös gewesen war, und daß die Hysterie nur die indirekte Folge einer das nornuk
Züchtigungsrecht nicht überschreitenden Züchtigung (Maulschelle, Hiebe auf
das Gesäß) gewesen war. Von einer vorsätzlichen Körperverletzung konnte trotz
der schweren Folgen nicht die Rede sein und die gegen den Lehrer eingeleiteten
strafrechtlichen und zivilrechtlichen Verfahren wurden eingestellt.
Ein Lehrer war angeklagt, gegen einen Schüler das Züchtigungsrecht
überschritten und dadurch dessen Verfall im Siechtum mit tödlichem
Ausgang herbeigeführt zu haben. Es handelt sich um epileptische Krämpfe und
Tod im Status epilepticus. Die Krämpfe hatten sich im Anschluß an eine Züchtigung
mit dem Stock auf Gesäß, Arme und Beine eingestellt; w r ie später nachgewiesen
wurde, hatte der Junge aber auch schon in der Nacht vor der Züchtigung einen
Anfall gehabt, er war im übrigen ..schwachsinnig dumm und stinkfaul“. Gaupp
konnte auf Grand histologischer Untersuchung des übersandten Gehirns feststellen,
daß eine diffuse Sklerose die Ursache der Krämpfe und des Todes gewesen war.
Da die Sklerose als angeborenes Leiden betrachtet werden muß, und ein Krampf¬
anfall schon vor der Züchtigung aufgetreten war, so konnte diese nicht als Ursache
der Krankheit angesehen werden. Es erfolgte Freisprechung. Wie Schnizer (25)
mitteilt, haben sich bei der Untersuchung der gliösen Veränderungen besonders
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Wendenbarg, Gerichtliche Psychopathologie.
69*
die Methoden von Menbacher und AUeheimer wegen ihrer Zuverlässigkeit und der
Schnelligkeit, mit der sie zum Ziele führten, bewährt,
VII. Psychiatrie und Militär.
1. Adam (Bourg), Les maladies mentales dans Farmte. Ann. möd.-
psychol 69 ann6e, no. 1, p. 58.
2. Albrecht, 0. (Graz), über Kranksinnigenfürsorge im Felde. Jahrb.
f. Psych. u. Neurol. Bd. 32, H. 3, S. 989. (S. 71*.)
3. Auer, Zur Statistik und Symptomatologie der bei Marine-An¬
gehörigen vorkommenden psychischen Störungen, insbesondere
über Katatonie, pathologischen Bausch, Imbezillität und
deren forensische Beurteilung. Arch. f. Psych. Bd. 49,
H. 1, S. 1 ff.
4. Bendixsohn. H. (Greifswald), Psychosen im russisch-japanischen
Kriege. Wien, klin.-therapeut. Wschr. Nr. 14. (S. 71*.)
5. Bennecke , Simulation und Selbstverstümmlung in der Armee
unter besonderer Berücksichtigung der forensischen Be¬
ziehungen. H. Groß’ Archiv Bd. 43, H. 3 u. 4, H. 193 ff.
(S. 72*.)
6. Deleüo , F. G., Las psicopatias en el ejörcito espaiiol. Revista
frenopatica Espanola no. 105, p. 278.
8. Hoffmann, P., Zur Kasuistik und militärforensischen Beurteilung
imbeziller Heeresangehörigen. Friedreichs Bl. f. gerichtl.
Med. (S. 72*.)
9. Krüger, J. (Dresden), Behandlung von Militärgefangenen und
Arbeitssoldaten. Deutsche militärärztl. Ztschr. H. 7.
10. Mayrac, De la santö psychique du Soldat. Arch. d’anthrop. crim.
p. 125.
11. Naville, Francois (Genf), Contribution ä l’6tude de l’aliönation
mentale dans l’armöe suisse et dans les armöes ötrangeres.
184 p. Inaug.-Diss. Nr. 280.
12. Padet, L’armöe et les aliSnös. Caducöe 11, I.
13. Padet, Les aliönös dans l’armöe. Bull, de la soc. clin. de möd.
ment. no. 2, p. 43.
14. Richards, R. L. (Washington), A study of the military offences
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UNIVERSITY O^MICHIGAN
70*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
committed by the insane in the United States army for the
past fiftv years. Araeric. joum. of insan. no. 2, p. 279.
15. Schnizer, E. (Tübingen), Verletzung der Pflichten der militärischen
Unterordnung im hysterischen Erregungszustand und die
Frage der Zurechnungsfähigkeit. Deutsche militärärztL
Ztschr. Nr. 5. (S. 71*.)
16. Stier, E. (Berlin), Fürsorgeerziehung und Militärdienst. Deutsche
militärärztL Ztschr. H. 22. (S. 70*.)
17. Stier, E. (Berlin), Fortschritte in der Fürsorge für Geisteskranke
im Kriege. Deutsche militärärztL Ztschr. H. 11. (S. 71 *.)
18. Weyert (Posen), Kritische Bemerkungen zur Erkennung des
angeborenen Schwachsinns. Deutsche militärärztL Ztschr.
H. 20. (S. 70*.)
Weyerl (18) macht in einer sehr anregenden Arbeit darauf aufmerksam. daS
die Hälfte aller Zugänge an psychischen Erkrankungen bei der Truppe auf des
angeborenen Schwachsinn entfällt. Nach eingehender Würdiguc;
der Literatur teilt er seine Erfahrungen als Anstaltsarzt des Spandauer Festunz?-
gefängnisses mit. Er hat alle Militärgefangene, die früher in Erziehungsanstalten
untergebracht waren, systematisch durchuntersucht und 29 Fürsorgezöglinrr
unter ihnen gefunden. Von diesen waren 44,8% schwachsinnig und wenn dies;
Zahl auch nur klein ist, so rechtfertigt sie doch die von den Psychiatern erhobene
Forderung, Fürsorgezöglinge nur versuchsweise einzustellen. Er teilt dann die
Ministerialerlasse mit, auf Grund deren die Einstellung solcher Defekten nach
Möglichkeit verliindert werden kann. Die Beobachtung zweifelhafter Elemente
bei der Truppe ist freilich nicht leicht, eine genaue Kenntnis ihrer Vorgeschichte
ist vor allem nötig, Belehrung der ausbildenden Offiziere und Unteroffiziere über
die Kennzeichen der Grenzzustände ist zu empfehlen. Zur Feststellung der Vor¬
geschichte teilt er das Schema eines Fragebogens mit. Weyerl kritisiert dann die
häufigsten Formen des Schwachsinns und die Untersuchungsmethoden der In¬
telligenz. Er empfiehlt zur Intelligenzprüfung hauptsächlich Ziehens Methoden.
Im allgemeinen hält TV. die Schwachsinnigen nicht für diensttauglich, wenn auch
zugegeben werden muß, daß einzelne unter ihnen sich ganz gut ausbilden lassen
und in die militärische Disziplin einfügen. Jedenfalls muß es der Truppe zur Auf¬
gabe gemacht werden, die geistig auffälligen Soldaten herauszufinden. Dazu ist
die Erhebung einer genauen Vorgeschichte notwendig, denn die kritische Würdigung
des ganzen Lebensganges ist den Methoden der Intelligcnzprüfung noch immer
bei der Erkennung des Schwachsinns überlegen.
Stier (16), der über Fürsorgeerziehung und den Militär¬
dienst berichtet, ist ebenfalls der Ansicht, daß es im Interesse der Truppe hegt,
wenn psychisch Abnorme von der Truppe ganz ferngehalten werden. Zu diesem
Zwecke müßten die Namen aller Fürsorgezöglinge, bei denen sich psychische Ab-
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Wendenburg, Gerichtliche Psychophatologie.
71*
normitäten gezeigt haben oder die sich in den letzten 3 Jahren vor der Einstellung
nicht tadelfrei geführt haben, den Ersatzkommissionen mitgeteilt werden. Auf
diese Weise könnten die Unbrauchbaren leicht erkannt werden, ohne daß das Prinzip
der allgemeinen Wehrpflicht durchbrochen würde. Beigefügte Gutachten müßten
vor allem Tatsachen enthalten, aus denen der Schwachsinn oder die psychische
Abnormität erhellt, damit die Kommissionen sich ein eigenes Urteil über die Dienst¬
brauchbarkeit des Mannes bilden könnten. Die Gefahr der Stigmatisierung einzelner
Rekruten würde bei diesem Verfahren so gering sein, daß man sie ruhig außer Acht
lassen kann. Bei diesem Verfahren würde also niemand Schaden leiden, die Armee
aber nur Nutzen haben.
Um den Geisteskranken im Felde die nötige Pflege angedeihen
zu lassen, sind in neuester Zeit mehrere Verordnungen ergangen, über die Stier (17)
berichtet. Sie betreffen namentlich die Bereithaltung von Beruhigungsmitteln,
von Betten, unzerreißbarer Kleidung und die Ausbildung von Sanitätspersonal
in der lrrenpflego. Wünschenswert wäre es, wenn auch die freiwillige Kranken¬
pflege Ärzte und Personal stellte, welches mit der Pflege und mit dem Transport
Geisteskranker vertraut wäre.
Albrechl (2) stellt zahlreiche Angaben aus der Literatur über die Krank-
sinnigenfürsorge im Felde zusammen, aus denen übereinstimmend
hervorgeht, daß Geisteskranke im Felde möglichst rasch ausgeschieden werden
müssen, daß deshalb geeignete Vorkehrungen bei den Truppen getroffen werden
müssen, welche gestatten, die Kranken zunächst aufzugreifen und vorläufig zu
sichern, und daß drittens Vorkehrungen zur Unterbringung und Entfernung der
Kranken vorhanden sein müssen. Die Truppen müssen dazu Hyoszin und Zwangs¬
jacken mitführen, besonders eingerichtete Automobile haben den Transport vom
Verbandplatz zur nächsten Irrenanstalt oder Barackensammelstelle für Geistes¬
kranke zu übernehmen. Diese Barackensammelstellen müssen im Falle eines Krieges
in erreichbarer Entfernung von der Armee eingerichtet werden, damit weite Trans¬
porte nicht zu viel Sanitätspersonal kosten.
Die russische Armee hat im japanischen Feldzuge in größerem Maßstabe
sich mit der praktischen Irren pflege im Kriege befassen müssen. Vor¬
gesehen war nach Bendixsohn (4) nichts, es wurde alles unter dem Zwnnge der
Verhältnisse eingerichtet. Im ganzen waren etwa 2000 Fälle zu behandeln, auf
1000 Kranke kamen 4 Psychosen. Bei den Offizieren standen die Alkoholpsychosen,
bei den Mannschaften die epileptischen Psychosen, die beide */* der Zugänge aus¬
machten, an erster Stelle. Hecht gering war die Zahl der traumatischen Psychosen,
nur bei 34 von 1072 Soldaten und 8 von 275 Offizieren, die an Psychosen litten,
hatte ein Trauma die geistige Erkrankung verursacht, die infektiösen Delirien
waren ebenfalls selten. B. rät dringend davon ab, den Soldaten im Felde Alkohol
zu verabfolgen, da er Psychosen begünstigt, ohne die Leistungsfähigkeit zu erhöhen.
Schniztr (15) teilt das Gutachten über einen Soldaten mit, der in einem Zu¬
stande plötzlicher Störung der Geistestätigkeit sich Widersetzlichkeit
gegen einen Unteroffizier hatte zu schulden kommen lassen. An einen initialen
Wutausbruch schloß sich längeres Toben, dann tiefer Schlaf und Verwirrtheit an.
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72* Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
Nachher bestand undeutliche Erinnerung. Die Genese des Zustandes war nkiu
klar, es blieb unentschieden, ob Epilepsie oder Hysterie vorlag. Die ganze Persön¬
lichkeit des Angeklagten sprach dafür, daß ein hysterischer Dämmer¬
zustand Vorgelegen hatte. Er war schon immer durch sein Selbstgefühl. sein-
Empfindsamkeit, seine Stimmungsschwankungen und seine Unstetigkeit aaf-
gefallen.
Hoff mann (8) teilt das Untersuchungsergebnis bei einem Imbeziller
mit, der oft vorbestraft war und als unsicherer Heerespflichtiger
eingestellt wurde. Schon bei der Ausbildung fiel der Mann auf, dann machte t-r
einen unmotivierten Fluchtversuch, wehrte sich gegen seine Verfolger und wurtir
dementsprechend angeklagt. In der Klinik trat der Schwachsinn klar zutage uc<i
H. gab sein Gutachten dahin ab, daß der Angeklagte dienstuntauglich und nicht
verantwortlich sei. Er macht ferner darauf aufmerksam, daß Imbezille für d*
Heer höchst lästig wären, und wie wichtig es ist, daß über solche Leute ein genauer
Bericht über ihr Vorleben vor der Einstellung eingezogen wird. Auf die für dir
Schwachsinnigen charakteristische Lebensführung muß man bei der Begutachtung
größeren Wert legen als auf die Schulleistungen, die eventuell noch genügend seit
können.
Bennecke (6) hat die seit 1890 in der sächsischen Armee vorgekommenet
Fälle von Selbstverstümmelung (34 Fälle) und Simulatior.
(42 Fälle) einer Durchsicht unterzogen. Von den 42 Simulanten hatten nur 2 ver¬
sucht, eine Geistesstörung zu simulieren, 9 litten tatsächlich an Nervenleiden
Mannschaften des 2. und 3. Jahrganges waren stärker unter ihnen vertreten, wahr¬
scheinlich beruht dies auf der schwächlicheren Konstitution dieser Leute. V*r
den Selbstverstümmlern war ein geringer Prozentsatz geistig abnorm.
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Klin. Nr. 24, S. 913. (S. 118*.)
381. Weißenberg, 8., Das Wachstum des Menschen nach Alter, Ge¬
schlecht und Basse. 220 S. 6 M. Stuttgart 1911, Strecker
u. Schröder. (S. 101*.)
382. Wendt, W. W., Alte und neue Gehirnprobleme nebst einer 1078
Fälle umfassenden Gehirngewichtsstatistik aus dem kgL
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1911.
383. Wertheim, M., Zur Lehre von den Psychosen bei Urämie. Inaug.-
Diss. Kiel 1911. (S. 127*.)
384. Westphal, Ham, Geisteskrankheiten und Jahreszeiten. Inaug.-
Diss. Freiburg i. Br. Mai 1911.
385. White, E. B., and Scholberg, H. A. (Whitchurch), Pituitary and
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Science vol 67, no. 236, p. 18. (S. 127*.)
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demonstrate and measure dysergia. The quaterly journ. of
med. vol 3, no. 12. (S. 126*.)
387. WiUiams, T. A. (Washington D. C.), A simple clinical method
for measuring the diameter of the pupil Med. record 24. Dec.
1910. (S. 114*)
388. Wütige, Hans (Halle a. S.), Über nervöse und psychische
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389. WiUimann, H. (Genf), L’histoire de Joseph Heuer. Arch. intern.
de neurol. vol. I, 9 e sörie, no. 5, p. 317. (S. 128*.)
390. Wines, F. H., Studies in heredity-inbreeding. The alien. and
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391. Wintemüz, O. (Wien), Les agents physiques dans les maladies
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p. 341.
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A
100* Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
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18 M. Leipzig 1911 S. Hirzel. (S. 106* )
393. Zingerle. H. (Graz), Die psychiatrischen Aufgaben des prak¬
tischen Arztes. Jena 1911, G. Fischer. (S. 107*.)
394. Zweig, A. (Dalldorf), Die diagnostischen und prognostischen
Fortschritte in der Psychiatrie. (Sammelbericht.) ÄrztL
Sachverst.-Ztg. Nr. 9, S. 183.
I. Allgemeines.
DöWcens (82) geistvolle Ansführungen geben einen vorzüglichen Überblick
über den jeweiligen Stand and die Entwicklung der großen Probleme der Hin-
lehre von den ältesten Zeiten an. Schon im griechischen Altertum finden sich
wichtige Probleme klar und scharf herausgearbeitet. Aber erst 250 Jahre nach
Descartes großen Lokalisationsideen hat Flechsig aus physiologischem und ana¬
tomischem Denken heraus die endliche Lösung des Seelenproblems in greifbare
Nähe gebracht.
v. Monakow (247) weist auf die immer noch vorhandenen Widersprüche in
der modernen Lokalisationslehre hin. Er kann sich mit derVikariierungshypothese
nicht befreunden und zieht zur Erklärung seine Diachisislehre heran, v. M. ver¬
steht unter Diaschisis eine meist durch akute Herdläsion ausgelöste, schockartige
Funktionshe mmung in primär nicht lädierten, vom Herd femliegenden, aber mit
diesem anatomisch verbundenen Himstellen. „Mögen die Dinge liegen wie sie
wollen, aus den bisherigen Erfahrungen auf dem Gebiet der Lokalisation der Krank¬
heitssymptome ergibt sich mit Bestimmtheit, daß zwischen der anatomischen
Läsion und dem klinischen Krankheitsbilde ein gewisses Etwas liegt, das wir noch
nicht verstehen, gewisse schwankende, ordnende, abschleifende, regulierende
Momente, gewisse dynamische mit der anatomischen Läsion nur indirekt suzammen-
hängende Wirkungsweisen, die temporär sind, gelegentlich aber auch stabil bleiben
können. Und in diesem Moment erblicke ich ein Walten des Prinzips der Dia¬
schisis.“
Münzer (255) faßt seine Ausführungen dahin zusammen: „Die GaUsche
Kleinhirntheorie ist, wie Möbius bereits gefordert, einer experimentellen und
klinischen Revision zu unterziehen, deren Ergebnisse über ihren endgültigen Wert
entscheiden werden. Die normale Zirbeldrüse scheint mit einem mehr oder minder
ausgeprägten Hemmungsvermögen für das Auftreten des Geschlechtstriebes aus¬
gestattet zu sein. Die Hypophyse beherrscht zu einem gewissen Grade die normale
Geschlechtstätigkeit. Diese Funktion kommt möglicherweise dem Hinterlappen
zu. Es ist nicht sicher entschieden, ob die Sekretion der Hypophyse die Geschlechts¬
tätigkeit anregt bzw. fördert. Vielleicht macht sich die Einwirkung der Hypo¬
physe nach verschiedenen Richtungen hin geltend (fördernd und hemmend). Die
Frage, ob und welche anderen Himteile an der Regulation der Geschlechtstätigkeit
beteiligt sind, bedarf weiterer Klärung.
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Schroeder, Allgemeine Psychiatrie.
101*
Funk (112) kommt zu folgenden Schlüssen: Die Größe des absoluten wie
des relativen Hirngewichts (d. h. das Hirngewicht in Beziehung zum Körper¬
gewicht) bei den Tieren ist von der Größe der sogenannten Intelligenz durchaus
unabhängig. Bei den einzelnen erwachsenen Exemplaren einer gleichen Tier-
spezies schwankt das absolute Himgewicht in gewissen umschriebenen Grenzen:
die Schwankungen des relativen Himgewichts können bedeutend größer sein als
die des absoluten Hirngewichts. Als Ursache für die Schwankungen des relativen
Hirngewichts der gleichen Tierart kommen in erster Linie der verschiedene Er¬
nährungszustand, dann die jeweilige individuelle Verschiedenheit der Körper¬
anlage und des Körpergewichts und schließlich auch der Umstand in Betracht,
daß bei gleicher Körperanlage und gleichem Körpergewicht das absolute Hirn¬
gewicht verschieden sein kann.
Jentliehe (162) stellt die Gewichte von 64 selbst untersuchten Gehirnen zu¬
sammen; ein pathologisch verwendbares Resultat hat er dabei nicht erzielt. Auf¬
fallend ist nur der durchweg beträchtliche Gewichtsverlust bei Dementia praecox.
Rosanoff und Wiseman (309) empfehlen als Füllmaterial zur Bestimmung
der Schädelkapazität den Glaserkitt. Er muß etwas weicher sein, was man durch
Zusetzen von Leinöl erreicht; eine zu große Weichheit wird dnreh Zusatz von
Schlämmkreide behoben. Die Fehlerquellen sind bei dieser Art des Messens ge¬
ringer als sonst. (Ganter.)
Stursberg (361) kommt auf Grund seiner Versuche zu dem Schlüsse, „daß
eine einfache Transsudation bei der Bildung da Zerebrospinalflüssigkeit, wenn sie
überhaupt stattfindet, nur eine unbedeutende Rolle spielen kann, daß vielmehr
die überwiegende Menge nach Art einer Sekretion erzeugt wird.“ Was den Ort der
Absonderung betrifft, so neigt der Autor dazu, die Plexus chorioldei als Sekretions¬
organ aufzufassen.
Weißenberg (381) berücksichtigt den ganzen Entwicklungsgang des Menschen.
Seine anthropometrischen Studien beginnen mit dem dritten Fötalmonat, nachdem
die Fracht nach Art und Geschlecht deutlich ausgebildet ist. Bei Betrachtung
der Körperproportionen des Neugeborenen und des Erwachsenen werden die charak¬
teristischen Eigentümlichkeiten beider in prägnanter Weise hervorgehoben. Der
Entwicklungsgang des Körpers ist kein regelmäßiger. Perioden gesteigerten Wachs¬
tums wechseln mit solchen schwächeren Charakters. Dabei macht jeder Körperteil
seine eigene Entwicklung durch. Der Kopf wächst am schwächsten, die Beine am
stärksten, die Extremitäten intensiver als der Rumpf. Die Breitenmaße bleiben
im Verhältnis zu den Längenmaßen zurück, weil der Körper das Bestreben hat.
mehr in die Länge als in die Breite zu wachsen. Rasse, Alter, Geschlecht, Um¬
gebung beeinflussen das Wachstum; letztere besonders zur Zeit der Pubertät.
Zwerg- und Riesenwuchs werden als polare Manifestationen einer und derselben
krankhaften Anlage aufgefaßt, deren Ursache hauptsächlich in Störungen der
Schild- und Keimdrüsensekretion zu suchen ist. Der dem Körper innewohnende
angeborene und erbliche Wachstumstrieb wird besonders durch die in der Anlage
prädisponierte Wachstumstendenz und durch die Drüsen mit innerer Sekretion
beeinflußt. Zahlreiche Tabellen erläutern die interessanten Ansführungen.
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UNivERsrr J ;higan
102*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
Aas semen Tierversuchen hält es Choroschko (61) für möglich, einige noch
hypothetisdien Charakter tragende Schlösse über die biologische Bedeutung des
Nervengewebes za ziehen, die auch für die Auffassung der WassenMmaeha
Reaktion von Bedeutung sind. Der Verl fand Anhaltspunkte für die Anftaaanug,
wonach das Zentralnervensystem als ein eine innere Sekretion besitzendes Qrgas
erscheint, das Stoffe sezemiert, welche die Gerinnongsfähigkeit des Blntes außer¬
ordentlich steigern. Es ist nach Ch. möglich, daß der positive Ansfall der Reaktkc
der Komplementbindnng bei manchen organischen Erkrankungen des Nerven¬
systems nicht durch Lues, sondern durch die ins Blut oder in die Zerebrospinal¬
flüssigkeit gelangenden Zerfallsprodukte des Nervengewebes bedingt ist.
(Fleischmarm-Kiev.)
Stier (366) beleuchtet in seiner akademischen Antrittsvorlesung die Stefan?
der Psychiatrie zur geistigen Entwicklung der Menschen in prägnanter, form¬
vollendeter Weise. Nach kurzem geschichtlichen Rückblick auf die Entwickhug
der Psychiatrie bespricht der Antor ausführlich die Beziehungen zwischen Psy¬
chiatrie und Religion, Pädagogik and Rechtspflege und macht überall auf den
befrachtenden Einfluß der Psychiatrie aufmerksam. Eine kurze Würdigung der
Frage, welche Lehren die Psychiatrie dem modernen Staat für seine richtige Fort¬
entwicklung gibt, beschließt die interessante Arbeit.
Taniburini (363) widerlegt die weit verbreitete Ansicht, daß die Zivilisation
die Schuld trage an der Zunahme der Geisteskrankheiten. Sie kennzeichnet eine
große Zahl von Toren und weist auf die Notwendigkeit ihrer Behandlung hin.
die Schuld an der Krankheit trägt sie nicht. Dagegen vermehren Alkoholisnms.
Syphilis, Pellagravergiftnng nsw. die Zahl der Geisteskranken; sie tun es, weil
die Zivilisation noch nicht alle Gesellschaftsklassen in wünschenswerter Weise
durchdrungen and so einer wirksamen Prophylaxe den Weg gebahnt hat.
Juliusburger (177) macht auf einige Gebiete sozialer Betätigung der Psy¬
chiatrie aufmerksam: Strafreform, bedingte völlige Begnadigung nach dem Pollard-
System, Maßnahmen zur Verhinderung der Vererbung von Verbrechen und Geistes¬
störung, und polemisiert gegen die ungerechten Vorwürfe, welche jetzt mehr denn
jemals gegen die Psychiater erhoben werden.
Sommer (333) kommt auf seine vor etwa 10 Jahren gemachten bekannt«
Ausführungen über Errichtung von öffentlichen Schlaf- and Rahehallen zurück
and gibt seiner Freude darüber Ausdruck, daß seine damals entwickelten Gedanken
jetzt bei der internationalen Hygiene-Ausstellung ausgeführt sind. Sinne Be¬
schreibung der dort aufgestellten Ruhehalle. Der Erfolg zeigt, daß die Errichtung
solcher Ruhehallen einem wirklichen Bedürfnis entspricht.
Baedeker u. Faücenbergs (36) offizieller Bericht über den IV. internationalen
Kongreß zur Fürsorge für Geisteskranke gibt ein anschauliches Bild von seinem
glänzenden Verlauf; er bringt die Referate und Vorträge von Autoren des In-
und Auslandes mit den anschließenden Diskussionen, berichtet ausführlich über
die mit dem Kongreß verbundene Ausstellung der Fürsorge für Gemüts-, Geistes¬
und Nervenkranke und gibt so eine vortreffliche Übersicht über die in den letzten
Jahrzehnten auf diesem Gebiete gemachten Fortschritte.
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Schroeder, Allgemeine Psychiatrie.
103*
Der 82. Band der Jahrböcher für Psychiatrie und Neurologie (167) enthält
in seinen beiden ersten Heften außer einem kurzen Nachruf für den im Dezember
1910 verstorbenen J. Fritsch drei interessante Arbeiten. E. Sträussler-Vfien gibt
wertvolle Beiträge zur Kenntnis des hysterischen Dämmerzustandes, C. v. Economo-
Wien beschäftigt sich mit der dissoziierten Empfindungslähmung bei Ponstumoren
and mit den zentralen Bahnen des sensiblen Trigeminus, und R. Stern- Wien be¬
richtet über seine Studien, die Zukunft nervenkranker Kinder mit spinalen und
zerebralen Lähmungen betreffend.
Die deutsche Ausgabe des japanischen Zentralblattes für Neurologie, Psy¬
chiatrie, Psychologie und verwandte Wissenschaften ..Neurologia, Bd. 11“ (260)
enthält interessante Mitteilungen über die Verbreitung des endemischen Kropfes
und dessen Einfluß auf die Gesundheit der Bewohner der Insel Taiwan von Prof.
S. Kure. — Tdkasu, Arakawa und Mino haben verschiedene, besonders kindliche
Groß- und Kleinhirnrinden in verschiedenen Lebensaltern untersucht und berichten
über ihre Resultate. — Matsubara kommt bei seinen Untersuchungen über das
Wesen der depressiven Psychosen zu dem Schluß, daß die Depressionszustände
des manisch-depressiven Irreseins und die sog. Rückbildungsmelancholien näher
miteinander verwandt sind, als Kräpelin bisher angenommen hat, daß aber die
Rückbildungsmelancholie kein Zustandsbild des manisch-depressiven Irreseins
ist im Sinne von Dreyfus. Außer den genannten Depressionszuständen be¬
schreibt der Autor dann noch andere Formen von Depressionszuständen, welche
ihren psychologischen Analysen, ihrem klinischen Verlauf und Ausgang nach nicht
zu den genannten Formen gehören. — Suieu berichtet über den diagnostischen
Wert der W asserma«nschen Reaktion in ihrer Anwendung auf die Psychiatrie
unter kurzer Zusammenstellung der Resultate seiner zytologischen und biologischen
Untersuchungen. Die zweite Hälfte der Zeitsclirift enthält Referate über die 1908
in Japan erschienene einschlägige Literatur.
Nach Maier (224) bestehen in sechs Staaten von Nordamerika Gesetze zur
Verhinderung der Eheschließung von Geisteskranken, Schwachsinnigen, Epilep¬
tikern und schweren Trinkern, die sicher ein wertvolles Mittel gegen die
Entstehung geistig degenerierter Familien geben. Der Staat Indiana hat 1907
ein gut formuliertes Sterilisationsgesetz angenommen; bisher sind so 873 Defekte,
meist Verbrecher, fortpflanzungsunfähig gemacht worden. Connecticut hat diese
Bestimmungen übernommen; weitere Staaten werden folgen und so gegen die
beständige Zunahme von Verbrechern und versorgungsbedürftigen Geisteskranken
nicht für heute, aber für die kommenden Generationen in vernünftiger Weise an-
kämpfen. Verf. schlägt vor, die amerikanischen Vorschriften zu ergänzen: Wenn
ein Eheverbot wegen geistiger Krankh eit oder Defektes eines Verlobten ausge¬
sprochen wird, so gilt dieses Verbot nur so lange, wie der Betreffende fortpflanzungs¬
fähig ist; läßt er sich dauernd sterilisieren, so wird die Ehe gestattet, vorausge¬
setzt, daß der Betreffende überhaupt die Handlungsfähigkeit zur Eingehung eines
Kontraktes besitzt.
Oberhoher (266) berichtet an Hand eines reichhaltigen Materials über die
in der Schweiz mit der Sterilisierung von Geisteskranken gemachten Erfahrungen.
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104*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
19 zam Teil selbst beobachtete Fälle werden ausführlich geschildert and be¬
sprochen. Verf. zeigt, daß es zahlreiche Fälle gibt, wo die Ausschaltang von (fcr
Fortpflanzung dureh Sterilisierung das einzig Richtige ist.
Pfeiffer (279) fordert aus rassenhygienischen Gründen eine Sichtung der
eheschließenden Teile und bezeichnet als erstrebenswertes Ziel die staatliche Über¬
wachung aller, welche eine Ehe schließen wollen, und Ausschaltung der hiefür
ungeeigneten Elemente.
Savage (321) befürwortet nicht ein schematisches Verbot des Heiratens
Geisteskranker. Er hat Fälle gesehen, die in ihrer Jugend einen manischen oder
melancholischen Krankheitszustand durchgemacht hatten, später heirateten und
gesunde Kinder zeugten. {Ganter.)
Bila Rivisz (301) hat seine reichen psychiatrischen Beobachtungen and
Studien bei den verschiedensten Völkern in dem vorliegenden Werke zusammen¬
gefaßt. Sein Buch zerfällt in zwei Teile. Der I. Teil handelt von den „rassenpsy¬
chiatrischen Erfahrungen“ bei den Völkern aller Weltteile und beschreibt nicht
nur ihre spezifischen Geistes- und Nervenkrankheiten, sondern auch die ubiqui¬
tären Psychosen und Neurosen (Paralyse, Tabes, Alkoholismus usw.). Der II. Teil
enthält die Lehren der rassenpsychiatrischen Erfahrungen und bringt sehr wert¬
volle Beiträge zur Ätiologie und Pathologie der Geistes- und Nervenkrankheiten.
Preobrashenski (287) führt einige interessante Fälle von Geisteskranken an,
die als wundertätige und wahrsagende Heilige verehrt wurden. Und zwar handelt
es sich in diesen in russischen Irrenanstalten beobachteten Fällen nicht um Epi¬
leptiker, Deliranten und halluzinierende Patienten mit leidlich erhaltenem Intellekt.
Bei solchen Patienten hätte man eher erwarten können, daß die Anfälle, Wut¬
ausbrüche, die schwunghaften unverständlichen Reden auf die ungebildete Menge
eine starke Wirkung ausüben würden. Aber in den von P. angeführten Fällen
haben wir es mit Verblödung, mit katatonischer, postapoplektischer und sekun¬
därer Demenz zu tun. Weder der offenbare geistige Verfall, noch das Fehlen jeg¬
licher Aufsehen erregender Erscheinungen konnten es verhindern, daß sich Leute
fanden, — darunter Angehörige der sogen, gebildeten Klassen —, die diese unglück¬
lichen verblödeten Kranken als Heilige behandelten, bei denen sie Rat und Be¬
lehrung suchten. Einige Patienten haben auch Biographen gefunden, die die
dementen Züge getreu schildern und mit den Ausdrücken höchster Bewunderung
kommentieren. (Fleischmarm-Kievr.)
Lachtin (197) bringt interessante historische Materialien, die Aufschluß über
die Behandlung der Geisteskranken in Rußland in den vorigen Jahrhunderten
geben. Man ersieht daraus, daß diejenigen Kranken, um die sich unglücklicher¬
weise die Obrigkeit kümmerte, am häufigsten nach den Klöstern beordert wurden,
wo sie durch Strafen und rohe Behandlung „zur Vernunft gebracht** werden
sollten. Noch schlimmer erging es den sehr zahlreichen Kranken, die naoh dem
Inhalte ihres Wahnes als Verbrecher gegen den Staat oder die Kirche betrachtet
wurden: sie wurden grausam gefoltert und nur wenige entgingen danach der
Hinrichtung. Erst gegen das Ende des 18. Jahrhunderts begann man die Geistes¬
gestörten als Kranke anzusehen und demgemäß zu behandeln.
(FfewcAmann-Kiew.)
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Schroeder, Allgemeine Psychiatrie.
105*
Ewers (97) schildert das Leben und Treiben der Nonnen von Loudon, be¬
sonders der Schwester Jeanne auf Grund der von ihr um die Mitte des 17. Jahr¬
hunderts niedergeschriebenen Memoiren; er schildert den Besessenheitswahn in
all seinen Formen und Folgen und entrollt ein düsteres Kulturbild jener Zeit.
An der Hand von Gerhart Hauptmanns fioman „Emanuel Quindt“ befaßt
sich Lomer (213) mit dem Problem des Wesens und der Wertung des reinen und
des heutigen Christentums. Hauptmann wollte nach Lomer mit seinem Roman
zweierlei, erstens „die Persönlichkeit Jesu menschlich rekonstruieren, und zweitens
mit dieser Persönlichkeit die Probe aufs Exempel machen, ob das Christentum
den gegenwärtigen und kommenden Geschlechtern noch etwas ist und — seiner
Natur nach sein kann“. Beides ist Hauptmann nach Lomer gelungen. Der Held
des Romans, Emanuel Quint, der Narr in Christo, ist Psychopath, nach Lomer
Paranoiker, und bei der Schilderung seines Helden hat Hauptmann sich die modernen
Gesetze der Vererbung, Anpassung, Entwicklung zunutze gemacht. Dadurch
gewinnen Lomers Ausführungen auch für den Psychiater größeres Interesse.
ln seiner Abhandlung „Krankes Christentum“ gibt Lomer (214) die Gedanken
eines Arztes über Religion und Kirchenemeuerung. Die Ausführungen wollen
nichts sein „als die Formulierung der Religionsauffassung eines naturwissenschaft¬
lich gebildeten Laien“ und bringen neben einer Kritik der herrschenden christ¬
lichen Lehre positive Vorschläge über eine Umgestaltung der protestantischen
Kirche. Besonders hervorgehoben sei die elegante, formvollendete Sprache, die
sich an einzelnen Stellen, wie im Vorwort, zu rein poetischer Diktion steigert.
Jentsch (164) hat es sich zur Aufgabe gemacht, der Entwicklungsgeschichte
der Genialitätslehre Lonibrosos nachzugehen, was um so mehr verlohnt, als dieser
Forscher an seinem Werke, das ein vor ihm gänzlich unbekanntes Land erschloß,
sein ganzes langes Leben hindurch gearbeitet und geändert hat. Die einzelnen
Phasen der Entwicklung dieser Lehre werden verfolgt, Gründe für die oft einseitig
und unüberlegt scheinenden Behauptungen Lonibrosos beigebracht und der Kern
der ganzen Lehre herausgeschält. Zum Schlüsse pflichtet Jentsch der Ansicht
Lonibrosos bei, daß das Genie nicht der höchste Typus der menschlichen Entwick¬
lung ist, sondern im besten Falle eine höhere Staffel in einer oder mehreren Rich¬
tungen der Fortentwicklung der menschlichen Spezies vorstellt.
Boulenger (47) findet das Gemeinsame des Dichters und des Dementen darin,
daß beide einem Traumzustand verfallen. Besonders die Dem. praecox ist geeignet,
diesen hervorzurufen und dichterische Empfindungen anzuregen. Beweis: Ein
Fall von Dem. praecox dichtete, was er in seinem gesunden Zustand nie getan
hatte. (Ganter.)
Genil-Perrin (116): Der Philosoph Cabanis, der Zeitgenosse und Freund
Pinels, berührt in seinen Werken vielfach Fragen der Psychiatrie und äußert über
die Natur und Entstehung der Geisteskrankheiten, über ihre Beziehungen zur
Psychologie, über Erblichkeit, Degeneration vielfach modern anmutende An¬
schauungen. Um die Verbesserung des Loses der Geisteskranken, ihre humane
Behandlung und ihren Rechtsschutz hat er sich wesentliche Verdienste erworben.
(Ganter.)
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106*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
Kohui (192) macht auf einen vor 66 Jahren in den österreichischen Blättern
für Literatur nnd Kunst erschienenen, unbekannt gebliebenen Aufsatz des Arztes
und Philosophen Freiherm Ernst v. Feuchtersieben in Wien „über die ärztliche
Seelenkunde“ aufmerksam, gibt ihn zum großen Teil wörtlich wieder and zeigt,
daß diese Ausführungen tTotz der ungeheuren Fortschritte der Medizin und Philo¬
sophie noch jetzt allgemeinen Wert haben.
Jettiffe (161) bedauert den Mangel an historisch-psychiatrischen Arbeiten
in englischer Sprache, rühmt dagegen die reiche deutsche Literatur, aas der er
seinen Lesern einen historischen Blumenstrauß pflückt. (Ganter.)
Liepmann (207) schildert in anschaulicher Weise den großen Einfluß, welchen
Wemtcke auf die klinische Psychiatrie ausgeübt hat. Die Geistesstörung im engsten
Sinne ebenfalls als neurologische Erscheinung aufzufassen, das nennt er den eigent¬
lichen Kern Wemickescher Psychiatrie. Sie ist Gehimpathologie. Aber nicht die
pathologische Anatomie, sondern die Pathophysiologie steht im Vordergrand.
Wemicke suchte das ganze psychische Leben mit allen seinen Störungen den Be¬
griffen der Physiologie und Physio-Pathologie des Nervensystems zu unterwerfen.
Ziehens (392) bekannte „Psychiatrie für Ärzte und Studierende“ liegt in
vierter, vollständig umgearbeiteter Auflage vor. Die großen Vorzüge dieses aus¬
gezeichneten Handbuches sind so bekannt, daß es eines besonderen Hinweises
darauf an dieser Stelle nicht bedarf. Die Einteilung des Stoffes ist unverändert
.geblieben. Die Zahl der instruktiven Bilder ist vermehrt. Im allgemeinen Teil
hat das Kapitel über „Störungen des Handelns“ eine erhebliche Erweiterung
erfahren. Bei Besprechung der Hydrotherapie fällt der Satz auf: „Seitdem die
Psychiatrie aufgehört hat, die geistigen Erkrankungen auf Immoralität zurück¬
zuführen, hat das hydriatische Strafverfahren sich in die Winkel einiger Pflege¬
anstalten zurückgezogen.“ Sollte es heute wirklich noch Pflegeanstalten mit
„hydriatischem Strafverfahren“ geben?
Die zweite, nahezu völlig umgearbeitete Auflage der „Pupillenstörungen“
bei Geistes- und Nervenkrankheiten von Bumke (66) berücksichtigt alle in Frage
kommenden neuen Erfahrungen auf anatomischem, physiologischem und be¬
sonders klinischem Gebiet. Es ist dem Autor nicht zum wenigsten dank eigener
ausgezeichneter Arbeit auf diesem Gebiet gelungen, in seiner Monographie eine
umfassende Darstellung der Physiologie und Pathologie der Irisbewegungen zu
bringen. Die Methodik der Pupillenuntersuchung wird im Anhang ausführlich
behandelt. Besondere Erwähnung verdient das reichhaltige Literaturverzeichnis
über 1014 Arbeiten.
Das sehr verbreitete Lehrbuch für Psychiatrie, von Cramer , Westphal, Hocke,
Wöüeriberg und den Herausgebern Binsuxmger und Siemerling (32) bearbeitet, ist
in dritter vermehrter Auflage erschienen. Es wendet sich besonders an die Stu¬
dierenden und macht in kurzer, knapper Form mit dem sicheren Bestand unserer
Wissenschaft bekannt und berücksichtigt dabei auch die neueren Forschungs¬
ergebnisse in entsprechender Weise. Übersichtliche Einteilung des Stoffes sowie
die vorzügliche Darstellung von Diagnose und Therapie werden nicht zum wenigsten
zur weiteren Verbreitung des Buches beitragen.
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Scbroeder, Allgemeine Psychiatrie.
107*
Stein (362) hat nach den Vorträgen von Professor Wagner von Jauregg ein
Grundschema von Geisteskrankheiten anfgestellt. Auf sechs Tabellen bespricht
er akute und chronische funktionelle Störungen, Alkoholpsychosen, Verblödungs¬
prozesse, Geistesstörungen bei organischen Erkrankungen des Gehirns (mit Aus¬
nahme der progressiven Paralyse, diese wird bei den Verblödungsprozessen abge¬
handelt), Schilddrüsenprozesse, epileptisches Irresein, hysterisches Irresein und
Entwicklungsdefekte. Auf jeder Tabelle wird in bestimmten Rubriken kurz und
schematisch auf die Kardinalsymptome hingewiesen und auch auf alle anderen
Punkte aufmerksam gemacht, welche für die Diagnose, Differentialdiagnose,
Prognose, Therapie oder als ätiologisches Moment in Frage kommen.
Zingerle (393) wendet sich an den praktischen Arzt und zeigt in übersicht¬
licher Weise, wie auch er auf dem Gebiet der Irrenpflege nutzbringend tätig sein
kann und soll. Vor allem sind es die leichten oder akut verlaufenden psychischen
Störungen in Begleitung sonstiger körperlicher Erkrankungen sowie die Anfangs¬
stadien schwerer Psychosen, wo sein Eingreifen geboten und von ausschlaggebender
Bedeutung sein kann. Gar nicht zu entbehren ist seine Mitarbeit auf dem Gebiete
der Prophylaxe; hier liegt seine eigentliche Domäne. Auf die Verhütung geistiger
Ejrankheiten und auf die Maßnahmen bei bestehender geistiger Erkrankung weisen
des Verf.s anregende Ausführungen besonders hin.
Vietorio (377): Kleines Kompendium der Nerven- und Geisteskrankheiten
nebst einem Anhang über den Rechtsschutz der Geisteskranken in Spanien. Es
ist besonders die französische Literatur benutzt, aber auch die Werke deutscher
Autoren sind vertreten, soweit sie ins Französische übersetzt worden sind. (Oanter.)
Ewald und Wollenberg (149) haben Hitziga Werk über den Schwindel unter
Berücksichtigung der neueren Anschauungen und Forschungsresultate um- und
zum großen Teil neu bearbeitet. Während die allgemeine Anordnung des Stoffes
im II. pathologischen Teil im wesentlichen unverändert geblieben ist, hat der
1. physiologische Teil eine durchgreifende Umarbeitung und Vervollständigung
erfahren. Neu hinzugefügt ist das Kapitel über den Schwindel bei Erkrankungen
des Vestibularapparates.
Von Forels (106) „Hypnotismus 1 * ist bereits die sechste Auflage notwendig
geworden. Wichtige einschlägige neuere Arbeiten sind berücksichtigt und haben
zu Abänderungen und Zusätzen Anlaß gegeben. Die „Psychanalyse“- wird in
einem neuen besonderen Kapitel behandelt.
Löwenfelds (211) Werk enthält drei interessante Abhandlungen: „Die sexuelle
Konstitution“, „Erotik und Sinnlichkeit“ und „Die Libido als Triebkraft im
geistigen Leben“. Die erste Abhandlung zeigt, daß es eine besondere, von der All¬
gemeinkonstitution unabhängige sexuelle Konstitution gibt; sie unterscheidet
verschiedene Sexualkonstitutionen, charakterisiert dieselben und knüpft daran
beachtenswerte hygienische Ratschläge. Die zweite Abhandlung erörtert die Be¬
ziehungen zwischen Erotik und Sinnlichkeit. Die dritte Abhandlung behandelt
den Einfluß der Sexualität auf das geistige Leben und stellt fest, daß die Förderung
des geistigen Lebens durch die Libido nicht so sehr auf völliger Abstinenz, sondern
auf Beschränkung des Sexualgenusses beruht.
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108*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
Buienburgs (94) wertvolle Monographie liegt in zweiter, teilweise umgearbeiteter
Auflage vor. Nach kurzer Erklärung und Ableitung der Begriffe Sadismus und
Masochismus, „der aktiven und passiven Algolagnie“, geht Verf. näher auf Wesen
und Bedeutung dieser Abnormitäten auch ihrer physiologischen, psychologischen
und anthropologischen Seite nach ein, skizziert de Sade s Leben, Werke, Charakter
und Geisteszustand sowie Sacher-Masochs Lebensgeschichte ihres großen psycho¬
logischen Interesses wegen und behandelt dann die spezielle Symptomatologie and
Entwicklungsgeschichte der algolagnistischen Phänome, Notzucht, Lustmord.
Mädchenstecherei, Nekrophilie, Flagellation, weibliche Grausamkeit, Sadismus
und Masochismus beim Weibe. Auch die neueste einschlägige Literatur erfährt
eine kurze Besprechung.
Kiernan (1S6) bringt Beispiele, besonders aus dem Sektenwesen, in denen
die sexuelle Befriedigung durch Erdulden oder Zufügen von Schmerz erfolgt (Ma¬
sochismus und Sadismus). Dafür setzt er Asketizismus, Enthaltung vom nor¬
malen Geschlechtsverkehr und Ersatz durch Schmerzzufügung. (Ganter.)
Fleischmann (103) forscht besonders nach den Ursachen der gleichgeschlecht¬
lichen Liebe. Er kommt zu dem Schluß, daß diese psychische Anomalie keinem
Individuum angeboren ist; er faßt sie als Folge und Zeichen von Entartung auf.
Begünstigend wirken Verführung, Lektüre, Alkoholabusus, exzessive Onanie.
Bei Degenerierten findet sich eine große Bestimmbarkeit des sexuellen Trieb¬
lebens, unscheinbare Vorko mmnis se können hier vom normalen Sexualziel ab¬
lenken. „Es wird auch dem Entstehen der Perversion meistens nicht der nötige
Widerstand entgegengesetzt, da infolge der ganzen Domestikation einerseits unser
Triebleben nicht mehr die unbedingt zwingende Macht hat, andererseits unser
Wille nicht mehr in der nötigen Weise gestärkt und gekräftigt wird.“
Hvrschfeld (147) teilt Fälle von sexueller Teilaversion (Fetischhaß) mit, auf
die eine spezielle Eigenschaft anderer so abstoßend wirkt, daß dadurch gegen die
ganze Person ein hochgradiger sexueller Widerwille entsteht. Der entscheidende
Faktor bei dem Zustandekommen dieser Aversion ist , .nicht sowohl in der allge¬
meinen psycho- oder neuropathischen Konstitution zu suchen, als in der ziel¬
strebigen, individuellen Sexualkonstitution. Das wirklich Entscheidende ist nicht
das äußere Erlebnis, sondern eine spezifische Konstitution, die sich stets nur auf
Adäquates, nicht auf einen beliebigen, zufälligen, gleichgültigen Inhalt einstellt“
Von Boruttau und Manns (43) unter Mitwirkung zahlreicher Autoren des
In- und Auslandes herausgegebenem Handbuch der gesamten medizinischen An¬
wendungen der Elektrizität einschließlich der Röntgenlehre liegt die erste Hälfte
des zweiten Bandes vor; sie bringt eine eingehende Darstellung der gesamten
Elektrodiagnostik. Die Elektrotherapie soll in der zweiten Hälfte folgen. Zanie-
towski-Kiakaa behandelt die allgemeine Elektrodiagnostik, Mendelssohn-Paris die
spezielle Elektrodiagnostik der Muskelkrankheiten und Monn-Breslau die spezielle
Elektrodiagnostik der Nervenkrankheiten; hierbei wird auch die Elektrodiagnostik
der Psychosen besprochen.
Meyers (235) Ausführungen liegen die mit klinis chen Demonstrationen ver¬
bundenen Vorträge zugrunde, welche er in seiner Klinik gelegentlich eines Kursus
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Scbroeder, Allgemeine Psychiatrie.
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vor den Bahnärzten des Eisenbahndirektionsbezirkes Königsberg gehalten hat.
Interessante Fälle von Melancholie, Paralyse, Epilepsie, Dementia praecox, prä¬
senilem Beeinträchtignngswahn, traumatischer Neurose usw. werden ausführlich
besprochen unter besonderem Hinweis auf alle für Bahnärzte wichtigen Faktoren.
Pereüi (276) weist in seinem im Verein der Ärzte Düsseldorfs gehaltenen
Vortrag darauf hin, daß absichtliches, zielbewußtes Vortäuschen von Geisteskrank¬
heit außerordentlich selten ist und fast nur bei Degenerierten und geistig abnormen
Individuen vorkommt, er betont dabei ausdrücklich, daß.der Nachweis von Simu¬
lation psychischer Störungen keineswegs gleichbedeutend ist mit geistiger Ge¬
sundheit.
Essayaniz (92) beschreibt zwei Fälle von Desertion, die anfangs den Ein¬
druck der Simulation machten, sich aber im Verlaufe der Beobachtung als Dem.
praecox entpuppten. (Ganter.)
Stiers (366) vorzügliche Monographie behandelt im ersten Teil die Links¬
händigkeit als physiologische Erscheinung. Der zweite Teil zeigt, daß die. Links¬
händigkeit als Ausdruck eines funktionellen Überwiegens der ganzen rechten Hirn¬
hälfte aufzufassen ist. Der dritte Teil handelt von der Erkennung und Bedeutung
der funktionellen Differenzen beider Hirnhälften. Über die Linkshändigkeit in
der Armee wird im Anhang an der Hand eines großen statistischen Materials be¬
richtet. „Die Linkshändigkeit ist eine im Aussterben begriffene Varietät der
Gattung Mensch. u Linkshänder zeigen doppelt so häufig Degenerationszeichen
als Rechtshänder; sie sind sozial weniger wertvolle Menschen. Unter den Ge¬
fangenen und Verbrechern ist ihre Zahl groß.
Liepmann (206) unterzieht die sogen. Linksknltur oder Zweihändigkeits-
bewegung, auch kurz Linksbewegung genannt, einer kritischen Besprechung,
weist die Einwände, die dagegen erhoben werden können, zurück und prüft, was
zugunsten dieser Bewegung spricht. Dem Satze, daß Linkshändigkeit ein Degene¬
rationszeichen ist, steht der Autor skeptisch gegenüber. Entscheidende Tatsachen,
welche die Erfolge der Linksübung von vornherein aussichtslos erscheinen lassen,
sind nicht vorhanden. Das, was die linke Hand durch fortgesetzte Übung lernt,
kommt zum großen Teil der rechten Hemisphäre zugute. Ob es möglich ist, durch
Übung der rechten Hemisphäre bei intakter linker Hemisphäre, den ganzen Effekt
der Übung in die rechte Hemisphäre zu dirigieren, ob nicht der angeborene Vorrang
der linken sich trotz aller Übung der linken Hand darin zeigen würde, daß die
rechte Hemisphäre, von der linken im Stich gelassen, doch mangelhaft agierte,
läßt Verf. dahingestellt.
Bauen (17) Untersuchungen zeigen, neben anderem Interessanten, daß im
allgemeinen normale Rechtshänder Gewichte bei aktiver und passiver Schätzung
links, Linkshänder rechts überschätzen, daß die Zahl der Funktionslinkser = „mani¬
festen“ Linkshänder kleiner ist als die Zahl der Skelettlinkser - latenten Linkshänder,
und daß die Überschätzung von Gewichten auf der rechten Seite zu den Merk¬
malen der latenten Linkshändigkeit gehört. Unter pathologischen Verhältnissen
können Störungen der Gewichtsschätzung bedingt sein durch Störungen der moto¬
rischen Kraft, durch Störungen jenes Teiles der tiefen Sensibilität, "welcher uns
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110*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
über den Effekt von Innervationsimpulsen unterrichtet, und schließlich durch
Störungen der peripher entstehenden Schwereempfindung.
Foerster (104) bespricht die vielfachen Beziehungen von Beruf und Mode
zu Geisteskrankheiten und illustriert deren Einfluß an einzelnen Fällen. „Während
der Beruf in der Verursachung von Geisteskrankheiten im wesentlichen nur als
indirekter Erreger der Geisteskrankheit beteiligt ist, ist er bei den meisten Fällen
von Geisteskrankheit direkt beteiligt in der Färbung, in dem gedanklichen Inhalt,
dm die Wahnideen der Kranken haben.“ In ihren kleinen Zügen werden die
Geisteskrankheiten auch von der Mode beeinflußt.
Heveroch (143) beschäftigt sich in seinen interessanten Ausführungen mit
der Genese von Wahnideen, Halluzinationen und Zwangsvorstellungen und macht
dabei auf ihre psychogenetische Verwandtschaft aufmerksam. „Die Grundstörung
der Halluzination, der Wahnbildung und der Erinnerungstäuschung ist die krank¬
hafte Überzeugung, die eine Äußerung einer Störung des Ichbewußtseins ist.“
„Bei den Zwangsvorstellungen äußerst sich die Störung des Ichbewußtseins als
ungenügende Überzeugungskraft mit gesteigertem Begehren nach dem Über¬
zeugtsein, und nebstdem finden wir bei ihnen eine zweite Äußerung des gestörter,
Ichbewußtseins: Störungen, die das Gefühl betreffen.“
Jaspers (168) faßt die wichtigsten Thesen seiner sehr interessanten Arbeit
in folgenden Schlußsätzen zusammen: „Außer den echten Trugwahmehmungeri
gibt es, ohne daß zwischen beiden ein Übergang bestände, pathologische Vorstel¬
lungen, die detailliert und unabhängig vom Willen sind (PseudohaUuzinationec
Kandinsky s). Der Gegensatz der Leibhaftigkeit (Objektivitätscharakter) der
echten Halluzinationen und der Bildhaftigkeit (Subjektivitäts- oder Vorstellungs¬
charakter) der Pseudohalluzinationen ist zu trennen von dem Gegensatz des rich¬
tigen und falschen Realitätsurteils. Jener ist ein Unterschied der sinnlichen Phä¬
nomene, dieser ein Unterschied des Urteils über solche sinnlichen Phänomene.
Die Leibhaftigkeit ist etwas Gegebenes, das nur durch außerbewußte Vorgänge
„erklärt“, das Realitätsurteil etwas im Bewußtsein Gewordenes, das aus seinen
Motiven „verstanden“ werden kann. Vom Realitätsurteil ist das „psychologische
Urteil“ der Kranken zu trennen. Im ersteren beurteilen sie eine äußere Wirklich¬
keit, im letzteren beurteilen sie richtig oder falsch, was sie selbst wirklich erlebten.
Das aus Sinnestäuschungen „verständlich“ ableitbare falsche Realitätsurteil ist
zu trennen vom „unverständlichen“ Realitätsurteil. Nur das letztere ist para¬
noisch.“
Jentsch (166) untersucht den Begriff der „Agilität“ nach Wesen, Form und
Ursache. Er unterscheidet eine physiologische, psychologische und affektive Agi¬
lität. Psychopathische Agilität ist Ausdruck oder Begleiterscheinung eines ano¬
malen Gesamtzustandes.
Behms (296) Ausführungen zeigen, „daß periodische Schwankungen mehr
oder weniger ausgesprochener Art mit der Psyche im allgemeinen und mit der
erkrankten Psyche im besonderen in innigem Zusammenhang stehen. Die Peri¬
odizität zählt zu den Faktoren, die mit unserem Seelenleben eng verwoben sind
und in Krankheitszuständen wirkungsvoll zum Ausdruck kommen. Doch nicht
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Schroeder, Allgemeine Psychiatrie.
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nur die Psyche, auch unser Körper, unser Leben überhaupt sowie die ganze Natur
sind periodischen Einflüssen unterworfen. Es ist eben der ewige Kreislauf der
Natur, dessen Erkenntnis uns in das Gebiet des Dunkeln und Unentwirrbaren
iührt.‘‘
Mugdan (268) zeigt, daß ein der Mathematik und der Naturwissenschaft
gemeinsamer Begriff, wie es die Periodizität ist, in beiden Wissensgebieten eine
ganz verschiedene Bedeutung haben muß und gibt dann folgende Begriffsbe¬
stimmung: „Einem Systeme von Ereignissen kommt die Eigenschaft der Perio¬
dizität zu, wenn in zeitlich gesetzmäßigen Intervallen logisch verwandte Ereig¬
nisse eintreten, aus Gründen, die lediglich in der Organisation des Betroffenen
liegen, ohne daß dafür ein äußerer Anlaß oder doch ein entsprechender äußerer
Anlaß vorläge.“ Verf. unterscheidet und scnildert drei Gruppen von solchen peri¬
odischen Zuständen: die erste Gruppe rechnet er zum Gebiete der Zyklothymie,
die zweite zum manisch-depressiven Irresein; die dritte Gruppe umfaßt die Fälle
von „periodischem Schwanken der Hirnfunktion (Sterte). 1 *
v. Gruber und Rüdins (127) Buch bietet mehr als ein Katalog. Die ausführ¬
lichen Erläuterungen zu den zahlreichen Tafeln und Tabellen ermöglichen eine
rasche Orientierung über den heutigen Stand unseres Wissens auf dem Gebiete
der Rassenhygiene. Ein ausführliches Verzeichnis über die gesamte Fachliteratur
beschließt das vorzügliche Werk, von dem bereits die zweite Auflage notwendig
geworden ist.
Alters (3) skizziert den Inhalt des vorgenannten Werkes und betont seine
große, anregende Bedeutung.
Higier s (146) wertvolle Arbeit bespricht nach kurzer Einleitung in zwölf
Kapiteln die Pathologie der angeborenen, familiären und hereditären Krankheiten
speziell Nerven- und Geisteskrankheiten. Das 13. und 14. Kapitel handelt von
der allgemeinen Prognose und Prophylaxe und von der allgemeinen Therapie. Hier
werden wertvolle Winke zur Verhinderung von Degeneration und Entartung
gegeben; mit Recht wird darauf hingewiesen, daß der in mancher Hinsicht über¬
triebene Humanismus die Ausrottung der Degeneration verhindert und daß ent¬
sprechende Maßnahmen und Vorkehrungen notwendig sind.
Ribberts (303) interessante Ausführungen bringen eine kritische Würdigung
des wertvollen Materials über Vererbung krankhafter Zustände beim Menschen,
welches die ersten sechs Hefte des von „Francis Galton Laboratory for national
eugenics“ herausgegebenen Werkes „Treasury of human enheritance“ enthalten.
„Vererbbare pathologische Veränderungen des Körpers müssen zuerst an Keim¬
zellen, nicht an ausgebildeten Individuen aufgetreten sein. Alle in der Phylo¬
genese auftretenden vererbbaren Variationen, die zur Bildung neuer Arten führen,
entstehen von innen heraus, nicht durch äußere Einflüsse, die niemals etwas Neues
schaffen, sondern nur auf Individuen und Keime auslösend einwirken können.
Auslese und Anpassung kommen für die Entwicklung der organischen Welt ledig¬
lich als unterstützende Faktoren in Betracht.
Sommer (331) macht nach kurzer Betonung des gegenseitig befruchtenden
Einflusses von Genealogie und Naturwissenschaft auf die Bedeutung der hierdurch
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
entstandenen modernen Familienforschung aufmerksam und zeigt, welch große
Menge von Arbeitsproblemen noch durch methodisches Zusammenwirken von
Genealogen und Naturforschern gelöst werden können.
Rüdin (316) weist auf die Wichtigkeit methodischer Famiiienforsehnng hin.
erörtert deren Grundzüge unter eingehender Würdigung der Jtfaidgchm Ver-
erbungsprinzipien, macht auf alle zu berücksichtigenden Punkte aufmerksam.
anal ysiert und kritisiert die bisherigen Resultate. Die ausgezeichnete Arbeit
schließt mit der Forderung einer wissenschaftlichen Zentrale für FamiHenforsehuns
und plädiert für die Errichtung einer entsprechenden Abteilung im Rwctegesnnd-
heitsamt, deren Hauptaufgabe die Unterstützung der Ursachenforschung sein
soll, insofern sie nur im Rahmen des Studiums der Familie und des Stammes gelöst
werden kann.
Pick (280) beschäftigt sich mit der Konstitution des Organismus, mit seiner
Anlage und mit der Vererbung; er rekapituliert die Grundlagen der 1866 ver¬
öffentlichten Mendelschen Vererbungsregeln und zeigt, daß sie auch für die mensch¬
liche Pathologie im allgemeinen Geltung haben.
Bosanoff und Orr (3101 haben 72 F amilie n mit einer Nachkommenschaft von
1097 Individuen nach den Afendefechen Vererbungstheorien untersacht und sind
zu folgenden Schlüssen gekommen: 1. Die neuropathische Konstitution vererbt
sich von Generation zu Generation als ein im Sinne Mendels sich rezessiv zur nor¬
malen Konstitution verhaltender Charakterzag. Theoretisch sind folgende Mög¬
lichkeiten gegeben: a) Eltern nenropathisch, dann alle Kinder neuropathisch.
b) Der eine Elter normal, aber einer der Großeltern nenropathisch, der andere
Elter nenropathisch, dann die eine Hälfte der Kinder nenropathisch, die andere
normal, aber so beschaffen, den nenropathischen Zog auf die Nachkommenschaft
zu vererben, c) der eine Elter normal, ebenso die Großeltern, der andere Elter
nenropathisch, dann alle Kinder normal, aber so, daß sie den nenropathischen Zog
auf die Nachkommenschaft vererben, d) Beide Eltern normal, aber jeder Teil
nenropathisch belastet von einem der Großeltern, dann ein Viertel der Kinder
normal, auch nicht die neuropathische Belastung vererbend, die Hälfte der Kinder
normal, aber imstande, den nenropathischen Zug zu vererben, der Rest von einem
Viertel neuropathisch. e) Beide Eltern normal, der eine von normalen Großeltern
nnd der andere mit nenropathischem Zog von einem der Großeltern, dann alle
Kinder normal, wovon die eine Hälfte imstande sein wird, den nenropathischen
Zug zu vererben, die andere nicht, f) Beide Eltern normal, ebenso die Großelton,
dann alle Kinder normal, anch kann kein neuropathischer Zag vererbt werden.
2. Die verschiedenen nenropathischen Erkrankungen (Vff. fassen die endogen ent¬
standenen Geisteskrankheiten, wie Psychopathien, Dem. praecox, Paranoia, Imbex.,
Epilepsie, senile Störungen usw. als verschiedene Grade der nenropathischen Ver¬
anlagung auf) verhalten sich in verschiedenem Grade rezessiv. Die heilbaren Psy¬
chosen sind zwar rezessiv im Vergleich zum normalen Zustand, aber dominierend
über die Epilepsie und die verwandten Störungen. 3. Verschiedene andere neoro-
pathische Äußerungen spielen in ihren gegenseitigen Beziehungen die Rolle nenro-
pathischer Äquivalente. 4. Kinder von normalen Elton, deren Eltern neuro-
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Schroeder, Allgemeine Psychiatrie,
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pathisch sind, können theoretisch nur äquivalente Defekte aufweisen. 6. Als solche
Formen der Vererbung haben sich ergeben: a) Die Geschwister leiden an identischen
neurop&thischen Erkrankungen, b) Psychose bei einem Individuum und abnorme
Disposition bei den Geschwistern, c) Psychose bei einem Individuum und isolierte,
aber verwandte Symptome bei den Geschwistern, besonders häufig Dem. praecox
= Ohnmachtsanfälle oder Krämpfe in der Kindheit, d) Psychosen, die klinisch
nicht verwandt sind, z. B. Dem. senilis = hysterische Psychosen. 6. Die neuro-
pathischen Erkrankungen verlangen nur etwa in einem Viertel der Fälle Anstalts¬
behandlung. Im ganzen machen sie 1,5—2,0% der Bevölkerung aus. 7. Etwa
30% der Bevölkerung sind neuropathisch belastet und gegebenenfalls imstande,
die Neuropathie zu vererben. ( Ganter .)
Bayerlhal (19) ist es in hervorragender Weise gelungen, die vielfachen Be¬
ziehungen zwischen Vererbung und Erziehung ins rechte Licht zu stellen. Unter
Erziehung versteht der Autor die Entwicklung, Förderung und Hemmung der
ererbten Anlagen von der Befruchtung der Keimzelle an bis zum Beginn der Selbst¬
erziehung in einem für das Wohl des einzelnen Individuums und der Gesamtheit
günstigen Sinne mittels gleichmäßiger Einwirkung. „Vererbungsproblem und
Erziehung“ sowie „die angeborenen Anlagen und die Erziehung“ werden aus¬
führlich und anregend behandelt und dabei wertvolle Hinweise für die Praxis
gegeben.
Binswanger (81) schildert in glänzender Bede kurz und prägnant die Kon¬
stitutionsanomalien und präzisiert die hierbei erforderlichen psychopädagogischen
Maßnahmen, die um so mehr Erfolg versprechen, je frühzeitiger sie einsetzen.
Birnbaum (34) weist auf die Notwendigkeit einer geeigneten einheitlichen
Nomenklatur der psychopatischen Grenzzustände hin und gibt eine praktische,
gut verwertbare ,.Kompromißnomenklatur“.
Birnbaum (33) beschäftigt sich mit den psychogenen Eirankheitsformen
und stellt fest, daß affektiv wirksames Geschehnis (Erlebnis) und persönliche
Eigenart (psychogene Disposition) die grundlegenden Komponenten psychogener
Krankheitszustände bilden und daß die eigentliche Bedeutung des Erlebnisses
in der Rolle des auslösenden Reizes liegt. „Erlebnis“ and „persönliche Eigenart“
werden ausführlich gewürdigt.
Auch nach Sichel (327) beruht der Selbstmord in den allermeisten Fällen
auf psychisch-abnormer Veranlagung. Seine Ausführungen zeigen, welche Rolle
die Neigung zu Selbstmord und Selbstbeschädigung bei den einzelnen Krank-
heitsformen spielt, welche Mittel und Wege zur Erreichung dieses Zieles benntst
werden und welche Maßnahmen bei der Behandlung selbstmordgefährlicher Kranker
in Frage kommen.
Fiivei (101) stellt die bisher beschriebenen Fälle von Mißbildungen des
äußeren Ohres zusammen und beschreibt dazu acht selbstbeobachtete Fälle von
Mißbildungen am äußeren Gehörapparat. Er legt seinen Betrachtungen folgendes
Schema zugrunde: I. Fehlen a) des ganzen äußeren Ohres, b) einzelner Teile 1. der
Ohrmuschel; 2. des Gehörganges. II. Mißbildungen a) des ganzen äußeren Ohres,
b) einzelner Teile, 1. der Ohrmuschel, 2. des Gehörganges. Bei der Erklärung der
Entstehung von Mißbildungen bildet Vererbung einen wesentlichen Faktor.
Zeitschrift für Pgyohittrie. LXIX. Lit. h
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
Stieda (354) gehört nicht zu den Antoren, welche aus tätowierten Figur«
nnd Zeichen Schlüsse auf das Seelenleben der betreffenden Personen machen;
er sieht darin keine Degenerationszeichen.
Williams (387): In eine Karte werden Öffnungen gemacht, die jeweils 1. i
3, 4, 6, 6, 7, 8 mm voneinander entfernt sind. Blickt man dnrch zwei Öffnungen
nach einem entfernten Gegenstand, so ergibt die Entfernung der beiden Öffnung^,
sobald man die zwei scheinbaren Bilder des Gegenstandes einander fast deck«
sieht, den Durchmesser der Pupille. (Ganter, i
Oppenheim (270) hat bei Prüfung der Pupillarreaktion mittels elektrisch«
Taschenlampen bei Neuropathen gefunden, daß in einigen Fällen auf den elek¬
trischen Lichtreiz keine Pupillenverengerung erfolgte, während sich die Pupille
gleich darauf bei Tageslicht prompt zusammenzogen. — Hey (144) bestätigt di-^
Beobachtungen nnd nimm t mit Oppenheim an, daß die plötzliche Blendung
Schreck Erweiterung der Pupille hervorruft, und daß diese psychische Reakti-r.
die normale Reflexbewegung kompensiert. Nur für einen Teil der Fälle, bei nicfct-
neuropathischen Individuen, akzeptiert er-die Barte Ische Erklärung, der das Phi¬
nomen darauf zurückführt, daß bei der künstlichen Beleuchtung nicht genüget.
Strahlen auf die Macula, die pupillomotorisch wirksamste Gegend, kommen.
Auch Schuster (348) ist ein Gegensatz im Ausfall der Reflf xerscheinutr
bei Prüfung der Pupillarreaktion aufgefallen, je nachdem er künstliches oder dif¬
fuses Tageslicht einwirken ließ. Völlig ausgeblieben ist die Reaktion bei seinn
vorzugsweise nicht neuropathischen Patienten aber niemals. Sch, glaubt, durt:
Verschiedenheiten des reflexauslösenden Reizes, welche entweder in der Licht¬
quelle begründet sind oder bei Passage des Lichtes durch die brechenden Medi-t
des Auges entstehen, das Phänomen am besten zu erklären.
Pfahl (277—278) will mit dazu beitragen, den graphischen Untersuchung
metboden das allgemeine Bürgerrecht nnter den klinischen Untersuchungsmethod«
zu verschaffen. Er hat sich selbst einen Apparat konstruiert und eine eigene Methoo-
atisgebildet zur genaueren Untersuchung der verschiedensten Bewegungsfonner.
Mittels der graphischen Methode, so zeigt Pfahl, kann ein großer Teil der Bewegung* -
Vorgänge bei Gesunden und Kranken in einer Weise verfolgt, fixiert und nach¬
träglich studiert werden, wie das auf Grund des Augenscheines unmöglich ist
Mit dieser Methode können krankhafte Schwächezustände, abnorme Ermüdbar¬
keit, Hemmungszustände, Störungen der Koordination schon dann nachgewiesen
werden, wenn dies sonst noch nicht möglich ist; auch für die Therapie gibt si-
unter Umständen wertvolle Anweisungen. Mittels Spiegelung hat der Autor feinst*
Zitterbewegungen der Muskulatur festgestellt und gefunden, daß auch bei sogen,
ruhiger Haltung ein großer Teil der Körpermuskulatur Zittererscheinungen er¬
kennen läßt.
Citron (63) zeigt, daß die Plethysmographie es uns ermöglicht, herauszufinden
wie ein Individuum auf bestimmte psychische Reize bezüglich der Btutverteihm*
reagiert; so können wir den Einfluß von Bädern auf die pathologische Blutver¬
teilung studieren und feststellen, wie weit ein durch psychische Reize ausgelöste*
pathologisches Verhalten durch Hydrotherapie modifiziert werden kann; es scheint,
als ob das pathologische Verhalten dadurch gebessert werden kann.
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Schroeder, Allgemeine Psychiatrie.
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Cimbdl (62) beschreibt einen einfachen Apparat zar Untersuchung des Auf¬
fassungsvermögens von ungeübten Gesunden, Nerven- und Geisteskranken. Der
Apparat besteht aus einer Laterna magica, deren Licht durch eine besondere Vor¬
richtung für eine gewisse, genau und beliebig regulierbare Zeit auf einen Projektions¬
schirm geworfen wird. Cimbai hat hiermit nicht nur bei Prüfung des Auffassungs¬
vermögens, sondern auch bei der Prüfung der Merkfähigkeit und der Intelligenz
gute Resultate erzielt.
Mikulski (238) gebraucht bei der Intelligenzprüfung eine Methode, die es
gestattet, die Ergebnisse in Ziffern darzustellen und so die Vergleichung von ver¬
schiedenen Resultaten bei verschiedenen Kranken und in verschiedenen Krank¬
heitsstadien ermöglicht; er legt den Versuchspersonen zerschnittene Bilder von
Tieren usw. vor mit der Aufforderung, die passenden Teile zusammenzulegen.
Verf. hat mit dieser einfachen Methode, besonders in Verbindung mit der von
Ebbinghaus und Heilbronner, gute Resultate erzielt.
Raimisl (290) untersucht, wie weit sich der Einfluß willkürlicher Hemmung
auf den Verlauf der Patellar- und Achillessehnenreflexe beim gesunden Menschen
erstrecken und wie sich dieser Einflufi in pathologischen Fällen ändern kann. Die
interessanten Untersuchungen zeigen, daß wir in der Lage sind, „willensfreie“
und „willensgehemmte“ Reflexe vergleichend zu untersuchen und das Ergebnis
dieses Vergleichs für Diagnsoe und event. auch Prognose zu verwenden.
Solomon (318) empfiehlt, bei Prüfung des Patellarreflexes den Unter¬
schenkel vorschieben, dabei die Fußsohle auf die Unterlage aufsetzen und dann
Fußspitze und Zehen nach abwärts drücken, d. h. die Plantarflektoren von Fuß
und Zehen kräftig innervieren zu lassen. Dadurch wird die Antagonistengruppe
= M. quadriceps zur Erschlaffung gebracht und derjenige Effekt herbeigeführt,
den man zur Auslösung des Patellarreflexes erstrebt.
AUhoff (4) empfiehlt zur Prüfung des Achillessehnenreflexes folgende Methode:
der zu Untersuchende sitzt auf einem Stuhl, den Rücken an die hintere Stuhlwand
gelehnt, das Gesicht etwas nach oben gerichtet. Die Unterschenkel sind im Knie¬
gelenk etwa im Winkel von 110—120° vorgestreckt. Die Füße stehen im mittleren
und hinteren Drittel der Fußsohle auf einer etwa 22 cm hohen Fußbank, deren
etwa 6 cm breite obere Platte nach beiden Seiten abgerundet ist. So läßt sich
der Achillessehnenreflex auch unter schwierigen Verhältnissen prompt auslösen.
falls er überhaupt auslösbar ist.
Oeconomakis (267) hat die Marathonläufer hinsichtlich ihrer Reflexe unter¬
sucht. Nach dem Laufe wurde eine fast ausschließliche Veränderung der Reflexe
der unteren Extremitäten beobachtet, in erster Linie der Patellar- und Achilles¬
sehnenreflexe. Bei einem von den neun in Athen angekommenen Läufern war
ein völliger Verlust der Patellarreflexe zu konstatieren. Der Plantarreflex fand
sich meist gesteigert. Auch der normale Unterschenkelreflex von Oppenheim zeigte
einige Veränderungen: er schien den Veränderungen der Patellar- und Achilles¬
reflexe zu folgen, da er bei Steigerung der letzten sich gesteigert darstellte und bei
Verminderung derselben nach dem Laufe völlig ausblieb. Außerdem war auch der
Cremasterreflex auffallend verändert: Er war nach dem Laufe meist vermindert
h*
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
und fehlte beiderseits vollständig bei zwei Läufern. Die Veränderung dieses Re¬
flexes ist auf eine durch die während des Laufens fortwährende Reibung des Hodft- ■
sacks an den Innenflächen der Schenkel hervorgerufene Schädigung zurärkia-
fflhren. Für eine solche Schädigung im sensorischen Teil des entsprechenden Re
flexbogens (Gefühlsabstumpfung) spricht wohl der Umstand, daß bei einigte !
Läufern der beim Streichen in der Adduktorengegend ausbleibende Cremaster- |
reflex jedoch durch Reizung tiefer gelegener Partien der Innenfläche des Schenkel
noch auszulösen war.
An den oberen Extremitäten wurden nur spärliche Veränderungen am
Biceps- und den sonst wenig konstanten Radius- und Beugesehnenreflexen kor.* ;
statiert, was der Verf. auf die eigentümliche Haltung der Arme (in Beugung mi;
geballten Fäusten) während des Laufens zurückzuführen geneigt ist. Der Triceps-
reflex, der konstanteste aller Reflexe der oberen Extremitäten, zeigte gar kein«
Veränderung. Auch der Bauchreflex, der Unterkieferreflex und der Liehtreflti
der Pupillen blieben unverändert. 1
Diese interessanten Befunde sind wohl als reine Aufbrauchserscheinungft ;
im Edingerschen Sinne aufzufassen und können nicht durch eine bei der Ermüdung
entstehende Toxämie erklärt werden. (Autoreferat.)
Juschischenko (178) hat bei Geisteskranken und zum Vergleich auch bei Ge¬
sunden den Gehalt an Katalase, Phylokatalase, Nuklease, Antitryphin untersuch;
die hämolytischen Eigenschaften des Serums geprüft und auch die Reaktion
der Komplementbildung ausgeführt. Wenn es auch keinem Zweifel unterliegen
kann, daß die fermentativen und fermentartigen Prozesse im Organismus der
Geisteskranken und schwer Degenerierten Störungen erleiden, so bringen doch
die bisher gewonnenen Resultate nur wenig Aufklärung. Immerhin hat der Autor
sehr bemerkenswerte Befunde festgestellt, die nicht nur für die Diagnostik, sondere
auch für die Therapie von großer Bedeutung sein können.
Ealbey (131) weist darauf hin, daß Geisteskrankheiten, geistige Schwäche¬
zustände und Epilepsie eine gewisse Rolle bei der Auswanderung und Einwanderung
spielen. Er hält es im Interesse der Schiffahrtsgesellschaften für wünschenswert.
daß bei der Untersuchung der Auswanderer auf Geisteskrankheiten und psychische
Abnormitäten besonderer Wert gelegt wird. Im Jahre 1910 sind 379 Personen
wegen Geisteskrankheit vom Einwandem in die Vereinigten Staaten von Nord¬
amerika ausgeschlossen worden; 709 Personen sind wegen geistiger Störungen
und Epilepsie wieder in die alte Heimat zurücktransportiert, zusammen 1088 =
0.1% der Gesamtzahl der Auswanderer.
Funaioli (111) macht unter reichlicher Verwendung, besonders auch der
deutschen Literatur, Vorschläge zur Reformierung des italienischen Sanitäts-
wesens, soweit die Psychiatrie in Frage kommt, und zwar für die Friedens- wie
für die Kriegszeiten. Vor allem schwebt ihm Deutschlands Beispiel vor.
{Ganter.)
Auf Grund einer Publikation von cCAutheaume und Mignot bespricht Adam
(2) das Vorkommen der Geisteskrankheiten im französischen Heere. Er stellt
fest, daß in jedem Jahre eine ganze Anzahl Rekruten eingestellt werden, die nach
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ihrem ganzen Geisteszustände den Anstrengungen und der Verantwortung des
militärischen Dienstes nicht gewachsen sind. Die Zahl der Imbezillen und Idioten
ist von 0,04 :1000 im Jahre 1893 auf 0,29 im Jahre 1904 gestiegen; es ist das fast
die Hälfte des Gesamtabganges wegen Geisteskrankheit. Die progressive Para»
lyse nimm t eine sehr wichtige Stellung in den geistigen Erkrankungen des Heeres
ein, was wohl den mannigfachen körperlichen Anforderungen mit zu zu schreiben
ist. Nach ihr kommt die Dementia praecox. Unter den Straffälligen im Heere
ist eine große Anzahl psychopathischer, degenerierter Individuen, deren geistige
Schwäche sie zu häufigen Opfern der Militärjustiz werden läßt. Empfohlen wird
als Prophylaxe genaue Untersuchung der Soldaten durch spezialistisch ausge¬
bildete Militärärzte und Unterstützung dieser Maßregel durch Offiziere, die die
Grundlagen der Geisteshygiene sich angeeignet haben.
U Ätiologie.
Stertz (868) hat in der Breslauer Klinik charakteristische Fälle von perio¬
dischem Schwanken der Himfunktion beobachtet; auf kurze Phasen relativ freien
Bewußtseins folgten in regelmäßigem Wechsel solche von Benommenheit. Er
führt diese periodischen Schwankungen der Himfunktion vor allem auf organische
Gefäßwanderkrankung und hinzutretenden intermittierenden Angiospasmus zu¬
rück, der periodische Ischämien des Gehirns und damit entsprechende Funktions¬
störungen zur Folge hat.
Hannes (134) glaubt auf Grand seiner Untersuchungen nicht, daß es eine
Beeinflussung der späteren körperlichen und geistigen Entwicklung asphyktisch
oder mit Kunsthilfe, namentlich mit der Zange zur Welt gekommener Kinder gibt.
Asphyktisch oder mit Kunsthilfe geborene Kinder stehen hinsichtlich der hier
in Betracht kommenden Möglichkeiten nicht schlechter als die bei regelrechtem
Geburtsverlauf spontan Geborenen. Die Bewertung der schweren und asphyk-
tischen Geburt als ätiologischen Moments für später manifest werdende geistige
und nervöse Störungen wird übertrieben.
Münzer (254) führt die Schwangerschafts- und Wochenbettspsychosen auf
im Übermaß sezemierte toxische Produkte des graviden bzw. puerperalen Uterus
zurück. Zu dieser Grundursache treten dann noch eine Reihe von Hilfsmomenten,
welche den Ausbrach der Psychose begünstigen.
Plönies (285) führt eine große Zahl nervöser und psychischer Störungen
auf Magenerkrankungen, auf gastrogene Toxine zurück und weist ausführlich auf
die Wichtigkeit entsprechender diätetischer Behandlung hin: die Diät ist und bleibt
der unentbehrliche Heilfaktor in der Behandlung der gastrogenen zerebralen
Störungen.
Setoell und Me. Dowdll (325) untersuchten das Blut von 50 Geisteskranken
(Verwirrtheit, Melancholie, ehr. Psychosen) auf Mikroorganismen, die man für die
Krankheit etwa hätte verantwortlich machen können. Resultat negativ. Trotzdem
lassen die Verf. die Frage offen, ob nicht Giftstoffe von irgendwo im Körper ver¬
borgen sitzenden Bakterien die Ursache der Geisteskrankheit sein könnten.
( Oanter .)
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
Meyer (236) hat eine größere Anzahl von Kranken mit frischen Kopfver¬
letzungen oder schwerer allgemeiner Körpererschütterung psychiatrisch-neuro¬
logisch untersacht und dabei festgestellt, daß psychische Abweichungen ver¬
schiedener Art: Störungen der Orientierung, der Merkfähigkeit, abnorme Ermüd¬
barkeit, Neigung zur Perseveration, aphasische Störungen, leichte Stuporzustände,
Euphorie viel häufiger sind, als die oberflächliche Untersuchung und das eigene
Empfinden der Kranken erkennen läßt.
Kopystinski (194) bearbeitet auf Grund des eigenen Materials und der Lite-
raturangaben die Frage nach dem Zusammenhänge zwischen Schädeltrauma und
Psychose. Aus seinen Schlüssen heben wir Folgendes hervor: Die traumatischen
Psychosen können sowohl unmittelbar nach dem Trauma, als auch nach Ablauf
einer längeren — manchmal jahrelangen — Periode zum Ausbruch kommen. Sie
verlaufen meist nach dem Typus einer Dementia praecox (in 38%), kommen aber
auch als Epilepsie (18%), Imbezillität (14%), Köppensche Dementia post-trau-
matica (8%) und progressive Paralyse (6%) zum Vorschein. Als ätiologischer Faktor
figuriert das Trauma am häufigsten in der Epilepsie(10%), dann in der Imbezillität
(9,4%) und in der Dementia praecox (6,1%). In der progressiven Paralyse übt
das Trauma einen Einfluß in der Weise aus, daß es entweder den Zustand ver¬
schlimmert oder' eine latente Krankheit zum Ausbruch bringt.
(Fleischmann- Kiew.)
Siroemer (360) berichtet über einen im Anschluß an eine gynäkologische
Operation aufgetretenen Fall von Amentia und macht darauf aufmerksam, daß
beim Zustandekommen dieser Psychose körperliche (Vorleben, Trauma, lang¬
dauernde Blutverluste, Operation) und seelische Schädigungen (Angst vor der
Operation) eine Bolle gespielt haben, daß die Operation als auslösendes, die schlie߬
lich akut gewordene Erschöpfung aber als ursächliches Moment anzusehen sei.
Voß (380) schildert in anschaulicher Weise die vielfachen Beziehungen
zwischen Tuberkulose und Nervensystem, besonders nach ihrer klinischen Seite.
Lagriffe (199): Ein Fall von akutem Delirium, ein anderer von Verwirrtheit,
deren Ursache Verf. in einer tuberkulösen Meningitis zu erkennen glaubt. Jener
durch die Sektion bestätigt. (Ganter.)
Stierlins (357) interessante Ausführungen berichten über die psychischen
und nervösen Störungen, welche bei den überlebenden der Katastrophen von
Valparaiso, Messina-Reggio, Courriöres, Radbod, Mülheim u. Crail festgestellt
worden sind: Akute, rasch ablaufende Schreckpsychosen vom Charakter hysterischer
oder epileptischer Dämmerzustände und solche chronischen Verlaufs, an Er¬
schöpfungspsychosen und Korsakow erinnernd. Oft war in der ersten Zeit folgender
nervöser, vorwiegend vasomotorischer Symptomenkomplex nachweisbar: Schlaf¬
störungen, erhöhte Frequenz und Labilität des Pulses, Steigerung der Patellar-
reflexe; weniger regelmäßig: Demographie, starkes Schwitzen, Gefühl aufsteigender
Hitze, kühle Extremitäten, Zephalgie, Vertigo, Abulie, Tremor. Die Störungen
verliefen meist günstig, nur in einzelnen Fällen entwickelten sich daraus eigent¬
liche Neurosen. Bezüglich der Bassendisposition bemerkt der Autor, daß der Süd-
Italiener zu rasch ablaufenden akuten hysterischen Manifestationen, der nord-
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Schroeder, Allgemeine Psychiatrie.
119*
französische Arbeiter für hysterische Neurosenformen disponiert scheint. Bei
Deutschen der bessergestellten Klassen sind vorwiegend neorasthenische Störungen
beobachtet worden.
Mondio (248) hat die nach dem Erdbeben von Messina und infolge desselben
geistig Erkrankten in der Irrenanstalt „Lorenzo Mandalaro“ zu beobachten Ge¬
legenheit gehabt. Es gehörten an: der allgemeinen Verwirrtheit 20 (12 M. 8 Fr.),
den hysterischen Geistesstörungen 30 (3 M. 27 Fr.), den neurasthenischen Geistes¬
störungen 30 (28 M. 2 Fr.), den epileptischen Geistesstörungen 12 (8 M. 4 Fr.),
der Hypomanie 2, dem halluz. Irresein 13, der progr. Paralyse 3. Seine sonstigen
wichtigsten Erfahrungen waren: Eine schlimmere Wirkung als das körperliche
Trauma hatte der Schock auf die Psyche. Dauer und Ausgang der Psychose hing
außer von der Heftigkeit der Gemütserschütterung auch von der Veranlagung
des Individuums ab. Die traumatischen Psychosen, bei denen der psychische
Schock die Hauptrolle spielt, stellen sich kurz nach dem Trauma ein, während bei
den körperlichen Verletzungen die Psychose erst später zum Ausdruck kommt.
(Ganter.)
Cotton und Hammond (68) schildern auf Grund der Krankengeschichte einer
56 Jahre alten Negerin (Lehrerin) das Bild einer Herz- oder „Zirkulationspsychose“:
Ängstliche Verstimmung mit plötzlichem Beginn und unregelmäßigem Verlauf,
nächtlichen Delirien, lebhafter Reaktion auf Halluzinationen und raschem töd¬
lichem Ausgang. Ursache eine Herzkrankheit. Die histologische Untersuchung
ergab Degenerationserscheinungen in den Pyramidenzellen. Verf. nimmt einen
Zusammenhang an zwischen der Herzkrankheit, der „zentralen Neuritis“ und der
Psychose an. (Ganter.)
III. Pathologie.
Reichardt (297) behandelt nach kurzer Definition der „Himschwellung u
und besonderem Hinweis auf die Notwendigkeit konsequenter Berücksichtigung
des Schädelinnenraums bei Feststellung des Himgewichts zunächst die Beziehungen
von Himhyperämie, Hydrozephalus, Hirnödem zur Hirnschwellung und wendet
sich dann ihren Ursachen zu. Die Liquorverhältnisse bei Himschwellung, ihre
Histologie und ihr Wesen werden hierauf besonders besprochen. Das Literatur¬
verzeichnis nennt 78 Arbeiten. „Als Hirnschwellungen im engeren Sinne kann
man zurzeit verstehen: Volumenvergrößerungen des Gehirns von verschiedenster
Ätiologie, bei welchen die Volumenvermehrung nach dem gegenwärtigen Stand
der Kenntnisse nicht erklärt werden kann durch Hypertrophie oder Hyperplasie,
entzündliche Neubildung, Schwellung durch Hyperämie, Anwesenheit vermehrter
freier Flüssigkeit und auch nicht durch histologische Befunde, welche die Volumen¬
vergrößerung des Gehirns restlos erklären könnten.“ „Das Wesen der Hirnschwellung
ist dunkel.“
Reichardt (296) beschäftigt sich mit der Frage nach der Existenz bestimmter
charakteristischer Todesarten bei Hirakrankheiten. Er weist dabei zunächst auf
die Wichtigkeit richtiger Körpergewichtsbestimmungen hin, macht auf die Wert¬
losigkeit einer Körpergewichtszahl ohne sonstige Angabe aufmerksam und betont,
daß das Körpergewicht in Beziehung zur Körpergröße gebracht und der Körper-
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120*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
gewichtsquotient festgestellt werden muß. Auf Grund seiner Untersuchungen
stellt R. dann folgende Todesarten auf: Tod nach vorangegangener endogener,
wahrscheinlich zerebraler Abmagerung, auch wenn das Maximum der an sich röt¬
lichen Abmagerung nicht erreicht ist; Tod im zerebrospinalen sogenannten Maras¬
mus; Tod nach trophischen Störungen; Tod nach auffallenden Temperatur-
erscheinungen; Tod nach starken anfallsartigen Störungen, wobei m«.nrhnn*l gleich¬
zeitig ein abnormes Verhalten des Körpergewichtes vorangegangen war; Tod nach
starken und charakteristischen (anscheinend) psychischen Symptomen; Tod ohnr
alle auffallenden akuten klinischen Symptome. R. glaubt, daß diese verschiedenen
Todesarten in Beziehung zu bringen sind zu einer verschiedenen Lokalisation de«
Krankheitsprozesses im Gehirn, wobei dann auch die individuell verschiedene
Hirnorganisation, das Lebensalter und die Eigenart der Hirnkrankheit zu berück¬
sichtigen ist.
Münzer (267) beschäftigt sich mit den schweren Marasmen, wie sie zeitweilig
im Gefolge von Hirne■ krankungen auftreten; er schildert deren Erscheinungsformen
und erörtert die Möglichkeiten ihrer Entstehung. Der paralytische Marasmus wird
als Typus einer mit den Erscheinungen des schwersten Marasmus einhergehender
zerebralen Erkrankung besonders eingehend behandelt. Das Wesen der Krankheit
wird als eine durch schwere Funktionsstörungen der nntergehenden Nervenzellen
bedingte Intoxikation charakterisiert.
Münzer (266) führt uns die krankhaften Erscheinungen der Tanzwut, des
Tarantismus, der Selbstgeißelung, des modernen Sektenwesens mit seinen Ans¬
wüchsen und Absonderheiten vor Augen. Auch er rubriziert diese psychischen
Epidemien unter die Hysterie und führt sie besonders auf 3 Faktoren zurück:
Nachahmungstrieb, Suggestion und Einfluß der Massenwirkung (Massenhysterie).
Eine kurze kritische Betrachtung der hysterischen Phänomene beschließt die
interessanten Ausführungen.
Trömner (374) bespricht in seinen Ausführungen die motorischen Störungen
des Schlafes. Das Schlafsprechen ist an sich kein Zeichen pathologischer Ver¬
anlagung. Einen klinis chen Zusammenhang zwischen Schlafwandeln and Epilepsie
hält Trömner für unbeweisbar. Der kataleptische Halbschlaf ist häufiger bei nervösen
als bei nicht nervösen Personen, dagegen sind die als „Schlaftic“ oder „Jactationes
nocturnae“ bezeichnten motorischen Störungen des Schlafes ausgesprochen neoro-
pathischer Genese. Was die Enuresis nocturna anlangt, so begünstigt manifeste
Epilepsie zwar das Auftreten unwillkürlicher nächtlicher Entleerungen, in den
meisten Fällen sind aber allerlei andere neuropathische Momente als Ursache
anzuschuldigen. Außerdem bleibt ein nicht geringer Prozentsatz solcher fälle
übrig, bei denen die Enuresis einen aus der Wiege in das Leben übernommenen
Schwächezustand, eine Art „Reflexinfantilismus“ darstellt. Empfohlen wird gegen
diese motorischen Schlafstörungen die Hypnose, die Verf. auch bei älteren Fällen
mit Erfolg angewandt hat.
Eaymann (136) gibt eine vorzügliche umfassende Übersicht über die gesamte,
seit 1906 erschienene Literatur aus dem Bereich der Kinderpsychosen ausschlie߬
lich der Epilepsie. Das Literaturverzeichnis nennt 273 Arbeiten.
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Schroeder, Allgemeine Psychiatrie.
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Hockringen (160) Ausführungen kommen zu dem Schluß: Das isolierte Fazialis-
phänomen bei älteren Kindern und Jugendlichen hat unter allen Umständen eine
pathologische Bedeutung, es ist das sinnfällige Symptom einer angeborenen neuro*
p&thischen Konstitution, welche sieh bei den Eltern, besonders den Müttern, durch
das sehr häufig vorhandene gleiche Phänomen in Verbindung mit funktionellen
Neurosen zu erkennen gibt; das isolierte Fazialisphänomen ist ein Hauptattribut
der psychischen Ubererregbarkeit und Nervosität der Jugendepoche und haftet
fester beim weibliohen als beim männlichen Geschlechte. Jugendliche Nervosität
und infantile Übererregbarkeit, bez. Spasmophilie der Säuglinge, gehören genetisch
zusammen und beruhen in letzter Linie auf hereditärer neuropathischer Ver¬
anlagung.
Dreyiua (86) schildert nach kurzer Präzisierung des depressiven Symptomen-
komplexes eine Reihe von leichten Depressionszuständen bei bis dahin psychisch
völlig Gesunden und bei Psychopathen; er zeigt dabei, wie diese Depressionszustände
die Folge von ganz verschieden zu bewertenden ursächlichen Momenten sein können,
und macht darauf aufmerksam, daß hier die Ätiologie der Symptomatologie diffe¬
rential-diagnostisch überlegen ist und Prognose wie Therapie entscheidend be¬
einflußt.
Genil-Perrin (114): Beispiele von krankhaftem Altruismus bei Geisteskranken,
Melancholischen, Hysterischen, Degenerierten usw. Das Symptom zeigt sich in
einem merkwürdigen Schwanken oder in der ungleichmäßigen Entwicklung der
verschiedenen Seiten des Gemütslebens, z. B. begeht jemand einen Diebstahl,
oder verschleudert sein Vermögen, um den Armen eine Gabe zu verschenken, oder
setzt die Tierliebe über die Menschenliebe u. dgL m. (Garnier.)
Grawe (124) zeigt, daß die scapula scaphoidaea sich vom Durchschnittstypus
des menschlichen Schulterblattes in vielfacher Hinsicht unterscheidet; vor allem
ist ihr Vertebralrand unterhalb der spina mehr oder weniger konkav. Gr. weist
auf den Zusammenhang zwischen Vorkommen der scap. scaph. und Syphilis in
der Aszendenz hin und stellt folgende These auf: „Die scap. scaph. ist eine Anomalie
der Entwicklung, welche in der Nachkommenschaft entsteht, veranlaßt durch
einen abnorm wirkenden Umstand, der die Eltern betroffen hat; sie pflanzt sich
von den Eltern auf Kinder fort durch mehrere Generationen; und wenn nicht der
abnorme Umstand von neuem bei den Abkömmlingen wirksam wird, verschwindet
die scap. scaph. allmählich und der Rassetypus herrscht wieder vor.
Beye (302) stellt auf Grund seiner Untersuchungen über das Vorkommen
der kapholden Form der Skapula fest, daß die scapula scapholdea in ganz
überwiegender Mehrzahl der Falle als Degenerationszeichen zu betrachten ist.
ln ätiologischer Beziehung spielt in erster Linie Lues, aber nur etwa in der Hälfte
der Fälle, eine Rolle. Weiter kommen Alkoholismus, Tuberkulose und schwere
nervöse Erkr ankung en des Aszendenten als ätiologische Faktoren in Betracht.
In ganz seltenen Fällen scheinen auch in den ersten Lebensjahren akquirierte
Schädigungen das Auftreten von skaphoTden Skapulaformen bewirken zu können.
R. bestätigt also im wesentlichen die Anschauungen des Amerikaners Grawe.
Frankhaueer (107) präzisiert kurz seinen diagnostischen Standpunkt und
bringt dann 40 in der Bezirksheilanstalt Stephansfeld 1900—1906 beobachtete
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122*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
Falle von Geschwisterpsychosen: Dementia praecox-Fälle, manisch-depressiv?
Fälle and Rückbildungspsychosen (Spätdemenzen). Das hereditäre Moment in
der Ätiologie ist das innere Band aller funktionellen Psychosen. Von den 40 Gt-
schwisterpsychosen betreffen 17 beide Geschlechter, 23 nur eins; hiervon 4 d*>
männliche, 19 das weibliche. Das weibliche Geschlecht ist überall empfängliche
für die erbliche Übertragung von Krankheitsanlagen als das männliche. Bei Here¬
dität von seiten des Vaters sind mehr die Töchter, bei solcher von seiten der Mutt«
mehr die Söhne gefährdet. Der Einfluß des Vaters bei der Vererbung scheint im
allgemeinen mächtiger zu wirken, als der der Mutter. Bei Erkrankung eines Bruder?
ist die Wahrscheinlichkeit, daß eine Schwester erkrankt, größer als die, daß wiederum
ein Bruder erkrankt; bei Erkrankung einer Schwester ist die Wahrscheinlichkeit,
daß wiederum eine Schwester erkrankt, größer. Die jüngeren Geschwister erkranke
zweimal so oft früher als die Eltern; die Schwere der Belastung ist auch vom Ake:
der Eltern abhängig.
Suchanow (336) schildert den Fall einer manisch-depressiven Erkrankung
bei Zwillingsschwestern und erörtert im Anschluß daran die Frage über die Zwillings¬
psychose. S. erkennt die Berechtigung einer solchen Krankheitsform nicht uv
In seinem Falle konnte von einer Identität der Erkrankung bei den Geschwister:
keine Rede sein. Es handelt sich vielmehr um eine Familienpsychose, die bei
allernächsten Verwandten zum Ausbruch gekommen war. {Fleischmann-Kiew, i
Partenheimer (273) faßt seine interessanten Ausführungen in folgenden Schlu߬
sätzen zusammen: „Das Bestehen induzierten Irreseins im strengen Sinne ist äußer?:
selten, wenn nicht überhaupt fraglich. Induziertes Irresein kann nur angenommen
werden, wenn ein nachweisbar erblich nicht erheblich belastetes, also zu geistig?:
Erkrankung nicht von vornherein prädisponiertes Individuum lediglich durch d*a
Umgang mit einem Geisteskranken in eine Geisteskrankheit verfällt, die in klinischem
Sinne, in Inhalt und Form mit der Psychose des Ersterkrankten identisch ist urd
nach der Trennung auch weiter einen selbständigen Charakter trägt. Die Krank¬
heitsform, die für das induzierte Irresein bei diesen Voraussetzungen wohl allen:
in Betracht kommen könnte, wäre die Paranoia“.
Runge (317) stellt auf Grund eigener Erfahrung und unter Heranziehung
zahlreicher Statistiken anderer Autoren fest, welche Psychosenformen während
des Generationsgeschäftes Vorkommen, welche ätiologischen Momente bei Ent¬
stehung der einzelnen Formen eine Rolle spielen und welche Momente für Verlauf
und Prognose von besonderer Bedeutung sind. Auch Runge s Resultate bestätigen,
daß es keine spezifischen Generationspsychosen gibt. Endogene ätiologische Momente
sind hier weniger als sonst bei den Psychosen vertreten, dagegen zeigen über die
Hälfte der Fälle exogene ätiologische Momente. Die Prognose der Generations¬
psychosen in der Gesamtheit ist günstig und zwar infolge des Prozentsatzes an
Fällen der Amentiagruppe, der Melancholie und der hysterischen Psychosen. Bei
der Therapie betont Runge die außerordentlich große Suizidgefahr. Der Einleitung
des künstlichen Abortes bei Graviditätspsychosen gegenüber äußert er sich sehr
zurückhaltend und empfiehlt größte Vorsicht und vorherige Beobachtung und
Behandlung in einer Anstalt.
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Schroeder, Allgemeine Psychiatrie.
123*
Meyer (231) bespricht nach kurzen statistischen Mitteilungen und kurzer
Würdigung der Beziehungen zwischen Generationstätigkeit und Paralyse, Alkoholis¬
mus, Epilepsie und Hysterie ausführlich die Graviditätspsychosen, die kurz dauern¬
den psychischen Störungen während oder direkt nach der Geburt, die Puerperal¬
psychosen im strengen Sinne, die eklamptischen Psychosen und Laktationspsychosen.
Auch nach M. gibt es keine spezifische puerperale Psychose. Er glaubt, dafi die
Generationstätigkeit weniger von unmittelbarer Bedeutung für die Entstehung
von Psychosen ist, als mittelbar durch Schwächung des Nervensystems den günstigen
Boden für nervöse und psychische Störungen bietet. Für Stellung der Indikation
des künstlichen Abortes stellt der Autor folgenden Satz auf: „Das Fortbestehen
der Schwangerschaft muß die dringende Gefahr in sich schließen, daß ein dauerndes
schweres Nervenleiden entstehen wird, das auf keine andere Weise zu beseitigen
ist, und von dem man mit Bestimmtheit erwarten kann, daß es durch die Unter¬
brechung der Schwangerschaft geheilt bez. in der Entwicklung für die Dauer ge¬
hemmt wird. Eine vorherige Beobachtung in nicht ganz klaren Fällen und ein
sorgfältiger Behandlungsversuch sind notwendig; auch soll man stets verlangen,
daß eine neue Gravidität jedenfalls für Jahre vermieden wird/ 4
JoUy (168) hat bei 79 von 1887—1900 in der Hallenser Klinik behandelten
Puerperalpsychosen katamnestische Untersuchungen angestellt; er macht auf
Grund seiner Feststellungen wertvolle Mitteilungen über Ätiologie, Zeit des Aus¬
bruchs, Dauer und Ausgang der Erkrankung und knüpft daran diagnostisch¬
statistische Bemerkungen. Meist handelte es sich um Frauen zwischen 26 und
35 Jahren und zwar um Mehrgebärende, selten um außerehelich Geschwängerte.
Die meisten Psychosen gehörten der Amentia an, etwas weniger der Manie-Melan-
cholie-Gruppe, noch weniger der Katatonie. Die Katatonie zeigte absolut un¬
günstige Endprognosen. Völlig geheilt 46%, bei Hinzurechnung der mit geringem
Defekt Geheilten und bei Wiedererkrankung Genesener 59%. Wiedererkrankung
durchschnittlich nach 3 Jahren 8 Monaten. Für den Ausgang als günstig erwiesen
sich Infektion und erschöpfende Momente, als ungünstig angeborener Schwach¬
sinn, chronischer Beginn, frühere geistige Erkrankung im jugendlichen Alter, Fehlen
einer besonderen Veranlassung. Die Dauer der Psychosen war länger: bei Belasteten,
Frauen über 30 Jahren, bei chronischem Beginn und bei Amentia mit besonders
hervortretenden katatonen Zügen; kürzer: bei den in den ersten zwei Wochen
nach der Geburt und bei den im Anschluß an Infektion aufgetretenen Psychosen. —
Derselbe Verfasser (169) beschäftigt sich an der Hand des gleichen Materials noch
einmal besonders mit der Prognose der Puerperalpsychosen; sie ist am günstigsten
bei den Amentia-Fällen.
Da Rocha (306) hat in der Irrenanstalt zu Juquery (Brasilien) Beobachtungen
an 286 geisteskranken Negern angestellt. Es fanden sich: Periodisches Irresein
bei 38 M. 41 Fr., Melancholie bei 4 M. 1 Fr., Dementia praecox (die katatonische
Form ist sehr selten) bei 27 M. 32 Fr., systematisierter Wahnsinn der Degenerierenden
(nach Magnan) bei 6 M. 2 Fr. (Heilung nach einigen Monaten nach Aufhören der
schädigenden Ursachen), Paranoia bei 1 M. 1 Fr. (die harmlosen Fälle kommen
natörlich nicht in die Anstalt), Epilepsie bei 16 M. 18 Fr. (vorwiegend Kr iminal -
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124* Bericht fiber die psychiatrische Literatur 1911.
fälle; sie zeigen alle Formen der Epilepsie), Alkoholismns bei 13 M. 16 Fr.. Demesm
par&lvtica bei 4 M. 1 Fr., Dementia senilis bei 12 M. 16 Fr., Imbezillität bei 7 X.
20 Fr., Idiotie bei 1 M. 4 Fr., moralisches Irresein bei 3 M. Der geistige Tidsaec
and der Mangel vonKnltur spiegelt sich auch im Krankheitsbild wieder. Die Dementi
paralytica ist sehr selten, trotzdem Syphilis und Alkoholismns häufig vorkomne.
Der Alkoholismns findet sich besonders häufig bei den Weibern. Der Anteil te
Weiber an der Verblödung übertrifft den der Männer. {Gante.)
Heumard (133): Sfrieux and Capgras versuchten aas der Krankheitsgrnpp«
des dölire systömatisö chroniqae (Paranoia) das dfelire d'interpretation (Beriehnng-
wahn) als wohlcharakterisierte Unterabteilung hervorzuheben (Vorherrsehea an
Eigenbeziehungen, fast völliges Fehlen von Halluzinationen, im übrigen kein k-
telligenzdefekt, Unheilbarkeit, keine Verblödung). Der Verf. erkennt an da Hw
von 10 ausführlichen Krankengeschichten im großen ganzen diese Einteilung
richtig an, nur findet er, daß die Mischformen überwiegen. Nor 2 Krankengeschichte
können als fast reines dölire d’interpretation angesprochen werden, die übn?-:
zeigen Mischungen mit dem dölire de revendication (Qaärulantenwahnsinn), d«.
dölire hallncinatoire chronique, dem dölire d’imagination (Fabulieren). Den Schis:
bildet ein Literaturverzeichnis von 260 Nummern (darunter auch viele deutsch:
Autoren). {Ganter, i
Hitsche and Wümanns (262) unterscheiden in ihrem Referat drei Periode
Die erste umfaßt die Arbeiten der alten Schulen, die zweite betrachtet die Frie¬
der Gefängnispsychose unter dem Gesichtspunkte der Dementia praecox-Leis:
Kräpelins, die dritte unter dem Gesichtspunkt der Magnan-Mobiueschea An¬
schauungen über Degeneration. „Der langjährige Kampf um die Frage nach eine:
spezifischen Haftpsychose hat sich dahin entschieden, daß die in der Haft »:
Entwicklung ko mm enden juvenilen Verblödungsprozesse nur eine charakteristisch«
Färbung von dem Haftmilieu erhalten, und daß bei entsprechend organisiertet
Persönlichkeiten akute und chronische Psychosen zur Entwicklung kommen können
die denjenigen an die Seite zu stellen sind, die auch in der Freiheit unter dem Einfioi
affektbetonter Erlebnisse bei ihnen beobachtet werden.“
Heinicke (138) beschreibt einen seltenen Fall von Begnadigungswahn bri
einer an seniler Geistesstörung leidenden Gewohnheitsverbrecherin, die fast di'
Hälfte ihres Lebens in Strafanstalten zugebracht hatte. Der Autor bestätigt di;
bekannten Rüdtnschen Anschauungen über Genese und Verlauf dieses Krankheits-
bildes.
Hemicke (139) schildert kurz und prägnant die Hauptanfänge psychisch«:
Störungen bei Gefangenen und knüpft t aran bemerkenswerte Ausführungen übe:
Simulation psychischer Störungen.
Willige (388) beschäftigt sich in seinen sehr beachtenswerten Ausführung«;
mit nervösen und psychischen Störungen nach Blitzschlag und veröffentlicht eine
Reihe charakteristischer großenteils selbst beobachteter Fälle. Er teilt die Fäll«
ein in solche von unmittelbarer Schädigung und solche von mittelbarer (durch
Telephon oder Telegraph) Schädigung durch Blitzschlag. Gemeinsam ist allen
Krankheitsbildem eine Mischung von organischen Läsionen — besonders der
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Schroeder, Allgemeine Psychiatrie.
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Hinmerven — nnd funktionellen Störungen, wie man es bei anderer Ätiologie
seltener findet. Die Aussichten auf definitive Heilung sind bei den unmittelbaren
Blitzwirkungen günstiger als bei den mittelbaren.
König (191) beschreibt ausführlich das Krankheitsbild einer schweren hysteri¬
schen Psychose nach Blitzschlag.
Biachoff (36) beschreibt den Verlauf einer selbst beobachteten Starkstrom¬
verletzung bei einem 36jährigen Arbeiter mit glücklichem Ausgang. Während
der Ausgleich der Störungen auf vegetativem und nervösem Gebiete nnr Sekunden,
Minuten und Stunden in Anspruch nahm, dauerte der Ausgleich der psychischen
Störungen Stunden, Tage, Wochen und Monate.
v. MdUzahn (227) hat bei Geisteskranken, welche an den verschiedenen Formen
der Dementia, an hysterischen Psychosen, an Manie, Melancholie, Dämmerungs¬
zuständen und Amentia litten, mit Hilfe der Bourdonschen Probe Aufmerksamkeits¬
prüfungen vorgenommen; er schildert die verschiedenen Arten von Aufmerksam¬
keitsstörungen: Hypo- und Hypervigilität, Hypo- und Hypertenarität, Aprosexie
nnd Hyperprosexie und macht darauf aufmerksam, daß der Ausfall solcher Unter¬
suchungen in Verbindung mit den übrigen Symptomen der Krankheit für die
Diagnose ausschlaggebend sein kann.
Rohde s (307) Versuche zeigen, daß Assoziationsproben bei der Diagnose der
Geisteskrankheiten wertvolle Dienste leisten und daß sich damit Wahnideen be¬
sonders gut hervorlocken lassen. Für die forensische Praxis sind derartige „Über-
listungsversuche“ aber nur mit großen Einschränkungen verwertbar.
Klepper (189) hat Assoziationsversuche zur Unterscheidung von epileptischen
und katatonischen Zuständen angestellt. Seine Untersuchungen zeigen, daß man
mit der Assoziationsmethode allein oder in Verbindung mit anderen Prüfungen
wohl imstande ist, auch ohne Kenntnis der Anamnese die Unterscheidung von
katatonischen und epileptischen Zuständen mit großer Wahrscheinlichkeit zu
machen.
Kilians (187) zahlreiche Assoziationsversuche bei einem Fall von Manie
haben viele Stereotypien ergeben; er läßt es deshalb dahingestellt, ob diese Stereo¬
typien ein bei den Assoziationen manischer Kranker häufig vorkommendes Symptom
sind, oder ob sie eine Besonderheit seiner auch sonst viel Manieriertheiten ab¬
weisenden Versuchsperson darstellen. Anamnestische und sonstige klinische Sym¬
ptome haben daran denken lassen, das Krankheitsbild als manisch-depressive
Erregung auf latent-epileptischer Grundlage zu deuten.
Rosenfeld (311) macht auf die diagnostische Verwertbarkeit des kalorischen
Nystagmus aufmerksam und wünscht dieser einfachen, gefahrlosen und bequemen
Untersuchungsmethode weitere Verbreitung; er hat damit nicht nur bei organischen
Gehimkrankheiten, sondern auch bei der Prüfung der Schwere von Bewußtseins¬
störungen bemerkenswerte Tatsachen festgestellt. Bei Bewußtseinsstörungen
durch Intoxikationen (Morphium-, Alkoholvergiftung, Delirium tremens besonders)
empfiehlt Verfasser auf kalorischen Nystagmus zu prüfen; prognostisch wichtig
ist, ob rascheNj stagmusbewegung oder langsame, wechselnde bzw. fixierte Deviation
erfolgt oder ob die bulbi überhaupt nicht mehr mit Bewegungen reagieren.
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
Meyer (237) macht auf Grund langjähriger Beobachtung darauf aufmeksü
daß der Patellarreflex des typischen Neurasthenikers „schnellend“ ist und au
der „springende“ Reflex auf Hysterie deutet. Der schnellende Reflex ist die dank-
ristische Form der Erhöhung des Reflexes bei Übermüdung und Uberreiian;
Goldflam (119) hat die Knie- und Achillessehnenreflexe an einem zrafc
Material nach einheitlichen Gesichtspunkten und Methoden untersucht und ha:
Jahre weiter beobachtet und geprüft. Er kommt dabei zu dem Resultat, daß
Menschen mit Fehlen der Sehnenxeflexe an den Beinen zu den größten Selten^ '-:
gehören.
Hahn (130) hat eine größere Zahl von Kranken unter Hyoszin- und Alk«
Wirkung untersucht und dabei besonders den Bdbinskischen, Oppenheimschez j>
Mendel sehen Reflex geprüft. Seine Untersuchungen zeigen, daß „Babinski" •
einzelt bei chronischem Alkoholismus vorkommt, er kann in vereinzelten Fl-.-
auch bei Epileptikern unabhängig vom Anfall ohne andere Lokalerscheinur;
bestehen. Der Oppenheimsche Reflex ist der Ausdruck einer schwereren Schade-
als der Babinski&che. Der Mende Ische Reflex scheint nnr bei organischen Störuig
vorzukommen.
Cohn (66) beschreibt einen neuen Kniesehnenreflex, den er bei Beklopf
der Fußsohle doppelseitig bei einer multiplen Sklerose, einer syphilitischen Spiü
paralyse usw., einseitig bei Hemiplegien usw. gefunden hat und fordert zur X»
prüfung auf.
Maas (219) macht auf die Bedeutung des gekreuzten Zehenreflexes aufer -
sam; dieser Reflex beweist das Vorhandensein organischer Veränderungen -
zentralen motorischen Neuron auch in Fällen, wo „Babinski“ fehlt. Eins «:,
gekreuzter Zehenreflex ist ohne Bestehen eines organischen Nervenleidens nur >
vorgeschrittener Tuberkulose beobachtet worden.
Stroehlin (359): Untersuchungen über das Symptom der Mitbeweguig-
bei 24 Hemiplegischen, Erörterung der verschiedenen Theorien über Entstehc.
dieses Symptoms. ( Garnier.
Williams (386): Die vom Kleinhirn ausgehende Dysergie läßt sich in einfach
Weise so zeigen, daß man den Kranken Linien ziehen und an bestimmten Punkt 1 -'
halten läßt. Der Kranke wird dann über die Punkte hinausfahren, der an Aut
L eidende hingegen kann meist anhalten, wenn nicht, ist seine Linie unregelmit.
und zittrig. (Gante r.
Devine (79): Drei Fälle von Brustkrebs bei Frauen, von denen die eine Zeich«
von Verfolgungswahn, die zweite von Melancholie, die dritte von Verwirrtfc-'
zeigte. Daß sie ihr Krebsleiden kaum beachteten und es trotz Aufklärung für tir-
leichte Erkrankung hielten, erklärt Verf. nach den Freudschen Theorien. Auf
geistig Gesunde wollen oft nicht an derartige schwere Krankheiten glauben (Ai-
wehrneurose). (Ganter. >
Jones (171): Beispiele aus der Psychopathologie des Alltagslebens nach Frtv
gleichgenanntem Buch. (Ganter - 1
Jones (170): Erklärung der nervösen Angstzustände nach der Freudsch
Theorie. (Ganter . 1
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Schroeder, Allgemeine Psychiatrie.
127*
Hoepffner (161) hat einen interessanten Fall phantastischer Erlebnisse im
Verläufe einer chronischen Lungentuberkulose beobachtet, die wohl als illusionäre
Produkte einer ausschweifenden Phantasie, ausgelöst durch eine zehrende, fieber¬
hafte Erkrankung, anzusehen sind.
Oppenheim (271) teilt vier Krankengeschichten von Psychopathen mit, bei
denen sich ohne äußere Ursache im Anschluß an einen heftigen Schwindelanfall
mit Übelkeit und Erbrechen ein Jahr hindurch bestehender „Dauerschwindel“
entwickelte. Objektive Untersuchung negativ. Autor rubriziert die Patienten
in die Gruppe der Neurastheniker und führt den Schwindel auf Reizzustände in
den perzipierenden Großhimzentren zurück. Therapie ziemlich erfolglos.
Stransky (368) berichtet über einen seit Jahren rechts schwerhörigen Alko-
holisten ohne Beziehungs-, Verfolgungsideen und sonstige Halluzinationen, der
häufig Rauschen, Stimmen beschimpfenden Inhalts, vor allem aber Nachsprechen
seiner eigenen Gedanken auf dem rechten Ohr hört und diese Täuschungen auch
als solche erkennt. An die Besprechung des Falles knüpft der Autor beachtens¬
werte Ausführungen über Wesen und Zustandekommen von Halluzinationen.
Wertheim (383) beschreibt eine unter dem klinischen Bilde der Amentia
tödlich verlaufene, mit Albuminurie, Zylindrurie, gespanntem Puls, erhöhtem Blut¬
druck, Kopfschmerzen und Erbrechen verbundene renale Psychose, entstanden
im unmittelbaren Anschluß an urämische Krämpfe, welche 3 Monate nach Beginn
einer akuten Nephritis aufgetreten waren.
Olivier und Boidard (268): Zwei Fälle von Delirium, bei denen kurz nach der
Aufnahme Typhus festgestellt wurde. Die Verf. fanden, daß es kein sicheres Zeichen
gibt, wonach man ein Infektionsdelir von einer eigentlichen Psychose unterscheiden
könnte, auch Temperatur, Puls und Serodiagnostik sind nicht immer zuverlässige
Wegeweiser. {Ganter.)
White und Schalberg (386): 64 Jahre alter Mann, der an Manie mit Hallu¬
zinationen leidet, Angriffe auf männliche Kranke, zuletzt Demenz. Bei der Sektion
fanden sich die Nebennieren vergrößert (Blutergüsse), zugleich auch, und dies
Zusammentreffen ist besonders merkwürdig, die Hypophyse (Adenom). Dieser
Tumor wird von den Verf. mit den geistigen Störungen und dem geringen Grad
einer Akromegalie in Verbindung gebracht, auch besteht möglicherweise ein Zu¬
sammenhang zwischen den Veränderungen in den Nebennieren und der sexuellen
Perversion. {Ganter.)
Vallen (376): Der Schauspieler Rögnard wurde im Restaurant von einem
Manne erschossen, den er wegen seines aufgeregten Wesens hatte besänftigen wollen.
Verf. gab sein Gutachten dahin ab, daß es sich um einen akuten Rauschzustand
bei einem chronischen Alkoholisten gehandelt habe. Es bestand Amnesie für den
Vorfall. Der Mörder wurde freigesprochen und auf freien Fuß gesetzt. Da das
Gesetz keine Handhabe bietet, solche gefährliche Individuen, da sie nicht eigentlich
geisteskrank sind, in die Irrenanstalt zu verbringen, so befürwortet Verf. die Er¬
richtung einer besonderen Anstalt oder eines Adnexes an eine Irrenanstalt, wo
gefährliche Alkoholiker, verbrecherische Geisteskranke und geisteskranke Ver¬
brecher in sicherer Verwahrung unter ärztlicher Leitung behandelt werden könnten.
{Ganter.)
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Bericht über die psychiatrische Literator 1911.
Casamajor (60): Mädchen von 25 Jahren, vor 7 Jahren Typhus, seitdem
Gastritis. Dagegen in 44 Tagen etwa 100.0 Bromkali, täglich 1.0—3.0. Zeichen
der Bromvergiftung: Erschwerung des Sprechens, Benommenheit, Apathie, plötz-
liches Delirium mit Halluzinationen, Beflexsteigerung, träge Pupillenreaktion,
allgemeine Hyperästhesie, Heilung nach Entziehung. Ähnlich ein Fall von Syphilis,
der ebenfalls ungewöhnlich auf kleine Bromdosen reagierte. (Ganter.)
WiUimann (389) gibt die ausführliche Krankengeschichte eines 83jährigen
Paranoikers, der seit 48 Jahren sich in der Anstalt befindet, um zu prüfen, welchen
Einfluß das Anstaltsleben auf seine Vorstellungen ausgeübt hat und ob der Kranke
dement geworden ist; kein sicheres Ergebnis. (Ganter.)
Bond (38): Ein an Dementia praecox leidender, 25 Jahre alter Kranker lebte
längere Zeit nur von Brot, Milch und Wasser. Er verlor 20 Pfd. Einige Zeit hindurch
streute er sich Salz aufs Brot. Da traten Ödeme auf an den Beinen und Genitalien,
das Gewicht stieg um 32 Pfd. Nach regelrechter Ernährung und Ausschluß des Salzes
verlor sich das ödem. Nieren und Herz erwiesen sich als gesund. (Ganter.)
Tomaschny (368) berichtet über einen Fall von Katatonie, der seit mehr als
10 Jahren wegen völliger Nahrungsverweigerung mit der Sonde ernährt wird.
Die Sondenfütterung erfolgt ohne jedes Widerstreben der Kranken 2—3mal täglich.
Alle Versuche, dieselbe wieder zur freiwilligen Nahrungsaufnahme zu bewegen,
sind erfolglos geblieben. Das körperliche Befinden der Patientin war dabei niemals
wesentlich gestört; Ernährungsstörungen bedenklicherer Art wie Skorbut haben
sich nicht bemerkbar gemacht.
Bacceüi und Temi (il): In Fällen von Dementia praecox schwankte der
opsonische Index des Blutserums um den Normalwert, in Fällen von Epilepsie
hingegen zeigte er sich in der anfallsfreien Zeit beträchtlich erhöht. (Ganter.)
Bigelow (30): Untersuchungen des Liquor cerebro-spinalis bei verschiedenen
Nerven-, Geistes- und körperlichen Krankheiten. Der Zellengehalt im Kubik¬
millimeter schwankt zwischen 0.5—5, durchschnittlich 1.75 Zellen. Krankheiten
mit Beizung der Meningen und des Ependyms führen zu einer Steigerung.
(Ganter.)
Morton (251): Die Wdssemannsche Beaktion fiel positiv aus in 28 von 30
Fällen von progr. Paralyse. Weiter untersuchte Verf. den Liquor auf Substanzen,
welche auf mit Kobragift sensibilisierte rote Ochsenblutkörperchen hämolytisch
wirken. Frischer Liquor besitzt keine aktivierenden Eigenschaften für das Kobra¬
gift. Zellenreicher Liquor he mm t die aktivierende Kraft des alkoholischen Leber¬
extraktes. Nach dem Zentrifugieren schwindet diese Kraft, mithin beruht sie auf
den zelligen Elementen. (Ganter.)
Bravetta (49) untersuchte das Blutserum von 67 verschiedenen Fällen von
Geisteskrankheit auf die Meiostagminreaktion und mit der TFassermannsohen
Methode. Als Antigen benutzte er eine alkoholische entsprechend verdünnte Lezithin¬
lösung. Die Beaktion fiel nur in 7 Fällen positiv aus. In diesen 7 Fällen war die
TFamrmannsche Beaktion nicht immer positiv, ln allen anderen Fällen schwankten
die Werte und konnten auf kleine technische Fehler zurückgeführt werden. Mithin
hat die Meiostagminreaktion keinen praktischen Wert für die Diagnose der Syphilis
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Schroeder, Allgemeine Psychiatrie.
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bei Geisteskrankheiten im allgemeinen nnd für die para- und metasyphilitischen
Erkrankungen des Nervensystems im besonderen. {Ganter.)
Boß (313): Menschliche Sera zeigen große Unterschiede, was ihre hemmenden
oder fördernden Eigenschaften auf die Kobrahämolyse betrifft, so daß die Klinik
hieraus keinen Nutzen ziehen kann. {Ganter.)
Pighini (282) veröffentlicht das Resultat seiner Studien über die Fermente
Esterase und Nuklease im Blutserum von Geisteskranken. Aus der Gesamtheit
der Untersuchungen kann man schließen, daß bei den untersuchten Geisteskrank¬
heiten leichte Schwankungen in der enzymatischen Intensität der Esterase wahr¬
zunehmen sind, während bei Epileptikern die Aktivität der Nuklease je nach dem
Stande der Erkrankung variiert.
Pighinis (283) Untersuchungen über die Menge Cholesterins und Oxycholeste-
rins des Serums bei verschiedenen Formen von Geisteskrankheiten haben ergeben,
daß eine verhältnismäßig große Menge Cholesterins, begleitet von noch größeren
Mengen OzyCholesterins, regelmäßig in den Fällen von manisch-depressivem Irre¬
sein, Alkoholismus und bei der progr. Paralyse vorhanden ist. Bei den anderen
untersuchten Krankheiten zeigen sich veränderliche Werte, die sich nicht weit
vom Normalen entfernen. Von einer Cholesterämie kann also bei keiner der unter¬
suchten Krankheiten gesprochen werden. Vielleicht kommt dem Cholesterin —
und auch dem Lezithin — eine hervorragende Rolle beim Zustandekommen der
IV'assmnannschen Reaktion zu.
Graziani (125) stellte Blutuntersuchungen an bei 66 Geisteskrankep und
18 Pflegern und Pflegerinnen. Die morphologische Beschaffenheit der weißen und
roten Blutkörperchen bei Geisteskranken zeigt nur in Ausnahmefällen Abweichungen.
Oft schwankt die Zahl der Leukozyten. Vielkernige Leukozyten, seltener Leuko¬
zytose, und Hypoeosinophilie im akuten Stadium der Krankheit. Verminderung
der vielkernigen Leukozyten, selbst Vorwiegen der einkernigen, mit Beginn der
Genesung oder des Überganges ins chronische Stadium. Polynukleäre Leukozytose
und Hypoeosinophilie finden sich fast immer bei der Amentia, seltener bei der De¬
mentia praecox und dem manisch-depressiven Irresein und besitzen einen gewissen
diagnostischen und prognostischen Wert. Die genannten Veränderungen weisen auf
toxische Vorgänge im Organismus hin, von denen wohl auch die krankhaften Hirn¬
symptome abhängen. (Ganter.)
Maaß (220) stellt fest, daß der Restkohlenstoff im Blute von Paralytikern,
Katatonikem, Epileptikern, Alkoholdeliranten und chronischen Alkoholikern
vermehrt ist und daß bei einzelnen dieser Erkrankungen eine Parallelität zwischen
Steigerung des Restkohlenstoffes und Exazerbation im klinischen Zustandsbild
besteht.
Stanford (360) untersuchte 1363 Urinproben und fand ein großes Schwanken
des Indigogehaltes, ohne daß der geistige Zustand der betreffenden Kranken eine
besondere Veränderung zeigte. Verf. hat für diese Erscheinung keine Erklärung.
(Ganter.)
Butenkos (67) Untersuchungen zeigen, daß der positive Ausfall der Ehrlich-
schen Dimethylamidobenzaldehydreaktion in der psychiatrischen Praxis auf das
Zeitschrift für Psychiatrie. LX1X. Lit j
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130*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
Vorhandensein einer komplizierenden'Krankheit schließen läßt und mit Sicherheit
auf einen pathologischen Zustand der somatischen Sphäre des psychisch Erkrankten
hinweist; außerdem leistet diese Reaktion bei der frühzeitigen Erkennung arterio¬
sklerotischer Störungen wichtige Dienste.
Loewe (210) zeigt, daß sich im Ham der Epileptiker eine wechselnde Ver¬
mehrung der adialysablen Substanzen von zeitweise außerordentlicher Höhe findet
und daß an dieser Vermehrung besonders kolloidale phosphorhaltige Verbindungen
beteiligt sind. Das Harnadialysat des Epileptikers enthält im Anschluß an den
epileptischen Anfall, seltener während des Dämmerzustandes, toxische Substanzen.
Die Giftwirkung dieser Substanzen besteht in Erscheinungen, welche zuweilen
weitestgehende Ähnlichkeit mit dem epileptischen Krampfanfall besitzen. Eine
Vermehrung des Harnadialysates findet sich auch bei Fällen von Katatonie, Hebe-
phrenie, progressiver Paralyse und Delirium tremens; bei der Katatonie am aus¬
gesprochensten, bei der Paralyse bisher nur nach epileptiformen Anfällen. Das
Harnadialysat bei Katatonie, Dementia paranoides, progressiver Paralsye und
Delirium tremens besitzt eine hohe Toxizität, die sich wesentlich von der des Epi-
leptikeradialysates unterscheidet: ihre Wirkung äußert sich nie in epileptiformen
Erscheinungen.
Loewe s (209) Untersuchungen stellen eine Vermehrung der organischen
Phosphorsäureausscheidung nach dem epileptischen Anfall fest; sie weisen eine
ebensolche Steigerung für eine Anzahl anderer mit Anfällen verschiedener Art
verbundener Krankheiten nach; eine Vermehrung der organischen Phosphorziffer
im Ham wird weiter wahrscheinlich gemacht für bestimmte Phasen der Paralyse
und des Delirium tremens, unwahrscheinlich ist eine solche für eine Anzahl anderer
Erkrankungen aus dem psychiatrischen Gebiete, insbesondere für die Katatonie.
Tvntemann (366) hat Zuckerausscheidung bei organischen Erkrankungen,
bei chronischem Alkoholismus, bei Melancholie, Jugendirresein, Katatonie und
Idiotie beobachtet und untersucht. Einen einheitlichen Gesichtspunkt für die Genese
dieser Zuckerausscheidungen hat er bei seinen Fällen nicht feststellen können.
Bei den organischen Gehimerkrankungen und beim chronischen Alkoholismus
sind psychische Veränderung und Glykosurie Folge einer gemeinsamen Ursache.
In anderen Fällen lag der psychischen Störung und der Glykosurie das gemein¬
same Moment minderwertiger Anlage zugrunde; hier wurde die Glykosurie als körper¬
liches Degenerationszeichen aufgefaßt.
Benigni (26) untersuchte in 50 Fällen von verschiedenen Geisteskrankheiten
die Faezes nach der Methode von Schmidt und Strashirger und konnte in über der
Hälfte der Fälle Störungen im Darmkanal und seinen Adnexen nachweisen. Am
häufigsten bestanden die Störungen in mangelhafter Eiweißverdauung, dann in
mangelhafter Stärkeverdauung, zuletzt in Fettstühlen. Auch in der Bakterienflora
des Darmes zeigten sich Abweichungen. Verf. glaubt aus seinen Befunden das
Auftreten toxischer Substanzen im Darm erklären zu können, deren Resorption
das prädisponierte Gehirn schädige und die geistige Störung hervorrofe. Damit
sei für die autotoxische Theorie eine greifbare Basis gewonnen. (Ganter.)
Grafe (122) hat bei 18 Fällen von Stupor ausgedehnte Stoffwechselunter¬
suchungen vorgenommen und dabei eine deutliche Stoffwechselverlangsamung
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Schroeder, Allgemeine Psychiatrie.
131*
estgestellt. Die Herabsetzung der Wärmeproduktiön betrug bei besonders aus-
;eprägtem Stupor bis zu 39% gegenüber dem Durchschnittswert der Norm.
Sommer (332) berichtet über eine polydaktyle Familie, in der sich die Anomalie
/om Vater auf vier Söhne vererbt hat, während die einzige Tochter orthodäktyl
st. Die Ausführungen enthalten beachtenswerte Winke für die Erforschung von
norphologischen Abnormitäten und deren Vererbung.
Sarteschi (320): Mann von 76 Jahren mit Riesenwuchs, besonders der Extremi¬
sten, und kindlichem Aussehen der Genitalien. Hingegen besteht normale geistige
Verfassung. Die Röntgendurchleuchtung ergibt normale Größe der Sella turcica,
mithin keine Vergrößerung der Hypophyse. Verf. nimmt an, daß die Akromegalie
ind der sexuelle Infantilismus vielleicht auf einer Veränderung der Nebenhypo¬
physen beruhen könnte. (Ganter.)
Marchand (228): Eine Frau von 51 Jahren mit akuter halluzinatorischer
Verwirrtheit und akuter Ataxie. Heilung. Die Enzephalitis des Großhirns bewirkte
die geistige Störung, die des Kleinhirns die Ataxie. (Ganter.)
Franz (108): Frau von 27 Jahren, wurde 13 Jahre alt von einer Kugel auf
der linken Kopfseite getroffen, einige Tage später Krämpfe, die jahrelang aus¬
blieben, dann wieder kamen. Verf. stellte vor und nach der Operation (Zysten¬
bildung in der hinteren Zentralwindung) Sensibilitätsprüfungen an, die bestätigten,
daß in der hinteren Zentralwindung das sensible Zentrum liegt. (Ganter.)
Ladame (198) untersuchte die .Beteschen Zellen bei verschiedenen Geistes¬
kranken und unterscheidet drei Gruppen. In der ersten Gruppe waren sie unver¬
ändert. Hierhin gehörten die sogenannten funktionellen Geisteskrankheiten, die
keinerlei Störungen ihres motorischen Apparates zeigten (Schwachsinn, Dementia
praecox, Melancholie, periodisches Irresein). Bei der zweiten Gruppe wiesen die
Zellen große Veränderungen auf (Sklerose, Verlust des Kernes, der Färbbarkeit).
Die Kranken dieser Gruppe hatten an motorischen Störungen gelitten (Dem. paral.,
Dem. sen., Dem. arteriosclerotica, tief stehende Idioten). Die dritte Gruppe zeigte
neben völlig unversehrten Zellen solche mit weitgehenden Veränderungen. Es
waren Kranke, bei denen die Lähmung erst begonnen hatte (Dem. paral., praecox,
sen.). Demnach finden sich bei manchen Geisteskrankheiten eng verknüpft mit
den motorischen Störungen gewisse Veränderungen in den Beteschen Zellen.
(Ganter.)
Todde (366) bestimmte Gewicht und Volumen und untersuchte histologisch
die Hoden von Geisteskranken und Gesunden. Gewicht und Volumen fanden sich
bei Geisteskranken fast immer unter der Norm (unter Berücksichtigung des Alters),
so besonders bei der Paralyse, Epilepsie, Idiotie, Dementia praecox und dem Alko¬
holismus. Ebenso verhielt es sich mit der Produktion der Samenzellen.
(Ganter.)
IV. Therapie.
Becker (23) gibt in seinem Buche eine zusammenfassende, übersichtliche
Darstellung der Therapie der Geisteskrankheiten. Er bespricht kritisch die gebräuch¬
lichsten physikalischen und chemischen Beruhigungsmittel, die spezifisch wirkenden
Medikamente und erläutert auch die chirurgische, diätetische und psychische
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
Behandlung. Der Therapie einzelner häufig wiederkehrender Krankheitssymptome,
wie Nahrungsverweigerung u. dgl. ist ein besonderes Kapitel gewidmet. Als Anhang
wird eine kurze Einführung in die psychiatrische Krankheitsklassifizierung gegeben.
Ein ausführliches Register ermöglicht rasche Orientierung in dem anregend ge¬
schriebenen Buche.
Pilcz (284) berichtet über die Erfolge der Himchirurgie bei Tumoren, Morbus
Basedowii, bei traumatischer, symptomatischer Epilepsie und bei Trigeminus¬
neuralgie; er macht auf die diagnostische und therapeutische Bedeutung der
Lumbalpunktion aufmerksam, und wendet sich dann der medikamentösen Be¬
handlung und den physikalischen Heilmethoden zu. Die günstigen Erfolge des
künstlichen Fiebers mittels Tuberkulininjektionen bei Paralyse (nach v. Wagner)
werden besonders hervorgehoben. Verf. schildert das Verfahren und bemerkt dazu,
dafi er damit auch in einem Fall von veralteter, stationärer Dementia praecox
Erfolg gehabt hat.
Siebert (328) kommt auf Grund seiner Untersuchungen zu dem Schluß, daß
gelegentlich zu Psychosen hinzutretende Eiterprozesse den Verlauf derselben günstig
beeinflussen. Die durch künstliches oder natürliches Fieber bedingten Heilerfolge
bei Psychosen beruhen auf der den Fieberprozeß begleitenden Leukozytose. Fälle
von progressiver Paralyse, besonders im Initialstadium, geben bei der Behandlung
mit künstlichem Fieber, speziell mit Tuberkulinfieber, eine verhältnismäßig günstige
Prognose, indem die Krankheit tiefe Remissionen macht oder stationär wird. Die
Erfahrungen über den Einfluß des Fiebers auf einfache Seelenstörungen lehren,
daß die Psychosen, die mit motorischer Unruhe einhergehen, beeinflußbar sind.
Die Ausführungen Bresgens (50) über die ärztliche Beeinflussung sind recht
beachtenswert. Sie bringen allerlei Hinweise auf Einzelheiten der ärztlichen Hode-
getik, die für unsere heutige, so materialistisch-spezialistische ärztliche Welt viel¬
leicht von Interesse sind. Seine Vorschläge und Ratschläge sind von einem warmen
Herzen für das Wohl der Kranken diktiert.
Behm (294) gibt eine kurze, für den praktischen Arzt bestimmte Abhandlung
über die Behandlung Geisteskranker, in der Einrichtung und Art der Kranken¬
behandlung in den öffentlichen Anstalten besprochen werden.
Moll (246) kritisiert verschiedene Behandlungsweisen sexueller Perversionen:
Hypnose, Psychoanalyse, Kastration usw. Auch der therapeutischen Bedeutung
der Psychoanalyse steht Verf. skeptisch gegenüber und empfiehlt vor allem die
Assoziationstherapie. Sie besteht in der richtigen Leitung des Vorstellungslebens,
in der methodischen Ausbildung der normalen und in der methodischen Unter¬
drückung der perversen Assoziationen.
Jones (172) vertritt Freudsche Anschauungen. (Ganter.)
Schullze (347) fordert Einführung regelmäßiger Genitaldiagnose und ent¬
sprechende Therapie bei weiblichen Geisteskranken. Er hat schon vor 31 Jahren
auf den Zusammenhang psychischer Erkrankung mit gynäkologischen Leiden
aufmerksam gemacht und gefordert, in jeder Irrenanstalt solle ein Assistent ein
fertiger Gynäkologe sein, um den psychisch erkrankten Frauen auch gynäkologische
Hilfe bringen zu können. Borns Arbeit über Genesung von psychischer Krankheit
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Schroeder, Allgemeine Psychiatrie.
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nach operativer Beseitigung uteriner Leiden (ZentralbL f. Gynäkologie, 36. Jahrg.,
Nr. 36) hat Schnitze angeregt, auf obige Forderungen zurückzukommen.
Collins (67), Gynäkologe, berichtet über größere und kleinere Operationen,
die einen günstigen Einfluß auf den Ablauf der Geisteskrankheiten hatten.
(Ganter.)
Raw (292) fand in 6 Jahren unter 31 Fällen von puerperaler Septizämie nur
3, die die Aufnahme in die Irrenanstalt nötig machten. Die Behandlung mit Anti¬
streptokokkenserum wirkte auf den körperlichen Zustand günstig, während sie
den Lauf der Geisteskrankheit unbeeinflußt ließ. (Ganter.)
Diehl (81) weist auf den Mißbrauch hin, der vielfach mit Verdauungsbe¬
förderungsmitteln, mit Beruhigungs- und Schlafmitteln getrieben wird und berichtet
dann über seine Erfahrungen mit Bromsalzen, Arsenpräparaten, Veronal, Aspirin
usw. und gibt dabei beachtenswerte Winke für ihre Anwendungsweise.
Curschmann (70) macht darauf aufmerksam, daß die therapeutische Be¬
deutung der Lumbalpunktion vielfach noch unterschätzt wird, während ihr dia¬
gnostischer Wert außer allem Zweifel steht. Nach kurzer Beschreibung der Technik
geht der Autor ausführlich auf ihre therapeutische Bedeutung besonders bei allen
Meningitisformen ein und wünscht, daß die Indikationen der Quinckeachen Punktion
sich auch für den Praktiker erweitern und auch für diesen zum selbstverständlichen
therapeutischen Rüstzeug werden möge wie die Punktion der Pleura und Bauch¬
höhle.
Fitzgerald (102) gibt eine Übersicht über die serodiagnostischen und sero¬
therapeutischen Methoden in ihrer Anwendung bei Geisteskranken. (Ganter.)
Bürgis (63) Untersuchungen über die Wirkung von Arzneigemischen haben
auch für die Praxis beachtenswerte Resultate ergeben. Die Versuche mit Narkotika-
kombinationen zeigen, daß Kombinationen, deren Komponenten aus verschiedenen
pharmakologischen Gruppen stammen, zur Wirkungspotenzierung führen; stammen
dagegen die Komponenten aus ein und derselben Gruppe, so erhält man nur eine
Addition der Einzel Wirkungen. Der Autor stellt folgende Regel auf: „Ein Gemisch
von zwei Narkotika verursacht immer dann einen Effekt der über dem Additions¬
ergebnis liegt, wenn seine zwei Glieder verschiedene pharmakologische Angriffs¬
punkte haben; bei gleichem Angriffspunkt der zwei Komponenten erzielt die Kom¬
bination nur ein Additionsergebnis.“
Becker (24) hat mit der Kombination von Hyoszin-Morphin und Paraldehyd
bei Erregungs- und Schlaflosigkeitszuständen in Fällen von Dementia praecox,
seniler und arteriosklerotischer Demenz guten Erfolg gehabt; er gibt dabei bis zu
10.0 Paraldehyd.
Reiß (299) empfiehlt auf Grund seiner Versuche das von den Farbenfabriken
vorm. Friedr. Bayer u. Co. in den Handel gebrachte Adalin (Bromdiaethylkarbamid)
als mittelstarkes, prompt wirkendes Hypnotikum und Sedativum bei Geistes¬
kranken, besonders bei Fällen von seniler Demenz und epileptischer Seelenstörung.
Einzeldosis 0,6—1,0 mehrmals täglich, bei schweren Erregungszuständen bis zu
2.0 pro Dosis. Unangenehme Neben- oder Nachwirkungen hat er nicht be¬
obachtet.
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
Scheidemantel (340) empfiehlt Adalin bei Zuständen, in denen die Zufuhr
von Brom mit einer kräftigeren, beruhigenden Wirkung vereinigt und nicht von
vornherein zu den starken Schlafmitteln gegriffen werden soll „Vermöge seiner
Mittelstellung zwischen der Gruppe der einfachen Sedativa und der reinen Hypnotika
ist die Bedeutung dieser neuen chemischen Komposition um so beachtenswerter,
als unser moderner Arzneischatz an ähnlich mittelstark wirkenden Präparaten
nicht sehr reich ist.“
Pelz (274) bezeichnet Adalin in Dosen von 0,25—0,6 g als ein brauchbares
Sedativum, in Dosen von 0,6—1,0 g als ein vorzügliches unschädliches Hypnotikum;
seineVorzüge sind Unschädlichkeit, ideale Bekömmlichkeit trotz geringer Löslichkeit,
relative Geschmacklosigkeit und Sicherheit der Wirkung. Die rasche Gewöhnung
stört aber, wo, wie bei Epilepsie usw., eine Dauerwirkung erzielt werden soll; hier
scheint es nicht verwendbar.
König (190) hat gefunden, daß Adalin bei depressiv erregten Kranken (ab¬
gesehen von den stark halluzinatorisch .beeinflußten) ganz außerordentlich günstig
wirkt, während es bei Kranken mit entgegengesetztem Affekt, bei Manischen, auch
in großen Dosen völlig wirkungslos bleibt.
Kempner (183) verwendet Adalin als Schlafmittel nur, wenn es sich um Schlaf¬
losigkeit bei Neurasthenie oder Hysterie, im Alter oder aus Gründen gesteigerter
Affekterregbarkeit handelt. Bei Chorea hat er keine günstigen Erfolge gesehen.
Auch er lobt die rasche Wirkung, das Ausbleiben kumulativer Wirkung und das
Fehlen unliebsamer Nebenerscheinungen.
Kalischer (180) hat Adalin bei Hysterie, Neurasthenie, Angstzuständen,
Zwangsneurosen, Depressionszuständen, leichten Erregungszuständen und Epilepsie
angewandt. Als Sedativum zieht er Adalin dem Kodein und narkotischen Mitteln
vor, weil es harmloser ist und keine verstopfende oder betäubende Wirkung hat.
Als Schlafmittel hat es sich vor allem dort bewährt, wo das Einschlafen durch
starke Abspannung, Überreizung, Gemütserregungen erschwert war. Auch bei
Krampfzuständen auf hysterischer und affektiver Basis wirkte das Mittel günstig,
während es bei Epilepsie wohl die Unruhe verringerte, den Schlaf verbesserte, aber
die Anfälle unbeeinflußt ließ. Bei Geisteskranken hat der Autor von der gleichzeitigen
Darreichung von Adalin und Paraldehyd gute Erfolge gesehen.
Jennicke (163) teilt mit, daß er bei leichten bis mittelschweren Erregungs¬
zuständen, ängstlicher Ratlosigkeit, mäßiger manischer Erregung, leichter motori¬
scher Unruhe Adalin mit zufriedenstellendem Erfolg angewandt hat. Bei allen
schweren Erregungszuständen war das Mittel wirkungslos. Sinnestäuschungen,
heftige halluzinatorische Erregungszustände blieben dadurch unbeeinflußt.
Hirschfeld (148) hat Adalin bei 43 Fällen seiner Praxis angewandt; er lobt
es als ein prompt wirkendes, in Dosen von 3 x täglich 0,6 g dem Bromkali über¬
legenes Mittel.
Hennes (141) nennt Adalin ein Medikament, welches eine Mittelstellung
zwischen Sedativis und Hypnotizis einnimmt. Je nach Dosierung und Art der
Darreichung tritt bald mehr die sedative, bald mehr die hypnotische Eigenschaft
hervor. Die Wirkung tritt schnell ein, ist genügend zuverlässig und gleichmäßig
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und hält nach Aussetzen des Mittels nicht übermäßig lange an. Infolge seiner
Geruch- und Geschmacklosigkeit wird es gern genommen; es ist frei von üblen
Nebenwirkungen und kann auch bei Herzleiden und andern komplizierenden Krank -
heiten ohne wesentliche Gefahr gegeben werden.
Froehlich (110) hat mit Adalin ebenfalls gute Erfolge erzielt. Zur Erzielung
hypnotischer Wirkung gibt er zwei Tabletten k 0,5 g mit warmer Flüssigkeit; handelt
es sich um sedativen Effekt, so gibt er 2—3 mal täglich je eine Tablette mit kaltem
Wasser. Auch Fr. bestätigt die Ungefährlichkeit des Mittels.
Beyerhaus (29) empfiehlt das Adalin als zuverlässiges, unschädliches Hypnoti-
kum und Sedativum; es ist dem Veronal und Medinal gleichwertig.
Tomaschny (367) sieht im Pantopon eine willkommene Bereicherung unseres
Arzneischatzes, er hat es als ein brauchbares Mittel zur Bekämpfung von leichten
motorischen Erregungen und von Angstzuständen schätzen gelernt. Die Möglich¬
keit seiner subkutanen Anwendung ist ein großer Vorzug.
Domblüth (84) hat Pantopon bei Morphiumentziehung gute Dienste getan.
,,Bei Gewöhnung an große Morphiumgaben läßt sich das Morphium ohne Schwierig¬
keiten sofort durch große Gaben Pantopon, subkutan und innerlich angewendet,
ersetzen, die ihrerseits leicht und in kurzer Zeit entzogen werden können, ohne daß
wieder ein Verlangen nach Morphium auftritt. 1 *
Haymann (137) ergänzt auf Grund neuerer Beobachtungen sein bisheriges
Urteil über Pantopon (Münchener med. Wochenschr. 1910, Nr. 43). Er hat dabei
gelegentlich Schwindel, Erregungszustände, Halluzinationen und einmal einen
epileptiformen Anfall gesehen; auch war eine gewisse Angewöhnung unverkennbar.
Der Autor will mit diesen Feststellungen die guten Eigenschaften des Pantopons
nicht beeinträchtigen, sondern nur die Erwartungen auf das rechte Maß einstellen;
er will das Pantopon in seinem Arzneischatz nicht missen.
Huber (162) empfiehlt Aponal (Amylenkarbonat) als brauchbares, ziemlich
schnell wirkendes Schlafmittel in leichteren Fällen von Agrypnie bei Nervosität,
Übermüdung, Aufregung usw. Die schlafmachende Dosis beträgt 1,0—1,5—2,0.
Das Präparat schmeckt angenehm und hinterläßt keinerlei Nachwirkung über
den Schlaf hinaus.
Faivre (98) empfiehlt „Veronidia“ (Diäthylmalonylharnstoff gelöst in ver¬
schiedenen sedativ und antispasmodisch wirkenden Pflanzensäften) als gutes Schlaf¬
mittel; auch bei einer Entziehungskur bei einem Heroinomanen hat es sich bewährt.
(Ganter.)
Moerchen (244) empfiehlt eine neue Tablettenform, sog. Gelonidatabletten,
wegen ihrer leichten Zerfallbarkeit und raschen Resorption; sie belästigen niemals
den Magen.
Rieger (304) liefert einen Beitrag zur Ungiftigkeit des Bromurals: eine
54jährige Frau hatte in suizidaler Absicht 12 Bromuraltabletten genommen; nach
9 Stunden guten Schlafs erwachte sie beschwerdefrei ohne toxische Erscheinungen.
Maier (223) beschreibt einen Fall von Paraldehydvergiftung nach 10—12 g
Paraldehyd. Dazu bemerkt Loewenstein (212), daß in der Anstaltspraxis Einzel¬
dosen von 10—12—15 g Paraldehyd bei aufgeregten Patienten zu den täglichen
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
Verordnungen gehören. „Hätte man den jungen Mann ruhig ausschhfe .:
so würde er sich darnach ebenso wohl gefühlt haben, wie nach erfolgt«'-. 1
Behandlung.“
Über gute Erfahrungen mit der intravenösen oder subkutanen Irxz
mittels Traubenzuckers berichtet Kausch (181). Es wird empfohlen, mit 2pr>Hj
Lösung bei subkutaner und mit 6—7 prozentiger bei intravenöser Anv-u
zu beginnen. Unangenehme Nebenwirkungen werden nicht beobachtet; j- *>
die Ernährung damiederliegt, desto mehr Zucker wird von dem Individar
tragen. Im Urin erscheinen stets nur wenige Prozent der eingegebenec Zu
mengen.
Emanuel (90) verhindert das Erbrechen bei der Sondenernährung 6-:.i
daß er nach Einführung der Sonde durch die Nase die Lippengegend oder die
der Nasolabialfalte mit einem mittelstarken bis starken faradischen Strom it bi
Abständen reizt. Dadurch ko mm t es zur Kontraktion der betreffenden X.J
der Mund wird krampfhaft geschlossen, und die Würgebewegungen hör«, j
Verhindert starkes Würgen schon die Einführung der Sonde, so beginnt L'J
mit der faradischen Reizung vorher.
4. Idiotie, Imbezillität, Debilität, Psychopath
Ref. H. Vogt-Wiesbaden und F. Schob-Dresde:-
1. Abramowsky, Berichte über Schwachsinnigenfürsorge in :i
land. Ztschr. f. d. Erforsch, u. BehandL d/ jugend! i
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70. Schnitzer, Bericht an den Herrn Landeshauptmann der Provinz
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anstalten Züllichow, Warsow und Magdalenenstift bei
Stettin. Ztschr. f. d. Erforsch, u. Behandl. d. jugendl.
Schwache. Bd. V. (S. 155*.)
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72. Schönfeld, Ein Beitrag zum Mongolismus. Wien. med. Wschr.
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Ztschr. f. Psych. Bd. 68. (S. 155*.)
80. Thomsen, Boas, Hjorth u. Leschly, Eine Untersuchung der Schwach¬
sinnigen, Epileptiker, Blinden und Taubstummen Dänemarks
mit Wassermanns Reaktion. (S. 153*.)
81. Thomsen, Boas, Hjorth und Leschly, Wassermannsche Reaktion
bei Geistesschwachen. Hospitalstid.
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83. Vogt , H., Die angeborenen Defekte und Entwicklungsstörungen
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142 *
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85. Vogt, H., Idiotia thymica. Ztschr. f. d. Erforsch, u. Behandlg.
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86. Vogt, H., u. Weygandt, W., Handbuch der Erforschung und Für¬
sorge des jugendlichen Schwachsinns unter Berücksichtigung
der psychischen Sonderzustände im Jugendalter. H. 1.
Jena, G. Fischer. (S. 142*.)
87. Volland, Bericht über vier Fälle von der Kombination Epilepsie-
Paramyoklonus multiplex. Ztschr. f. d. ges. NeuroL u. Psych.
Bd. VII. (S. 152*.)
88. Weygandt, Hirnveränderungen bei jugendlich Abnormen. Vortrag,
gehalten auf dem 8. Verbandstage der Hilfsschulen Deutsch¬
lands in Lübeck vom 17.—20. April 1911.
89. Weygandt, Über Hirnveränderung bei Mongolismus, Kretinismus
und Myxödem. Ztschr. f. d. Erforsch, u. Behandl. des jugendl.
Sch wachs. Bd. V. (S. 149*.)
90. Weygandt, Jugendkunde und Schwachsinnigenfürsorge auf der
internationalen Hygiene-Ausstellung Dresden 1911. Ztschr.
f. d. Erforsch, u. Behandlg. des jugendl. Schwachs. Bd. V.
(S. 155*.)
91. Ziehen, Die Erkennung der psychopathischen Konstitutionen und
die öffentliche Fürsorge für psychopathisch veranlagte
Kinder. Berlin, S. Karger. (S. 144*.)
I. Allgemeines.
Noch nicht ein Jahrzehnt ist verflossen, seitdem Weygandt durch sein Referat
auf der Jahresversammlung des Deutschen Vereins für Psychiatrie zu Dresden das
Interesse der deutschen Psychiater für die Erforschung und Behandlung des jugend¬
lichen Schwachsinns, ein Gebiet, auf dem jahrzehntelang fast nur Geistliche und
Pädagogen sich betätigt hatten, neu entfacht hat. Seitdem ist dies Interesse bei
den deutschen Psychiatern wach geblieben; welch ungeahnten Aufschwung die
wissenschaftliche Durchforschung des jugendlichen Schwachsinns in den letzten
Jahren genommen hat, das zeigt die psychiatrische Literatur deutlich, die eine Fülle
wertvoller Arbeiten gebracht hat. Gewiß, die Lösung so mancher Frage muß der
Zukunft Vorbehalten bleiben; aber es wird doch in psychiatrischen Kreisen leb¬
hafte Genugtuung darüber herrschen, daß jetzt bereits zwei ärztliche Autoren.
Vogt und Weygandt (86), es unternehmen können, in einem Handbuch der Er¬
forschung und Behandlung des jugendlichen Schwachsinns das zusammenzufassen,
was in den letzten Jahren geschaffen worden ist, „einen wissenschaftlichen Quer¬
schnitt durch ein in lebhafter Vorwärtsbewegung begriffenes Spezialgebiet zu
geben“. Wenn die Autoren in gerechter Würdigung dessen, was andere Kreise
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H. Vogt und F. Schob, Idiotie, Imbezillität, Debilität, Psychopathie. 143*
auf dem Gebiete geleistet haben, auch Nichtmediziner als Mitarbeiter an diesem
Werk erwählt haben, so wird man dem nur beistimmen können. — Von diesem
Handbuch liegt jetzt das erste Heft vor. Weygandi hat einen kurzen, aber reich¬
haltigen Abriß der Geschichte der Erforschung und Behandlung des jugendlichen
Schwachsinns geschrieben; von H. Vogt stammen die Kapitel über „Ursachen des
jugendlichen Schwachsinns“ und „Entwicklung des Zentralnervensystems, Prin¬
zipien des Himbaues, Anatomie des kindlichen Gehirns“; Klose hat den Beitrag
„Anatomie und Psychologie des Kindes“ geliefert. Eine reizvolle Darstellung der
Forschungsergebnisse über „Kinderpsychologie“ ist Biihkr zu verdanken. Diese
kurze Inhaltsangabe möge genügen, zu zeigen, daß die Herausgeber sich bemüht
haben, das Werk auf breiter Grundlage aufzubauen.
Scholz (73) wendet sich mit seinem Werk über anomale Kinder an die Ge¬
bildeten aller Stände; man muß dem Autor die Anerkennung zollen, daß er den
umfänglichen Stoff mit großer Hingabe bearbeitet und ihn so gestaltet hat, daß
die klaren Ausführungen auch dem Laien das Verständnis der Abnormitäten im
kindlichen Seelenleben verschaffen können. Es kann hier nur ein kurzer Über¬
blick über den reichen Inhalt gegeben werden. Die einleitenden Kapitel befassen
sich mit den Grenzen geistiger Gesundheit, wobei die Kompetenz des Psychiaters
mit Becht betont wird, mit dem Problem von Anlage, Vererbung und Entartung,
mit den Ursachen sowie den körperlichen Grandlagen und Begleiterscheinungen
der seelischen Anomalien des Kindesalters; in den nächsten Kapiteln werden
Schwachsinn, Nervosität, Hysterie und Epilepsie des Kindesalters abgehandelt;
einen breiten Raum nimmt die Darstellung der Psychopathie in ihren verschiedenen
Erscheinungsformen ein; gerade dieses Kapitel hätte an Durchsichtigkeit noch
gewinnen können, wenn stellenweise anstatt längerer theoretischer Auseinander¬
setzungen eine kurze Analyse prägnanter Beispiele gegeben worden wäre. Zwei
kürzere Kapitel übe? die Störungen in der Pubertät und den kindlichen Selbst¬
mord, wobei der Verf. in trefflichen Worten auch dem sogenannten Schülerselbst¬
mord gerecht wird, beschließen den klinischen Teil Der Schlußteil ist den vor¬
beugenden Maßnahmen und der Behandlung der geistigen Abnormitäten des
Kindesalters gewidmet.
Das vorzügliche Buch von Hermann (35) liegt bereits in zweiter Auflage vor;
wesentliche Änderungen hat der Autor bei der Neuauflage nicht vorgenommen,
es kann deshalb bezüglich des Inhaltes auf den vorigen Literaturbericht verwiesen
werden. Jn ganz ähnlichen Anschauungen bewegt sich eine andere Abhandlung (36)
desselben Verf. im internationalen Archiv für Schulhygiene.
Sehr klar sind die Ausführungen von Schubart (74) über das schwierige Problem
der krankhaften Charakterfehler bei Kindern. Die psychologischen Grundlagen
für die Verfehlungen sittlich schwacher Kinder sind in Ausfallserscheinungen
oder in Störungen im Gebiet der Gefühls- oder Willenssphäre zu suchen. Krank¬
haft ist ein Charakterfehler dann, wenn er aggressiv und unbeeinflußbar ist und
im Zusammenhang mit mangelhafter körperlicher oder geistiger Entwicklung
oder mit Nervenkrankheiten auftritt. Er teilt die Kinder mit krankhaften Cha-
rakterfehlern in vier Gruppen ein: Gemütsstumpfe; abnorm Erregbare; Kinder
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144*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
mit gestörtem Triebleben und abnormer Willensschwäche; Kinder mit Verstim-
mungszuständen. Die Krankengeschichten von 42 eigenen Beobachtungen sind
auszugsweise wiedergegeben. Zur Behandlung ist die Errichtung heilpädago¬
gischer Anstalten nötig.
Nach einem kurzen Hinweis auf die große soziale Bedeutung psychopathischer
Zustände führt Ziehen (91) dem Leser in sehr klaren Schilderungen, die durch
Einfügung sorgfätig ausgewählter Beispiele noch wesentlich an Anschaulichkeit
gewinnen, die wesentlichsten Typen der psychopathischen Konstitution vor. Die bis¬
herige Fürsorge für die Psychopathen ist durchaus ungenügend; in warmherzigen
Worten tritt Ziehen für die Schaffung besonderer Erziehungsanstalten für psycho¬
pathische Kinder ein und weist überzeugend nach, daß die Errichtung solcher
Anstalten für die Verhütung von Verbrechen und Geisteskrankheiten erfolgreiche
Aussichten bietet.
Der Vortrag von Raecke (62) gibt auf engem Raum einen vorzüglichen Über¬
blick über das Gesamtgebiet des jugendlichen Schwachsinns. Nach kurzer Skiz-
zierung der vielgestaltigen ätiologischen Momente, die Schwachsinn hervorrufen
können, folgt eine knappe, übersichtliche Darstellung aller wesentlichen körper¬
lichen und psych'schen Symptome; auch die Vergehen und Verbrechen, zu denen
Schwachsinnige hauptsächlich neigen, werden gestreift. Zum Schluß werden die
diagnostischen Methoden klargelegt und die Behandlung in ihren wichtigsten Auf¬
gaben erörtert.
Unter Betonung der Notwendigkeit, das Verständnis für Schwachsinns¬
zustände in weitere Kreise hineinzutragen, bespricht Schnitzer (69) die wesent¬
lichsten sozialen und gesetzlichen Maßnahmen, die für die Verhütung des Schwach¬
sinns nötig sind: Bekämpfung des Alkoholismus, Verbesserung der Lebenshaltung
ärmerer yolksschichten, Verhinderung der Eheschließung unheilbar Geistes¬
kranker. Die Fürsorge für die Schwachsinnigen ist weiter auszugestalten: so for¬
dert Verf. Hilfsschulen auf dem Lande, Tagesanstalten, Fortbildungsschulen;
psychiatrische Untersuchung aller Fürsorgezöglinge, weiteren Ausbau der Jugend¬
gerichte u. a. m.
Decroly (18) zeigt, daß die bekanntesten Autoren, die sich um scharfe Ab¬
grenzung der Begriffe Idiotie und Demenz bemüht haben, nicht zum Ziel ge¬
kommen sind. Die Begriffe Demenz und Idiotie sind nicht so scharf zu definieren,
daß eine genaue Grenzlinie zwischen beiden gefunden werden könnte. Decroly
schlägt vor, unter Idiotie Schwachsinnszustände zusammenzufassen, die im kind¬
lichen Alter in Erscheinung treten, unter Demenz solche, die beim Erwachsenen
sich entwickeln. Durch Zusätze, wie kongenital, postnatal, erworben, total, par¬
tiell, erethisch, apathisch, progressiv, stationär u.a. könnte der spezielle Charakter
eines Idiotiefalles schärfer hervorgehoben werden.
Major (52) empfiehlt, die Intelligenzprüfung nicht allein auf das Schulwissen
zu beschränken, sondern namentlich auch auf die Ideenassoziation auszudehnen.
Mit seinen im übrigen recht anschaulichen Darstellungen der diesbezüglichen
Methodik und einiger krankhafter Störungen der Assoziationstätigkeit bei Kindern
bringt Verf. dem Arzt nichts Neues. Mit Recht weist Major darauf hin, daß die
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II. Vogt und F. Schob, Idiotie, Imbezillität, Debilität, Psychopathie. 145*
Prüfung der Ideenassoziation geeignet ist, Anhaltspunkte dafür zu gewinnen,
worauf sich die unterrichtliche Behandlung zu erstrecken hat. Nicht nur Vor¬
stellungsunterricht, mehr noch Unterricht in der Vorstellungsverknüpfung ist
nötig.
Kahn (42) hat an 16 Knaben und 16 Mädchen, normalen, Schwachbegabten,
psychopathischen und psychotischen Kindern, Untersuchungen über Farben¬
unterscheidung angestellt und zwar sowohl mit der „stummen Methode“ oder
,,Wiedererkennungsmethode“, wobei das Kind zu einem gegebenen Gegenstand
gleichfarbige zusuchen muß, als mit der , Benennungsmethode“. Bei der stummen
Methode ergab sich nur ein einziger Versager; bei der Benennungsmethodo gaben
drei Kinder ein völlig negatives Resultat, drei weitere konnten wohl einige Farben
nennen, verwandten sie aber ganz wahllos; im übrigen zeigten sich noch einige
Ausfälle namentlich in der Bezeichnung der Farben rosa, orange und lila; Farben-
nüancen (hell, dunkel) wurden nur von 6 Kindern richtig benannt. Verf. erkennt
der Prüfung auf Farbennennung als Mittel zur Intelligenzprüfung nur relativen
Wert zu.
Aus den Ergebnissen der interessanten Untersuchungen, die H. Müller (66)
im psychologischen Laboratorium der Leipziger psychiatrischen Klinik über die
Ökonomie des Lernens bei geistesschwachen Personen angestellt hat, seien nur
einige wichtige Resultate hervorgehoben: Geistesschwache lernen einen neuen
Lernstoff leichter geteilt, als im ganzen; sie verhalten sich hierin umgekehrt als
die Geistesgesunden; in ähnlicher, aber nicht mehr so ausgesprochener Weise hat
bei Geistesschwachen das Teilverfahren beim Wiedererlernen schon gelernter
Stoffe den Vorzug. Vergleichung der Leistungen der einzelnen Versuchspersonen
zeigte, daß das Gedächtnis dem sonstigen intellektuellen Stand nicht immer parallel
geht; auch bei geistesschwachen Personen zeigte sich bald ein günstiger Einfluß
von der Übung.
Eine sehr lesenswerte kritische Zusammenfassung des jetzigen Standes der
Frage der geistigen Ermüdung der Schuljugend und der Ermüdungsmessungen
gibt AUschul (2). Verf. teilt die bisher angewandten Messungsmethoden in psy¬
chologische, physiologische und biologische ein. Von den psychologischen Methoden
werden vor allem folgende Verfahren besprochen: Zählen der Fehler in Diktaten
{Likorsky u. a.), das Additions- und Multiplikationsverfahren nach Burgerstein,
die Kombinationsmethode nach Ebbinghaus, die „akustische Methode“ nach
Sehuyten u. a. Von den physiologischen Methoden werden hauptsächlich die Ergo-
graphie ( Mosso ) und Ästhesiometrie ( Griesbach) kritisch beleuchtet; mit der Ästhe-
siometrie hat der Verf. selbst zahlreiche Versuche unternommen, aus denen er
die Überzeugung gewonnen hat, daß auch diese fein erdachte Methode nur sehr
relativen Wert hat. Den biologischen Methoden gehört vielleicht die Zukunft
(Feststellung der Ermüdungstoxine und -antitoxine nach Weichardt u. a.); doch
müssen sie erst weiter ausgebaut werden. Jeder kritische Leser wird dem Verf.
beistimmen, wenn er gegenüber dem Schlagwort der Überbürdung sich skeptisch
verhält.
Bayerthal (8) macht weitere Mitteilungen über seine eingehenden Unter-
Zeitschrift für Psychiatrie. LXIX. Lit.
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146*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
Buchungen über die Beziehungen zwischen Kopf größe und Intelligenz. Diese Unter -
sacha ngseTgebnisse bestätigen seine früheren Schlußfolgerungen, wonach sehr gute
geistige Veranlagung verhältnismäßig häufig bei großen, selten bei kleinen und
niemals bei ganz kleinen Sehädelumfängen von Schulkindern sich findet.
Von den gründlichen Ausführungen KoUers (45) seien nur einige Punkte her¬
vorgehoben. Der Prozentsatz der geistig gebrechlichen Kinder (Schwachsinnige,
Taubstumme, Epileptiker) erreicht für Appenzell die bedenklich hohe Zahl von
4,3%. Die Hauptursachen sind in Schwachsinn der Erzeuger und Alkoholismus
zu suchen. Die Degeneration der Bevölkerung zeigt sich auch in den schlechten
Rekrutierungsergebnissen.
Berkhan (11) stellt eine Reihe von fremden Beobachtungen über einseitige
Begabung bei Schwachsinnigen zusammen; Verf. selbst hat bei einem Imbezillen
eine außergewöhnliche Rechenkunst beobachten können.
Ein gutes Sammelreferat über neuere Arbeiten über Geisteskrankheiten bei
Kindern gibt Heymann (37). Das Referat, das zur schnellen Orientierung über den
jetzigen Stand dieser Fragen sehr geeignet ist, umfaßt folgende Kapitel: Ätiologie,
Klinik und pathologische Anatomie, der Dementia paralytica; Dementia praecox
unter besonderer Berücksichtigung der Differentialdiagnose; affektive Psychosen:
Intoxikations-, Infektions- und traumatische Psychosen; die psychopathisch*
Konstitution; ausführlich die neueren Ergebnisse der Idiotieforschung; schließlich
Therapie, soziale und forensische Bedeutung.
IL Einzelne Krankheitsformen.
Spezielle Pathologie und pathologische Anatomie.
H. Vogt (83) hat für das Handbuch der Neurologie einen kurzen Abriß über
die angeborenen Defekte und Entwicklungsstörungen des Gehirns geschrieben
Nach einem gedrängten Überblick über die pathologische Anatomie und die Patho¬
genese der Mißbildungen folgt eine Übersicht über die wichtigsten Entwicklungs¬
störungen, die klinisch in Betracht kommen; Verf. teilt sie ein in agenetische Zu¬
stände, die primär und sekundär sein können; frühzeitige Erkrankungen des Ge¬
hirns durch entzündliche, traumatische Vorgänge — diese beiden ersten Gruppen
sind nicht scharf voneinander abgrenzbar —; Erkrankungen durch Störungen
der inneren Sekretion (Kretinismus, Mongolismus, Idiotie thymica); Erkran¬
kungen des Zentralnervensystems infolge endogen bedingter funktioneller
Schwäche (z. B. amaurotische Idiotie). Die allgemeine Symptomatologie von
Idiotie, Imbezillität und Debilität in psychischer und somatischer Hinsicht wird
ebenfalls kurz skizziert; zum Schluß beschreibt Verf. die Krankheitsbilder der
Mikrozephalie, tuberösen Sklerose, Mongolismus und den Infantilismus, der als
Symptomenkomplex bei verschiedenartigen Erkrankungen (z. B. Kretinismus,
Mongolismus) Vorkommen kann.
Levi (49) stellt Mikrosomie, Nanismus und Infantilismus einander gegenüber:
bei der Mikrosomie, die auch familiär auf treten kann, ist der Körper in allen seinen
Teilen gleichmäßig im Wachstum zurückgeblieben, die gegenseitigen Proportionen
entwickeln sich aber wie beim normalen Erwachsenen, auch psychisch verhalten
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H. Vogt und F. Schob, Idiotie, Imbezillität, Debilität, Psychopathie. 147*
sich solche Individuen wie Erwachsene, deren Charaktere sie auch in körperlicher
Hinsicht bieten; der Nanismus kommt bei verschiedenen Erkrankungen vor (Rha-
chitis, Osteomalacie, Achondroplasie u. a.), der Körper ist dabei disproportioniert;
beim Infantilismus zeigen die befallenen Individuen in körperlicher wie geistiger
Beziehung Eigenschaften, die einer früheren Altersstufe entsprechen, als der, auf
welcher sich die Befallenen befinden.
Einen interessanten Fall von halbseitiger Unterentwicklung der gesamten
linken Seite, halbseitigen Zwergwuchs, hat Geist (30) bei einem imbezillen Knaben
beobachtet; bemerkenswert war besonders auch der Umstand, daß ein älterer,
von einem anderen Vater stammender, nicht schwachsinniger Bruder ebenfalls
eine geringe, aber deutliche Unterentwicklung der linken Gesichtshälfte aufwies.
Masuda (53) publiziert zwei Fälle von Himmißbildungen menschlicher Föten.
Im ersten Fall, der aus dem 5. oder 6. Fötalmonat stammt, handelt es sich um
eine unvollständige Anenzephalie (Amyelie) mit partieller Rückenspalte und Fort¬
setzung der Spalte nach vorn in einen teilweise zerrissenen enzephalozeleartigen
H irnbruchsack, der als bimenförmige Ausbuchtung sich hinten am Kopf ansetzte.
Im zweiten Fall liegt eine Enzephalozele vor, die Entwicklung entspricht dem
4. Monat; aus der Scheitelgegend hebt sich zopfartig eine sackförmige Bildung
heraus. Bei der mikroskopischen Untersuchung weist der solide Bruchinhalt graue
und weiße Himmasse ohne Architektonik auf, bedeckt von Muskelfaser und
Knochenanlage sowie von Haut. Die Bruchpforte ist durch Gewebsmassen ver¬
stopft, ein Zusammenhang von Bruchinhalt und den in ihrer Entwicklung ge¬
hemmten Gehiramassen ist nicht nachweisbar. Wesentlich für die Erklärung der
Entstehung ist der Nachweis, daß in beiden Fällen an der Außenseite des Bruch¬
sackes eine Verwachsungsstelle (mit Amnion, Nabelschnur oder Placenta) vor¬
handen ist. Die Entstehung ist also wohl so zu erklären, daß das Schädeldach an
der Verwachsungsstelle ausgezogen wird; der Schädelinhalt folgt; der Sack kann
reißen, und es kann dabei zu einer Spaltung der bereits geschlossenen Neuralrohr-
anlage kommen. Die Entwicklungshemmung der im Schädel verbliebenen Ge-
himteile kann durch Dehnung und Zirkulationsstörungen (Stauung in der Sinus¬
anlage) infolge der Zerrung der im Bruchsack befindlichen Hirateile bedingt sein.
Kryzan (47) gibt die makroskopische und mikroskopische Beschreibung
eines Falles von reiner Mikrozephalie. Das Gehirn der 21jähr. Patientin, die übrigens
einen mikrozephalen Bruder hatte, betrug samt Stamm und Cerebellum 407 g.
Es fanden sich keine Residuen pathologischer Prozesse. Die Mikrozephalie betraf
hauptsächlich das Großhirn; die großen Ganglien waren im Gegensatz zu dem Hira-
mantel gut entwickelt. Die Windungen zeigten verschiedene Abnormitäten hin¬
sichtlich Verlauf und Entwicklung; die Rinde war deutlich verschmälert, die Zellen¬
elemente waren etwas an Zahl vermindert, zeigten aber ungefähr normale An¬
ordnung. Die Markstrahlung war besonders im Bereich der Stirnlappcn faserarm
und wies hier zahlreiche Heterotopien auf.
H. Vogt (84) hat für das Handbuch der Neurologie eine ausführliche Dar¬
stellung der zerebralen Kinderlähmung bearbeitet. Unter besonderer Betonung
der Tatsache, daß die Grundlagen der zerebralen Kinderlähmung in ätiologischer
k*
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148* Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
wie pathologisch -anatomischer Hinsicht durchaus nicht einheitlich sind, be¬
spricht der Verf. kritisch die vielgestaltigen endogenen, wie exogenen Faktoren,
darunter besonders die entzündlichen und mechanischen, die als ätiologische
Momente in Frage kommen, und ebenso die vielgestaltigen pathologischen Befunik
darunter besonders die erst in neuester Zeit nicht klargestellten Fälle, wo tr«i
ausgeprägter Hemiplegie Intaktsein der Pyramidenbahn gefunden wurde. De:
klinische Teil umfaßt die kindlichen Hemiplegien, Paraplegien und Diplegien. di'
posthemiplegischen Bewegungsstörungen und andere ungewöhnliche Bewegungs¬
typen, die Pseudobulbärparalyse, die Ath6tose double unter besonderer Berück¬
sichtigung der Lewandowskyschen Untersuchungen, und die Ubergangsformen ra
anderen Erkrankungen des kindlichen Nervensystems; die letzten Kapitel sind
der Diagnose, Prognose und Therapie gewidmet. Verf. weist darauf hin, daß t*>:
der jetzt in Aufschwung begriffenen Krüppelfürsorge wohl auch nutzlose Opera¬
tionen an solchen Kindern mit zerebraler Kinderlähmung ausgeführt wurder
bei denen eine solche Maßnahme infolge des tiefen Intelligenzdefektes nutzlos s».
Die interessanten Befunde, die Hoestermann (41) in vier Fällen von zen-
braler Lähmung bei intakter Pyramidenbahn gemacht hat, bestätigen die Spu
mej/erschen Untersuchungsresultate. Die Ursache der Lähmung ist in solche
Fällen in einer Schädigung des Aufbaues der Zentral Windungen zu suchen: die*
besteht hauptsächlich in Störungen im Aufbau der oberen Zellschichten; d
großen Pyramiden, die Ursprungsstelle der Pyramidenbahn, sind erhalten. In¬
folge der Störungen im Rindenaufbau können den motorischen Zellen nicht nnt:
die Willensimpulse zufließen; es resultieren daraus die Lähmungserscheinune»:,
denen die Kontrakturen folgen. Da der anatomische Zusammenhang der Pyra¬
miden und Pyramidenbahn aber gewahrt bleibt, tritt keine Degeneration de
Pyramidenbahn ein. Solche Fälle sind aus entwicklungsgeschichtlichen Gründe:
im Kindesalter am häufigsten.
Deroubaix (20) hat sechs Fälle von infantiler Hemiplegie untersucht. AL-
ätiologisches Moment möchte er neben halbseitiger Gehirnatrophie, Sklerose eint:
Hemisphäre, Zystenbildung infolge von Blutung oder Erweichung, echter Pom
zephalie im Gegensatz zu Brissand noch primäre Polioenzephalitis nach Strünrp<
gelten lassen. Deroubaix versucht auf Grund der klinischen Symptome den Her':
genau zu lokalisieren und auch die Art des pathologischen Prozesses zu diagnost-
sieren. Die Atrophien und Kontrollturen können bei Herden, die außerhalb d«
Rinde sitzen, größer sein als bei Rindenherden; bei Rindenherden wird aber fa.-;
immer Epilepsie vorhanden sein, auch ist hier ein tieferer Grad von Idiotie zl
erwarten.
Die Arbeit von Glüh (32) bringt eine Zusammenstellung über Hydrocephalus
Die Frage, ob die Lues in der Ätiologie des Hydrocephalus congenitus chronica
eine große Rolle spielt, ist noch ungeklärt; besprochen werden die Herkunft d<:
Hydrozephalusflüssigkeit, die Verquickung des Hydrozephalus mit hypophysäm
Symptomen, mit Symptomen von Kleinhimtumor, die Frage der Intelligenz d-’
Hydrozephalen. Als diagnostisches Hilfsmittel bei unklaren Fällen wird die Prüfur:
auf Transparenz ( Straßburger) angeführt, die nur bei Gehimschichtdicke unt ‘
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H. Vogt und F. Schob, Idiotie, Imbezillität, Debilität, Psychopathie. 149*
1 cm Erfolg verspricht; weiter werden die Entwicklung und der gegenwärtige
Stand der Therapie behandelt. Am Schluß gibt der Verf. eine tabellarische Zu¬
sammenstellung der Maße der interessanten Schädelsammlung, die für die inter¬
nationale Hygieneausstellung in Dresden zusammengebracht worden war.
Rehm (63) gibt einen kurzen Überblick über das Krankheitsbild der mongo-
loiden Idiotie und teilt drei Fälle eigener Beobachtung mit; in allen drei Fällen
waren die Kinder bei der Geburt noch nicht voll entwickelt oder sehr klein; in
zwei Fällen waren gehäufte Krampfanfälle beobachtet worden; der eine Pat. hat
das für mongoloide Idiotie immerhin hohe Alter von 32 Jahren erreicht; ein noch
höheres Alter, nämlich ein Alter von 68 Jahren, erreichte der eine der beiden Fälle
von Schönfeld. Die Pat. litt außerdem an einer an Dementia praecox anklingenden
Psychose: bemerkenswert ist, daß sie sechsmal geboren hatte. 26 Fälle von Mongo¬
lismus hat Bullard (16) röntgenographisch untersucht: besonders bei jungen
Kindern zeigte sich die Knochenentwicklung oft verzögert; nur zweimal ließen
sich vorzeitige Verknöcherungserscheinungen nachweisen. Während Schädel- und
Gesichtsknochen meist keine Abweichungen erkennen ließen, bot das Gebiß fast
immer Abnormitäten; die langen Röhrenknochen erschienen oft gegenüber der
Norm verkürzt.
Weygandi (89) hat sich mit der Frage der pathologischen Veränderungen im
Gehirn bei Mongolismus, Kretinismus und Myxödem näher befaßt. Im ersten Fall
von Mongolismus zeigte das Nwsl-bild einen ausgesprochen embryonalen Typus,
etwa dem 7. Embryonalmonat entsprechend; es fanden sich sehr viele an Neuro-
blasten erinnernde Zellelemente; im zweiten Fall war der Befund ganz ähnlich;
Weygandi konnte hier den schon von Biach erhobenen Befund zweikerniger Ganglien¬
zellen bestätigen; im dritten Fall wies die Rinde neben ähnlichen Entwicklungs¬
hemmungen gleichzeitig Spuren destruktiver Prozesse: größere zellfreie Flächen,
Vermehrung der Trabantenzellen, Kernreichtum um die Gefäße. Das mikrosko¬
pische Bild in dem Fall von Kretinismus ließ weniger Störungen in der Rinden¬
entwicklung erkennen als Veränderungen der Zelltypen: kömig-wabige Degene¬
ration des Zellkörpers, auffallend weit sichtbare geschlängelte Spitzenfortsätze;
bei dem Myxödemfall endlich fanden sich Gefäßinfiltrate und ein wohl auf Glia¬
wucherung zu beziehender Kernreichtum der Rinde, wabige Degeneration vieler
Ganglienzellen. Die mongoloiden Gehirne weisen also zweifellos eine Hemmung
der Rindenentwicklung auf der embryonalen Stufe auf; bei dem Kretinengehirn
handelt es sich mehr um eine degenerative, nicht entzündliche Rinden Veränderung.
Ducosti (22) hat in ministeriellem Auftrag 1908 eine Zählung der ausge¬
sprochen kretinistischen Individuen des Departement Savoyen ausgeführt und
gibt ihre Zahl auf etwa 700 an, d. i. 2,76% 0 der Gesamtbevölkerung. Bei einem
Vergleich mit früheren statistischen Erhebungen aus den Jahren 1846, 1848 und
1864 zeigt sich, daß der Prozentsatz an Kretinen, der von 1846—1864 von 8,1% 0
auf 16% 0 gestiegen war, jetzt wieder ganz erheblich gesunken ist. In vier kleinen
Publikationen beschäftigt sich Flinker (25—28) auf Grund seiner Erfahrungen
in der Bukowina mit dem Kretinismus. Um die Unterschiede der Körperpro¬
portionen (25) bei Kretinen und Normalen sinnfällig zur Darstellung zu bringen.
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
photographierte er Normale und Kretinen (nach dem Vorgang von Quetelet) auf
gleiche Bildgröße. Bei Vergleichen ergibt sich, daß der Kretin sich gegenüber
dem Normalen auszeichnet durch relative Größe des Kopfes, Kürze des Halses,
verhältnismäßig längeren Rumpf und sehr kurze Beine, Erscheinungen, die auf
ein Stehenbleiben auf einer niederen Entwicklungsstufe hinweisen. Aus Beob¬
achtungen an kropfig und kretinisch entarteten Juden (26) geht hervor, daß der
Kretinismus keine Rasse verschont; die Rasseneigentfimlichkeiten gehen bei
schwereren Formen des Kretinismus ganz verloren. Der endemische Charakter
des Kretinismus offenbart sich darin, daß sofort in der ersten Generation der ein¬
gewanderten Juden, deren Ahnen gesund waren, Kropf, in der zweiten Kretinismus
auftrat. Das Vorkommen des Kretinismus unter den eingewanderten Juden, die
mit der übrigen Bevölkerung doch nie in sehr innige Berührung kommen, spricht
nach Flinker gegen die Kontaktinfektion, wie sie Kutschera a nn i mm t. Gegen die
Anschaunngen Kutscheras wendet der Verf. sich in einer weiteren (27) Publikation;
seine eigenen Beobachtungen, wo Kretinen mit ihren nächsten Angehörigen in
einem Bett schliefen und doch nicht die Krankheit übertrugen, sprechen gegen
die vorerwähnte Hypothese. In der vierten (28) Mitteilung bezeichnet Flinker
den Kretinismus als ein angeborenes Leiden. Er weist auf die Tatsache hin, daß
die Mütter von Kretinen auffallend oft an Kropf leiden; zwischen Kropf der Eltern
und Kretinismus der Kinder muß ein ursächlicher Zusammenhang angenommen
werden. Wenn man von direkter Vererbung absieht, so gibt es zwei Möglich¬
keiten: entweder die mit dem Kropf verbundene Schilddrüsenschädigung schädigt
die Keimzelle oder die Schilddrüsenveränderung wirkt während der Schwanger¬
schaft ungünstig auf den Fötus ein. Im Anschluß daran teilt der Verf. die Kranken¬
geschichte eines Zwillingspaares mit: das intelligente Mädchen hatte einen kleinen
Kopf, der Bruder war ein blöder Kretin. Sänger (67) berichtet über eine Reihe von
Fällen, die er als formes frustes des Myxödems bezeichnet. An Stelle der psy¬
chischen Störungen fanden sich nur neurasthenische Beschwerden, Haut- und
Schleimhautveränderungen fehlten oder waren nur angedeutet. Die Diagnose
gründete sich gewöhnlich auf den Nachweis des Schilddrüsenmangels und den
Erfolg der Thyreoidinmedikation. Eine entsprechende Erkrankung der. Schild¬
drüse kann u. a. durch Lues verursacht werden. Gigon (31) gibt einen Überblick
über die Ergebnisse von Forschungen über den Stoffwechsel bei Myxödem. Bei
Schilddrüsenmangel ist der Kalorienumsatz herabgesetzt; der Eiweißstoff¬
wechsel ist wesentlich verringert, ebenso der Wasser- und Salzstoffwechsel; der
Fettstoffwechsel scheint nach gewissen, experimentell aber noch nicht sicher¬
gestellten Beobachtungen ebenfalls herabgesetzt zu sein; im Kohlehydratstoff¬
wechsel findet sich deutliche Erhöhung der Assimilationsgfenze für Zucker; diese
Erscheinung ist vielleicht dadurch zu erklären, daß der hemmende Einfluß, den
die Schilddrüse normalerweise auf das Pankreas ausübt, wegfällt; dadurch tritt
über die Norm erhöhte Toleranz für Kohlehydrate ein.
H. Vogt (85) hat auf experimentellem Wege im Verein mit Klose nachge¬
wiesen, daß den bisher bekannten Krankheitsbildern, deren Ursache wir in Störungen
der inneren Sekretion erblicken (Kretinismus, Mongolismus), als weiteres Krank-
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H. Vogt und F. Schob, Idiotie, Imbezillität, Debilität, Psychopathie. 151*
heitsbild die Idiotie thymica anzureihen ist. Die Anregung zu der Arbeit ergab
sich aus der Beobachtung, daß bei der Sektion von schwachsinnigen Kindern auf¬
fallend häufig Konsistenz der Thymus gefunden wurde; auch die weitere Beob¬
achtung, daß es eigentümliche infantilistische Zustände mit Knochenveränderungen
gibt, die picht zum Kretinismus oder Mongolismus gerechnet werden können,
drängten zur Annahme, daß vielleicht auch andere Drüsen mit innerer Sekretion
für ihre Entstehung verantwortlich zu machen sind. Die Veränderungen, die bei
jungen Hunden nach Thymusektomie auftraten, waren kurz zusammengefaßt
folgende: Latenzstadium 1 Monat, dann 8 Monate lang zunehmende Fettleibigkeit,
dann Eintritt von Kachexie, Tod etwa im 7.—9. Monat in komaähnlichem Zustand.
Besonders interessieren die nervösen und psychischen Störungen: Bewegungsun¬
sicherheit, Abstumpfung der Sensibilität, Veränderung der elektrischen Erreg¬
barkeit ähnlich wie bei Tetanie; deutliche Zeichen psychischer Störung: die Tiere
lernen nicht sich zurechtzufinden, sind stumpf, beschmutzen ihr Lager; dazu
Skelettveränderungen infolge Mangel an ungelöstem Kalk. Die gesunde Gehirn¬
entwicklung ist also mit der Thymusfunktion in engstem Zusammenhang. Wesent¬
liche Grundlage der Störungen nach Verlust der Thymus ist wahrscheinlich Säure¬
überladung des Körpers (Nukleinsäure); infolgedessen ist der Anbau von Kalk
im Knochen mangelhaft; das Gehirn zeigt Volumenvergrößerung, die auf die unter
dem Einfluß der Säureüberladung eintretende Quellung der im Gehirn reichlich
vorhandenen kolloiden Verbindungen zurückzuführen ist. Vogt gibt im Anschluß
hieran noch die Krankengeschichte eines Patienten, bei dem die Krankheits¬
erscheinungen auf Thymuserkrankung hindeuten.
Dr. Bahrmann (6) berichtet über erfolgreiche Anwendung von Hypophysis¬
präparaten bei drei Fällen von „Entwicklungshemmungen“ des Gehirns und zwei
Fällen von funktioneller Nervenerkrankung; man wird solche Mitteilungen einzelner
Fälle skeptisch aufnehmen.
Der Fall von tuberöser Sklerose, den Nieuwenhuijse (67) mitteilt, ist be¬
merkenswert durch den langen Krankheitsverlauf, der sich vom 2.—76. Lebensjahr
erstreckte. Neben Rinden- und Ventrikeltumoren fanden sich, wie gewöhnlich,
Nierentumoren, außerdem multiple symmetrische Lipome im subkutanen Gewebe
der oberen Extremitäten; aus den mikroskopischen Befunden sei hervorgehoben
der Nachweis ungeheurer Massen von Corpora amylacea in den Hirnrindentumoren;
an den sogenannten „großen“ Zellen, die Veränderungen der Ausläufer, Ein¬
lagerungen, teilweise Homogenisierung des Plasmas zeigten, konnte er deutlich den
Charakter der Ganglienzellen feststellen; die meisten erschienen relativ hoch diffe¬
renziert. Der Ventrikeltumor bestand fast ausschließlich aus Konkrementen, die
nach Ansicht des Verf. durch unregelmäßige klumpige Ablagerungen in und an
die Gefäßwandungen entstanden sind; diese Ablagerungen zeigten keine Amy¬
loidreaktion.
Higier (38) beschreibt einen im übrigen typischen Fall von Sachsscher amau¬
rotischer Idiotie, der gehäufte, zeitweise rechts überwiegende epileptische Krämpfe
auf wies; die Ursache dieser Anfälle ist nach dem Verf. in einem komplizierenden
Hydrozephalus mäßigen Grades zu suchen. Dutoit (23) bringt ein Sammelreferat
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
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über die familiäre amaurotische Idiotie; es umfaßt Kasuistik, Ätiologie, allgemein?
Symptomatologie, ophthalmoskopische Befunde — auf dieses Kapitel sei be¬
sonders hingewiesen —, mikroskopische Befunde und Systematik.
Volland (87) hat die mikroskopische Untersuchung von vier Fällen der Kom¬
bination von Epilepsie-Paramyoclonus multiplex ausführen können. In drei Fällt-:
fand er wohl gewisse Störungen in der Rindenarchitektonik, z. B. Armut an Gani-
lienzellen, gehäuftes Auftreten von embryonalen Zellen usw., aber die Veränderung
erscheinen dem Verf. doch nicht charakteristisch genug, um in ihnen die Ursacfo-
der myoklonischen Erscheinungen zu suchen; regelmäßig dagegen konnte er. um:
zwar an Intensität der Schwere der klinischen Erscheinungen entsprechend, im
Rückenmark folgende Hauptbefunde erheben: -auffallend häufig Anlagerung v<-i
Kapillaren an Ganglienzellen (ob zur besseren Ernährung oder der Resorpti>c
dienend, läßt Verf. dahingestellt), Austritt des Kemkörperchens in das Protoplasma,
degenerative Erscheinungen am Kern, wie Randständigkeit, Verwaschensein d>:
Kernmembran, stellenweise vom Kern nach der Peripherie fortschreitende Zer¬
störung der Tiproidkörper. Er schließt sich den Autoren an, die als Ursprung-
stelle der myoklonischen Zuckungen das Rückenmark ansehen.
Seige (75) gibt einen überblick über die Literatur des pathologischen Wandt:
triebes und teilt dann sieben eigene Beobachtungen mit; wie gewöhnlich, hand-i
es sich um Knaben. Meist kommen endogen oder exogen bedingte Verstimmung
zustände als Ursache für das Weglaufen in Frage; die Fuguezustände sind für ko:r
bestimmte Krankheit typisch; oft vergesellschaften sie sich mit ethischen od
intellektuellen Defekten; in degenerierten Familien ist der Wandertrieb nici
selten hereditär; wenn einmal schon Wanderzustände bei einem Patienten auf::
treten sind, so genügen zur Auslösung weiterer Fuguezustände immer klein«-
Anlässe, schließlich erfolgt das Weglaufen gewohnheitsmäßig. Drei weitere Fä!
von Wandertrieb teilt Schlieps (71) mit; auch in seinen Fällen bestanden keiner
Anhaltspunkte für Epilepsie.
MacCall (50) berichtet über zwei geistig gesunde Kinder, von denen d
eine an Wortblindheit, das andere an Worttaubheit litt. Im Zusammenhang hi'
mit sei kurz das Buch von Villiger (82) besprochen. Das Buch ist zunächst i
Pädagogen bestimmt, aber auch der Arzt wird sich an der Hand dieses Werkch-
gut über Sprachentwicklung und Sprachstörungen informieren können. Die e
zelnen Sprachstörungen werden kurz abgehandelt. Aphasieformen, Stotte
Stammeln, Agrammatismus, Hörstummheit und die nach Ansicht des Verf. xii«
seltene Wortblindheit, die übrigens auch familiär auftritt. Schließlich wer«
Taubstummheit und Schwerhörigkeit in ihrem Einfluß auf die Sprache nä
beleuchtet. Die einzuschlagende Behandlung wird bei jeder einzelnen Stün
näher auseinandergesetzt.
Eine Reihe von wertvollen Arbeiten nehmen wieder Stellung zur Frage
Zusammenhanges von Syphilis und Idiotie. Einige Autoren haben die Frage wie
so zu lösen versucht, daß sie die Idioten auf das Vorhandensein von IVasserww
scher Reaktion untersucht haben. KrÖber (46) fand positive Reaktion im 1
bei 21,4% von 262 männlichen, im Alter von 6—48 Jahren stehenden Idic
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H. Vogt und F. Schob, Idiotie, Imbezillität, Debilität, Psychopathie. 153*
der Anstalt „Hephata“ zu München-Gladbach. Die dänischen Ärzte Thomten,
Boas, Hjorth und Lesctdy (80, 81) erhielten dagegen bei Untersuchung von 2061
Schwachsinnigen verschiedenster Altersklassen nur in 1,6%, bei 269 Epileptikern
nur in 0,39%, bei 146 Blinden in 0%, bei 344 Taubstummen in nicht ganz 1%
positiven Ausfall der Reaktion. Von 14 Idioten, die Chislett (16) untersuchte,
zeigten 8 positive Reaktion, darunter 2 Fälle von juveniler Paralyse. Brückner
und Clemem (13), die schon früher ähnliche Untersuchungen gemacht hatten,
weisen in einer neuerlichen Veröffentlichung darauf hin, daß bei dem häufigen
vorübergehenden oder dauernden Verschwinden der Wasser wannschen Reaktion
im Blute brauchbare Resultate über die Häufigkeit der Syphilis bei Schwach¬
sinnigen nur durch möglichst frühzeitige und oft wiederholte serologische Unter¬
suchung gewonnen werden können. Die Autoren fanden bei 138 bis zu 10 Jahr
alten Patienten der Alsterdorfer Anstalten in 4,3% positiven Wassermann. Anders
gingen Plaut und Göring (61), sowie Hauptmann (34) vor. Die erstgenannten Au¬
toren stellten möglichst vielseitige Untersuchungen über die gesundheitlichen
Verhältnisse der Kinder und Ehegatten von Paralytikern an, die in der Münchener
Klinik aufgenommen worden waren. Untersucht wurden 146 Familienmitglieder,
und zwar 46 Ehegatten und 100 Kinder von 64 Familien. Von den 244 Geburten
in diesen Familien waren 20% Totgeburten oder Aborte, 26,8% der Kinder starben
in frühem Alter, 63,2% waren noch am Leben. Bei 32 von den 100 Kindern fiel
die Wassmnarmsche Reaktion positiv aus, ein Drittel der Kinder war also luetisch
infiziert, davon 25 unter 10 Jahr. Von den Ehegatten reagierten 32,6% positiv;
man muß annehmen, daß die Zahl der wirklichen Infektionen größer gewesen ist,
denn die Reaktion schwindet ja wieder. Nur in 38% der untersuchten Familien
reagierten sämtliche Mitglieder negativ. Die Arbeit enthält noch viele wertvolle
Beobachtungen; es sei nur hier noch besonders erwähnt, daß von den 100 Kindern
45 körperlich oder geistig geschädigt erschienen; da aber 62 der Kinder unter 10 Jahr
waren, besteht noch für mehrere die Gefahr einer Lues hereditaria tarda. Wo
beide Eltern an syphilidogenen Erkrankungen des Zentralnervensystems er¬
krankten, war die Nachkommenschaft besonders stark geschädigt. Die Verf.
stellen die Forderung auf, daß der Arzt bei jedem Fall von Lues auf frühzeitige
Untersuchung aller Familienangehörigen hinarbeiten sollte. Nicht minder inter¬
essant sind die Ergebnisse, die Hauptmann bei der serologischen Untersuchung
von 43 Familien gewonnen hat. Es soll hier nur auf die Schlußfolgerungen näher
eingegangen werden. Die serologische Untersuchung der Famlienangehorigen
erschien zunächst sehr bedeutungsvoll für die Klärung einzelner Symptome, z. B.
Rcflexanomalien, deren Zusammenhang mit Lues unsicher war; „sie ließ die Wege
der Syphilis auch dahin verfolgen, wo sie durch Anamnese und objektiven Befund
nicht aufgespürt werden konnte“. Besonders interessant ist die Untersuchung
der Deszendenz; offenbar sind folgende Gruppen zu unterscheiden: 1. Tatsäch¬
liche Infektion, d. h. Übergang von Spirochaeten von der Mutter auf Ei oder Fötus,
2. Keimschädigung durch Toxine. Zur ersten Gruppe sind offenbar zu rechnen alle
Deszendenten mit luetischen und metaluetischen Erkrankungen des Nervensystems,
Deszendenten mit positivem Wassermann, Deszendenten mit somatischen Zeichen
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
der Lues hereditari». Zur zweiten Gruppe sind wahrscheinlich solche Mrak
wertige auf psychischen oder somatischem Gebiet zu zählen, die negativ reagiern:
Besonders wichtig ist die Forderung, die Hauptmann auf Grund seiner l'cte-
suchungsresuitate erhebt, daß man auch die Erzeuger aller Idioten, auch sokb*:
die negativ reagieren, serologisch untersuchen muß, wenn man richtig festste^:
will, wieweit die Lues als ätiologischer Faktor für die Entstehung von Idiotie vor
Bedeutung ist.
Als Degenerationszeichen bei Deszendenten von luetisch infizierten Ehen
ist die scapula scaphoidea aufgefaßt worden. Nach den Untersuchungen v.:
Reye (64) ist dieses Phänomen in ganz überwiegender Mehrzahl als ein Degeneratkt : -
zeichen anzusehen, das auch oft mit anderen Degenerationszeichen vergeh -
schaftet ist. In 60% der Fälle kam Lues der Erzeuger als ätiologisches Moral¬
in Frage, nächstdem auch Alkoholismus, Tuberkulose: in seltenen Fällen fcm-
nach Ansicht von Reye vielleicht auch eine in den ersten Lebensjahren akquirier-
Schädigung des Organismus das Auftreten der Scapula scaphoidea bewirken.
III. Prophylaxe. Schwachsinnigenförsorge.
Fürsorgeerziehung.
In der Bekämpfung der Hauptursachen der Geisteskrankheiten: Herediti-
Alkoholismus, Syphilis: sieht Rosanoff (66) die wichtigste Aufgabe der Prophytu
Er untersucht, wieweit die bisher üblichen Methoden der Bekämpfung und c-
gesetzgeberischen Maßnahmen von Wert sind.
Die Arbeit von Büttner (14) gibt einen recht guten Überblick über alle d-
Fürsorgemaßnahmen, die im Anschluß an das Hilfsschulwesen bereits getrof
und noch weiter zu entwickeln sind. Während der Schulzeit soll ausreicheiK
ärztliche Behandlung, Unterbringung in besonderen Ferienkolonien, unentgn:
liehe Verabreichung von Mittagessen in der Schule. Freifahrt auf der Straßenbai
gewährt werden; für schwachsinnige Knaben müssen Knabenhorte eingerieht
werden, die Eltern schwachsinniger Kinder müssen auf besonderen Elternabende
aufgeklärt werden; die Schulpflicht für schwachsinnige Kinder ist bis zum 16. Lebet
jahr zu verlängern. Über die Schulzeit hinausgehende Fürsorgebestrebuira
bestehen in Hilfe bei Berufswahl, Zahlung von Prämien an Lehrmeister (Sachs*::.
Berlin. Frankfurt), Errichtung von Arbeitskolonien bzw. -lehranstahen (BresUi
Frankfurt), von Fortbildungsschulen für Schwachsinnige, denen Haushaltung
schulen für schwachsinnige Mädchen anzugliedem sind (Berlin, Breslau), !L-
teilung der Namen der Hilfsschüler an die Ersatzkommission. Heranziehung £■'
Hilfsschulpersonalakten bei Vergehen ehemaliger Hilfsschüler. Auf nahm e e-
verminderten Zurechnungsfähigkeit in das neue Strafgesetzbuch. Es empfiei'
sich die Gründung spezieller Fürsorgevereine (Berlin, Breslau. Königsberg u. i
die in möglichst vielseitiger Weise sowohl schulpflichtige wie schulentlassen
Schwachsinnige überwachen, bei schwierigen Entschlüssen beraten und in V:-
fällen unterstützen.
Schenk (68) hat in Amerika Anstalten für Schwachsinnige und Hilfsscfcu!
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W. Vog t und F. Schob, Idiotie, Imbezillität, Debilität, Psychopathie. 155*
besucht; nach den letzten amtlichen Ermittlungen gab es dort 28 staatliche An¬
stalten mit 17091 Zöglingen; in Privatanstalten waren etwa 1000 untergebracht.
Der Gesamtbetrieb der Anstalten zeichnet sich durch Großzügigkeit aus; einzelne
Anstalten haben besondere Psychologen angestellt. Weniger entwickelt fand
Schenk das Hilfsschulwesen. Nach Rohlena (65) bestehen in England und Wales
ohne Irland und Schottland 170 Hilfsschulen, davon 86 in London, mit 11 368
Kindern. Die Schulpflicht erstreckt sich bis zum 16. Lebensjahr; die Hilfsschulen
erhalten Freifahrt auf der elektrischen Bahn oder werden von Gemeindedienern
geleitet; eine von der Stadt bezahlte Pflegerin, inspiziert die Kinder regelmäßig.
Nach Abramowsky (1) schlägt die kgl. englische Kommission für Schwachsinnige auf
Grund eingehender Untersuchungen über die Schicksale der Schwachsinnigen
und ihrer Nachkommenschaft vor, eine Zentralstelle zu schaffen, die alle Schwach¬
sinnigen überwachen und gegen alle geistig Defekte, die außerstande sind, ihre
Angelegenheiten zu besorgen oder die für die Allgemeinheit eine Gefahr, event.
auch durch Fortpflanzung, zu werden drohen, Vorgehen und sie eventuell in An¬
stalten unterbringen sollte. Für chronische, harmlose Patienten werden folgende
Einrichtungen zu schaffen sein: Zwischen- und Arbeitshaushospitäler, Familien¬
kolonien (wie Gheel, Jerichow), Unterbringung in auswärtigen Familien, Errichtung
landwirtschaftlicher Kolonien.
Müller-Schürch (56) stellt neuere Gesetze in der Schweiz in ihrer Bedeutung
für die Fürsorge zusammen. Nach dem neuen Zivilgesetzbuch haben die Eltern
auch dem geistig-gebrechlichen Kind eine angemessene Ausbildung zu verschaffen
und bei der Berufsausbildung auf die geistigen Fähigkeiten Rücksicht zu nehmen.
Mit Recht bemängelt Verf., daß im Kanton Zürich in Jugendschutzfällen die Zu¬
ziehung des Arztes nicht obligatorisch ist, sondern dem Ermessen des Vormund¬
schaftsgerichtes überlassen bleibt.
Auch in diesem Jahre liegt ein ausführlicher Bericht über den schulärztlichen
Überwachungsdienst in Breslau von Stadtarzt Oebbecke (58) vor. Den Bericht über
die Hilfsschulen erstattet Dr. Chotzen ; die Gesamtzahl der Hilfsschülern ist von
1006 auf 1081 gestiegen. Über den Gesundheitszustand von 252 Neuaufnahmen
wird ein gutes Bild gegeben. Intelligenzzustand, klinische Formen, ursächliche
Verhältnisse, krankhafte Organveränderungen werden genau erörtert. Wie ge¬
wöhnlich bei Hilfsschülern findet sich Häufung von Konstitutionsanomalien, Er¬
krankungen der Sinnesorgane, von nervösen Störungen, Entwicklungshemmungen;
fast ein Viertel der aufgenommenen Knaben wies Störungen im Descensus testi-
culorum auf.
Weygandt (90) gibt einen kritischen Überblick über die Stellung der gesamten
Jugendkunde und -fürsorge im Rahmen der internationalen Hygieneausstellung
zu Dresden.
Mönkemöller (54) hat im Anschluß an die früher publizierten Untersuchungen
von Cramer die schulpflichtigen Fürsorgezöglinge der Provinz Hannover psychi¬
atrisch untersucht; ähnliche Untersuchungen haben Schnitzer ( 70) an drei pom-
merschen Erziehungsanstalten, Thoma (79) an 620 badischen Zwangszöglingen
angestellt. Bei „engster Begrenzung des Begriffes geistig defekt“ fand Mbnke-
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156*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
möUer 37% minderwertige Kinder, Schnitzer gibt den Prosentsatz auf fi? :
Thoma auf 51,9% an.
Beaussart (9) teilt den Lebensgang von 14 Insassen der Spezialabteiht.
für schwierige Geisteskranke der Anstalt Villejuif mit, die während ihrer MiHr in,
sämtlich die Strafkompagnien in Afrika durchgemacht hatten.
Kluge (43) gibt einen überblick über die Einrichtungen, die er an den F:<-
damer Anstalten für die Behandlung schwer erziehbarer Fürsorgezöghnge
schaffen hat. Die Psychopathen sind großenteils in der Epileptikeranstah. •>
Imbezillen im Wilhelmstift untergebracht: die Gesamtzahl der aafgenomnwr~:
Fürsorgezöglinge in der Zeit von 1901—1910 betrug in diesen beiden Anstah'i
250; außerdem ist den Anstalten noch die Bethlehemstiftung, eine Sptzü.-
(Zwischen-) Anstalt für 40 geistig minderwertige noch schalpflichtige Knahei
angegliedert, die Bethlehemstiftung bringt außerdem Zöglinge in Familienp^;-
unter. 1910 standen so im ganzen 225 Fürsorgezöglinge unter Aufsicht der Pcti-
damer Anstalten. Vorzüglich ausgew&hlte Beispiele aus der eigenen Erfahre
des Verf. müssen auch dem Laien die Notwendigkeit psychiatrischer Mitarbeit
deren Methodik kurz geschildert wird, überzeugend dartun.
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a) Manisch-depressives Irresein.
Amtnoles bringt hier (4) zehn zum Teil ausführliche Krankengeschichten,
Fälle von manisch-depressivem Irresein, die mit ausgesprochenen gastrischen
Störungen, mit subjektiven und objektiven gastrischen Symptomen begannen,
welche meist schwanden, sobald die eigentliche Psychose einsetzte. An einen
kausalen Zusammenhang zwischen beiden denkt A. dabei nicht.
Bomslem (27) schließt: Das manisch-depressive Irresein und die sog. Dementia
praecox bilden zwei klinische Formen, welche ihrem Wesen nach verschieden sind.
Das erstere ist eine auf dem Boden der Degeneration entstehende und zweifellos
funktionelle Psychose, welche im allgemeinen einen günstigen Verlauf nimmt.
Die sogen. Dem. praecox ist zweifellos eine organische lntoxikationspsychose,
welcher bisher noch unbekannte anatomisch-pathologische Veränderungen ent¬
sprechen, und welche am häufigsten zu den spezifischen Verblödungszuständen
Zeitschrift für Psychiatrie. LXIX. Lit. m
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f
178* Bericht Ober die psychiatrische Literatur 1911.
führt. Trotz dieser prinzipiellen Unterschiede ist oft in vielen Fallen die I>j" :
rialdiag nose sehr schwierig oder unmöglich.
Dies läßt sich erstens durch die Tatsache erklären, daß die klinische ünr>
welche die sog. Dem. praecox umfaßt, nicht einheitlich ist nnd in sieh klic-'r
Formen einschließt, welche bisher nicht abgesondert sind und der Hebephr?-:
der Katatonie oder der paranoiden Form entweder symptomatologisch oder £ vs.
Ansg ang nach verwandt sind.
Zweitens besteht eine prinzipielle Erscheinung darin, daß die
depressiven Faktoren, als grundlegend für die menschliche Seele, sich jeder £
regung oder Depression beimengen, ungeachtet dessen, zu welcher klinischen Grt::
dieselben gehören, ln der Dem. praecox treten diese Faktoren am ausgeprägte
und am häufigsten hervor.
Klinische Untersuchungen, gestützt auf psychologische Analyse eure-'
Symptome in Verbindung mit anatomisch-pathologischen und chemisch« Urr-
Buchungen, werden in Zukunft immer festere Anhaltspunkte für die Differenz-
diagnose schaffen, indem sie einerseits die Unterscheidung der för die Dem. pr*r<
spezifischen Symptome von den manisch-depressiven Symptomen ermöglidv.
andererseits aber von der uneinheitlichen Gruppe der Frühdemenz einzelne klinb:
Formen, welche bis jetzt in ihr eingeschlossen sind, absondern werden.
Jelliffe (120) beginnt mit einem historischen überblick über die Zyklothvn
bespricht die Arbeiten von Kahlbaum, Hecker usw. Namentlich hebt er die Ver¬
dienste der beiden Falret auf diesem Gebiete hervor. Er beschreibt dann eii-:
gastro-enterologischen, einen dipsomaniakalischen und einen sexualen Typus.
Marshall (177) will an neun Krankengeschichten zeigen, daß Zustände v
Depression und Exzitation periodisch und episodisch auch bei anderen Psyche:
beobachtet werden, bei Imbezillität, sec. Demenz, organischer Demenz. Parat -
Die Erregungs- und Depressionszustände will M. erklären durch Ernähren:-
Störungen des Nervensystems.
Die mathematische Form des Periodizitätsbegrifies ist nach Mugdan (lf’.
für die Biologie nicht anwendbar. Verf. wendet sich zunächst gegen die Theon-
von Fliess (und Swoboda), daß die Periodizität das regulative Prinzip aller bel ¬
gischen Vorgänge sei. Die Fließ sehe Lehre ist vom mathematischen StandpurF
aus sofort ad absurdum zu führen. M. gibt folgende Definition der Periodizität
Einem System von Ereignissen kommt die Eigenschaft der Periodizität zu. wen:
in zeitlich gesetzmäßigen Intervallen logisch verwandte Ereignisse eintreten, an-
Gründen, die lediglich in der Organisation der Betroffenen liegen, ohne daß dafä
ein äußerer oder doch ein entsprechender äußerer Anlaß vorläge. Auf dem Gebiet»
der Neuro-Psychologie gibt es Kategorien von Zuständen, die in diesem Sinne al-
periodisch zu bezeichnen sind. Diese lassen sich der Qualität nach in drei Gruppe:
sondern: die erste Gruppe gehört dem Gebiete der Zyklothymie an, die zweit!
dem des manisch-depressiven Irreseins; die dritte Gruppe umfaßt die Fälle von
periodischem Schwanken der Hirnfunktion. Die zweite Gruppe ist bekannt unter
der Bezeichnung des menstruellen Irreseins. Die dritte Gruppe umfaßt die Zu¬
stände, welche Sterlz im 48. Bande des Archivs für Psychiatrie eingehend geschildert
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kt. Die Periodizitätsbegrilfe soll man nicht erweitern, das hieße die Periodizität
it der Multiplizität identifizieren, was als durchaus inopportun zu bezeichnen w&re.
R(gi» hat den Verdacht ausgesprochen, ob nicht nnter den sogen. Globe-
ottem (globetrotters) psychisch Kranke sich befinden. Nodal berichtet hier (192)
lsführlich über einen Kranken, welcher ohne erbliche Belastung nach Variola
nd Typhus manisch-depressiv wurde und dann jahrelang während der manischen
hasen große Beisen zu Fuß unternahm, die ihn von Frankreich bis nach Buß-
ind, auch in die andern Weltteile, führten.
Rougi (262) rechnet aus, daß in 10% der Fälle nur die Manie noch nach
0 Jahren rezidiviert. Nach der Zusammenstellung anderer französischer Irren-
rzte, soweit sie über Fälle idiopathischer, nicht rezidivierter Manie berichtet haben,
>bt R. seine Beobachtungen im Asyl von Limoux, und zwar ist sein Material ans
len Jahren 1880—1899. Er benutzt nur Fälle, die er in jeder Beziehung über-
chauen kann, auch in katamnestischer Beziehung. Es wurden in dem genannten
Zeiträume 187 Maniakalische aufgenommen (48 M., 89 F.). Von diesen sind
19 Fälle jetzt 10—26 Jahre ohne Bezidiv geblieben. Ihre Krankengeschichte teilt
R. hier auszfiglich mit.
Stransky (278): „Das manisch-depressive Irresein ist eine konstitutionelle
und als solche im Grunde chronische Seelenstörung, die sich auf der Grundlage
einer in der Begel angeborenen, weit seltener erworbenen Defektanlage entwickelt.“
Manie und Melancholie sind für den Verf. zwei verwandte Begriffe, die gerade
deshalb, weil sie degenerativen Ursprungs sind, die Neigung zu periodischem Ver¬
lauf zeigen. Die Stimmungsanomalie sieht er für das Wesentliche an.
Die Melancholie des Bückbildungsalters hält St. mit vielen anderen Autoren
nicht ohne weiteres für einen manisch-depressiven Mischzustand. Er betont mit
Becht, daß man von einem Mischzustand im klinischen Sinne noch nicht sprechen
dürfe, „wenn ein expansiver Affekt in einem durchaus psychologischen Ausmaße,
ohne dadurch seinen expansiven Charakter wesentlich eingebüßt zu haben, mit
Unlustelementen loziert (oder vice vera) in jenem Zustandsbilde vorkommt; absolute
reine Affekte gibt es ja nicht oft.“ Besonders interessant ist das Kapitel XIII
des Buches: Grenz- und Streitfragen. In ihm geht der Verf. auf die meisten in
den letzten Jahren lebhaft diskutierten Fragen nochmals ein. An erster Stelle
erwähnt er die bei Degenierten entstehenden Verstimmungszustände, welche
sich an ein äußeres Ereignis anschließen. Er rechnet dieselben nicht zum manisch-
depressiven Irresein. Kurz gestreift werden ferner die DepTessionszustände des
höheren Alters. In der Melancholiefrage (s. oben) verhält sich S. dem Dreyfusschen
Standpunkte gegenüber ablehnend. Die Idee Spechts , der die Paranoia mehr weniger
im manisch-depressiven Irresein aufgehen lassen möchte, akzeptiert er gleichfalls
nicht. Auch den Querulantenwahn will er den manisch-depressiven Zustands-
bildem nicht zurechnen. Die Existenz der akuten Paranoia leugnet er nicht ganz,
zählt diese Psychose aber auch nicht dem zirkulären Irresein zu. „Ubergangs¬
fälle“ zur Epilepsie vermag er nicht anzuerkennen. Fälle, die sich unter dem aus¬
gesprochenen Bilde remittierender Katatonien präsentieren, gehören nicht zum
manisch-depressiven Irresein.
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180*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
Die sogen, kombinierten Psychosen (Krafft-Ebing, Oaupp, MönkemMa z \
sind Vergesellschaftongen zweier gleichberechtigter psychischer Erkrankung«.
(fltt&a/T-Bosr.
b) Paranoia.
Kleist (142) sacht hier Thomsm za widerlegen, eine Krankheitsart
Paranoia“ sei durch Thomsen nicht nachgewiesen. Abgesehen von akut paranoisch
Zustandsbildem als Erscheinungsformen verschiedener wohl charakterista*
Krankheitsarten (z. B. Paralyse, senile Gehimerkrankang, alkoholische und zsc-:
Gehirnvergiftungen, Dementia praecox) werden akut paranoische Erkranknig-:
als Äußerungen zweier verschiedener abnormer Konstitutionen beobachtet:
1. Menschen mit reaktiv-labiler Veranlagung können in Reaktion auf affet -
volle Erlebnisse (z. B. Verurteilung, Untersachungs- und Strafhaft, getänsct
Hoffnungen u. a,) in akut paranoischer Form erkranken.
2. Unter der Gruppe der autochthon-labil Veranlagten bilden die Indino:
mit der Disposition zu akut-paranoischen, event. periodisch-paranoischen I -
kranknngen eine besondere Abteilung.
Partenheimer (203), welcher vier hierher gehörige Fälle kurz anfährt, st-r
dem induzierten Irresein sehr skeptisch gegenüber. Das Bestehen indaxierv-
Irreseins im strengen Sinne ist äußerst selten, wenn nicht überhaupt fragbc
Induzierter Irrsinn kann nur angenommen werden, wenn ein nachweisbar erbixi
nicht erheblich belastetes, also zu geistiger Erkrankung nicht von vomher .:
prädisponiertes, Individuum lediglich durch den Umgang mit einem Geist-
kranken in eine Geisteskrankheit verfällt, die im klinischen Sinne, in Inhalt m:
Form mit der Psychose des Ersterkrankten identisch ist und nach der Trauma:
auch wieder einen selbständigen Charakter trägt. Die Krankheitsform, die für du
induzierte Irresein bei diesen Voraussetzungen wohl allein in Betracht komme
könnte, wäre die Paranoia.
c)^Dementia praecox.
Bleuler (20): „Mit dem Namen Dementia praecox oder der Schizophren-
bezeichnen wir eine Psychosengruppe, die bald chronisch, bald in Schüben ver-
läuft, in jedem Stadium halt machen oder zurückgehen kann, aber wohl km-
volle Restitutio ad integrum erlaubt. Sie wird charakterisiert durch eine sperifisd
geartete, sonst nirgends vorkommende Alteration des Denkens und Fühlern and
der ^Beziehungen zur Außenwelt. Die Persönlichkeit verliert ihre Einheit. Di*
gegenseitige Beeinflussung der verschiedenen Komplexe und Strebungen ist eine
ungenügende oder geradezu fehlende.
B. teilt die Dementia praecox in folgende Unterabteilungen: 1. Das Paranoid.
Halluzinationen oder Wahnideen oder beide stehen dauernd im Vordergrund.
2. Die Katatonie. Katatone Symptome stehen dauernd oder doch längere Zeit
im Vordergrund. 3. Die Hebephrenie. Akzessorische Symptome kommen vor.
ohne anhaltend das Bild zu beherrschen. 4. Die einfache Schizophrenie. Während
des ganzen Verlaufes sind nur die spezifischen Grandsymptome vorhanden.
Bei den Grandsymptomen unterscheidet B. u. a. die alterierten (Assoziationen.
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181*
ftektivität und Ambivalenz — hierunter versteht Verl, die Neigung der schizo-
hrenen Psyche, die verschiedensten Psychismen zugleich mit negativem und
ositivem Vorzeichen zu versehen), und die intakten einfachen Funktionen (Empfin-
ung, Orientierung, Gedächtnis, Bewußtsein und Motilität).
Als akzessorische Symptome bezeichnet er Sinnestäuschungen, Wahnideen,
kzessorische Gedächtnisstörungen, die Alteration der Persönlichkeit, der Sprache
nd Schrift, ferner die körperlichen und die katatonen Symptome, sowie die akuten
>yndrozne (z. B. melancholische Zustände usw.).
Bei der psychologischen Analyse hat Verf. insbesondere die Freudsche Methode
verangezogen. (ßübner-Boon.)
Frankhauser (86) kommt hier auf seine frühere Einteilung der Dementia
^raecox-Fälle zurück (Ztschr. f. d. ges. NeuroL u. Psych. Bd. 6) und ent nimm t
der £/rsfevnschen Arbeit Krankengeschichten als Paradigma für seine eigene Arbeit.
Ob es sich bei Urstein in allen Fällen um Dementia praecox handelt, möchte F.
dahingestellt sein lassen. Eine subtilere Einteilung in Unterabteilungen hält F.
für wichtig, da sie uns erlaubt, die einzelnen Komponenten besser zu erkennen
und auseinander zu halten.
Hoüaender (113) berichtet über sechs Fälle von Dementia praecox bei Kindern
im Alter von 8—14 Jahren, um zu beweisen, daß es eine Dementia praecocissima
gibt. Die Krankheit der Kinder unterscheidet sich nicht wesentlich von den Fällen
des späteren Lebensalters. Die paranoide Form ist selten. Prognose sehr ungünstig.
Erblichkeit und angeborene Geistesschwäche begünstigen das Vorkommen der
Krankheit. H. plädiert für Trennung dieser Kinder von erwachsenen Geistes¬
kranken, sie gehören in Spezialabteilungen.
Jelliffe (121) geht von der Annahme aus, daß wir in der Dementia praecox,
was den einzelnen Fall anbetrifft, nur einen Ausschnitt eines chronischen Pro¬
zesses vor uns haben. Man muß deshalb bei jedem Kranken ganz genau das Vor¬
leben untersuchen, und wird dann konstatieren, daß er bereits als Kind allerlei
Symptome zeigte, die als Vorläufer oder Beginn der späteren Erkrankung aufzu-
lassen sind. Dahin würden allerlei Unarten gehören, Schwankungen des Gemüts-
lebens, Menschenscheu usw. Kommen dazu noch erbliche Belastung, Degene¬
rationszeichen u. dgl., so hat man allen Grand, mit dem Kinde vorsichtig umzu¬
gdien, namentlich in den Zeiten, wo dem Gehirn größere Aufgaben gestellt werden.
ltten (126) hat bei seinen Versuchen Heilung oder dauernde Besserung in
keinem Falle erreicht. Er schließt: die künstliche Erregung der Hyperthermie
und Leukozytose durch Einspritzung von Na nucleinicum-Lösung ist nicht im¬
stande, die Schizophrenie (Dementia praecox) zu heilen oder zu bessern.
Kerner (138) benutzte das Material der Pflegeanstalt Rheinau, wo in den
Jahren 1867—1909 unter 3692 Aufnahmen 1669 an Dementia praecox Leidende
waren. Die Sterblichkeit an den verschiedenen Formen von Tuberkulose war
ziemlich genau gleich der in der umgebenden Bevölkerung. Der Schluß lautet:
die Mortalität der chronischen pflegeanstaltsbedürftigen Fälle der Dementia praeoox
ist durchgehend etwas größer als die der allgemeinen Bevölkerung der gleichen
Altersstufe.
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182*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
Klehmet (141) bringt hier eine sehr interessante Krankengeschichte ew
Imbezillen, der während seiner Militär zeit an Hebephrenie erkrankte, und dafe
Linkshänder und Linksfüßer wird, übrigens eine Eigenschaft, die in seiner taufe i
bereits wiederholt beobachtet wurde. K. möchte das Vorkommen in diesem Fall
als Teilerscheinung des auch auf anderen Gebieten bestehenden Negatrvisi»
erklären.
Kiew (146) berichtet kurz, daß in der Anstalt Emmendingen in drei Jahrs
16 Fälle von Osteomalacie beobachtet wurden, alles weibliche Kranke in fortge¬
schrittenem Stadium der Dementia praecox, wo die Osteomalacie erst lange nach
Beginn der Psychose auftrat, sodaß ein Zusammenhang mit den Geneiatkm-
vorgängen ( Curschmann ) sicher ausgeschlossen war. Kiew möchte auch an et i*
gemeinsame Krankheitswurzel denken, so an die innere Sekretion.
Verf. (169) berichten über ihre an 40 Dementia praecox -Krank en angestehre
Versuche, wonach sich der Puls dieser Kranken nicht wesentlich von dan dr
normalen Menschen unterscheidet.
Markus (176) hat Assoziationsversuche bei Dementia praecox-Kranken n
der Greifswalder Klinik und in der Anstalt Uckermünde gemacht. Von jedes
Kranken wurden 100 Reaktionen aufgenommen. Der Versuchsperson wnrd-?-
Worte eines bestimmten Reizwortschemas zugemfen. Die Zeitmessung geschah
mit der Fünftelsekundenuhr. Der ausführliche Bericht muß im Original naefc-
gelesen werden. Die große Mannigfaltigkeit, die einem bei den Assoziationen der
Praecox-Kranken begegnet, rührt daher, daß wir bei der Dementia praecox nrt
einem Konglomerat verschiedener Kvankheitszustände zu tun haben. Durch dt;
Assoziationsexperiment erhalten wir in den meisten Fällen auch nicht mehr
ein Abbild eines augenblicklichen Zustandes. So erkennen wir z. B. einen manisch«
Erregungszustand oder einen Depressionszustand b *i einem Paralytiker, ein«
Zirkulären, einem Praecox-Kranken. Hat die einze’ne Psychose spezifische Sym¬
ptome, so können wir erwarten, daß sie sich auch .n den Assoziationen wiedff-
spiegeln. Die Dementia praecox hat kein spezifisches Symptom, das immer in
jedem Fall und von Anfang bis Ende vorhanden wäre. Charakteristisch ia
für sie die Aufmerksamkeitsstörung ohne psychomotorische Erregung. Dafür ia
das Assoziationsexperiment ein feineres Reagenz als die klinische Beobachtung.
Umgekehrt ist es bei den anderen Symptomen. Das Experiment leistet noch gute
Dienste im Beginn der Sprachverwirrtheit; durch das Experiment kann man sie
schoD früher als durch die Unterhaltung nachweisen. Das Wesen der Sprach¬
verwirrtheit wird durch das Experiment nicht ergründet, über das Wesen der
Stereotypie, Iterativerscheinungen und das Auftreten der sogenannten losge¬
lösten Gedankenreihen gibt das Experiment keinen Aufschluß. Eine Differen¬
zierung der Hebephremie, Katatonie und Dem. paranoides den Assoziationen nach
war nicht möglich. Alles in allem muß man sagen, daß der Wert des Assoziations¬
experimentes in diagnostischer und psychologischer Hinsicht bei seiner Anwendung
bei der Dementia praecox ein recht bedingter ist, und daß wir unsere Erwartungen
nach neuen Errungenschaften mit ihm auf dem Gebiete dieser Psychose nicht zu
hoch halten dürfen.
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Umpfenbach, Funktionelle Psychosen.
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Die Monographie von Pascal (204) gibt in gedrungener Form einen Überblick
Lber die Dementia praecox in psychologischer, klinischer usw. Hinsicht. Gerade
Lie Hälfte des Buches beschäftigt sich mit der Psychologie der einzelnen geistigen
Störungen. Der klinische Teil ist etwas kurz ausgefallen, enthält aber das Wichtigste.
?. rät zu einer Opotherapie, namentlich im Anfänge und auf der Höhe der Er¬
krankung. Man soll die verschiedenen Drüsen nacheinander zur Anwendung
»ringen, natürlich unter ständiger Aufsicht. Sobald die akuten Krankheitssymptome
;eschwunden sind, muß die Arbeit beginnen, um der Verblödung entgegen zu
treten. P. warnt davor, erblich schwer Belastete ins Militär einzustellen. Anch
soll man sie während der Pubertätsjahre dauernd beaufsichtigen und sie event.
von angestrengten geistigen Arbeiten entbinden.
Müculski (187) berichtet über einen 40jährigen Kranken, der durch seine
Amme Lues acquirierte, schon als Kind viel mit dem Kopfe zu tun hatte, und seit
dem 16. Lebensjahre an Dementia praecox leidet. Seit acht Jahren besteht Akro¬
megalie. Vergrößerung des Unterkiefers, der Nase, der Lippen und Zunge. Die
Extremitäten sind frei geblieben. Af. möchte Bedenken tragen, ein nur zufälliges
Zusammentreffen von Psychose und Akromegalie anzunehmen.
Rinne (233) bietet hier eine ausführliche historisch-medizinische Übersicht
Ober das Jugendirresein.
Rüiershaus (234) zeigt an 60 Fällen von Dementia praecox der hebephrenen
und katatonen Formen, wo die eigentliche Psychose nach der Pubertät zum Aus¬
bruch kam, — daß, wie Bleuler behauptet, in einer großen Zahl der Fälle, bei
Rüiershaus in 75% der Fälle, schon vor der Pubertät, im Kindesalter allerlei Ab¬
sonderlichkeiten beobachtet werden. In 3 Fällen kam es zu einer früheren Puber¬
tätsentwicklung {Ziehen). Demnach würde man der Pubertät in der Ätiologie
der Dementia praecox nur eine mehr auslösende Wirkung zuschreiben dürfen.
Die Fälle von Dementia infantilis würden zur Dementia praecox zuzurechnen sein.
Die sogen. Pfropfhebephrenie ist wahrscheinlich häufiger als man gewöhnlich
anzunehmen pflegt. Das Problem der Pfropfhebephrenie kann erst gelöst werden
nach einer gründlichen Eriorschung der Idiotie. Eine Differentialdiagnose zwischen
den nervösen, psychopathischen Kindern und den Dementia praecox-Kandidaten
ist oft nicht möglich. Man müßte mal festzustellen suchen, wieviel von den Be¬
suchern der Hilfsschulen sich später als Dementia praecox-Kranke erweisen. Nicht
weniger interessant ist die Frage, wieviel von den vor das Jugendgericht Zitierten
später an Dementia praecox erkranken.
Schmid (263) benutzt das Material von Cery. der einzigen Irrenanstalt des
Kanton Waadt. 1901—1910 waren unter den Aufnahmen 31% Dementia praecox-
Kranke. Nach den schriftlich erhaltenen Katamnesen waren 16,2% der Entlassenen
genesen, Heilung mit Defekt 15,5%. Schmid fand aber dann bei persönlicher münd¬
licher Untersuchung bei 36,7% der als geheilt Angegebenen noch deutliche Zeichen
der Geisteskrankheit. Bei 43 Fällen konnte Schmid pathologische Symptome
nicht mehr nachweisen. Diese Fälle teilt nun Sch. in drei Gruppen: die eine muß
nachträglich zum manisch-depressiven Irresein gerechnet werden. Bei der zweiten
Gruppe muß entweder eine andere oder keine sichere Diagnose gestellt werden.
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184*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
Für die dritte Gruppe findet Sch. gemeinsame charakteristische Symptome. Es
sind 22 Fälle. Sie will Sch. von der Dementia praecox, d. h. Katatonie, abtrennen.
Die Krankengeschichten fügt er bei. Diese Zustandsbilder zeigen Ähnlichkeit
mit der akuten Verwirrtheit. Sie zeigen eine plötzlich hereinbrechende Trübung
des Bewußtseins und Unfähigkeit der Orientierung. Diese Bewußtseinstrübung
besteht fort nach Ablauf der akuten Symptome, die Wahnideen werden lange
nicht korrigiert. Während der Krankheit häufig lucida intervalla. Konstant finden
die Kranken in ihrer Umgebung Verwandte oder Bekannte. Illusionen sind massen¬
haft, Halluzinationen seltener.
Sch. spricht dann über die Verwirrtheit als Zustandsbild des manisch-
depressiven Irreseins, die Abgrenzung der Verwirrtheitszustände von der Kata¬
tonie, Über geheilte Dementia praecox-Fälle, die zum manisch-depressiven Irre¬
sein gehören. Den Schluß machen geheilte Dementia praecox-Fälle mit anderer
Diagnose. — Sch. stimmt Kraepelin bei, wenn er sagt: „Die Behauptung, daß die
Dementia praecox in wissenschaftlichem Sinne heilbar sei, halte ich für verfrüht.“
Er rät dringend, alle Kranken vor ihrer Entlassung aus der Anstalt noch einer
genauen Untersuchung zu unterziehen.
Schroeder (264). ln einem Fall von Dementia praecox katatoner Form, der
im Alter von 45 Jahren starb, fand Schröder einzelne Purkinjexellen außer der
Keihe liegend und fast in jedem Präparat eine oder mehrere Purkinjezellen mit
zwei Kernen. Dreikernige oder syncytiale Formen sab er nicht. Die gleichen Ver¬
änderungen, wenn auch in spärlicher Zahl, fand S. bei einem weiteren Fall von
Dementia praecox und viel zahlreicher in einem Fall von periodischer Manie mit
schwerer erblicher Belastung.
S. glaubt, daß seine Befunde geeignet sind, in der Frage nach der Ätiologie
der Dementia praecox, wie nach dem anatomischen Substrat degenerativer Ver¬
anlagung einen kleinen Fingerzeig zu geben, und möchte sie auffassen als Ent¬
wicklungsstörung im Sinne der Fixierung einer früheren Entwicklungsstufe, somit
als ein Kennzeichen der degenerativen Disposition. {Sioli- Bonn.)
Soukhanoff (272) knüpft große Hoffnungen an die Beobachtung von Klutscheff-
in Petersburg, wonach in den 60 Fällen von Dementia praecox bei 40,60% Syphilis
nachweisbar war, teils angeboren, teils erworben. Nach einer anderen Angabe
sei in 26% bei Dementia praecox Wassermann positiv.
Timofejew (287) teilt einige Krankengeschichten mit, in denen die akut
entstehende Psychose alle Anzeichen des akuten initialen Stadiums der progres¬
siven Paralyse trug. Die Ähnlichkeit bezog sich sowohl auf die somatischen Er¬
scheinungen (Pupillarungleichheit, Tremor, Sprachstörungen, Steigerung der
Reflexe), als auf die psychischen Veränderungen (Oberflächlichkeit der Urteile,
Demenz, Größenwahn- und hypochondrische Ideen). Die auf Grand dieser Er¬
scheinungen gestellte Diagnose der Paralyse mußte aber geändert werden, als der
stationäre Charakter der Erkrankung deutlich wurde, die pathologischen Er¬
scheinungen nicht nur nicht im Zunehmen, sondern eher im Abnehmen begriffen
waren, und als sich durch den ganzen Verlauf der Krankheit herausstellte, daß es
sich um Dementia praecox handelte.
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Umpfenbach, Funktionelle Psychosen.
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T. ist anzonehmen geneigt, daß es sich in den Fällen der progressiven Paralyse,
on denen in der Literatur berichtet wird, daß sie sehr viele Jahre dauerten oder
;ajr mit Genesung endeten, um solche Krankheiten, wie die von ihm beschriebenen
L&ndelt. Da diese Fälle sowohl theoretisches als praktisches Interesse bieten,
oblägt T. vor, sie mit einem besonderen Namen „Dementia praecox pseudo*
> aratytica‘ J zu bezeichnen. (Flewc&mann-Kie w.)
d) Sonstiges.
Bonutein (26) kommt zu dem Schlüsse, daß es keine selbstständige Degene¬
rationspsychose gibt. Bei Individuen, die erblich belastet sind, können akut und
chronisch psychotische Zustände auftreten, welche gewisse besondere Merkmale
acufweisen. Ihre Besonderheit besteht vor allem darin, daß sie nicht eine Ver¬
schlimmerung des gewöhnlichen Zustandes bei solchen Individuen darstellen,
und in sich die in der Seele solcher Individuen präformierten Elemente enthalten.
Bei Hysterischen treten am häufigsten Dämmerzustände auf, in der konstitutio¬
nellen Erregung — ein manischer Zustand, in der Pseudologia phantastica — eine
paranoide Form mit phantastischen Wahnideen, bei Individuen mit angeborener
Zweifelsucht andere paranoide Zustände.
Sie besitzen ferner dieses gemeinsame Merkmal, daß sie sich häufig bei einem
und demselben Individuum kombinieren, wobei dieser oder jener psychotische
Zustand vorherrschen kann, je nachdem, welche psychische Eigenschaften bei
den Individuen im gewöhnlichen Zustand prävalieren.
Alle diese psychotischen Zustände haben meist eine Tendenz, in kürzerer
oder längerer Zeit zu schwinden, ohne einen sekundären Schwachsinn nach sich
zu ziehen. Einige von diesen psychotischen Zuständen, wie gewisse Typen hyste¬
rischer Dämmerzustände (der Gansersche Komplex) und gewisse paranoide Formen,
zeigen eine Tendenz, besonders häufig unter dem Einfluß der Gefängnisatmosphäre,
hervorzutreten, doch kommen sie auch in den alltäglichen Lebensumständen vor.
Psychotische Zustände bei Degenerativen stellen im allgemeinen nur eine
krankhafte Reaktion solcher Individuen auf ungünstige Lebensbedingungen dar,
und sind streng von denselben abhängig.
Auf Grund obiger Merkmale wolle man sie von anderen psychischen Störungen
unterscheiden, und zwar von solchen, welche bei erblich nicht belasteten Menschen
im Verlauf der organischen (wie die Dementia praecox) auftreten und sogar solcher
funktioneller Psychosen, wie das manisch-depressive Irresein oder die Paranoia
chronica. Diese letzteren bilden gewissermaßen die letzten Ketten der langen
Reihe degenerativ-psychotischer Zustände.
Damaye (44) bringt genaue Blutuntersuchungen bei einer melancholischen
Tuberkulösen. Mit der Besserung des Zustandes erschienen auch die eosinophilen
Zellen wieder.
Davidenkow (50) beobachtete scharf ausgeprägte Echolalie und Perseveration
(Haftenbleiben) bei einem mäßig dementen Manne (wohl die Alzheimersche Form
der senilen Demenz). Spontan konnte der Kranke fast gar nichts sprechen. Er
beantwortete aber an ihn gerichtete Fragen, wobei die Echolalie und das Haften¬
bleiben stets zum Vorschein kamen. Bei der Autopsie wurde neben einer Pachy-
Zeitschrift för Psychiatrie. LXIX. Lit. n
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
meningitis cervicalis hypertroph ica scharf ausgesprochene Atrophie der Stic- ••
lappen — namentlich des vorderen Pols — gefunden. Verf. tritt gegen die Behü¬
tung auf, daß die Echolalie und Perseveration dem Grade der Demenz der PatkeK
entsprechen. In seinem Falle führt er diese Symptome auf die durch die Atrcpt-
der Stirnlappen bedingte Störung der Assoziationstätigkeit zurück, die eine Hypr-
reflexie der kortikalen Sprachbahn S-M (des Liehiheim-Wernidcesehen Scho»
hervorraft. Die „akustischen Spuren“, die bei Erhaltung der spontanen Spntr-
dnrch neue Assoziationen verdrängt werden, finden in solchen Fällen wie d-~
geschilderten ganz besonders günstige Bedingungen zum Haftenbleiben. Im
F all gibt dem Verf. Veranlassung, einige Momente zusammenzustellen, die fr
besondere psychische Funktionen der Stimlappen sprechen. {Fleischmarm -Kie* .
Frankhauser-Stephansfeld (84) verfügt über 40 Fälle von Geschwister
psychosen, welche er hier vorführt, nachdem er zunächst seinen diagnostische
Standpunkt ausführlich dargelegt und eine neue Einteilung der Dementia praec 1 ;
und des manisch-depressiven Irreseins in Unterabteilungen gemacht hat, je nach¬
dem der Krankheitsprozeß lokalisiert ist. Er kommt z. B. zu einem manbc:-
depressiven Irresein des Gefühls, des Willens, des Verstandes. Das weitere el:
im Original selsbt nachgelesen werden. Die katatonen Störungen hält F. r
Urs'ein als entscheidend für die Diagnose Dementia praecox im Gegensatz xar
manisch-depressiven Irresein.
Bei jF’s Geschwisterpsychosen handelt es sich durchweg um ähnlich ver¬
laufende Psychosen; Geschwisterpsychosen sind gleichartig. Es kann als Ges-'tr
gelten, daß bei der psychischen Erkrankung beider Linien der Aszendenz die «iw
derselben den krankmachenden Einfluß der anderen eliminiert, wobei sie sei:
auch gegenseitig unschädlich machen können. Bei den 40 Krankengeschichte
handelt es sich in 28 Fällen um Dementia praecox. Die Ursache der Erkrankos?
(Dem. praecox) ist in einer ererbten Disposition irgendwelcher, wie auch ium«
lokalisierten Teile des Gehirns zu suchen. In 6 Fällen bestand manisch-depres¬
sives Irresein. Die erbliche Dispostion zu manisch- depressivem Irresein schließ
die zu Dementia praecox aus und umgekehrt. —Die letzte Gruppe, die Geschwister¬
psychose des Rtickbildungsalters, umfaßt ebenfalls 6 Fälle, die betreffenden Kranker
waren 45—56 Jahre alt. In dem einen Falle paarte sich eine Spätmelancho'iir
mit einer paranoid-katatonen Spätdemenz, was für die innere Verwandtschaft
der Rückbildungsmelancholie mit den übrigen Rückbildungspsychosen und gegen
eine solche mit dem manisch-depressiven Irresein spricht. Spät- und Frühdemeni
stehen sich nahe, sind aber verschiedene Krankheitsformen. Die Disposition n
der einen Erkrankung scheint die zu der andern auBzuschließen. Unter den 40 Ge¬
schwisterpsychosen sind bei 17 beide Geschlechter vertreten, bei 23 nur eins, unter
letzteren bei 4 das männliche, bei 19 das weibliche. Das weibliche Geschlecht ist
ja überhaupt empfänglicher für die erbliche Übertragung von Krankheitsanlagen.
In 7 Fällen waren 3 Geschwister erkrankt, und zwar immer nur ein Geschlecht.
Bei Heredität von seiten des Vaters sind mehr die Töchter, von seiten der Mutter
mehr die Söhne gefährdet. Der Einfluß des Vaters scheint im allgemeinen bei der
Vererbung mächtiger zu wirken. Die jüngeren Geschwister erkranken meist früher
als die älteren. Je älter die Eltern, desto schwerer die Belastung.
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Heinidee s (107) Znchthansgefangene, jetzt 68 Jahre alt, von denen sie
1 Jahre in Strafanstalten zubrachte, erkrankte an Halluzinationen, Verfolgung«-
>een, Größenwahn, Begnadigungsideen. Unter Zunahme des geistigen Verfalls
ltspricht das Bild mehr und mehr dem senilen Verfolgungswahn. Nach Heinick«
t dies der erste Fall von Begnadigungswahn bei einer Frau. Mit Äüdw glaubt
f-, daß der Begnadigungswahn eine senile Psychose ist und Anspruch auf beson-
ere Klassifizierung hat.
Jollys (123) sehr ausführliche Verarbeitung von 79 Fällen, bei denen der
Beginn der Erkrankung über 10 Jahre zurücklag, eignet sich nicht zu einem kurzen
Referat.
Loewe (163) fand eine Vermehrung des Harndialysates außer bei Epilepsie
wich in Fällen von Katatonie und Hebephrenie. Eine dieser Dialysatvermehrung
entsprechende Steigerung in der Ausscheidung kolloidalen Phosphors fand sich
bisher nicht. Das Hamdialysat bei Katatonie und Dementia paranoides besitzt
eine hohe Toxizität, welche sich wesentlich von der des Epileptikerdialysats unter¬
scheidet. Seine Wirkung äußert sich nie in epileptiformen Erscheinungen.
Münzer (189): Die Puerperalpsychosen bilden bisher keine selbständige
Krankheitsgruppe; es muß noch erforscht werden, welche spezifische mit dem
Ablauf der Generationsvorgänge verknüpfte Noxe die Entstehung der Puorperal-
psychose bedingt. Der Erschöpfung möchte M. keinen dominierenden Einfluß
bei der Ätiologie der Puerperalpsychosen einräumen. Daß es sich um eine Intoxi¬
kation des Gesamtorganismus handelt, darf man vermuten. M. weist dann auf die
bisher allerdings nur hypothetische innere Sekretion des Uterus hin. Die toxische
innere Sekretion (Fellner und Schickele) muß nach M. in der Gravidität gewaltig
anwachsen und auch das Gehirn alterieren, wodurch die Schwangerschaftspsychose
entsteht. Im Wochenbett, wo der enorm vergrößerte Uterus sich in kurzen Zeit¬
räumen zur Norm zurückbildet, geraten nun toxische Produkte in übergroßen
Quantitäten in die Blutbahn, daher der Ausbruch der Puerperalpsychosen, daher
auch die Erscheinung, daß viel mehr Puerperal- als Graviditätspsychosen beob¬
achtet werden. Zwischen Psychose und Generationsgeschäft muß ein spezifischer
Zusammenhang bestehen. Dies mag vielleicht in einer verstärkten inneren öekretion
toxischer Uterusprodukte begründet sein.
Pelz (207) will Adalin auch bei Angstzuständen mit Erfolg angewandt haben.
RkmondnnA Voiienel (230) erzielten im ganzen gute Resultate mit Pantopon,
namentlich bei Angstzuständen melancholischer Art.
Sahn und Azimar (259) empfehlen Pantopon bei akuten Geistesstörungen,
namentlich bei ängstlichen Psychosen, Delirium tremens. Keine üblen Neben¬
erscheinungen.
Sommer (271) will die meisten Krankbeitszustände mit dominierendem,
hypochondrischem Symptomenkomplex nicht als selbständige Krankheitsform
auflassen, — will aber einer kleinen Gruppe derartiger Fälle unter der Be¬
zeichnung Hypochondrie eine gewisse nosologische Selbständigkeit einräumen.
Fälle mit sog. neurasthenischen Symptomen im jugendlichen Alter gehören nicht
hierher. S. will unter Neurasthenie nur die erworbene Nervosität verstanden
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
wissen. Neurasthenie hat nnr selten hypochondrische Symptome. Ein ww a-r.
Teil der Hypochondrie gehört zu den Depressionszuständen des manisc-
depressiven Irreseins. In anderen Fällen handelt es sich um Paralyse, Dernau
senilis, Arteriosklerose und Katatonie.
Sommer bringt dann zwei Krankengeschichten, welche an die beiden Fi£-
von Beiß (in „Konstitutionelle Verstimmung und manisch-depressives Irresem'
erinnern, und sucht zu beweisen, daß sie nicht den anderen Psychosen zugereefaas
werden können. Er schließt demnach, daß man das Recht hat, eine bestinstr
Groppe von Krankheitsfällen unter der Bezeichung Hypochondrie als Krankbar¬
art zusammenzufassen und ihr eine gewisse nosologische Selbständigkeit asa-
ränmen. Sie gehört der Gruppe der psychogenen Krankheitsform als eine woh-
charakterisierte Unterform an. S. möchte für die jüngeren Lebensjahre die leidsst
Unterform, in der hypochondrischen Psychose des höheren Lebensalters d*
schwerere Unterform der Hypochondrie erkennen.
Ziveri (311) hält es'an der Hand eines hier beigebrachten ~K~rm»>Vhi>ihrfalU
nicht für richtig, die vier Formen von Amentia KräpeMna beizubehalten, weil nute
Umständen derselbe Kranke mehrere Formen aufweist.
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Pappenheim (209) spricht sich allgemein über die Ausdehnung der Bezeich¬
nung und des Begriffes Epilepsie aus. Er wendet sich gegen die Bestrebungen,
diesen Begriff soweit zu fassen, daß darunter alle mit endogenen periodischen
Verstimmungen einhergehenden Zustände genommen werden. Eine derartige
Grenzerweiterung zerstört nur die in den letzten Jahren mühsam erworbene Ein¬
engung der echten Epilepsie, indem man die Alkoholepilepsie, die Affektepilepsie
davon abtrennte, und ist auch vom praktischen Gesichtspunkt bedenklich, weil
die Bezeichnung Epilepsie in den Augen der Laien stets etwas prognostisch
und auch sonst Ungünstiges bedeutet. Die sog. charakteristischen psychischen
Symptome der Epilepsie haben sich bisher nicht als spezifisch für die E. er¬
wiesen. Den Zusammenhang der Epilepsie mit den übrigen Kinderkrämpfen
beleuchten namentlich zwei Arbeiten der Münchener Jahresfortbildungskurse
über die Beziehungen der Epilepsie zur Kindertetanie.
Pfaundler (211a) gibt eine Schilderung der kindlichen Diathesen, unter die
er auch die Spasmophilie rechnet. Die Diathesen sind nicht Krankheiten, sondern
Krankheitsbereitschaften, die aus einer angeborenen Anlage entstehen. Jede
einzelne Manifestation der Diathese kann auch bei den anderen Zuständen und
aus exogenen Ursachen auftreten; nur ihr Ensemble ist für die jeweilige Diathese
charakteristisch. Die Manifestationen treten scheinbar spontan auf, oft in Form
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Weber, Neurosen und Schilddrüsenerkrankungen.
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von Paroxysmen; auch der Rückgang ist rasch und kritisch. Sie sind häufig von
schweren nervösen Erscheinungen begleitet und zeigen sich vielfach gesetzmäßig.
Kieman (140) gibt eine zusammenfassende Darstellung der Pathogenese
der Epilepsie. Dabei betont er besonders die Rolle der subkortikalen Ganglien
und des Himstammes als Ausgangspunkte der Konvulsionen, weil diese Teile
überhaupt die Zentren für rythmische Bewegungen enthalten, die durch ein perio¬
disches An- und Abschwellen des Nerventonus zustande kommen. Die epileptische
Konstitution ist charakterisiert durch eine allgemeine Herabsetzung des Tonus
in Verbindung mit erhöhter Reaktionsfähigkeit und Reizbarkeit. Als Ursache
dieser Veränderungen betrachtet Verf. autotoxische Störungen.
French (83) nimmt in ähnlicher Weise ein medulläres Konvulsionszentrum
an, das durch verschiedene Schädlichkeiten, häufig durch eine toxaemische Blut¬
beschaffenheit erregt werden könnte. Nach wiederholtem Auftreten der Anfälle
kommt eine Dauerveränderung dieses Zentrums zustande. Er unterscheidet prä¬
disponierende und auslösende Ursachen der Epilepsie; unter den ersteren führt
er Erblichkeit, Lebensalter und Geschlecht an (Alter und Geschlecht können doch
nicht als Krankheitsursachen gelten!).
Eine Übersicht über die Lehre von den Krämpfen des Kindesalters gibt
Oött (99). Nicht alle eklamptischen Erscheinungen der Kinder sind Vorboten
oder der Beginn einer genuinen Epilepsie, aber sie gehören auch nicht alle zur
spasmophilen Diathese. Bei der letzteren treten auf tonische Krämpfe, Laryngo-
spasmen, klonische Krämpfe als der Ausdruck der spinalen, bulbären oder zere¬
bralen Affektion; auch außerhalb dieser Attaken ist die Zugehörigkeit zur spasmo¬
philen Diathese erkennbar an den bekannten Zeichen. Die spasmophilen Kinder
können später Neuropathen und Psychopathen werden, aber nicht Epileptiker.
Symptomatisch treten Kinderkrämpfe auf bei Allgemeinerkrankungen, bei orga¬
nischen Hirnerkrankungen und als Beginn einer echten genuinen Epilepsie. Das
kindliche Zentralnervensystem hat überhaupt die Neigung, auf viele funktionelle
Schädigungen mit Krämpfen zu reagieren.
Assagioli (5) berichtet von einer schlecht genährten Mehrgebärenden, die
durch lange fortgesetztes Stillgeschäft einen starken Verlust von Kalksalzen erlitt.
Anläßlich einer akuten Magenerkrankung wurden die bis dahin latenten Tetanie¬
symptome manifest. Sie wurde durch Darreichung von Kalksalzen geheilt.
Im Gegensatz zu den Feststellungen Thietnichs, denen sich ja auch Gott an¬
schließt, hält es Redlich (219) für zweifellos, daß Kinder, die an Sänglingstetanie
gelitten haben, später auch an Epilepsie erkranken können. Auch Hothsinger (116)
hat mehrere Fälle von echter Epilepsie bei älteren Kindern beobachtet, die durch
das noch bestehende Fazialisphänomen sich als spasmophil erwiesen oder die als
Säuglinge an echtem Laryngospasmus gelitten hatten.
Satz (233) macht darauf aufmerksam, daß Tetanie und Epilepsie gelegent¬
lich kombiniert Vorkommen können. Auch psychotische Episoden oder echte Psy¬
chosen können bei einer Tetanie auftreten. Ihre Pathogenese ist verschieden;
sie sind entweder eine Teilerscheinung des tetanischen Krankheitsprozesses; über
sinen solchen Fall berichtet Saiz. Oder es handelt sich um ein zufälliges Zu-
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212*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
sammentreffen; dann kann häufig die Psychose die latenten Tetaniesympteo-
hervorrufen. Oder die psychischen Störungen sind durch die gleichseitig vor¬
handene Epilepsie bedingt.
Büttner (43) weist auf das von Schlesinger bei der Tetanie beschrieben
Beinphänomen hin; bei der Bewegung des Beines im Hüftgelenk tritt ein Streck -
krampf im Kniegelenk und ein tonischer Krampf im Sprunggelenk auf. Büttee
hat ein ähnliches Symptom bei Hysterie gefunden und bezeichnet es als „Pseutk-
beinphänomen“.
Fr. Schultee (242) weist auf eine Dellenbildung der Zunge bei Beklopfe
derselben als ein für die Tetanie der Erwachsenen charakteristisches Symptom hc
W. Ebstein (69) beobachtete bei einem 31jährigen an Spätrachitis leidemto
Kranken akut auftretende Tetaniesymptome in Gestalt von Pfötchenstdkmf
Fazialisphänomen und gesteigerter Muskelerregbarkeit, sowie Laryngospasmrs.
Auch die bei diesen Kranken auftretenden Spontanfrakturen rechnet er hier»
und gibt die Schuld der durch Kalkarmut bedingten Osteoporose. Alle Symptom
besserten sich, als therapeutisch Calcium lacticum gegeben wurde.
Uber die Beziehungen zwischen Pubertät und Epilepsie spricht sich ff.
Gerlach (94) in einer interessanten Dissertation aus der EteAenschen Klinik ab
Grund statistischer Untersuchungen aus. ln erster Linie ist für die Ursache <fe
Pubertätsepilepsie die hereditäre Belastung von Bedeutung; es wird also anerkanr
daß in den meisten Fällen dieselben ätiologischen Momente vorliegen, wie bei d*
übrigen Epilepsie. Im Zusammenhang mit hereditärer Belastung oder auch für
sich allein kann aber auch durch Störung der inneren Sekretion der Geschlechts¬
drüsen während der Pubertät die Erregbarkeit des Gehirns so beeinflußt werdet
daß epileptische Krämpfe auftreten. Besonders soll die Menstruation eine Selbst¬
vergiftung des Körpers darstellen und deshalb häufig den ersten epileptischer
Anfall auslösen.
Davenport und Weeks (59) haben Stammtafeln von Epileptikerfamiher
studiert und finden, daß Epilepsie und Schwachsinn auf eine Entwicklungsstönm:
des Nervensystems beruhen. Eine andere, wenn auch nicht so hochgradige Störuic
der Keimzellen liege anderen nervösen Zuständen, wie Migräne, Chorea zugrund«’.
Die erste Form der Entwicklungsstörung wird als Defektbildung (defektive),
zweite als Entartung (tainted) bezeichnet. Es lassen sich eine Reihe von gesetz¬
mäßigen Beziehungen nachweisen bei Verbindung der Defektindividuen mit Ent¬
arteten. Umgekehrt weist das Auftreten epileptischer Kinder bei gesunden Elterr
immer auf eine Keimschädigung in deren Assendenz hin und kann oft noch un
der nächsten Verwandtschaft ermittelt werden.
Steiner (250) hat die Untersuchungen Redliche über die Häufigkeit der Links¬
händigkeit bei Epileptikern nachgeprüft und erweitert. Er kann nicht der Ab¬
fassung Redliche zustimmen, daß es sich dabei um die Folgen einer leichton rechts¬
seitigen Hemiparese handelt. Er hat bei seinen Untersuchungen gefunden, d&£
noch häufiger als bei Epileptikern selbst in ihren Familien Linkshändigkeit ver¬
kommt. Die Tatsache erklärt sich so, daß bei der genuinen Epilepsie eine mangel¬
hafte Überordnung bestimmter Teile des rechten oder link en Hirns über das übrig«
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Weber, Neurosen and Schilddrüsenerkrankungen.
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Ciehira vorzuliegen scheint. Es besteht in den Epileptikerfamilien die Tendenz
zur Vererbung von Linkshändigkeit; ist der Epileptiker selbst rechtshändig, so
bedeutet dies einen Widerstreit zwischen Vererbungstendenz und angeborener
Anlage des Individuums, die ihren Ausdruck findet in der Entwicklung motorischer
Störungen vom Charakter der Epilepsie. Die Diagnose Epilepsie will Steiner dem*
nach erst dann als gesichert betrachten, wenn in der nächsten Familie des Kranken
oder beim Kranken selbst Linkshändigkeit vorkommt.
Brate (38) kommt in einer ausführlichen Abhandlung auf die Fälle von
Affektepilepsie zurück. Er bringt Material dafür bei, daß hier ein eigenes von der
echten Epilepsie abzutrennendes klinisches Krankheitsbild vorliegt, das auf dem
Boden degenerativer Anlage verschiedener Art entsteht und sich in Auftreten
vereinzelter epileptischer Anfälle äußert, ohne daß es zu dauernden epileptischen
Veränderungen kommt; die Anfälle bedürfen zu ihrem Auftreten eines äußeren
Momentes: seelische Erregungen, Infektion, Intoxikation; sie können wieder völlig
verschwinden. Die Anschauungen von Brate werden durch VoUanda (269) Unter¬
suchungen bestätigt. Voüand beschreibt eine Anzahl hierher gehöriger Fälle,
betont vor allem auch das Auftreten vasoneurotischer Symptome als ein beson¬
deres Zeichen der erblichen Belastung und zeigt, wie Anfälle hier stets im An¬
schluß an seelische Erregungen auftreten.
Souteo jr. (248) beschreibt als eine besondere Form der Alkoholepilepsie
eine Erkrankung, die sich bei chronischen Alkoholikern zwischen dem 40. und
K). Lebensjahr einstellt, in typischen epileptischen Anlällen sich äußert, die nach
Abstinenz nicht verschwinden, und allmählich zu einer dauernden Demenz führt.
Er stellt diese konstitutionelle Alkoholepilepsie der passageren Form gegenüber,
die ebenfalls auf dem Boden des chronischen Alkoholismus entsteht, bei der aber
die Anfälle unter dem Einfluß der Abstinenz wieder verschwinden; das ist bekannt¬
lich die Form, die Brate als Alkoholepilepsie beschreibt. Ob nun die geschilderte
konstitutionelle Alkoholepilepsie eine eigene klinische Gruppe darstellt, geht auch
aus den mitgeteilten Krankheitsfällen noch nicht einwandsfrei hervor. In einem
Fall ergab die Sektion eine nur leichte Arteriosklerose, Gliawucherung und braune
Pigmentierung der Rindenzellen. Ich möchte aber doch vermuten — nach ähnlichen
Fällen meiner Beobachtung —, daß es sich hier um organische Hirnerkrankungen
auf alkoholischer Basis handelt.
Schröder (241) berichtet über elf Fälle von Dipsomanie; darunter war keiner
mit genuiner Epilepsie. Bei einem war Epilepsie in der Familie vorgekommen,
ein anderer litt an Hemikranic, drei waren Degenerierte, einer mit epileptoiden
Zügen, drei waren Spätepileptiker, darunter einer nach Schädeltrauma, einer mit
Diabetes. In der Diskussion dieses Vortrags betont Bonhöffer, daß die periodische
Trunksucht mit echter Epilepsie wenig zu tun hat. Wenn man sie eine zeitlang
zur Epilepsie gerechnet hat, so kommt das davon, daß man die periodischen Zu¬
stände, die bei allen Degenerierten in Form von Verstimmungsattaken, epilep¬
toiden Krämpfen usw. Vorkommen, übersah.
Alexander (4a) beschreibt als Reflexepilepsie die Erkrankung eines 32jähr.
Mannes, der seit einem Jahr echtepileptische Anfälle mit einer von einer Finger-
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214 *
Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
narbe ausgehenden sensiblen Aura und von halbseitigem Charakter bat: aafkrc-r
gehen die Anfälle mit Bewußtseinsverlust und Urinabgang einher und es hs
im Laufe eines Jahres eine „epileptische Veränderung“ der Psyche einsts-,
Hysterie ist ausgeschlossen.
Berger (22a) teilt den Fall eines bis dahin gesunden 22jährigen Mensu-■
mit, der beim Beginn einer gutartig verlaufenden Appendizitis zum erstreik
bei großer Hitze und starker körperlicher Anstrengung echt epileptische At!l
bekam, die auch nach der gut gelungenen Appendixoperation noch öfter aufm - -:.
Der genaue Nervenstatus weist einige hysterische Symptome (Fehlen des Ganan
reflexes, Zonenanalgesie) auf; aber die Anfälle waren von Pupillenstarre begfc '
Auf ähnliche Beobachtungen Bemdts wird hingewiesen.
Gallus (90) gibt eine kritische Betrachtung der exogenen lind endocw
Momente, welche Anfallshäufungen hervorrufen können. Aus dem Vergleiche-:
Anfallsstatistik eines größeren Krankenmaterials mit den Kurven der roco -
logischen Station ließ sich kein gesetzmäßiger Zusammenhang zwischen AnfiL-
häufungen und meteorologischen Vorgängen (Besonnung und Bewölkung, Mi.
phasen, erdmagnetische Schwankungen, Luftdruckschwankungen) nach*?;*:.
Etwas mehr .Einfluß muß individuellen physiologischen Vorgängen 1
nährung, Menstruation, Schlaf, Ruhe und Beschäftigung) zugcbilligt w>ro-:
ohne daß auch hier absolut gütige Zusammenhänge zu ermitteln sind.
Bcnon (20) beschreibt als atypische epileptische Anfälle solche bei «t-:
19jähr. Mädchen; die Anfälle setzen plötzlich ein, beginnen gelegentlich mit em-*
Aufschrei und sinnlosem Weglaufen, dann kommen tonische, nie klonische Krimi*
absolute Starrheit, kein Zungenbiß, kein Urinabgang, und nach fast einst ünct:
Dauer terminaler Schlaf; darnach totale Amnesie. Das ganze Bild des Anti -
erinnert an Hysterie; trotzdem hält es Verf. für einen echten epileptischen. •< :
gewöhnlichen Typus abweichenden Anfall.
Laquer (166) sah bei einem 64jähr. arteriosklerotischen Manne im Ansrii.
an Asphyxie durch Steckenbleiben eines Fleischbrockens im Schlund allgen*-'
Krämpfe von echt epileptischem Charakter auftreten. Er sieht die Beduin - -
dieser Beobachtung darin, daß sie die alte Streitfrage entscheiden kann, ob
Krämpfe nach Strangulationsversuchen durch Kehlkopfverschluß, KarotisLr
pression oder Vagusreizung zustande kommen. Nach der Beobachtung Latp- r '
genügt Kehlkopfverschluß allein.
Dseninsky (66a) sammelte aus der Literatur 18 Fälle der Koshetmikoustk-:
Epüepsia continua, denen er zwei eigene Beobachtungen hinzufügen konnte. i r
der Schüderung der Symptomatologie dieser Erkrankung beschäftigt sich
Verf. vor allem mit der Lokalisation und dem Charakter der andauernd w-
handenen Krämpfe. Es handelt sich um schnelle Zuckungen, deren lokomotoriscb'
Effekt nur sehr gering ist. Die Intensität ist bei verschiedenen Patienten,
auch bei demselben Kranken zu verschiedenen Zeiten verschieden. Die Lok»,
sation ist verschieden und meist ziemlich ausgedehnt. Die eigentlichen epüeptisel*'
Anfälle tragen einen kortikalen Charakter. Sie setzen stets in den Stellen ein.
denen die ständigen Krämpfe lokalisiert sind. Sie hinterlassen oft transitorisd*
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Weber, Neurosen und Schilddrüsenerkrankungen.
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Paresen in den beteiligten Körperteilen. Es werden aber auch dauernde, von
diesen Anfällen unabhängige Lähmungen sehr häufig beobachtet.
Aus der Analyse des Verlaufs und der pathologischen Anatomie der eigenen
sowie der der Literatur entnommenen Fälle kommt D. zu dem Schlüsse, dafi es
sich bei dem Koshetmikotoschen Symptomenkomplex nicht um eine Krankheit
sui generis, sondern um eine chronische Encephalitis oder Meningo-encephalitis
mit bestimmter Lokalisation handelt. (Fleischmann-Kiew.)
Bumke (42) beschreibt Intentionskrämpfe, die auftreten, wenn bestimmte
Bewegungen oder Muskelkontraktionen mehrmals nacheinander oder besonders
kraftvoll ausgeführt werden. Ihr familiäres Auftreten, obwohl die myotone Reak¬
tion dabei fehlt, rechtfertigt es, die Fälle als eine besondere Abart der Thomsen-
schen Krankheit zu bezeichnen.
Allere (4b) bespricht die über die postepileptische Albuminurie aufgestellten
Theorien, die er alle für nicht einw’andsfrei hält. Auf Grund der Untersuchungen
von M. H. Fischer über die Quellung von lebenden tierischen Geweben in Säuren,
die durch Veränderung der Kolloide bedingt ist, erklärt sich auch die NephTitis
und Stauungsalbuminurie als eine durch Acidose hervorgerufene. Ganz ähnlich
erklärt Alters die Albuminurie nach dem epileptischen Anfall. Die Acidität des
Harns ist nach dem epileptischen Anfall gesteigert und zw'ar hauptsächlich durch
Ausscheidung von Phosphorsäure und Milchsäure. Demnach ist die postparoxys¬
male Albuminurie eine Folge der Säurequellung der Nieren, die ihrerseits durch
die postepileptische Acidose bedingt wird.
M. Meyer (192a) hat die früher von Krainski und Cent unternommenen Ver¬
suche über die Toxizität der Körpersäfte der Epileptiker wieder aufgenommen.
Aseptisch entnommenes Blutserum von Epiletikern vor, während und zwischen den
Anfällen wurde Meerschweinchen intraperitoneal eingespritzt. Dabei ergaben sich
typische mit tonisch-klonischen Krämpfen sämtlicher Extremitäten einher¬
gehende Anfälle, wobei die Tiere meist in Seitenlage waren, während Kontroll-
tiere, die mit Serutu anderer Neurosen und Psychosen gespritzt wurden, ganz
gesund blieben oder nur vereinzelte Zuckungen aufwiesen. Auch das Serum
genuiner Epileptiker und anderer Epilepsieformen zeigte bemerkenswerte
qualitative Unterschiede in der Wirkung. Die krampferzeugende Wirkung ist
an das Serum, nicht an die Blutkörperchen gebunden.
Gamett (91) suchte auf den Weg der Komplementablenkung toxische Eigen¬
schaften des Blutserums und des Urins der Epileptiker aufzudecken. Das Serum
der Epileptiker enthält einen spezifischen Antikörper für das im Urin von Epi¬
leptikern enthaltene Toxin; ein solcher ist im Serum nicht epileptischer Personen
nicht enthalten. Im Urin einzelner nicht epileptischer Menschen und im Urin
Geisteskranker findet sich eine toxische Substanz, die im Urin von Epileptikern
eine schwächere Komplementablenkung hervorrufen kann. Gametl gibt aber selbst
an, daß seine Resultate nur einen Vergleichswert haben und noch keine Bedeutung
für den diagnostischen Nachweis der Epilepsie beanspruchen.
Damatje (68) bespricht seinen ätiologischen Standpunkt in der Epilepsie-
frage dahin, dafi er eine pathologische Konvulsibilität der Rindenzellen an-
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216*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
nimmt, die angeboren oder durch eine Hirnerkrankung erworben sein kann (apt -
tude convulsive). Ist diese Konvulsibilität sehr ausgesprochen, so genagt ri?
um ohne äußere Ursache die Epilepsie zu zeitigen; in geringerem Grade bleibt s*
latent und wird eines Tages manifest unter dem Einfluß von toxischen oder er-
zündlichen Schädigungen. Symtomatologisch unterscheidet Damaye drei Sud:?:
im Verlauf der Epilepsie: Die Phase der attakenweise auftretenden Anfäfle bl*
vorübergehenden Dämmerzuständen, die Phase des dauernden chronischen Dämoff-
zustandes, der aber noch keine Demenz ist, und die demente Phase. Auch die sein:
dären histologischen Veränderungen im Großhirn sind verschieden bei der zwen«
und dritten Phase.
Benon (21) beschreibt als postparoxysmale „Astheno-Manie“ einen Zu¬
stand, der nach dem epileptischen Anfall einsetzt, mit einem Gefühl der körper¬
lichen und geistigen Schwäche, Müdigkeit und Leistungsunfähigkeit beginnt urt
allmählich übergeht in eine manische Erregung mit gehobener Stimmung, Vor-
Stellungsbeschleunigung, Bededrang und Bewegungsdrang; auch dieser Zusta^;
klingt allmählich, oft durch einen Schlaf vermittelt, ab und es tritt der früher»
Geisteszustand wieder ein. Verwirrtheit braucht dabei nicht zu sein; die Erinnemr
an den Zustand kann erhalten bleiben.
Ermakow (73) beschreibt als Oligophasie einen nach epileptischen Anfälle
auftretenden Zustand, in welchem der Kranke spricht, als ob er eine fremde vor¬
läufige Sprache spräche. Er findet für die einzelnen Gegenstände, die ihm im übrke:
geläufig und bekannt sind, keine Bezeichnung, kann den Ausdruck aber umschreibt
Gelegentlich ist dabei die Fähigkeit, die Bezeichnung schriftlich wiederaxgeb«
erhalten; in anderen Fällen ist sie auch gestört. E. hält dies Symptom nicht fc
absolut spezifisch, aber für sehr häufig bei der Epilepsie vorkommend.
Maeder (174) schildert einen forensisch interessanten Fall eines Arbeite
der triebartig wiederholt schwarzen großen Frauen auf der Straße die Klexk
mit einem Schokoladebrei übergoß und dabei eine gewisse, vielleicht sexuelle £<-
friedigung empfand. Die Beobachtung ergab einige Anfälle ziemlich einwandsfr-
epileptischer Natur. Nach den Angaben des Pat. befand er sich auch zurzeit de
Tat in einem traumhaften Bewußtseinszustand, obwohl die Erinnerung an Enud-
heiten ungestört war. Verf. versucht weiter, den Inhalt der Triebhandlung »i
einige sexuell gefärbte Komplexe im Vorleben des Pat. zurückzu führen und sek
in dem Ergebnis des Assoziationsexperiments die Bestätigung dieser Anschauung.
H. Fischer (81), der Breslauer Chirurg, versucht wieder einmal zu erweiset,
daß der Apostel Paulus an Epilepsie gelitten habe. Dabei erfahren wir, daß nebc
anderen weltgeschichtlichen Größen nun auch Helmholz unter die Epileptiker
gezählt wird. Und ferner verlangt Fischer , daß wir außer an Epilepsie des Apostel;
auch daran glauben sollen, daß das Ereignis von Damaskus nun doch kein epilep¬
tisches Äquivalent war, sondern nach wie vor als eine direkte göttliche Einwirkung
aufgefaßt werden müsse.
Collins (63) berichtet über 10 plötzliche Todesfälle im Verlauf von epi¬
leptischen Anfällen. Bei zwei davon fanden sich Nahrungspartikel in den Luft¬
wegen, einer kam durch Erstickung im Anfall während der Nacht zustande, in
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Weber, Neurosen und Schilddrüsenerkrankungen.
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inem Fall wurden Klappenfehler, in zwei Fällen adhäsive Perikarditis, in drei
'allen fortgeschrittene fettige Degeneration des Herzens, in einem Fall ein Him-
umor gefunden.
Auch Schubert (242) kommt in einer Dissertation aus der Würzburger Klinik
.uf Grund der Statistik der dortigen Epileptikerpfründe zu dem Resultat, daß
ler direkte epileptische Tod, d. h. der durch die Epilepsie als Himerkrankung
»edingte Tod, selten ist, daß vielmehr die Epileptiker häufig sehr langlebig sind.
Marchand (178) kommt zu ähnlichen Resultaten bezüglich der in der Lite-
-atur beschriebenen epileptischen Todesfälle und berichtet über zwei eigene Beob¬
achtungen von Epileptikern, die nach wenigen Anfällen starben. Es fand sich
keine weitere Todesursache als starke kongestive Hyperämie der weichen Hirn¬
häute und der Hirnsubstanz und in dem einen Fall stärkere Füllung der Gefäße
im verlängerten Mark unter dem 4. Ventrikel und Blutungen aus diesen Gefäßen
in der Gegend der Vaguskerne.
Zappert (289a) bringt eine zahlreiche und interessante Kasuistik, ans der
hervorgeht, daß die kindliche Epilepsie in ihrer Prognose doch nicht so ungünstig
ist, als man gemeinhin a nnimm t. Es gibt doch eine ganze Reihe von Fällen, auch
solche mit den immer für ungünstig gehaltenen Absenzen, bei denen teils spontan,
teils nach verschiedenartiger Behandlung wesentliche Besserung oder Heilung
auftritt. Freilich betont auch Z., daß man bei epileptischen Erscheinungen im
Kindesalter die Diagnose Epilepsie immer nur mit Vorsicht stellen darf, weil sich
darunter die verschiedenartigsten organischen und funktionellen Erkrankungen
verbergen, wie auch aus seiner Kasuistik hervorgeht.
Collins (53) gibt einen Überblick über therapeutische Erfolge. Für ihn
ist das beste Mittel die koloniale Behandlung der Epileptiker mit möglichst langem
Aufenthalt in der Luft, eine fleischarme (nicht fleischlose) Diät. Brompräparate
will er nur bei Häufung von Anfällen angewendet wissen und glaubt, daß ein Teil
der epileptischen Demenz durch Brom herbeigeführt sei. In einigen Fällen Bei
durch Brom die Aura vor den Anfällen verschwunden, so daß das Zusammen¬
stürzen unvermutet und zum Schaden der Kranken erfolgt sei. Von Digitalis will
er in einigen Fällen gute Erfolge gesehen haben, gibt aber keine bestimmte Indi¬
kation an.
Ingerlans (126) beschreibt zur Geschichte der Epilepsietherapie die ander¬
weitig schon bekannte Tatsache, daß Locock die Brompräparate in die Behandlung
einführte und erzählt die Vorgeschichte dieser Entdeckung. Veranlassung gab
dazu eine deutsche Arbeit von Otto Graf, der die lähmende Wirkung des Broms
auf den Geschlechtstrieb beschrieb. Locock , von Haus aus Gynäkologe, wollte
damit Epilepsien beeinflussen, die er auf sexuelle Erregung zurückführte.
Joedicke (128) hat die von namentlich außerdeutschen Autoren mit Borax
gemachten Behandlungsversuche bei Epileptikern nachgeprüft. Die günstigen
Erfolge, über die namentlich dänische Ärzte ( Oerum ) berichten, hat er nicht ge¬
sehen. Er gab bei 14 Epileptikern Natr. bibor. in Dosen steigend von 0,9 bis 2,0 g
nach den Mahlzeiten. Nur in zwei Fällen wurde eine wesentliche Besserung in
bezog aof Abnahme der Anfälle und auf Hebung des Allgemeinbefindens gesehen.
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
Bei zwei Pat. traten urtikariaartige Exantheme und Haarausfall auf, bei der w_v
noch kompliziert durch ödem der Beine, Dyspnoe, Herzstörungen und Eisr^
Bei den meisten Pat. nahm das Körpergewicht ab.
Joedicke (129) bekämpft die Anschauung, daß Bromkali Nachteile zw-
über dem Bromnatrium habe. Er bevorzugt es sogar mit der Begründung. L.
man durch Bromkali eine schnellere Entchlorung des Körpers erreiche als dar:
Bromnatrium, weil bei Einverleibung von Bromkali im Körper Chlorkaliun
bildet würde, das rasch ausgeschieden wird. Bei Dosen von unter lö g Bromla
wird keine Herzschädigung beobachtet.
Froehlich (88) bespricht die in der ambulanten Praxis anwendbaren b-
handlungsmethoden der Epilepsie. Er rät zu fleischarmer und kochsahanL'
Diät und empfiehlt als Ersatz für die Bromalkalien Sabromino Dosen von 3 1
4 g. Er hebt besonders hervor, daß damit Bromakne vermieden wird und *ix.
überhaupt keine unangenehmen Nebenerscheinungen auftreten.
M. Lion (166) empfiehlt eine von ihm dargestellte Kombination von Natmi
cacodylicum und Cerebrin Poehl, das subkutan gegeben wird. Damit sollen seh¬
nlich einigen Monaten weitgehende Erfolge zu erzielen sein.
Fackenheim (78) hat auf Empfehlung amerikanischer Ärzte das Gift c
Klapperschlange — Krotalin — in der Epilepsiebehandlung versucht, wie er ai-
führt, auf die Beobachtung gestützt, daß das Schlangengift in seinen beiden ei*r:;-
artigen Substanzen lähmend auf das Nervensystem und gerinnungshemmend ».
das Blut wirke. Ein Zusammenhang mit der Pathogenese der Epilepsie ist dtru<
allerdings nicht ohne weiteres zu erkennen. Trotzdem will er damit gute Erf«L
gesehen haben, namentlich bei frischen Fällen von Epilepsie. Das Gift wird ■
kleinen Dosen subkutan eingespritzt und macht zunächst eine sehr starke k>L.-
Reaktion, die bei steigender Dosis geringer wird. Das Allgemeinbefinden wird ca -
nicht beeinträchtigt.
Heinrich (112) empfiehlt die Kombination von Baldrianinfus und Brom v
hat zu diesem Zweck unter dem Namen Spasmosan ein Präparat hergestellt, d-
in kalt bereitetem Baldrianinfus Bromnatrium, Glyzerinphosphorsäure, CastA'»
Sagrada und etwas Eisen enthält. Die Kombination verschiedener Nervin* >
intensiver wirken und die Anwendung höherer schädlicher Dosen des eiazeb":
Mittels unnötig machen.
Müller (200) und Rieger (223) teilen Vergiftungsversuche mit Bromural n ’
die nur zu tiefem über 24 Stunden dauernden Schlaf ohne besondere schv-r-
Nebenwirkungen führten.
French (83) gibt eine zusammenfassende Darstellung der Therapie, die
erster Linie eine kausale sein soll, sowohl in bezug auf die prädisponierenden, i-
die auslösenden Ursachen. Von den Brompräparaten will er nicht viel wissrf
empfiehlt aber besonders einige Drogen: Verbena (Eisenkraut) und Solanuc
(Nachtschatten), die teils tonisierend, teils antispasmodisch wirken sollen. Aut
bei Besserungen müssen die Medikamente durch das ganze Leben fortgep-b
werden. Bei den diätetischen Maßregeln tritt er für fleischarme, aber nicht tc
absolut vegetarische Kost ein.
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Weber, Neurosen und Schilddrüsenerkrankungen.
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In einem Bach von über 300 Seiten beschreibt Rosenberg (228) seine Epi-
psiebehandlung, die hauptsächlich in der Anwendung des Epileptol besteht,
as Buch tritt aber mit dem Anspruch auf, eine neue individuelle Behandlungs¬
iet hode zu inaugurieren, die sich auf angeblich neue Tatsachen der Pathogenese
ützt. Die letzteren bestehen in der Aufdeckung der „epileptisch-molekularen
der molekular-physikalischen“ Veränderungen des Gehirns, ganz unklar und
bsolut oberflächlich aufgefaßten Beziehungen zwischen Blutdruck und Hirn-
orgängen und falschen Anschauungen über den Stoffwechsel. Inhalt und Stil
es Buches, das in jedem Kapitel unbewiesene Vorwürfe gegen die „schematische
Behandlung der Schulmedizin“ bringt, sind, gelinde gesagt, marktschreierisch,
uf die Wirkung auf ein Laienpublikum berechnet und deshalb auch am Schlüsse
lit einem Lexikon der vom Verf. gebrauchten Fachausdrücke versehen. Der
ible Eindruck des Buches wird verstärkt durch einige im Rcklameton gehaltene
tezensionen, die dem Rezensionsexemplar beigegeben sind. Nicht wegen der
»onderstellung des Verf., sondern wegen der in ihm zutage tretenden ärztlichen
md wissenschaftlichen Ethik ist das Buch eine betrübliche Erscheinung.
Joedicke (128) hat Versuche mit einem unter dem Namen Zebromal in den
Iandel gebrachten Präparat, das ein Dibrom ziramtsäureäthylester ist, Heil¬
te r suche bei Epileptikern gemacht. Es enthält 48% Brom und soll nicht die schäd-
ichen Nebenwirkungen der anorganischen Bromsalze haben. Bei leichteren Fällen
wurde Besserung mit 2—3 g pro Tag erzielt, bei schwereren mit 4—7 g, bei ganz
schweren Fällen mit häufig auftretenden Paroxysmen und psychischen Verände-
'ungen konnte das Präparat die Bromalkalien nicht ersetzen.
Joedicke (127) hat die Theorien v. d. Wyß und v. d. Velden über das Ver¬
hältnis zwischen Chlor und Bromsalzen in sehr interessanten Versuchen nach¬
geprüft. Nach der Annahme dieser Forscher sollte die antiepileptische Wirkung
des Bromsalzes nur darauf beruhen, daß es das krampferzeugende Chlornatrium
rasch aus dem Körper eliminiere; demgemäß wirke auch die kochsalzarme Diät
ausschließlich durch die Kochsalzentziehung antispasmodisch. Joedicke hat seine
Versuche bei 10 Epileptikern sehr sorgfältig angestellt, indem er sie erst eine vier¬
wöchentliche Bromkarenzzeit durchmachen ließ, bis von der früher gegebenen
Brommedikation nichts mehr nachzuweisen war. Dann setzte er vier Wochen lang
eine kochsalzarme Nahrung ein, die bei gemischter Kost etwa 0,8—1,5 g Koch¬
salz in den Körper brachte; dann gab er einige Zeit Nahrung von gewöhnlichem
Kochsalzgehalt und schließlich vier Wochen lang Nahrung mit 30—40 g Koch¬
salz täglich. Das Ergebnis dieser Versuche widersprach den theoretischen An¬
schauungen: Die kochsalzarme Nahrung führte zu schweren physischen und
psychischen Störungen: Gewichtsabnahme, delirante und stuporöse Zustände,
ohne Abnahme der epileptischen Anfälle. Eine Bromakne heilte bei der kochsalz¬
armen Diät. Die Übersättigung des Organismus mit Kochsalz wurde viel besser
vertragen. Daraus muß man schließen, daß bei den Epileptikern nicht das Defizit
von Chlorionen, sondern eine spezifische Bromionenwirkung die therapeutischen
und toxischen Veränderungen herbeiführt.
Leuxmdowsky (165) hat bei einem Fall von traumatischer Epilepsie, bei dem
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220*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
Jaksonsche und echt epileptische Anfälle auftraten, an der entsprechenden St*
trepanieren lassen. Es wurde zwar ein ziemlich hoher Himdruck, aber kein kk*'
Herd gefunden. Trotzdem war die Fat. nach der Trepanation geheilt.
Unter der Überschrift „Die psychische Behandlung der Epilepsie“ '
Steckei (262) drei Fälle mit, in denen es sich gar nicht um Epilepsie, sondern es
P sychopathen mit Zwangszuständen, hysterischen Symptomen und emzriz=-
Bewußtseinsstörungen handelt. Auch aus seinen einleitenden Bemerkungen ä.
hervor, daß er gar keinen wesentlichen Unterschied macht zwischen echter Epi¬
lepsie und solchen Zuständen, sondern die letzteren als Hysteroepilepsie, ah
Unterabteilung der Epilepsie auffaßt. Bei solchen Fällen soll die Psyehoacai~»
Heilung erzielen. Hier handelt es sich aber gar nicht um wirkliche Epikp*
sondern nur um falsche Diagnosen, indem andere psychopathische Zustände .v
Epilepsie gehalten wurden. Das weiß man schon längst, daß solche Psychopath
suggestiv, also gelegentlich auch durch die Psychoanalyse geheilt werden körc- .
Dann darf man aber nicht von Heilung der Epilepsie reden.
Maier und Oberholzer (176) geben eine zusammenfassende Darstellung dr¬
in Nordamerika erlassenen Gesetze bezüglich Kastration und Sterilisation kns-
neller und psychopathischer Individuen und der in der Schweiz in dieser Huts#-*'
gemachten Erfahrungen. Darunter werden auch einige Epileptiker erwähn!.
B. Chorea und andere motorische Neurosea
Guizzetti und Camisa (106) haben fünf Fälle von Chorea, darunter zwei er
tödlichem Ausgang, auch mikroskopisch untersucht und kommen zu dem Bessin:
daß es sich dabei um eine disseminierte Enzephalitis handelt mit Beteiligung «•*
Pia, verbunden mit ischaemischen Herden in der Himsubstanz, die durch Emb^
sierung kleinster Arterien hervorgerufen werden. Die Lymphscheideninfikr:''
und die Vermehrung der perivaskulären Glia, die von den Verf. gefunden Ent¬
halten sie selbst nicht für einen spezifischen Befund der Chorea. An den Gan 6 b<':-
zellen sind geringfügige Veränderungen festzustellen. . j
Pighini und Älzina (213) untersuchten den Stoffwechsel in einem Fall e ■:
chronischer Chorea. Sie fanden vor allem den Stickstoffwechsel verändert, V«-
minderung des Harnstickstoffs und Vermehrung des ammoniakalischen St:«-
Stoffs bei ausgiebiger Muskelarbeit. Es muß daraus auf eine Vermehrung e*
Kreatinins und des Ammoniaks während der Muskeltätigkeit geschlossen verc-i
und die Verf. führen diese Veränderungen auf die geänderten Tonusverhätau*-
der Muskulatur zurück.
Marchand und Petit (180) teilen zwei Fälle von Syderihamscher Chorea nrt
psychischen Störungen mit. Im ersten Fall trat die Psychose akut im Verla:
der Chorea auf und ging mit dieser in Heilung über. Im zweiten Fall folgte d*:
akut ersetzenden Chorea eine chronische Psychose vom Charakter der Dementa
praecox. Die Verf. fassen alle diese und ähnliche psychische Störungen bei de
Chorea auf als den Ausdruck des zugrunde liegenden Himprozesses, der Enzepha¬
litis, die je nach Intensität, Verlaufsform und Lokalisation akute oder chronisch*-
motorische oder psychische Störungen machen kann; sie meinen, daß die akute
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Weber, Neurosen und Scbilddrüsenerkrankungen.
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Enzephalitis der Sydenhamschen Chorea übergehen kann in einen Zustand chro¬
nischer Sklerose der Rinde, der das klinische Bild der Dementia praecox erzeugt.
Auch die psychischen Störungen und Intelligenzdefekte der Huntingionschen Chorea
sind nur quantitativ verschiedene, aber pathogenetisch gleiche Bilder auf der Grund¬
lage der Himerkrankung. Auf einen ähnlichen Standpunkt steht Mapother (177),
der auch auf die allen Choreaformen eigenen organischen Veränderungen hinweist
und sie für die Grundlagen der gelegentlich auftretenden psychischen Symptome
hält. Auch die senile Chorea wird von diesen Gesichtspunkt aus aufgefaßt. Un¬
abhängig davon ist die hysterische Chorea, von der Verf. zwei Typen, die ryth¬
mische und arythmische, beschreibt.
Ph. JoUy (131) teilt zwei Fälle von Psychosen bei akuter Chorea, die eine
mit tödlichem Ausgang, mit und gibt eine Darstellung der Ätiologie und Klinik
der Erkrankung. Er kann sich nicht zu der Auffassung einer einheitlichen infek¬
tiösen Ätiologie der Chorea bekennen; neben angeborener oder erworbener indi¬
vidueller Disposition kommen Infektionskrankheiten, psychische Einflüsse und
Generationswechsel in Frage; ihre Wirkungsweise ist aber noch nicht klargestellt.
Auch die psychischen Bilder sind nicht einheitlich und für die choreatische Grund¬
erkrankung nicht spezifisch.
Schuppius (243a) hat zwei Fälle von chronischer Chorea mit den gebräuch¬
lichen Intelligenzprüfungsmethoden untersucht. Er fand erhebliche Störungen der
Aufmerksamkeit, ausgesprochenen Defekt des Gedächtnisses und der Merkfähigkeit,
daneben aber und über den durch diese Störungen bedingten Umfang hinaus¬
gehend auch eine Einschränkung der ganzen intellektuellen Leistungsfähigkeit,
insbesondere auf dem Gebiet der Urteilsbildung. Es handelt sich also um eine
wirkliche Verblödung.
Aus der Kieler Klinik werden in Dissertationen Fälle von chronischer Chorea
beschrieben.
Ermen (73) schildert die Erkrankung bei Vater und Tochter, vielleicht
bedingt durch chronischen Alkoholismus in der Ascendenz. In dem Fall von Heü
(111) ließ sich eine neuropathische Disposition der Eltern, bei dem Pat. selbst
(rehimhautentzündung in der Jugend feststellen; die Erkrankung kam im 26. Lebens¬
jahr im Anschluß an psychische Erregung zum Ausbruch und verlief typisch.
Schilder (238) hat bei einem 4jähr. hemiplegischen Kind eine genaue Ana¬
lyse der in der gelähmten Extremität auftretenden athetotischen Bewegungen
vorgenommen, indem er Kurven der einzelnen Muskelkontraktionen schreiben
ließ. Das Kind starb später und es fand sich ein Herd in der Gegend der basalen
Ganglien und einer am Oberwurm des Kleinhirns. Die Analyse der Kurven ergab,
daß die scheinbar rythmischen Bewegungen in Wirklichkeit nicht gleichmäßig
sind, daß die Kontraktionen in allen Muskelgruppen gleichzeitig sind und daß
zwischen den einzelnen Kontraktionen keine selbständigen Spannungsänderungen
der Muskeln Vorkommen. Verf. schildert dann die Unterschiede zwischen chorea¬
tischen und athetotischen Bewegungen: bei der Chorea rasche Zuckungen in
wenig variierter Kombination, Hypotonie. Bei der Athetose: langsame Bewe¬
gungen, fließende Übergänge aus einer abnormen Stellung in die andere; Spas-
Zeitschrift ftir Psychiatrie. LIIX. Lit. q
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
mus mobilis. Aber beide Störungen sind nur motorische Symptomenkomplexe,
deren einzelne Elemente in jeder Kombination Vorkommen können. Es ist wichtig,
den Mechanismus der einzelnen Elementarstörung zu erforschen. Beide Bewe¬
gungsstörungen sind Rei7symptome, die choreatischen wahrscheinlich der sub¬
kortikalen motorischen Zentren, die athetotischen wahrscheinlich bedingt durch
Reizung der Großhirnrinde von den subkortikalen Zentren her durch die Pyra¬
midenbahn oder die anderen extrapyramidalen motorischen Bahnen. Beim Zu¬
standekommen spielen wahrscheinlich eine Rolle Einwirkungen reizauslösender
Herde auf ein schon anderweitig geschädigtes motorisches System mit.
Jacobsohn (123) beschreibt bei einem 45jähr. Manne auftretende tonische
Krampfzustände im Bein, so daß der Pat. nur auf den Fußspitzen stehen kann,
die Achillessehne deutlich hervortritt, der Gang ein klebender, schleppender ist.
Da organische Erkrankungen, auch Myotonie, auszuschließen ist, bezeichnet Verf.
den Zustand als eine funktionelle Tonusneurose.
Burrike (42) beschreibt tonische Intentionskrämpfe, die bei schnellen, ge¬
wollten Bewegungen, z. B. bei Übung des Paradeschrittes, auftreten. Sie sind
familiär, aber die elektrische und mechanische Muskelerregbarkeit ist dabei unver¬
ändert. Aus diesem Grunde will er auch den Zustand nicht ohne weiteres der
Myotonie zurechnen, wenn auch ein gewisser Zusammenhang nicht auszuschließen
ist. Gegen einen hysterischen Ursprung des Leidens führt er vor allem das familiäre
Auftreten an.
Heilig (110) beschreibt aus der Straßburger Klinik einen Fall von Para¬
myoklonus multiplex, der durch selten auftretende echte epileptische Anfälle kom¬
pliziert ist. Im Anschluß daran wird die nosologische Stellung des Paramyo¬
klonus erörtert. Abzutrennen ist der bei organischen Gehimerkrankungen gelegent¬
lich symptomatisch auftretende Paramyoklonus. Die eigentliche Friedreichschc
Krankheit steht in naher Beziehung zur Epilepsie oder in anderen Fällen zur
Hysterie. Dagegen ist das Krankheitsbild von der Chorea deutlich abzugrenzen.
Die Mechanik des Paramyoklonus ist als eine Sejunktion der höheren motorischen
Zentren von den subkortikalen aufzufassen.
Vottand (268) hat vier Fälle von Paramyoklonusepilepsie histologisch unter¬
sucht. Er fand in der Hirnrinde geringe, nicht charakteristische Zellveränderungen,
im Rückenmark übereinstimmend, nur entsprechend der Schwere des Krank¬
heitsbildes verschieden, karyolitische und tigrolytische Vorgänge an den Vorderhorn¬
zellen, Hinausrücken des Kernes an die Peripherie oder außerhalb der Zelle, ferner
eigentümliche Beziehungen zwischen Ganglienzellen und Kapillaren, die als Aus¬
druck von Abbauvorgängen zu deuten sind. Dieselben Veränderungen finden sich
auch in den motorischen Hirnnervenkernen. Verf. glaubt, daß diese chronischen
Abbauprozesse das Rückenmark und die Medulla oblongata in einen erhöhten
Erregbarkeitszustand gegenüber allen ihnen zufließenden Reizen versetzen, der
klinisch in den myoklonischen Symptomen zum Ausdruck kommt.
Lafora und Glueck (152) haben gleichfalls einen Fall von Paramyoklonus
klinisch und histologisch untersucht; wegen der Kombination mit häufigen epi¬
leptischen Anfällen bezeichnen sie das Krankheitsbild als myoklonische Epilepsie.
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Weber, Neurosen und Schilddrüsenerkrankungen.
223*
Sie fanden im ganzen Gehirn und in allen grauen Maasen, vor allem aber in der
zweiten und dritten Rindenschicht, zahlreiche Amyloidkörperchen im Innern der
Ganglienzellen, perivaskuläre Blutungen, Gli&vermehrungen. Die Beteschen Zellen
and die Vorderhornzellen des Rückenmarks waren frei von diesen Amyloid-
körperchen. Über die Entstehung dieser Befunde äußern sie keine Vermutung,
lassen aber die Möglichkeit, daß sie doch eine ätiologische Rolle bei dem Zustande¬
kommen der Krankheitserscheinungen spielen, offen. Die Befunde decken sich
gar nicht mit den oben erwähnten Vollends ’,sie haben aber doch gewisse Beziehungen
dazu, insofern als es sich auch um Abbauvorgänge handelt.
Mendel (192b) gibt eine umfassende Darstellung der Paralysis agitans, unter
Berücksichtigung der gesamten Literatur und unter Mitteilung eigener Beob¬
achtungen.
Willige (283a) kommt in einer kritischen Besprechung des Literaturberichts
zu dem Resultat, daß die meisten Fälle von jugendlicher Paralysis agitans sich
nicht als solche erweisen; nur zwölf sind einwandsfrei; der jüngste davon im
20. Lebensjahre. Das klinische Bild gleicht dem der präsenilcn Paralysis agitans;
differentialdiagnostisch kommt nur multiple Sklerose in Betracht. Ätiologisch
weist das familiäre und hereditäre Auftreten darauf hin, daß diese Fälle vielleicht
eine eigene Gruppe bilden. Uber ähnliche Fälle berichtet Bonhöfter (34).
Tilney (262) beobachtet bei vielen Fällen von Paralysis agitans eine abnorme
Stellung des Kopfes und der Wirbelsäule, so daß die eine Schulter gehoben, die
andere gesenkt ist, und daß die Längsachse des Kopfes einen Winkel mit der Längs¬
achse des Rumpfes bildet.
Ziehen (290) beschreibt eigenartige funktionelle Krampfzustände von toni¬
schem Charakter im Bereich der Extremitäten, des Kopfes und Rumpfes. Es
können hier infolge des fast ununterbrochen bestehenden Krampfes Verkrüm¬
mungen, z. B. der Wirbelsäule auftreten. Vielleicht spielt in der Ätiologie here¬
ditäre Belastung eine Rolle. Die Differentialdiagnose gegen andere Krampf¬
neurosen wird erörtert. Ziehen bezeichnet die Fälle als chronische Torsionsneurose.
C. Neurosen.
In Form eines größeren Lehrbuches behandelt 0. Domblülh (65) das ganze
Gebiet der sog. Psychoneurosen. Er gruppiert diese Erkrankungen dabei in die
Neurasthenie, worunter er sowohl die endogenen, konstitutionellen Formen, als die
erworbenen versteht, die Hysterie und die Psychasthenie, worunter er Zwangs¬
zustände, Abnormitäten des Trieblebens und die chronischen Vergiftungen mit
Arznei- und Betäubungsmitteln beschreibt. Die drei Gruppen faßt er insofern
als nur graduell voneinander verschiedene Krankheitszustände auf, da sie alle
drei auf einer verschiedenen persönlichen Prädisposition beruhen, deren verschiedene
Stärke unter dem Einfluß der Lebensschädigungen entweder zur Neurasthenie,
zur Hysterie oder zur Psychasthenie führt. Alle drei Formen sind aber im wesent¬
lichen Störungen psychischer Natur, und zwar hauptsächlich bedingt durch Ab¬
normitäten des Affektlebens. Sehr gut und ausführlich ist die Therapie besprochen;
der erfahrene Praktiker gibt eine Darstellung aller Behandlungsmethoden unter
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224*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
nüchterner kritischer Beurteilung ihrer Bedeutung. Im ganzen bringt das Buch
nichts Neues, ist aber für jeden, der das schwierige und für den Praktiker so wich¬
tige Gebiet kennen lernen will, ein wertvolles Lehr- und Nachschlagebuch.
Auf die psychische Seite in der Pathogenese und den Symptomen der ge¬
wöhnlichen Neurosen weisen eine ganze Reihe von Arbeiten hin. So knüpft Burme-
mann (44) an einige Vorträge des letzten Neurologentages an, um die psychische
Seite bei der Genese der Angstzustände und der Zwangsvorgänge mehr zu betonen.
Auch bei der Wirkung der Suggestivbehandlung müssen die Imponderabilien der
Persönlichkeit berücksichtigt werden. Er erwartet einen Fortschritt der Nerven¬
heilkunde von der Heranziehung erkenntnistheoretischer Begriffe und Auffas¬
sungen gegenüber der jetzt noch in der Neurologie üblichen rein somatischen Be¬
trachtungsweise.
Freud (84) hat die psychoanalytische Methode in populären Vorträgen, die
er in Amerika gehalten hat, dargestellt. Er bringt darin nichts Neues, versteht
es, geschickt und maßvoll die historische Entwicklung und die psychologischen
Grundlagen seiner Lehre aufzuzeigen. Auch in dieser Publikation hält Freud an
der ausschließlich sexuellen Natur der ursächlichen Momente fest und bemerkt
nochmal, daß auch bei scheinbar anderer Ursache die weitere Aufdeckung der
Vorgeschichte dann mindestens kindliche Sexualtrauma ergebe.
Frank ( 83) will die im Unterbewußtsein schlummernden affektbetonten
Komplexe analysieren und zum Verschwinden bringen, indem er, nicht, wie Freud,
Traumanalyse treibt oder assoziieren läßt, sondern durch die Analyse der unter¬
bewußten Tätigkeit im Halbschlaf zustande bei erhaltener, oberbewußter Auf¬
merksamkeit.
Adler (4) will an einigen Beispielen zeigen, daß überall, wo in der Psycho¬
analyse ein Widerstand gegen die weitere Aufklärung auftaucht, es sich um über¬
triebene Sicherungsmaßregeln des Pat. gegen seine Regungen handelt. Dahin
gehört auch der männliche Protest gegen weibliche oder weiblich erscheinende
Regungen.
Jones (133), der eifrigste amerikanische Schüler Freuds, weist auf die Be¬
deutung der Traumanalyse für die Erkennung neurotischer Symptome hin, ohne
nach irgendeiner Richtung etwas Neues zu bringen.
Bleuler (31) unternimmt eine warme und sachliche Verteidigung der Freud-
schen Theorien. Dabei wendet er sich zuerst gegen die Kritiker Freuds und be¬
merkt, daß sie vielfach ohne persönliche Kenntnis der Freudschen Anschauungen
und seiner Methode und überhaupt der Tiefenpsychologie Vorgehen. An der Hand
seiner Anschauungen von der Bedeutung der Affektivität erscheinen ihm die
Freudschen Mechanismen als selbstverständlich. Manches andere bezeichnet er
als Hypothese, die erst noch bewiesen werden müsse. Vor allem wendet sich Bleuler
gegen die beweislose Ablehnung aller Freudschen Anschauungen.
Reichel (221) hat das Buch Pfisters über den Grafen Zinzendorf (vgl. Lite-
raturber. für 1910) kritisch besprochen. Er weist ihm historische Unrichtigkeiten
und eine falsche Auffassung nach.
Frank (83) führt das Stottern auf eine Verdrängung der Affekte im Unter-
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Weber, Neurosen und Schilddrüsenerkrankungen.
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bewußtsein zurück. Bei äußeren Anlässen — Komplexreizen — wird der Affekt
wieder manifest, kann aber nicht abreagieren und wird von neuem verdrängt.
Psychische Behandlung im hypnoiden Zustand ermöglicht das Abreagieren.
Rank (218a) analysiert die Lohengrinsage und die von ihr inspirierte Wagner -
sehe Dichtung und findet in ihr Zusammenhänge mit anderen ähnlichen Volks¬
sagen, die alle auf sexuelle Beziehungen hinweisen, insbesondere auf die Kon¬
flikte der Pubertätssexualität und ihre Verdrängung; namentlich soll die Bedeu¬
tung der Liebe zu den Eltern in ihnen ihren Ausdruck finden, ln ähnlicher Weise
analysiert Tausig (260) die Hamlettragödie und findet den Schlüssel für den Cha¬
rakter des Hamlet in seiner sexuellen Liebe zu seiner Mutter, die er zu verdrängen
versucht hat und die dann wieder wach wird. Es besteht also bei ihm auch der
„Oedipuskomplex“. In ähnlicher Weise sucht Abraham (0) die Bedeutung der
Liebe zur Mutter in Segantinis Leben und Werken zu analysieren.
Das Jahrbuch für psychoanalytische Forschungen (30) enthält in seinem
dritten Band einige Arbeiten von Freud, namentlich eine Analyse der bekannten
Autobiographie des Paranoikers Schreber, sowie Beiträge von Jung, L.
Binswanger, Pfister u. a., die sich aber mehr auf das Gebiet der Psychose
beziehen.
Das Zentralblatt für Psychoanalyse bringt zahlreiche kleinere
Mitteilungen aus dem Freudschen Gebiete. Besonders wichtige Einzelheiten sind
nicht darunter. Daß auch auf anderen Gebieten der Psychotherapie Auswüchse
Vorkommen, zeigt eine Kontroverse von Maeder gegen Moll. Der letztere empfiehlt
zur Behandlung der sexuellen Perversionen die Wiedererweckung normaler Sexual¬
empfindungen durch allerlei Mittel, unter denen er bei Homosexuellen entsprechende
Lektüre, Abbildungen und Theatervorstellungen erwähnt. Mit Recht weist Maeder
darauf hin, daß Moll, wenn er derartige Mittel empfiehlt, jedenfalls nicht berechtigt
ist, ethische und hygienische Bedenken gegen die Psychoanalyse zu erheben. In
der von Moll herausgegebenen Zeitschrift für Psychotherapie macht Steckei (261)
einige interessante Bemerkungen über die Beziehungen des Namens zur Neurose
des Trägers. Er meint, sehr häufig fühle der Träger die Verpflichtung im Sinne
dessen, was sein Eigenname ausdrückt, zu leben und komme dadurch in Konflikte;
auch bei Eheschließungen spiele der Name eine Rolle.
Im ganzen bringt die Freudsche Schule nicht allzu viel Neues. Auch die Kritik
ist ruhiger und sachlicher geworden, ohne daß die entgegengesetzten Anschau¬
ungen eine wesentliche Annäherung gezeigt haben. Und trotz aller Bemühungen,
dem wertvollen Kern der Freudschen „Tiefenpsychologie“ gerecht zu werden,
wird man von einzelnen Behauptungen und Arbeiten seiner Schüler immer wieder
abgestoßen; dahin rechne ich namentlich die Verallgemeinerung der kindlichen
Sexualität und gewisse, in das literar-historische Gebiet gehörige Arbeiten, wie
die oben erwähnten, die sich von naturwissenschaftlicher und psychologischer
Forschung doch sehr weit entfernen.
Unter den Freudschen (86) Arbeiten besonders zu erwähnen ist eine dritte
Auflage seiner Traumdeutung, die im wesentlichen den vorangegangenen Auf¬
lagen folgt, aber namentlich zur Traumsymbolik neues Material beibringt.
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
Ein weiteres Traumbuch von Havelock Ellis (71) hat Kurelia übersetzt.
Er betont mehr den Einfluß von Sinnesreizen auf den Inhalt und den Ablauf der
Träume und bringt außerdem wertvolle Anhaltspunkte für die assoziativen Vor¬
gänge im Traumbewußtsein.
Major (176) gibt eine zusammenfassende Darstellung der kindlichen Neur¬
asthenie, die er für seltener hält als die kindliche Hysterie; das Gemeinsame der
verschiedenen Störungen ist die leichte Erregbarkeit und leichte Ermüdbarkeit
des Nervensystems.
Williams (282) zeigt die Bedeutung einer verständigen Erziehung für die
Prophylaxe der Neurasthenie. Diese für Lehrer geschriebene Arbeit ist recht
interessant, weil sie uns erkennen läßt, worin eigentlich der große Wert des eng¬
lischen Erziehungswesens beruht. Die Bedeutung des Spieles und Sports liegt
nicht oder nicht ausschließlich in der Betätigung der Körperkräfte, sondern in der
Nötigung zur Rücksichtnahme auf andere, zur Selbstbeherrschung und freiwilligen
Unterordnung, zur Unterdrückung des körperlichen Schmerzes. Von demselben
Gesichtspunkt wird betont die Bedeutung der Körperpflege, die Erziehung zur
Ordnung und Reinlichkeit bei Kindern und die damit verbundene Hebung der
Selbstachtung. In einer Beobachtung Williams (279) zeigt sich als Ursache eines
schwer neurasthenischen Zustandes bei einem zweijährigen Kinde der Genuß von
Kaffee. Die aufgetretenen Störungen, Unruhe, Reizbarkeit, tikartige Bewegun¬
gen und eine Art Koprolalie werden besprochen, aber eine Erklärung nach
Freud abgelehnt.
Stursberg (257) zeigt an einer Statistik an den Kranken einer Kölner Berufs¬
genossenschaft, daß die Unfallneurosen gar nicht so häufig sind, als man gemeinhin
annimmt. Sie betreffen nur 1,9% der Rentenempfänger innerhalb 20 Jahren;
bei 1000 Unfällen entstehen 1,6% traumatische Neurosen. Da diese Ergebnisse
mit zwei Statistiken von Biß und von Merzbacher aus anderen Teilen Deutsch¬
lands übereinstimmen, so kann man wohl die gleichen Verhältnisse als überall
vorliegend annehmen. Es ist also nicht so schlimm mit der oft befürchteten Demo¬
ralisation und nervösen Degeneration durch die Unfallgesetzgebung, zumal auch
die Prognose der Unfallneurosen nicht so ungünstig ist, wie häufig angenommen
wird.
Stierlin (255) schildert noch einmal die Gesamtergebnisse der nervösen
und psychischen Erkrankungen, die bei den großen Katastrophen (Messina, Valpa¬
raiso, Courrieres, Mühlheim) beobachtet wurden. Eigentliche Psychosen gab es
nur wenige; dagegen zeigten auch sonst normale Menschen psychopathische Re¬
aktionen.
Krause (148) schildert einige Fälle von Neurosen nach Blitzschlag. Sie
sprechen für seine Auffassung, daß es sich dabei nicht lediglich um die Wirkung
eines psychischen Traumas, um eine traumatische Suggestion im Sinne Charkois
handelt, sondern man muß eine physikalische Einwirkung auf die nervöse Substanz
annehmen, die dadurch zu ihrer hysterischen Reaktionsweise veranlaßt wird.
Daß die Symptome wieder verschwinden, spricht nicht dagegen, daß ihnen eine
materielle Veränderung zugrunde liegt. Auch die ausführliche Darstellung zahl-
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Weber, Neurosen und Schilddrüsenerkrankungen.
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reicher Fälle von Willige (283) geht davon aus, daß es sich um eine elektive, mate¬
rielle Wirkung der elektrischen Entladung auf das Nervengewebe handelt. Dabei
kann man zwei Gruppen von Erkrankungen unterscheiden: solche von direkter
Blitzwirkung herrührend, mit initialen Bewußtseinsstörungen, vorübergehenden
Reizungs- und Lähmungserscheinungen und dauernden Ausfallssymptomen und
solche bei mittelbarer Wirkung (durch eine Leitung); hier überwiegt im Krank¬
heitsbild, das oft auf dem Boden endogener Disposition entsteht, die funktionelle
Komponente.
Weiner (274) kommt in einer Münchener Dissertation zu dem Resultat, daß
die Neurosen nach Blitzschlag sich völlig mit dem Bild der traumatischen Neu¬
rosen decken; denn die klinischen Ausfallserscheinungen decken sich nicht mit
den anatomischen Veränderungen, welche durch die Einwirkung des Blitzes ge¬
setzt werden.
E. Bischoff (30) zeigt an einem Fall von Starkstromverletzung die Reihen¬
folge, in der sich die Funktionsstörungen wieder hersteilen. Auf psychischem
Gebiet zuerst die Auffassung, dann die Merkfähigkeit, dann die Totalerinnerung.
Auf nervösem Gebiet: 1. die vegetativen Funktionen, 2. die Reflexe, 3. die Zweck¬
bewegungen, 4. die komplizierten Zielhandlungen.
Schepelmann (237a) bespricht noch einmal an der Hand persönlicher lang¬
jähriger Erfahrung die Theorien und die Therapie der Seekrankheit. Es handelt
sich zweifellos um eine erhöhte Empfindlichkeit des Nervensystems gegenüber
Labyrinthreizungen und er empfiehlt zur Beruhigung als ziemlich prompt wirkendes
Mittel Veronal.
Donath (63) schildert einen Fall von zwangsmäßig auftretender Errötungs¬
furcht, die sich durch das ganze Leben hinzieht und als Abwehrmaßregel zu starken
Trinkexzessen und Nächte hindurch fortgesetztem Kartenspiel geführt hat. Da¬
neben ist der Kranke aber noch sexuell pervers, luetisch infiziert und zeigt be¬
ginnende reflektorische Pupillenstarre. Krankenhausbehandlung in Verbindung
mit Wachsuggestion schafft Besserung.
Bonhöffer (34a) zeigt an drei sehr instruktiven Krankheitsschilderungen,
daß das Bild der sog. Neurasthenie, besser der endogenen Nervosität, sehr häufig
auf dem Boden einer manisch-depressiven Konstitution und als Zustandsbild
einer solchen entstehen kann. Die Abgrenzung dieser endogenen Verstimmungs¬
zustände von der eigentlichen erworbenen Neurasthenie ist prognostisch wichtig.
Adler (1) kommt auf Grund der Psychoanalyse zu dem Resultat, daß die
Syphilidophobie häufig psychisch bedingt sei und den neurotischen Versuch dar¬
stelle, auf diese Weise den Sexualverkehr mit dem anderen Geschlecht zu ver¬
meiden.
Porosz ('215) führt eine Anzahl der Beschwerden der Sexualneurastheniker,
namentlich Spermatorrhoe und Impotenz, auf lokale Störungen von seiten der
Prostata zurück, wodurch eine Atonie des Schließmuskels der Samenblase bedingt
werde, und befürwortet eine lokale Behandlung der Prostata.
Reis (221a) hat das Problem der elektrischen Entartungsreaktion des degene¬
rierenden Muskels von neuem in Angriff genommen. Er geht dabei von der Theorie
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
Nernsts aus, daß der elektrische Strom im tierischen Gewebe Zellenverschiebungeil
hervorrufe und daß diese an der Grenze verschiedener Medien Konzentrations -
änderungen bedingen. Er konnte experimentell durch Eintauchen eines Frosch-
muskels in verschiedene Salzlösungen eine Umkehr der Polwirkung erhalten. Es
handelt sich also bei der Entartungsreaktion um eine Veränderung der Muskel¬
substanz, wahrscheinlich ihres Salzgehaltes, vielleicht infolge einer Alteration
der Zellmembranen. Nach Reis ist also die Umkehr der Polwirkung bei der Ent¬
artungsreaktion eine tatsächliche. Auch die Begleiterscheinungen, faradische
Untererregbarkeit, träge Zuckung werden auf eine Veränderung der Muskelsubstanz
zurückgeführt. Gegen die Darstellung von Reis polemisieren Wiener und Borutiau,
welche daran festhalten, daß die Umkehrung der Pole bei der Entartungsreaktion
nur eine scheinbare ist. Als neurotonische Reaktion beschreibt Jakobsohn (122)
nach dem Vorgang von Remark eine tetanische Nachdauer der Muskelkontraktion
bei indirekter, vom Nerv aus erfolgter Reizung, während die direkte Muskel¬
reizung normal ist. Klinisch scheint die Reaktion, die Jakobsohn bei Syringomyelie
fand, ohne Bedeutung.
Schellong (237) bespricht die Neuralgien im allgemeinen und gibt kurze
klinische Darstellungen besonderer, in der Praxis häufig vorkommender Formen.
Die meisten Neuralgien haben nach seiner Auffassung im Nervenstamm selbst
ihren Sitz; dabei handelt es sich, wie er namentlich aus den traumatischen Neural¬
gien schließt, nicht um bloße Reizwirkung, sondern um pathologische Veränderungen
am Nerven selbst. Im ganzen ist er geneigt, die Rolle der idiopathischen Ischias
zugunsten der symptomatischen einzuschränken. Bei anderen Neuralgien ist der
Sitz im Wurzelgebiet zu suchen. Mit Recht macht Verf. auf das häufige Vorkommen
von Brachialneuralgien aufmerksam, die außer durch lokale Affektionen (Gelenke.
Schleimhäute), namentlich rheumatisch oder durch Erkältungen bedingt werden.
Bei der Ischias findet Gara (92-93) als fast regelmäßiges Symptom einen heftigen
Schmerz bei senkrechtem Fingerdruck auf die Bauchdecken, etwas unterhalb
und seitlich des Nabels und sieht in diesem Symptom einen Beweis für die Ent¬
stehung der Ischias im Plexus ischiadicus selbst; jede Änderung des intraabdomi¬
nalen Drucks macht die Schmerzen. Eine solche Änderung wird außer durch
manuellen Druck auch hervorgerufen durch Anspannung der Bauchpresse beim
Husten oder Niesen, weshalb auch der hierbei auftretende Beinschmerz ein dia¬
gnostisch wichtiges Symptom ist. Ebenso spricht nach seiner Auffassung ein
anderes von ihm häufig gefundenes Symptom: starke Druckempfindlichkeit des
Darmfortsatzes des letzten Lendenwirbels dafür, daß es sich bei der Ischias um
eine Wurzelerkrankung handelt. Beide Symptome sind außerdem für die Diagnose
der Ischias sehr charakteristisch.
v. Breemen (39) gibt Anhaltspunkte für die physikalische Behandlung der
Ischias, die er namentlich bei den chronischen Formen empfiehlt. Hier muß die
Behandlung von der wahrscheinlichen Ätiologie des Leidens ausgehen. Am meisten
lobt er die lokale Wärmeapplikation, gelegentlich verbunden mit richtig ange¬
wandter Massage, Fango, Lichtbäder, Diät; bei der neurasthenischen Form auch
die Anodengalvanisation. Barth (10) gibt eine Darstellung der Behandlungs-
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Weber, Neurosen und Schilddrüsenerkrankungen.
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lethoden der Ischias durch Injektion und Infiltration. Das von Lange ange-
ebene Verfahren benutzt eine Eukain-Kochsalzlösung, von der 100 ccm auf ein-
nal unter starkem Druck an der Austrittsstelle der Nerven durch den Glutäus
lindurch in die Nervenscheide eingespritzt werden. Barth selbst injiziert nur
Kochsalzlösung mit Karbolwasser und nur 6 ccm auf einmal. Der Erfolg der In-
ektion soll entweder auf der Lösung angenommener Verwachsungen zwischen
Kervenscheide und Nerven, oder auf der Entspannung der Muskulatur beruhen,
veshalb man auch gleich die unblutige Dehnung der Nerven ausschließen kann.
Jedenfalls sind die Infiltrationsmethoden angebracht in hartnäckigen Fällen,
,'ür die sonst keine kausale Therapie möglich ist.
Brbnond und Dur geben eine Darstellung der Rekurrenslähmungen aus peri¬
pherischen und zentralen Ursachen, erläutern die Anatomie und bringen kasu¬
istisches Material. Saker (235) bespricht allerlei kongenitale Anomalien der Seh¬
nervenpapille, welche zur Verwechslung mit Neuritis, beginnender Stauungs¬
papille oder beginnender Atrophie im ophthalmoskopischen Bilde Anlaß geben
können. Rosenbaum (226) beschreibt Herpes zoster bei eitriger Nierenentzündung
und bei einer traumatischen Nierenzertrümmerung. Im ersten Fall hielt sich der
Herpes genau an die von Head als charakteristisch für Nierenerkrankungen be-
zeichnete zehnte Dorsalzone; im zweiten Fall verbreitete er sich auch über die
Nachbarzonen, vielleicht weil die schwere Zertrümmerung der Niere auch zu
blutiger Imbibition des Peritoneums und der Weichteile in der Nähe der Niere
gefü Irrt hatte.
Röper (225) zeigt an einer statistischen Bearbeitung der in der Jenenser
Klinik in 10 Jahren behandelten Neurastheniker, daß die Heilaussichten wenigstens
im sozialen Sinne nicht ungünstig sind; nach einer Reihe von Jahren waren noch
85.3% der Behandelten erwerbsfähig; das ist sozial sehr bedeutsam. Tn ähnlicher
W eise hat Römer (224) das Material eines Privatsanatoriums verarbeitet. Unter
seinen 340 Fällen fand sich ein kleiner Teil (3,5%) echt erworbene Neurasthenie:
diese heilten alle. Die übrigen 328 Fälle waren konstitutionelle Neuropsychosen
verschiedener Art. Von diesen waren nach durchschnittlich 6—7 Jahren noch
56—77% erwerbsfähig, wenn auch nicht völlig geheilt. Am schlechtesten sind
die Heilaussichten bei der konstitutionellen Verstimmung (66,5%). am besten bei den
leichten Formen der Zyklothymie (77,5%).
Rudniizky (230) nimmt an, daß die Fälle, die in der Praxis als Neurasthenie
diagnostiziert werden, nur selten als reine Neurasthenie betrachtet werden dürfen.
Bei aufmerksamer Untersuchung lassen sich gewöhnlich Anomalien innerer Or¬
gane feststellen, die die Beschwerden der Patienten in ganz anderem Lichte er¬
scheinen lassen. Unter 242 vom Verf. untersuchten „Neurasthenikern“ kiesen
nur 22, also etwa 9%, keinerlei physische Erkrankungen auf. 19 von ihnen litten
an Lues, Anämie, Malaria, Arteriosklerose, Helminthiasis, gynäkologischen Affek¬
tionen usw. Bei 173, also 70%, dieser Patienten konnte perkutorisch eine Dämpfung
an einer der Lungenspitzen festgestellt werden, während sonst — abgesehen von
etwaigen Pleuraaffektionen — keine pathologischen Erscheinungen seitens der
Lungen Vorlagen. Weitere 28 Patienten boten neben Lungen- und Pleuraerschei-
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
nungen auch Zeichen anderer Leiden (meist Malaria, aber auch Lues). R. erörtert
eingehend die ätiologische und symptomatologische Seite seiner Fälle, betont die
Ähnlichkeit zwischen den Symptomen der Neurasthenie und den allgemeinen
Erscheinungen der Tuberkulose, tritt energisch gegen die Auffassung auf, nach
der die Tuberkulose stets eine progrediente Erkrankung ist, die sich nach einiger
Zeit in mehreren somatischen Erscheinungen manifestieren müsse, und kommt
zu dem Schluß, daß die Neurasthenie in einer sehr bedeutenden Anzahl von Fällen
mit Tuberkulose zusammenhängt oder richtiger als eine Äußerung der Tuber¬
kulose aufzufassen ist. (Fleischmann-Kiew.)
Donath (63) schildert kurz die verschiedenen Bestrebungen der Psycho¬
therapie, zeigt das Wesentliche der Hypnose, der Wachsuggestion, den Kern der
Freudschen analytischen Verfahren und bespricht eingehender die rationelle Psy¬
chotherapie, wie sie von Dubais gelehrt wird.
Krone (160) schildert die Patienten, welche die Badeorte wegen körperlicher
Beschwerden aufsuchen, bei denen aber genauere Untersuchung ergibt, daß sie
„nur nervös“ sind. Hier ist neben der Balneotherapie und einer vorsichtig aus¬
geübten lokalen Behandlung vor allem psychische Beeinflussung am Platze, die
die Patienten den Mangel ihres Anpassungsvermögens an die äußeren Verhältnisse
erkennen und beheben lehrt. Besonders gehören dazu auch die in der Pubertät
stehenden Kinder mit der Diagnose Anämie.
Bergmann (22) gibt dem gebildeten Nervösen und Neurastheniker
ein Buch in die Hand, das ihn in das Wesen und die Ursachen der nervösen Leiden
einführt und ihm zeigt, was er aus eigener Kraft zur Unterstützung der ärztlichen
Bemühungen tun kann. Das Buch will eine Diätetik der Seele geben.
Joffe (130) kommt auf Grund experimenteller Untersuchungen zu dem Re¬
sultat, daß starker Druck bei der Nervenmassage zu vermeiden ist. Unter dem
Namen Wasserdruckmassage bezeichnet Dreuw (66) Vorrichtungen, bei denen
strömendes Wasser eine über eine Röhre mit vielen Öffnungen gespannte
Gummimembrane in lebhafte Bewegung versetzt. Die verschiedenen nach diesem
Prinzip hergestellten Apparate sollen sich hauptsächlich für die Massage von
Körperhöhlen eignen. Wiszwianski (f86) gibt eine Darstellung nach Cornelius,
der Theorie ihrer Wirkung und der Praxis ihrer Anwendung, ohne daß dadurch
ihr Wesen klarer und verständlicher wird.
Scham (i36) macht in Anknüpfung an ähnliche Anschauungen Schöns auf¬
merksam auf Augenmuskelstörungen, die er für die Quelle von Kopfschmerz und
Nervosität hält. Es handelt sich namentlich um Innervationsanstrengungen bei
der Konvergenz, wenn die Augen in der Ruhelage nicht symmetrisch stehen. Mit
der Zeit tritt hier eine Innervationsschwäche auf, die schwere nervöse Beschwerden
auslösen kann; bei Korrektion durch geeignete Gläser verschwinden diese Be¬
schwerden.
Aswadurow (6-7) faßt die Migräne auf als Folge von Myalgien (unbekannten
Ursprungs) in der Kopf- und Nackenmuskulatur. Dafür sprechen die begleitenden
Sympathikussymptome, namentlich die Pupillenveränderungen; er denkt sie sich
entstanden durch Druckwirkung des myalgischen Stemokleidomastoideus auf
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Las Ganglion cervicale supremum. Schottin (240) geht von der Annahme aus, daß
lie Ursachen der Migräne in einer abnormen Reizbarkeit der psychosensorischen
ind sensiblen Rindenzentren zu suchen seien, und da die Spasmophilie der Kinder,
lie nach seiner Ansicht auf ähnlichen Ursachen beruht, durch Phosphor gebessert
vird, verordnet er bei Kindern Phosphorlebertran, bei Erwachsenen eine Phos-
>horlezithinverbindung. Ad. Schmidt (i39) zeigt an mehreren Fällen, daß die
Magenbeschwerden bei manchen Formen von Migräne ein den Kopfschmerzen
Koordiniertes Symptom sind, das nicht als ätiologisches Moment der Migräne
gelten kann. Der Zusammenhang scheint so zu sein, daß äußere Ursachen eine
Magenstörung veranlassen, und daß diese dann gewissermaßen die Migräne¬
symptome auf den Magen ablenkt.
D. Hysterie.
Kohnstamm (142) bemüht sich um eine Theorie der Hysterie, die er auf den
von ihm entwickelten Begriff des „Gesundheitsgewissens“ aufbauen will. Dar¬
unter versteht er das bewußte oder unbewußte Gefühl für eine richtige Regulierung
der Funktion der einzelnen Organe, denen er ein Sonderbewußtsein, eine Spalt-
soele zuschreibt: er versteht darunter natürlich das Eigenbewußtsein des Kranken
für ein bestimmtes Organ. Die Hjsteric ist dann für ihn ein Defekt des Gesundheits¬
gewissens, der den einzelnen Organen oder ihrem Bewußtsein eine selbständige
Rolle zu spielen erlaubt. Nicht alle psychogen entstandenen Symptome sind
hysterisch; nur bei einem Defekt des Gesundheitsgewissens werden sie zur Teil¬
erscheinung einer echten Hysterie.
Dubois (67) bezeichnet als hysterisch die funktionellen Störungen, welche
unter dem Einfluß von Gemütsbewegungen entstehen und auch persistieren, wenn
die Ursache weggefallen ist. Diese Fixation kommt zustande durch eine Reali¬
sierung der aus den Affekten entspringenden Empfindungen, was D. als sinnliche
Impressionabilität bezeichnet.
Maeder (173) hebt in der Kritik dieses Vortrages hervor, daß dieser bei der
Ätiologie der hysterischen Symptome jetzt im Gegensatz zu seinen bisherigen
Anschauungen die Bedeutung der Affektivität anerkenne, und stellt die Auf¬
fassung Dubois von der Hysterie in Parallele mit der Freudschen Auffassung.
Steyerthal (-63) betont in einer populär gehaltenen Schrift gegenüber dem
Staatsanwalt Wulflen seinen schon früher vertretenen Standpunkt, daß es keine
Hysterie als Krankheitseinheit, sondern nur h}sterische Symptome gibt. Das
sucht er an zahlreichen Beispielen aus der Literatur zu erweisen. In ähnlicher
populärer Weise ist das Büchlein von Aub (8) gehalten, das aber für eine Krank¬
heitseinheit Hysterie eintritt und die Zeichen dieser Erkrankung auch bei männ¬
lichen Individuen nachweist.
Semi Meyer (194) hält an der Hysterie als einer eigenen Krankheit fest und
führt, wie schon in einer früheren Arbeit, aus, daß diese Krankheit charakterisiert
ist durch die Fähigkeit, wirkliche Krankheitserscheinungen („Produkte“) ent¬
stehen zu lasser. Er bemüht sich, die Pathogenese und die Grenzen dieser Krank¬
heit zu bestimmen. Nicht durch Vorstellungen werden diese Krankheitsprodukte
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
hervorgebracht, sondern durch Störungen des normalen Assoziationsvorgangs,
und zwar durch Heraushebung gefühlsbetonter Momente, die mit irgendwelchen
an sich unabhängigen Vorgängen in eine abnorm feste, assoziative Verknüpfung
treten. Es wird also den Affekten und ihren körperlichen Begleiterscheinungen
die Hauptrolle bei der Entstehung der Hysterie zugewiesen; diese körperlichen
Begleiterscheinungen, abnorm fixiert, sind eine Quelle der Hysteriesymptome.
Die anderen sind wirkliche, an sich wenig wichtige Erlebnisse, die durch die Angst
vor Krankheit fixiert werden. Sehr gut ist auch die scharfe Trennung gegen die
gewöhnliche Suggestion und gegen die Hypochondrie durchgeführt.
In einer anderen Arbeit gibt S. Meyer (195) für das Vorgetragene Belege,
indem er die Gesamtheit der hysterischen Erscheinungen in fünf Gruppen teilt
und danach unterscheidet: Monosymptomatische Hysterie, Organhysterie, Hysterie
mit Allgemeinerscheinungen, Anfallshysterie und Hysterie mit schweren psychi¬
schen Störungen.
Th. Becker (17) schildert in einem Vortrag die im Metzer Garnisonlazarett zur
Beobachtung gekommenen Hysteriefälle, die alle Formen der hysterischen Stör¬
ungen zeigen. Die interessante Kasuistik bietet im übrigen nichts prinzipiell Neues.
Die Darstellung von Booth (34b) gibt einige, auch aus der deutschen Literatur
bekannte Methoden zur Unterscheidung organischer von hysterischen Lähmungen,
Kontrakturen und Sensibilitätsstörungen; es werden auch einige Fingerzeige für
die Behandlung einzelner hysterischer Symptome gegeben; dasselbe unternimmt
ein Vortrag von Bychowski (46).
Sträußler (266) beschreibt aus seinem militärärztlichen Material eine Gruppe
von Fällen, die er als eine besondere Form des hysterischen Dämmerzustandes
zusammenfassen will. Es handelt sich um erwachsene, wenn auch noch jugendliche
Personen, die ein der Dementia praecox ähnliches Zustandsbild darbieten: kind¬
liches, läppisches Wesen, absonderliche manirierte Bewegungen und Haltungen.
Es ist aber hier keine wirkliche DemeDz eingetreten, sondern die Fälle heilten
und dann blieb nur noch ein hysterischer Charakter nachzuweisen. Verf. bezeichnet
diese Zustände, die eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Gans ersehen Symptomen-
komplex zeigen, als psychischen Puerilismus. Kaufmann (138) berichtet einen
Fall von Hysterie, der zahlreiche vegetative Störungen auf rein funktioneller
Grundlage zeigte: also starke Schwankungen des Gewichts, des Blutdrucks, der
Urinmengen und der Temperatur. Er glaubt, daß es sich hier um funktionelle
Störungen vegetativer Zentren des Gehirns, unabhängig und neben den psychischen,
handelt.
E. Schilddrüsenerkrankungen.
über Basedow sehe Krankheit liegt ein größeres zusammenfassendes
Referat von der Karlsruher Naturforscherversammlung vor. Dabei sprach Gott¬
lieb (103) über die Theorie der Basedowschen Krankheit und zeigte, daß ein großer
Teil der Symptome darauf beruht, daß das Schilddrüsensekret das sympathische
Nervensystem für Adrenalin überempfindlich macht, ferner, daß der Abbau ge¬
wisser Giftstoffe im Organismus durch das Schilddrüsensekret verhindert wird,
was sich experimentell für das Morphin erweisen läßt.
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Weber, Neurosen und Schildrüsenerkrankungen.
233*
Simmonds (246) kommt auf Grund anatomischer Untersuchungen zu dem
Resultat, daß der Basedow ein Symptomenkomplex ist, hervorgerufen durch ana-
omisch verschiedenartig bedingte Funktionsstörungen der Schilddrüse. Aber
ast immer lassen sich anatomische Veränderungen in der Schilddrüse nachweisen.
Sta ck (249) gibt Klinik und Symptomatologie der abortiven Formen, die er
ils Thyreotoxikosen bezeichnet; bei ihnen ist die klinische Symptomentrias oft
licht nachzuweisen, und man ist auf leichtere flüchtige Symptome, die oft das
Bild der einfachen Neurasthenie Vortäuschen, angewiesen. Von der nicht chirur¬
gischen Therapie empfiehlt er in erster Linie Ruhigstellung des Nervensystems
lurch psychische und körperliche Diät, Ausspannung, Vermeidung von Nerven-
eizen. In manchen Fällen hat er gute Erfolge von Phosphor und von Arsen ge-
lehen. Endlich äußert sich Rehn (220) über Indikation und Technik der Schild-
irüsenoperation bei Basedow.
Sänger (232) bespricht ebenfalls die verschiedenen RasedotPtheorien. Zur
Therapie empfiehlt er zuerst innerliche Behandlung, wobei er im Gegensatz zu
Starck gute Erfolge von Antithyreoidin und Rodagen gesehen hat. Erst wenn damit
in längerer Zeit nichts zu erreichen ist, soll die operative Therapie versucht werden.
Goldftam (100) warnt vor dem Gebrauch hoher Joddosen, namentlich vor
der subkutanen Einspritzung hoher Jodipindosen, weil dadurch basedowartige
Symptome erzeugt werden können, wie er dies nicht nur bei Kranken mit ange¬
deutetem Kropf, sondern bei solchen mit ganz anderen Erscheinungen, z. B. einem
Fall von Pseudotumor cerebri und einem mit beginnender Tabes gesehen hat.
Ohletnann (206) glaubt aber, daß kleinere Joddosen, innerhalb der von der
Pharmakopoe gegebenen Grenzen bei Basedow unschädlich seien, und empfiehlt
namentlich Jodtinktur tropfenweise innerlich.
Aryagi (6) bestätigt auf Grund histologischer Untersuchungen die hypo¬
thetisch angenommene Schädigung des sympathischen Nervensystems beim
Basedow.
Nonne (206) berichtet über sein eigenes Material von Basedowkränken. Er
glaubt, daß die Möbiussche Theorie nicht für alle Fälle gelten kann. Denn in
39 Fällen sah er lOmal ausschließlich psychogene Ursachen und gelegentlich
schnelle Heilung unter Suggestionswirkung.
Krecke (149) hebt hervor, daß man durchaus nicht immer alle Symptome
bei den Basedou>erkrankungen antrifft; sehr häufig fehlen z. B. die Augensym¬
ptome. Er schlägt deshalb vor, den Namen Basedow ganz fallen zu lassen und von
Thyreosen zu sprechen, von denen er drei Grade unterscheidet. Beim 1. Grad
liegen nervöse und Stoffwechselstörungen und subjektive Herzbeschwerden vor; beim
2. Grade tritt neben anderen Symptomen Tachykardie auf; beim 3. Grad läßt
sich der Komplex: Exophthalmus, Kropf, Tachykardie, nervöse Störungen und
Stoffwechselstörungen nachweisen.
Iuschtschenko (136a) untersucht in mehreren experimentellen Arbeiten das
Verhältnis der Schilddrüse zu einigen Fermenten, indem er bei gesunden und
thyreoektomierten Tieren die Organe auf Nuclease und Katalase untersuchte,
die hämolytischen und antitryptischen Eigenschaften des Serums prüfte. Die
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234*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
Einzelheiten der Resultate müssen im Original nachgelesen werden; sie weisen
aber darauf hin, daß die Schilddrüse eine hohe Bedeutung für die fermentativen
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a) Allgemeines.
Bonhoeffer (16) besprach in dem vom Zentralkomitee für das ärztliche Fon¬
bildungswesen in Preußen veranstalteten Zyklus von Vorträgen über „Die Gniini-
züge der modernen Psychologie und Psychiatrie“ die Intoxikation;-
psychosen. Den größten Baum nehmen in dem Vortrag die AlkoholpsydxeM
ein. Mit Kecht betont er, daß das Moment der individuellen Disposition zu d«c
exogenen Faktor hinzukommen muß und diesen sogar bei manchen Zustand??
fast überwiegt. Einige Punkte aus den Ausführungen mögen besonders herrrr-
gehoben werden. Das Wesen des chronischen Alkoholismus läßt sich nach & daLi
resümieren, daß er eine epileptoide Veränderung darstellt. Der chronische A&-
holist befindet sich in einem Zustande einer mehr oder weniger starken Herab¬
setzung des Sensoriums mit Erschwerung der Auffassung und Neigung zum 11k
sionieren und in einer Affektrichtung, die geneigt ist, die Dinge gereizt rm
ängetlich aufzufassen. So kommt es leicht zu epileptischen Anfällen, pathc<k-
gischen Bauschzuständen und Beeinträchtigungsideen, insbesondere Eifersnci:--
ideen. Bei Delirium tremens handelt es sich nicht lediglich um eine Exazerbst . ?
des chronischen Alkoholismus, sondern um eine Autointoxikation, indem >:?:
auf dem Boden des Alkoholismus ein neues toxisches Agens bildet, das für d-:
Ausbruch der akuten Psychose ein neues ätiologisches Moment ausmacht. Fr
den Ausbruch eines Delirium ist die plötzliche Alkoholentziehung nicht be¬
gradig zu bewerten, aber auch nicht als ganz belanglos zu bezeichnen. Die tbm-
peutische Verabreichung von Alkohol bei ausgebrochenem Delirium beeinihy
dessen Ablauf nicht, wohl aber den Tremor, die Ataxie und die motorische Unmi?
Alkohol ist in der Therapie des Delirium entbehrlich und aus sozialpädagogisch-:
Gründen eher zu meiden. Die Verabreichung von Digitalis, wenn nötig unterstü'.'
durch Kampfer, ist zu empfehlen. Die Selbstmordgefahr ist bei Delirium ckr
groß, wohl aber bei der Alkoholhalluzinose, die oft mit Angst und Verfolgung^«?-:
einhergeht. Die periodische Tranksucht ist nicht generell der Epilepsie zu su¬
mmieren, mitunter handelt es sich wirklich um Epilepsie, aber gerade auch •:
Degenerierten verfallen in ihren Verstimmungen dem periodischen Tranke.
Mehr noch wie beim Alkoholismus ist beim Morphinismus und Kokainiszr.i
die psychopathische Anlage von Bedeutung. Vielleicht ist sogar die Charakr •
änderang der Morphinisten im Sinne der Lügenhaftigkeit lediglich als ein ucr
hemmtes Hervortreten der degenerativen Anlage aufzufassen. B. hält die Fum
vor Abstinenzerscheinungen bei der Morphiumentziehung für sehr übertrieb i
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Peretti, Intoxikations-Psychosen.
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er hat bei plötzlicher Entziehung niemals Psychosen gesehen, rechnet allerdings
hysterische Erregungen von kurzer Dauer nicht als Abstinenzerscheinungen.
Die praktische Bedeutung der gewerblichen Vergiftungen (Blei usw.) hat
im letzten Jahrzehnt infolge Verbesserung der Betriebsvorschriften zweifellos
abgenommen. Aber auch bei den Alkoholpsychosen macht sich ein Rückgang
bemerkbar, während man bei Morphinismus und Kokainismus von einer Zunahme
spricht.
b) Alkoholismus.
0. Orvber (66) hat in seinem in der Sammlung „Aus Natur und Geisteswelt 1 *
erschienenen Grundriß „Der Alkoholismus* 1 wie Max v. Oniber in seinem Begleit¬
wort sagt, viel Mühe und Fleiß aufgewendet, um aus der Literatur über den Alko¬
holismus das wissenschaftlich am besten Begründete zusammenzutragen und
in einer dem gebildeten Laien verständlichen Weise darzustellen.
Cramer und Vogt (23) besprechen die Ursachen des Alkoholismus in über¬
sichtlicher Weise und heben u. a. hervor, daß neben der psychopathischen Veran¬
lagung („es gibt auch einen geborenen Trinker**) die Gewalt äußerer Umstände,
vor allem das Bekanntwerden mit dem Alkohol in der Kindheit und Jugend, die
Erziehung zum Alkoholismus eine Hauptrolle spielt. Die Menge der Alkohol¬
produktion und der als Infektionsherde anzusprechenden Produktionsstätten,
sowie die Wohnungsnot und die mangelhafte Fähigkeit der Frau, sich im häus¬
lichen Leben, insbesondere derKoehkunst zu betätigen, sind weitere bedeutsame
ursächliche Momente.
ln seinem Sammelbericht über Arbeiten auf dem Gebiete der Alkohol¬
psychosen aus den Jahren 1906—1910 bringt Müller (90) alles Wichtige und er¬
möglicht so einen raschen Überblick über den Stand der Forschungen und Ansichten
über Alkoholpsychosen.
Weiter haben Holilscher (61) und, wie schon früher, Schenk (108) über die
Alkoholfrage zusammenfassend referiert, und Brumlow (18) beginnt mit einem
Sammelbericht „Aus der Alkoholwissenschaft“, der für Sanitätsoffiziere bestimmt ist.
In dem Jarhesbericht der Münchener Psychiatrischen Klinik für 1908 und
1909 berichtet Bausenwein (11) über die alkoholischen Geistesstörungen, 633 Fälle,
darunter 71 Frauen. Auffallend ist die geringe Zahl von 46 Männern und 3 Frauen
mit Delirium; 3 Männer starben im Delirium. Wegen Rausches, z. T. bei chro¬
nischem Alkoholismus, wurden der Klinik in den zwei Jahren 261 Männer und
36 Frauen zugeführt, ein Prävalieren einzelner Monate für die Alkoholexzesse ließ
sich nicht deutlich erkennen.
Bemerkenswert ist in dem Münchener Bericht noch die Arbeit von Filser (42)
über alkoholischeMischzustände und chronische Alkoholhalluzinosen.
Eine reine Scheidung des Delirium und der Halluzinose ist in vielen Fäl'.en
nicht möglich. F. verfügt über 28 Fälle von Mischformen und unterscheidet:
1. Delirien, die außer dem typischen Symptomenkomplex noch Erscheinungen
der Alkoholhalluzinose unverkennbar aufweisen (8 Fälle), 2. Besonnene Delirien,
bei denen delirante Erlebnisse von großer sinnlicher Deutlichkeit bei völlig erhaltener
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
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Besonnenheit, speziell intaktem Bewußtsein und erhaltener Orientierac» v---
handen sind (5 Fälle), 3. Alkoholhalluzinosen mit deliranten Erscheinungen (*> Fälle ■
4. Fälle von Delir und Alkoholhalluzinose, bei denen Gefühlshalluzinationen bn*
Sensationen im Vordergrund stehen (5 Fälle) und 5. Fälle, bei denen Delir ur
Halluzinose in kurzen Zwischenräumen aufeinander folgen. Das Zustandekonum:
solcher Mischformen erklärt sich am besten durch die Annahme. daß es sich t~
Delirium tremens und Alkoholhalluzinose wahrscheinlich um verschiedene Leb
lisationen eines und desselben Krankheitsprozesses handelt und daß die da~:
den Alkohol gesetzte Schädigung nicht immer elektiv diesen oder jenen Hirn¬
ergreift, sondern auch mitunter verschiedene Gebiete zugleich. Die Hänikk-'
der Mischformen in Bayern erklärt sich wohl daraus daß durch den in Bayr'i
überwiegenden Biergenuß möglicherweise die typischen Bilder des Deliriis.-
und der Halluzinose, die man in reiner Form fast nur bei Schnapsgenuß si-rr
verschwommen und verwischt werden. Die strittige Frage nach dem Vorkonim*-'
chronischer Alkoholpsychosen bejaht F. auf Grund seines Materials von 31 Fili«
von denen alle bis auf 4 dem halluzinatorischen Schwachsinn (Kräpelim n:
hörten.
Zum Schlüsse führt Filser noch einen Fall von Äther mißbrauch bei
Kunstschüler und einen Fall von Benzin delir bei einem Handschuhwäsrhtf i
Appel (3) zeigt an dem Material der Würzburger psychiatrischen Klinik, a.
auch hinter einem scheinbar unkomplizierten chronischen Alkoholisrr.:
sich höchst interessante Krankheitszustände verbergen können. Abgesehen von i-'
pathologischen Rauschzuständen ließen sich nachweisen : peri 'disch-mir -
kalische und zirkuläre Zustände, Paranoia, Dementia praecox, psychopathi-c:.
Persönlichkeiten und Epilepsie. Bemerkenswert ist, daß in Würzburg epileptiy
Dipsomanen nicht beobachtet wurden, die Dipsomanen vielmehr den Mar---
kalischen und Periodikern zugehörten. Im allgemeinen kann man nach Apt-
Ansicht die Krankheitsfälle trennen in solche, bei denen der chronische Alkoholiss
zweifellos psychisch motiviert ist, z. B. bei Stimmungsanomalien heiteren "0
depressiven Charakters, hypochondrischen Wahnideen, krankhafter Will« - -
schwäche, von solchen, bei denen eine wirkliche psychische Motivierung nicht na f
weisbar ist, wie bei der sogen. Dipsomanie epileptischen Charakters und Fi!>
von Diabetes insipidus.
Ilal'e (57) bespricht einige wesentliche und wichtig erscheinende Svmpt 1 r
der in der Würzburger psychiatrischen Klinik in den Jahren 1895 bis 1908 »
genommenen Alkoholdeliranten, deren Prozentsatz von der Gesar
zahl der Aufgenoramenen nur 4,58% der Männer und 0,24 % der Frauen betr^
Von den 72 Deliranten starben 6, d. i. 8,33%. Albuminurie war in 59,72°,
Fälle vorhanden, Pupillenstarre in keinem der Fälle. Am eingehendsten teilt ~
seine Versuche mit dem leeren Blatt an 24 Kranken möglichst vrörtlich mit »:■
stellt insbesondere die Wortumbildungen in Parallele mit den Sprachstörun-
im Traume und hypnagogen Halluzinationen bei Gesunden. Merkwürdig *-
die räumliche Desorientiertheit bei mehreren Kranken, die nicht nur die Situati v
beurteilung im Krankenzimmer, sondern vor allem auch die Beurteilung bekann
landschaftlicher Gegenden (Würzburg vom Fenster der Klinik aus) betraf.
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Peretti. Intoxikations-Psychosen.
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Wohlwill (121) untersuchte das Verhalten des Blutdrucks bei 30 Al¬
koholdeliranten während der ganzen Dauer der Krankheit. Er fand im
Beginn des Deliriums eine Steigerung des systolischen und diastolischen Blut¬
drucks, des Pulsdrucks und des Amplitudenfrequenzprodukts, in den späteren
Stadien bei schweren Delirien oft einen jähen Abfall des Pulsdrucks und in der
Rekonvaleszenz eine starke Labilität des Pulsdrucks. Wahrscheinlich ist die Stei¬
gerung des Blutdrucks bedingt durch ein Zusammenwirken vasomotorischer Ein¬
flüsse und eines vermehrten Schlagvolumens infolge von größerem Blutbedürfnis
der funktionierenden Muskulatur. Prognostische Bedeutung kommt der Blut¬
druckmessung bei Deliranten nicht zu.
Die Fälle von Delirium tremens, in denen mit Sicherheit der Zu¬
sammenhang mit einem Trauma angenommen werden kann, sind selten.
Rosenberg (103) hat einen solchen Fall beobachtet, wo ein 33jähriger Alkoholist
am zweiten Tage nach einem Sturz aus dem Korb eines von einem anderen ge¬
lenkten Fahrrades, wobei er einer Kontusion des Stunde lang unter den Schutz¬
rahmen eines Motorwagens pingeklemmten rechten Oberschenkels davontrug,
an Delirium erkrankte. R. schließt sich der Bonhoefferschen Ansicht an, daß es
ein durch Abstinenz allein hervorgerufenes Delirium nicht gibt, daß vielmehr noch
besondere Umstände hinzukommen müssen, und erblickt in der psychischen
Wirkung des Unfalls — Angst während der Einklemmung, dann Freude, daß nichts
passiert war und später Angst wegen Schwellung und Verfärbung des Beines —
solche besonderen Umstände. Außer dem zuerst physiologischen, dann patho¬
logisch werdenden Angstaffekt wirkten auf den Stoffwechsel, dessen Störungen
für das Auftreten eines Deliriums bedeutsam sind, auch noch die Bettruhe, der
Kostwechsel und der Aufenthalt im geschlossenen Raume ungünstig ein.
Stapel (114) stellte an 34 Degenerierten, Imbezillen und Hebephrenen und
an 12 Studenten, alle im Alter um das 20. Jahr herum, Versuche über das Ver¬
halten der Pupillen im akuten Alkoholrausch (60—280
ccm Alkohol) an und beobachtete folgende Wirkungen: 1. Erweiterung der Pupillen
beiderseits in gleichem Grade vielleicht nach anfänglicher, nur selten in die Er¬
scheinung tretender Verengerung: Pupillendifferenz oder Formveränderungen
wurden nicht beobachtet. 2. Die Adaptationsfähigkeit der Netzhaut an eine ver¬
änderte Beleuchtung wird herabgesetzt, verlangsamt. 3. Die Reaktion der Pupille
auf Licht bzw. Akkommodation und Konvergenz erfolgt träger, Ablauf und Aus¬
giebigkeit sind herabgesetzt. 4. Die Reaktion auf sensible und sensorische Reize
und die Psychoreaktion erfährt eine Veränderung im Sinne einer Herabsetzung
bzw. Steigerung. 5. Alle diese Pupillenveränderungen treten bei psychisch minder¬
wertigen und invaliden Individuen schon bei geringen Alkoholdosen schneller,
intensiver und nachhaltiger in Erscheinung als bei geistg gesunden und wider¬
standsfähigen. Im pathologischen Rausche kann hochgradige Pupillenträgheit
bis zur absoluten Pupillenstarre bestehen. Bei geistig Gesunden treten, selbst
bei hohen Alkoholdosen, im normalen Rausche keine gröberenPupillenveränderungen,
keine starren Pupillen in Erscheinung.
Nach den Untersuchungen von Barnes (9) sind Pupillenstörungen
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Bericht aber die psychiatrische Literatur 1911.
bei Trinkern nicht häufig. Echte reflektorische Pnpfllenstarre ist ule-
ordentlich selten. Imm erhin ist das ArgyU-Rolertsortsche Symptom kein antr«-
licher Beweis für das Bestehen einer organischen Gehirnkrankheit.
(Geifer-Grafenberg.,)
Ans den experimentellen Untersuchungen von Busch (19) ober den EmM
des Alkohols auf Klarheit and Umfang des optischen Bewußtsein*
mögen folgende Ergebnisse hervorgehoben werden. Nach einer Alkoholgabe vre
30 ccm Alkohol, in einer Verdünnung auf 33% innerhalb 6 Minuten genomme
fand sich eine deutliche Herabsetzung der tachistoskopischen Auffassung ein¬
facher visueller Reize. Der Bewußtseinsgrad des ganzen beobachteten Feldes
war gegenüber dem Normalzustand in allen Teilen gesunken. Die Wirkung d«
Alkohols war 10 Minuten nach dem Genuß schon deutlich und bestand noch br.
Abschluß der etwa 50 Minuten dauernden Versuche; mehrfach zeigte sieb «k
N achwirkung über 24 Stunden hinaus, in einer schlechten Disposition der fokrace
Tage. Subjektiv wurde von den Untersuchten eine ausgesprochene Einengung oe
Bewußtseins auf wenige Dinge bemerkt, begleitet von einem behaglichen, ah:
gleichgültig-apathischen Gefühlszustand.
Gering (51) prüfte bei 11 Potatoren das Auffassungs - und R echt a-
vermögen sowie diemotorischeKraft nach Zufuhr von 40 ccm Alkot-i
Alle leisteten bei der Auffassungsprüfung weniger; bei den Rechenprüfungen tan:
er bessere Leistungen bei 3, schlechtere bei den übrigen. Auf die Kraft übte 4*
Alkohol bei 6 eine lähmende, bei den anderen eine erregende Wirkung aus. Eh?
starke Besserung der motorischen Kraft wird man als pathologisch bezeichn:
müssen, und diese gesteigerte motorische Erregbarkeit hat, besonders wmv
mit einer wesentlichen Verschlechterung der Auffassung verbunden ist, greh
forensische Bedeutung, da auf diese Weise im Dämmerzustand eine Emguc
also ein pathologischer Rausch auftritt. Versuche an 4 Pflegerinnen und 3 »et¬
lichen Psychopathen zeigten, daß bei den Frauen eine erhebliche physiologisch
Intoleranz besteht und vor allem die Bewußtseinstrübungen im Vorderem::
stehen.
Schmidimann (110) fand bei seinen an 7 Medizinern vorgenommenen Vi¬
suellen über den Einfluß des Alkohols (40 ccm) auf den Ablauf der Vo:
Stellungen folgendes: Bei freier Assoziation begünstigt der Alkohol das A.:-
treten von Klangassoziationen, die Assoziationszeiten werden verlängert, c
Streuung der Worte wird nicht beeinflußt. Bei Subsumptionen zeigt sich n*
leichte Zunahme der Fehler, keine Einwirkung auf die zeitlichen Verhältnis
Das Auffinden von Reimen wird insofern erleichtert, als die hierzu nötige fe-
kürzer wird, zugleich macht sich eine starkeNeigung zur Bildung sinnloser Reu
geltend. Die Ausführung von Übersetzungen wird erschwert, die Reaktionszeit
werden länger, die Fehler zahlreicher.
Über Kräpelins Experimente mit kleinen Alkoholdosen ist ein scharfer Srr-
entbrannt, in dem Moll (86) mehrfach das Wort ergreift, um zu beweisen. i>
KräpeUn schon kleine Dosen Alkohol für gefährlich erklärt lud; und bei sec-:
Experimenten die Suggestion eine Fehlerquelle darstellte, lsserhn (68) nennt c
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Peretti, Intoxikations-Psychosen.
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..Nachweise** Molk haltlose Behauptungen. Schenk (109) stellt sich mehr auf den
AfoUschen Standpunkt und will überhaupt den experimentell-psychologischen
Forschungen nicht den allein ausschlaggebenden Wert beimessen, da sie die Affekte,
die doch in hervorragendem Maße unser Handeln beeinflussen, nicht berücksichtigen.
Gorrieri (53) untersuchte das Blut von 8 Alkoholdeliranten
und iand Verminderung des Hämoglobingehalts und der Zahl der roten Blut¬
körperchen, polynukleäre Leukozytose im akuten Stadium der Krankheit, ge¬
steigerten Blutdruck, Herabsetzung der Widerstandsfähigkeit der Blutkörperchen,
Vermehrung des osmotischen Drucks des Blutserums.
Nach Schenk (107) finden sich die der T r i n k e r p s y c h e beigelegten drei
Eigenschaften: Impulsivität, geistige Ataxie (Störung oder Aufhebung des Ab¬
schätzungsgefühls für geistige Distanzen, Übersehen der eigenen und der fremden
Interessenkreise) und geistige Descquilibrationen (plötzlicher Umschlag der Geistes¬
lage) auch bei geistig Minderwertigen ohne Alkoholismus. Der Alkohol schafft in
der größten Mehrzahl der Fälle keine neue Eigenschaften, sondern verstärkt bereits
in Erscheinung getretene Charaktereigenschaften oder versetzt vorhandene Anlagen
aus dem Latenz- in den aktiven Zustand. Denn wie sich mehr und mehr heraus¬
stellt. stellen die psychopathisch Minderwertigen das größte Kontingent der Trinker.
Gegenüber Graeter und Stöcker, die den chronischen Alkoholismus vielfach
nur als ein sekundäres Symptom anderer Psychosen, insbesondere der Dementia
praecox betrachtet wissen wollen, betont Witiermann (120) die Bedeutung des
Milieus für die Entstehung des chronischen Alkoholismus. Von Haus aus
psychisch Gesunde können durch die in München herrschenden Trinksitten zu
chronischen Alkoholisten werden. Bei dem gewöhnlichen hauptsächlich durch
das Milieu bedingten Alkoholismus wird die Widerstandslosigkeit gegen die Trink¬
sitten größer, es tritt eine progressive Gleichgültigkeit gegenüber den Folgen des
Potatoriums auf und der Schwachsinn mit seiner Unfähigkeit zur Erkenntnis
der Notwendigkeit der Abstinenz kann rein alkoholischen Ursprungs sein und
braucht keineswegs im Sinne einer Dementia praecox gedeutet zu werden. An
Beispielen, die keineswegs von verkommenen Alkoholisten stammen, zeigt W.,
daß bei Münchener Arbeitern, die wegen Alkoholismus eingeliefert wurden, von
dem täglichen Durchschnittseinkommen von 3,60 bis 4 M. annähernd 1 M. auf die
Ausgabe für Bier fällt, also 25 bis 27,7%.
Forel (43) erörtert die Alkoholblastophthorie, von der er
zwei Formen annimmt, die akute durch Rausch während der Zeugung herbei-
geführte Keimzellenvergiftung und die chronische, die durch Einwirkung täglich
genossener Alkoholdosen die Keimdrüsen beständig alteriert und schließlich die
Keimzellen dauernd krank macht. Statistische, anatomische und tierexperimentelle
Untersuchungen beweisen, daß die Entartung durch Keimvergiftung unbedingt
feststeht, aber die Frage muß noch durch weitere Erhebungen, Beobachtungen
und Experimente immer tiefer ergründet werden. Gegen die Entartung unserer
Kulturrassen, die auf verkehrter Zuchtwahl (Erhaltung der Schwachen und
Entartung und Tötung im Krieg oder Überlastung der Kräftigen und Gesunden)
und auf dem zunehmenden Alkoholkonsum beruht, kann nur mittels Abstinenz
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
und Eugenik erfolgreich gekämpft werden. In Schweden hat sich infolge der Ab¬
stinenzbewegung seit 1880 eine stetige Besserung des Resultates der Rekruten -
Aushebung gezeigt, damals 29%, jetzt nur noch 19% Untaugliche.
Holitscher (62) erörtert unter Bezugnahme auf die Forschungen von Laitinen
und v. Bunge die Gefahren des Alkoholismus für die Nachkommenschaft
und hält es für wichtig, daß die Zweifel an der keimschädigenden Wirkung des
Alkohols, die bezüglich der Trunksucht, des Übermaßes kaum mehr bestehen,
auch für den mäßigen Genuß getilgt werden. Bei der großen Zahl von Abstinenten
hofft er, daß in frühestens 10 Jahren an der Hand von ärztlichen Fragebogen
brauchbare Ergebnisse der Forschungen über die Gesundheitsverhältnisse der
Nachkommenschaft von Abstinenten zu erwarten sein werden.
Nach Fehlinger (39) berechtigt nichts zu dem Schlüsse, daß erbliche
Entartung zu den üblen Folgen des Alkoholmißbrauchs gehört. Wenn auch
der Alkoholgenuß häufig dazu führt, die vorhandene Entartung zum Vorschein
zu bringen, was von anderen Umgebungseinflüssen in gleicher Weise gilt, so kann
man doch von der Beseitigung des Alkohols ein Verschwinden der Entartung nicht
erwarten. Die Mehrzahl der Verbrecher, ob Alkoholiker oder nicht, ist defekt
veranlagt, und darauf sind ihre Straftaten zurückzuführen. Deshalb sind die auf
„Besserung“ gerichteten Bestrebungen aussichtslos.
Gegenüber Fehlinger hält Hoppe (63) nach dem heutigen Stande der Wissen¬
schaft nichts für sicherer, als daß der Alkohol sowohl als akute Vergiftung zur
Zeit der Zeugung als auch als chronischer Alkoholismus und zwar selbst in Mengen,
die man allgemein als mäßig anzusehen gewöhnt ist, eine exquisit degenerierende
Wirkung hat.
Donath (32) weist auf die erbliche Übertragung des Alko-
holismus der Eltern und Vorfahren auf die Nachkommen sowohl in gleich¬
artiger als ungleichartiger Form hin und kommt nach der Schilderung von fünf
Fällen dipsomanischer Kranken zu dem Schlüsse, daß die Dipsomanie in
ihrer reinen Form endogenen Ursprungs ist, eine Erscheinung der psychischen
Degeneration darstellt und von der symptomatischen Dipsomanie, als einer Be¬
gleiterscheinung von Psychosen, Epilepsie getrennt werden muß.
Marchiafava, Bignami und Nazari (81), die schon früher über eine Alteration
des Corpus callosum bei chronischen Alkoholisten berichtet hatten, verfügen jetzt
über ein Material von 12 Fällen, in denen sich eine Systemdegeneration
der Kommissurbahnen des Gehirns fand; sie glauben, daß diese Krank¬
heitsfälle sowohl vom klinischen als auch vom pathologisch-anatomischen Stand¬
punkt aus eine eigene Stellung einnehmen und daß der Alkohol in einer konstanten
elektiven Weise hauptsähclich auf die Kommissurbahnen wirkt.
Fahr (37) stimmt mit anderen Autoren darin überein, daß die Leber¬
zirrhose nur bei einzelnen Säufern vorkommt, wenn auch die Zirrhose am
häufigsten bei Potatoren gefunden wird, und stellt als Kardinalsymptom der reinen
chronischen Alkoholvergiftung die Verfettung der Leber hin, die von
entzündlichen Veränderungen begleitet sein kann, aber keineswegs begleitet zu
sein braucht. Der Alkohol ist aber nicht das einzige ursächliche Moment der Ver-
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F ere11i, Intoxikations-Psychosen.
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fettung, als Hilfsmoment spielt die bei fast allen chronischen Alkoholikern sich
geltend machende Alkoholkachexie eine Rolle.
Crothers (24—28) kämpft in seinen kleinen Aufsätzen mit großer Energie
gegen den bisherigen therapeutischen Nihilismus in der Trinkerbehand¬
lung. Einfache Einsperrung und erzwungene Abstinenz erreichen nichts. Inten¬
sive ärztliche Tätigkeit, die jeden Kranken besonders behandelt, ist nötig.
Verf. unterscheidet scharf den chronischen Alkoholiker und den periodischen
Trinker. Bei dem ersteren sind die Heilungsaussichten schlecht, denn hier handelt
es sich meist um tiefgehende irreparable Störungen, dagegen sind die therapeu¬
tischen Erfolge bei periodischen Trinkern recht gut. Bei ihnen ist die Trunksucht
nur ein Symptom, nicht aber die Ursache des Leidens. Je nach der Art des Grund¬
leidens wird man seine therapeutischen Maßnahmen treffen. Bei einzelnen ist
Änderung der Ernährung und energische Hautanregung mittels Bäder am Platz;
bei anderen bedarf es vor allem reichlicher Bewegung in fri-eher Luft, bei wieder
anderen bringt Entfernung aus der gewohnten Umgebung und verlängerter Schlaf
Heilung. Zuweilen genügt allein eine Beschäftigungs- und Ablenkungstherapie.
Die Hauptsache ist wohl stets die psychische Behandlung, die lange fortgesetzt
werden muß. In ein paar Wochen kann nichts erreicht werden. Crothers verlangt
mindestens viermonatelange Krankenhausbehandlung und mehrjährige Nach¬
behandlung in der Familie. Die noch viel verbreiteten Schnellkuren werden ge¬
bührend zurückgewiesen. Daß aber zuweilen ein einfaches Rezept bei periodischer
Trunksucht Nutzen bringen kann, gibt Verf. zu und führt selbst einen einschlägigen
Fall an. Einem Richter, der sonst ganz abstinent war und nur bei bestimmtem
Anlaß, z. B. beim Liebesmahl, sinnlos trank, wurden 2 bis 3 Tage vor diesen Festen
große Dosen von Quassia viermal täglich und außerdem geringe Mengen Strychnin
und Atropin verordnet. Der Erfolg war glänzend, die Sucht nach Alkohol war
mit einem Schlage verschwunden.
Dies sind aber Ausnahmefälle; im allgemeinen bedarf es einer intensiven
ärztlichen Behandlung. (GefZer-Grafenberg.)
Perrot (93) empfiehlt die von Tuwim vorgeschlagene Behandlung der Alko¬
holiker mit Atropin. Er geht dabei von der Erwägung aus, daß falls der bei den
Alkoholikern vorhandene Bedarf nach Nervenreizen durch Atropin — oder durch
ähnliche Mittel — gedeckt wird, ein weiterer durch Alkohol erzeugter Reiz bereits
als lästig empfunden wird. Es kann auf diese Weise für längere Zeit ein Wider¬
willen gegen Alkohol- und in manchen Fällen auch gegen Tee und Kaffee geschaffen
werden. Die vom Autor angewandten Dosen von Atropinum sulfur. schwankten
zwischen 0,001 und 0.01 pro die. Außer vorübergehender Akkommodations¬
störung wurden keine lästigen Nebenerscheinungen verzeichnet. Der Erfolg war
in allen Fällen ein ausgezeichneter, obwohl die Beobachtungszeit eine zu kurze ist
(nicht länger als ein Jahr), um von definitiver Heilung zu sprechen. Andererseits
hebt der Verf. hervor, daß seine Patienten in Ostsibirien leben, wo der Alkoholismus
furchtbar wütet und wo horrende Alkoholdosen in Gebrauch sind.
( Fleischmann-Kxe'w .)
Wesentlich ungünstiger lauten die Erfahrungen, die Popow (96) mit der
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
Atropinbehandlung des Alkoholismus gemacht hat. Von seinen 11 Fällen
scheiden 8 aus, in denen die Behandlung nicht konsequent durchgeführt werden
konnte. In 2 Fällen brach Verf. selbst die Behandlung wegen Ausbleibens der
Wirkung ab, und nur in einem Falle wurde ein richtiger Erfolg erzielt. Verf. meint,
daß die Wirkung eine weit größere sein würde, wenn das Mittel dem Patienten
ohne sein Wissen, also unter die Speisen oder Getränke gemischt gereicht werden
könnte. (Fleischmann- Kiew.)
Zur Warnung vor Alkoholordination bei abstinent ge¬
wordenen früheren Alkoholisten veröffentlicht Maier (80) einen Fall, wo infolge
der ärztlichen Verordnung von Eierkognak und Chinawein bei einem an Gelenk¬
rheumatismus erkrankten Abstinenten ein Rückfall in den Alkoholmißbrauch
eintrat, wegen tobsüchtiger Erregung dann Anstaltspflege notwendig wurde
und der von seiner Psychose Genesene dem Arzt vorwarf, daß er die Schuld am Ver¬
luste der Stelle und dem Ruin der Familie trage.
Minor (84) berichtet über die echt russische Behandlungsmethode
der Alkoholisten in Polikliniken, insbesondere in der seiner
Leitung unterstellten in Moskau, in der von 1903 bis 1908 fast 10000 Personen
beraten und behandelt wurden. Aus den interessanten Mitteilungen wird ent¬
nommen, daß die Frauen 13,5% ausmachen, daß fast 47,6% der Trinker im Alter
von 15 bis 20 Jahren, 21,5% im Alter von 20 bis 25 Jahren und 18,6%
im After von 10 bis 15 Jahren zu trinken begonnenhaben und daß 62,4% Ge¬
wohnheitstrinker, 32,5% Gelegenheitstrinker und 3,2% an Dipsomanie Leidende
waren. Die hereditäre Belastung durch Alkoholismus der Aszendenten wird
nach M .s Ansicht überschätzt, das Milieu spielt bei dem Massenalkoholis¬
mus eine bei weitem größere Rolle. Die poliklinische Behandlung, vor¬
wiegend durch Hypnose, hat im Sinne der völligen Heilung nur einen sehr
fraglichen Wert, doch hat auch die temporäre Unterbrechung der chronischen
Vergiftung große Bedeutung. Denn M. berechnet, daß selbst bei einer hinter
der Wirklichkeit zurückbleibenden Annahme von 3 Monate relativer Heilung bei
60% von 2000 Alkoholisten im Jahre für den Staat der Wert nützlicher Arbeit
von 250 Menschen in einem Jahre gewonnen wird, entsprechend mehr als 150 000 M.
Mit der Tätigkeit der Polikliniken ist M. nicht zufrieden, weil sie zu wenig spezifisch
Ärztliches in sich birgt, und befürwortet stationäre Kliniken und Heilanstalten
für Alkoholiker.
Solbrig (113a) erörtert eingehend die staatlichen und städtischen
Maßnahmen gegen den Alkoholismus und kommt zu dem Er¬
gebnis, daß die gesetzlichen Bestimmungen nicht ausreichen*, er fordert u. a. Be¬
strafung der öffentlichen selbstverschuldeten Trunkenheit, Zulässigkeit der zwangs¬
weisen Unterbringung Trunksüchtiger auch ohne Entmündigung in Trinkerheil-
und Pflegeanstalten, Berechtigung des Staatsanwalts zur Stellung des Antrags auf
Entmündigung wegen Trunksucht, Anerkennung der Trunksucht unter gewissen
Voraussetzungen als Scheidungsgrund, Zuziehung eines ärztlichen Sachverstän¬
digen bei allen Trunksuchtsdelikten, bei jeder Entmündigung wegen Trunksucht
und jeder Zwangsüberführung in Trinkerheilanstalten, Errichtung öffentlicher
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Peretti, Intoxikations-Psychosen.
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Trinkerhett* and Pflegeanstalten, Prüfung des Bedürfnisses bei Konzessioniereng
von Schankstätten und Flaschenbierhandlungen usw.
Rohde (100 u. 101) wünscht, daß ein Trinker nicht nur, wie es bisher nur
möglich ist, erst nach Entmündigung in einer Trinkeranstalt untergebracht werden
kann, sondern daß durch einen von der Entmündigung unabhängigen Beschluß
des Amtsgerichts auch ohne öffentliches Interesse die zwangsweise Ein¬
weisung eines Trinkers, wenn Aussicht auf Heilung besteht, erfolgen
kann, ferner daß bei Einweisung im öffentlichen Interesse und dementsprechend
auf öffentliche Kosten und unter öffentlicher Aufsicht die den Gerichtsbeschluß
ausführende Behörde, zweckmäßig die Landespolizeibehörde über die Dauer
der Behandlung und die Entlassung aus der Anstalt befinden soll, vielleicht im
Einvernehmen mit der Staatsanwaltschaft oder dem beteiligten Armenverbande.
Hotter (64) stellt die Fälle von Totschlag und Körperverletzung
mit Todeserfolg, die in den Jahren 1900—1909 vor dem niederbayerischen Schwur¬
gericht abgeurteiltj^worden sind, zusammen und findet, daß unter 207 Fällen an
3onn- und Feiertagen oder nach Biergenuß 187 = 90,3% verübt worden sind,
ilso mit erhöhtem Alkoholgneuß Zusammenhängen; in einzelnen Jahren ent¬
fallen sämtliche Verbrechen, also 100%, auf Sonn- und Feiertage oder Trink-
;elegenheiten.
Die Frage „Haben die Kampfesmethoden der Abstinenten
nnen einwandsfreien wissenschaftlichen und kulturellen Wert?“ beantwortet
Dr. phil. Bauer (10), der aus seiner „Welt, wo dem Becher stark zugesprochen wird“,
lie Abstinenten als Gesundheitsfanatiker, Humanitätsdusler usw. bezeichnet,
natürlich mit Nein, er glaubt, daß die Krankheit „Alkohol-Idiosynkrasie“, eine
irt Hysterie, wie die Bakterienfurcht vorübergehen wird, und sucht zu beweisen,
laß von der behaupteten toxischen Natur des Alkohols nichts übrig bleibt und
laß der Alkohol für den nutritiven Stoffwechsel etwa dasselbe ist, wie für den
espiratorischen Stoffwechsel der Sauerstoff. Nicht ohne Bedenken muß der Arzt,
luch der nicht abstinente, ferner noch die Sätze lesen, wie die über den Nutzen
les Bieres bei stillenden Frauen, dann: daß gewisse Biere bezüglich des Nährwerts
eden Vergleich mit der Milch aushalten könnten, daß es klug sei, Kindern vom
.4. Jahre ab den mäßigen Genuß von Wein oder Bier zu gestatten, um sie für das
jeben, in dem die alkoholischen Getränke eine wichtige Rolle spielen und als
lenußmittel einen Teil der Nahrung ersetzen, zu erziehen. Es wird ihm auch
rohl kaum ein Kriminalist zustimmen, daß bei schweren Verbrechen der Alkohol
lur eine nebensächliche Rolle spielt und daß die „schweren Jungen“ sich vor¬
liegend aus Abstinenten und Mäßigen rekrutieren. Uber die Gefahren des Miß-
irauchs geistiger Getränke, über die sozialen Schäden spricht er leider gar nicht,
en Schnaps erwähnt er nur wenig, und mehrfach klingt das Lob des
Lehnstuhlbehagens“ und der „Feierabendstimmung“ nach Bier- oder Wein¬
enuß durch. Unter den wahren Ursachen der modernen Degenerationserschei-
ungen hat nach B.s Ansichten der Alkohol nicht viel zu bedeuten, sie sind viel-
lehr in letzter Linie in der Mineralstoffverarmung des Bodens und damit in dem
lalzmangel unserer Nahrung zu suchen; denn alle Stoffwechselkrankheiten hängen
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252* Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
mit mineralstoffarmer Ernährung zusammen. Ein Buch, das zum Trinken t
mieren soll.
c) Korsakowsche Psychose. Polyneuritis.
Geier (49) will die Korsakowsche Psychose nicht als selbsuci.-
nosologische Einheit anerkennen. Er sieht darin nur eine klinische Form der L-
aktion des Organismus auf eine Intoxikation. Immerhin soll man narh (i. ;■*
Bezeichnung ,.Korsakotvs che Psychose“ für die Fälle reservieren, in denen
auf dem Boden einer Intoxikation entstandene Kombination des amnesti*t*:
Symptomenkomplexes mit Erscheinungen der Polyneuritis vorliegt. In andsi-:
Fällen soll man nur von einer Kombination mit dem Korsakowschen Symptome
komplex sprechen. Die Prognose der Korsakowschen Psychose hängt ebenso »-
deren Verlauf, Symptomatologie und pathologische Anatomie von der Äti»l>;-
ab. Das weitere Studium muß zur Zergliederung dieser Krankheitsform in v-r-
scheidene Gruppen führen. Vorläufig lassen sich Gruppen mit den ätiologwlr:
Momenten der Infektion und des Alkoholismus unterscheiden.
(Fleischmam i-Kies
Chotzen (21) bespricht in einem Vortrag die chronisch -halluzinaton?r:<
Krankheitsbilder in dem Defektzustande der alkoholischen Korsakowsehen
chose: das eine Mal werden gewisse Beeinträchtigungsideen ohne W'eiterbite:-
festgehalten, andere Male kommt es zur fortschreitenden Wahnbildung ml»: •
bleiben massenhafte Sinnestäuschungen mit phantastischen Konfabulat:*
und wechselnden Wahnvorstellungen. Manchmal bricht im Defektstadium
weiter fortgesetztem Alkoholmißbrauch wieder eine halluzinatorische Psyti'
aus, die dann chronisch wird. Bei allen diesen Fällen war degenerative Anh-
Senium praecox oder Arteriosklerose nachzuweisen.
Ehmsen (35) beschreibt ausführlich einen Fall von Korsakourschem Sn-
ptomenkomplex bei einem Alkoholisten, die Erscheinungen besserten sich :
Ausnahme der Gedächtnisstörung.
In den 5 Fällen von Korsakow, die Rollmann (102) in der Bonner H ■
beobachtete, war nur dreimal chronischer Alkoholismus, ferner einmal Lues l
einmal Senium als ätiologisches Moment nachzuweisen. Alkohol und Lues in
Anamnese lassen die Prognose nicht immer ungünstig erscheinen. Die neuriti?r:•:
Erscheinungen waren sehr verschieden stark ausgeprägt. RoUmatm schließt -
der Ansicht von Meyer und Raecke an, daß der Korsakowsche Symptomenkm
keine Krankheit sui generis ist.
Fränkel (45) beschreibt das Auftreten des Korsakow&chen Sympter
komplexes nach Strangulations versuch bei einer 36jährigen 1:
die schon vorher katatonische Symptome darbot. Die amnestischen Störu:-'
bestanden noch vier Monate nach dem Suizidversuche. Fr. nimmt an. dat
Gedächtnisstörungen nach Strangulation ebenso wie die nach Gehimerschüttrr. -
und Kohlenoxydvergiftung auf eine organische Schädigung des Gehirns xun. ■
zuführen sind.
Sarieschi (105) beschreibt den Hirnbefund bei einem unter dem kliiuK
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Peretti, Intoxikations-Psychosen.
253*
Bilde der Korsakotcschen Psychose gestorbenen 68jährigen Alkoholisten, wobei
iine Veränderung der weißen Hirnsubstanz auffallend war.
Diese war charakterisiert durch rötlich bis schmutziggraue Verfärbung der beider-
teitigen Irradiationszentren, Degeneration der Nervenfasern, progressive und
regressive Prozesse der Neuroglia, Gefäßneubildung und Anhäufungen von Körnchen-
sellen.
Einsler (36) beschreibt den ungewöhnlichen Fall einer doppelseitigen Ra«
iialislähmung auf alkoholischer Basis als Hauptsymptom
üner Polyneuritis, die sich auch in leichten ataktischen und neuralgischen Er¬
scheinungen an den Beinen bemerkbar machto.
Austregesilo (4) beobachtete bei einem 12jährigen brasilianischen Knaben
•ine Polyneuritis scorbutica, wobei als frühzeitiges Symptom ein
ikneförmiger Ausschlag und eine ausgesprochene Steigerung der Sehnenreflexe
uiffielen. A. glaubt, daß manche vermeintliche Beri-Beri-Epidemien in Wirk-
ichkeit Epidemien von Polyneuritis scorbutica seien.
d) Morphium, Opium, Kokain.
Dornblüih (33) wandte anstelle der von ihm mit Erfolg erprobten Opiumkur
>ei Morphiumentziehung das neue Mittel Pantopon in 5 Fällen an
ind empfiehlt es sehr, besonders weil es von vornherein völligen Verzicht auf
Morphium gestattet und anfangs subkutan angewandt werden kann. Die gleich-
leitige innerliche Darreichung von Pantopontabletten macht schon nach einigen
Tagen die Injektionen entbehrlich, allerdings unter Umständen bei einer Stei¬
gerung bis zu 30 Tabletten von je 0,01 in 24 Stunden. Das Pantopon läßt sich
•benso wie das Opium leicht und in kurzer Zeit entziehen, ohne daß wieder Ver-
angen nach Morphium auftritt.
Juliusburger (71) hat bei Morphiumentziehung statt des von ihm früher
gereichten Trional in einigen Fällen A d a 1 i n gegeben und erblickt in ihm ein
lehr zweckmäßiges Mittel zur Bekämpfung der lästigen Unruhezustände und der
quälenden Organgefühle. Adalin in Verbindung mit Trional, Veronal oderMedinal
•rwies sich sehr wirksam gegen die hartnäckige Schlaflosigkeit der Morphinisten.
Vuch hält J. das Adalin für sehr geeignet, neben Bäderbehandlung die Angst- und
Jnruhezustände, sowie die Schlaflosigkeit mancher Alkoholiker bei Entziehung
les Alkohols günstig zu beeinflussen.
Schröder (111) spricht sich gegen die im Laufe der Zeit hervorgetrene starke
Überschätzung der Gefahren einer plötzlichen Ent¬
lieh u n g von Morphium aus und zeigt an der Hand von sechs Krankenge-
chichten aus der Breslauer Klinik, in der in den letzten Jahren die Mehrzahl der
Morphinisten, einschließlich der körperlich reduzierten und der gleichzeitig an
:ürperlichen oder nervösen Erkrankungen leidenden, vom Tage ihrer Aufnahme
in kein Morphium erhält, daß die plötzliche Entziehung erhebliche oder gar be-
Irohliche Erscheinungen zum mindesten nicht im Gefolge zu haben braucht. Ein
inangenehmer Zustand von Unbehaglichkeit, Schlaflosikeit, Frösteln, gelegent-
ichem Erbrechen usw. dauerte nur 3—6 Tage und war nicht erheblich. Zur Er-
Zeitschrift für Psychiatrie. LXIX. Lit. g
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
leichterung dieser Beschwerden dienten in den ersten Tagen kleine Dosen von
Schlafmitteln: Veronal 0,6, Trional 1,0 mehrmals täglich, einige Gramm Brom¬
kalium, 1 mg Hyoscin, 5 g Paraldehyd. Überwachung der Herztätigkeit und des
Allgemeinzustandes ist das Wichtigste.
Dupouy (34) schließt aus den Werken und Briefen des Dichters Edgar Poe ,
daß dieser nicht nur ein Alkoholist infolge periodischer Erregungen war, sondern
auch dem Opiummißbrauch verfallen war, daß aber die Gifte keineswegs günstig
auf Inspiration und Produktion, vielmehr zerstörend auf sein Gehirn eingewirkt
haben.
Eigier (69) bespricht die nicht häufig zu beobachtende chronische Ko¬
kainintoxikation und führt die Krankengeschichte eines 26jährigen
Zahnarztes an, der stark nervös veranlagt, sich subkutan Kokain beibrachte und
die Tagesdosis von 0,1 binnen zwei Monaten auf 4—6 g steigerte. Nach einem
Vorstadium von Schlaflosigkeit, Zittern und Parästhesien bekam er innerhalb
drei Wochen zwei Anfälle, die einer akuten halluzinatorischen Alkoholpsychose
ähnlich sahen, als solche mit Morphium behandelt wurden und nach einigen Stunden
vollständig geschwunden waren. Abgesehen von der später eruierten Anamnese
wiesen auf das Bestehen einer Kokainvergiftung hin: die zahlreichen Spuren von
Injektionsstichen mit der für Kokaininjektionen charakteristischen braunschwarzen
Verfärbung, ferner das Magnansche Zeichen, die eigentümlichen Parästhesien
am Rumpf, als ob Fremdkörper unter der Haut wären, und die Art des psychischen
Anfalls, der sich vom Alkoholrausch, den der Patient kannte, dadurch unter¬
schied, daß dem Kokainrausch ein gehobenes Selbstgefühl vorausging, dem eine
schwere Dyspnöe mit Angstgefühl folgte, und daß Pat. bei dem Kokainrausch,
solange er bei Bewußtsein blieb, logisch denken konnte, während er bei erhaltenem
Bewußtsein im Alkoholrausch ziemlich zerfahren, ideenflüchtig und kritiklos war.
Die günstige Wirkung des Morphiums, das bekanntlich die alkoholischen Delirien
wenig beinflußt, aber Antidot für Kokain ist, spricht auch für die Kokainätiologie.
Schließlich betont H. noch die Gefahr des Selbstmords bei Kokainintoxikation
infolge der angstvollen Halluzinationen.
e) Tabak.
Bresler (17) widmet das erste Kapitel seiner auf mehrere Hefte berechneten
„literarischen Studie über den Tabak in medizinischer Beziehung“ den Geistes¬
störungen und Nervenkrankheiten nach Tabakmi߬
brauch und gibt die wichtigsten Fälle aus der Literatur ausführlich wieder.
Die Ausbeute an ausgesprochenen Psychosen ist eine geringe, die Jahresberichte
der Irrenanstalten erwähnen nur selten einen Fall von Geisteskrankheit infolge
chronischen Tabakmißbrauchs und so erscheint es erklärlich und berechtigt, wenn
an diesen ursächlichen Zusammenhang und das Vorkommen von Nikotinpsychosen
überhaupt nicht recht geglaubt wird. Des weiteren bespricht Bresler die Tabaks¬
amblyopie, die Erkrankungen des Gehörorgans, des Herzens und Gefäßsystems,
sowie die Verdauungsstörungen bei Tabakmißbrauch.
v. Frankl -Hochwart (46) referiert auf der Jahresversammlung deutscher
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Peretti, Intoxikations-Psychosen.
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Nervenärzte an der Hand des großen Materials von 670 Rauchern (unter
800 Männern) über die bei ihnen vorgekommenen nervösen Erkrankun¬
gen. Unter den zerebralen Symptomen allgemeiner Natur fand sich Kopfschmerz,
meist in Form eines Druckes, hier und da auch echte Migräne, ferner Kopfsausen,
Erschwerung des Einschlafens und unruhiger Schlaf, Stimmungsanomalien im
Sinne der Depression und Ängstlichkeit, einige Male abnorme Reizbarkeit, Agora¬
phobie oder Zwangsvorstellungen. Etwa 60 Kranke klagten über Gedächtnis¬
defekte. Einige Male, bei sehr starken Rauchern, kam eine mäßige geistige Schwäche
schon um das 60. Jahr vor und zwar Verkleinerung des geistigen Horizonts und
deutliche Abnahme der Energie, v. Fr. sah zwei Fälle von Amentia und einen
Fall von Paranoia bei starken Rauchern und hält die Möglichkeit eines Zusammen¬
hangs zwischen Nikotinismus und Psychose für gegeben, wenn sich auch ein Voll¬
beweis dafür nicht erbringen läßt. Vorübergehende Bewußtseinsstörungen und
Synkopen kommen bei schweren Rauchern anerkanntermaßen vor, Frühapoplexien
sind infolge der durch Nikotin veranlaßten Arteriosklerose nicht selten. Für Epi¬
lepsie ist Nikotin nur als veranlassendes Moment zu bezeichnen. In zwei Fällen,
bei einem 67jähr. anstrengend arbeitenden Juristen, der bis 14 Havannazigarren
am Tage rauchte, und bei einer 24jähr. Artistin, die als Trick aus einer eigens dazu
gebauten Vorrichtung 120—200 Zigaretten auf einmal in drei Minuten ausrauchte,
fanden sich meningitische Symptome (Kopfschmerzen, Brechreiz, Verwirrtheit).
Man kann von einer Nikotin-Meningitis sprechen, das Krankheitsbild scheint dem
der Meningitis serosa nahezustehen. Von Herd- und Hirnnervensymptomen sind
am interessantesten die aphasischen Komplexe, die Meniire sehen Symptomkom-
plexe, die Nikotinamblyopien. Ob Pupillenstarre eine Teilerscheinung des Niko¬
tinismus sein kann, läßt sich mit Sicherheit nicht behaupten. Neuralgien sind bei
Rauchern nicht selten. Bezüglich der Annahme einer Nikotin-Polyneuritis drückt
sich Verf. vorsichtig aus, er stellt sie als möglich hin. Daß der Nikotinabusus bei der
Ätiologie des intermittierenden Hinkens von Bedeutung ist, erscheint nach den
Untersuchungen Erbs u. a. sicher. Nach Erwähnung der nervösen Affektionen
der inneren Organe, von denen bekanntlich das Herz früh in Mitleidenschaft ge¬
zogen wird, bespricht Verf. zum Schluß seines Referats die Verbindung des Niko¬
tinismus mit anderen Vergiftungen: Alkohol, Diabetes und Lues. Unter Neur¬
asthenie-Luetikern waren doppelt soviel starke und sehr starke Raucher als unter
normalen Menschen, unter den Fällen von echter Nervenlues waren 40,6% und
bei den Fällen von Metalues (Tabes und Paralyse) 33,6% starke Raucher gegen¬
über 18,6% unter normalen Menschen.
AIb Mitreferent sprach auf der Versammlung der Pharmakologe Fröhlich
(48),' der die körperlichen Erscheinungen der Nikotinvergiftung als das Resultat
einer Erregung des vegetativen Nervensystems bezeichnet.
Löwy (79) beschreibt acht Fälle von unbestimmtem Beobach¬
tungswahn, diffuser Eigenbeziehung; die Kranken fühlen sich allgemein
angeschaut und beredet und suchen und finden hinter allem etwas, „was einen
angeht“, haben unbestimmte Angst und das Gefühl erhöhter Importenz. Die
Zustände sind zu unterscheiden von dem zirkumskripten Beziehungswahn mit dem
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
auf ein Thema dirigierten Gedankengang (Querulantenwahn etc.). Exzessive
Raucher, Meteorismusträger, Dyshumorale Hysterische und andere Neuropathen
zeigen aus dem geschilderten Gemütszustand heraus diesen diffusen Beobachtungs¬
wahn. Der erste Fall Lötoys betrifft einen 26jähr. neurasthenischen Lehrer, der durch
Rauchexzesse kongestive Unruhe- und Angstanfälle mit diffusem Beob¬
achtungswahn bekam, aber später auch in ruhigen Zeiten die Idee hatte, die Leute
sähen ihn an und redeten über ihn (subakute Raucherparanoia). Hach Rauch¬
entziehung Rückgang der Unruhe und des Beobachtungswahns in wenigen Wochen.
Auch im zweiten Falle lag wahrscheinlich „Raucherangstneurose“
vor, während in den anderen Fällen Nikotin keine Rolle spielte.
Pel (92) beschreibt den seltenen Fall einer Tabakspsychose bei
einem dreizehnjährigen, in einer Zigarrenfabrik beschäftigten, nicht erb¬
lich belasteten Knaben, der täglich 10—20 Zigarren rauchte. Die Psychose
äußerte sich in Schlaflosigkeit, Veränderung des Wesens (Ungehorsam und Launen¬
haftigkeit im Gegensatz zu früherer Liebenswürdigkeit), Nachlaß des Gedächt¬
nisses, Unorientiertheit, Sinnestäuschungen und hochgradigem Wechsel zwischen
heiterer Erregung mit Pfeifen und Singen und Depression mit Weinkrämpfen
und Benommenheit. Die Prognose hält Pel für günstig.
f) Andere Gifte.
Kanngießer (72) nahm experimenti causa zehn reife Beeren einer wild ge¬
wachsenen Atropastaude und studierte an sich die Giftwirkungen, die sich
schon nach 7 Minuten zuerst durch Schwindel zeigten. Neben Pupillenerweiterung,
Akkommodationsstörungen, Trockenheit im Halse und zunehmendem Schwindel
traten etwa 10 Stunden nach der Giftaufnahme psychische Störungen auf: hastiges
Sprechen, Exaltation, Somnolenz und lebhaftes Phantasieren. Am folgenden
Tage mit beginnender Besserung machte sich auffallende Gedächtnisschwäche
für die ailemächstliegende Vergangenheit bemerkbar in Art des Eorsa&otcschen
Symptoms, beim Sprechen war der Hauptsatz vergessen, wenn der Nebensatz
folgen sollte. Auf einem Spaziergang wurden Steine, Bäume usw. für Tiere und
Menschen gehalten, die Illusion aber bald als solche erkannt. Diese Gesichts¬
täuschungen, die übrigens nur einige Stunden anhielten, hingen wohl ebenso wie
das vorübergehend aufgetretene Sehen von Regenbogenfarben um die Gegenstände
mit der Mydriasis zusammen.
Die Vergiftungspsychose nach dem Genuß eines Infuses von 12 g Radix
hyoscyami nigri, die Sieberl (112) bei einem 43jährigen Manne beob¬
achtete, glich ganz einer Atropinvergiftung und stellte sich dar als Verwirrtheits¬
zustand mit motorischer Unruhe, massenhaften beängstigenden Gesichtstäuschungen,
erweiterten Pupillen, Trockenheit im Halse, beschleunigtem Puls und taumelndem
Gang. Der Zustand blaßte innerhalb eines Tages langsam ab und ließ einen Er¬
innerungsdefekt für die Erregung zurück. Trockenheit im Halse, Schwindel und
Zittern der Extremitäten blieben noch bis zum dritten Tage bestehen.
Möller (85) stellt die Ansichten der Autoren über die Psychosen infolge
Schwefelkohlenstoff Vergiftung zusammen, er betrachtet die
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Peretti, Intoxikations-Psychosen.
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’sychose entgegen dem ablehnenden Standpunkt KraepeUns in vielen Fällen als
rahre Giftwirkung. Die Erscheinung der Schwefelkohlenstoffpsychose ist gewöhn-
ich die einer Paranoia hallucinatoria acuta im Sinne Ziehens oder einer Demenz,
Lie sich meistens entwickelt, wenn häufig Rauschzustände vorausgegangen sind.
Hoffmann und Marx (60) nehmen in einem Falle, wo ein Mann einige Stunden
tach dem Tode seiner Frau sich und seinem Pflegekinde Schnittwunden beibrachte,
tnd den Gashahn öffnete, wodurch das Kind starb, als Grund für die bezüglich
ler Tat bestehende Amnesie die Kohlenoxydvergiftung an, da sich
n der Literatur Fälle von retrograder Amnesie nach Kohlenoxydvergiftung
inden. Leppmann sprach sich im Hinblick auf Anfälle von Bewußtlosigkeit bei
Mutter und Bruder und auf einen früher bei dem Manne beobachteten Ohnmachts-
infall für das wahrscheinliche Bestehen eines epileptischen Dämmerzustandes zur Zeit
der Tat aus.
Ueydner (58) beobachtete bei einem 20 Jahre alten, an Influenza erkrankten
Schüler nach 6—7 ccm Digalen eine Vergiftung, die nach 34 Stunden voll
ausgebildet war und sich in heftigem Singultus, gegen den nur Morphium half,
Verlangsamung des Pulses bis auf 30 Schläge in der Minute, Nierenreizung und
Verwirrtheitszuständen mit motorischer Unruhe äußerte. Diese bedrohlichen
Symptome gingen innerhalb 6 Tagen zurück und für diese Tage bestand Amnesie.
Schwerhörigkeit und Sehstörungen, als ob die Gegenstände wie durch einen Schleier
und in rotem Licht gesehen würden, dauerten noch einige Tage länger an und
erst nach drei Wochen war die Pulszahl wieder normal.
v. Hueber (66) führt einen Fall von Adalinvergiftung an. Eine
32jähr. Frau nahm in etwa einer Stunde 18 Tabletten von je 0,6 Adalin in kaltem
Wasser; es folgte ein SOstündiger regungsloser Schlaf, keine Puls- und Atem¬
störungen, kein Exzitationsstadium, keine Pupillenstörungen. Im Urin war kein
Eiweiß und kein Zucker. Noch 3 Tage war die Muskulatur mit Ausnahme der
Beine schmerzhaft, dann vollständiges Wohlbefinden.
g) Pellagra, Ergotinismus.
Flinker (41) bespricht die Pellagra als Volkskrankheit mit
Bezug auf die österreichischen Verhältnisse. In Tirol schätzt man die Gesamt¬
zahl der Pellagrö3en auf 6000—6000. Die toxische Substanz, die Pellagra ver¬
ursacht, ist nach Tierexperimenten allem Anschein nach der normale Maisfarb¬
stoff. Die zum Ausbruch der Krankheit notwendige Disposition wird gegeben
durch dürftige Nahrung, unhygienische Wohnungsverhältnisse und Alkoholmi߬
brauch. Als Bekämpfungsmittel dieser Volkskrankheit ist anzustreben: möglichst
Einschränkung des Maisgenußes, Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse,
Errichtung von Pellagrahilfsstellen.
Babcock (6) weist nach, daß die Pellagra in den Vereinigten Staaten von
Nordamerika seit einigen Jahren in epidemischer Form auftritt. Er schätzt
die Zahl der Erkrankungen in den letzten fünf Jahren auf wenigstens 6000. In
den Südstaaten, wo Mais in großen Mengen angebaut wird, finden sich natürlich
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
die meisten Erkrankungen, aber auch in den Mittel- und Nordstaaten tasse
vereinzelte Fälle vor.
Eine für Pellagra charakteristische Psychose gibt es nicht. Die versete«
sten Formen werden beobachtet von der einfachen Depression bis zur tief« V*-
blödnng. Babcock unterscheidet eine akute, fieberhafte und eine chronische Fons.
Bemerkenswert sind die häufigen Selbstmordversuche bei Pellagraknü*
und ihre Neigung zu kriminellen Handlungen,Mord,Kind estötung, Brandstifnus t*
((7eC«T-Grafenbert .,
Perry (94) schildert zwei Fälle von Pellagra aus Kansas und bringt de
Beweis, daß die Pellagra sich nicht mehr auf den Süden der Vereinigten Saite
beschränkt. Beide Kranke starben. Ein Fall bot monatelang das Bild eins zsü-
tiplen Neuritis. Auch wurden hohe Temperatursteigerungen beobachtet, währ-K
ja im allgemeinen die Pellagra ohne Fieber verläuft.
(G eifer-Grafenber.
Morpurgo (89) machte Assoziationsversuche an 25 pellagrösen und r 5
gesunden ungebildeten Landleuten, Arbeitern usw. und fand, daß in dem tky**-
siven Stadium der Pellagrapsychose ohne Verwirrtheit die Reaktionszeit« r-
länger waren, als bei geistig Gesunden, daß bei den Pellagrösen die innn-ad»
Assoziationen vorherrschten und daß Affekte bei den Pellagrösen einen pH«
Einfluß auf die Assoziationsvorgänge ausübten sowohl durch Verlängerung «
Assoziationszeiten, als auch durch Neigung zum Perseverieren.
Die Arbeit von Saunders (106) macht auf die häufigen gynäkologische
Befunde bei Pellagra aufmerksam. Bei weiblichen Pellagraknü^
wurden fast stets Menstruationsstörungen beobachtet, und zwar neigten die siet
verheirateten zu Amenorrhoe, Frauen, die mehrmals geboren hatten, dagegen s
Menorrhagie. Auch fanden sich häufig Vulvitis, Vulvovaginitis, Zervikalkaun
Endometritis und Ovarialneuralgie.
Häufig wird von Chirurgen und Gynäkologen das Grundleiden überahr.
und in manchen Fällen, die sich für chirurgische Behandlung nicht eignen, fpr
rativ vorgegangen. (Geüer-Grafenberz.)
Pighini und Ravenna (95) bekämpfen auf Grund ihrer Untersuchung« i*
von Cent vertretene Ansicht von dem Einfluß der Jahreszeiten auf die Giftigker
der Kulturen von Aspergillus fumigatus.
Gourewiisch (52) beschreibt 17 Fälle psychischer Erkrankungen, die auf d*
Boden einer Ergotinvergiftung entstanden sind. Die Erkrankten er¬
hörten zumeist dem armen und unwissenden Volksstamm der Korelen an. I*»
nach der Vergiftung beobachteten Krämpfe verschwanden beim Ausbruch de
Psychose. Was den Charakter der Psychose anbetrifft, so kann — nach dem V«t -
nicht nur von einer ätiologischen, sondern gewissermaßen auch von einer klx-
schen Einheit gesprochen werden. Das Krankheitsbild hat manche Berührung
punkte mit dem epileptischen Dämmerzustand, aber auch mit den durch Alkebv
intoxikation hervorgerufenen Psychosen. Es wurden Illusionen, HaUuzinaric&s
sowie Störungen der Gefühlssphäre beobachtet. Bei einigen Kranken trat motorisch
Unruhe in den Vordergrund. Ferner werden Dämmerzustände, Herabsetzac
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Peretti, Intoxikations-Psychosen.
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es Intellekts and einige psychische Symptome verzeichnet. Im Verlaufe der
Krankheit sind mehrfache Remissionen and Exazerbationen vorgekommen,
(Fleischmann-Kim.)
Jdhrmaerker (69) hat über 108 Fälle aus der oberhessiscehn E r g o t i s -
lusepidemie von 1865/56 Erhebungen angestellt, deren Resultate er des
äheren anführt. Auch für diese Epidemie ist die von Tuczek in der Frankenberger
Epidemie von 1879/80 nachgewiesene Hinterstrangerkrankung anzunehmen.
)ie Mortalität betrug bei den 108 Fällen 21, darunter bei 35 Kindern unter 10 Jahren
8. Rund die Hälfte der Überlebenden waren bestimmt nicht genesen. Idiotie
nd zum Tode führende Epilepsie zeigte sich selten, in der Hauptsache blieb eine
.Ergotismuskonstitution“: krampfartige Erscheinungen, migräneartiger Kopf-
chmerz, Schwindelgefühle, Ohnmachts- und Krampfanfälle epileptischen Cha-
akters, Reizbarkeit, Verstimmungen, Angst- und Dösigkeitszustände. Dafür,
laß die Nachkommenschaft früherer Ergotismuskranker eine auf den Ergotismus
;urückzuführende vererbte Minderwertigkeit gezeigt hätte, ließen sich keine
;icheren Anhaltspunkte gewinnen. Von Erkrankung der durch ergotismuskranke
Mütter gestillten Kinder wurde nichts bekannt.
h. Infektionskrankheiten.
Siemerling (113) bringt in seinem Vortrag über Infektions- und autotoxische
Psychosen eine gute Schilderung der Fieberdelirien und der akuten halluzina¬
torischen Verwirrtheit, der Amentia, die den Haupttypus der Infektionsspychosen
darstellt, und geht auch auf die neueren Beobachtungen über pathologisch-
anatomische Befunde im Gehirn, Zellveränderungen, Wucherung der Glia,
Bakteriensicdlungen ein.
Köhler (76) hat sich schon verschiedene Male mit dem Thema: Tuber¬
kulose und Psyche befaßt und kommt zu dem Schlüsse, daß es eine gene¬
relle Tuberkulosepsychose nicht gibt, daß aber die Psyche des Tuberkulösen in zahl¬
reichen Fällen eine psychasthenische Tendenz verrät. Die psychischen Aberrationen
"bei der Tuberkulose bestehen in auffallender Labilität der Stimmung, fehlender
Übereinstimmung der seelischen Empfindung und Vorstellung mit dem jeweiligen
körperlichen Zustande, mangelnder Urteilsfähigkeit bezüglich des körperlichen
Leidens, Entwicklung einer egoistischen Gefühlsrichtung bis zur Rücksichtslosig¬
keit höchsten Grades. Die erhöhte libido sexualis ist keine Regel, aber ebenso¬
wenig eine Ausnahme; individuelle Momente, untätige Lebensweise, Mangel an
körperlicher Übung, Verkehr mit jungen, nicht selten schwärmerischen weiblichen
Lungenkranken in Kurorten usw. spielen dabei zweifellos eine Rolle. „Die Psy¬
chose der Tuberkulösen scheint im Grunde genommen durch eine Steigerung der
Temperamente und zwar nicht selten in einem eigenartigen Wechselspiele der¬
selben, in einem auffallend schnellen Ablaufe der Reizreaktionen, in der
Signatur einer Intellekt- und Gefühlsschwäche charakterisiert zu sein“.
Damaye (30) sah bei einer 26jährigen Tuberkulösen einen Zustand ä n g s t-
licher Verwirrtheit unter Darreichung von „aliments vivants“ (rohes
Fleisch, Milz und Knochenmark) parallel mit der Heilung der Lungentuberkulose
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260* Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
in Genesung übergehen and weist darauf hin, daß auch in diesem Falle, wie be.
anderen toxisch-infektiösen Psychosen mit der Besserung eine beträchtliehr Ver¬
mehrung der eosinophilen Zellen im Blute einherging.
Damaye und Desruelles (31) folgern aus der Beobachtung und dem Obdn 1 -
tionsbefund bei einer 32jährigen Tuberkulösen, bei der sich auf degenearr*
Basis eine Manie, gefolgt von depressivem Stadium, entwickelt hatte, daß d»
Tuberkelgift eine Rolle in der Genese der manischen Erregung und <k
gefundenen beginnenden Encephalitis gespielt hat und daß bei Gehimprozessi
toxi-tuberkulösen Ursprungs perivaskuläre Entzündung im thalamus opnnt
die sich auch in anderen Fällen von Psychosen bei Tuberkulösen gefunden ha
nicht selten zu sein scheint.
Leschke (78) beobachtete bei sich selbst nach Untersuchung mit Anflösnorr
von Tuberkelbazillen auf ihre Riechstoffe eine akute Yergütssr
Schüttelfröste, Temperatursteigerung bis 39°, Kopf- und Gliederschmerzen, so»*
Benommenheit, Verwirrtheit mit starker Unruhe und Erregung. Erst nach c*
Tagen waren die Symptome verschwunden. Diese Riechstoffvergiftung
L. als eire spezifische Überempfindlichkeitsreaktion, die aber von der eigentfr“'.
Tuberkulinreaktion sensu strictiori als besondere Erscheinung zu trennen ist.
Koch (74) beschreibt zwei Fälle von Psychose beiEarzinomkachci
als gemeinsame Symptome bei diesen sowie bei den sonst in der Literatur z
findenden Fällen hebt er hervor: den Wechsel in der Stimmung, in dem HriL
keitsgrade des Bewußtseins und in dem motorischen Verhalten, das Anim”
von Sinnestäuschungen und Verwirrtheit, sowie das vorgerückte Alter der hoc
gradig kachektischen Kranken und den Beginn der Psychose, die als eine Ast -
intoxikation aufzufassen ist, etwa zwe ; Monate vor dem Tode.
Aus Beobachtungen Curschmanns (29) geht hervor, daß bei drohen*:
Urämie schon vor dem Eintritt dec sensoriellen Trübung undauchvor derpn
urämischen Sehnenreflexsteigerung das Babinski&che Phänomen zur Erscheint*
kommen kann und daß manc hma l unter Erlöschen der Sehnenreflexe di*"
Phänomen sogar das einzige Symptom des präurämischen und urämischen kor*
kalen Hemmungsfortfalles bleibt.
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aus der Papilla nervi optici. (Mit 29 Abb. auf 2 färb. Taf.)
München 1911, J. F. Lehmann. 16 S. 1,50 M. (S. 293*.)
131. Scheidemantel, E., Erfahrungen über die Spezifität der Wasser-
maDnschen Reaktion, die Bewertung und Entstehung in¬
kompletter Hemmungen. Deutsche Arch. f. kl. Med. Bd. 101.
H. 5—6. (S. 280*.)
132. Schnitzler, J. G., Zur Abgrenzung der sog. Alzheimerschen
Krankheit. Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. Bd. 7, H. 1.
(S. 288*.)
133. Schnüzler, J. G., Zur differentialdiagnostischen Bedeutung der
isolierten Phase-l-Reaktion in der Spinaltlüssigkeit. Ztschr.
f. d. ges. Neurol. u. Psych. Bd. 8, H. 2. (S. 280*.)
134. Schob, Ein eigenartiger Fall von diffuser, arteriosklerotisch be¬
dingter Erkrankung der Groß- und Kleinhinirinde; para¬
lyseähnliches Krankheitsbild. (Mit 1 Schriftprobe, 10 Text¬
figuren u. 1 Taf.) Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. Bd. 6,
H. 1. (S. 286*.)
135. Schölberg, H. A., and Gooddll, E., On the Wassermann reaction in
172 cases of mental disorder and 66 control cases, syphilitic
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Original fro-rri
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Matusch, Organische Psychosen.
271 *
and other, with historical survey for the years 1906-1910,
inclusive: Comments and conclusions. Journ. of ment.
Science, April. (S. 280*.)
136. Schönhals, P„ Uber atypischen Ausfall der Wassermann-Reaktion
bei einem Falle von anatomisch-pathologisch sicherer Para¬
lyse. Mtschr. f. Psych. u. Neurol. H. 2. (S. 280*.)
137. Schröder, Q. E., Beitrag zur Kenntnis der Fischerschen Plaques
im Gehirn und ihrer klinischen Bedeutung. Ztschr. f. d.
ges. Neurol. u. Psych. Bd. 5, H. 1. (S. 287*.)
138. Schlitze, E., Die Erkennung und Behandlung der multiplen
Sklerose in ihren frühen Stadien. Deutsche med. Wschr.
Nr. 8—10. (S. 301*.)
139. Schuppvus, Zur Dienstbeschädigungsfrage bei progressiver Para¬
lyse. Deutsche militärärztl. Ztschr. H. 11. (S. 276*.)
140. Schuppius, Über psychotische Erscheinungen bei Tumoren der
Hypophyse. Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. Bd. 8, H. 4.
(S. 293*.)
141. Siemerlmg, E., u. Raecke, J., Zur pathologischen Anatomie und
Pathogenese der multiplen Sklerose. (Vorl. Mitteil.) Arch.
f. Psych. Bd. 48, H. 2. (S.301*.)
142. Sonntag, E., Neuere Erfahrungen über die Serumdiagnostik der
Syphilis mittels der Wassermannschen Reaktion. Med.
Klin. H. 7. (S. 280*.)
143. Solomin, N., Zur Frage der therapeutischen Wirkung des Sal-
varsans und seiner Anwendung bei parasyphilitischen Er¬
krankungen des Nervensystems. Medizinskoje Obosrenje,
1911, Nr. 16 (russisch). (S. 283*.)
144. Spielmeyer, W., Paralyse, Tabes, Schlafkrankheit. Erg. d. Neurol.
u. Psych. Bd. 1, H. 1 u. 2. (S. 274*.)
145. Spielmeyer, W., Über die Alterserkrankungen des Zentralnerven¬
systems. Deutsche med. Wschr. Nr. 30 u. 31. (S. 286*.)
146. v. Stauffenberg, Beitrag zur Lokalisation der Apraxie. (Mit
11 Textfig.) Ztschr. f. d. ges. Neurol u. Psych. Bd. ö, H. 3.
(S. 299*.)
147. Stern, F., Über die spezifische Bedeutung der Hamreaktion mit
Liquor Bellostii bei Paralyse. Münch, med. Wschr. Nr. 9.
(S. 282*.)
t*
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
27 2 ?
Beriefet über die usvefeiaoweh* Lberanir 11*11.
148. Stefter. Die Bedeutung der LaiuhalpnnktiöH fftr dW PjSOs*/).;
.; vöö Öebirn- «ad ßack^m^k^kragikbetten, Med, Wm
>'r. 4 . «S.ä&iM
X4& 3)r<*mklh E\, u. :lMy y ft* Zar patht'tknmefcen ITift&cHpy k?
und Meaiftg^veoeti. Wien* med. Wsebr. Sr, k
" • 0.293*.) ' ■■•
( 50 . Sf.iidni, H. M.> Über eine angeblich für progreswvi- Paniu*
charakteristische Reaktion im Harrt (iöit Lbfin.r Beihwu
Münch, med. Wtfchr. NY. 16. 0. 232*.)
151. Tonmtfovy, Beitrag ; Äy ; |ffii^Xy^cbna|r«a nur Lic;; ?
BvHi^tii. Peryth.-neiiruJ. Wsndir. Sr. 51. (S. 282*.»
lßÖL Tmptti.A, mYIPÄY ft. Besitzt die Urinantersuehntig mit tiqw
Bcllo-! Ii einen diagwostiscehe« Wert für die. Parilyse? F?y
oeu'<ii, Wache. Nr. 47. (?. 282*. >
]53. 0.. u. //er/, .4 Pie klinische Prüfung des Dioxy
joidvaraenubertzoiv iSalyarsaa 44 genannt. Xaeh eigener, '-g-
jiihnger Beobachtung und Kriahniag. Munch, natwi. W>;
Nr. 6 u r\ (S.2S4*.)
164. Twipel, il , Pie Saltarsan-Therapie bei Lue» des Zemraim :
bei Tabes und Paralyse. Deutsche med. \W‘r
Vr/22 fa 284*.)
165, Tn'nmm. E..\i. Ddhavro,. E. f Über Nenrorczidivc nach Sah r
speziell PolyneuritB. Münch, med. W T sehr. Kr. 35 ö '■%
(S, 285*. ) '
156, Viilie n Jme, 1?., ttn ca>vv> de paräroy^lonus multiplex, A«i-
5‘ uertr;»i,. pdquiamtt y fisfotcrapia'tumo 2. nun.
dnbe. (S, 30-2*.}
Uh, Vh. .feuUiiseher Beiim' su? Frajge. der Beziehungen zm~
üfid Atcb. f. Psyeb. Bd. 48. öt i
(B. 30b*.i ’
tm Lt ub'iul:, AL. ti. Fufjhi Zur Emaolbebandlmjg 1.« ,
s^hiHtiseheii klin. Wsfchr. Nr
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159. &£. ifögrbRjfven Parsiph
.mit Baklfnviiexiet*n. Wien. kj% Wsehr. Nr. 1, (S,
160. fägfc ft. ’./><• ijuelqties «tt&atwn* Yk iissu r^rebral dttffc 5» •
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Matasch, Organische Psychosen.
273 *
prösence de tumeurs. Nouv. Iconogr. de la Salpetriere.
(S. 298*.)
161. Weygandt, Hirngesch wulst und Störung des hinteren Hypo¬
physenteils (Hypopituitarismus adiposo-genitalis). Hamb.
Ärzte-Corresp. Nr. 3. (S. 292*.)
162. Weü, E.y u. Kafka, V., Uber die Durchgängigkeit der Meningen,
besonders bei der progressiven Paralyse. Wien. klin. Wschr.
Nr. 10. (S. 275*.)
163. Wiener, 0., Die Reaktion des Paralytikerharnes mit Liquor
Bellostii. Prag. med. Wschr. XXXVI, Nr. 15. (S. 282*.)
164. Williams, T. A., The clinical diagnosis of early tabes dorsalis
with negative Wassermann reactions — a case where reaction
became positive only after salvarsan — comments upon
salvarsan in pretabetic States. Virginia med. Semi-Monthly,
April. (S. 280*.)
165. Williams, T. A., The treatment of „parasyphilis“ of the nervou?
system in the light of recent research: Paresis and tabes
dorsalis. Monthly cyclopaedia and med. bull., Dec. 1910.
(S. 286*.)
166. Williams, T. A., Poliomyelitis; new facts concerning its etiology,
early diagnosis and treatment. Monthly cyclopaedia and
med. bull., Nov. 1910. (S. 303*.)
167. Willige, H., u. Landsbergen, F., Histologische Diagnose diffuser
Hirnerkrankungen durch Hirnpunktion. Münch, med.
Wschr. Nr. 1. (S. 294*.)
168. Willige, H., Über Paralysis agitans im jugendlichen Alter.
Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. Bd. 4, II. 4. (S. 304*.)
169. Witte, F., Ein Beitrag zur Symptomatologie und pathologischen
Anatomie der Akromegalie. Arch. f. Psych. Bd. 48, H. 1.
(S. 292*.)
170. Woskressenski, S., Ein Fall von eigenartiger Mißbildung des
Kleinhirns nebst anderen Anomalien neben einer chronischen
Erkrankung des Zentralnervensystems. (Mit 5 Textfig.)
Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. Bd. 6, H. 1. (S. 294*.)
171. Yawger, N. S., Indurative headache (Schwielenkopfschmerz)
with report of three cases. The joum. of nerv, and ment,
diseases. (S. 304*.)
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
274 * Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
172. Yawger, N. 8., Colloid bodies in the central Dervous System:
Their presence after severe traumatism in a case of dementu
paretica. The journ. of nerv, and ment, diseases vol. 38.
no. 3. (S. 276*.)
173. Yawger, N. 8., The gross and histologic Undings in dementu
paretica. Amer. journ. of insan. no. 4, April. (S. 276*.
174. Yawger , N. 8., Chronic „rheumatic“ myositis (Muskelschwielen i.
The Lancet, July 31. (S. 304*.)
175. Zahn, Th., Über zentrale Störungen der Artikulation. Würrt
med. Korresp.-Bl. (S. 298*.)
176. Zipperling, Lues cerebri und Trauma. Neurol. Ztrlbl. Nr. 23
(S. 276*)
177. Ziveri, A., Beitrag zur Kenntnis des präsenilen Irreseins. Ztschr.
f. d. ges. Neurol. u. Psych. Bd. 8, H. 3. (S. 287*.)
a) Dementia paralytica.
Zur Geschichte der progressiven Paralyse liefert Mönkemöüer (112) eina
wertvollen Beitrag. Wenn Verf. auch dem hohen Ziele, aus der Zeitliteratnr rück¬
wärts das Auftreten der Paralyse festzustellen, wegen der Dürftigkeit und Uniu-
verlässigkeit der Quellen entsagen mußte, bringt er im Suchen nach der Wahrter
viel Interessantes und das nicht geringe Ergebnis, daß die Paralyse in den ihre
Entdeckung voraufgehenden Jahrhunderten gegen die übrigen Psychosen per
in den Hintergrund tritt, auch wenn die Fehlerquellen der nachträglichen Diagno*
noch so hoch in Rechnung gestellt werden. Ein stärkeres Anschwellen scheint sc
erst am Ende des 18. und Beginn des 19. Jahrhunderts zu zeigen. N imm t nur
den Begriff der Zivilisation in dem weitesten Sinne neuer und stärkerer Anspruch
an das Individuum, so kann man auch seinem Schluß zustimmen, daß das An¬
wachsen der Paralyse auf die zunehmende Zivilisation zurückzuführen sei.
Spielmeyer (144) behandelt in einem Sammelreferat die für die Erforsche;
der Paralyse, der Tabes und der ihnen verwandten Schlafkrankheit wichtig*
Arbeiten der letzten 6—7 Jahre. Im Kapitel der Histopathologie bespricht ^
eingehender die Beziehungen der Psychose zur multiplen Sklerose, die sich in der
fleckweisen Etablierung des Markschwundes und der dickfaserigen Gliawucheru;
im Markanteil dieser Herde ausdrücken. Bei der Schlafkrankheit, deren Wes«
an der Hand meist eigener Arbeiten ausführlicher abgehandelt wird, zeigte aeä
fleckförmiger Faserschwund in der Rinde nicht. Die neueren Untersuchung»
8p.s zeigen das Bemerkenswerte, daß zentrale Störungen ähnlich der Parahwl
und Tabes zu einer Zeit einsetzen. wo Trypanosomen nicht mehr sichtbar n*o|
zu weisen waren, und nur bei einem kleinen Prozentsatz der Trypanasomentidi
eintreten. Sp. schließt mit der Hoffnung, daß gerade bei solchen Untersuchung«
durch systematische chemotherapeutische Bestrebungen im Sinne Ehrhcks cm
Grundlage für die Vorbeugung der Paralyse geschaffen werden könne. I
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Matusch, Organische Psychosen.
275 *
Mattauschek und Pilcz (107) suchen durch Katanmese von 4134 Fällen
luetischer Infektion festzustellen, in welchem Prozentsatz die Paralyse ihre Opfer
fordert. Die Fälle betreffen nur Offiziere. Paralytiker fanden sich darunter 196
— 4,7%, nach Abzug der in die ersten 9 Jahre nach dem Primäraffekt fallenden
704 Fälle, unter denen sich 35 Paralytiker befanden, ergab der Best von 3430 Syphi*
litikem 160 Paralytiker = 4,67%. Auf einer Tabelle sind die Fälle von Gesundheit,
Paralyse, Tabes, Lues cerebrospinalis, Psychosen und Tod übersichtlich zusammen*
gestellt, extrem ist darin das Vorkommen von 35 Paralysen innerhalb der ersten
9 Jahre, die ersten drei im dritten Jahre, ein Fall im 39. Jahre und fünf im 46. bis
65. Jahre. Die Luetiker mit ungenügender Behandlung stellten 23,23% Para*
lysen, die mit genügender nur 3,47%, indessen sind in dieser Frage nur die Fälle
verwertet, deren Behandlungsart sichergestellt werden konnte. Ebenso mußte
das Material bezüglich des Einflusses der Rezidive auf Paralyse auf 1865 sicher
ermittelte Fälle beschränkt werden, hier standen 42,53 Paralysen bei fehlenden
Rezidiven einem Prozentsatz von 1,63% bei wiederholten, 3,57% bei einem
Rezidiv gegenüber. Daraus geht der Nutzen sorgfältiger chronisch-intermittie¬
render Syphilisbehandlung klar hervor. Einfluß der Behandlung auf das Intervall
zwischen Infektion und Paralyse ließ sich nicht erkennen, aber eine sehr
bemerkenswerte Verminderung der Disposition zu späterer Paralyse scheint durch
eine fieberhafte Infektionskrankheit während der ersten Jahre nach der Infektion
geschaffen zu werden.
An einem Falle, in dem sich paralytische Veränderungen mit syphilitischen
kombinierten, erörtert Giljarowshj (60) die Beziehungen der Paralyse zur Gehim-
syphilis. Neben dem unzweifelhaft der Paralyse angehörigen Befunde der Nerven¬
zellen, des Ausfalles der Tangentialfasern, Infiltration von Lymphozyten und
Plasmazellen bestanden Läsionen syphilitischer Natur: Rarefikation des Gewebes
um die Gefäße, Verdickung der Gefäßwände und ausgedehnte Verwachsungen
der Windungen besonders in der rechten Hemisphäre. Da diese Veränderungen
eine langsamere Entwicklung voraussetzen lassen als die paralytischen, ist zu
schließen, daß sie den letzteren vorangegangen sind, wie es auch im klinischen
Bilde erkennbar war, in dem sich zu den anfänglich tabischen Symptomen zunächst
nur ein auf Himlues deutender Komplex gesellte. Deutlicher Parallelismus des
Grades beider Befunde sprechen für die innige Verwandtschaft und vielleicht auch
für den Kausalzusammenhang, das beweise, wo die anatomische Forschung ver¬
sagt, die Serologie.
Weil und Kafka (162) konstatieren mit einer beschriebenen Technik des
Nachweises der Antikörper in der Zerebrospinalflüssigkeit (und im Serum) daß
die Permeabilität der Mennigen in der Paralyse erhöht ist, ungefähr auf das Zehn¬
fache des Normalen, trotzdem aber finden sich im Liquor noch ungefähr hundert¬
mal weniger Hämolysine als im Blute. Das spricht dafür, daß es sich bei der
Wassermannreaktion im Liquor nicht um bloßen Durchtritt von Antikörpern
aus dem Blute handelt, sondern auch von Antigenen, durch die sich in dem somit
von der Säftezirkulation ausgeschlossenen Liquor Antikörper bilden. Da anch bei
akuter Meningitis die Durchgängigkeit erhöht wird, ist die Methode auch für die
Diagnose dieser verwendbar.
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276 *
Bericht Ober die psychiatrische Literatur 1911.
Ladame (100) bringt neues Material zu der von ihm beschriebenen Mr<-
aortitis gummosa, die sich bei Paralytikern in allen Stadien ihm Ent¬
wicklung finde.
Yawger (178) stellt die groben und histologischen Befunde an den Orprrc.
Paralytischer nach den neueren und eigenen Untersuchungen zusammen.
Eine andere Arbeit Yawgers (172) behandelt die zuerst von Zenker in kt
Retina beobachteten Kolloidkörper des Zentralnervensystems, deren Herkunft ta-i
Bedeutung seither sehr verschieden beurteilt worden ist. Anscheinend stanm«*
sie vom Myelin markhaltiger Nervenfasern, seltener von Zertrümmerung der Acht¬
zylinder und sind durch traumatische oder entzündliche Vorgänge bedingt ft?
Auffassung als Artefakte ist nicht berechtigt. Bei einem 32jährigen geisteskranbr
Neger, der nach Kopfverletzungstarb, fanden sie sich sehr zahlreich überall im fohlt
bis zum Pons, nicht im Kleinhirn und der Medulla, am dichtesten im Chiana.
Sie hatten einen Durchmesser von 16—25 p, polarisierten nicht, färbten ätä
am besten mit Toluidinblau oder Thionin, schwach mit Hämatoxylin, nicht nu;
Jodin und Acid. sulf. Y. meint, dafi ihr Nachweis in mediko-legalen Fragen vo:
Wert sei
Zur Frage: Unfall und Paralyse berichtet Pach (121) zwei Fälle; in «ne.-,
wurde der Zusammenhang mit starker Feuerhitze im Gewerbe abgelehnt, im zweite
der Zusammenhang einer „im Mai“ konstatierten Paralyse mit einem Sturz As
Kranken ins Wasser am 2. Mai angenommen: „ohne dieses Trauma wäre höds-
wahrscheinlich die Syphilis des X. noch lange, vielleicht noch Jahre hindurch
stationär geblieben.“ (!)
Schuppius (139) spricht sich vorsichtig über den Einfluß der Dienst b«cfci
digung auf die Paralyse von Militärpersonen aus. Die Tendenz, einen Zusammen¬
hang zu betonen, bestehe deutlich, im Dienst an sich liege keine Ursache, höchste
die Ursache einer Beschleunigung oder Verschlimmerung.
In einem von Jüsgen (89) mitgeteilten Falle stellte sich wenige Wochen n*i
Kopfverletzung ein Symptomenkomplex ein, wie er bei l’nfallsneurasthenik^
nicht selten ist: Charakterveränderung bald in Gleichgültigkeit, bald in mri-
selnden Affekten sich äußernd, nervöse Klagen, hysterische Stigmata, auslösbar
hysterische Krampfanfälle. W-M im Blute, positive Phase I mit Pleozytose imd
Luesreaktion im Liquor wiesen auf Paralyse, deren klinische Erscheinungen spät«
ziemlich plötzlich die hysterischen ablösten.
In Zipperlings (176) Fall traten eine Woche nach schwerem Kopftnuca
Symptome einer Hirnlues auf, Infektion vor etwa 3 Jahren, W-M im Blute -
im Liquor-f, Pleozytose, Nonne-Apelt -f. Nach Traitement mixte verschwand
W-M im Liquor, die Pleozytose nahm ab, Pat. wurde gebessert entlassen.
Ladame (99) führt aus, daß vom anatomisch-pathologischen Standpuni*
eine traumatische Entstehung der Tabes zwar möglich, aber wenig wahrscheinlich
und noch weniger bewiesen ist. Die Theorie Edingers führt uns darin nicht weiter,
und auch die klinische Beobachtung hat noch keinen sicheren Fall rein trauma¬
tischer Herkunft geliefert.
Knapp (94) stellt die ersten Symptome fest, die in 100 Fällen von Paraljv
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Matusch, Organische Psychosen.
277 *
aufgetreten sind, indem er anamnestische Angaben dem klinischen Befunde gegen«
überstellt. Im ganzen ist das Ergebnis dürftig, die Angaben sind unsicher und
die ersten Störungen zu wenig signifikant An erster Stelle scheinen Änderung der
Patellarreflexe, Pupillenanomalien, Sprachstörung und Änderung der Schrift zu
stehen.
Näcke (115) untersuchte das Verhalten der mechanischen Muskelerregbar¬
keit bei Geisteskranken, insbesondere Paralytikern nach dem Tode. Die Ergebnisse
sind in Tabellen und in Schlußsätzen niedergelegt. In etwa 3—4 Stunden nach
dem Tode ist die Erregbarkeit sicher völlig verschwunden, was für die Zeitbestimmung
des Todes sicherer verwertbar ist als die viel variablere nach Eintritt und Ans¬
breitung der Totenstarre oder gar der Totenflecke.
Zwei Arbeiten Ladame s (101, 102) polemisieren gegen die Auffassung eines
von Preissig als luetische Meningitis der Konvexität beschriebenen Falles und
weisen nach, daß es sich um arteriosklerotische Psychose handelt.
Bisgaard und Bertelsen (18) berichten über Untersuchungen der „vier Reak¬
tionen“ mit dem Ziele qualitativer Bestimmungen der Eiweißstoffe. Die Ver¬
dünnungsmethode Zalozickis ist der Nissl-Essbachschen vorzuziehen, weil sie
schneller ist, weniger Liquor erfordert und eine geringere Fehlergrenze hat. Phase I
wird durch sie sehr genau bestimmt. Diese zeigt einen normalen Wert von 0—2
und ist hiernach wahrscheinlich nicht spezifisch, indem sie nur bei gewissen, nament¬
lich metaluetischen Erkrankungen erhöht wird. Die Untersuchungen geben keine
Stützpunkte für die Theorien über Abhängigkeitsverhältnisse zwischen einer der
vier Reaktionen im Liquor, aber deutlichen Parallelismus zwischen meningealer
Infiltration in med. spinalis und Zellgehalt des Liquors. Wiederholte Punktionen
deuten auf Konstanz der Eiweißwengen im einzelnen Fall und auf Abhängigkeit
derselben vom klinischen Verlauf einer Paralyse mit etwas Tendenz zum Fallen
nach dem Tode hin. Im Liquor kommen wenigstens drei Eiweißarten vor, wovon
zwei in Phase I gefunden werden können. Zum Schluß wird eine Reaktion mit
Formalinlösung beschrieben, die vielleicht nicht spezifisch ist, aber sich noch zeigt,
wo andere Reaktionen nach Wassermann versagen.
Durch weitere Untersuchungen kommt Bisgaard (21) zu dem Resultat, daß
bei Paralyse die Hauptmenge des Eiweißes mit Ammoniumsulfat gefällt wird,
bei anderen organischen Krankheiten, auch der Lues cerebri, dagegen nur ein
kleinerer Bruchteil. Biologisch und chemisch lassen sich im Liquor bei Paralyse
andere Stoffe als bei gewöhnlichen luetischen Erkrankungen feststellen, die zum
Ausdruck bringen, daß sich ein „Etwas“ in der Zeit zwischen Infektion und Para¬
lyse vollzieht.
Dembowski (32) erklärt entgegen Nonne den positiven WM im Liquor für
die Differentialdiagnose zwischen Tabes und Paralyse nicht für verwendbar, bei
anderen Erkrankungen auf luetischer Basis kann WM im Blute im akuten Stadium
negativ, im Liquor positiv sein, und zwar nicht selten. Die verwendeten Antigenen
A, G und B erwiesen sich in abnehmender Staffel zuverlässig.
Klieneberger (92) berichtet neue Untersuchungsreihen aus der Breslauer
Klinik. Die Wassermann-Reaktion hat sich für die Diagnose der untersuchten 61
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278 * Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
zunächst als sicher, 66 als fraglich bezeichnten Paralysen als außerordnuiri
wertvoll erwiesen. Sie hat im Serum nie, im Liquor nur einmal versagt ntd ™
allen auf Paralyse verdächtigen, aber durch den klinischen Verlauf als Xd-
Paralysen erwiesenen Fällen die Diagnose Paralyse stark in Zweifel gestellt oo?
hinfällig gemacht. Bei Tabes war WM im Serum immer positiv, im Liquor;
10 Fällen negativ, in 12 Fällen positiv, von denen zwei paralyseverdächtig w.
und einer wahrscheinlich Lues cerebrospinalis. Bei Lues cerebrospinalis spririr
positive Liquorreaktion angesichts stürmischer und wechselnder Symptome &
diese Diagnose, während sie sich bei metaluetischen Erkrankungen findet, tan
wenn subjektive und grob objektive Störungen fehlen. Aber niemals sollte c-
Untersuchung des Zell* und Eiweißgehaltes unterlassen Werden. Den Schloß bilk
Angaben über 140 Fälle anderer Erkrankungen und über die Beeinflussung er
Reaktionen durch nukleinsaures Natron.
Nonne (118) legt in seinem Vortrag den heutigen Stand der diagnostische.
Bedeutung der .,vier Reaktionen“ dar, wie er sich aus Beinern umfangr eichen. mr
Teil katamnestisch verfolgten Material von 663 Fällen ergab (Tabes.- Pmh-
verschiedene Formen von Zerebrospinallues, multiple Sklerose und Tumor» *»
Gehirns und Rückenmarkes). Das Verhalten, der Reaktionen wird an elf Gropp-:
diagnostischer Komplexe erläutert. Es bestehen, wie N. ausführt, noch
Lücken, die in erster Linie die Methode der Katamnese ausfüllen kann, aber tue
nach Klärung mancher noch unentschiedenen Fragen wird die Methode der v-'
Reaktionen nur die Rolle einer Dienerin, nicht die einer Führerin in der Dncv
spielen dürfen.
Boas und Lind (23) prüfen das Verhalten bei Syphilis ohne Symptome se ; >i
des Nervensystems. WM fand sich im Blute bei allen unbehandelten Fäl-:
auch wo sie stark war, fehlte sie überall im Liquor. Pleozytose fand sich nur srim
vertreten in 4 von den 12 zur Untersuchung gezogenen Fällen, Nonne-Apeh h
nur in einem Falle über die von Bisgaard als physiologisch angesehene G-~t-
(1—2) hinaus. Die gesamte Eiweißmenge ergab in 6 Fällen keine Anmehrnr.
PesTcer (126) stellte bei 160 Geisteskranken die Wasserrwannsche Probt
Bei 13 Pat. mit Dementia praecox fiel die Probe negativ und nur bei einem hr--
ditär schwer belasteten positiv aus. In 15 Fällen genuiner Epilepsie war die Reai*>:
nur einmal ausgesprochen positiv, und zwar handelte es sich hierbei um etr-:
Kranken, bei dem hereditäre Syphilis sehr wahrscheinlich war. Von 16 Krank
mit anorganischen Psychosen reagierten 14 negativ. Von den 60 untersuche
Paralytikern bot nur einer eine negative Reaktion, und zwar geschah das ex
A nwendung von Salvarsan (bis dahin war die Reaktion schwach positiv). 13 Fi
tienten mit Lues cerebri reagierten sämtlich positiv. Überhaupt fehlte nur in ccx
einzigen Falle die Erklärung für den positiven Ausfall der Reaktion. Nach den w
ihm erhaltenen Resultaten schätzt YerL die diagnostische Bedeutung der Fao-*
mannschen Reaktion sehr hoch ein. (Fleischmann-Kk*
E. Jones (87) gibt einen Überblick über Sitz, Wesen und Form syphilitisch"
Erkrankungen des Zentralnervensystems, oft in zu sicherar Bewertung noch nie
gesicherter Annahmen: Paralyse und Tabes sind der gleiche, nur anders loci
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Matasch, Organische Psychosen.
279 *
ierte Krankheitsprozeß, positive WM-Reaktion beweist aktive Syphilis, nega-
ive WM-Reaktion im Serum schließt Paralyse ans.
Zar Kasuistik der Himsyphilis liefert Brandt (26) einen Beitrag mit einem
asch letal endigenden Fall, der klinisch einen auf Paralyse verdächtigen, aber doch
insicheren Befund ergeben hatte und sich als luetische Myelomeningitis erwies:
Infiltration der konvexen Pia mit Lymphozyten, in die Lymphscheiden der Hirn«
*efäße übergreifend mit Wucherungs- und Rückbildungserscheinungen an den
jefäßwänden nebst einem anscheinend frischen Erweichungsherd in der Rinde
ler Insel, der auf Gefäßverschluß zurückzuführen ist.
A. Hauptmann (68) gibt neue Untersuchungsreihen mit der auf Verwendung
größerer Liquormengen (bis 5 ccm) beruhenden Auswertungsmethode. Sie be¬
fähige, syphilogene Prozesse am Nervensystem zu trennen von anderweitigen
organischen und funktionellen zerebrospinalen Erkrankungen ohne Rücksicht
darauf, ob der Pat. spezifisch infiziert war oder nicht. So ergab die Methode bei
44 nach der Originalmethode negativ reagierenden Fällen von Zerebrospinallues
in 42 positive Reaktion, in den negativen 2 Fällen war auch klinisch Heilung einge-
treten. Bei Arteriosklerose mit früherer Lues bedeutet positive Reaktion echt-
luetische Endarteritis, negative nur Arteriosklerose bei Lues; bei Tabes ergab die
Methode in 87% positive Reaktion, in allen Fällen nicht luetischer Erkrankungen
negative. Im Gegensatz zu der Originalmethode ist demnach der negative Aus¬
fall mindestens ebenso diagnostisch wichtig wie der positive und liefert eine Hand¬
habe, inzipiente Paralytiker von syphilitischen Neurasthenikern zu scheiden.
Mochi (111) stellt an 20 normalen Liquores fest, daß das spezifische
Gewicht zwischen 1,0086 und 1,0067 schwankt, die Viskosität etwa halb so
groß ist als die des Serums und der osmotische Druck etwas höher als im Serum
ist. Zwischen der elektrischen Leitungsfähigkeit des Blutes und des Liquors
scheint ein gewisser Parallelismus zu bestehen. Gewicht und Viskosität gehen im
Blute parallel, im Liquor anscheinend nicht
May (108) vergleicht den nach verschiedenen Methoden gewonnenen Nach¬
weis der Eiweißstoffe und des Zellgehaltes im Liquor und der Reaktion im Serum
bei 67 Paralytikern und 29 anderen Psychosen. Er findet Vermehrung des Globulin¬
gehaltes auch in vielen nicht-paralytischen Psychosen. Die Original-WM-Methode
ist der Noguchis vorzuziehen, doch kann die Methode Noguchis: Antigen und
Ambozytos auf Papier mit Vorteil verwendet werden.
Nach Heilig* (70) Untersuchungen an sieben kurz geschilderten Fällen findet
sich Pigmenterythrozytose ausschließlich bei chronisch-entzündlichen und Neu¬
bildungsprozessen, die ihren Ausgang von den Meningen nehmen. Sie beruht auf
Gefäßstauung und reaktiv-entzündlichen Vorgängen in der Umgebung des
Herdes, die zu Blutaustritt in den Liquor führt; unterbricht die Neubildung
die Kommunikation innerhalb des Rückenmarkskanals, so kommt es unterhalb
der Unterbrechung zu Xanthochromie und erhöhter Gerinnbarkeit. Bei
syphilitischen und metasyphilitischen Erkrankungen spricht Kombination
von Lymphozytose mit Pigmenterythrozytose für besonders ausgeprägte me-
ningeale Prozesse. Die drei Stadien: Erythrozytose—Pigmenterythrozytose—
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Original fro-m
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280 *
Bericht aber die psychiatrische Literatur 1911.
Pigmentliquor können bedingungsweise als Maßstab für Alter, Stadium und Irre
sität des Prozesses verwendet werden.
Nach Schnitzler (133) ist die isolierte positive Phase I-Reaktion für die Bia-
rentialdiagnose zwischen Tumor und Spondylitis nicht zu verwenden, sie ft.
sich in 4 Fällen von Spondylitis mit Querschnittsläsion und war zweifelhaft
fehlend in 3 Fällen von Spondylitis ohne Querschnittsläsion und in einem FiL
von Spondylitis mit leichteren Rückenmarkssymptomen. Ob sie Kompresse
anzeigt, ist noch zu prüfen, die klinischen Merkmale sind jedenfalls darin ein besser'
Führer. Iht Vorkommen sowohl bei Tumor wie bei spondylitischer Quersekah •
läsion spricht dafür, daß die Eiweißvermehrung durch mechanische Behindern
der Zirkulation von Blut, Lymphe und Liquor mit bedingt ist.
Ein Fortbildungsvortrag von Frankel (48) behandelt in klarer DarsfeLz:
Geschichte, Methoden, Wesen und Wert der Wassermann-Reaktion und beriet*-:
über 3000 eigene Untersuchungen.
Schölberg und Goodäll (135) erläutern ihre Befunde an 172 Fallen nnd v
Kontrolfällen an zahlreichen Tabellen. Auffällig niedrig ist ihr positiver
im Serum bei Paralyse: 75,5%, und im Liquor: 41,46%. Die Ansicht, daß p-:
tiver Ausfall in späteren Stadien der Paralyse häufiger ist, als in frühen, wird nrir
bestätigt, mehr das Verschwinden in Remissionen. Sie fanden WM -f- im liq: *
in 16,6 % bei Epilepsie, in 11,8% bei Idiotie mit Epilepsie, in 7 %bei Idiotie, r »■?.■
tive Reaktion im Serum und Liquor in einigen klinisch und autoptisch skir-t
Paralysefällen. Nonne-Apelt erwies sich ebenso zuverlässig wie WM.
Schörihals (136) veröffentlicht einen durch die Sektion bestätigten Parah-
fall mit negativem WM im Serum und Liquor, positiver Phase I und Pleor
Williams (164) einen Fall von Tabes incipiens, in dem die anfangs negative Sem
reaktion nach Quecksilberbehandlung schwach und nach Salvarsan stark pes
wurde. W. knüpft an den Fall Bemerkungen über klinische Frühdiagnose r.
den Nutzen früher spezifischer Behandlung.
Scheidemantel (131) nimmt die Serumreaktion in nahezu sämtlichen v
kommenden Krankheiten zum Gegenstand seiner Betrachtungen, von d«n L-
untersuchten Fällen zeigten nur 6 starke WM-Reaktion, die nicht durch 1.-
oder Eigenhemmung zu erklären war, sie betrafen Tuberkulose, Diabetes, Var ^
Lupus und Karzinom. Zwei positive Fälle von Nephritis erwiesen sich bei i
Sektion als spezifisch. Fehlerquellen liefern außer der Methode auch Komplexe
Extrakt und Eigenhemmung. Gleiche Sera zu gleicher Zeit mit gleichen, ir<
entnommenen oder verschiedenen Komplementen mit ersucht, gaben mm
widersprechende Resultate. Stark ikterische Sera sind wegen Eigenheime,
unbrauchbar. Über die Durchführbarkeit und die Zweckmäßigkeit des Ra r
daß alle Institute nach einheitlicher Methode und mit Benutzung eines „Stan&v
antigens“ arbeiten sollten, kann man wohl anderer Meinung sein.
Auch Sonntag (142) hält amtliche Kontrolle der Antigene für wünschensT”
und Beschränkung der Untersuchungen auf serologische Laboratorien.
Arbeit behandelt Mechanismus, Methodik und Technik, Beurteilung und Vf
Wertung der WM-Reaktion nach den neueren und eigenen Studien und faßt c
Leitsätze in bündigen Schlußforderungen zusammen.
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M ata sch, Organische Psychosen.
281 *
Farnell (40) fand mit der „Drei Tropfen-Methode“ (Zentrifugieren des Liquors,
Intnahme von 3 Tropfen des Sedimentes) in 76 Fällen von Paralyse Lymphozytose,
i einem nicht, 93 % der Paralytiker hatten vermehrtes Globulin, ein Fall von
’abes und einer von Zerebrallues nicht, 3 Fälle von Tabes waren zytologisch positiv,
wei Fälle von Zerebrallues schwach positiv. In Korsakoff- Psychosen war beides
egativ. 98 % Epileptiker hatten vermehrte Lymphozyten, keiner vermehrtes
llobulin, ebenso 2 von 3 traumatischen Psychosen und Fälle von Morphinismus
nd Azetonilismus. 2 von 4 Arteriosklerosen nicht syphilitischer Herkunft ergaben
chwache Lymphozytose ohne Globulinreaktion.
Gümour (61) redet der von Browning, Cruikshank und McKenzie beschriebenen
lethode das Wort, die auf Verwendung einer mit Cholestearin gesättigten Lezithin-
mulsion beruht.
Sterte (148) gibt in seinem Vortrag einen kritischen Überblick Ober die klinis che
Jedeutung der Lumbalpunktionen und der vier Reaktionen.
Pappenheim (122) verteidigt seine Anschauungen über die Polynukleose
»ei Paralyse gegen Kafka und betont in Schlußsätzen, daß sich im Liquor Para-
ytischer nur selten eine Steigerung des Leukozytengehaltes über 10—16% hinaus
indet, die häufiger bei Anfällen oder Exazerbationen sei als in Zwischenzeiten,
hr Zus amm entreffen mit Temperatursteigerung und polynukleären Leukozyten
m Blute spräche für eine plötzliche Verstärkung des Paralysegiftes als Ursache.
Sin Fall wird mitgeteilt, in dem bei Psychose, wahrscheinlich Dem. praecox, nach
linem Erhängungsversuch vorübergehend Liquorpolynukleose eintrat, gleichzeitig
nit einem deliranten Zustand, Sehstörungen und ataktischen Symptomen, der einem
lauernden Korsakoff-Komplex Platz machte. Die Polynukleose sei in diesem Falle
licht auf lokale meningeale Veränderungen zurückzuführen, sondern auf eine
illgemeine Vergiftung, wie dies auch bei anderen allgemeinen Ursachen, wie Sonnen-
tich, Urämie usw. verbreitet sei.
Hauptmann (67) führt 63 Familien (Eltern und Kinder) auf, in denen bei
uindestens einem Mitgliede WM positiv war. Der Befund bei jeder Familie ist
nirz und übersichtlich skizziert. Die Untersuchungen liefern recht wertvolle Er¬
lebnisse, nicht nur, daß sie unsichere nervöse Befunde ätiologisch aufklären und
lie Wege der Syphilis auch da hinverfolgen ließen, wo Anamnese und Befund
r ersagten, sie wiesen auch nach, daß bei der infizierten Ehehälfte die Syphilis in
ast 100% latent verlief, wenn der infizierende Teil an einem syphilitischen Zerebro-
pinalleiden erkrankt war. Bei der Vermutung, daß die Spirochäten infolge der
’assage durch das Zentralnervensystem an Virulenz verlieren, wäre wohl
ichtiger gesagt: durch die Beteiligung des Zentralnervensystems, denn
»assieren wird es doch nur ein Bruchteil. In der Deszendenz sind zwei Gruppen
charf zu trennen: die tatsächliche Infektion durch die Eltern und die Keim-
chädigung durch das syphilitische Virus, in der letzteren ist negative Reaktion
u erwarten. Gerade hier kann die weitere Forschung, zumal wenn sie sich auf
Sltern und Geschwister erstreckt, viel zur Klärung der Epilepsie, Idiotie, Dege-
teration und Psychopathie beitragen. Ob positiv reagierende, sonst Gesunde,
pezifisch zu behandeln sind, hängt von der weiteren Beobachtung ab, was aus
olchen Personen in ihrem späteren Leben zu werden pflegt.
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282 * Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
Labb4 und Gaüait (97,98) studierten an 16 paralytischen Fraurainr
schiedenen Krankheitsstadien und bei verschiedener Di&t (Milch oder vegetans?
mit und ohne Milch oder gemischt) die Eigenschaften des Urins. Sie fando fc ?
Vermehrung der Stickstoffverbindungen bei Verminderung des Harnstoffe, z.'
Ausscheidung von Chlorverbindungen und im Auftreten von Glykosorie and!:.-
minurie Parallelvorgänge mit den Stadien der Krankheit und meinen dark i
prämortale Periode feststellen zu können, die den Tod vorherzusagen erlaubt
Die von Buienko beschriebene, angeblich für Paralyse charakteristische Kamt
des Harns mit Liquor Belostii ist verschiedentlich nachgeprüft. Stueta 'j
der auch den chemischen Vorgang eingehend erörtert, spricht ihr jeden diagwot^
Wert ab, sie komme in manchen Hamen körperlich schwer Kranker wie körpw-
Gesunder vor. Trapet und Wolter (162) haben sie zwar bei Paralyse häufig :■
funden als bei nicht-paralytischen Geistesstörungen und Gesunden, messe *
aber als diagnostisches Hilfsmittel ablehnen. Wiener (163) scheint sie 1-
gleiterscheinung marantischer Prozesse zu sein, nach Stern (147) tritt serai-
auf, allerdings häufiger bei Paralyse und Tumor cerebri, ebenso urteilen fre ¬
und Tomaschny (161).
Die Ausführungen Oliviers und Boidards (120) über paralytische AnfiBt i
drei umständlichen Krankheitsgeschichten enthalten nichts Bemerkens»«!*
Berum (13) widmet der Gedächtnisschwäche der Paralytiker einen lß?'-
Aufsatz, der er zusammen mit anderen psychischen Störungen mehr diign«® 1 '
Bedeutung zuweist als den körperlichen Symptomen.
Hermann (73) beobachtete anhaltende präagonale linksseitige
krämpfe mit Singultus bei einem Paralytiker, die sich zu allgemeinen linkssat^-
Konvulsionen gesellt hatten. Sektion konnte nicht stattfinden.
Sdnz (41) hält den in seinem Fall von Tabes aufgetretenen doppd**?
Herpes Zoster für akzidentell und ohne Kausalnexus mi t der Tabes.
Gazielu (63) beschreibt Skoliose im oberen Teil der Lendenwirbelsiak in
Falle von Tabes von vierjähriger Dauer als eine Form tabischer Artropitk*
Enge (37) stellt in seiner zusammenfassenden Literaturstudie die bei^
therapeutischen Maßnahmen gegen Paralyse in zweckmäßiger Gruppi«®? •
sammen. „Man wird sich unbedenklich dahin äußern können, daß wir
von einer rationellen Therapie noch nicht sprechen können.“ £ ^
jeden Syphiliker zur Verhütung der Paralyse möglichst früh und so lang* ß r
handeln, bis die positive WM-Reaktion dauernd geschwunden ist.
Anton (3) resümiert das Wichtigste der Paralyse nach den Geskhtspnnt'«
wer erkrankt an Paralyse, welche Symptome gestatten ihre frühe Erk®'“
welche Teile des Zentralnervensystems erkranken am meisten, welch® Syopk-
charakterisieren die fertige Krankheit, wie ist ihr vorzubeugen und wie ist sr -
behandeln. Für die Bevorzugung des Stir nhir ns hält A. die Erklärung durch *-
ungünstigeren Zirkulationsbedingungen für beachtenswert. Grundaäg* dff
hütung sind: Rezidiven vorzubeugen und den Gesamtorganismus widerstand**“
zu erhalten. Bezüglich der Behandlung mit Sälvarsan vertritt A die V®
aufgestellten Grundsätze. --
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Original from 1
UMIVERSITY OF MICHIGAN
Matasch, Organische Psychosen.
283 *
Klieneberger (93) unterzieht die Behandlung mit Na. nueleinicum einer
itischen Nachprüfung mit dem Ergebnis, daß die Erfahrungen nicht ermutigen
innen, das schmerzhafte Verfahren weiter anzuwenden.
Donath (33) wendet dagegen ein, daß die Behandlung in diesen Fällen in
i vorgeschrittenen Stadien angewendet sei
Auch Lötoenstein (105) hat unter 13 sicheren Paralysefällen, zum Teil im
itialen Stadium, nur in zwei Fällen zweifelhafte Besserung durch Nuklein-
ehandlung gesehen und verwirft die Methode.
Hassels (82) dagegen hat in einem von fünf sonst ungebesserten Fällen, in
em der Kranke bereits dem terminalen Stadium nahe war, Veränderung im Krank-
eitsbilde konstatiert, die sich als Entlastung des Körpers von toxischen Produkten
euten lassen.
O. Fischer (46) hat jeden zweiten der aufgenommenen Paralytiker mit Nuklein
ehandelt und sah in einer großen Zahl von Fällen an Heilung grenzende Remis-
ionen, die sich aber nicht dauerhaft erwiesen, von den nicht behandelten Fällen
eigte nur einer Remission. Die Resultate waren denen mit Tuberkulin ähnlich,
edenfalls beruht die Wirkung beider neben der Hyperthermie auf Blutleukozytose,
lenen wohl auch die günstige Wirkung von Kochsalzinfusionen zuzuschreiben
st. In dem erwähnten Fall von Remission ohne Nuklein waren 19 Enesolinjektionen
gemacht worden.
Von Enesol haben Vorbrodt und Kafka (158) in 10 Fällen von Paralyse (8),
Tabes und Encephalitis luetica keine Beeinflussung des klinischen Bildes und des
biologischen Verhaltens des Blutes und des Liquors gesehen.
Jurmann (90) hat 17 Paralytiker mit Injektionen von nukleinsaurem Natrium
nach Donath behandelt. Er fing mit Dosen von 1,0 an und stieg bis zu 2,0—2,6.
Die Steigerung der Dosis machte er von der Temperaturreaktion abhängig. Zwischen
iiner Injektion und der folgenden lag eine Pause von mindestens 8 Tagen.
Von den behandelten 17 Pat. starben vier während der Behandlung (der Tod
stand aber in keinem Zusammenhang mit den Injektionen, es handelte sich um
sehr vorgeschrittene Fälle), sechs Fälle blieben unbeeinflußt, während bei sieben
Besserung festgestellt wurde.
Die Besserung zeigte sich zunächst in Gewichtszunahme (in einem Falle bis
23 kg), aber auch in seelischer Beziehung war die Besserung in einem Falle z. B.
so bedeutend, daß der Kranke seiner Beschäftigung nachgehen konnte, und nur
die Kürze der verflossenen Zeit hält den Verf. davon ab, von einer Genesung zu
sprechen. Auch in zwei anderen Fällen konnten nach der Behandlung in psychischer
Beziehung keine Abweichungen von der Norm bemerkt werden. In weiteren Fällen
waren wohl psychische Defekte vorhanden, doch war die Besserung „frappant“.
In drei Fällen verschwand die vorhanden gewesene Sprachstörung, einmal ver¬
schwand das Rombergache Symptom, in einem Falle konnten die Patellarreflexe,
die verschwunden waren, wieder ausgelöst werden. Überhaupt waren die Besse¬
rungen vorzugsweise in den Fällen von Taboparalyse zu verzeichen.
(Ftewcfttmmn-Kiew.)
Aus der Arbeit von Solomin (143) über die Wirkung von Salvarean heben
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284 *
Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
wir nur seine Beobachtungen an Paralytikern hervor. Eine günstig» T;iq
dieses Mittels hat 8. bei keinem dieser Pat. gesehen. Im Gegenteil boictei
über eine Verschlimmerung des Zustandes unter dem Einfluß von 60& Es nfc
danach Gewichtsabnahme, schwere motorische Unruhe, sexuelle Erngsogs«
andere ungünstige Erscheinungen beobachtet. (FZctseÄinaim-foii
Wagner v. Jauregg (159) verwendete abgetötete Staphylokokkenknhra i
steigender Konzentration und schreibt ihnen namentlich in manischen Fonttii
Paralyse den Eintritt von Besserungen zu, die übrigens erheblich später ah u
Tuberkulininjektionen beginnen. In einem Falle, wo sich nach Salvarsaneüepna
langwierige Staphylokokkeneiterung einstellte mit überraschender Besang«
Paralyse, sei der Erfolg auf Rechnung der Staphylokokken und nicht des Siiws
zu setzen.
An die Mitteilung, daß Salvarsan in zwei von fünf Fällen von Erbrr^
vollkommen versagte, knüpft Hochsinger (76) Bemerkungen über die Eriob i
Jod-Quecksilber an seinem reichen Material (40% Dauerheilungen) and <fe Ei
Ziehungen der so behandelten Erbsyphilis zu späteren Erkrankungen des Ze:n
nervensystems. Von 208 länger als 4 Jahre beobachteten Säuglingen vorder t
später nervenkrank, 34 hatten schwere Kopfschmerzen, 2 HerderknnfcuH
6 Epilepsie, 3 Tabes, 2 Paralyse, 6 Migräne mit Pupillenstarre, 10 waren imt--
An Rezidiven in der Säuglingsperiode kamen Rindenenzephalitis, Meningitis a
lömal Hydrozephalus vor, von denen 4 später unter dem Bilde der Kobr-
Kinderlähmung erkrankten. Indessen traten die schweren Erkrankung«
Zentralnervensystems nur bei nicht lange und ausgibig genug behandelten Käs-'
aut Im ganzen hatten 131 von den 208 Säuglingen Rezidive, und zwar mfb' - 1
nach dem ersten Vierteljahr ihres Lebens behandelten, 85 der Rezidive fk'.-: J
das erste Lebensjahr. Bemerkenswert ist auch das häufige Vorkommen ntr
Erkrankungen, u. a. Moral insanity bei luesfrei gebliebenen Deszendenten.
Aasmann (5) berichtet über den Erfolg der Salvarsanbehandlung be - ;
pienter Paralyse, Tabes und Lues cerobrospinalis. Bei der ersteren blieb
im Blut und Liquor unbeeinflußt, Paralyse wurde klinisch nicht, Tabes in eins*--
Symptomen gebessert, bei Lues cerebrosp. war günstige Wirkung, auch im !>•>
befand, deutlich. Drei Fällen von Neurorezidiv nach Salvarsan lag Mraor
luetica zugrunde. Zwei Fälle von isolierter Pupillenstarre, von denen einet:
malen, einer positiven Liquor hatte, blieben bisher, 2—3 Jahre, ohne *'■'
nervöse Störungen.
Treupel und Levi (153) und Treupel (164) teilen ihre während eines h'
mit Salvarsan gemachten Erfahrungen mit unter besonderer Berückskh:-.
der angewandten Methoden und ihrer Nebenwirkungen. Subkutane und r"
muskuläre Injektionen seien nur ausnahmsweise zu empfehlen, intraven** *‘
zwar mehrmalig, bieten die meisten Aussichten auf Dauererfolg und Sterile
des Organismus, sie seien aber bei Herz- und Gefäßkrankheiten gefährlich, h
refraktärsten Fällen empfehle sich Kombination mit Hg.-Kur. Bei metaluftf
Erkrankungen sei dieAnWendung erlaubt, sie schaffe durch die roborierende
des Arsens subjektive Besserung, wenn auch keine dauerhafte.
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Matusch, Organische Psychosen.
285*
Freidberg (49) berichtet über 40 behandelte Fälle, die Therapia magna steri-
ins werde durch Salvarsan nicht erreicht, wohl aber mit chronisch-intermittierender
handlung, event. mit Zuhilfenahme von Hg. Luetische Herzkrankheiten bilden
ne Kontraindikation. Dem. paralytica blieb unbeeinflußt.
Jörgensen (88) veröffentlicht einen Fall von Paralyse, in dem nach intra-
skulärer Injektion von 0,5 Salvarsan der Tod an Arsenvergiftung eintrat, ob-
ich die Sektion einen beträchtlichen Teil des Mittels im Injektionsort unre-
biert nachwies.
Etnanuel (36) stellt fest, daß die in der Regel positive W-M-Reaktion des
-ninchenserums durch intravenöse Salvarsaninjektion vorübergehend negativ
nacht werden kann, was den Schluß erlaubt, daß diese WM-Reaktion von der
i syphilitischen oder metasyphilitischen Menschenserums grundsätzlich nicht
■schieden sei und daß ihr Verschwinden beim Menschen durch Salvarsan nicht
ne weiteres als therapeutischer Effekt anzusehen sei.
Nikitin (117) berichtet über seine Erfahrungen über die Wirkung von Sal-
rsan bei syphilitischen und metasyphilitischen Erkrankungen des Zentralnerven¬
items. Er kommt dabei zu folgenden Schlüssen: Bei syphilitischen Affektionen
i Zentralnervensystems, die innerhalb des ersten Jahres nach der Infektion
tstanden sind und erst relativ kurze Zeit bestehen, übt das Salvarsan eine günstige
irkung aus, die sich nicht allein in einer Besserung des subjektiven Befindens,
idem auch in verschiedenen objektiven Symptomen äußert. Der Umfang der
sserung war nicht besonders groß. Dagegen ist der Yerf. geneigt, die subjek-
en Besserungen, die er bei den meisten Tabetikern mit Salvarsan erzielt hat,
tu psychotherapeutischen Einfluß der Injektionen zuzuschreiben.
(Fleischmann-Kiew .)
Im Falle von Oberholzer (119) handelte es sich um ein etwa fünf Monate
ch intramuskulärer Salvarsaninjektion mit nachfolgender Schmierkur ?ufge-
stenes rein syphilitisches Rezidiv (Zerebrospinalminingitis mit Affizierung des
tl.—XII. Nerven und der Wurzeln des unteren Dorsalmarkes).
Trömner und Delbanco (165) erörtern die Frage der Neurorezidive nach Sal-
rsan. Trömner vertritt die Anschauung, daß das Salvarsan mehrere Gruppen
rschieden zu deutender Wirkungen entfalten kann, unmittelbar toxische (auch
i Nichtsyphilitischen) und mittelbar spezifische, die in frühe entzündlich-reaktive
jrgänge und in etwa zwei Monate später auftretende Neuaktivierung syphilitischer
ozesse zu trennen sind. Die Bevorzugung der zerebralen oder seltener peripheren
;rven beruhe zum Teil auf einer Neuroaffinität des Mittels, und direkte neuro¬
tische Wirkungen seien nur in einzelnen malignen Fällen anzunehmen. Delbanco
igt mehr der Fingerschen Auffassung zu mit der Modifikation, daß der vom
dvarsan primär toxisch geschädigte Nerv den Locus minoris resistentiae für das
ezidiv darstellt. Entscheidend für die Frage ist, ob die WM-Reaktion die An-
ssenheit von Spirochäten im Organismus anzeigt, oder, wie für Delbanco, nur
sagt, daß er mit dem syphilitischen Gift in Berührung gewesen ist.
Benario (12) stellt in seinem Buche, das der Verteidigung der Ehr&Aschen
uffassung der Neurorezidive gewidmet ist, die Rezidive nach Salvarsan denen
Zeitschrift für Psychiatrie. LXIX. Lit. U
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
nach Quecksilber gegenüber und faßt in Schlußsätzen die Beweise gegen die tun--
Natur der Rezidive zusammen.
In einer scharfen Entgegnung zerpflückt Finger (42) die Beweistüti-
Benarios. Er schließt damit, daß das gehäufte und frühzeitige Auftreten von L
cerebri bei mit Salvarsan behandelten Kranken ein Novum in der Patholog*
Syphilis ist, das unbedingt mit dem Salvarsan zusammenhängt.
William (165) plädiert für die Behandlung auch der spätsyphilitK
Erkr ankung en mit Quecksilberinjektionen, insbesondere Kalomel, die ab*
Serien von 20—80 mit anfangs zweiwöchiger Pause, später viermal im Jahr- ;
geben werden sollen.,
b) Präsenile und senile Psychosen.
Schob (184) schildert einen Fall arteriosklerotischer Rindenerkranknr?. J
sich bei einem 26jähr. Arbeiter aus einem kurzen Prodromalstadium zu «i-l
paralyseähnlichen Krankheitsbilde entwickelte und nach 15jähriger Dauer r.i
Tode führte. Entsprach schon im klinischen Bilde manches nicht einer P&raij
so ergab die Sektion keinen paralytischen Befund, sondern annähernd symmeT- i
über beide Hemisphären verteilte Atrophie zahlreicher G.oß- und Kkkt;~
Windungen und ausgedehnte Arteriosklerose der großen Gefäße, namentlich i
Piaarterien. Mikroskopisch fanden sich viel keilförmige, von gliösem >W
gewebe umgebene Zysten, gliöse Narbenzüge, von der Randschicht nach der TV
ziehend, und kleine Verödungsherde. Der Befund erinnerte stark an 6tat vmtx.
wenn er ihn nicht ganz erreicht hat, so ist dies wahrscheinlich in der Widersur
fähigkeit des noch jugendlichen Gehirns zu suchen. Jedenfalls handelt *
bei dem Befunde um das Endprodukt arteriosklerotischer Erweichungs- und V
ödungsherde. Die Gefäßveränderungen waren im allgemeinen die gewöhnt
arteriosklerotischen, vielfach aber von denen der luetischen Endarteriiris nkc'
unterscheiden. Wegen der ungewöhnlichen Hyalinisierung der Adventitia und :•
Fehlens aller syphilitischen Anzeichen möchte Sch. Lues in diesem F-
ausschließen und ihn als ein seltenes Vorkommnis früher arteriosklerotcc:
Demenz auf fassen, demnach als einen Beweis, daß arteriosklerotische und at
Geistesstörung nicht identisch sind.
In seiner „Klinik der arteriosklerotischen Geistesstörungen“ führt Piic
dem praktischen Arzte alles Wissenswerte darüber mit reicher eigener Erfahr
vor.
Herz (74) sieht in der Arteriosklerose eine Abnutzungskrankheit und in
zerebralen die Folge einer übermäßigen Betonung des Pflichtbewußtseiss. .
Therapie muß deshalb in erster Linie eine psychische sein. Interessant ist zu hi"
daß 10% aller Wiener Ärzte von der Sorge um ihre Blutgefäße zu ihm geuvt-
wurden, woraus zu berechnen ist, daß mindestens die Hälfte aller Ärzte ihr
Gefäßsystem hypochondrisch mißtraut
Spielmeyer (146) legt in seinem kritischen Referat die Alterserkranku&r
des Zentralnervensystems nach dem Stande der neueren Forschung und zt
eigenen Beobachtungen dar. Im Vordergründe des histologischen Befundes sttt -
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Matusch, Organische Psychosen.
287 *
e Redlich-Fischerschea Plaques und die Fibrillenveränderung Alzheimers in den
anglienzellen. Während aber jene nie zu fehlen scheinen, findet sich diese nur
i einem Teil der Fälle. Man muß die Plaques, die wahrscheinlich ein Stoffwechsel-
'odukt von kristallinischer Art sind, als eine Begleiterscheinung der senilen In-
»lution auffassen, welche sich klinisch als senile Demenz äußert, wenn sie be-
»nders intensiv und rasch verläuft. Der Fibrillenveränderung scheint dagegen
ne spezifische Bedeutung für die senile Demenz und einiger ihr verwandten Pro-
isse zuzukommen. Gegenüber diesen beiden Befunden treten die Veränderungen
n den Ganglienzellen, den Markscheiden und der Glia an pathognomonischer Be¬
eidung zurück, alle Veränderungen aber haben Prädilektionsstellen ähnlich der
aralyse, die bei ungewöhnlicher Lokalisierung zur Grundlage atypischer seniler
lemenz führen kann, vielleicht aber auch von lokal stärkerer Atherose bedingt ist.
>ie auf Atherosklerose beruhende Himerkrankung ist ein prinzipiell anderer anato-
»ischer Prozeß als die senile Demenz, richtet sich diese nach gewissen Anordnungen
«*r Rinde, so befällt die Atherose aus unbekannten Gründen bald dieses, bald jenes
refäßgebiet. Ihre wichtigsten Folgen sind die senile Rindenverödung, die also besser
1s atherosklerotische Rinden Verödung zu bezeichnen ist, und die mehr diffusen
'cränderungen, die sich in Ganglienzellenerkrankung, Gliawucherung um die
icfäße, mehr fibrotische als arteriosklerotische Gefäßerkrankung und das Vor-
omnien amöboider Gliazellen meist an gequollenen Marksfasem kundgeben,
fit den Frühformen der Atherosklerose wäre die „Abheimersche Krankheit“ in
»arallele zu stellen. Neben mannigfachen Übergangs- und Kombinationsformen
:ommen auch andere zentrale Prozesse im Senium vor. Sp. beschreibt zwei Formen,
leren eine sich durch massige Gliawucherung in bestimmten Rindenpartien charak-
irisierte, während der zweiten mit Korsakoff- und Herderscheinungen vorhandenen
nehr diffuse Schrumpfung der Rindenzellen und gewisser Kemabschnitte in den
ieferen Teilen des Gehirns und auch des Rückenmarks zugrunde lag. Die Histo-
»athologie der Paralysis agitans läßt 1 isher nur soviel erkennen, daß hier Abbau-
orgänge eine Rolle spielen, die denen des amöboiden Typus nahestehen. Auch
venn die Theorie der innersekretorischen Ursachen richtig ist, bleibt doch die
Vufgabe, die durch sie bedingten zentralen Veränderungen festzustellen.
Einen Versuch zur weiteren Abgrenzung präseniler Psychosen liefert Ziver*
177) mit der Schilderung des Falles einer 57jähr. Frau, bei der toxische, urämische
icllagröse und arteriosklerotische und manisch-depressive Form auszuschließen
var und wo die beschriebenen histologischen Veränderungen im allgemeinen denen
_>ei seniler Demenz entsprechen, ohne einem bestimmten Typus anzugehören.
G. E. Schröder (137) weist am Befunde bei zwei nicht dementen alten lauten
[78 und 85 Jahre), die sehr zahlreiche über die ganze Rinde verstreute Plaques
jufwiesen, nach, daß diese das anatomische Substrat der presbyophrenen Demenz
nicht bilden können.
Betts (19) stellte das Vorkommen von Plaques in einer Reihe von alten Geistes¬
kranken verschiedenster Form und Dauer ihrer Psychose fest und vermißte sie
in einer anderen Reihe. Allerdings war in allen positiven Fällen Demenz und
Atherose vorhanden, aber auch in einigen negativen.
u*
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288 *
Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
Nach Fuüers (61) Untersuchungen an 93 Fällen kommen die Plaque
häufiger bei alten Dementen vor als bei alten Gesunden, fehlen aber auch in Fil-
seniler Demenz und finden sich ausnahmsweise schon bei jüngeren. Sie sind öt
nicht charakteristisch für eine bestimmte Form von Psychose. Mit ArteriaAk •
waren sie in 62% der positiven Fälle verbunden, doch war auch in negativ® #u:;
Atherose vorhanden. Wo sich die stärksten pathologischen Veränderungen £n»
waren auch die Plaques am häufigsten, das gilt auch für die Hirnteile, von er-
Frontal- und Hippokampalregion am meisten befallen waren. Im allgeDr?-
scheinen die Fälle ohne Plaques der arteriosklerotischen Demenz. File
Plaques der senilen Involution anzugehören.
Schnitzler (132) knüpft an die Mitteilung eines Falles von apathischer Dee*':.
bei einer 36jähr. Frau mit verwaschenen und teils passageren Herdsympton-
Bemerkungen über die Abgrenzung der Alzheimerschea Krankheit. So sekr
Fall nosologisch mit den beschriebenen Fällen zusammengehört, so unterscbr>
ihn doch davon das Fehlen von Drusen, von Arteriosklerose, von manchen sru*
Zügen, in erster Linie das Erkrankungsalter von 31 Jahren. Andererseits steb ■:
ihn, wenn auch spärliche, Plasmazellen in der Nähe der Paralyse, die indesseo :
histologische Befund im übrigen und auch negativer WM ausschloß, uno
bestimmten Symptomen war ein primärer thyreogener Komplex außer Zre.
Es handelt sich also um einen Fall von künstlichem Senium, der unter den Berr
der Alzheimerschcn Krankheit fällt, wenn man die Hauptsache des Atypisch-:
dieser Gruppe in dem Nichtvorhandensein eines natürlichen, in engerem
senilen Zustandes erblickt, für die atypischen tatsächlich senilen oder hinrrir.v
präsenilen Fälle ist die Bezeichnung nicht wünschenswert.
Lafora (104) berichtet den Fall eines im 62. Jahre gestorbenen -
dem 68. Jahre kranken Mannes, in dem klinsich und histologisch alle Merki-
der Alzheimerschon Krankheit nachgewiesen werden.
Halberstadt und Arsimoles (63) erörtern die mit Diabetes einhergeb?:*
senilen und präsenilen Zustände. Sie unterscheiden drei Gruppen: 1. die Fi.
reiner Koinzidenz von Diabetes und Psychose, 2. die Psychosen autointoxsdr
Ursprungs infolge von Diabetes und 3. die eigentlichen als Diabet espsyds x
geltenden, die aber nach ihrer Ansicht die Bezeichnung nicht verdienen, w*i! s-
Folge von Arteriosklerose und Seneszenz sind, denen Diabetes neben an«?'
Momenten zugrunde liegt
Die Dissertation von Hegge (128) behandelt einen Fall, in dem nach «•
plektischem Insult bei einem arteriosklerotischen Trinker vorübergehender v -
wirrtheitszustand auftrat, von dem dauernde sensorische Aphasie und arterisAk
tische Neurasthenie zurückblieb.
Dausend (31) schildert einen Fall von eigenartigen Störungen im Sprachln •
und Optisch-Räumlichen im Sinne einer Zügellosigkeit und Unbeeinflußbari
der betreffenden Himgegenden. Der Fall betraf einen 76jährigen, mit sat
Arteriosklerose und zahlreichen kleinen Erweichungsherden in Rinde und &
beider Hemisphären.
Hamiltons (66) Arbeit beschäftigt sich mit den senilen spinalen Verändern!-'
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Matnsch, Organische Psychosen.
289 *
ei verschiedenen Formen geistiger Störung, im Todesalter von 71 bis 94 Jahren,
tas Material bilden 64 Fälle, in denen gröbere Gehirnerkrankungen, Epilepsie
. a. aaszuschließen waren. Namentlich in Fällen, in denen unsicherer Gang,
luskelsch wache, Störung der tiefen und oberflächlichen Reflexe, Tremor und
msible Störungen bestanden hatten, erinnerte der Befund im Rückenmark an
en bei perniziöser Anämie und Seiten-, auch Hinterstränge und hintere Wurzeln
raren Sitz der stärksten Veränderungen. Corpora amylacea fanden sich am häu-
igsten neben den Hinterhömem und in der Nachbarschaft der Substantia gelati-
iosa, Gefäßerkrankungen waren weniger sichtbar, als zu erwarten war, schon aus
Liesem Grunde ist der Befund an Zellen und Fasern nicht auf Arteriosklerose zu
»eziehen.
Hamei (65) begründet etwas umständlich an der Hand von vier Krank-
lcitsgeschichten, daß Presbyophrenie und senile Demenz sich klinisch nur gra-
luell voneinander unterscheiden. Ätiologisch kommen für beide die gleichen Ur-
lachen in Betracht: Arteriosklerose und senile Involution, bei beiden besteht der
Reiche Komplex: Verworrenheit mit Zutritt oder Steigerung von Gedächtnis-
chwache, Unorientiertheit, Confabulation und falsche Erinnerungsbilder. Die
•jolyneuritische Amnesie unterscheidet sich von der presbyophrenischen durch
Fehlen oder Heilbarkeit histologischer Veränderungen. Presbyophrenie kann als
vorübergehendes Syndrom im Verlauf einfacher seniler Demenz auftreten.
Mit Chorea senilis beschäftigt sich ein klinischer Vortrag Eichhorste (34).
Bei einem 80jährigen Mann hatte sich nach Gemütsbewegungen und einem mehr¬
wöchigen Prodromalstadium von Kopfschmerz, Schwindel und brennenden Empfin¬
dungen im rechten Bein und Arm rechtsseitige Chorea in schwerer Form ent¬
wickelt ohne besondere somatische oder zentrale Störungen. Einige Wochen nach
ihrem Beginne erfolgte der Tod. Die sogen. Choreakörperchen, eine Bezeichnung,
die als unberechtigt besser durch Kolloidkörperchen zu ersetzen ist, fanden sich
nicht, überhaupt auch mikroskopisch nichts, was als der Chorea eigentümlich an-
znsehen wäre. Anwes nheit von Bakterien ergab sich ebenfalls nicht.
E. macht auf die ätiologische Bedeutung von Gemütsaufregung, auf die
schlechte Prognose, die Beteiligung der Psyche in den meisten Fällen und
die Bevorzugung der linken Körperhälfte aufmerksam. Wesensverschiedenheit
der juvenilen und der senilen Chorea möchte er verneinen.
Patsehke (123) empfiehlt Tiodineinjektionen bei zerebraler Arteriosklerose,
besonders wo interne Jodtherapie versagte.
Alzheimer (1) erweitert seine Untersuchungen nach der Richtung, ob die
Fälle noch charakteristische Merkmale in klinischer und histologischer Beziehung
aufweisen, die sie von der senilen Demenz unterscheiden, mit Bericht über den
Fall eines 64jährigen Mannes, in dem sich langsam tiefe Verblödung mit agnosti-
schen, aphasischen und apraktischen Störungen einstellte. Die Fibrillenentartung
der Ganglienzellen fand sich in diesem Falle nicht, aber starke Anhäufung lipoider
Stoffe in den Ganglienzellen, den Gliazellen und den Zellen der Gefäßwände und
zahlreiche faserbildende Gliazellen im ganzen Zentralnervensystem, Veränderungen,
die auch hier unter dem Durchschnitt der bei Dementia senilis gefundenen hinaus-
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290 * Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
gehen und sich durch stärkere Lokalisation in beide nScheitel- und Schluck
auszeichneten, während sonst das Stimhim bevorzugt zu sein pflegt. In dcr
midenseitensträngen ließ sich Untergang von Markscheiden nach weisen. >
zahlreich und zum Teil von ganz ungewöhnlicher Größe fanden sich die F •
sehen Plaques. Sie werden eingehend beschrieben und ihre Bedeutung txspr «\
Abweichend von dem sonst gesehenen Bilde war, daß der Kern der Dres«.
lipoiden Körnchen besetzt war, die sich mit Scharlach färbten und mit der:
«cÄouwky-Methode schwärzten, der Kern erinnert mit ihr in seiner Stmkr:
drüsige feine Kristallnadeln. Der Hof der Druse zeigt mit der 3/annschen Fi±r_
allerlei amorphe ineinandergefügte Schollen und Brocken und einen sehr kr'
zierten Bau, in dem gliöse Bildungen wie Körnchenzellen, Gliafäserchen mc
bildungen des Protaplasmas anderer Gliazellen nicht für die Annahme ft- •-
sprechen, daß ein Zusammenhang zwischen Drusen und Neuroglia nicht t*>H
Ist der Kern der Druse offenbar durch Ablagerung eines pathologischen A
weiebungsprodukts gebildet, so ist der Hof Sitz von Veränderungen, die ab E *
tionserscheinungen zu deuten sind. Die Drusen sind nicht al° die Urach
senilen Demenz anzusehen, sondern nur als eine Begleiterscheinung der s*ck
Involution, mit Hilfe der senilen Plaques ist noch sicherer bewiesen, daß Ar*
Sklerose des Gehirns und senile Demenz prinzipiell verschiedene Krankheitspr : -
sind. Anders verhält es sich bei einer Gruppe seniler Erkrankung, den Fall«:
umgrenzten Atrophien. Hier ist wider Erwarten weder Drusenbildung noch £•■
läre Erkrankung der Ganglienzellen in den Herden gefunden, aber «getri.-
Veränderungen an Ganglienzellen, die beschrieben und abgebildet werden
diese auf Arteriosklerose oder auf Dementia senilis zu beziehen sind, bleibt uz-:
schieden.
c) Psychosen bei Herderkrankungen.
Der Aufgabe, ein als kompliziert verrufenes Gebiet möglichst einfach -
übersichtlich darzustellen, hat das Kompendium der topischen Hirn- und Kode
marksdiagnostik von Bing (20) in so vortrefflicher Weise entsprochen, k;
schon jetzt in zweiter Auflage erschienen ist, in der die wichtigen neueren Art*.' 1
und manche eigenen Erfahrungen Aufnahme gefunden haben.
Cole (30) findet aus dem Vergleich mit niederen und höheren Affen, kt >"
Präfrontalregion des Menschen auf Grundlinien entwickelt ist, die schon in ni*^
Affen festgelegt sind, sie ist also nicht so jung wie die untere Frontalregk» -
ihre Bevorzugung durch atrophierende Prozesse in Fällen von Verblödra: 'o*
sich nicht ohne weiteres im Jacksonschen Sinne erklären, daß die entwicklet
geschichtlich jüngsten Hirnteile auch zuerst der Rückbildung unterliegen. I
Die Beschreibung eines Anenzephalen ohne Amyehe von D'Hoüani*
eignet sich nicht zur auszüglichen Wiedergabe, ebenso die Arbeit von C*/ -
über den äußeren Habitus eines Mikrozephalengehirns, dessen Ähnlichkeit r
dem Gehirn des Gorillas bzw. mit den niederen Affen beschrieben und dnreb
bildungen erläutert wird. Das Gehirn gehörte einer 49jährigen, geistig sehr
stehenden Idiotin an und wog 888 g.
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Matasch, Organische Psychosen.
291*
In einem klinisch besprochenen Fall lieferte die Autopsie die Bestätigung
er von Redlich und Bomicini (127) vertretenen Ansicht, daß es sich um totale
Kindheit aus einer Summation einer linksseitigen und rechtsseitigen Hemianopsie
andelt, wobei das makuläre Feld nicht freigeblieben war. Es fand sich allgemeine
.trophie des Gehirns (1080 g), Thrombose beider Art. cer. post, und Erweichung
ei der Hinterhauptslappen in ihren medialen und basalen Teilen. Der Fall bestätigt
uch die Behauptung v. Monakows , daß es an der medialenHinterhauptrinde eine reine
Undenerweichung nicht geben kann, denn die Erweichung unterbrach die darunter
iegende Markfaserung bis zum Ventrikel und griff auf die lateral vom Hinterhorn
:elegene Markfaserung des Okzipitallappens über nebst Corp. genicul. ext.
Ist damit die totale Blindheit erklärt, so ist die Erscheinung der fehlenden Wahr-
tehmung der eigenen Blindheit in der allgemeinen und hochgradigen Störung
ler Himtätigkeit, wie er aus dem anatomischen Befunde hervorgeht, begründet.
Die Kombination des Versuches optischer Wahrnehmungen mit relativ gut er-
laltenem optischen Gedächtnis in diesem Falle kann in Verbindung mit der In-
aktheit der konvexen Anteile des Hinterhauptlappens für die Annahme Wilbrandts
von der getrennten Lokalisation beider sprechen, läßt sich aber auch ohne diese
Annahme damit erklären, daß der intakte Rindenabschnitt durch die Trennung
der Projektionsfasem außer Kurs gesetzt ist, aber noch assoziativer Funktion
dient. Die Verf. fügen noch einen zweiten ganz ähnlichen Fall hinzu, in dem aber
das optische Gedächtnis schwer geschädigt ist und lediglich durch Konfabulation
ersetzt wird. Gewisse erhaltene Reaktionen auf Lichtreize legen den Vergleich
mit dem Verhalten des großhimlosen Hundes gegenüber Lichtreizen in den Ver¬
suchen von Goltz u. a. nahe.
Jentsch (86) stellt die neueren Untersuchungen über die Beziehungen des
Schädelreliefs zu den Hirnwindungen zusammen.
Dem kritischen Referat über die Hypophysis läßt Münzer (114) das über
die Zirbeldrüse folgen. Er macht mit Recht darauf aufmerksam, daß durch die
innere Sekretion allein nicht alle Bestimmungen der Tätigkeit der Stoffwechsel -
drüsen zu erklären sind, vielmehr eine Anteilnahme des Nervensystems voraus¬
setzen läßt, die noch gründlicher Klärung bedarf. Die Ergebnisse werden in zwölf
Schlußsätzen zusammengefaßt, aus denen hervorzuheben ist, daß die Zirbeldrüse
ihre bedeutungsvollste Wirksamkeit in der Kindheit entfaltet und mit einsetzender
Pubertät einer deutlichen Involution unterliegt, die sich durch Zunahme der Binde¬
ge webssubstanzen, Verminderung des Drüsengewebes und Ablagerung von
Hirnsand kennzeichnet. Es kommen Zysten und Tumoren vor, die meist den
Teratomen zugehören; von den durch sie bewirkten Himerscheinungen sindHydro-
cephalus int. und Augenmuskellähmungen hervorzuheben, die Beeinträchtigung
ihrer inneren Sekretion bedingt trophische und Wachstumsstörungen, und zwar
anscheinend als Hyperpinealismus: zerebrale Adipositas, als Hypopinealismus;
übermäßige Sexualentwicklung, als Apinealismus: allgemeine Kachexie. Er¬
fahrungsgemäß scheint die Sekretion den Eintritt der Pubertät zu hemmen/ Die
Drüse steht in Korrelation mit den Keimdrüsen und der Hypophysis. Über ihre
Beziehungen zu anderen Drüsen ist nichts Sicheres bekannt.
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292 *
Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
Bailey und JeUiffe (6) beschreiben einen Fall von Teratom der Zetir
von Vfc Zoll Durchmesser. Der 12jährige Knabe war zuletzt sehr schnell gew-
und fett geworden, seit einem halben Jahresbestand in rascher Entwicklung Api. .
Gang- und Blasenstörung, Abnahme der Ichfähigkeit, aber wenig Kopfetfc-
und keine Augenmuskellähmung. Im September 1910 Stauungspapille, Lik_
der Reet sup. und der ObL sup., träge reagierende, unregelmäßige Pupillen,
seits Herabsetzung des Hörvermögens, spastischer, ataktischer Gang, keine Ts>
Im Oktober-November dreizeitige Trepanation mit Ventilbildung. Tod k -
zember im Marasmus. 69 gesammelte Fälle von Tumoren der Pine&lis sind j
züglich beigefügt.
Wittes, (169) Fall betraf einen schwach beanlagten Mann, der mit oö J-'
an Symptomen eines Hypophysistumors erkrankte und ihm mit 69 Jahns ta|
Die akromegalischen Veränderungen sind abgebildet. Polyurie und Zucker w
nicht aufgetreten, es bestand aber eine durch Sinnestäuschungen aller Sinne. u
des erloschenen Gesichtssinnes, und Wahnvorstellungen gekennzeichnete Psyt ’
Die Hypophyse war in einen pflaumengroßen Tumor umgewandelt (Ads -J
in dem Vakuolenbildung und exzessive Vergrößerung mancher Kerne mge*-!
lieh war.
In Kümmels (96) erstem Falle hatte ein pflaumengroßes Aneurysma, i
offenbar vom Circul. Willis, ausging, die Umgebung der Hypophysis durch DrrJ
atrophie ausgedehnt geschädigt und diese selbst zu einem kleinen, nur mikrodtftf
als Drüsengewebe erkennbaren Rest erdrückt. Der Zustand hatte sich in cif.
vier Jahren entwickelt und bitemporale Hemianopsie, später fast Erblindiuu >-<
ursacht neben anderen Tumorsymptomen. In einem zweiten Falle ohne Ser .i
ging bei dem 23jährigen mit altem Gesicht aber allgemein wie genital infantil
Typus Hemichromalanopsie der Hemianopsie für Weiß vorauf, in einem dir- 1
14jähriges Mädchen, waren die Menses im 12. Jahre aufgetreten und nti
Wicklung von Tumorsymptomen ausgeblieben, es hatte sich starke Adip*- J
eingestellt mit Zucker im Urin. Die Darreichung von Hypophysistabletten tii
keinen, von Schilddrüsentabletten vorübergehenden Erfolg.
Einen extrazerebralen Hypophysistumor beschreibt FameU (38). Ke ti i
logische Struktur des Tumors und der Sitz deuteten auf Ursprung vom blüh i
bzw. mandibularen Epithel und rechtfertigte die Bezeichnung als Adomu ’
Es machte die ersten Symptome im 35. Jahre der Kranken und führte sns; $
im 43. Von den Erscheinungen, soweit sie nicht allgemeine Tumorsymptome «m
ist der anfangs remittierende Charakter, Gehörshalluzinationen und Lihr^
des III. und VI. Nerven zu erwähnen.
Weygandt (161) demonstrierte einen Fall von Himgeschwulst mit Stti-
des hinteren Hypophysenteils bei einer Achtzehnjährigen. Die seit zwei Jst-' 1
entwickelten Symptome deuteten auf eine tumorartige Läsion in der G*r :
des rechten Pedunkulus mit Druckwirkung auf die Hinterwand des Türken»:' 1
hinteren Teil der Hypophysis und Chiasma oder Traktus. Mit Besseren? - 1
Wiederkehr der zu Anfang ausgebliebenen Periode trat in kurzer Zeit ec»
Fettsucht auf, dies weist darauf hin, daß die funktionelle Bedeutung der Hy?
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Matasch, Organische Psychosen. 293*
»hysen teile weit komplizierter and differenzierter ist, als man schon jetzt annehmen
nuß.
Schuppius (140) hat in einem Falle von Hypophysistromo (etwa kiebitzei-
;roßes Sarkom) bei einem 30jährigen Manne Psychose vom Typus des katatonischen
Erregungszustandes mit paranoiden Vorstellungen und Sinnestäuschungen beob-
chtet. Diese nicht häufige Erscheinung in Hinsicht darauf, daß stärkere Druck¬
wirkung des Tumors jedenfalls auszuschließen war, gibt Verl Anlaß, zur Theorie
ler psychischen Erscheinungen bei Tumoren Stellung zu nehmen.
1 ln einer vorläufigen Mitteilung äußern sich E. Stransky und Lötoy ( 149)
iber die pathologischen Befunde an Hirn- und Meningealvenen, sie reichen an
lie Befunde an den Arterien bei weitem nicht heran und gehen auch nicht mit
hnen parallel. Die Elastika, die in der Kindheit sich durch große Zartheit aus-
unch.net, nimmt im mittleren Alter zu und scheint sich im vorgerückten Alter
fortschreitend zu reduzieren, bei Paralyse und besonders in einem Falle von eitriger
Meningitis fand sich Degeneration in den Endothelzellen.
R. Weber (160) teilt in einer Anzahl von fortlaufenden Aufsätzen aus den
Jahren 1904—11 vierzehn Fälle von Hirntumoren mit, an die er Untersuchungen
über den Einfluß der Neubildungen auf das Hirngewebe und Bemerkungen über
manche Punkte der Kontroverse knüpft. Die Fülle des Stoffes macht ihn zum
Referat nicht geeignet.
Von der berufenen Feder Hennebergs (72) ist der Abschnitt: Tierische
Parasiten des Zentralnervensystems im Handbuch der Neurologie bearbeitet.
Wir besitzen in der Arbeit eine klare Zusammenfassung und Sichtung der in zahl¬
loser Kasuistik und Einzelaufsätzen verstreuten Ergebnisse, unter denen eigene
Beobachtungen des Verf. keinen geringen Platz einnehmen. So werden der Cysti¬
cercus cellulosae, der Echinokokkus, der Paragonismus Westermanni und das
Schistosomum japonicum abgehandelt und durch eine Anzahl von Abbildungen
erläutert.
Salzers (130) Schriftchen, das einen Anhan g zu Weygandts Atlas der Psych¬
iatrie, IL Auflage, bilden soll, enthält mit erläuterndem Text instruktive farbige
Abbildungen des Augenhintergrundes, Tafel 1 illustriert die große Variabilität
des normalen ophthalmoskopischen Bildes, Tafel II die pathologischen und zweifel¬
haften Befunde, die für den Psychiater von Interesse sind.
Mingazzini (110) stellt sich in seiner gründlichen und umfangreichen Arbeit
die Aufgaben, die Symptomatologie und die Pathogenese der Kleinhimerkran¬
kungen aus den bisherigen Veröffentlichungen zusammenzustellen. Das Material
ist eingeteilt in 1. Erweichungen und Blutungen, 2. Tumoren verschiedener Art:
a) Kleinhirntumoren in sensu strictiori, b) Tumoren des Kleinhimbrückenwinkels,
3 . Abszesse, 4. Atrophien und Agenesien, a) einseitige primäre, b) doppelseitige,
c) assoziierte Atrophien des Kleinhirns und des Rückenmarks, d) assoziierte
Atrophien des Groß- und Kleinhirns und des Rückenmarkes. Den einzelnen Ab¬
schnitten ist ein Literaturverzeichnis beigefügt.
Flore (43) behandelt an 14 Fällen die Symptomatologie der Kleinhirntumoren
bei Kindern und die Meningitissymptome im Endstadium des zerebellaren Tuberkels.
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294 *
Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
Woskressenslci (170): Bei einem im deliranten Zustande ohne Asr_
aufgenommenen und nach einer Woche verstorbenen 42jährigen Bauet r-
Sektion zwei Gruppen von Veränderungen nach, eine Entwicklungsstörei; .
die Asymmetrie der beiden Hälften des Zentralnervensystems, am stärk*: i
Kleinhirn und Lendenmark, zurückzuführen war, nebst Mißbildung des Kkni.’
das aus drei völlig getrennten Stücken bestand, und Mikrogyrie der linkt 1 ■ i
himhemisphäre. Als zweite Gruppe eine chronische Erkrankung des ganm-i
tralnervensystems, die im ganzen der Paralyse entsprach, aber doch keine •. 1
Unterscheidung zwischen syphilitischer oder metaluetischer Erkrankung ge?r
Auf Lues — wahrscheinlich hereditäre — wiesen gummöse Narben an den Bn!
hin. Jedenfalls hat sich der spätere spezifische Prozeß vorzugsweise an der. h
tien des Zentralnervensystems etabliert, die im fötalen Leben durch die her*.-i
Lues in ihrer Entwicklung geschädigt waren. Ob die letzteren so weit aosgp|t
waren, daß sie keine deutlichen Erscheinungen gemacht haben, ist bei dem Maj
an Nachrichten nicht zu beantworten, wirklich ataktische Störungen wir« i
der Aufnahme noch nicht vorhanden, so braucht die abnorme Kleinheit dts Km
himes nicht notwendig zur hereditären zerebellaren Ataxie zu führen.
Willige und Landsbergen (167) empfehlen eine Methode, mit der Kanüi i
Punktionsnadel durch vorsichtiges Aspirieren einen Zylinder von Gehimab-n
zu entnehmen, der somit die histologische Untersuchung am Lebenden gen
Zwei Fälle sind vorläufig mitgebeilt, in denen die Diagnose auf diese Weise p~|
Anton (2) schildert vier Fälle von Tumoren des IV. Ventrikels als Gnu:*j
für einen Vorschlag für die Behandlung. Aus der Erfahrung eines der Fälle :•:
daß bei Kleinhimpunktionen die sehr variable Lage des Sinus transversus fo
Röntgenaufnahme festzustellen ist. Sie hat auch in einem (6.) Falle von .4rrri
des Kleinhirnes die klinische Diagnose dieses Befundes instruktiv ergänzt. Hjf
Vorschläge faßt A. dahin zusammen: 1. den Druck auf die Organe der hin”
Schädelhöhle und im IV. Ventrikel durch Balkenstich oder durch Ventrikelpuiiir i
zu entlasten, 2. durch das Verfahren des Balkenstiches auch den IILVec"« 1
zu punktieren, zu dessen Erweiterung Verlegung des IV. Ventrikels führen wn
3. die Gegend des IV. Ventrikels freizulegen und durch das Foramen
aber auch vom Oberwurm des Kleinhirns aus in den Ventrikel vorzudra.*"
4. vor jeder Kleinhimpunktion ein Röntgenbild im Profil anzulegen, das bIkt 1
Lage des Sinus transversus aufklärt, Agenesie oder Atrophie des Kleinhirns S-H
die kompensatorische Verdickung der Schädelknochen nachweist und durch De - '
heit der Knochen Anhaltspunkte für die Annahme einer relativen Hypcrtr*- 1
des Großhirns gewinnen läßt.
Anton und v. Bramann (4) berichten über Methode und Resultate des B*ü
stiches in 50 Fällen von Tumoren verschiedenen Sitzes, Hydrozephalus m>’ -
ohne Stauungspapille, Epilepsie, luetische Meningitis, Zystizerken und
schädel und fassen die Indikationen der Operation in Schlußsätzen znsaair
v. Eiseisberg (35) desgleichen über das Operationsergebnis in 100 Fällra r
Hirntumoren. Von 13 Hypophysistumoren wurde bei 9 gutes Resultat rf*-
4 starben durch die Operation. Werden 10 Fälle von einfacher Ventilanhf- -
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Matusch, Organische Psychosen.
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usgeschieden, so bleiben 77 Operierte, von denen 32 durch die Operation starben,
6 in weiterem Verlaufe, das Schicksal von 4 ist unbekannt, das mehr oder minder
ute Dauerresultat betraf 12 Fülle von entfernten Großhimtumoren, 8 mit Auf¬
lappung ohne Tumorentfemung, 4 Akustikustumoren und 1 Kleinhiratumor.
’ür den hohen Prozentsatz der Mortalität ist anzurechnen, daß hier alle Fälle
ufgeführfc sind, während Mißerfolge sonst nicht immer publiziert werden. Zum
Schluß gibt v. E. Beschreibung der Technik und Vorschläge für die Ausführung.
Borihoeffer (22) erläutert an drei Fällen von Tumoren des IV. Ventrikels,
vie diese symptomatisch unter sich wesentlich gleichen Fälle von der „Lehrbuchs¬
ymptomatologie“ abwichen. Hinterkopfschmerzen bestanden in allen nicht, in
zweien Stimkopfschmerzen, in einem Schmerzen in der Schläfe, das für charakte-
istisch gehaltene Vornübertragen des Kopfes bestand nur in einem Falle, im dritten
. ielmehr Neigung des Kopfes nach hinten. Stauungspapille trat früher oder später
n allen Fällen auf, ihr Fehlen kann demnach nicht für die Lokalisation des Tumors
n den IV. Ventrikel verwertet werden. Auch halbseitige Symptome, wie einseitige
Herabsetzung des Kornealreflexes, dürfen nur vorsichtig lokalisatorisch benutzt
werden, weil ein anscheinend gleichmäßiger Druck die einzelnen Himteile sehr
s'erscbieden stark alterieren kann. Pastöswerden des Gesichtes in einem Falle,
das Goldstein auf hypophysären Einfluß zurückführt, bestand in einem Falle, in
dem sich die Hypophyse stark platt gedrückt erwies. Zwei Fälle von idiopathischem
Hydrozephalus zeigten mit den vorigen viel Übereinstimmung. Die plötzliche
Erblindung in beiden Fällen ist von praktischem Interesse für die Behandlung.
Eine der Kranken zeigte das Brunssche Symptom des Schwindels bei Kopfschmerzen
angedeutet, das in den Fällen von Tumor gerade fehlte. Bei dieser Pat. war auch
starke Gewichtszunahme aufgetreten und erklärbar durch die nach dem Tode
beobachtete Vorwölbung des Infundibulums in Kirschgroße. Die Erfolge der
Ventrikelpunktion in diesen Fällen schildert B. als nicht günstig, er möchte sie
auf die Diagnostik unklarer Fälle beschränken. In einem Nachtrag führt B. einen
Fall von Hydrocephalus idiopathicus auf, der nach seinen Symptomen einen Tumor
ira Kleinhirn oder der hinteren Schädelgrube hatte vermuten lassen.
Von dem groß angelegten Werke von Krause (95), Chirurgie des Gehirns und
Rückenmarkes, liegt der zweite mit vorzüglichen Zeichnungen und farbigen Bildern
ausgestattete Band vor. Er betrifft die chirurgische Behandlung der Epilepsie
von genuinem und Jackson&chem Typus, die Neubildungen nach ihrem Sitze, die
intrakraniellen Eiterungen und die metastatischen Prozesse, die Gehimverletzungen
und die Chirurgie des Rückenmarks, so weit vollständige oder teilweise Leitungs¬
unterbrechung infolge von Verletzungen oder Kompression den chirurgischen
Eingriff indiziert. Was die hohe Bedeutung des Werkes ausmacht, ist nicht allein
die Fülle eigener Beobachtungen und Kasuistik, sondern die Symptomatologie
und die Beherrschung der lokalisatorischen Momente und die Objektivität, mit
der sich Vert seinen Erfolgen und Mißerfolgen gegenüberstellt. Daß im eigentlichen
chirurgischen Verfahren vielfach neue Gesichtspunkte und Methoden geschaffen
werden, bedarf bei der anerkannten Meisterschaft des Verf. auf dem Gebiete der
Hirnchirurgie kaum der Erwähnung. Ist doch sein Ruf in der operativen Behänd-
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296 *
Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
lang der Epilepsie so weit in das Pub likum gedrungen, daß dem Arzte aft r-1
die Frage vorgelegt wird, ob sich der Fall dazu eigne. Wer nicht den Aixr
über Epilepsie in dem vorliegenden Werke gelesen hat, wird die Frage nicht b*
Worten können, und auch wer sich nicht mit Himchirurgie befaßt, wird »p:-:
Abschnitte Anregung und Belehrung schöpfen. Das wird ihm um so leicht« va-
als K. in der Darlegung des Stoffes zeigt, daß er die Sprache nicht minder (kr.
handhabt wie das Messer.
Marie Charogorofcky (27) beschreibt die Ausdehnung und den Gur:
sekundären Degeneration des unteren Längsbündels in einem Falle von Emkta:
herd im Kuneus und der Bahnen um das Hinterhorn. Herd und recht* .
Hemianopsie waren in dem Falle von 21 jährigem Bestände.
Bbnon (14) fügt der Entdeckung Tastevins eine neue Variation hinn
Asthenomania postapoplectica. Unseres Erachtens ist die Entdeckung m'
neuer Name für Zustände, die sich teils mit dem Erschöpfungsirresein, tat i
periodischer bzw. epileptischer Verwirrtheit decken. Einige Krankheitsfihe ti-
die Grundlage der Ausführungen.
Hoppe (79) läßt aus den mitgeteilten Fällen von Tumoren der Corp. quadri--
des Pons, des Kleinhimbrückenwinkels und des Kleinhirns sowie aus Fiite'
Basilarmeningitis und Stirnhirntumor, die zerebellare Symptome TortjKir
die Symptomatologie der Kleinhirntumoren als nach der Reihenfolge da ws’-
sten Symptome der Ataxie, der hemilateraien Erscheinungen, des Schrie,
der Auganmuskelstörungen, Atonie, Adiadokokinesis Bonhoeffers , Konm!*:
und Kopfhaltung.
Barmiß Arbeiten (7—11) behandeln in der Hauptsache die von ihmentdtü
diagnostische Bedeutung des Zeigeversuchs für den Sitz zerebellarer Erkrantaf -
Beim Gesunden tritt bei Reizung des Vestibularapparates Nystagmus auf■:
er fällt nach rechts, bei Drehung des Kopfes nach rechts oder links fällt e m
wärts oder nach vom. Dies auch bei Labyrinthkranken zu beobachtend*
halten ändert sich bei zerebellarer Ataxie mit Nystagmus dahin, d*c -
Beziehungen des Nystagmus zur Richtung des Schwankens aufgeb*
sind. Ein Normaler mit Nystagmus nach links zeigt beim
sehen Tastversuch rechts vorbei. B. schloß, daß wenn bei Erkrankung« ‘
Wurms spontanes Fallen besteht, so müßte bei Erkr ankung en der HemispL' -
spontanes Vorbei zeigen auf treten und wenn die Fallreaktion fehlt, so auch'
Erkrankungen der Hemisphären die Reaktion des Vorbeizeigens ausfallen
So hat sich ihm bestätigt, daß in Fällen linksseitiger Hemisphäreneita^
die Zeigereaktion nach links am linken Arm fehlte, wenn Nystagmus nach r«
erzeugt wurde. In einem Felle, in dem wegen Sinusthrombose operiert war, i'-
Pat. mit dem rechten Arme rechts vorbei, wurde das linke Ohr kalt ausgesp rf:
so trat Nystagmus nach rechts auf mit Vorbeizeigen des linken Armes und te
Füße nach links, während der rechte Arm nur wenig schwächer nach rechts vai>
zeigte, Ausspritzen des rechten Ohres dagegen bewirkte stärkeres Vorbei* 1 ^
des rechten Armes und der anderen Extremitäten. Nach Eröffnung ein» ßs
himabszesses rechts ließ sich Ausfall der Zeigereaktion nach links am recht«
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Matusch, Organische Psychosen.
297*
anstatieren. B. weist im weiteren nach, daß es hier zu herabgesetzter Erreg-
arkeit des Zerebellums gekommen ist, und daß Verschiedenheit im Verhalten
?r Zeigereaktion durch die verschiedene Lokalisation der Extremitäten und ihrer
nzelnen Gelenke im Kleinhirn zu erklären sind. Experimentell konnte er dies
ti einem Fall nachweisen, wo die Kleinhimdura nur von Haut bedeckt war.
Fiore (44, 46) teilt einen Fall von Tuberkel in der Regio Roland bei einem
Jnde mit, der klinisch durch Anfälle Jacksonscher Epilepsie diagnostiziert, wahr-
:heinlich durch Tuberkulin geheilt war. Das Kind blieb 17 Monate von Hirn-
ymptomen frei, erlag dann allgemeiner Tuberkulose, und die Sektion wies an der
ermuteten Stelle amorphe und bazillenfreie Reste des Tuberkels nach. Der zweite
'all betrifft die klinische Schilderung eines nach geringfügigem Schlag entstandenen
ibszesses im rechten Hinterhauptlappen bei einem Kinde. Es erlag 10 Tage nach
ier Operation einer eitrigen Meningoenzephalitis.
Gianelli (67) beschreibt einen der nicht häufigen Fälle von Erweichungsherd
;n Balken und stellt aus ihm und den bisher veröffentlichten Fällen das anatomisch
ind symptomatologisch Wichtige in Schlußsätzen zusammen. Eine andere Arbeit
lianeüis (58) schildert den Symptomenkomplex in einem Falle von Erweichung,
ler sich auf das Tegumentum des peduncul. cerebr. beschränkte.
An dem Befunde an einem 30 Tage alt gewordener Mikrozephalen mit Agenesie
Jler Stimrindenelemente und imvollkommener Anlage des Thalamus und des
jinsenkems verfolgt Romagna-Manoia (129) die Markbekleidung der Lemniskus»
asera und schließt aus dem Gange derselben, daß die myelinisierten Fasern ein
‘inheitliches System von aufsteigendem Verlauf bilden und aus den Göllschen
ind Burdachschen Kernen hervorgehen.
Niessl v. Mayendorf (116) gibt seinem Buche über die aphasischen Störungen
ind ihre kortikale Lokalisation ein Vorwort, in dem er als wichtigste Aufgabe
:les Buches den Nachweis funktioneller Gesetzmäßigkeit der Großhimmechanik
bezeichnet, sein Glaubensbekenntnis in diesen vielumstrittenen Fragen darlegt
und den vielfach recht polemischen Ton des Buches aus der Notwendigkeit der
.,Sichgeltendmachung des positiv Hingcstellten“ ableitet.' Es ist aufgebaut
auf dem Plane, außer der Begründung der Eigenschaften der Wortbildphänomene
die Rindenörtlichkeiten, welche den Mechanismus ihrer Entstehung und Wieder¬
belebung enthalten, festzustellen, und zwar auf drei getrennten Wegen: 1. durch
die Häufung der Prädilektionsgebiete von prägnante Symptome bietenden Herd¬
erkrankungen, 2. durch die anatomische Verfolgung der Leitungsbahnen, welche
von der Peripherie zu diesen Rindengegenden führen, 3. durch die Betrachtung
der Rindenstrukturen und ihrer Zusammensetzungsverhältnisse. Der Aufstellung
dreier Wortbildkategorien, akustisches Wortbild (primäres -einer Entwicklung
nach) kinästhetisches (sekundäres) und optisches (tertiäres) Wortbild entspricht
die von N. v. M. benutzte Terminologie ihres Erlöschens als Amnesia verbalis
acustica, kinaesthetica und optica, und als dominierendes Ergebnis der Unter¬
suchungen stellt er den Satz an die Spitze: daß die Bildungsstätten des kortikalen
Wortbildes zusammenfallen mit den Rindenfeldem, in denen die zentralen l^i-
tungsbahnen des Gehör-, Muskel- und Gesichtssinnes ihr Ende finden.
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
Ein Such, das sich die Aufgabe stellt, die aphasischen Störungen oste
heitlichen und vielfach neuen Gesichtspunkten zu betrachten und dies a .
umfänglichen Material zu begründen, kann nicht im Auszug besprochen, s.w
muß gelesen werden. Die Hervorhebung der präzis formulierten Schlösse ii:
nur ein unvollständiges und leicht mißverstandenes Bild seiner Gedankte
geben. Sieht doch Verf. in Zuständen, die als vollständige Krankheitsbilder r. -
ziert zu werden pflegen, klinische .Phasen, physiologisch notwendige B-d-
erscheinungen der eigentlichen Störung und Einfluß der in ihrer Bedeutui»
den Sprachmechanismus unterschätzten rechten Hemisphäre. Verf nenn: ■*
Buch einen ersten Vorstoß mit neuen Waffen. Auch seine Gegner werden j-
kennen, daß er sich ausgezeichnet gerüstet hat und daß sein Buch die bedew«;
Erscheinung der letzter Jahre auf diesem viel bearbeiteten Felde ist.
Heilbronner (69) beleuchtet in interessanter Darstellung, welchen Gar- •.
Lokalisationsproblem unter dem Gesichtspunkt der Aphasielehre in den ktr
50 Jahren genommen hat, in der Fragestellung, ob und wieweit bestimmte
ptome oder Komplexe den Schluß auf eine Läsion bestimmter Gehirntermn
zulassen und welche Schlüsse aus dem gesetzmäßigen Parallelgehen bestks
Symptome mit bestimmten Schädigungen des Großhirns etwa auf die Leistr_>
dieser Partien und von da aus auf die Funktionen des Großhirns überhaap?
zogen werden können. Hinsichtlich der ersten Frage ergibt sich, daß die grz
legenden Feststellungen Brocaa und Wemicke s aller Nachprüfung Stande
haben und die Fortschritte klinischen Ausbaus der Sprachstörungen und dem
tomischen Detailbetrachtung hoffen lassen, sie immer detaiUierter lokalisiert^.
können, die Lösung der zweiten Frage wird die Beschäftigung mit den apbasivt'
Erscheinungen nicht viel fördern, insofern sie wirklichen Einblick in das Verh;
zwischen Physischem und Psychischem nicht verschaffen wird.
Mvngazzmi (109) w'eist nach, daß ein bestimmter Symptoraenkompk-i.
Linsenkernsyn drom, bei Läsionen des Linsenkems emtritt, imd welche Funki c:
den einzelnen Teilen des Linsenkems zukommen. Die Zerstörung des Linseni'' 1
veranlaßt folgenden Komplex: leichte auf den Fazialis und die Glieder der
Seite beschränkte Parese, geringe Steigerung der Patellar-, Achilles- und «• '
Reflexe derselben Seite, leichte Anisokorie und Störungen der objektiver >■
sibilität und bisweilen leichte Atrophie der Extremitäten. Läsion der vier hir'? - '
Fünftel des linken Ganglions bewirkt Dysarthrie bis Anartbrie, Läsion des Pu:ir^
besonders des äußersten Drittels, kann auch pseudomyelitische Parästhesien ra-
Glieder der anderen Seite bewirken.
Nach Gutzmann (62) fehlt es noch an einheitlicher Auffassung über dk
trennung der kortikalen Anarthrie von der motorischen Aphasie, es kommt i&<
an, die dysarthrische Komponente von der dysphasiseben zu trennen und
Methoden, die Verf. bespricht und verbessert, nachzuweisen.
Zahn (175) erörtert die auf organischen zentralen Läsionen und auf
tionellerGrundlage entstehenden Artikulationsstörungen und widmet den Hiw'
seiner Arbeit dem zur letzteren Gruppe gehörenden Stammeln und Stottern. £'
Stottern handelt es sich tun Störung einer bestimmten Bewegung, vergleich!»! c-
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Matusch, Organische Psychosen.
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chreibkrampf,der sich gerade nur bei der Schreibbewegung einstellt, ihre Erklärung
urch rein psychische Vorgänge reicht nicht aus, Verl nimmt erhöhte Erregbarkeit
n zentralen Nervensystem an, soweit es für die Sprache in Betracht kommt,
eren Ursache angeboren oder durch Infektionskrankheiten, Kopfverletzung,
emütsbewegungen, psychische Ansteckung und anderes erworben sein kann,
de Ursachen des Stotteranfalls, die in der Regel in zu hastigem Sprechen, unrich-
igem Atmen und in der Steigerung der normal vor schweren Wortanfängen und
Vortreihen vorhandenen Spannung, „Bremsung 11 , liegen, und ihre genaue Be-
bachtung geben die Richtwege für die Behandlung.
ln einem von d? Holländer (77) mitgeteilten Falle hatte jahrelang totale
Iphasie bestanden (die Kranke hatte außer Ja und Nein keine Worte und keinerlei
VortVerständnis) und Asymbolie, die auf Herderkrankung deuteten, während
lie Sektion nur allgemeine Atrophie und Hydrozephalus ergab.
Förster (4?) bespricht einen Fall von isolierter Agraphie. Bei allgemeinen
Tumorsymptomen bestanden rechtsseitige Hemiparese und aphasische Störungen
olgenden Charakters: Sprachverständnis und Nachsprechen intakt, Spontan¬
er echen etwas unbeholfen, Wortfindung vom optischen, akustischen und aktiven
Jebot her intakt, Lesen, Musikverständnis und Singen gut. Ferner beiderseits
leichte motorische Apraxie, Spontanschreiben, Diktatschreiben schlecht, Kopieren
besser, Zeichnen gut, Buchstabieren, Silbennennen und Lesen in einzelnen Buch¬
staben leidlich gut. F. weist nach, dafi es sich um eine transkortikale apraktische
Störung handelt, ein Herd, der die zuleitenden Bahnen vom optischen Zentrum
links, Eupraxiezentrum ( Liepmanns ) durchbricht und außerdem Bahnen vom
Felde des sog. Wortbegriffs zu diesem Zentrum schädigt, würde den Symptomen-
komplex erklären. Operation über dem Lob. parietal, entdeckte den Tumor nicht,
er wird also weiter nach vorn oder, unwahrscheinlicher, nach hinten zu suchen
sein. Weitere Operation wurde abgelehnt.
In Bergers (16) Fall einer 60jährigen, schon länger geistig abnormen Frau
wurde beim Befunde nach leichtem Schlaganfall festgestellt, daß die rechte Hand
leicht ataktisch war, stereognostisches Erkennen mit der rechten Hand erschwert
war und folgende Schreibstörung bestand: einzelne Buchstaben des Alphabets
wurden unkenntlich geschrieben oder durch andere ersetzt, Diktatschreiben lieferte
noch größere Fehler, die aber von ihr richtig kritisiert wurden, ihren Namen schrieb
sie stets richtig, Kopieren und Nachzeichnen war richtig, das Lesen, Sprache und
Sprachverständnis war ungestört. Es fanden sich außer einem frischen Herde
im linken Thalamus, welchem Insult die Frau erlegen war, zahlreiche Herde in
beiden Hemisphären, aber nirgends in der Rinde. Da die Frau Rechtshänderin
war, kommen diese Herde in der linken Hemisphäre für die Annahme von Faser¬
unterbrechungen zwischen Sehsphäre und dem Zentrum für die feineren Bewegungen
der rechten Hand in Betracht und der Fall lehrt jedenfalls, daß es durch Faser¬
unterbrechungen auch bei völlig intakten Rindenzentren zu Schreibstörungen
kommen kann.
In einem Falle von Stauffenbergs (146) lag einer 3 Jahre unveränderten doppel¬
seitigen motorischen Apraxie ohne Agnosie und ohne Intelligenzstörung, mit leichter
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
sensorischer Aphasie, totaler Agraphie und Alexie ein Erweichungsherd roert
der Mark und Rinde des ganzen linken Gyr. supramarginaL zerstört hatte. I-
andere kleinere Herde kommen für den Symptomenkomplex nicht in Betr»-
Verf. schließt aus diesem und den Fällen der Literatur, daß Läsionen des Sr?
des Gyr. supramarg., die groß genug sind, die motorische Zone von den hä'-'
Sinnesfeldem abzuschneiden, das dem Handeln dienende System an ein» -
scheidenden Stelle treffen. Die Alexie ohne Aphasie läßt sich dadurch erkü-
daß der Herd die Verbindung an den optischen Sprachzentren zu den motori^i
völlig unterbrochen und das motorische Wortzentrum vom optischen von 1*
Seiten her nahezu abgeschnitten hatte, die direkte Verbindung vom Wortkhi.
Zentrum zum Motorium und die vom übrigen optischen Erinnerungsfeki
III. Stimwindung aber erhalten war.
Giannelli (56) behandelt in einem kritischen Referat die Beziehunsec
Apraxie zu Läsionen des Corp. caUosum.
Fix (157) schildert einen Fall von rechtsseitiger Lähmung mit links-eru-
Apraxie, der durch das gute Schreibvermögen der linken Hand auffiel udö
geringfügige litterale Paragraphie aufwies. Die apraktische Störung bestand dr:
daß gewisse Bewegungen ungeschickt, unzweckmäßig oder ungenügend ausgeför
wurden, wenn sie aus dem Gedächtnis gemacht wurden, nicht aber, wenn sr
Gegenstände in der Hand hatte. Zuerst bot sie das Bild reiner WortsnmiF>
bei intactem Wortverständnis, in der Phase der Rückbildung zeigte sich gen.-
Erschwerung der Wortfindung und eine Zeit lang agrammatische Störung, i
Leseverständnis war stets intakt. Die fehlenden „vergessenen“ Buchstaben sehr.-
sie mit der Schreibkugel auch nicht mit der rechten Hand, mit beiden aber rid-
wenn sie ihr unter anderen vorgelegt wurden. Es zeigten sich in diesem Falle v
Dyspraxie und agraphische Störung voneinander unabhängig.
Bomsieins (25) Fall von ideatorischer Apraxie zeigte paraphasische Störu.
vom Charakter der amnestischen Aphasie, Agnosie und Apraxie, deren ideatoriscer
Ursprung B. schildert, und die er im Gegensatz zu der motorischen, auf einen i i:
k umskripten Herd zu beziehenden Apraxie auf eine diffuse Hirnfffcn
kung zurückführt. Der anatomische Befund, der übrigens noch nicht abgeschkey-
ist, entsprach dem der Paralyse.
Ein kurz von <THolländer (76) beschriebener Fall ließ trotz Blindheit, Taubfe*
und Verlust der Sprache aus Logorrhoe, Jargonaphasie, einige erhaltene Vor
und Stereotypien der Rede die Wernicke sehe Aphasie feststellen, dem entsprach-
ausgedehnte ein- und beiderseitige Erweichungsherde, Zerstörung der Ja
lenticularis“ bei intakter III. Stimwindung.
Borchers (24) berichtet einen Fall von motorischer Aphasie durch ein Ein¬
seitiges subdurales Hämatom nach Schußverletzung, das die Gegend der IIL Snn
windungkomprimierte. Nach, operativer Beseitigung trat fastvollkommeneHeütmgg.
Im Falle Bergers (15) gesellte sich zu einer sensorischen Aphasie durch Sdk
anfall nach viermonatigem Bestehen durch neuen Insult motorische Aphasie, i
bis zum Tode nach weiteren zwei Monaten fortbestand. Eine Anzahl Erweirhm.
herde wird abgebildet und ihre Beziehungen zu den Symptomen besprochen:
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Matasch, Organische Psychosen.
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•rtikaier Herd im linken Temporallappen der bis auf die Okzipitalwindungen
»ergriff und die Wemieke sehe Stelle entschloß, bedingte die sensorische Aphasie,
n relativ frischerer Herd in der 3. Stirn Windung bedingte die motorische; hier
ir von besonderem Interesse, daß er nicht die äußerlich intakte Rinde betraf,
ndem den hinteren Teil der Front. III ihres ganzen Marklagers beraubte und auch
if Front. II Übergriff. DerLinsenkem und seine Umgebung war frei bis auf eine
^grenzte Degeneration der oberen Insel Windungen, ein Beweis, daß totale Aphasie
öglich ist auch ohne Beteiligung der Zona lenticularis.
Die verschiedentlich vertretene Behauptung, daß Gail der eigentliche Ent-
“cker des Sprachzentrums sei, entkräftet Froriep (50) durch den Nachweis, daß
er Sprachsinn Gail s etwas ganz anderes ist als das BouiUaud-Broca&che Sprach-
L^rmögen und daß das Brocosche Zentrum recht weit von der Gegend liegt, in die
all sein Sprachorgan verlegte.
) Psychosen bei diffusen Gehirnkrankheiten.
Aus der Statistik von JeUiffe und Briü (85) über die Aufnahmen von Nerven-
iilen in die Vanderbilt-K’inik in den Jahren 1900—1909 sind folgende Zahlen von
ateresse. Von 10007 Männern und 11283 Frauen waren 1676 Epileptische (831
nd 846), ungewöhnlich hoch waren die Zahlen für Chorea minor: 1589 (666 +
033) mit starker Bevorzugung des weiblichen Geschlechts, Chorea major fand
ich nur einmal. Paralysis agitans 182 (114 + 68), spastischer Torticollis 138
30 + 88). amyotrophisebe Lateralsklerose 17 (11 + 6), Lateralsklerose 63 (43
- 10), multilpe Sklerose 112 (68 + 44), Tabes 383 (336 + 47), Syringomyelie 26
17 + 9), Caissonmyelitis 2maL Hemiplegien waren rechtsseitig annähernd gleich
äufig wie linksseitig. Hirntumoren 43 (21 + 22), Kleinhirntumoren 13 (10 + 3),
Jasedow 118 (13 + 106). Die Verschiedenheit der Beteiligung der Geschlechter
n einzelnen Formen ist bemerkenswert
Siemerling und Raecke (141) revidieren an den Befunden von 7 Fällen chro-
lischer multipler Sklerose die bisherigen Ansichten über Anatomie und Patho-
;enese dieser Krankheit Da dieser vorläufigen Mitteilung ausführliche Bearbeitung
olgen soll, kann eingehendere Besprechung dieser Vorbehalten bleiben. Das vor-
äufige Ergebnis, zu dem die VerfL gelangen, ist, daß wir in der Herdbildung der
nultiplen Sklerose einen sicher entzündlichen Prozeß vor uns haben, der sich in
ler Ausbreitung an die Blutgefäße hält und zuerst zu kapillaren Blutungen führt
nit geringem, aber zweifellosem Ausfall von Fibrillen, stärkerem der Markscheiden,
röhrend die Gliawucherung teils als Reaktion auf den gesetzten Reiz, teils als
rörbenbildung anzusehen ist Für die Frage des Zusammenhanges zwischen mul*
ipler Sklerose und Trauma ist die Bedeutung der Blutungen für die erste Ent-
tehung der Herde von hoher Wichtigkeit.
E. Schulte (138) behandelt in einem klinischen Vortrage die Symptoma¬
tologie der multiplen Sklerose, insbesondere in Hinsicht auf die frühzeitige Diagnose
rnd Wert und Häufigkeit der Einzelsymptome, wobei Verf..vielfache eigene Er¬
fahrungen mitsprechen läßt.
FameU (39) berichtet einen Fall von progressiver Muskelatrophie vom Typus
Zeitschrift für Psychiatrie. LXIX. Lit. V
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
Charcot-MaHe-Tooth, der insofern vom typischen ab wich, als er isoliert u
Familie auftrat, im 4. Dezennium des Lebens begann und sich zuerst in des
Extremitäten äußerte.
Ein Fall Ladame s (108) von posttraumatischer amyotrophischer Lateralis i
bestätigt die Aufbrauchstheorie dadurch, daß die Atroohie nach und mü. -i
G lied in der Reihenfolge ergriff, wie es infolge der Lähmung der übrigen ui
mäßig in Anspruch genommen wurde. Die Erkrankung des 40jährigen Sa;
hatte nach Rückwärtsfallen über eine' Kiste mit Schmerzen in der Hüfte und Fn
der Peroneusmuskulatur begonnen.
Oianneüi (65) beschreibt eine anfangs auf die VIL hintere Wurzel beschiß
später auf die V. und VI. übergreifende Radikolalgie. Die Diagnose auf Sjpti
wurde ex juvantibus bestätigt
Gaztelu (52) erklärt einen Fall von Herpes Zoster im Verlauf amyotrophwj
Lähmung der rechten Schultermuskulatur für eine besondere klinische Fern
Zoster, die mit Lähmung oder Amyotrophie einhergeht
Der Fall Volle y Joves (156) von Paramyoclonus multiplex bei einem Z«tj
jährigen bietet nichts Besonderes.
Giannelli (54) bespricht die Krankengeschichte und den anatomische 1
fund eines mit hereditärer Syphilis geborenen Mädchens, bei dem sich von Kir'j
an das Bild der Friedreichsch&n Krankheit entwickelt hatte und das im 22. .'n
starb. Es war körperlich, auch sexuell infantil geblieben und schwachsinnig ;
Diagnose auf Chorea electo, an welche der Charakter der Zuckungen und Grisli
denken ließ, auf juvenile Tabes und multiple Sklerose lehnt G. ab, der anato^n
Befund, der eingehend geschildert wird, entsprach nicht ganz dem typi-i
bei Friedreichs Krankheit, er bestand hauptsächlich in Meningo -Enk«; a
Myelitis von sklerosierendem Charakter mit Entwicklungshemmungen im Ze;~
nervensystem. Gefäßveränderungen syphilitischer Natur und Strangerkrankorj
die in ihrer elektiven Verteilung an inzipiente Tabes erinnerten, eine Ähü
keit, die auch durch Rarefizierung der aufsteigenden Trigeminuswurzel mi i
Solitärbündels gesteigert wurde. Der Fall scheint dafür zu sprechen, daß die T~
reicftsche Krankheit in einigen Fällen mehr als Syndrom bei hereditärer Lues ri
sehen werden muß und nicht als nosographische Einheit.
M. Bernhards (17) Fall von atypischer Syringomyelie betrifft einen <5 j
21 Jahre beobachteten Mann, bei dem sich die ersten Erscheinungen nach Bri
fellentzündung eingestellt hatten. Disposition des erblich belasteten Krvi
zu spinaler Erkrankung war aus Sklerose, spastischen Symptomen und Sphincm
schwäche anzunehmen. Die Ausbreitung der Syringomyelie auf die Hinteren
des Zervikal- und oberen Dorsalmarkes begründete Erscheinungen von Tü
die sich ja zu Syringomyelie gesellen kann, hier aber nicht vorliegt. Bemerk
wert war in dem Falle das Auftreten eines kurzen halluzinatorischen Anr-
Standes etwa 10 Jahre nach Beginn, der dauernde, aber nicht affektiv bet-
Gehörstäuschungen und paranoide Vorstellungen zurückließ.
EaXbey (64) beobachtete bei einem Paralytiker (Infektion 1900, UnfaS i
wahrscheinlicher Basisfraktur 1895) zirkumskripte Hyperidrosis vor dem rw:
Ohre beim Kauen und Ageusie des vorderen Zungenteils rechts, die auf dk 7|
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Matasch, Organische Psychosen.
303*
etzung der Chorda tympani durch den Unfall zu beziehen sind und auf deren
sekretorische Fasern im zweiten Ast des Fazialis.
Moleen (113) legt in seinem Fall von Hemiatrophia faciaL Gewicht darauf,
laß der Beginn in das 6. Lebensjahr fiel, vielleicht im Anschluß an Trauma. Bei
iem Kranken bestanden außerdem Reste von Poliomyelitis ant in den ersten
Lebensjahren.
Hough und Lafora (80,81) geben einen statistischen Bericht über die Polio-
nyelitisepidemie v. J. 1910 im Columbiadistrikt nach Verbreitung, Wittcrungs-
rerhältni'sen, Alter, Geschlecht, Symptomatologie, Verlauf und Behandlung,
llire Ergebnisse der anatomischen Untersuchung sind in der Hauptsache: der
Liquor ist in der Regel klar, gibt aber meist positiven Nonne-ApeU und Nogucki,
Druckerhöhung ist im Beginn häufig, ebenso Pleozytose. Die anfangs vorhandene
Vermehrung der polymorphonuklären Zellen macht einige läge später Lympho¬
zytose mit wenigen Plasmazellen und Mastzellen Platz, ihr Verschwinden beruht
auf der lebhaften Phagozytentätigkeit der Macrophagen Veränderte rote Blut¬
körperchen im Liquor deuten auf kapilläre Hämorrhagien. Bakterien wurden
nicht gefunden, obgleich alles für die bazilläre Natur der Krankheit spricht
JeUifte (83) führt an einem Beispiel die meningeale Form der Poliomyelitis
vor, in die sich nicht wenige Fälle der Epidemie gekleidet haben
Williams (166) weist darauf hin, daß die P. a. eine konstitutionelle Er¬
krankung ist und Beweisen ihrer Kontagiosität gegenteilige Beweise gegenüber¬
stehen. Er hält die Verbreitung durch Insekten als Träger oder Zwischenwirte
für möglich, damit ständen gute Erfolge mit Queckrilber in Einkiang und diese
Behandlung wäre weiter zu prüfen.
Maas (106) teilt sechs Fälle mit, in denen die Diagnose auf Meningitis serosa
teils klinisch berechtigt war, teils durch die Sektion bestätigt wurde. Als Ursache
war in fünf Fällen Bleiintoxikation erwiesen oder wahrscheinlich, im sechsten
Falle, einer 29jährigen Schwachsinnigen, mit Krämpfen im 2. Lebensjahr, meint
Verf. den Hydrozephalus auf den Einfluß des mit Blei arbeitenden Vaters beziehen
zu dürfen. Der Befund an einem anatomisch durchsuchten Fall bestand in leichter
Verdickung der Pia und der Gefäße im Hirn und Rückenmark, Pigmentsklerose
der Ganglienzellen und Wucherung der Glia mit Bildung amöboider Gliazeilen.
Zusammenfassend bemerkt M., daß auf dem Boden der Bleiintoxikation Menin¬
gitis serosa auftreten kann mit Symptomen wie das Babinskischs Zeichen, deren
Beziehung auf die Meningitis oder auf direkte Bleiwirkung noch nicht gesichert
ist, und daß dabei sonst Lr Blei charakteristische Symptome vermißt werden können.
In dem Kapitel: Myelitis und myelitische Strangerkrankungen des Hand¬
buches der Neurologie entwirft Hermelerg (71) nach einleitendem histologischen
Überblick und Definierung der hierher gehörigen Prozesse das anatomisch« Bild
der einzelnen Formen und stellt nach diesem folgende (schematische) Gruppierung
auf: I. Myelomalazie, IL genuine akute Myelitis, 1. infiltrative Myelitis nach den
Untergruppen a) Poliomyelitis acuta, b) diffuse Formen mit besonderer Betei¬
ligung der grauen Substanz, c) transversale und disseminierte inf. M., d) akute
hämorrhagische inf. M. e) akute Meningomyelitis, f) purulente M., Meningomyelitis
und Rückenmarksabzeß. 2. Degenerative genuine Myelitis mit den Untergruppen,
v*
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304* Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
a) akute bzw. subakute Degeneration der nervösen Elemente, tian°versaks c-
miniertes funikul&res Lückenfeld, b) totale transversale und disseminiene N«kr *
In der überaus gründlich behandelten Ätiologie läßt E. die Schreckmydin» >
nicht gelten, für die Seltenheit bakterieller Befunde bestehen zwei Erküre,
möglichkeiten: es können lediglich ihre Toxine die Gewebsveränderung beciar.
oder die Bakterien gehen im Rückenmark rasch zugrunde. Positiver Befund
überdies unzuverlässig, weil das Siechtum bei Myelitis der Bakterieninvi»
viele Tore öffnet. Der Tierversuch hat gezeigt, daß zur Bakterienein schwemm
■noch andere Faktoren treten müssen und die Toxine die gleichen Verändticr:
hervOrrufen wie die Bakterien selbst, die Pathogenese ist somit noch imrm
Dunkel gehüllt, und die Anwendung eines bestimmten Entzündungsbegriib ■*
sich wie auch sonst, so auch für die Beurteilung und Klassifikation der myehüc-
Prozesse wenig fruchtbar erwiesen. Es folgen dann Darstellung der Symptonu
logie, Prognose. Diagnose und Therapie, wobei die aus praktischen Gründm :
disseminierten Myelitis gerechneten Befunde zusammenfassend bespre:.
werden. Den Schluß der Arbeit bilden die kombinierte pseudosystematische Stoe.
degeneration und die anämische fokale Leukomyelitis, die Yerf. als einbeiriic
Erkrankung auffaßt.
Pellizzi und Sarteschi (124) untersuchen die halbseitigen Sympton* :
Krankheitsbilde der Idiotie auf meningitischer Grundlage, das sie als Idiotiaa r:
gitica pura simplex in früheren Arbeiten beschrieben haben. An einer Rah* .
Tabellen werden die Beziehungen der Reflexe, der dynamischen Leistuur
myasthenischen Reaktion (auf Faradischen Strom) und die Art der Konvub»t
wo sie die Erkrankung begleiten, zu einander erörtert. In letzteren Fällen »v-
halbseitige Erscheinungen häufiger, fast in 90%, während sie sich in nicht i
vulsiven Fällen in 76% zeigten, myasthenische Symptome finden sich nat-'
konstant in allen Fällen
Gxannelli (69) hält Fehlen des Patellarreflexes bei Jugendlichen für ein
volles Zeichen der Heredolues.
Yawger (174, 171) führt aus daß wie bei bestimmten Kopfschmerzen N*r
algien von verschiedener Art und Sitz auf rheumatischen Myitiden (Muskelschmtk
beruhen. Außer den durch das Grundleiden indizierten Maßnahmen ist Mas»:
in erster Linie anzuwenden.
Willige (168) sichtet die bisher beschriebenen Fälle von Paralyas as'J-
in jugendlichem Alter und teilt eine eigene Beobachtung mit, in der die Erbr
kung im 22. Jahre begann. Yon im ganzen 47 Fällen bleiben 12—14 einwandt:'
Fälle übrig, als unterste Altersgrenze ergibt sich das 20., vielleicht das 18. Jac:
Das klinische Bild unterscheidet sich nicht wesentlich von dem der präsent
doch scheint sie sich häufiger mit multipler Sklerose zu komplizieren und «iseb-
viel öfter als diese familiär, so daß die familiären Fälle in eine nosologisch >-
sondere und einheitliche Gruppe zu weisen sind. Ätiologisch kommen akut«
fektionskrankheiten, namentlich Typhus, in Betracht, weniger geistige und kör»
liehe Traumen.
JeUiffe (84) liefert eine hübsch ausgestattete Darstellung des Lebens und
Arbeiten des Francisctts Sylvins.
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Grütter, Anstaltswesen and Statistik.
305*
9. Anstaltswesen und Statistik;
Ref. E. Grütter-Lüneburg.
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(S. 325*.)
2. Alzheimer, A., Ist die Einrichtung einer psychiatrischen Abteilung
im Reichsgesundheitsamt erstrebenswert? Ztschr. f. d. ges.
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3 . Ast (Eglfing), Der Typhus in der Heil- u. Pflege-Anstalt Eglfing.
Münch, med. Wschr. Nr.4ö, S. 2389. (S. 324*.)
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5. Autengruber, M. (Mauer-Öhling), Die Stellung des Anstaltsarztes
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0. Becker, TV. H., Ketzergedanken eines Psychiaters. Psych.-neuroL
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UNIVERSI7Y OF MICHIGAN
Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
306*
Anstalten. Psych.-neuroL Wschr. XIL Jahrg., Nr. 46. $.*:•
(S. 321*.) ‘
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Dir.: San.-Rat Dr. Petersen. (S. 339*.)
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Dir.: Dr. A. Heilung. (S. 368*.)
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San.-Bat Dr. Richter. (S. 336*.)
124. B u n z 1 a u, Prov.-Heil- und Pflege-Anstalt. Bericht für !■'.
Dir.: San.-Bat Dr. Neisscr. (S. 339*.)
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rieht für 1910. (S. 370*.)
126. Cery, Bapport annuel de l’asile deCery pro 1910. (SX
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rieht für 1910. Dir.: Geh. Med.-BatDr. Kroemer. (S. 3£
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Dir.: Geh. Med.-Bat Dr. Sander. (S. 335*.)
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130. Dösen, Heilanstalt der Stadt Leipzig. Bericht für >
Dir.: Ober-Med.-Bat Dr. Lehmann. (S. 356*.)
131. Dziekanka, Provinzial-Irrenanstalt. Bericht für H
Dir.: San.-Bat Dr. Kaiser. (S. 337*.)
132. Eglfing bei München, Oberbayerische Heil- und Pf-
Anstalt. Bericht für 1910. Dir.: Dr. VocJce. (S. 3V
133. Eichberg, Landes-Heil- und Pflege-Anstalt im Bhe;rJ
Bericht für 1910. Dir.: Dr. Wachsmuth. (S. 350*.)
134. Ellen bei Bremen, St. Jürgen-Asyl für Geistes- und Er¬
kranke. Bericht für 1910. Dir.: Dr. Delbrück. (S. &
135. Ellikon a. d. Thur, Trinkerheilstätte. Jahresbericht für:
(S. 374*.)
136. Feldhof zu Graz, Steiermärkische Landes-Irren- Heii-
Pflege-Anstalt. Bericht für 1910. Dir.: Dr. Sterz. (S. 3d
137. Freiburg i. Schl., Provinzial-Heil- und Pflege-Anstalt
rieht für 1910. Dir.: San.-Bat Dr. Buttenberg. (S. 34 1
138. Friedmatt, Kantonale Heil- und Pflege-Anstalt. Pr'
für 1910. Dir.: Prof. Dr. Wolff. (S. 371*.)
139. Friedrichsberg, Irren-Heil- und Pflege-Anstalt des:
burgischen Staates. Bericht für 1910. Dir.: Prof
Weygandt. (S. 348*.) i
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Grfitter, Anstaltswesen und Statistik.
315*
10. Gabersee, Oberbayer. Heil- und Pflege-Anstalt. Bericht
für 1910. Dir.: Dr. Drees. (S. 359*.)
U. Gehlsheim, Großh. Mecklenbg. Irren-Heil- und Pflege-
Anstalt bei Rostock i. M. Bericht für 1910. Dir.: Geh. Med. -
Rat Dr. iSchuchardt. (S. 347*.)
12. Güttingen, Provinzial-Heil- und Pflege-Anstalt. Bericht
für 1910. Dir.: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Cramer. (S.344*.)
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H. 2. (S. 375*.)
14. Haus Schönow, Heilstätte für Nervenkranke in Zehlen¬
dorf bei Berlin. Bericht für 1910. Dir.: Prof. Dr. M. Laehr.
(S. 337*.)
5. Herzberge, Irrenanstalt der Stadt Berlin. Bericht für 1910.
Dir.: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Moeli. (S. 335*.)
fl. Hessischer Hilfsverein für die Geisteskranken in
Hessen. Bericht für 1910. (S. 377*.)
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richt für 1910. Dir.: Dr. Scholz. (S. 337*.)
3. Kremsier, Mährische Kaiser Franz Josef I.-Heilanstalt.
Bericht für 1910. Dir.: Dr. V. Navrat. (S. 368*.)
4. Kreuzburg (Schlesien), Provinzial-Heil- und Pflege-Anstalt.
Bericht für 1910. Dir.: Dr. Schubert. (S. 340*.)
5. Kutzenberg, Oberfränkische Heil- und Pflege-Anstalt.
Bericht für 1910. Dir.: Dr. Kolb. (S. 360*.)
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UNIVERSITY OF MICHIGAN !
316*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
156. La ndsberg a. W., Brandenburgische Landes-Irrenan*.
Dir.: Dr. Riebeth. (S. 355*.)
167. Langenhagen, Provinzial-Heil- und Pflege-Anstalt l
rieht für 1910. Dir.: Dr. Völker. (S. 345*.)
158. Langenhorn, Irren- Heil- undPflege-Anst< des hambr:
sehen Staates. Bericht für 1910. Dir.: Prof. Dr. Sevkr.
(S. 348*.)
159. L e u b u s (Schlesien), Provinzial-Heil- und Pflege-Anstalt. ;
rieht für 1910. Dir.: Geh. San.-Rat Dr. Alter. (S. 3k
160. Lewenberg (Schwerin i.M.), Großh. Heil- und Pf<
Anstalt für geisteskranke Kinder. Bericht für 1910. k
Med.-Rat Dr. Jenz. (S. 348*.)
161. Lindenhaus bei Lemgo, FürstL lippische Heil- und Pik
Anstalt. * Bericht für 1910. Dir.: Dr. W. Alter. (S. £>
162. L u b 1 i n i t z , Prov.nzial-Heil- und Pflege-Anstalt. Anri;
Chronik 1893—1910. Dir.: Dr. Klinke. (S. 342*.)
163. Lübeck, Staatsirrenanstalt. Bericht für 1910. Dir.:.
Watteriberg. (S. 346*.)
164. Lüben (Schlesien), Provinzial-Heil- und Pflege-Anstalt. 1'
rieht für 1910. Dir.: Geh. San.-Rat Dr. Simon. (S. V--
165. Lüneburg, Provinzial-Heil- und Pflege-Anstalt. Ber
für 1910. Dir.: San.-Rat Dr. 0. Snell. (S. 345*.)
166. Mariaberg (Württemberg), Heil- und Pflege-Anstalt I
Schwachsinnige. Bericht für 1910/11. (S. 362*.)
167. Meerenberg, Verslag betreffende het Gesticht Meeren
over het jaar 1910. Dir.: Dr. van Walsem. (S. 375*..
168. München, Königliche psychiatr. Klinik. Bericht für
und 1909. Dir.: Hofrat Prof. Dr. KraepeUn. (S. 360*
169. Münsterlingen (Thurgau), Kantonale Irrenheilanr
Bericht für 1910. Dir.: Dr. BrauehU. (S. 372*.)
170. Neustadt in Holstein, Provinzial-Irrenanstalt. Berich:
1910. Dir.: Dr. Däbdstein. (S. 343*.)
171. Neustadt iWestpr., Provinzial-Irrenanstalt. Berich:
1910. Dir.: San.-Rat Dr. Rabbas. (S. 333*.)
172. Niedernhart, österreichische Landes-Irrenanstalt
rieht für 1910. Dir.: Dr. Sehnopßagen. (S. 368*.)
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Grütter, Anstaltswesen and Statistik.
317*
73. Obrawalde, Provinzial-Irrenanstalt. Bericht für 1910.
San.-Rat Dr. Dluhosch. (S. 338*.)
<4. Osnabrück, Provinzial-Heil- und Pflege-Anstalt. Bericht
für 1910. Dir.: San.-Rat Dr. Schneider. (S. 346*.)
'5. 0 w i n s k , Provinzial-Irrenanstalt. Bericht für 1910. Dir.:
San.-Rat Dr. Werner. (S. 338*.)
’6. P e r t h , 84. annual report of the Pennsylvania Training School
for feeble-minded children. (S. 375*.)
'7. Pröfargier, Maison de sant§. 62. rapport annuel. Dir.:
Dr. Dardel. (S. 374*.)
8. Rheinprovinz, Bericht über die Provinzial-Heil- und
Pflege-Anstalten für 1910/11. (S. 351*.)
9. Rheinprovinz, Hilfsverein für Geisteskranke. 10. Jahres¬
bericht für 1910. (S. 378*.)
0. Rockwinkel, Heilanstalt bei Bremen. Bericht für 1910.
Besitzer und Leiter: Dr. W. Benning. (S. 349*.)
1. Roda, Herzogliches Genesungshaus, Irren-Heil- und Pflege-
Anstalt für Sachsen-Altenburg. Bericht für 1910. Dir.:
Med.-Rat Dr. Schäfer. (S. 357*.)
2. Roda, Herzoglich sächsisches Martinshaus, Idiotenanstalt für
Knaben von 6—16 Jahren. Bericht für 1910. Dir.: Med.-Rat
Dr. Schäfer. (S. 357*.)
3. Rosegg (Solothurn), Kantonale Heil- und Pflege-Anstalt.
Bericht für 1910. Dir.; Dr. L. Greppin. (S. 371*.) .
1. R y b n i c k , Provinzial-Heil- und Pflege-Anstalt. Bericht für
1910. Dir.: Dr. Zander. (S. 341*.)
3. Saargemünd, Lothringische Bezirks-Heil- und Pflege-Anstalt
Bericht für 1910. Dir.: Geh. San.-Rat Dr. Dittmar. (S. 366*.)
5. Sachsen, Königreich, Das Irrenwesen im Jahre 1909. Leipzig
1911. Verlag von J. C. Vogel. (S. 353*.)
7. Sachsenberg, Großh. Mecklbg. Irren-Heil- lind Pflege-
Anstalt bei Schwerin i. M. Bericht für 1910. Dir.: Ob.-Med.-
Rat Dr. Matusch. (S. 347*.)
Santiago (Chile), Movimiento de la casa de Orates de Sant¬
iago (Chile) en el aiio 1909. (S. 377*.)
). Schleswig, Provinzial-Irren-Heil- und Pflege-Anstalt. Be¬
richt für 1910. Dir.: Prof. Dr. Kirchhoff. (S. 344*.)
Zeitschrift für Psychiatrie. LXIX. Lit. w
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
318*
Bericht ü&er die psychiatrische. Literatur 1911.
19C l &chmnMm 8t,ekkwm } Yodoopig algemeen oeemdit k
wegmg in de jVederlandsche krankzinpigetigLv^
liefe jaar Psyteliinferispchi^ en netirologtech».'
1911, Sf, 3. (S. 375».}
191. Schff e li,,;: Wesipreußische Provinzial-Irrenanstalt. £>
für 1910. Dur.: Ban.-.Rat Dr, Gehauen. (S. 333’
192. 8 c o 11 and , 53. annuel repnrt m t he general board Ü
Missionars in lunaoy for -.SeoUarid. 1910. <8. 375' 1
193. S > g m a r i ri g e n , Fürst*(>ri-Landeir?pitaL Berich; ?■
Dir.: San.-Rat Dr, Jjingard. {ß, 366*.)
194. SnnnenJi aldo bei Eieheti (Kgntidi Basel), ' '
Heilanstalt für weiblielir Geniütßkraake. 11. Beruht l
Dir : Dr, Bark (S. 372*.)
195. 8 t & e k • ) fi, Uvlätidische Land es-Heil- und Pfleg,-Ai
Oebteskranke, Berichte von 1907—1910. Dir.: Ln i
1$HL 8 1 1 p h a n %f e .1 d - II5 x d f, FMsshwhe Bezirk=-Tn =
Beneid für 1910. Dir. : San.-Bat Dr. 7 immtioft, i:
W/ß
t e t t tn i. -fteti
aatal (WürHeniberg), Heil- und Pf!; -
für Schwache«
migfi und Epileptische. Bericht für I?r
Oberarzt: Dr.
SeWtißym*.)
193. K
f. P i r ra i n e h
c r .JCttittiÄte Heil- und Pflegv-A,
Bericht für 19
P Dir.: Dr. iUSerlik (S. 373“ .
199. f
aiDiö-nliö fey
Ev&rigtübche Heil- und Pflege-A j
Lültmighanser
Dr, Beeliti. (!
» (Bhemiand). Bericht für 1910/11.
. kky.:-
200. T
k p i Ä ti, tfetpri
"ußbehc LandespflegeanstaH. Bericht lar:{
vßß-ßt
Dir.: Dt llnv
nii-nrtt (S. 332*. )
201, f:
aUnion Stal
e h üs pifeal, M assach useit &. (8 8
202. Tftttpi t g. Bfeafideidxürgißiihe LahdesirrenköstaU. Ber?n
mx Vit.- Dt Knorr. (8. 334*.)
V Oii-rsehle^teni). Provinzial-Heil- und Pflege-Ac-’ •
it für 1910. Dir.; San.-Rat Dr. Schuir. (S. «
im. Jahre,1910. Yei&ffwuhdi^
Ungar. M»nr?terium des .Innern. (8. 309».)
2(0. V ; a 1 0 •:? K f M Ä'n. s.lu.g e n , B e 11 e ]. a y , Bvmiecii*
GrUtter, Anstaltswesen and Statistik. 319*
nale Irrenanstalten. Bericht für 1910. Dir.: Prof. Dr.
v. Speyer, Dr. Glaser , Dr. Hiss. (S. 370*.)
6. W a 1 d h a u 8, Kantonale Irren- und Krankenanstalt. Bericht
für 1910. Dir.: Dr. Järger. (S. 373*.)
•7. Wehnen, Großh. Oldenburgische Heil- und Pflege-Anstalt.
Bericht für 1910. Dir.: Med.-Rat Dr. Brümmer. (S.349*.)
3. Weilmünster, Landes-Heil- und Pflege-Anstalt. Bericht
für 1910. Dir.: San.-Rat Dr. Lantzius-Beninga. (S. 350*.)
9. Wiesloch, Großh. Badische Heil- und Pflege-Anstalt. Be¬
richt für 1909 und 1910. Dir.: Med.-Rat Dr. Fischer. (S. 365*.)
0. Wil, Kantonales Asyl (St. Gallen). Bericht für 1910. Dir.:
Dr. Schiller. (S. 371*.)
1. Württemberg, Bericht über die im Königreich bestehen¬
den Staats- und Privatanstalten für Geisteskranke, Schwach¬
sinnige und Epileptische für 1909. Herausgegeben vom KgL
Medizinalkollegium. Stuttgart 1911. W. Kohlhammer.
(S. 361*.)
2. Wuhlgarten, Berliner st&dt. Anstalt für Epileptische.
Bericht für 1910. Dir.: Dr. üebold. (S. 336*.)
3. Zürich, Schweizerische Anstalt für Epileptische. Bericht für
1910. (S. 374*.)
In dem Handbuch für Bau, Einrichtungen und Betrieb der Krankenanstalten
as deutsche Krankenhaus“ hat Weygandt (107) den Abschnitt Irrenanstalten bear-
tet. Die Abhandlung bringt einen zusammenlassenden Überblick über die Ge-
ltspunkte, die bei dem Bau einer modernen Irrenanstalt maßgebend sind und
l sollen, und behandelt in besonderen Abschnitten die Anlage und Einrichtung
einzelnen Teile derselben. Als Optimum der Krankenzahl werden 600 Plätze
eichnet. Lage am besten in der Nähe einer Mittelstadt. Etwa 50 % der Kranken
•en in der geschlossenen Abteilung unterzubringen, 25—30 % der vorwiegenden
:tbehandlung bedürftig. Pavillonsystem ist am Platze, am besten mit je 30
höchstens 60 Plätzen. .Die Wachsäle seien möglichst klein, in jedem 4—6,
hstens bis zu 8 Betten. Gitter sind abzulehnen. Als Umfriedigung der Gärten
den versenkte Mauern empfohlen. Die wichtigste Behandlungsmethode ist die
tbehandlung (Freiliegekuren) und das Dauerbad, event. feuchte Einwicklungen,
lerbäder mit nicht mehr als 3 Wannen in einem Raum, empfohlen wird Ein-
itung zweier Räume nebeneinander mit je 3 Wannen, Trennung durch Schiebetür
Fenstern. Isolieren und die Anwendung schlafmachender Arzneien sind auf
Minimum zu reduzieren. Schottisches Wachsystem empfohlen. Beschäftigungs-
rapie wird besonders gewürdigt. „Die Familienpflege bedeutet einen der erfreu-
w*
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320*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
lichsten Fortschritte in der Irrenfürsorge. 41 Zahlreiche Abbildungen aus alten und
neuen Anstalten sind der Abhandlung beigegeben, in Plänen, Grundrissen usw.
finden die Anleitungen zum Bau der einzelnen Abteilungen ihre Ergänzung und
Erklärung.
LugicUo (69), Direktor der Irrenanstalt zu Sondrio, die unter seiner Leitung
entstand, gibt unter Benutzung der Atlanten von Bresler und Kolb seine Erfahrungen
über den Bau von Anstalten wieder und errichtet eine neue im Pavillonsystem
erbaute Anstalt — in „Utopien“. Hervorgehoben mag werden, daß Verf. die Isolier¬
räume für gefährliche und gewalttätige Kranke nicht entbehren kann. Jeder Pavillon
enthält einen Baderaum (Dauerbäder). Kosten etwa 3 Millionen Lire (für 650 Kr.),
auf das Bett etwa 5000 Lire. {Ganter.)
Nach den Akten des alten Zucht- und Tollhauses zu Celle erzählt Mönkemöller
(62) von der Handhabung der Psychiatrie durch die Ärzte des 18. Jahrhunderts.
Auch damals schon deckte sich die praktische Handhabung der Psychiatrie mit der
theoretischen Lehre keineswegs. Als Ätiologie spielte auch in jener Zeit bereits
die Heredität eine große Rolle, ebenso der Alkohol, ferner auch die Witterung
sowie mancherlei moralische Ursachen, Hochmut, Eifersucht usw. Auch über
Diagnostik, Symptomatologie, Behandlung mit medikamentösen Mitteln, aber auch
mit Beschäftigung, geben die Ausführungen interessante Aufschlüsse.
Glauning (34) gibt einen kurzen Überblick über die Entwicklung der staat¬
lichen Fürsorge für Geisteskranke in Sachsen, die sich im Anfang, wie damals üblich,
auf die Unterbringung der Kranken zusammen mit Sträflingen in gemeinsamen
Zucht-, Armen- und Waisenhäusern beschränkte, und zwar zunächst in Waldheim
(Eröffnung 1716) und Torgau (1730), bis vor 100 Jahren die Anstalt Sonnenstein
zur Aufnahme von Geisteskranken bestimmt wurde.
Die Entwicklung des badischen Irrenwesens von der Zeit der Gründung des
Pforzheimer Spitals für elende und arme Sieche im Jahre 1322 bis auf die heutige
Zeit schildert kurz Fischer (30). 1842 war die Eröffnung von Illenau, 1878 die
der Irrenklinik zu Heidelberg, 1886 derjenigen zu Freiburg, 1889 wurde Emmen¬
dingen, 1905 Wiesloch in Betrieb genommen. Zurzeit wird an der Fertigstellung
der neuesten badischen Anstalt in Konstanz gearbeitet. Außerdem wird noch ein
weiteres großes Projekt für das Mittelland geplant. Uberfüllung der badischen
Anstalten zurzeit 27,4 % gegenüber der Normalbelegung. 64,2 % aller Geistes¬
kranken des Landes sind in staatlichen Heil- und Pflegeanstalten, 35,8 % in den
nicht staatlichen Anstalten ohne eigentliche irrenärztliche Organisation. Auf 1000
Einwohner in Baden 1,84 Anstaltpfleglinge.
Zu seiner Denkschrift über den Stand der Irrenfürsorge in Baden vom Jahre
1909 bringt Fischer (31) noch einige Ergänzungen. Danach hat sich die Zahl der
Geisteskranken in Irrenanstalten in den 80 Jahren seit 1830 um 17,9 mal stärker
bzw. rascher vermehrt als die Landesbovölkerung. Der Jahresindex — der Zuwachs
aller Anstalten pro Jahr — betrug 1872 noch 9, 1910 schon 149, zeigt also steigende
Tendenz trotz aller Anstrengungen des Staates in der Bereitstellung neuer Anstalts¬
plätze. Die Ausgaben wuchsen von 132 700 M. im Jahre 1870 auf 2 346 800 M.
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Grütter, Anstaltswesen und Statistik.
321*
n Jahre 1908 , das ist das 17,7 lache. Diese Verhältnisse sind in einer Anzahl von
Curven auch graphisch anschaulich dargestellt.
Wilmanns (111) lenkt die Aufmerksamkeit auf die Fischen che Denkschrift
ber den Stand der Irrenfürsorge in Baden. Die Überfüllung der Anstalten herrscht
ach wie vor. Es ist jedoch außerdem noch ein beträchtliches Mehr von Kranken
ußerhalb der Anstalten vorhanden, das wegen Platzmangels in den Anstalten keine
Aufnahme findet und deshalb in der Bevölkerung zurückgehalten wird. Es ist
nzunehmen, daß nicht die absolute Zahl der Geisteskranken, sondern besonders
hre Anstaltsbedürftigkeit in so starkem Wachstum begriffen ist. Ein zahlenmäßiger
beweis für die Behauptung einer fortschreitenden Degeneration der Rasse ist
loch nicht erbracht. Wahrscheinlich ist es, daß mit dem Anwachsen der großen
Städte auch die Gefahr der luetischen Infektion und mit ihr auch die Paralyse
in Verbreitung gewonnen haben. Ebenso sind vielleicht auch die sogenannten
üntartungszustände, Neurasthenien, traumatische Neurosen, Zwangsirresein, die
Phobien, die leichten Depressionszustände im absoluten Wachstum begriffen.
Bresler (12) weist darauf hin, daß eine gewisse Entlastung der öffentlichen
Irrenanstalten dadurch erreicht werden kann, daß die Frage der Entlassungs-
nöglichkeit bei den einzelnen Krankep möglichst individualistisch geprüft wird
ind dabei auch die äußeren Umstände berücksichtigt werden, die seinerzeit die
Unterbringung des Pfleglings veranlaßten und mit deren Wegfall vielleicht der
V 7 ersuch einer Verpflegung außerhalb der Anstalt in Frage kommt.
In seinem, mit zahlreichen Abbildungen und Skizzen versehenen „Beitrag
zur Abwässerbeseitigungsfrage“ verbreitet sich Thumm (101) eingehend über die
wichtige Frage der Beseitigung von Abwässern in öffentlichen Krankenhäusern,
Genesungs- und Erholungsheimen usw. Die Arbeit enthält wichtige Gesichts¬
punkte für alle, die sich mit dem Bau und der Einrichtung von Krankenanstalten
und dergleichen zu befassen haben. Es werden darin die zur Reinigung der Ab¬
wässer gebräuchlichen Verfahren, die mechanischen, mechanisch-chemischen auf
der einen Seite und die biologischen Abwässerreinigungsverfahren auf der andern
Seite besprochen. „Die hinsichtlich der einzelnen Reinigungsverfahren gemachten
Angaben, bei denen, wo es notwendig schien, auch auf größere Verhältnisse Bezug
genommen wurde, geben die wichtigsten Anhaltspunkte wieder, die bei der Ein¬
richtung und dem Betriebe von Abwasseranlagen der in Rede stehenden Art Be¬
achtung zu finden haben, falls Mißerfolge nach Möglichkeit vermieden werden sollen.“
Heck (40) beschreibt die elektrischen Anlagen in der Walderholungsstätte
im Stadtwalde zu Rheydt, die insofern ganz besonders interessant sind, als nicht
nur die Beleuchtung, sondern auch die Heizung und die Kochapparate auf elektri¬
schem Wege betrieben werden. Die Einrichtung ist sehr leicht zu bedienen und
hat sich bisher gut bewährt.
Haardt (38) berichtet über die guten Erfahrungen, die man in Emmendingen
mit der Durchführung der Dauerwache gemacht hat. Es besteht zweiwöchentlicher
Turnus; der Dienst beginnt um 9 und dauert bis 7 bzw. 8 Uhr. Tagsüber sind die
Nachtwachen dienstfrei, sie schlafen bis 1 Uhr nachmittags, gehen von 2—6 Uhr
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322* Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
spazieren und schlafen dann wieder bis kurz vor Beginn der Wache. Bear *
Verpflegung.
Zweig (112) empfiehlt zur Verhütung des Decubitus das in Dailder -
langem geübte Verfahren: Lagerung in Holzwolle, Waschungen mit Essige»'
in therapeutischer Hinsicht Kamillenbäder im Verein mit Zinksalbe, in sdnr^
Fällen mit Höllensteinperubalsamsalbe, event. Exstirpation alles Nekrotische;:
radikale Spaltung von Gängen. — Es wird viele geben, die der Lagerung in E j
wolle die Behandlung mit Dauerbädern vorziehen.
Bein (77) beschreibt eine Vorrichtung zur Erhaltung konstanter W*»-
temperaturen im Dauerbad, die in einem um die Wanne herumgeführten. voh«>t
M antel umgebenen, an die Niederdruckdampfheizung angeschlossenen Rät-«'
System besteht, durch welches eine gleichmäßige Temperatur des in der Wn_
befindlichen Badewassers erreicht wird.
Siemberg (98) beschreibt kurz die durch Umbau modernisierte Kocht/:
des städtischen Krankenhauses zu Darmstadt, in der Hauptköche und Bratter
getrennt sind und die daher zum Teil der Forderung der Dezentralisation entspnrr
die Sternberg seit langem für die Krankenhausküchen aufgestellt hat.
ln seiner „Diät und Küche“ will Stemberg (97) eine Einführung in die at.
wandte Ernährungstherapie geben. Er behandelt im ersten, kleineren Afcsck
die menschliche Nahrung und die menschliche Ernährung in der Tiermedku: ::
in der Humanmedizin, sowie Bezeichnung und Begriff von Diät und Küche, wik-
der zweite Abschnitt über Diät und Küche, der dritte über Diät und Küche in -
Therapie handeln. Eine ausgedehnte Polemik mit Exkursionen auf das hisroiw:
Gebiet von Sokrates bis Goethe und philosophisch-ästhetische Betrachrcnr
manchmal nur lockeren Zusammenhangs mit dem Thema, zeichnen die Ausfühnii:
aus. Wer mit der hohen Erwartung an die Lektüre geht, die das „manninr
Selbstbewußtsein“, ja die „kühne Unerschrockenheit“ des Vorwortes in ihm -
wecken und wer glaubt, für rein praktische Zwecke reiche Anregung und Belehn .
zu finden, wird vielleicht enttäuscht sein.
Schmidts (86) Ausführungen beleuchten die Schwierigkeiten, die dem Kuck:
betrieb heute in den großen Krankenanstalten erwachsen. Die Lösung des P
blems findet er in der Errichtung einer besonderen Diätküche, wie sie Ster**
fordert, neben der allgemeinen Zentralküche. Eine solche in der Halleschen
zinischen Klinik hat sich bisher gut bewährt.
Strassner (100) gibt eine ausführliche Beschreibung der neuen Diätfcx ;
in der medizinischen Universitätsklinik zu Halle. Einer Besprechung der £.
richtungen und des Betriebes in der Kochküche, Spiilküche und kalten Kwe-
die getrennt sind, schließen sich Anweisungen und Tabellen über Zusammensenu:.
und Art einzelner Speisen noch Gewicht, Preis, Eiweiß-, Fett-, Kohlehydr»:-
Kochsalzgehalt und Kalorienzahl an.
Specht (93) untersucht die Frage, weshalb die Familienpflege in Bayera •
schlecht gegen die in andern Ländern, z. B. in einzelnen Provinzen Preußens. »
schneidet. Die Hemmnisse für eine günstige Entwicklung der bayerischen Fi
milienpflege liegen nach ihm besonders in dem bayrischen Armenrecht, für I
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Grütter, Anstaltswesen and Statistik.
323*
ich das Heimatsprinzip gilt and durch welches besonders kleine Gemeinden schwer
dastet werden. Infolgedessen werden Kranke, die für die Familienpflege besonders
^eignet sind, deü Anstalten entzogen and anderweitig billiger untergebracht,
ährend von den in den Anstalten verbliebenen Pfleglingen sich nur ein ganz ge-
nger Prozentsatz zur Familienpflege eignet. Mehrfache Versuche verschiedener
syrischer Anstalten zur Einrichtung der familiären Verpflegung von Geisteskranken
nd deshalb wenig erfolgreich gewesen. In einigen Kreisen verhält sich auch die
Bevölkerung ablehnend oder eignet sich nicht besonders zur Aufnahme von
ieisteskranken. Eine erhebliche Ersparnis durch Einrichtung einer ausgedehnten
'amilienpflege wäre für Bayern kaum zu erwarten. Besserung der jetzigen mangel-
i&ften Verhältnisse hofft Verf. von der neuen bayrischen Heimat- und Armen-
esetzgebung.
Nach Kolb (49) ist die Familienpflege das natürliche Schlußglied der fort-
chreitenden freiheitlichen Entwicklung der Anstalten. Diejenigen Heil- und Pflege-
mstalten, die die Familienpflege nicht entwickeln, bieten das Zeichen einer relativen
Rückständigkeit. Er führt eine Anzahl Gegengründe gegen die am meisten ge¬
äußerten Bedenken gegen die Familienpflege an und plaidiert eifrig für dieEinrich-
:ung einer möglichst ausgedehnten Familienpflege an möglichst allen Anstalten
n Verbindung mit auch im übrigen freier Behandlung. Quantitativ bedeutender
st die Familienpflege der Imbezillen und Idioten, therapeutisch wichtiger die
familiäre Verpflegung der Geisteskranken, besonders für die residuären Defekt¬
zustände der Dementia praecox. Die Verhältnisse in Bayern liegen für die Ent¬
wicklung der Familienpflege der Geisteskranken ungünstig, weil dort große Gruppen
von Geisteskranken, und zwar gerade die für die Familienpflege am meisten ge¬
eigneten Formen, außerhalb des Kreises der einheitlichen Irrenfürsorge und der
spezialärztlichen Behandlung stehen (nämlich die in den Pflegeanstalten unter¬
gebrachten). Auch die durchschnittlich geringe Entwicklung der offenen Ver-
pflegungsformen und des agrikolen Betriebes ist hinderlich. In Kutzenberg wird
ausgiebig die Verpflegung in der eigenen Familie des Kranken mit Erfolg geübt,
unter dauernder Kontrolle seitens der Anstalt. Die Hebung der bayrischen Fa¬
milienpflege wird von der Änderung des bayrischen Heimatgesetzes erhofft.
Belletrud et Froissari (7): Da der Präfekt dem Direktor das Recht gegeben
hat, den Termin für beurlaubte Kranke immer wieder zu verlängern, wird der Fa¬
milienpflege durch Wegfall von allerlei Formalitäten leichter der Weg geebnet.
{Ganler.)
Rodiet (80) möchte auch die Pensionäre und die schwachsinnigen Kinder
in der Familienpflege unterbringen. Er ist für kleinere Kolonien mit etwa 300
Kranken unter Aufsicht eines Arztes. Mehrere Departements könnten eine gemein¬
same Kolonie schaffen. (Ganter.)
Damaye (17, 18) möchte die heilbaren und unheilbaren Fälle voneinander
getrennt sehen, damit den ersteren der gesamte therapeutische Apparat der allge¬
meinen Medizin zugute käme. Die Irrenanstalten sollten ein besonderes Haus
haben für frische und heilbare Fälle. Die Kranken sollten da ebenso aufgenommen
und entlassen werden können wie in einem Krankenhaus, also ohne alle juristischen
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
324*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
Formalitäten. Vor allem käme hier die Behandlung der Intoxikation*- ins..
fektionspsychosen und der Psychoneurosen in Betracht, ln Paris hat O-
von der Salp&triöre eine derartige Einrichtung zur Behandlung der Psychaas:^
getroffen. (Ga!r
Tödter (102) schildert eine Typhusepidemie in der Landesirrenanstalt (*£.•■
heim, die im September 1909 ausbrach. Im Anschluß an einen Typhusfall b?i
Küchenangestellten erkrankten trotz aller Vorsichtsmaßregeln im ganzen 41:
sonen, wahrscheinlich aber nicht in ursächlichem Zusammenhang mit dm Fa¬
der Küche, sondern ausgehend von 3 Bazillenträgern. Eine große Zahl von Knri-
zeigte außer positivem Widal überhaupt keine Krankheitserscheinungra. i
Bazillenträger werden dauernd isoliert gehalten und wöchentlich einmal auf Bai -
untersucht. Es zeigen sich öfter 4 bis 5 negative Proben hintereinander, um <j.
wieder mit einer reichlich Bazillen enthaltenden abzuwechseln.
Über 4 kleine Typhusepidemien in der Heil- und Pflegeanstalt Egtön::
richtet Ast (3). Die dortigen Epidemien sind typische Beispiele für die Entstein
durch Kontakt, verursacht durch je einen Bazillenträger. Sie gehen auf fcc
gemeinsame Ursache zurück und stehen untereinander in keinem ursätifc-
Zusammenhang. Es werden jetzt in Eglfing sämtliche weibliche Zugänge aaf «■
Agglutiningehalt des Blutes untersucht, ebenso werden Stuhl und Urin deT
einmal untersucht. Auch Agglutinationswerte von 1 : 40 haben Bedeutung. Bin '*:
träger werden isoliert. Interessant ist die Geschichte eines Falles, bei dem -
große, wahrscheinlich typhöse Geschwüre im Darm gefunden wurden, wie¬
der Widal und Stuhl- und Urinproben stets ein negatives Resultat gegeben har-'
Die große Typhusepidemie in Hubertusburg vom Jahre 1908 besehrer-
ausführlich Günther und Böttcher (37). Seit Jahren besteht in Huberte!«
Typhus mit einer Mortalität von fast 40 %. Der fortwährende Wiederaasbr.
des Typhus erfolgte nie durch Einschleppung von außen, sondern stets so« f-
Anstalt selbst heraus. Bis Ende Februar 1911 hat man nun 21 weibliche But¬
triger und 33 verdächtige Agglutinanten festgestellt, davon die Mehrzahl io
sogenannten „Versorghäusem“, in denen seit Jahren die schwersten TyphuslL-
vorgekommen waren. Alle Neuaufnahmen und das eintretende Personal w-
bakteriologisch untersucht. Wasserspülung mit biologischer Kläranlage ist be¬
tragt, da die Verbreitung des Typhus auf der sonst ganz typhusfreien Mühk
abteilung durch die mit Reinigung und Abfuhr der Tonnen beschäftigten Jfc- |
erwiesen ist. Die Sektion einer Bazillenträgerin ergab Reinkulturen von Typhi
bazillen in Milz, Gallenblaseninhalt und Knochenmark. Die Isolierung der
ausscheider und Bazillenträger und die sorgfältige Desinfektion der Extrem^
Wäsche usw. wird nach wie vor bei der Bekämpfung des Typhus in Anstalt™
das einzig Richtige gehalten.
Die Typhusepidemie in Conradstein (104) ist wahr¬
lich durch Einschleppung von außen entstanden. Es erkrankten im ganws'
Männer und 66 Frauen, davon 12 bzw. 18 Personen des Pflegepersonals und M h-
amte und sonstige Angestellte. Von den 19 Verstorbenen wurden bei 5 <fo’ r
die Sektion andere Krankheiten als Todesursache festgestellt. Die Untersuch-
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Griitter, Anstaltswesen und Statistik.
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' sämtlichen Anstaltsinsassen und des Personals samt Angehörigen ergab 21 Ba¬
ienträger, von denen 2 Frauen jetzt noch Ausscheiderinnen sind. Isolierung
r Kranken, Verdächtigen und Bazillenträger. Die Ausbreitung der Krankheit
olgte trotz sorgfältigster Desinfektion. Bei der Bekämpfung der Epidemie
t ein von den Höchster Farbwerken bezogenes Serum gute Dienste. .
Boehncke (9) berichtet von einer Ruhrepidemie, bei der ein Dauerausscheider
n ^Atgra-Äruse-Bazillen eine große Anzahl von Mannschaften eines Pionier-
.taillons infizierte. Es erhellt daraus wohl die Berechtigung der Forderung,
lhrrekonvaleszenten auch nach völliger klinischer Genesung bakteriologisch ebenso
i beobachten, wie das bei Typhusrekonvaleszenten geschieht.
Perdrau (68) berichtet über eine Dysenterieepidemie in dem Devon County
sylum. Im Winter nahmen die Erkrankungsfälle zu. Besonders wurden die
ementen ergriffen, 71 % aller Fälle. Beginn der Erkrankung mit Erbrechen
nd plötzlicher Temperatursteigerung, noch vor der Diarrhöe. Im Stuhl Blut
nd Schleim. Hypostatische Pneumonie war die häufigste Komplikation, ln
nem Falle Perforation. Behandlung mit Abführmitteln (Magnesium und Natrium -
llphat), dann Adstringentien (Catechu). Diät: Milch und Arrowroot. Gegen
’enesmus mehrmals im Tage Kaltwassereinläufe. Von den Erkrankten starben
7,6 %. Rückfälle 8 :117 Genesene. {Ganter.)
Erskine (29) will beobachtet haben, daß Nierenkrankheiten und Influenza
len Ausbruch der Dysenterie begünstigen. {Ganter.)
Topp (103) lobt die guten Dienste, die ihm bei der Ernährung in Schwäche-
:uständen von Nerven- und Gemütskranken der verschiedensten Art, sowohl bei
)rganischen wie bei funktionellen Leiden, das Nährpräparat „Kufeke“ geleistet hat.
Beyer (8) betont den großen Wert der Nervenheilstätten für die Kranken-,
Unfall- und Invalidenversicherungen und sieht im Zusammenarbeiten der Ver¬
sicherungen mit den Nervenheilstätten mit Recht große Vorteile für beide Teile.
Alter (1) hat aus Anlaß des 100 jährigen Bestehens der Fürstl. Lippischen
Heil- und Pflege-Anstalt Lindenhaus einen kurzen Abriß der Geschichte dieser
Anstalt geschrieben, der in interessanter Weise die Entwicklung der ganzen Psychia¬
trie überhaupt während des letzten Jahrhunderts widerspiegelt. Lindenhaus ist
1811 von der weitblickenden Fürstin Pauline von Lippe gegründet und ist heute
trotz des hohen Alters eine moderne Anstalt.
Petersen-Borstel (69) beschreibt die Entstehung und die jetzigen Einrichtun¬
gen der Anstalt Plagwitz a. Bober. Die Anstalt setzt sich zusammen aus dem alten,
aus dem 16. Jahrhundert stammenden Schlosse, das nach Möglichkeit modernen
hygienischen Anforderungen angepaßt ist, und dem neueren Teil, dessen Bauten
von 1898 ab entstanden sind.
StoÜenhoff (99) gibt eine kurze Geschichte und Beschreibung der Anstalt
Kortau, die 1911 auf ein 25 jähriges Bestehen zurückblicken konnte, und berührt
zugleich einige das Irrenwesen in der Provinz Ostpreußen betreffende Fragen.
Der große Zugang zu den Heil- und Pflegeanstalten erklärt er mit den Folgen des
Gesetzes vom Jahre 1891 und mit dem allmählichen Schwinden des Mißtrauens
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
gegen die Anstalten. Im Jahre 1877 betrug der Provinzialzu schu ß für ABk j
182 600 M., jetzt dagegen für die ostpreußischen Anstalten 1 558 300 AL |
Bei den Potsdamer Provinzialanstalten wurde im Juni 1911, wie Gool '
berichtet, ein Haus für psychopathische weibhche Fürsorgezöglinge, Heieta: .
eingeweiht.. Es ist für 20 schulentlassene und 30 schulpflichtige Zöglinge bestr;
die durch ihr ganzes Wesen, besonders durch ihre antisozialen Eigenschaft« s-^
die erzieherische Tätigkeit an den Erziehungsanstalten als auch die nachr^
Behandlung an den Krankenanstalten stören. Die kleine Anstalt wird seihst*!,
wirtschaften. Geplant werden in der Provinz Brandenburg noch ein Haus
50 männliche psychopathische Zöglinge und eine Anstalt für schulentlassene bz
liehe Zöglinge.
Lechner (64) gibt eine Beschreibung der Klinik für Nerven- und Gr.*:-
kranke zu Kolozsvär (Klausenburg) in Ungarn. Die Klinik ist 1900—1901
endet, 1902—1903 durch Zubau des Nervenpavillons und der Direkt onroti
ergänzt. Sie umfaßt zurzeit 10 Pavillons mit ursprünglich 160, jetzt 260 B-"-
Die Baukosten betrugen 1042000 M., die Gesamtkosten für jedes Bett 1
Abbildungen und Grundrisse vervollständigen die Beschreibung.
Quensel (75) bringt eine ausführliche, mit Abbildungen ausgestatretr :■
Schreibung der neuen Unfallnervenheilanstalt Bergmannswohl bei Schkra-.
Die Anstalt ist von der Knappschaftsberufsgenossenschaft erbaut und Ende 1“
eröffnet. Sie ist mit allen modernen Einrichtungen versehen, um ihren
Untersuchung, Beobachtung und Begutachtung Unfallnervenkranker, aasgi^.
zu erfüllen. Der Raum reicht zurzeit für 100 Kranke, kann aber ohne Schwirr,
keiten auf 200 Plätze erweitert werden.
Hrase (42) schildert die neue böhmische Landes-Irrenanstalt Bohnitz. <ir
Bau 1906 begonnen ist und die Anfang 1911 ihrer Benutzung zugeführt vir:-
Sie ist im Pavillonsystem gebaut und zerfällt in die Zentralanstalt für unftfL
1600 Kranke, die Kolonie mit 300 und das Pensionat mit 200 Plätzen. Es brsr:
außer einem Pavillon für infektiöse Krankheiten je 1 Pavillon zu 60 Betten für.
Behandlung der an Tuberkulose leidenden Kranken mit Liegehallen. In der Ztnn
anstatt sind 38 Wachabteilungen. Es bestehen besondere Wohn- und Schiafrür
für das Wartepersonal. Sämtliche Einrichtungen stehen auf der Höhe der m<-
zinischen und technischen Errungenschaften.
Die neue Heil- und Pflege-Anstalt für Unterfranken zu Lohr (57) ist '
Bau begriffen. Die Stadt hat 6000 Einwohner und ist Schnellzugstation. !’•
Belegstärke ist auf 800 Kranke, davon 100 in Familienpflege, festgesetzt. I
Eröffnung ist für Herbst 1912 in Aussicht genommen, zunächst für 500 Kraiu
Die Mehrzahl der Krankenhäuser ist im Rohbau fertig. Der Gutshof ist benr
von Kranken aus Werneck bezogen. Die Kosten belaufen sich auf 4 6900001-
davon 377 616 M. für Grunderwerb.
Glüh (36) berichtet über seinen Besuch der Hygieneausstellung in Dr«<k
Er erkennt das großartige Gelingen der Ausstellung an; auch für den Psychii:-
enthielt sie viel gutes Anschauungsmaterial, das neue Anregung zu geben imstande«
Ladame (52) hat die Anstalt Uchtspringe besucht und berichtet der V*v
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Grütter, Anstaltswesen and Statistik.
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Agaitg der Schweizer Irrenärzte za Bern am 27. November über die günstigen
ndrücke, die er bei diesem Besuch von der Entwicklung deutscher Irrenpflege
kommen hat.
Sattermann (84) hat im Sommer 1909 sieben englische offene Irrenanstalten
sucht, und zwar Bethlem, Royal Hospital in London, Littlemore, (Mörder
ezirksanstalt, die Londoner Bezirksanstalten Claybary, Hanwell, Long Grove,
rner die Kriminal-Irrenanstalt Broadmoor und Prestvich, Lancashirer Bezirks*
istalt. Claybury, Hanwell und Prestvich haben bei einer Krankenzahl von über
>00 nur 7 Arzte, mit Ausnahme des Londoner Bethlem auch verhältnismäßig
eiliger Pflegepersonal als die deutschen Anstalten. In den meisten Anstalten
iichlich Gummizellen (padded rooms), zum Teil mit mangelhaften, wasser durch-
ussigen Polsterungen. Spärliche Bettbehandlung, viel Spiele, wenig Unruhe,
«o-restraint herrscht überall im vollsten Maße.
Döbrick (20—24) beschäftigt sich mit dem Problem, wie der ständigen Zu -
lahme der Geisteskrankheiten und damit der drängenden Anstalts- und Platznot
b zuhelfen sei. Um zugleich das lebhafte Mißtrauen der Masse gegen die Psychiatrie
:u vermindern und die Leistungen der Psychiatrie als Erfahrungswissenschaft
iu zeigen, schlägt er vor, statt der symptomatischen Behandlung in den Anstalten
das übel an der Wurzel zu fassen und die Entstehung der Geisteskrankheiten
mit Hilfe der Gesetzgebung nach Möglichkeit zu verhindern. Besonders kommen
nach ihm in der Beziehung die Abstinenz und die Frage der Eheschließung in
Betracht, um den Alkohol und die Lues mit ihren Folgen für die Nachkommen¬
schaft auszuschließen und damit eine ,,psychiatrische Hygiene“ zu schaffen.
Der Verfasser verkennt nicht, daß der Verwirklichung seiner Ansichten und
Vorschläge besonders praktische Bedenken entgegenstehen.
An andern Orten kommt Döbrick ebenfalls zu dem Ergebnis, daß
an dem Mißtrauen des Volkes gegen die Psychiatrie ihre therapeutische Ohn¬
macht schuld ist. Das Radikalmittel dagegen ist der therapeutische Erfolg.
Diesen erhofft Verfasser von der Gründung eines „großzügigen Forschungs¬
institutes für die Psychiatrie“, das mit der ausgesprochenen Tendenz zu gründen
wäre, vor allem praktische Erfolge zu schaffen. Darin wäre die „psychiatrische
Elite“ zu zentralisieren und ihr die notwendigen materiellen Forschungsbedingungen
zu schaffen. Alle übrigen Vorschläge, Aufklärung des Publikums usw., gehören
nach ihm zu den kleinen, rein symptomatischen Mitteln.
Becker (6) ist mit den Ausführungen Dobricks im ganzen einverstanden,
weist aber auf die Schwierigkeiten hin, denen das Projekt eines Zentralinstitutes
für irrenärztliche Forschung, besonders in pekuniärer Hinsicht, begegnen wird.
Die Ausbildung der Irrenärzte ist heutzutage nach ihm doch nicht so mangelhaft,
wie Döbrick meint. Um dieselbe noch wÄter zu vervollkommnen, empfiehlt Becker
Austausch der Assistenten an den psychiatrischen Kliniken mit den Anstaltsärzten
lür 1 Jahr.
Auch Weber (106) äußert sich zu den Vorschlägen Döbrick s. Mit Recht weist er
zunächst darauf hin, daß die Provinzialanstalten in mancher Beziehung Ähnlich¬
keit mit den großen Krankenhäusern haben und sehr wohl imstande sind, wichtige
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
praktische, auch therapeutische Aufgaben zu erledigen und für die wissenschaftliche
Erforschung der Endzustände, Prognosestellung usw. wertvolles Material zu liefern.
Dazu genügen auch die wissenschaftlich technischen Hilfsmittel der meisten An¬
stalten und auch die jetzige Ausbildung ihrer Ärzte. Bedeutsam ist dabei die Tätig¬
keit des Direktors, der sich den Blick für die großen Gesichtspunkte bewahren muß,
um seinen Ärzten stets neue Anregung zu geben uiid damit sich und seine Anstalt
ärztlich und wissenschaftlich auf einer gewissen vorbildlichen Höhe zu halten.
Leppmann (66) untersucht die Frage, auf welche besonderen Eigenarten der
seelischen Erkrankungen und auf welche Mängel der Gesetzeslage sowie auf welche
Eigenarten der Volksanschauung die Beunruhigung der öffentlichen Meinung
zurückzuführen ist, die sich in der letzten Zeit gehäuft in den Angriffen der Tages -
presse auf die Psychiatrie, zurzeit besonders auf die Privatanstalten, Luft macht.
Seine beachtenswerten Ausführungen gipfeln in folgenden Vorschlägen: „Wir
brauchen ein Irrengesetz, welches die Anstaltsunterbringung Kranker bis ins
kleinste regelt. Wir brauchen eine Ergänzung unserer bürgerlichen Gesetzgebung
über die Beschränkung der Geschäftsfähigkeit Erkrankter in der Weise, daß die
jetzt noch möglichen Schädigungen Kranker und Belästigungen Gesunder ver¬
mieden werden.“
Schloß (86) unterzieht die einzelnen Abschnitte vom Entwurf des neuen
österreichischen Irrenfürsorgegesetzes einer eingehenden Besprechung und kommt
zu dem Schluß, daß derselbe nicht einfach abgelehnt werden soll, da er neben man¬
chen Mängeln und Lücken auch manchen Fortschritt in sich birgt und in veränderter
Fassung eine allgemein befriedigende Form annehmen könnte. Einzelne Abände¬
rungsvorschläge werden gemacht. Nach Schloß wird die Reaktion gegen das neue
Irrengesetz erst verstummen, wenn in ihm folgenden drei Faktoren Gerechtigkeit
widerfährt: Schutz für die Geisteskranken innerhalb und außerhalb der Anstalten,
Schutz für die große Masse der geistig Gesunden vor den Geisteskranken, und
endlich auch Schutz und Recht für den Irrenarzt gegen unberechtigtes Mißtrauen
und die Angriffe auf seine Person.
Die Stellung des Anstaltsarztes der Öffentlichkeit und den Behörden gegen¬
über untersucht Aulengruber (6). Nach ihm sind die mit dem Psychiater und den
Anstalten Unzufriedenen die Imbezillen, in specie die moralisch Minderwertigen
innerhalb und außerhalb der Anstalt, die die Anstalt gerade so als sicherheitspoli¬
zeiliche Haft empfinden und fürchten wie die Gefängnisse. Zur Abstellung dieses
Mißtrauens soll man sich die Mitarbeit der anständigen Presse sichern, außerdem
aber schlägt Auiengruber die Anstellung besonderer Vertrauensmänner in jeder
Gemeinde vor, welche die Anstalt in allen Angelegenheiten zu unterstützen hätten,
die die Interessen der in den Anstalten untergebrachten Geisteskranken berühren,
z. B. anamnestische Daten zu liefern, fi# die Entlassenen zu sorgen usw. — Die
beiden österreichischen Gesetzentwürfee über die Entmündigung und die Fürsorge
für Geisteskranke werden sehr abfällig kritisiert.
Näcke (64) betont die Notwendigkeit ärztlicher Leitung an den Defekten-
anstalten und fordert dieselbe besonders für Idioten- und Schwachsinnigen-, Epi¬
leptiker- und Taubstummenanstalten sowie für Fürsorgezöglinge und auch für Ge-
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Grütter, Anstaltswesen nnd Statistik.
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igenenanst<en. Für alle diese Anstalten ist der Arzt die geeignete Persönlich-
t, die in den meisten Fällen besser imstande sein wird, für geistig Defekte zu
gen, ihre Entwicklung und Erziehung zu überwachen, als die meisten Laien-
ektoren. Damit würde nicht nur den Insassen der betreffenden Anstalten am
sten gedient sein, sondern vor allem dem großen Ganzen.
Schob (87) hält die jetzige Versorgung der chronisch Kranken (Siechen)
cht für ausreichend und empfiehlt zur Abhilfe Umänderung der Siechenanstalten
reine Krankenanstalten, Zentralisierung der Siechen in größeren Anstalten,
nsteilung von Ärzten im Hauptamt, Vermehrung und Hebung des Personals,
erbesserung der Einrichtungen für Krankenbehandlung und Krankenpflege.
Für die Pflege der gefährlichen und schädlichen Geisteskranken ist nach van
teventer (19) eine mit einer kompletten Irrenanstalt verbundene Sonderabteilung
m Platze, die er näher beschreibt. Diese Sonderabteilung ist eine Durchgangs*
tation, die der gefährliche Geisteskranke zu durchlaufen hat, damit er lerne, sich
lern Anstaltsleben anzupassen. Eine systematische Untersuchung und Beobachtung
ier Insassen der Strafgefängnisse ist dienlich, die rechte Anstalt für diesen Zweck wäre
in Gefängnis-Annex. Für die geistig Minderwertigen ist die Pflege in einer
iwischenanstalt, welche den Charakter eines Arbeitssanatoriums trägt, zweck¬
mäßig. Methodische Untersuchung der heranwachsenden Jugend ist notwendig.
Kerns (47) glaubt, daß entsprechende Erziehung und Ausbildung des Pflege¬
personals schließlich jede Art von Zwang, auch Narkotika, feuchte Einpackungen,
Dauerbäder, übermäßig lange Bettruhe usw. überflüssig machen wird. Er hält es
für zweckmässig, wenn jede Provinzverwaltung an einer ihrer Anstalten eine
Zentrale für den Pflegeunterricht errichtet und hier das Leinpllegepersonal die
erste entsprechende Ausbildung erhält.
Sommer (91) verbreitet sich über die Gründe, die für die Ablehnung seines
Vorschlages, eine besondere psychiatrische Abteilung bei dem Reichsgesundheits
amt zu errichten, maßgebend gewesen sind. Nach ihm sind bei der Behandlung
der Frage in der Petitionskommission des Reichstages nur Bedenken gegen die
Einrichtung einer klinischen Abteilung erhoben worden, die er zu zerstreuen sucht.
Er ist nach wie vor von dem großen Nutzen überzeugt, den eine derartige Ein¬
richtung beim Reichsgesundheitsamt — im Notfälle event. ohne die geforderte
kleine Klinik — bringen würde, und glaubt, daß dieselbe nicht nur theoretisch not¬
wendig, sondern auch praktisch möglich ist.
Zu dem Hommerschen Vorschläge nimmt Alzheimer (2) Stellung. Wenn von
dem Projekt einzelne Teile, wie die Abteilung für forensische Psychiatrie, die Ein¬
richtung einer klinischen Abteilung, abgetrennt und ausgeschieden würden, wären
die übrigen Ziele, die Sommer mit dieser Einrichtung erreichen möchte, ganz im
Rahmen der Aufgaben des Reichsgesundheitsamtes, so besonders eine groß ange¬
legte Statistik, eine ausgedehnte Ursachenforschung mit besonderer Berücksichti¬
gung der Vererbung, systematischer Familienuntersuchungen usw. Es ist deshalb
zu wünschen, daß Sommers zunächst abgelehnter Vorschlag mit einigen Änderungen
später doch im Prinzip zur Annahme gelangen möge, besonders da auch in andern
Staaten, wie in Amerika, ähnliche Institute für Rassenhygiene bereits bestehen.
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
Auch Auerbach (4) hält die Einrichtung einer neurologisch-psychiatrischen
Sektion am Reichsgesundheitsamt für wünschenswert, die ihr Augenmerk auf die
Prophylaxe der Nervenkrankheiten, die Erforschung und Beseitigung ihrer äußeren
und inneren Ursachen zu richten hätte in ähnlicher Weise, wie es bei den Infektions¬
krankheiten bereits geschieht.
Priming (74) weist auf die Schwierigkeiten hin, die eine Zählung der Geistes¬
kranken bietet. Die Frage der Möglichkeit einer wissenschaftlichen Zählung der
Geisteskranken muß bejaht werden, aber nur unter der Voraussetzung, daß eine
genügende Anzahl psychiatrisch vorgebildeter Ärzte zu dieser Zählung heran¬
gezogen werde. Die bisherigen Statistiken haben in der Beziehung keine sicheren
Ergebnisse geliefert, auch die Anstaltsstatistiken nicht, die dagegen über die Krank¬
heitsursachen gute Anhaltspunkte gegeben haben. Auch die Statistik des ange¬
borenen Blödsinns ist verbesserungsbedürftig.
Im Jahre 1907 hat eine Zählung der im schulpflichtigen Alter befindlichen
schwachsinnigen, taubstummen und epileptischen Kinder des Kantons Appenzell
A. Rh. stattgefunden, über deren Ergebnis Koller (50) berichtet. Im einzelnen
werden zunächst die schwachsinnigen und weiterhin die taubstummen und epi¬
leptischen Kinder in bezug auf ihre mannigfachen körperlichen und psychischen
Besonderheiten durchgenommen, insbesondere sowohl mit Rücksicht auf Spraeh-
und Gehfähigkeit, Seh- und Hörvermögen, Kopf- und Gesichtsbildung, Charakter
usw., als auch auf Gedächtnis, Begriffs- und Urteilsvermögen, Erblichkeit. Die
Resultate einer Nachzählung der im Jahre 1897 gezählten geistig gebrechlichen
Schulkinder sind angeschlossen. Zahlreiche Tabellen und einige Schemata von
Zählkarten sind beigegeben.
Die Bezirksanstalt für Geisteskranke zu Kasan in Rußland (45) ist
im Jahre 1869 für 200 heilbare Kranke des Bezirkes Kasan eröffnet. Ihre Leitung
war anfangs verbunden mit der Professur für Psychiatrie an der Universität Kasan,
so daß sie längere Zeit den Charakter einer Universitätsklinik trug. Später wurde
sie ihrer eigentlichen Bestimmung als Bezirksanstalt wieder zugeführt und mehr
und mehr vergrößert. Zurzeit zählt sie rund 1000 Kranke und verfügt über einen
modernen Betrieb. „Irgendwelche besonderen Couchetten des früheren Typos
oder besondere spezielle Zimmer für unruhige Kranke gibt es nicht, ebensowenig
Gegenstände des restraint.“ Reichliche, individualisierende Beschäftigungstherapie.
Eine besondere gerichtlich-psychiatrische Abteilung für 80 Personen, die ebenso
wie die übrige Heilanstalt auch für Lehrzwecke an der Universität dient, ist 9 eit
einiger Zeit in einem eigenen Gebäude untergebracht.
Pilgrim (71) gibt einen geschichtlichen Überblick über die Entwicklung des
Irrenwesens im Staate New York. Die erste öffentliche Irrenanstalt wurde 1839
eröffnet, während seit 1797 bis dahin Geisteskranke in einem Teil des New Yorker
Krankenhauses aufgenommen worden waren. Außerdem gab es zu Anfang des
19. Jahrhunderts noch 3 Privatanstalten, 1843 Eröffnung einer neuen Staatsanstalt.
Man rechneto damals einen verpflegten Geisteskranken auf 3413 Einwohner, 1910
war das Verhältnis 1 : 278. 1855 verpflegte diese Anstalt 294 Kranke, 1352 dagegen
fielen auf die 53 Armenhäuser. 1859 Gründung des Auburn Asyhun für geistes-
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Grutter, Anstaltswesen und Statistik.
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kranke Verbrecher. Weitere Anstalten errichtet 1866,1871,1874 (dieses homöo¬
pathisch), 1880, 1890, 1891 (städtisch), 1896 (städtisch), 1898 (homöopathisch,
staatlich), 1900 (für männliche geisteskranke Verbrecher), 1910. Zahl der Geistes¬
kranken in den öffentlichen Anstalten am 1. Oktober 1910: 32 657. In 20 Jahren
hatte sich die Zahl der Geisteskranken um 104 %, die der Bevölkerung um 62 %
vermehrt. 46 % der Geisteskranken waren im Ausland geboren, nur 36 % im
Staate selbst. Verfasser verlangt daher schärfere Überwachung der Einwanderung.
— In 16 % war der Alkohol die direkte, in 40 % die indirekte Ursache der Geistes¬
krankheit. Verfasser wünscht ein Gesetz betr. Sterilisierung der Defekten. Fast
26% aller Aufnahmen wurden entweder geheilt oder so weit gebessert, daß sie wieder
ihren Unterhalt verdienten. 15—20 % konnten als harmlos nach Hause entlassen
werden. 70 % der dauernd Anstaltsbedürftigen machen sich nützlich. {Ganter.)
Drerory (27) berichtet über den Stand des Irrenwesens im Staate Virginia.
4 öffentliche Anstalten, 3 für die Weißen, 1 für die Schwarzen. In jenen werden
zurzeit 2600, in dieser 1480 Kranke verpflegt. Staatsaufwand 425 000, pro Kopf
etwa 119 Dollar. Verfasser stellt 14 Forderungen zur Hebung des Irrenwesens auf,
darunter: Errichtung von Laboratorien (nur eines vorhanden), Schaffung von Poli¬
kliniken für die Grenzfälle, Gründung eines Irrenhilfsvereins. Heiratsverbot für
Epileptische, Schwachsinnige usw., Besserstellung des Personals. (Ganter.)
Edith Jones (44), Bibliothekarin an dem Mc Lean-Hospital in Massachusetts,
richtete einen Fragebogen an 120 Irrenanstalten in den Vereinigten Staaten und
Kanada, um sich über den Stand der Unterhaltungsbibliotheken für die Kranken
zu unterrichten. 96 antworteten. Von diesen besaßen 15 keine Bibliothek, 60
unterhielten eine Zentralbibliothek, 21 hatten kleinere Abteilungsbibliotheken.
Die Bibliothek des Mc Lean-Hospitals besteht seit 75 Jahren und verfügt über
6700 Bände. Zum Schlüsse handelt Verfasser von den Aufgaben der Anstalts¬
bibliothekarin, die sich auch sonst noch nützlich zu machen weiß. (Ganter.)
Lunff et Sirieux (59) legen ihren Bericht über das Irrenwesen in Marokko
vor, das sie im Aufträge des Ministers an Ort und Stelle studiert hatten. Die
meisten Geisteskranken treiben sich bettelnd herum. Soweit ihre Geisteskrankheit
religiöse Färbung trägt, sind sie für die Menge ein Gegenstand der Verehrung.
Andere Geisteskranke werden in der Familie in irgendeinem Winkel abgesondert
gehalten. Gefährliche Geisteskranke sind mit Verbrechern zusammen in Kerkern
eingeschlossen und angekettet. Einige wenige finden sich neben körperlich Kranken
und Krüppeln und Bettlern in den ,.Moristans“, einer Art Siechenhäuser, die aus
milden Gaben neben einer Moschee oder dem Grabe eines Heiligen erbaut wurden
und wahrscheinlich aus ehemaligen Pilgerherbergen hervorgegangen sind. Kein
Arzt kommt dahin, die Behandlung besteht neben der Anlegung von Hals- und Fu߬
ketten in Exorzismus usw. Solche Siechenhäuser gibt es in den größeren Städten,
das von Fez stammt aus dem 16. Jahrhundert. Die Verfasser schlagen vor, diese
Häuser der Leitung französischer Ärzte zu unterstellen. Da aber auch für die Geistes¬
kranken der europäischen Bevölkerung Marokkos (etwa 20 000) keine Vorsorge
getroffen ist, verlangen die Verfasser die Errichtung besonderer Abteilungen an
den allgemeinen Krankenhäusern (in Tanger, Fez, Casablanca). (Ganter.)
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
Ende 1910 befanden sich in den Heil- und Pflege-Anstalten Ostpreußens
Allenberg, Kortau und der Landespflegeanstalt zu Tapiau insgesamt 3085 Krankt
(1500 M. 1585 Fr.), Zuwachs gegen das Vorjahr 123. Als Ursache des ständiger
Anwachsens wird die vollständige Änderung in der Behandlung der Kranken an¬
gegeben, wie solche in dem Gesetze vom 11. Juli 1891 begründet ist, und fern« das
allmähliche Schwinden der Vorurteile gegen Anstaltsbehandlung.
Allenberg (113) begann das Berichtsjahr mit einem Kranken bestand?
von910 (457 M. 453 Fr.). Zugang 383 (196 M. 187 Fr.). Abgang 360 (187 AL 163 Fr. i
In Familienpflege 77 (42 M. 36 Fr.). Geheilt entlassen 19 = 6 %. Verstorben sind
5,66 % der Verpflegten. Regelmäßig beschäftigt waren 64 % der Kranken.
In Kortau (151) betrug der Krankenbestand am Anfang des Berichtsjahres
1032 (444 M. 588 Fr.). Zugang 448 (212 M. 236 Fr.). Abgang 524 (235 M. 289 FrA
In Familienpflege 49 (27 M. 22 Fr.). Entlassen als geheilt 36 = 7,78 %. Verstorben
sind 8,11 % der Verpflegten. Häufige Erkrankungen, besonders des weiblichen
Pflegepersonals infolge Überanstrengung durch Pflege unruhiger und pflegebedürfti¬
ger Kranker. Ein Pfleger erhängte sich in einem Anfalle von Geistesstörung, eine
Pflegerin ist an Melancholie verstorben. Ein Kranker starb infolge Vergiftung
mit Zahnpasta.
Tapiau (200) begann das Berichtsjahr mit einem Bestände von 952
Kranken (484 M. 468 Fr.). Zugang 240 (99 M. 141 Fr.). Abgang 74 (38 M. 36 Fr. l
D ie Zugänge erfolgten im wesentlichen durch Überführung von voraussichtlich
unheilbaren Geisteskranken aus Allenberg und Kortau. Von den Entlassenen sind
geheilt 3 (1 M. 2 Fr.), gebessert 7 (6 M. 2 Fr.), ungeheilt 3 (1 M. 2 Fr.). Gestorben
58 (28 M. 30 Fr.). In Familienpflege befinden sich 9 Kranke (7 M. 2 Fr.).
Einer Typhusepidemie fielen 1 Pflegerin und 2 geisteskranke Frauen zum
Opfer. Die Epidemie beschränkte sich auf die Frauenseite, Ursache Bazillenträger.
Scharfe Absonderung aller Erkrankten, Verdächtigen und Keimträger, sorgfältige
Desinfektion, systematische bakteriologische Untersuchung. Außerdem Massen¬
erkrankungen an Durchfall unbekannter Ursache. Das 1909 begonnene Werk¬
stättengebäude wurde fertiggestellt, ebenso der dritte Block der Pflegerhäuser, die
von 16 Pflegerfamilien bezogen wurden. Ein Krankenwohngebäude für 198 weib¬
liche Kranke wurde im Rohbau fertiggestellt. Bestand in der Pfiegeanstalt für
gewalttätige geisteskranke Männer am Anfang des Berichtsjahres 68 Kranke.
Zugang 5, Abgang 5. Beschäftigt 60—65 % der Kranken.
Conradstein (127): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 1447 (774 M.
673 Fr.). Zugang 320 (167 M. 153 Fr.). Abgang 294 (167 M. 127 Fr.). Bleibt
Bestand 1473 (774 M. 699 Fr.), davon 163 in Familienpflege. Von den Aufgenomme¬
nen litten an einfacher Seelenstörung 218 (98 M. 120 Fr.), an paralytischer Seelen¬
störung 36 (24 M. 12 Fr.), Seelenstörung mit Epilepsie, Hystero-Epilepsie 30 (14 M.
16 Fr.), Idiotie (angeborener Schwachsinn, Blödsinn) 18 (16 M. 3 Fr.), Alkoholismus
13 Männer, nicht geisteskrank waren 6 (4 M. 1 Fr.). Die Krankheitsdauer vor der
Aufnahme betrug bis zu 1 Monat bei 65. bis zu 2 Monaten bei 22, bis zu 3 Monaten
bei 9, bis zu 6 Monaten bei 27, bis zu 1 Jahr bei 100, bis zu 2 Jahren und darüber
bei 97. Unfall und Kopfverletzung waren 14 mal (6 M. 8 Fr.), Syphilis 20 mal
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Grütter, Anstaltswesen and Statistik.
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(16 M. 4 Fr.), Trunksucht 23 mal (17 M. 6 Fr.), Einzelhaft 4 mal (4 M.), Wochen¬
bett 13 mal Krankheitsursache. Mit dem Strafgesetz in Konflikt geraten sind von
den Aufgenommenen 67 (49 M. 18 Fr.). Heredität bei 94 (63 M. 41 Fr.). Beob¬
achtet wurden 10 Personen (7 M. 3 Fr.). Entlassen wurden 192 (108 M. 84 Fr.),
davon als geheilt 62 (26 M. 26 Fr.), als gebessert 73 (46 M. 27 Fr.), ungeheilt 62
(31 M. 31 Fr.), nicht geisteskrank 6 M. Behandlung von 9 Fällen mit Salvarsan,
darunter bei 7 Paralytikern, blieb ohne Erfolg. Gestorben 102 (69 M. 43 Fr.) =
5,8% aller verpflegten Kranken; Todesursache 22 mal Lungenschwindsucht. Ein
neues Pflegerhaus wurde bezogen.
Neustadt (Westpreußen) (171): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres
546 (284 M. 262.Fr.). Zugang 136 (81 M. 64 Fr.). Abgang 112 (66 M. 46 Fr.).
Bleibt Bestand 669 (299 M. 270 Fr.), davon 49 in Familienpflege. Von den Auf-
genommenen litten an einfacher Seelenstörung 88 (43 M. 46 Fr.), an paralytischer
Seelenstörung 13 (12 M. 1 Fr.), an Epilepsie und Hysteroepilepsie 6 (2 M. 3 Fr.),
Imbezillität, Idiotie 12 (8 M. 4 Fr.), Alkoholismus, Delirium 9 M., nicht geistes¬
krank waren 8 (7 M. 1 Fr.). Krankheitsdauer vor der Aufnahme betrug bei 23
bis zu 1 Monat, bei 16 bis zu 2 Monaten, bei 18 bis zu 6 Monaten, bei 20 bis zu
1 Jahr, 2 Jahre und darüber bei 60. Psychische Ursache waren 4 mal (2 M. 2 Fr.),
Wochenbett, Schwangerschaft 6 mal, Syphilis 6 mal (6 M.), Trunksucht 14 mal
(13 M. 1 Fr.), Greisenalter 3 mal (3 Fr.) Krankheitsursache. Heredität bei 46 =
33,3 %, und zwar bei 27 Männern (33,3 %) und 18 Frauen (33,3 %). Mit dem
Strafgesetz in Konflikt geraten 20 M., davon 10 an einfacher Seelenstörung, 1 an
Epilepsie, 6 an Imbezillität und 3 an Alkoholismus leidend. Entlassen sind 73
Kranke (46 M. 28 Fr.), davon geheilt 14 (8 M. 6 Fr.) = 19,2 %, gebessert 36 (21 M.
14 Fr. )= 47,9 %, ungeheilt 18 (11 M. 7 Fr.) = 24,7 %, als nicht geisteskrank 6
(6 M. 1 Fr.). Der Aufenthalt in der Anstalt betrug bei keinem der Geheilten mehr
als 1 Jahr. Die Krankheitsdauer vor der Aufnahme bei den geheilt Entlassenen
waren bei 6 Personen je 1 Monat, bei 2 je 2 Monate, bei 1 3 Monate, bei 2 je
6 Monate, bei 4 je 2 und mehr als 2 Jahre. Eine Kranke, die seit Monaten freien
Ausgang hatte, vergiftete sich mit Kleesalz, das sie sich aus der Stadt mitgebracht
hatte. Gestorben sind 39 Kranke (21 M. 18 Fr.) = 6,7 % aller Verpflegten, davon
an Lungentuberkulose, Herzlähmung, Lungenentzündung und allgemeiner Er¬
schöpfung infolge Paralyse je 6 Kranke. 3 an Himlähmung, je 2 an Darm- und
Lungentuberkulose. Gesamtausgabe 376 886 M. 29 Pf.
Sch wetz (191): Bestand am Anfang des Berichtsjahres 716 (369 M.
347 Fr.). Zugang 200 (108 M. 92 Fr.). Abgang 149 (67 M. 82 Fr.). Bleibt
Bestand 767 (410 M. 367 Fr.), davon 43 in Familienpflege. Von den Aufgenomme¬
nen litten an einfacher Seelenstörung 101 (46 M. 66 Fr.), paralytischer Seelen -
Störung 12 (11 M. 1 Fr.), Imbezillität 12 (7 M. 6 Fr.), Idiotie 42 (26 M. 17 Fr.),
Epilepsie mit Seelenstörung 13 (6 M. 7 Fr.), Hysterie 3 Fr., Alkoholismus 6 (3 M.
2 Fr.). Von den 101 mit einfacher Seelenstörung behafteten Kranken litten 38
an Dementia praecox (23 M. 16 Fr.), halluzinatorischer Verrücktheit 23 ( 9 M.
14 Fr.), 12 (7 M. 6 Fr.) an manisch-depressivem Irresein. Heredität bei 68 (41 M.
27 Fr.). Krankheitsdauer vor der Aufnahme bei 23 (8 M. 16 Fr.) bis zu 1 Monat,
Zeitschrift flir Psychiatrie. LXIX. Lit. X
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
bei 32 (20 M. 12 Fr.) über 1 bis 6 Monate, bei 13 (7 M. 6 Fr.) 6 bis 12 Monate,
bei 11 (3 M. 8 Fr.) 1 bis 2 Jahre, bei 39 (29 M. 10 Fr.) 2 bis 6 Jahre, sonst
5 bis 45 Jahre. Ursächliche Einwirkungen wurden bei 138 Kranken (72 M. 66 Fr.)
festgestellt, Alkoholmißbrauch war 15 mal, Lues 10 mal, Kopfverletzung 4 mal,
psychische Erregung 9 mal Krankheitsursache. Mit dem Strafgesetz waren in
Konflikt gekommen 23 (18 M. 6 Fr.). Zur Beobachtung aufgenommen 9 (8 M.
1 Fr.). Entlassen 149 (67 M. 82 Fr.), davon geheilt 16 (9 M. 7 Fr.), gebessert 28
(11 M. 17 Fr.), ungeheilt 22 (11 M. 11 Fr.). Die 16 geheilt Entlassenen waren
bis zur Höchstdauer von 2 Jahren in der Anstalt behandelt. Gestorben 72 =
7,68 % aller verpflegten Kranken. Tuberkulose war 8 mal Todesursache, Alters¬
schwäche 9 mal und Hirnlähmung 13 mal.
Die Zahl der Geisteskranken, Idioten und Epileptischen ist in der Provinz
Brandenburg (118) um 482 angewachsen. Am 31. Dezember 1909 betrug
der Krankenbestand in den 9 Provinzial-Anstalten (Eber'swalde, Sorau,
Landsberg, Neuruppin, Teupitz, Wittstock, Lübben,
Wilhelmstift, Anstalt für Epileptische) 7763 (4028 M.
3726 Fr.), davon in Familienpflege 323 (161 M. 162 Fr.) und in Privat-Anstalten
193 (139 M. 54 Fr.). Zugang 2462 (1406 M. 1046 Fr.). Abgang 1977 (1135 M.
842 Fr.). Bleibt Bestand 8260 (4319 M. 3941 Fr.), davon in Familienpflege 340
(166 M. 174 Fr.). Nach § 81 St.-P.-O. wurden aufgenommen 22, davon waren
7 für ihre Handlungen verantwortlich und wurden bestraft. Zahlreiche Verlegungen
von Kranken von einer Anstalt in eine andere waren erforderlich. Da die Anstalt
Teupitz die Normalbelegung bereits erreicht hat, werden die Anstalten bis zur
Errichtung von Neubauten wieder stärker belegt sein, als wünschenswert ist. Die
Gesamtdurchschnittsdauer der Anstaltspflege eines entlassenen Kranken betrug
356 bzw. 502 Tage. Von den Entlassenen zeigen die epileptischen Frauen die längste
durchschnittliche Dauer der Anstaltspflege, die geisteskranken Epileptiker weisen
eine etwas kürzere Durchschnittsdauer der Anstaltspflege auf als im Vorjahre,
bedürfen aber doch eines verhältnismäßig langen Anstaltsaufenthaltes. Sie werden
in der Beziehung nur übertroffen von den Idioten und Imbezillen. Mit die kürzeste
Dauer der Anstaltspflege fällt der Paralyse zu, meistens wenig über 1 Jahr. Ent¬
lassen sind im ganzen als geheilt bzw. gebessert 677 (393 M. 284 Fr.), ungeheilt
154 (78 M. 76 Fr.), andern Anstalten überwiesen 346 (235 M. 111 Fr.), in Fa¬
milienpflege gegeben 140 (66 M. 84 Fr.). Gestorben 660 (373 M. 287 Fr.).
Teupitz (202): Bestand am 31. Dezember 1909: 1020 (612 M. 508 Fr.).
Zugang 661 (375 M. 286 Fr.). Abgang 481 (281 M. 200 Fr.). Bleibt Bestand
1200 (606 M. 694 Fr.). Von den Aufgenommenen litten an einfacher Seelenstörung
341 (130 M. 211 Fr.), an Paralyse 152 (107 M. 46 Fr.), Idiotie und Imbezillität 47
(31 M. 16 Fr.), Seelenstörung mit Epilepsie 27 (20 M. 7 Fr.), Alkoholismus 92
(85 M. 7 Fr.). Nicht geisteskrank waren 2 Männer. 22 % der männlichen Auf¬
nahmen waren Trinker. Heredität bei 20 % der Aufnahmen, und zwar 22,5 %
bei einfacher Seelenstörung, 9 % bei Paralyse, 30 % bei Idiotie und Imbezillität.
22 % bei Epilepsie und 23 % bei Alkoholismus. Es wurden entlassen als geheilt
bzw. gebessert 224 (127 M. 97 Fr.), ungeheilt 20 (9 M. 11 Fr.). In andere An-
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Grütter, Anstal tswesen and Statistik.
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st<en überführt worden 98 (63 M. 36 Fr.). Gestorben 139 (82 M. 57 Fr.).
Paralyse war 64 mal (40 M. 14 Fr.), Tuberkulose 13 mal (7 M. 6 Fr.) Todes¬
ursache. Ein Haus für 50 unruhige Kranke ist begonnen und im Rohbau fertig.
Die fortlaufende Untersuchung der Strausberger Korrigenden auf ihren Geistes¬
zustand führte 49 derselben als Kranke der Anstalt zu. Von diesen waren 20
chron. Alkoholisten, 11 Idioten oder Imbecille, 11 litten an Jugendirresein,
2 an Epilepsie mit Schwachsinn, einer an Paralyse, 4 an Altersblödsinn. Bei über
der Hälfte der Kranken bestand erbliche Belastung. Ein Rückblick über die
bisherige Entwicklung der Anstalt ist dem Jahresberichte beigegeben. Die Ein¬
richtungen der Anstalt haben sich im ganzen bisher gut bewährt. Schottische
Nachtwache mit y 4 jähriger Dauer. Die einsame Lage der Anstalt, 4 km von der
Eisenbahn, hat den Bau sehr verteuert und ist ungünstig für die Beamten, aber
günstig für die Kranken. Die vorzeitige Belegung der Anstalt mit Kranken hat
sich bewährt. Eigene Schlächterei. Im Wärterdorf 62 Wohnungen.
Landsberg a. W. (156): Bestand am 31. Dezember 1909 : 991 (627 M.
464 Fr.). Zugang 311 (188 M. 123 Fr.). Abgang 243 (138 M. 106 Fr.). Bleibt
Bestand 1069 (677 M. 482 Fr.). In Familienpflege am 31. Dezember 1910: 47
(27 M. 20 Fr.). Ein Fall von Typhus bei einer 37 jährigen Kranken, die seit
13 Jahren in der Anstalt war. Bakteriologische Untersuchung der Umgebung
blieb erfolglos. Im Bau begriffen sind ein Haus für 60 unruhige Kranke und ein
Haus für Bäder und Laboratorium. Entlassen sind als geheilt bzw. gebessert 71
(38 M. 33 Fr.), ungeheilt 13 (7 M. 6 Fr.); andern Anstalten überwiesen 30
(24 M. 6 Fr.), in Familienpflege gegeben 22 (12 M. 10 Fr.), gestorben 107
(67 M. 60 Fr.).
Dalldorf (128): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 3168 (1770 M.
1398 Fr.). Zugang 1289 (841 M. 448 Fr.). Abgang 1266 (871 M. 395 Fr.).
Bleibt Bestand 3191 (1740 M. 1451 Fr.), davon in der Hauptanstalt 1136 (645 M.
491 Fr.), in der Idiotenanstalt 169 (118 M. 51 Fr.), in Privatanstalten 1487 (760 M.
737 Fr.). Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 678 (268 M. 310 Fr.),
an paralytischer Seelenstörung 157 (119 M. 38 Fr.), an Seelenstörung mit Epi¬
lepsie und Hysterie 46 (35 M. 10 Fr.), an Idiotie und Imbezillität 166 (96 M.
70 Fr.), an chronischem Alkoholismus 310 (295 M. 16 Fr.). Von den neu aufge¬
nommenen Kranken waren mit dem Strafgesetz in Konflikt geraten 237 (226 M.
11 Fr.), gewohnheitsmäßig dem Alkoholmiflbrauch ergeben 381 (366 M. 16 Fr.).
Zur Beobachtung des Geisteszustandes 33 (28 M. 5 Fr.). Entlassen wurden als
geheilt oder gebessert 620 (461 M. 169 Fr.), ungeheilt 287 (197 M. 90 Fr.). Ge¬
storben 326 (186 M. 141 Fr.), davon an Tuberkulose 19 (9 M. 10 Fr.), an Him-
krankheiten 68 (48 M. 20 Fr.), an Herzschlag 123 (74 M. 49 Fr.), Suizid be¬
gingen 4 Kranke (1 M. 3 Fr.). Beschäftigt durchschnittlich 263 Kranke. Die
Selbstkosten für den Tag und Kopf eines Kranken 2,73 M.
Herzberge (415): Bestand am 1. April 1910: 1747 (1042 M. 706 Fr.).
Zugang 2247 (1793 M. 464 Fr.). Abgang 2245 (1832 M. 413 Fr.). Bleibt Bestand
1749 (1003 M. 746 Fr.), davon in der Hauptanstalt 1233 (732 M. 601 Fr.), in
Privatanstalten 392 (193 M. 199 Fr.), in Familienpflege 124 (78 M. 46 Fr.). Vom
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
Zugang litten an einfacher Seelenstörung 1662 (1316 M. 346 Fr.), an paralytischer
Seelenstörung 165 (116 M. 40 Fr.), an Seelenstörung mit Epilepsie und Hysterie 199
(167 M. 32 Fr.), an Idiotie und Imbezillität 147 (118 M. 29 Fr.), zur Beobachtung
kamen 23 (22 M. 1 Fr.). Mit dem Strafgesetz in Konflikt geraten waren von den
neu aufgenommenen Kranken 843 (810 M. 33 Fr.), gewohnheitsmäßig dem Al-
koholmißbrauch ergeben 1182 (1166 M. 27 Fr.). Geheilt und gebessert 1412
(1261 M. 161 Fr.), ungeheilt 472 (340 M. 132 Fr.). Gestorben 261 (107 M.
144 Fr.), davon an Herzschwäche 102 (84 M. 18 Fr.), Tuberkulose 26 (8 M. 17 Fr.)
Hirnkrankheiten 13 (6 M. 7 Fr.), im paralytischen Anfall 6 Frauen. Durchschnitt¬
lich beschäftigt täglich 688 (417 M. 171 Fr.). Mit Bettruhe wurden — abgesehen
von 187 wegen Störungen auf körperlichem Gebiet Bettlägerigen — täglich durch¬
schnittlich 167 Kranke (49 M. 108 Fr.) behandelt. Eine praktische Ausbildung
eines Teiles des älteren Pflegepersonals in der Pflege chirurgisch oder infektiöser
Kranken findet in einem andern städtischen Krankenhause statt, wodurch eine
erhebliche Verbesserung der Leistungsfähigkeit bei dem Personal erwartet wird.
Buch (123): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 1816 (901 M. 914 Fr.).
Zugang 1692 (979 M. 613 Fr.), Abgang 1212 (764 M. 448 Fr.). Bleibt Bestand
2196 (1116 M. 1079 Fr.), davon in der Hauptanstalt 1719 (866 M. 863 Fr.), in
Privatanstalten 396 (213 M. 182 Fr.), in Familienpflege 81 (37 M. 44 Fr.). Vom
Zugang litten an einfacher Seelenstörung 407 (197 M. 210 Fr.), an paralytischer
Seelenstörung 306 (137 M. 168 Fr.), an Seelenstörung mit Epilepsie und Hysterie
70 (32 M. 38 Fr.), Imbezillität und Idiotie 136 (97 M. 39 Fr.), chronischem Al¬
koholismus 266 (269 M. 6 Fr.). Zur Beobachtung kamen 13 Männer. Mit dem
Strafgesetz in Konflikt geraten waren 363 (343 M. 20 Fr.), gewohnheits¬
mäßig dem Alkoholmißbrauch ergeben 266 (269 M. 6 Fr.). Geheilt oder gebessert
640 (368 M. 172 Fr.), ungeheilt 199 (113 M. 86 Fr.). Gestorben 264 (166 M.
99 Fr.), davon an Herzkrankheiten 76 (46 M. 31 Fr.), an Hirnkrankheiten 30
(17 M. 13 Fr.), an Tuberkulose 29 (16 M. 13 Fr.), im paralytischen Anfall 37
(34 M. 3 Fr.). Das 2. Verwahrungshaus für 78 kriminelle Männer und das dazu
gehörige Familien- und Pflegerhaus wurde im Berichtsjahre eröffnet. Das Haus
ist der erweiterte Typ des alten Verwahrungshauses. Im Obergeschoß 40 Betten,
im Untergeschoß 38, neben Lazarettzimmer eine größere Zahl fester Einzelräume
(Zellen). 24 Pfleger inklusive 1 Oberpfleger und 1 Stellvertreter. In den 28 Einzel¬
räumen werden die Patienten beschäftigt; auch haben sie darin Bett, Stuhl, Nacht¬
tisch.
W u h 1 g a r t e n (212): Bestand am 1. April 1910: 1652 (991 M. 661 Fr.).
Zugang 828 (649 M. 179 Fr.). Abgang 866 (683 M. 182 Fr.). Bleibt Bestand
1516 (957 M. 668 Fr.), davon in der Hauptanstalt 1177 (667 M. 610 Fr.), in der
Idiotenanstalt 80 (48 M. 32 Fr.), in Privatanstalten 242 (227 M. 16 Fr.), in
Familienpflege 16 (16 M. 1 Fr.). Von den Aufgenommenen litten an einfacher
Seelenstörung 11 (8 M. 3 Fr.), an paralytischer Seelenstörung 4 Männer, an
Seelenstörung mit Epilepsie 688 (622 M. 166 Fr.), an hysterischer Seelenstörung
47 (39 M. 8 Fr.), an Idiotie und Imbezillität 19 (18 M. 1 Fr.), an chronischem
Alkoholismus 43 Männer. Zur Beobachtung kamen 13 (12 M. 1 Fr.). Mit dem
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Grütter, Anstaltswesen und Statistik.
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Strafgesetz in Konflikt geraten waren 409 (402 M. 7 Fr.), gewohnheitsmäßig dem
Alkoholmißbrauch ergeben 420 (413 M. 7 Fr.). Geheilt oder gebessert 731 (679 M.
162 Fr.), ungeheilt 34 Männer. Gestorben 87 (68 M. 29 Fr.), davon an Tuber¬
kulose 17 (9 M. 8 Fr.), im epileptischen Anfall 16 (12 M. 3 Fr.). Durchschnitt¬
lich beschäftigt 436. Typhus bei 2 Kranken und 2 Pflegerinnen mit leichtem
Verlauf. Diphtherieepidemie, bei der eine Pflegerin als Bazillenträgerin entdeckt
wurde. Lugol sehe Lösung wurde mit Erfolg zur Entfernung der Bazillen gebraucht.
Das am Schluß des Vorjahres im Bau angefangene Vierfamilienhaus für Ober¬
pfleger und Diener ist fertiggestellt und bezogen.
Haus Schönow (144): Bestand am 1. Januar 1910:110 (64 M. 46 Fr.).
Zugang 762 (471 M. 291 Fr.). Abgang 772 (476 M. 296 Fr.). Bleibt Bestand 100
(69 M. 41 Fr.). Geheilt bzw. gebessert entlassen 76,2 % (76,7 % Männer und
76,3 % Frauen), ungebessert bzw. gestorben 23,8 % (23,3 % Männer und 24,7 %
Frauen). Gestorben 3 (1 M. 2 Fr.). Durchschnittliche Verpflegungsdauer für
den einzelnen Kranken 61 Tage. Zur Behandlung kamen 1,8 % peripherische
Nerven- und Muskelkrankheiten, 9,6 % organische Erkrankungen des Zentral¬
nervensystems, 77,2 % Neurosen, 10,1 % Psychosen, 1,4 % innere Krankheiten.
Die Poliklinik wurde von 110 Kranken besucht.
Dziekanka (131): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 678 (364 M
314 Fr.). Zugang 167 (83 M. 84 Fr.). Abgang 137 (67 M. 70 Fr.). Bleibt
Bestand 708 (380 M. 328 Fr.). Von den Aufgenommenen litten an Manie 6 (1 M.
4 Fr.), Melancholie 8 (1 M. 7 Fr.), manisch-depressivem Irresein 5 (2 M. 3 Fr.),
Paranoia acuta 1 M., Alkoholismus 7 M., Psychosis period. 8 (2 M. 6 Fr.), De¬
mentia praecox 62 (27 M. 36 Fr.), Amentia acuta 8 (2 M. 6 Fr.), Dementia et
Paranoia chronica 10 (4 M. 6 Fr.), Dementia paralytica 16 (14 M. 1 Fr.), Geistes¬
krankheit nach Kopfverletzung 7 Männer, Idiotie und Imbezillität 12 (8 M. 4 Fr.),
Epilepsie mit Seelenstörung 3 (1 M. 2 Fr.), hysterischer Seelenstörung 6 Frauen.
Nicht geisteskrank waren 2 Männer. Krankheitsdauer vor der Aufnahme bei 39
(9 M. 30 Fr.) bis zu 1 Monat, bei 16 (6 M. 10 Fr.) bis zu 2 Monaten, bei 6(2 E
4 Fr.) bis zu 3 Monaten, bei den übrigen Aufnahmen 6 Monate und darüber. Heredi¬
tät bei 64 (30 M. 24 Fr.) = 32 %. Mit dem Strafgesetz in Konflikt geraten waren
19 (16 M. 3 Fr.). Zur Beobachtung 6 Männer. Entlassen als geheilt 23 (12 M.
11 Fr.), als gebessert 40 (18 M. 22 Fr.), ungeheilt 33 (12 M. 21 Fr.), nicht geistes¬
krank 2 Männer. Gestorben sind 39 (23 M. 16 Fr.). Es starben an Tuberkulose
8 (4 M. 4 Fr.), an Paralyse 12 (10 M. 2 Fr.), Suizid 1 Mann. Durchschnittlich
beschäftigt 40 % der Kranken. Gesamtausgabe 386 083,11 M., pro Kopf und Jahr
666,64 M.
Kosten (162): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 763 (396 M. 368
Fr.). Zugang 82 (63 M. 29 Fr.). Abgang 86 (61 M. 34 Fr.). Bleibt
Bestand 760 (397 M. 363 Fr.), darunter jugendliche (minderjährige Idioten
und Epileptiker) 208 (129 M. 79 Fr.). Vom Zugang litten an ein¬
facher Seelenstörung 11 (6 m. 6 w.), an Epilepsie und Hysteroepilepsie
22 (16 m. 6 w.), Idiotie und Imbezillität 40 (26 m. 14 ,w.), Idiotie und
Imbezillität mit Epilepsie 6 (2 M. 3 Fr.). Heredität bei 24 der Aufgenomme-
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
nen. Krankheitsdauer vor der Aufnahme bei 3 (1 m. 2 w.) bis 1 Monat, be i
(3 m. 3 w.) 1 bis 6 Monate, bei 4 (3 m. 1 w.) 1 bis 2 Jahre, bei 63 (41 m. 22 *.
mehr als 2 Jahre. Mit dem Strafgesetz in Konflikt geraten 16 (13 m. 2 w.). Trank-
Sucht als Krankheitsursache bei 2 (1 m. 1 w.). Entlassen geheilt 8 (5 m. 3 v«.
gebessert 19 (10 m. 9 w.), ungeheQt 22 (16 m. 7 w.), nicht geisteskrank 4 (4 5L.
Gestorben 32 (17 m. 16 Fr.). Tuberkulose war in 34 % der Todesfälle Ted«-
ursache. Die Gesamtausgaben haben betragen 366 179,92 M. Die Unterhaltungs¬
kosten betrugen pro Kopf und Jahr 463,77 M.
Obrawalde (173): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 862 (436 M.
426 Fr.). Zugang 147 (85 M. 62 Fr.). Abgang 127 (67 M. 60 Fr.). Ble's
Bestand 882 (464 M. 428 Fr.). Es litten an einfacher Seelenstörung 110 (57 M.
63 Fr.), an paralytischer Seelenstörung 12 (11 M. 1 Fr.), an alkoholischer Seekt-
störung 3 Männer, an epileptischer Seelenstörung 8 (7 M. 1 Fr.), an hysterisch«
Seelenstörung 5 Fr., an Imbezillität und Idiotie 4(2 E 2 Fr.). Nicht geisteskrank
waren 5 Männer. Krankheitsdauer vor der Aufnahme bei 33 (19 M. 14 Fr.) bis
1 Monat, bei 18 (8 M. 10 Fr.) bis 2 Monate, bei 4 (1 M. 3 Fr.) bis 3 Monat»
bei 11 (6 M. 6 Fr.) bis 6 Monate, bei 3 (1 M. 2 Fr.) bis 8 Monate, bei 14 (9 M.
6 Fr.) bis 12 Monate, bei den übrigen 2 Jahre und darüber. Angeboren war d>
Krankheit bei 6 (3 M. 3 Fr.). Heredität bei 56 (30 M. 26 Fr.). Mit dem Straf¬
gesetz waren in Konflikt gekommen 30 (26 M. 4 Fr.). Zur Beobachtung gemäi
§ 81 Str.-Pr.-O. kamen 6 Männer, davon waren 3 nicht geisteskrank. Entlass«
wurden als geheilt 23 (10 M. 13 Fr.), gebessert 24 (16 M. 8 Fr.), ungeheih 21
(14 M. 7 Fr.). Gestorben sind 64 (22 M. 32 Fr.), davon an Tuberkulose l s
(7 M. 11 Fr.), an Paralyse 6 (4 M. 1 Fr.), Der Prozentsatz der Todesfälle betrar
6,3 % der Verpflegten, davon 30 % Tuberkulose. Der erste Erweiterungsbau t*
im Berichtsjahre weiter gefördert worden, der zweite Erweiterungsbau wurdr
begonnen. Gesamtausgabe 444 888,60 M., pro Kopf und Jahr 608,34 M.
Owinsk (175): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 699 (326 1L
373 Fr.). Zugang 233 (130 M. 103 Fr.). Abgang 182 (110 M. 72 Fr.). Bleib:
Bestand 760 (346 M. 404 Fr.). Von den Aufgenommenen litten an Melanchoii«
13 (3 M. 10 Fr.), Dementia paralytica 16 (13 M. 2 Fr.), Paranoia 53 (30 1L
23 Fr.), Dementia praecox 66 (31 M. 26 Fr.), Manie 20 (9 M. 11 Fr.), Alkohobs-
mus 10 (9 M. 1 Fr.), Epilepsie mit Seelenstörung 11 (6 M. 6 Fr.), Hysterie mit
Seelenstörung und Hysteroepilepsie 6 (1 M. 6 Fr.), an Imbezillität und Idiotie 13
(12 M. 3 Fr.). Es waren nicht geisteskrank 3 Männer. Krankheitsdauer vor <kr
Aufnahme bei 65 (30 M. 25 Fr.) 1 Monat, bei 24 (14 M. 10 Fr.) 2 Monate, fc»
16 (6 M. 9 Fr.) 3 Monate, bei 21 (10 M. 11 Fr.) 3—6 Monate, bei 25 (10 V.
15 Fr.) 6—12 Monate, bei den übrigen 2 Jahre und darüber. Heredität bei 3f
(17 M. 19 Fr.) = 16,6%. Mit dem Strafgesetz in Konflikt geraten waren 2'
(25 M. 2 Fr.). Zur Beobachtung nach § 81 Str.-Pr.-O. kamen 4 Männer. Ent¬
lassen sind als geheilt 39 (28 M. 11 Fr.), als gebessert 67 (33 M. 24 Fr.), unge-
heilt 30 (21 M. 9 Fr.). Gestorben sind 63 (25 M. 28 Fr.), davon an Tuber¬
kulose 13 (6 M. 7 Fr.). Ein Typhusfall unbekannter Genese. Gesamtausgabe
384 482,56 M., pro Kopf und Jahr 629,25 M.
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Grütter, Anstaltswesen und Statistik.
339*
Breslau (120): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 194 (109 M.
85 Fr.). Zugang 874 (689 M. 286 Fr.). Abgang 877 (697 M. 280 Fr.). Bleibt
Bestand 191 (101 M. 90 Fr.). Vom Zugang litten an einfach erworbenen Psy¬
chosen 211 (104 M. 107 Fr.), an konstitutionellen Psychosen 60 (34 M. 26 Fr.),
an epileptischen Formen 127 (87 M. 40 Fr.), an alkoholischen und andern Intoxika¬
tionspsychosen 283 (249 M. 34 Fr.), an paralytischen, senilen und sonstigen
organischen Geisteskrankheiten 196 (120 M. 76 Fr.). Vermindert waren die Auf¬
nahmen von alkoholischen und andern Intoxikationspsychosen, sowie die Zahl
der Paralytiker. Eine Zunahme zeigen die geisteskranken Verbrecher, die wieder¬
holt komplottierten und ausbrachen, so daß vor 6 Einzelzimmern komplizierte
Verschlüsse angebracht werden mußten. Vom Abgang wurden geheilt 216 (= 20%),
gebessert 308 (= 28,8 %), ungeheilt 258 (= 24,1 %). Gestorben sind 81 (= 7,6 %).
Nicht geisteskrank 1,3 %. Die Familienpflege hat keine Zunahme erfahren. Der
Wechsel des Wartepersonals hat sich ganz erheblich vermindert. 4 Pflegerwohnun¬
gen wurden eingerichtet und bezogen.
B r i e g (121): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 643 (278 M. 266 Fr.).
Zugang 110 (36 M. 75 Fr.). Abgang 81 (33 M. 48 Fr.). Bleibt Bestand 672
(280 M. 292 Fr.), davon in FamiJienpflege 44 (24 M. 20 Fr.). Vom Zugang litten
an einfacher Seelenstörung 79 (20 M. 59 Fr.) = 74,63 %, an paralytischer Seelen¬
störung 12 (8 M. 4 Fr.) = 11,32 %, an Epilepsie mit Seelenstörung 8 (4 M. 4 Fr.)
= 7.65%, an Imbezillität, Idiotie 7 (1 M. 6 Fr.) = 6.6%. Nicht geisteskrank
waren 4 (2 M. 2 Fr.). Krankheitsdauer vor der Aufnahme bis zu 1 Monat bei 14
(3 M. 11 Fr.), 1—8 Monate bei 19 (6 M. 13 Fr.), 6—12 Monate bei 13 (4 M.
9 Fr.), 1—2 Jahre bei 15 (4 M. 11 Fr.), 2—5 Jahre bei 13 (4 M. 9 Fr.), 6—10
Jahre bei 10 (6 M. b Fr.), über 10 Jahre bei 11 (4 M. 7 Fr.), von Jugend auf bei
7 (1 M. 6 Fr.). Heredität war bei 45,28 % der Aufnahmen Krankheitsursache,
Trunksucht 4 mal (1 M. 3 Fr.), Lues 4 mal (3 M. 1 Fr.). Mit dem Strafgesetz
in Konflikt geraten 14,54 % der Aufnahmen. Entlassen geheilt 4 (2 M. 2 Fr.),
gebessert 22 (10 M. 12 Fr.), ungeheilt 26 (7 M. 19 Fr.). Gestorben 24 (11 M.
13 Fr.). Paralyse war 4 mal (4 M.), Tuberkulose 5 mal (1 M. 4 Fr.), Krebs
2 mal (1 M. 1 Fr.) Todesursache.
Bunzlau (124): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 660 (366 M.
305 Fr.). Zugang 173 (93 M. 80 Fr.). Abgang. 171 (80 M. 91 Fr.). Bleibt
Bestand 662 (368 M. 294 Fr.). 13 der aufgenommenen Männer (=13,9%)
litten an paralytischer Seelenstörung. 6 (= 6,4 %) an Epilepsie mit Seelenstörung.
Von den aufgenommenen Frauen waren 6 (= 6,3 %) paralytisch. Zur Beobachtung
7(4 M. 3 Fr.). Entlassen geheilt 12 (4 M. 8 Fr.), gebessert 21 (10 M. 11 Fr.), un¬
geheilt 6 (2 M. 4 Fr.). Gestorben sind 66 = 7,8% der Gesamtzahl der Ver¬
pflegten, darunter 14 über 70, 4 über 80 Jahre alt. Tuberkulose war 7 mal, Magen¬
karzinom 4 mal, Suizid 1 mal Todesursache. Dysenterie 3 mal. 12 Erkrankungen
an Dysenterie, der Ansteckungsweg wurde nicht aufgedeckt. 3 Typhusfälle (2 Pflege¬
rinnen, 1 Kranker). Der Bestand der 6 Bazillenträgerinnen unverändert. Die
weibliche Familienpflege wurde um 20 Plätze erweitert. Bezogen wurde das neue
Direktorwohnhaus und ein neues Arzthaus. — Gesamtausgabe 395 493,49 M.
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340 *
Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
F r e i b u r g (Schlesien) (137): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres Ti
(347 M. 376 Fr.). Zugang 127 (66 M. 72 Fr.). Abgang 85. Bestand am En*
des Berichtsjahres 731 (341 M. 390 Fr.). Vom Zugang litten an einfacher Seeles¬
störung 63 (27 M. 36 Fr.), an Idiotie 11 (4 M. 7 Fr.), an Idiotie mit Epilepsie! 1
(4 M. 6 Fr.), an Imbezillität 8 (4 M. 4 Fr.), Imbezillität mit Epilepsie 1 (1 Fr.,
an Epilepsie 27 (14 M. 13 Fr.), an Dementia paralytica 3 Fr. Nicht geistestraii
waren 4 (2 M. 2 Fr.). Krankheitsdauer vor der Aufnahme bei der einfachn
Seelenstörung und der Paralyse bis zu 6 Monaten bei 20 (5 M. 15 Fr.), 3—6 Monat*
bei 9 (1 M. 8 Fr.), 6—12 Monate bei 8 (7 M. 1 Fr.), 1—2 Jahre bei 6 (3 ä
3 Fr.), über 2 Jahre bei 18 (8 M. 10 Fr,.) unbekannt bei 6 (3 M. 2 Fr.). Krank-
heitsdauer bei der Epilepsie 1—3 Jahre bei 8 (6 M. 3 Fr.), 3—10 Jahre bei 7
(4 M. 3 Fr.), 10—20 Jahre bei 12 (8 M. 4 Fr.), über 20 Jahre bei 3 (11L 2 Fr.i
unbekannt bei 1 M. Gehirnentzündung war lmai, Apoplexie 2 mal. Kopfver¬
letzung 7 mal, Potus 1 mal, Lues 1 mal, Haft 2 mal, Laktation, Klimakterium und
Senium je 1 mal Krankheitsursache. Heredität bei 44 (22 M. 22 Fr.). Mit dem
Strafgesetz in Konflikt geraten 22 (19 M. 3 Fr.). Zur Beobachtung 7 (6 M.
1 Fr.). Entlassen 51, davon geheilt 10 (3 M. 7 Fr.), gebessert 23 (18 M. 10 Fr.i.
ungeheilt 18 (9 M. 9 Fr.). Beurlaubt 34 (17 M. 17 Fr.). Gestorben sind 34 (17 51
17 Fr.). Tuberkulose war 4 mal Todesursache. Neu bezogen ein Haus für 45
unruhige Frauen, außerdem 4 Pflegerhäuser, die zum Teil für Familienpfleglüe*
eingerichtet sind.
Kreuzburg (154): Bestand am Anfang des Berichtsjahres 643 (380 51
263 Fr.). Zugang 132 (76 M. 56 Fr.). Abgang 110 (68 M. 42 Fr.). Bleibt
Bestand 665 (388 M. 277 Fr.), davon 13 (10 M. 3 Fr.) in Familienpflege. Von
Zugang litten an einfacher Seelenstörung 91 (44 M. 47 Fr.), an Paralyse 24 (18 JL
6 Fr.), an epileptischer Seelenstörung 6 (5 M. 1 Fr.), an Imbezillität 2 Fr., in
alkoholischer Seelenstörung 3 M. Nicht geisteskrank waren 6 M. Auf Grund d«
§ 81 Str.-Pr.-O. wurden 10 (9 M. 1 Fr.) aufgenommen. Krankheitsdauer vor
der Aufnahme bis zu 1 Monat bei 9 (4 M. 5 Fr.), bis zu 3 Monaten bei 23 (1351
10 Fr.), bis zu 6 Monaten bei 16 (7 M. 9 Fr.), bis zu 1 Jahre bei 16 (12 M. 3 Fr.),
bis zu 2 Jahren bei 34 (17 M. 17 Fr.), bis zu 6 Jahren bei 12 (9 M. 3 Fr.), länger
als 10 Jahre bei 16 (11 M. 5 Fr.), von Kindheit an bei 2 Fr. Von den Entlassene
waren geheilt 13 (8 M. 5 Fr.), gebessert 14 (9 M. 5 Fr.), ungeheilt 18 (12 51
6 Fr.), nicht geisteskrank 6 M. Gestorben 59 (33 M. 26 Fr.), darunter 12 (9 51
3 Fr.) an Paralyse, 10 (3 M. 7 Fr.) an Tuberkulose. Beschäftigung bei den
Männern 33,9 %, bei den Frauen 56 %. Ein Ärztewohnhaus neu bezogen. -
Gesamtausgabe 405 976,98 M.
Leubus (159): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 765 (403 M. 362 Fr.l
Zugang 145 (89 M. 56Fr.). Abgang 167 (84M. 73 Fr.). Bleibt Bestand 763 (408 M.
345 Fr.). An einfacher Seelenstörung litten 100 (60 M. 60 Fr.), an paralytischer Seelen-
störung 22 (20 M. 2 Fr.), an Seelenstörung mit Epilepsie 13 (10 M. 3 Fr.), u
Idiotie und Imbezillität 9 (8 M. 1 Fr.). Krankheitsdauer vor der Aufnahme bis
zu 1 Monat bei 2 Fr., 1—3 Monate bei 16 (7 M. 9 Fr.), 3—6 Monate bei 9 (4 51
5 Fr.), 6—12 Monate bei 20 (11 M. 9 Fr.),über 12 Monate bei 82 (55 M. 27 Fr.i.
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Grütter, Anstaltswesen and Statistik.
341 *
von Kindheit an 8 (7 M. 1 Fr.), unbekannt bei 10 (4 M. 6 Fr.). Nicht geistes¬
krank war 1 (1 M.). Heredität bei 59 (41 M. 18 Fr.) = 40,7 % aller Angenomme¬
nen. Krankheitsursache chronischer Alkoholmißbrauch 10 mal (9 M. 1 Fr.),
Lues 11 mal (10 M. 1 Fr.), Haft 2 mal (2 M.). Mit dem Strafgesetz in Konflikt
geraten 24 (21 M. 3 Fr.) = 16,5 %. Zur Beobachtung 8 (7 M. 1 Fr.). Von den
Entlassenen waren geheilt 0, gebessert 52 (23 M. 29 Fr.),ungeheilt29 (21 M. 8 Fr.).
Gestorben sind 75 (39 M. 36 Fr.) = 8,24 % Mortalität. Tuberkulose war 11 mal
(3 M. 8 Fr.), Typhus 1 mal (1 Fr.), Ruhr 13 mal (6 M. 7 Fr.), Paralyse 24 mal
(18 M. 6 Fr.), Suizid 1 mal (1 Fr.) Todesursache.
Die neue Anstalt war vom April bis Dezember für Aufnahmen gesperrt wegen
einer heftigen Ruhrepidemie. 17,3 %, also fast der 6. Teil der Gestorbenen, sind
an der Ruhr zugrunde gegangen. Erkrankt an Ruhr waren im ganzen 110 Per¬
sonen (39 M. 66 Fr., 5 Pflegerinnen). Ursache 16 Bazillenträger. Alle seit dem
ersten Auftreten der Ruhr erkrankt gewesenen Kranken und Pflegerinnen wurden
in besonderen Häusern isoliert. — 1 Suizid bei einer Kranken, die aus einem Dreh¬
fenster sprang.
In der Pensionsanstalt waren zu Beginn des Berichtsjahres 51 Kranke (24 M.
27 Fr.). Zugang 24 (18 M. 6 Fr.). Abgang 18 (16 M. 2 Fr.). Bleibt Bestand
67. Heredität bei 2 Kranken (1 M. 1 Fr.). Chronischer Alkoholmißbrauch 1 mal,
Lues 2 mal Krankheitsursache. Einfache Seelenstörung bei 18 (12 M. 6 Fr.),
paralytische Seelenstörung bei 6 (6 M.). Entlassen geheilt 1 (1 M.), gebessert 6
(3 M. 2 Fr.), ungeheilt 4 (4 M.), gestorben 8 (8 M.). Paralyse war 5 mal (6 M.).
Suizid 1 mal (1 M.) Todesursache. Gesamtausgabe 527 182,13 M.
Rybnik (184): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 800 (439 M. 361
Fr.). Zugang 226 (79 M. 146 Fr.). Abgang 144 (72 M. 72 Fr.). Bleibt Bestand
881 (446 M. 435 Fr.), davon in Familienpflege 15 Frauen^ Von den Aufgenomme¬
nen litten an Manie, periodischer Manie, zirkulärem Irresein 12 (2 M. 10 Fr.), an
Dementia praecox 18 (6 M. 13 Fr.), Paranoia 36 (17 M. 19 Fr.), Imbezillität,
Degenerationspsychosen 18 (4 M. 14 Fr.), Paralyse 20 (16 M. 4 Fr.), Epilepsie
mit Seelenstörung 23 (7 M. 16 Fr.), Alkoholpsychosen 13 (7 M. 6 Fr.), Amentia
15 (6 M. 9 Fr.), seniler Demenz 15 (3 M. 12 Fr.), Melancholia 22 (3 M. 19 Fr.),
Puerperal- und Laktationspsychosen 14 Fr., traumatischer Neurose5M., hysterisch¬
neu rasthenischer Psychose 4 (1 M. 3 Fr.), nicht geisteskrank waren 3 (2 M. 1 Fr.).
Krankheitsursache waren Schwangerschaft, Entbindung und Stillen 20 mal, Kopf¬
verletzung 6 mal (6 M.), Strafhaft 7 mal (5 M. 2 Fr.), Syphilis 16 mal (12 M.
4 Fr.), Alkoholmißbrauch 21 mal (14 M. 7 Fr.), Überanstrengung 13 mal (7 M.
6 Fr.). Sichere Heredität bei 47 (11 M. 36 Fr.). Mit dem Strafgesetz waren
in schwerere Konflikte gekommen 28 (22 M. 6 Fr.). Von den Entlassenen sind
geheüt 16 (5 M. 11 Fr.), gebessert 40 (20 M. 20 Fr.), ungeheilt 38 (20 M. 18Fr.),
nicht geisteskrank 2 (1 M. 1 Fr.). Gestorben 48 (26 M. 22 Fr.), ungefähr = 5%
der Verpflegten. 8 starben an Paralyse, 4 an Tuberkulose. 12 Paralytiker wurden
mitEhrlich-Hata behandelt, 2 mit sehr günstigem Erfolge. Der Bau eines Männer¬
hauses für 65 Kranke und eines Frauenhauses mit 45 Plätzen wurde erheblich ge¬
fördert, so daß im Laufe des nächsten Jahres Platz für rund 1100 Kranke sein wird.
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342 *
Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
Vollendet und bezogen sind ein dreistöckiges Haus für 85 Frauen sowie 4 Hk*:
für zusammen 18 Pflegerwohnungen. Die Pflegerwohnungen sind gleichzeitig ri-
je 2 oder 3 Familienpfleglinge eingerichtet. Gesamtausgabe 500 218,14 M.
Tost (203): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 592 (271 M. 321 F:
Zugang 142 (87 M. 55 Fr.). Abgang 146 (74 M. 72 Fr.). Bleibt Bestand ra-
schließlich der Beurlaubten 588 (284 M. 304 Fr.). Vom Zugang litten an einfach::
Seelenstörung 100 (52 M. 48 Fr.), an paralytischer Seelenstörung 22 (19 M. 3 Fr. ,
an Epilepsie mit Seelenstörung 4 (4 M.), an Hysterie mit Seelenstörung 1 (1 JL
an Imbezillität und Idiotie 2 (2 Fr.), nicht geisteskrank waren 14 (12 M. 2 Fr
Krankheitsdauer vor der Aufnahme bei 11 (7 M. 4 Fr.) bis zu 1 Monat, bei
(11 M. 9 Fr.) 1—3 Monate, bei 18 (10 M. 8 Fr.) 3—6 Monate, bei 22 (13)1
9 Fr.) 6—12 Monate, bei 16 (11 M. 5 Fr.) 1—2 Jahre, bei 14 (8 M. 6 Fr.) 2-;
Jahre, bei 10 (5 M. 5 Fr.) 6—10 Jahre, bei 13 (8 M. 5 Fr.) über 10 Jahre, bei:
(2 Fr.) von Jugend auf. Heredität bei 31 (16 M. 15 Fr.). Trunksucht wird bei 1'
(12 M. 3 Fr.), Syphilis bei 10 (7 M. 3 Fr.), Unfall 5 mal, Kopfverletzung 2na :
Strafhaft 3 mal, Wochenbett und Stillen 4 mal als Krankheitsursache amgegebe:.
Mit dem Strafgesetz in Konflikt geraten 26 (24 M. 2 Fr.). Zur Beobachtung K
(12 M. 2 Fr.), davon 10 (10 M.) nach § 81 Str.-Pr.-O. Entlassen geheilt IS
(8 M. 4 Fr.), gebessert 21 (8 M. 13 Fr.), ungeheilt. 3 (2 M. 1 Fr.), nicht geistev
krank 1 (1 M.), nach abgeschlossener Beobachtung 16 (13 M. 3 Fr.), in and-T-
Anstalten 63 (25 M. 38 Fr.). Gestorben sind 30 (17 M. 13 Fr.)= 6% al>
Verpflegten. Paralyse war 13 mal (11 M. 2 Fr.), Tuberkulose 7 mal Todesunatii-
In Familienpflege 7 (2 M. 5 Fr.). — Gesamtausgabe 338 713.69 M.
Lüben (164): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 905 (44*) 1t
465 Fr.). Zugang 350 (196 M. 154 Fr.). Abgang 281 (168 M. 113 Fr.). BM
Bestand 974 (468 M. 506 Fr.). Vom Zugang litten an einfacher Seelenstönis:
272 (130 M. 142 Fr.), an paralytischer Seelenstörung 32 (29 M. 3 Fr.), an Im¬
bezillität 10 (7 M. 3 Fr.), an Idiotie 3 (2 M. 1 Fr.), an Epilepsie mit Seele:-
Störung 23 (22 M. 1 Fr.). Hysterie 4 (1 M. 3 Fr.), Alkoholismus 3 (3 M.). Sit-'
geisteskrank 2. Krankheitsdauer vor der Aufnahme bis zu 1 Woche bei 4 (4 M.
bis zu 1 Monat bei 45 (12 M. 33 Fr.), bis zu 3 Monaten bei 44 (25 M. 19 Fr
bis zu 6 Monaten bei 35 (13 M. 22 Fr.), bis zu 1 Jahr bei 39 (18 M. 21 Fr.), bis -
5 Jahren bei 90 (56 M. 34 Fr.), bis zu 10 Jahren bei 28 (20 M. 8 Fr.). iik
10 Jahre bei 30 (20 M. 10 Fr.), von Jugend auf bei 16 (13 M. 3 Fr.), unbekair
bei 17 (13 M. 4 Fr.). Heredität bei 132 (82 M. 50 Fr.) = 37,7 %. Andere 1'
Sachen: Trunksucht bei 33, Syphilis bei 17, Greisenalter bei 16, Apoplexiec ’
Überanstrengung bei 6, Entbindung und Wochenbett bei 5, Arteriosklerose be: t
Gerichtlich vorbestraft 54 (43 M. 11 Fr.). Zur Beobachtung 6. Entlassen gehe.*
61 (40 M. 21 Fr.), gebessert 87 (57 M. 30 Fr.), ungeheilt 24 (19 M. 5 Fr.). t'*-
storben 108 (51 M. 57 Fr.) = 8,6 % des Gesamtbestandes. Tuberkulose
9 mal (4 M. 5 Fr.) Todesursache. — Gesamtausgabe 459 963 M., pro Kopf w
Jahr 512,69 M.
L u b 1 i n i t z (162): Der Bericht umfaßt die Zeit von 1893 bis 1910 und gif
eine Anstaltschronik über diese Jahre. Der Krankenbestand war im Anfang »
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Griltter, Anstaltswesen und Statistik.
343 *
gering, um 300 herum. Zu* und Abgang etwa 60—80. Ende 1904 stieg der
Bestand auf 431, Ende 1906 auf 673, Ende 1909 auf 681, Ende März 1911 auf 841,
und er wird 1912 wohl 1000 erreicht haben. Abgang in den letzten Jahren 360—400
Personen. (Jnter den Aufnahmen viele Unfallverletzte, Kentenempfänger und
invaliden. Zahl der Todesfälle im Durchschnitt 26 bis zum Jahre 1906, von da ab
etwa 40. Tuberkulose seltene Todesursache, meistens Paralyse, Lungenentzündung,
Schlaganfall. Zur Beobachtung gemäß § 81 Str.-Pr.-O. seit 1902 83 Personen.
Zahl der Beschäftigten bei den Männern etwa 60 %, bei den Frauen etwa 46 %. —
Von den in den letzten Jahren entstandenen neuen Gebäuden ist ein neues Männer*
haus (für 180 Kranke) zum Teil mit Gittern versehen, ebenso ein neues Frauenhaus.
Zur Entlastung der Wachsäle sind im Bodenraum des Männerhauses 6 Einzelräume
vorgesehen, „in denen Nachts störende oder fluchtverdächtige Elemente wegge¬
schlossen werden.“ Auf je 10 Kranke 1 Badewanne. Wachplätze und Plätze auf
Bettstationen etwa 60 %. Preis des Bettes sowohl auf der alten wie der neuen
Station 1800 M. Die Familienpflege in Lublinitz ist zurzeit mit 77 Pfleglingen die
umfangreichste in Schlesien. In Schlesien sind im ganzen in Familienpflege 266
Kranke. Nach den Erfahrungen in Lublinitz eignen sich am besten zur Familien¬
pflege Idioten, sekundär Demente, Schwachsinnige, ruhige Paranoiker, chronische
Halluzinanten und Alkoholiker. Unter den Familienpfleglingen eine Schwängerung.
Neustadt in Holstein (170): Bestand am Anfang des Berichtsjahre:
960 (617 M. 433 Fr.). Zugang 179 (76 M. 103 Fr.). Abgang 193 (96 M. 97 Fr.).
Bleibt Bestand 936 (497 M. 439 Fr.), davon in Familienpflege 81 (23 M. 68 Fr.).
Von den Aufgenommenen litten an einfacher Seelenstörung 104 (36 M. 69 Fr.),
an paralytischer Seelenstörung 14 (7 M. 7 Fr.), Imbezillität, Idiotie und Kretinis¬
mus 24 (14 M. 10 Fr.), Epilepsie mit und ohne Seelenstörung 18 (7 M. 11 Fr.),
Hysterie 6 (2 M. 4 Fr.), Chorea 1 Fr., Alkoholismus 5 (4 M. 1 Fr.), nicht geistes¬
krank 7 M. 64 (24 M. 40 Fr.) standen im Alter von 10—20 Jahren, 37 (22 M.
16 Fr.) in dem von 20 bis 30 Jahren, 36 (18 M. 18 Fr.) waren 30—40 Jahre, 19
(11 M. 8 Fr.) 40 bis 50 Jahre, 13 (1 M. 12 Fr.) 60—60 Jahre, 9 Fr. 60—70 Jahre
und 1 Frau zwischen 70 und 80 Jahren alt. Die Qualität der aufgenommenen
Kranken war in dem Berichtsjahr recht ungünstig, von den 70 Männern waren
allein 46 Kriminelle = 69,2 %. von denen 36 dem Festen Hause überwiesen werden
mußten. Es ist deshalb bei der Überfüllung desselben der beschleunigte Neubau
eines weiteren Männerhauses bewilligt. Die Fürsorgezöglinge machen durch ihre
Keizbarkeit, Widersetzlichkeit, Neigung zu Hetzereien und ihren Hang zu Dieb¬
stählen und sexuellen Delikten große Schwierigkeiten. Zur Beobachtung wurden
aufgenommen 11 Männer, davon waren 1 nicht geisteskrank, 4 geistig minder¬
wertig, 1 geisteskrank, die übrigen wurden auf ihre Strafvollzugsfähigkeit beob¬
achtet. Die Zahl der Familienpfleglinge ist von 64 auf 81 (23 M. 68 Fr.) gestiegen.
Entlassen 132 (66 M. 66 Fr.), davon waren geheilt 10 (5 M. 6 Fr.), gebessert 62
(39 M. 23 Fr.), ungeheilt 60 (22 M. 38 Fr.). Gestorben 61 (30 M. 31 Fr.).
Lungenschwindsucht war 11 mal (3 M. 8 Fr.), Gehirnerweichung 6 mal (3 M.
2 Fr.), Darmkatarrh 6 mal (3 M. 2 Fr.) und Darmgeschwüre 4 mal (4 M.) Todes¬
ursache. Gesamtausgabe 568 463.33 M.
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344 * Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
Schleswig (189): Bestand am 1. April 1910: 1054 (567 M. 487 Fr..
Zugang 427 (249 M. 178 Fr.). Abgang 374 (192 M. 182 Fr.). Bleibt Bestaai
1107 (624 M. 483 Fr.). Von den Aufgenommenen litten an einfacher Seefe¬
st örung 341 (184 M. 157 Fr.), paralytischer Seelenstörung 29 (26 M. 3 Fr.
Seelenstörung mit Epilepsie 20 (18 M. 2 Fr.), Imbezillität und Idiotie 37 (21 1L
16 Fr.). Heredität bei 148 (80 M. 68 Fr.). Deprimierende Gemütsaffekte wan*
bei 32 (13 M. 19 Fr.), Trauma bei 6 (5 M. 1 Fr.), Senium bei 9 (7 M. 2 Fr.).
Lues bei 8 (7 M. 1 Fr.), Alkoholismus bei 28 (25 M. 3 Fr.), überanstrengme
bei 6 (5 M. 1 Fr.), Wochenbett und Schwangerschaft bei 4 Fr., Klimakteriaa
bei 3 Frauen Krankheitsursache. Zur Beobachtung kamen 22 (19 M. 3 Fr.:.
Von den Entlassenen waren geheüt 47 (24 M. 23 Fr.), gebessert 122 (67 M. 55 Fr.',
ungeheilt 114 (50 M. 64 Fr.). Gestorben 91 (61 M. 40 Fr.), davon an Lungen¬
tuberkulose 11 (7 M. 4 Fr.), an Paralyse 15 (11 M. 4 Fr.). Durch Suizid endet«
2 M. und 1 Fr. Die Wachsäle zurzeit überfällt, ein neuer Wachsaal eingerichtet.
Besondere Schwierigkeiten machen die weiblichen Fürsorgezöglinge. Gesamt¬
ausgabe 777 016,83 M.
Göttingen (142): Bestand am Anfang des Berichtsjahres 509 (327 5L
182 Fr.). Zugang 342 (218 M. 124 Fr.). Abgang 307 (185 M. 122 Fr..
Bleibt Bestand 544 (360 M. 184 Fr.). Von den Aufgenommenen litten a-
einfacher Seelenstörung 247 (142 M. 106 Fr.), an paralytischer Seefei
Störung 21 (20 M. 1 Fr.), an Epilepsie 15 (14 M. 1 Fr.)* Idiotie 1 M.
Imbezillität 13 (6 M. 7 Fr.), Delirium potat. 1 M., nicht geisteskrank war«: 44
(34 M. 10 Fr.). Die Krankheitsdauer vor der Aufnahme betrug bei 102 (64 M.
38 Fr.) 1—6 Wochen, bei 38 (27 M. 11 Fr.) 3 Monate, bei 29 (19 X
10 Fr.) 3—6 Monate, bei 31 (21 M. 10 Fr.) 1—2 Jahre, bei 47 (26 M. 21 Fr..
2—5 Jahre, bei 52 (34 M. 18 Fr.) über 5 Jahre. Heredität war 162 mal (88 M.
74 Fr.), Lues 21 mal (20 M. 1 Fr.), Alkohol 18 mal (16 M. 3 Fr.), Schlaganfiü
5 mal (3 M. 2 Fr.), Geburt und Schwangerschaft 6 mal, Kopfverletzung bei 3
Männern Krankheitsursache. Zur Beobachtung 23 (22 M. 1 Fr.). Geheilt wurdes
10 (8 M. 2 Fr.), gebessert 136 (76 M. 60 Fr.), ungeheilt 103 (69 M. 44 Fr.l
Gestorben sind 38 (29 M. 9 Fr.), darunter 2 an Lungentuberkulose, 6 an Hm-
schwäche, 1 an Herzruptur. Seit 5 Jahren eine Typhusbazillenträgerin. bei dr
wiederholt der Stuhl frei von Bazillen gefunden wurde, während später vorzt--
nommene Kontrolluntersuchungen immer wieder das erneute Auftreten von Typhus¬
bazillen ergeben. In Familienpflege 69.
II i 1 d e s h e i m (147): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 683 (380 M.
303 Fr.), Zugang 286 (144 M. 142 Fr.). Abgang 283 (166 M. 127 Ft.). Bleibr
Bestand 686 (368 M. 318 Fr.). Von den Aufgenommenen litten an einfach«
Seelenstörung 204 (83 M. 121 Fr.), an Paralyse 31 (26 M. 5 Fr.), an Hyster*
oder Epilepsie mit Seelenstörung 16 (8 M. 8 Fr.), Imbezillität, Idiotie 16 (10 1L
5 Fr.), zur Beobachtung 20 (17 M. 3 Fr.). Krankheitsdauer vor der Aufnahme
bei 78 (18 M. 60 Fr.) unter 3 Monaten, bei 28 (13 M. 16 Fr.) 3—6 Monate, bei £
(18 M. 15 Fr.) 6—12 Monate, bei 61 (31 M. 20 Fr.) 1—2 Jahre, bei 70 (44 1!
26 Fr.) über 2 Jahre, angeboren 16 (10 M. 6 Fr.), nicht geisteskrank 11 (10 M.
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Grötter, Anstaltswesen und Statistik.
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1 Fr.). Als Krankheitsursache ist angegeben Heredität bei 38 (14 M. 24 Fr.),
Haft bei 6 (3 M. 3 Fr.), Trunksucht bei 15 (12 M. 3 Fr.), Syphilis bei 19 M.,
Senium bei 26 (12 M. 14 Fr.), Wochenbett und Laktation bei 8 Fr. Entlassen
wurden als geheilt 17 (4 M. 13 Fr.), gebessert 76 (42 M. 34 Fr.), ungeheilt 38
(20 M. 18 Fr.). Gestorben sind 64 (44 M. 20 Fr.), davon an Paralyse 25 (21 M.
4 Fr.), an Lungentuberkulose 6 Männer = 9,37 % aller Todesfälle, von denen
1 bereits vor der Aufnahme erkrankt war.
Lüneburg (165): Bestand am Anfang des Berichtsjahres 949 (486 M.
463 Fr.). Zugang 365 (191 M. 164 Fr.). Abgang 340 (171 M. 169 Fr.). Bleibt
Bestand 964 (506 M. 458 Fr.). Von den Aufgenommenen litten an einfacher
Seelenstörung 219 (104 M. 115 Fr.), an paralytischer Seelenstörung 19 (12 M.
7 Fr.), an Epilepsie mit Seelenstörung 29 (13 M. 16 Fr.), an Imbezillität und Idiotie
29 (20 M. 9 Fr.), an Alkoholismus 13 (12 M. 1 Fr.), zur Beobachtung 34 (27 M.
7 Fr.). Krankheitsdauer vor der Aufnahme bei 95 (51 M. 44 Fr.) unter 3 Monaten,
bei 44 (23 M. 21 Fr.) 3—6 Monate, bei 31 (14 M. 17 Fr.) 6—12 Monate, bei 62
(34 M. 18 Fr.) 1—2 Jahre, bei 89 (40 M. 49 Fr.) über 2 Jahre, bei 27 (19 M.
8 Fr.) angeboren. Rückfällig waren 60 (32 M. 18 Fr.). Heredität war 99 mal
(53 M. 46 Fr.), Alkoholmißbrauch 32 mal (27 M. 6 Fr.), Syphilis 18 mal (15 M.
3 Fr.), Trauma 6 mal (6 M.), Schwangerschaft und Wochenbett 4 mal Krankheits¬
ursache. Entlassen sind 248 (133 M. 116 Fr.), davon als geheilt 14 (10 M. 4 Fr.),
gebessert 109 (49 M. 60 Fr.), ungeheilt 113 (63 M. 60 Fr.), nicht geisteskrank 13
(12 M. 1 Fr.). Gestorben sind 90 (37 M. 63 Fr.), davon an Paralyse 17 (12 M.
5 Fr.), an Tuberkulose 11 (6 M. 6 Fr.), an Altersschwäche 11 (2 M. 9 Fr.).
Gesamtausgabe 1 389 768,70 M. Die Rittergüter Brockwinkel und Reppenstedt
wurden in Pacht genommen, so daß das Gelände der Anstalt, das bisher 1044
Morgen betrug, auf das Doppelte angewachsen ist. Davon stehen zum eigentlichen
Ackerbau der Anstalt nunmehr 1370 Morgen zur Verfügung. 3 große Fischteiche
wurden neu angelegt.
Langenhagen (167): Gesamtbestand 841 (499 m. 342 w.). Zugang
640 (330 m. 210 w.). Abgang 600 (312 m. 188 w.). Bleibt Bestand 881 (617 m.
364 w.).
In der Provinzial-Heil- und Pflege-Anstalt für Geistesschwache war der Be¬
stand am Beginn des Berichtsjahres 763 (434 m. 329 w.). Zugang 111 (58 m.
53 w.). Abgang 96 (72 m. 24 w.). Bleibt Bestand 778 (420 m. 368 w.). Epi¬
leptiker waren am Beginn des Berichtsjahres 112 (63 m. 49 w.) in der Anstalt.
Zugang 6, Abgang 14, bleibt Bestand 104 (66 m. 48 w.). Von den Aufgenomme-
nen litten an Idiotie 66 (42 m. 24 w.) = 69,5 %, an Imbezillität 46 (16 m. 29 w.)
= 40,5 %. Epilepsie war bei 7 (4 m. 3 w.), Lues hered. bei 1 (w.), Kretinismus
bei 1 (w.), Hydrocephalus bei 9 (4 m. 5 w.), Mikrocephalie bei 8 (w.) vorhanden.
Die Sprache war nur in einzelnen Lauten oder gar nicht vorhanden bei 21 (13 m.
8 w.) = 19 %. Hereditäre Belastung war nachgewiesen bei 69 (28 m. 31 w.) =
53.1 %. Potus des Vaters wird in 14 Fällen (9 m. 6 w.), Potus des Großvaters
in 14 Fällen (8 m. 6 w.), Tuberkulose in der Familie in 8 (3 m. 6 w.), Blutsver¬
wandtschaft der Eltern in 4 (1 m. 3 w.), Trauma in 3 (2 m. 1 w.), Lues der
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
Eltern bei 1 (w.) angegeben. Entlassen wurden 96 (72 m. 24 w.), davon gebess«! 7
(4 m. 3 w.), nicht gebessert 61 (50 m. 11 w.). Jeder der während des Beriekts-
jahres Abgegangenen ist im Durchschnitt 5 Jahre verpflegt worden. Gestorb«
sind 28 = 3,6 % der Verpflegten. In 6 Fällen war Tuberkulose Todesunad*
In der Filial-Anstalt zu Himmelsthür war der Anfangsbestand 48. Zugang 37.
Abgang durch Tod 3. Bleibt Bestand 82.
Zugang in der Beobachtungsstation 428 (271 M. 157 Fr.). Es litten «
einfacher Seelenstörung 221 (110 M. 111 Fr.), Paralyse 40 (32 M. 8 Fr.). Epi¬
lepsie 32 (27 M. 5 Fr.), Imbezillität 22 (12 M. 10 Fr.), Alkoholdelirium 87 (78 M.
9 Fr.), Morphinismus 1 M., Hysterie 18 (6 M. 13 Fr.), nicht geisteskrank tram
6 M. Heredität in 166 Fällen (102 M. 54 Fr.), Lues in 20 (17 M. 3 Fr.i. Al¬
kohol in 108 (98 M. 10 Fr.), Trauma in 14 (11 M. 3 Fr.), Haft in 13 (10 M. 3 Fr. l
A lter in 44 (19 M. 25 Fr.), Puerperium in 11 Fällen Krankheitsursache. Von d«
Aufgenommenen kamen 151 in eine Anstalt.
Gestorben 28 (21 M. 7 Fr.). Lungentuberkulose war lmal, Paralyse anu
(5 M.) Todesursache. Gesamtausgabe 643 794,15 M. Die Beköstigung kost«»
pro Tag und Kopf 48,61. Ein Neubau für 64 weibliche Pfleglinge wurde voll¬
endet und in Benutzung genommen. Für das Personal der Beobachtungsstatin j
wurden 1 Haus für den Oberwärter und einen Wärter und ein zweites Haus fr
3 Wärter erbaut.
Osnabrück (174): Bestand am Anfang des Berichtsjahres 423 (181 >L
242 Fr.). Zugang 185 (96 M. 90 Fr.). Abgang 184 (83 M. 101 Fr.). Biest-
Bestand 424 (193 M. 231 Fr.). Von den Aufgenommenen litten an einfach
Seelenstörung 129 (67 M. 62 Fr.), an paralytischer Seelenstörung 11 (8 M. 3 Fr.
an epileptischer Seelenstörung 9 (6 M. 4 Fr.), an hysterischer Seelenstörn n:
2 Fr., an Idiotie, Imbezillität 16 (7 M. 9 Fr.), Alkoholismus, Kokainismus 6 X.
nicht geisteskrank waren 2 M. Krankheitsdauer vor der Aufnahme bei 52 (29 M.
23 Fr.) weniger als 3 Monate, bei 16 (11 M. 6 Fr.) 3—6 Monate, bei 14 (7 M
7 Fr.) 6—12 Monate, bei 17 (7 M. 10 Fr.) 1—2 Jahre, bei 69 (32 M. 37 Fr
länger als 2 Jahre, angeboren bei 15 (7 M. 8 Fr.). Alkoholismus war 15mi
(12 M. 3 Fr.), Lues 9mal (8 M. 1 Fr.), Unfall 6mal (5 M. 1 Fr.). Wochenbett
5 mal, Epilepsie 8mal (4 M. 4 Fr.) Krankheitsursache. Erbliche Belastung ohw
sonstige Ursache wird bei 49 (26 M. 23 Fr.) angegeben, Gesamtheredität 67 (36 M
31 Fr.). Entlassen sind als geheilt 21 (9 M. 12 Fr.), gebessert 55 (26 M. 29 Fr.
nicht gebessert 82 (37 M. 45 Fr.). Von den Geheilten waren 16 (7 M. 9 Fr
weniger als 6 Monate in der Anstalt, 6 (2 M. 3 Fr.) 6—12 Monate, keiner linr^
als 1 Jahr. Zur Beobachtung 6 (4 M. 2 Fr.), davon 2 Männer nicht geisteskrank
Es starben 24 (9 M. 15 Fr.), davon an Gehirnerweichung 3 (2 M. 1 Fr.), ai
Lungentuberkulose 1 Fr., an Herzschwäche 4(1 E 3 Fr.). Der drohenden über-
füllung der Männerseite soll dadurch abgeholfen werden, daß 2 neue Franenvilk
gebaut werden und das bisher von Frauen bewohnte Gertrudenkloster mit Mann«:
belegt wird. ,
Lübeck (163): Bestand am Beginn des Berichtsjahres 264 (134 k I
130 Fr.), Zugang 89 (52 M. 37 Fr.), Abgang 64 (34 M. 20 Fr.), bleibt Bestas-l I
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Grütter, Anstaltswesen and Statistik.
347 *
299 (162 BL 147 Fr.). Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörang 73 (43 M.
30 Fr.), an paralytischer Seelenstörang 4 (1 M. 3 Fr.), an Seelenstörang mit
Epilepsie und Hystero-Epilepsie 6 (5M. 1 Fr.), Imbezillität, Idiotie und Kretinis¬
mus 3 (3 Fr.), nicht geisteskrank waren 3 (3 M.). Heredität bei 40, 46 % vom
Zugang, 60 % vom Bestand. Vom Abgang sind geheilt 18 (12 BL 6 Fr.), ge¬
bessert 13 (6 BL 7 Fr.), ungeheilt 19 (12 BL 7 Fr.), nicht geisteskrank 4 (4 BL).
Gestorben 20 (9 BL 11 Fr.). Der Bau der Heilanstalt Strecknitz ist programm¬
mäßig fortgeschritten. Im Rohbau fertiggestellt das Verwaltungsgebäude und
die Wohnungen des 2. Arztes und des Inspektors, das Wohnhaus des leitenden Arztes,
Kochküchen- und Waschküchengebäude, die beiden Pensionärhäuser und das
Maschinenhaus.
Gehlsheim (141): Bestand am Beginn des Berichtsjahres 348 (176 M.
173 Fr.). Zugang 234 (122 BL 112 Fr.). Abgang 236 (113 M. 122 Fr.). Bleibt
Bestand 347 (184 BL 163 Fr.). Von den Aufgenommenen litten an einfacher
Seelenstörung 168 (70 M. 88 Fr.), an paralytischer Seelenstörung 14 (11 M.
3 Fr.), an Seelenstörung mit Epilepsie 17 (11 Bf. 6 Fr.), an Idiotismus und Kreti¬
nismus 14 (12 BL 2 Fr.), an Delirium potat. 3 Bf., nicht geisteskrank waren 28
(16 M. 13 Fr.). Vor der Aufnahme waren krank bis zu einem Bfonat 62 (24 M.
28 Fr.), 2-3 Monate 11 (6 M. 6 Fr.), 4—6 Monate 26 (14 M. 11 Fr.), 7—12
Monate 16 (8 BL 7 Fr.), im 2. Jahre 13 (7 M. 6 Fr.), über 2 Jahre 83 (43 M.
40 Fr.), unbestimmt war die Krankheitsdauer bei 4 (3 M. 1 Fr.). Heredität bei
66 (28 M. 28 Fr.) der Aufgenommenen. Entlassen wurden 160 (72 M. 88 Fr.),
davon 33 (13 M. 20 Fr.) als genesen, 75 (35 M. 40 Fr.) als gebessert, 62 (24 M.
28 Fr.) ungeheilt. Von den als genesen Entlassenen waren 15 (7 BL 8 Fr.) bis
zu 1 Monat, 3 (1 BL 2 Fr.) 2—3 Monate, 6 (2 BL 4 Fr.) 4—6 Monate, 2 Fr. 7—12
Monate, 1 Fr. im 2. Jahre, 1 M. über 2 Jahre vor seiner Aufnahme krank gewesen.
Gestorben 42 Kranke (24 BL 18 Fr.) — 17,4 % des Gesamtabganges und 12,9 %
des Durchschnittsbestandes. Die Todesfälle an Tuberkulose betrugen 4,8 % aller
Sterbefälle.
Sachsenberg (187): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 561 (278 M.
283 Fr.). Zugang 151 (82 BL 69 Fr.). Abgang 139 (80 BL 69 Fr.). Bleibt
Bestand 673 (280 M. 293 Fr.). Von den Aufgenommenen litten an einfacher
Seelenstörung 123 (59 M. 64 Fr.), an paralytischer Seelenstörung 7 (6 M. 1 Fr.),
an Seelenstörung mit Epilepsie 14 (12 M. 2 Fr.), Delirium potat. 1 M., Idiotismus
und Kretinismus 5 (3 M. 2 Fr.), nicht geisteskrank war 1 M. Vor der Aufnahme
waren krank bis zu 1 Monat 26 (13 Bf. 13 Fr.), 2—3 Monate 12 (6 M. 7 Fr.),
4—6 Monate 9 (5 M. 4 Fr.), 7—12 Monate 12 (5 M. 7 Fr.), im 2. Jahre 14 (6 M.
8 Fr.), über 2 Jahre 59 (35 BL 24 Fr.), unbestimmt 18 (12 BL 6 Fr.). Heredität
bei 34 (20 M. 14 Fr.). Zur Beobachtung aufgenommen 3 M., von denen 1 nicht
geisteskrank. 1 Suizid durch Erhängen bei einer Frau im Klimakterium. Von
den Entlassenen waren genesen 19 (11 BL 8 Fr.), gebessert 34 (22 BL 12 Fr.),
ungeheilt 41 (23 M. 18 Fr.). Gestorben 45 (24 Bf. 21 Fr.) = 32,37 % des Ge¬
samtabganges und 7,87 % des Durchschnittsbestandes. Die Todesfälle an Tuber¬
kulose sind 2,22 % aller Sterbefälle oder 0,18 % des Durchschnittsbestandes.
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UNIVERSfTY OF MICHIGAN
348 *
Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
Lewenberg (160): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 223 (113 m.
110 w.). Zugang 30(16 m. 14 w.). Entlassen 16(8 m. 7 w.), gestorben 7 (3 m.
4 w.). Bleibt Bestand 231 (118 m. 113 w.). Von den 30 Aufgenommenen sind
20 als.besserungsfähig, 7 als wenig besserungsfähig und 3 als nicht besserungsfähig
zu bezeichnen. Bei 16 war Skrofulöse, bei 10 Rachitis, bei 9 Wucherungen der
Rachentonsillen, bei 6 Epilepsie, bei 3 Mongolentypus, bei 3Mikrocephalus vorhanden.
Heredität vom Vater bei 6 (3 m. 2 w.), von der Mutter bei 4(lm. 3w.), von beiden
Eltern bei 1 m., weitere familiäre Anlage bei 6 (4 m. 2 w.). Schwere Geburt des Kindes
ist 5 mal (4 m. 1 w.), Erkrankungen des Gehirns, der Hirnhäute und des Rücken¬
marks im späteren Lebensalter in 6 Fällen (2 m. 4 w.) angegeben. Erkrankung
oder ungünstige Beeinflussung der Mutter während der Gravidität durch Schreck
usw. wird 2 mal (1 m. 1 w.) angegeben. Entlassen wurden gebessert 11 (6 m.
6 w.) = 60 % des Abganges, 4,31 % der Verpflegten, nicht gebessert 4 (2 m.
2 w.) = 18,18 % des Abganges, 1,67 % der Verpflegten. Es starben 7 (3 m. 4 w.) =
31,82 % des Abgangs, 2,76 % der Verpflegten. Im Durchschnitt wurde für die
Beköstigung pro Kopf und Tag 48,76 Pf. aufgewendet.
Alsterdorfer Anstalten (114): Bestand Anfang 1910 847 (493 m.
364 w.). Zugang 116 (63 m. 62 w.). Abgang 82 (47 m. 36 w.). Bestand am
Ende des Berichtsjahres 880 (609 m. 371 w.). Gestorben 27 Zöglinge. Von
den Aufgenommenen litten an Imbezillität, Idiotie und Kretinismus 74 (42 m.
32 w.), an Epilepsie mit und ohne Seelenstörung 33 (17 m. 16 w.).
Friedrichsberg (139): Bestand am Beginn des Berichtsjahres 1411
(732 M. 679 Fr.). Zugang 1213 (696 M. 618 Fr.). Abgang 1140 (660 M. 490 Fr.).
Bleibt Bestand 1480 (777 M. 703 Fr.). Vom Zugang litten an einfacher Seelen¬
störung 669 (302 M. 367 Fr.), an paralytischer Seelenstörung 177 (129 M. 48 Fr.),
an Imbezillität, Idiotie, Kretinismus 96 (67 M. 29 Fr.), an Epilepsie 67 (47 M.
20 Fr.), an Hysterie 38 (10 M. 28 Fr.), an Neurasthenie 6 (6 M.), Chorea 3 (1 M.
2 Fr.), Tabes 3 (2 M. 1 Fr.), anderen Krankheiten des Nervensystems 64 (36 M.
18 Fr.), Alkoholismus 103 (91 M. 12 Fr.), nicht geisteskrank waren 19 (17 M.
2 Fr.). Zur Beobachtung gemäß § 81 Str.-Pr.-O. 36 (32 M. 3 Fr.). Heredität
bei 139 (41 M. 98 Fr.). Entlassen geheilt 103 (46 M. 67 Fr.), gebessert 429
(236 M. 193 Fr.), ungebessert 434 (266 M. 168 Fr.). Ungeheilt nach Langenhorn
überführt 264 (163 M. 101 Fr.). Die Heilung erfolgte bei den Entlassenen in
weniger als 1 Monat bei 46 (29 M. 16 Fr.), in 1 Monat bis y 4 Jahr bei 31 (11 M.
20 Fr.), in y 4 —y 2 Jahr bei 17 (3 M. 14 Fr.), in »4—1 Jahr bei 10 (3 M. 7 Fr.)
Gestorben 178 (102 M. 76 Fr.), davon an Parayse 60 (40 M. 10 Fr.). — Auch
weiterhin drückende Uberfüllung.
Langenhorn (168): Krankenbestand am Beginn des Berichtsjahres
1192 (667 M. 635 Fr.). Zugang 289 (186 M 103 Fr.). Abgang 197 (147 M.
50 Fr.), davon gestorben 63 (42 M. 21 Fr.). Bleibt Bestand 1284 (696 M. 688 Fr.).
Von den Aufgenommenen kamen 264 (163 M. 101 Fr.) aus Friedrichsberg, 23
(22 M. 1 Fr.) aus den Gefängnissen in Fuhlsbüttel. 12 Kranke (11 M. 1 Fr.)
kamen zur Beobachtung ihres Geisteszustandes.
Von den Erweiterungsbauten Langenhorns, die im Juni und Juli 1909 durch
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Griitter, Anstaltswesen und Statistik.
349 *
Senat und Bürgerschaft beschlossen waren, wurden im Jahre 1910 fertiggestellt und
»•zogen: die Anbauten an 2 Pflegerhäuser und an ein Landhaus sowie 2 Doppel*
Wohnhäuser für Beamte. Die 2 neuen Überwachungshäuser werden in den ersten
donaten des Jahres 1911 betriebsfertig sein. Mit der Ausführung der großen
[ > flegehäu8er ä 160 Betten wurde begonnen. Ein Doppelwohnhaus für verheiratete
)berwärter wurde mit Hilfe von geeigneten Kranken hergestellt.
Ellen (134): Bestand am Anfang des Berichtsjahres 648 (306 M. 242 Fr.).
Zugang 468 (268 M. 200 Fr.). Entlassen 391 (236 M. 166 Fr.). Gestorben 71
39 M. 32 Fr.). Bleibt Bestand 664 (300 M. 264 Fr.). Die durchschnittliche
ährliche Bestandszunahme beträgt 41,61. Von den Aufgenommenen litten an
Dementia praecox 104 (48 M. 66 Fr.), Paranoia 10 (6 M. 6 Fr.), manisch-depres¬
sivem Irresein 69 (18 M. 61 Fr.), Imbezillität 14 (10 M. 4 Fr.), Dementia senilis
26 (16 M. 11 Fr.), Paralyse 60 (44 M. 6 Fr.), Hysterie 64 (23 M. 31 Fr.), Epi¬
lepsie 29 (20 M. 9 Fr.), chronischem Alkoholismus 24 (21 M. 3 Fr.). Nicht geistes¬
krank war 1 M. Zur Beobachtung kamen 20 Fälle = 4,33 %. Entlassen wurden
ils geheilt 78 = 16,88 %, als gebessert 192 (= 41,66 %), ungeheilt 101 (= 21,86 %).
(iestorben sind 71 (= 16,37 % des Gesamtabganges).
In Familienpflege befanden sich am Beginn des Berichtsjahres 168 Kranke
(73 M. 86 Fr.), am Ende desselben 166 (77 M. 78 Fr.). Die Fertigstellung der
im Bau befindlichen großen Pflegehäuser hat sich verzögert, so daß die Überfüllung
der Anstalt wieder erheblich zugenommen hat.
Rockwinkel bei Bremen (180): Die Anstalt ging am 1. September
1910 in anderen Besitz über, nachdem sie sich seit 1764 in der Familie des Dr.
Engelken stets vom Vater auf den Sohn vererbt hatte. Es soll in Zukunft auf die
Ausgestaltung der offenen Abteilung besonderes Gewicht gelegt werden, außerdem
ist der Bau von 2 Pavillons für Unruhige in Aussicht genommen. Ein Wachsaal
und ein Dauerbad für unruhige Damen wurden eingerichtet. In Zukunft besteht
nur noch eine Verpflegungsklasse.
Bestand am Anfänge des Jahres 16 (6 M. 9 Fr.). Zugang 17 (6 M. 12 Fr.).
Abgang 16 (4 M. 12 Fr.), davon geheilt 4, gebessert 4, ungeheilt 5, gestorben 3.
Hereditäre Belastung in 13 von 32 Fällen.
Wehnen (207): Bestand Anfang 1910 284 Kranke (166 M. 128 Fr.).
Zugang 126 (62 M. 74 Fr.), Abgang 103 (60 M. 63 Fr.). Bleibt Bestand 307
(158 M* 149 Fr.). Von den Aufgenommenen litten an angeborenem Schwachsinn
6 (1 M. 6 Fr.), an Dementia paralytica 4 M., an Geistesstörung bei Himerkran-
kung 6 M., an Dementia senilis 13 (6 M. 8 Fr.), an epileptischem Irresein 3 (2 M.
1 Fr.), an alkoholischen Formen 4 (2 M. 2 Fr.), an Dementia praecox 27 (11 M.
16 Fr.), an manisch-depressivem Irresein 60 (13 M. 37 Fr.), an Paranoia 3 (2 M.
1 Fr.). Nicht geisteskrank waren 2 M. Entlassen wurden als geheilt 21 (7 M.
14 Fr.), gebessert 35 (16 M. 19 Fr.), ungeheilt 21 (9 M. 12 Fr.). Gestorben sind
24, darunter 13 an Herzlähmung, 5 an Tuberkulose. Gesamtausgabe 311886,92 M.
Zur Beobachtung aufgenommen wurden 4 M., von denen 3 geisteskrank waren.
Ein neues Aufnahme- und überwachungshaus für weibliche Kranke wurde fertig-
gestellt und in Gebrauch genommen.
Zeitschrift für Psychiatrie. LXIX. Lit. y
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350 *
Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
Lindenhaus (161): Bestand am Beginn des Berichtsjahres 393 (199 M.
194 Fr.). Zugang 100 (63 M. 47 Fr.). Abgang 113 (64 M. 49 Fr.). Bleibt
Bestand 380 (188 M. 192 Fr.). Von den Verpflegten litten an einfacher Seelen -
Störung 382 (181 M. 201 Fr.), an paralytischer Seelenstörung 8 (7 M. 1 Fr.),
an Imbezillität und Idiotie 30 (11 M. 19 Fr.), an Epilepsie 44 (30 M. 14 Fr.),
an Alkoholismus 18 M., an Hysterie 16 Fr. Nicht geisteskrank waren 3M. Bei
der Aufnahme waren'geisteskrank seit weniger als 1 Jahr 90 (=20,4%), 1—2
Jahre 33 (= 7,6 %), 2—4 Jahre 67 (= 13,2 %), 4—6 Jahre 69 (= 13,4 %), 6—8
Jahre 62 (= 11,8 %), 8—10 Jahre 31 (= 7,1 %), mehr als 10 Jahre 117 (= 26,6 %).
Mit dem Strafgesetze in Konflikt geraten waren 78 (66 M. 13 Fr.) = 16,82 %.
Es waren tuberkulös 66 (36 M. 31 Fr.) = 13,4 %. Zur Beobachtung 6 Männer.
Es wurden entlassen 76, davon als erwerbsfähig 41 (27 M. 14 Fr.), als gebessert,
nicht erwerbsfähig 21 (12 M. 9 Fr.), als ungeheilt 14 (9 M. 6 Fr.). Gestorben
28 = 6,7 %. Tuberkulose war 7 mal, Paralyse 1 mal Todesursache.
Eichberg (133): Bestand am 31. März 1910: 760 (426 M. 326 Fr.).
Zugang 226 (132 M. 94 Fr.). Abgang 226 (163 M. 72 Fr.). Bleibt Bestand 761
(404 M. 347 Fr.). Krankheitsdauer vor der Aufnahme bis zu 3 Monaten bei 36
(16 M. 20 Fr.), 3—6 Monate bei 41 (16 M. 26 Fr.), mehr als 6 Monate bei 136
(90 M. 46 Fr.). Es litten vom Zugang an einfacher Seelenstörung 143 (69 M.
74 Fr.), an paralytischer Seelenstörung 15 (10 M. 6 Fr.), Imbezillität, Idiotie 28
(22 M. 6 Fr.), Seelenstörung mit Epilepsie 19 (16 M. 4 Fr.), Alkoholismus 9 M.,
Neurasthenie 3 (1 M. 2 Fr.), hysterischer Seelenstörung 2 Fr., Dementia senilis
1 Fr. Heredität bei 67 (34 M. 23 Fr.). Alkoholmiflbrauch war bei 33 (31 M.
2 Fr.), Syphilis bei 11 (9 M. 2 Fr.), Erschöpfung (Haft) bei 12 (10 M. 2 Fr.),
Kopfverletzung bei 7 Männern, Epilepsie bei 13 (11M. 2 Fr.) Krankheitsursache. Mit
dem Strafgesetz waren in Konflikt gekommen 73 (66 M. 7 Fr.). Zur Beobachtung
12 Personen. 19 Fürsorgezöglinge wurden aufgenommen, bei den meisten lag
einfacher Schwachsinn vor. Entlassen wurden als geheilt 4 Kranke (4 M.), ge¬
bessert 78 (49 M. 29 Fr.), ungebessert 69 (66 M. 14 Fr.). Gestorben 66, davon
an Paralyse 18 (11 M. 7 Fr.), an Tuberkulose 6 (4 M. 1 Fr.), ln Familienpflege
am Jahresschluß 79 (21 M. 68 Fr.). Ein leichter Typhusfall. Gesamtausgabe
636 390,66 M.
Weilmünster (208): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 960
(477 M. 483 Fr.). Zugang 229 (120 M. 109 Fr.). Vom Urlaub zurück 2 M.
Abgang 211 (106 M. 106 Fr.). Bleibt Bestand 980 (493 M. 487 Fr.). Bei den
Aufgenommenen betrug die Krankheitsdauer vor der Aufnahme unter 3 Monaten
bei 60 (30 M. 20 Fr.), 3—6 Monate bei 21 (10 M. 11 Fr.), über 6 Monate bei
168 (80 M. 78 Fr.). Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 129 (60 M.
69 Fr.), an paralytischer Seelenstörung 25 (15 M. 10 ft.), an Epilepsie mit Seelen¬
störung 14 (9 M. 6 Fr.), an Hysterie 6 (1 M. 4 Fr.), Imbezillität, Idiotie 28
(9 M. 19 Fr.), Alkoholismus 28 (26 M. 2 Fr.), nicht geisteskrank waren 2 M.
Von den aufgenommenen Männern waren belastet 46 %, von den Frauen 42 %.
Alkoholmißbrauch war bei 46 (40 M. 6 Fr.), Lues bei 21 (14 M. 7 Fr.), Arterio¬
sklerose bei 6 (4M. 2 Fr.), Verletzungen, besonders solche des Kopfes bei 14
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Urütter, Anstaltswesen und Statistik.
351 *
(10 M. 4 Fr.), Haft bei 11 (9 Bl 2 Fr.), Klimakterium bei 4 Frauen, Wochen¬
bett, Laktation bei 16 Frauen, Senium bei 23 (7 M. 16 Fr.) Krankheitsursache.
Mit dem Strafgesetz in Konflikt gekommen waren 67 (66 M. 11 Fr.). Zur Beob¬
achtung 2 M. Entlassen als geheilt 14 (7 M. 7 Fr.), gebessert 66 (33 M. 23 Fr.),
ungeheilt 60 (22 M. 28 Fr.). Gestorben 87 (40 M. 47 Fr.), davon an Tuberkulose
17 (8 M. 9 Fr.), Typhus abdom. 2 Fr. Ungewöhnliche Schwierigkeit des Kranken¬
materials und immer größere Anhäufung verbrecherischer Elemente. Schwere
Influenzaepidemie, später Typhusepidemie, 9 Fälle mit 2 Todesfällen. Sämtliche
Erkrankte wurden in der Baracke für Infektionskrankheiten streng isoliert. Ge¬
samtausgabe 610 308,26 M.
Rheinprovinz (178): In den Provinzial-Heil- und Pflege-Anstalten
befanden sich am 1. April 1910: 6979 (3302 M. 2677 Fr.). Zugang 3373 (1912 M.
1461 Fr.). Abgang 3171 (1790 M. 1381 Fr.). Bleibt Bestand 6181 (3424 M.
2757 Fr.).
Andernach : Bestand am 1. April 1910: 668 (299 M. 269 Fr.). Zugang
273 (141 M. 132 Fr.). Abgang 263 (138 M. 116 Fr.). Bleibt Bestand 578
(302 M. 276 Fr.).
Bonn : Bestand am 1. April 1910 : 828 (404 M. 424 Fr.). Zugang 582
(327 M. 266 Fr.). Abgang 488 (276 M. 212 Fr.). Bleibt Bestand 922 (466 M.
467 Fr.).
Düren : Bestand am 1. April 1910: 711 (413 M. 298 Fr.). Zugang 273
(154 M. 119 Fr.). Abgang 248 (162 M. 96 Fr.). Bleibt Bestand 736 (416 M.
321 Fr.).
Galkhausen : Bestand am 1. April 1910: 887 (442 M. 446 Fr.). Zu¬
gang 608 (271 M. 237 Fr.). Abgang 523 (266 M. 268 Fr.). Bleibt Bestand 872
(448 M. 424 Fr.).
Grafenberg : Bestand am 1. April 1910: 942 (621 M. 421 Fr.). Zu¬
gang 766 (442 M. 324 Fr.). Abgang 766 (423 M. 342 Fr.). Bleibt Bestand 943
(540 M. 403 Fr.).
Johannistal: Bestand am 1. April 1910: 1008 (560 M. 448 Fr.).
Zugang 577 (326 M. 251 Fr.). Abgang 615 (294 M. 221 Fr.). Bleibt Bestand
1070 (592 M. 478 Fr.).
M e r z i g : Bestand am 1. April 1910: 793 (411 M. 382 Fr.). Zugang 344
(201 M. 143 Fr.). Abgang 333 (196 M. 137 Fr.). Bleibt Bestand 804 (416 M.
388 Fr.).
Köln-Lindenthal : Bestand am 1. April 1910: 193 M. Zugang 20.
Abgang 20. Bleibt Bestand 193.
Brauweiler: Bestand am 1. April 1910: 59 Männer. Zugang 30. Ab¬
gang 26. Bleibt Bestand 63.
Vom Gesamtzugang litten an einfacher Seelenstörung 2237 (1098 M. 1139 Fr.),
an paralytischer Seelenstörung 273 (198 M. 76 Fr.), an Seelenstörung mit Epi¬
lepsie 338 (222 M. 116 Fr.), an Epilepsie 106 (80 M. 25 Fr.), an Imbezillität.
Idiotie und Kretinismus 186 (114 M. 72 Fr.), an Delirium potat. 155 (137 M.
18 Fr.), nicht geisteskrank waren 79 (63 M. 16 Fr.). Heredität bei 1061 (620 M.
y*
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352* Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
441 Fr.) = 31,4 % der Angenommenen, Alkoholmißbrauch bei 462 (414 V
48 Fr.) = 13,4 %. Von den Anfgenommenen hatten sich 169 (124 M. 45 Fr
6% eine syphilitische Ansteckung zugezogen, von den 273 Paralytikern r^-
Infektion mit Lues bei 122 (97 M. 26 Fr.) = 44,2 % festgestellt. Vor ihrer Ar
nähme mit dem Strafgesetz in Konflikt geraten waren 646 Kranke (482 SL 64::
= 16,1 %. Unmittelbar aus der Strafhaft kamen 1910: 191 Personen (im V
jahre 247). Von den Abgegangenen sind genesen 460 (266 M. 205 Fr.), gebest'
1021(602 M. 419 Fr.),ungeheilt905 (482 M. 423 Fr.), davon 560 (296 M. 2MF-
in andere Anstalten, nicht geisteskrank 77 (64 M. 13 Fr.). Gestorben sind**
(387 M. 321 Fr.) = 7,5 % der Verpflegten, nnd zwar in Andernach 6.25';
Bonn 7,6 %, in Düren 8,6 %, Galkhausen 10,7 %, Grafenberg 7,8 %. Johanni'
6.4 %, Merzig 6,9 %, Brauweiler 1,1 %, Köln-Lindenthal 6,6 %. 0,7 % der V-
pflegten sind an Tuberkulose gestorben. Tuberkulose war Todesursache in An*
nach bei 7,7 %, in Bonn bei 8,6 %, in Düren bei 12,94 %, in Galkhausen bei 7.4
in Grafenberg bei 6,7 %, in ‘Johannistal bei 7,9 %, in Merzig bei 22.4
in Lindenthal bei 41,6% der Verstorbenen. 162 (118 M. 34 34 Fr.> =
21.4 % der Gestorbenen hatten an Paralyse gelitten. Krankheiten des Gehr¬
und seiner Häute waren 83 mal (39 M. 44 Fr.), Krankheiten der Lunge 144c.
(73 M. 71 Fr.), Herzleiden 87 mal (61 M. 36 Fr.), Unglücksfälle 5 mal (5 'i
Suizid 3 mal (3 M.) Todesursache. In Düren trat die Ruhr epidemisch auf.
Erkrankten wurden isoliert und erst nach dreimaligem negativen Ergebni'
bakteriologischen Untersuchung aus der Isolierstation entlassen.
1 Typhusfall in Andernach, wo außerdem noch 2 Typhusbazillenträgeniii-
sind, die nach Merzig übergeführt werden sollen. In Merzig sollen in Zukunft -
Typhusbazillenträger der Provinzial-Heil- und Pflege-Anstalten isoliert wer*:.
Die Absonderung soll so lange durchgeführt werden, bis die Dejektionen M
mindestens ein halbes Jahr frei von Bazillen erwiesen haben. Dort werden km
alle Neuaufnahmen und alle neu eintretenden Pflegepersonen auf das Aussch«.-i
von Typhusbazillen untersucht. 2 neue Ausscheiderinnen auf der Frauen>-
kamen hinzu. In Johannistal erlitt ein Epileptischer im Anfall eine Fraktur ü
Schädelbasis mit tödlichem Ausgang. 1 Kranker in Düren erhängte sich. -:i
Kranke in Merzig vergiftete sich mit Opiumtinktur, ein anderer durchschnitt -1
MWr Zertrümmern einer Fensterscheibe mit dem Kopf die großen Halsgefüi
Ifr Andernach wurde ein Kranker, der freien Ausgang hatte, räuberisch überfai
und erlag seinen Verletzungen.
1 Der Neubau der Anstalt Bedburg-Cleve ist so weit gefördert, daß im Li¬
des Monats Oktober 1911 die ersten Kranken dahin überführt werden könc
t
Bit dahin werden 15 Krankengebäude, Koch- und Waschküche, Werkstä** i
gebäude, Bäckerei, Kessel-, und Maschinenhaus und der Hauptgutshof fertigte--•
seih. 1 Der Ausbau der übrigen Gebäude ist so weit vorgeschritten, daß mit «
vollständigen Fertigstellung der Anstalt zum Frühjahr 1912 gerechnet werden tu
Tannenh’of (199): Im ganzen wurden verpflegt 638 (320 M. 318 :
Auf genommen' l62fJ Heredität bei 72 (36 M. 37 Fr.). Alkoholbelastung t*
(4 M. 4 Fr.), 'eigener Alkoholismus bei 9 (8 M. 1 Fr.). Krankheitsdauer vor I
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Grütter, Anstaltswesen und Statistik.
353 *
Aufnahme im 1. Monat bei 24 (6 M. 19 Fr.), im 2. Monat 6 (3 M. 3 Fr.), im
3. Monat 11 (6 M. 6 Fr.), vom 4.—6. Monat 20 (11 M. 9 Fr.), vom 6.—12. Monat
34 (21 M. 13 Fr.), im 2.—6. Jahre 42 (28 M. 14 Fr.), länger als 5 Jahre bei 16
(4 M. 11 Fr.). Abgang 162 (82 M. 70 Fr.), davon nicht geisteskrank 8 (6 M.
3 Fr.), genesen 14 (6 M. 8 Fr.), gebessert 46 (21 M. 26 Fr.), ungeheilt 44 (23 M.
21 Fr.). Gestorben 40 (27 M. 13 Fr.). Allgemeine Tuberkulose war 1 mal (1 M.),
..allgemeine Gehirn- und Herzlähmung“ 12 mal (11 M. 1 Fr.) Todesursache.
8 leichte Typhusfälle unbekannter Herkunft.
Der Gesamtbestand in den Landes-Heil- und Pflege-Anstalten des König¬
reichs Sachsen (186) betrug bei Beginn des Jahres 1909:6004 Kranke (2332 M.
2672 Fr.), — 36 (1 M. 34 Fr.) mehr als im Vorjahre. Zugang 831 Personen
(452 M. 379 Fr.). Gesamtabgang 698 (367 M. 331 Fr.).
Sonnenstein : Anfangsbestand 620 (330 M. 290 Fr.). Zugang 138
(68 M. 70 Fr.). Abgang 111 (63 M. 48 Fr.). Bleibt Bestand 647 (336 M. 312Fr.).
Untergöltzsch : Anfangsbestand 527 (243 M. 284 Fr.). Zugang 143
(78 M. 65 Fr.). Abgang 102 (69 M. 43 Fr.). Bleibt Bestand 568 (262 M. 306 Fr.).
Großschweidnitz : Anfangsbestand 479 (206 M. 273 Fr.). Zugang
127 (62 M. 66 Fr.). Abgang 104 (41 M. 63 Fr.). Bleibt Bestand 602 (227 M.
275 Fr.).
Zschadraß: Anfangsbestand 662 (276 M. 276 Fr.). Zugang 100 (66 M.
45 Fr.). Abgang 96 (60 M. 46 Fr.). Bleibt Bestand 667 (281 M. 276 Fr.).
Hubertusburg : Anfangsbestand 1481 (667 M. 924 Fr.). Zugang 205
(113 M. 92 Fr.). Abgang 169 (80 M. 89 Fr.). Bleibt Bestand 1517 (690 M.
927 Fr.).
Colditz : Anfangsbestand 592 (302 M. 290 Fr.). Zugang 29 (16 M.
13 Fr.). Abgang 30 (17 M. 13 Fr.). Bleibt Bestand 591 (301 M. 290 Fr.).
Hochweitzschen : Anfangsbestand 763 (418 M. 336 Fr.). Zugang
89 (60 M. 29 Fr.). Abgang 87 (57 M. 30 Fr.). Bleibt Bestand 766 (421 M.
334 Fr.).
Vom Gesamtzugang litten an einfacher Seelenstörung 668 (247 M. 311 Fr.),
an paralytischer Seelenstörung 109 (96 M. 14 Fr.), an Seelenstörung mit Epi¬
lepsie und Hvsteroepilepsie 8 (6 M. 2 Fr.), an Imbezillität 18 (9 M. 9 Fr.), an
Idiotie 34 (20 M. 14 Fr.). Es litten an manisch-depressivem Irresein 138 (39 M.
• 99 Fr.), an Amentia 63 (24 M. 29 Fr.), an Dementia praecox 231 (122 M. 109 Fr.),
an Paranoia 47 (27 M. 20 Fr.), chronischem Alkoholismus 11 Männer. Krank¬
heitsdauer vor der Aufnahme bis zu 3 Monaten bei 181 (— 26,7 %), bis zu 6 Monaten
bei 77 (= 11,5 %), bis zu 12 Monaten bei 66 (= 9,9 %), bis zu 2 Jahren bei 67
(= 10,0 %), bis zu 3 Jahren bei 69 (= 8,7 %), bis zu 4 Jahren bei 21 (= 3,1 %),
bis zu 5 Jahren bei 24 (= 3,5 %), über 6 Jahre bei 89 (= 13,2 %), von Kindheit
auf bei 48 (= 7,1 %). Der Prozentsatz der an Dementia praecox Leidenden ist
in den letzten Jahren ziemlich gleich geblieben (30—32 % der Gesamtursachen);
- auch die Zahl der Paralytiker ist annähernd die gleiche wie früher. Heredität
• seitens der Aszendenz oder der nächsten Kollaterale bei 367 der nichtpaTalytischen
Aufnahmen (= 51,1 %). Bei den Paralytikern fanden sich 41 % Heredität. Al-
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354 * Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
koholmißbrauch wird bei 8,7 % der Männer, bei 1,4 % der Frauen als Krani/*r
Ursache angeführt. Die Zahl der Männer, deren Seelenstörung 1 allein oder hur
sächlich auf den Alkoholabusus zurückzuführen war, hat im Laufe des ktr<
Jahrzehnts allmählich abgenommen. Von den in Hochweitschen aufgenommcar
Epileptikern erschienen nur knapp 6 % psychisch intakt. Lues im Vorleben mi’
bei den aufgenommenen Paralytikern nur in 50 % festgestellt. Trauma wir b*
8,2 % der Männer und bei 3 % der Frauen als Ursache der Erkrankung angefüir
Bei dem Zugang an Epileptikern lag erbliche Belastung in 46 % der Filk r*
Alkoholmißbrauch bei 6 %, bei 50 % psychische Debilität, Imbezillität, Icttir
Als genesen und relativ genesen bzw. wesentlich gebessert entlassen sind aus dr.
Heil- und Pflege-Anstalten für Geisteskranke im ganzen 253 (109 M. 144 F:..
Bei 76 % der Fälle ist der überhaupt erreichbare Kurerfolg im ersten Behandlung
jahr erzielt. Als ungebessert sind entlassen 106 (53 M. 53 Fr.). Gestorben sin-:
eines natürlichen Todes im ganzen 217 (126 M. 92 Fr.) = 5 % des durchschnirr-
lichen Krankenbestandes (bei den Männern 6,3%, bei den Frauen 3,9%).
An Paralyse starben 30,4 %, an Tuberkulose 12.4 % aller Verstorbener
3 Kranke endeten durch Suizid. In der Anstalt Sonnenstein ist die Mortalität v«
14 % in den Jahren 1866 bis 1875 auf 4,6 % herabgesunken. Beschäftigung
Ziffer bei den Männern 40—74 % bei den Frauen 28—62 %. In mehreren An¬
stalten Auftreten einzelner Typhusfälle, bei einer größeren Anzahl von Kranke
wurde positiver Widal gefunden.
Die Landesanstalt für Geisteskranke zu W a 1 d h e i m hatte einen Anfan>v
bestand von 191 Köpfen. Zugang 57. Abgang 50. Bleibt Bestand 198. Es kam*
aus Strafanstalten 40. Nicht vorbestraft waren von den Aufgenommenen nur 4
Es litten an einfacher Seelenstörung 40 = 75,5 %, an paralytischer Seelenstöruit:
1 = 1,9 %, an Seelenstörung mit Epilepsie 6 = 11,3 %, an Imbezillität 6 = 11.3 >
Erbliche Belastung war in 20, angeborene Anlage in 18 Fällen, Alkoholmißbnueh
in 18, Lues in 6, Haft in 17, Trauma in 4 Fällen Krankheitsursache. Von den Ent¬
lassenen waren genesen 6, vom Anfall genesen 3, gebessert 6. Kein Todesfall
In der Abteilung für Geisteskranke in der Strafanstalt zu Bautzen be¬
fanden sich am Beginn des Berichtsjahres 68, der Zugang betrug 12, Abgang IS
Endbestand 62.
Die Psychiatrische und Nervenklinik zu Leipzig — 170 Betten — w
von 1036 Kranken (667 M. 369 Fr.) besucht. Durchschnittliche Verpflegungv
dauer bei den Männern 44,9, bei den Frauen 74 Tage. Von den Verpflegten warn
623 geisteskrank, 213 nervenkrank und 177 Alkoholiker. Bei 166 bestand erblich*
Belastung, bei 205 Alkoholmißbrauch. Abgang 833, darunter 38 Todesfälle.
Die städtische Heil- und Pflege-Anstalt zy Dresden verpflegte: 1. in d*
Heil-Anstalt mit 120 Betten: 1230 Kranke (743 M. 487 Fr.). Geisteskrank war«
817, Alkoholiker 290, nervenkrank 121 Personen. Zugang 1115 (676 M. 439 Fr. 1 .
Abgang 692 Männer (33 Todesfälle) und 428 Frauen (19 Todesfälle). Die Errich¬
tung eines Neubaues für Geisteskranke infolge Uberfüllung der Räume ist in Vor¬
bereitung. 2. in der Pflegeabteilung (1200 Betten) 1832 Kranke (832 M. 1000 Fm
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Grütter, Anstaltswesen und Statistik.
355 *
’on den Pfleglingen waren 1236 geisteskrank, 101 Alkoholiker und 227 nerven¬
krank. Abgang 669, 282 Todesfälle.
In der Zweiganstalt Luisenhaus in Dresden-Löbtau mit 189 Betten
wurden 203 Kranke (127 M. 76 Fr.) verpflegt. Von den Verpflegten waren 181
reisteskrank, 9 nervenkrank und 2 Alkoholiker. Bei 3 von 17 Neuaufgenommenen
gestand erbliche Belastung, bei 9 Alkoholmißbrauch. Abgang 17, gestorben 6.
In der ebenfalls von der Stadt Dresden unterhaltenen Heilanstalt für Trunk¬
süchtige zu Klingenberg mit 23 Betten wurden 63 Männer behandelt, von
denen 29 als geisteskrank zu bezeichnen waren. Anfangsbestand 22, Zugang 31,
Abgang 30.
Die Irren- und Siechen-Anstalt der Stadt Leipzig zu Dösen hatte im
Beginn des Jahres 1909 einen Bestand von 1072 (668 M. 604 Fr.). Zugang 635
(383 M. 162 Fr.). Abgang 471 (336 M. 136 Fr.). Vom Zugang kamen 404
(313 M. 91 Fr.) aus der psychiatrischen Klinik, aus anderen Anstalten 46 (21 M.
25 Fr.). Von den neu eingetretenen Kranken litten an einfacher Scelenstörung 226
(132 M. 94 Fr.), an paralytischer Seelenstörung 112 (88 M. 24 Fr.). Imbezillität
Idiotie 33 (26 M. 7 Fr.), Epilepsie 61 (41 M. 10 Fr.), Hysterie 10 (3 M. 7 Fr.),
Alkoholismus 86 (83 M. 3 Fr.). An Dementia praecox (Hebephrenie, Katatonie,
Dementia paranoides) litten 104 (64 M. 40 Fr.), an periodischer Seelenstörung 36
(14 M. 21 Fr.), an Paranoia 20 (6 M. 14 Fr.). Es wurden verhältnismäßig mehr
paralytische Frauen als Männer aufgenommen, nämlich 21,4 % des männlichen
und 28,9 % des weiblichen Gesamtzuganges. 16 % der Aufnahmen waren Alko¬
holiker. Heredität bei 199 Kranken (= 37,2 %). Krankheitsdauer bis zu 2 Monaten
bei 80 (61 M. 19 Fr.), 3—6 Monate bei 36 (21 M. 14 Fr.), 1 Jahr 69 (39 M.
20 Fr.), 1 bis 2 Jahre bei 67 (41 M. 16 Fr.), mehr als 2 Jahre bei 281 (211 M.
70 Fr.). Entlassen wurden als geheilt 28 (21 M. 7 Fr.), gebessert 226 (179 M.
46 Fr.), ungeheilt 93 (61 M. 32 Fr.). Gestorben 126 (76 M. 60 Fr.), davon an
Paralyse 67 (46 M. 11 Fr.) = 46,6% aller Todesfälle. Lungentuberkulose war
13 mal (5 M. 8 Fr.) Todesursache = 10%. 1 Suizid. Die Familienpflege hat
nur eine geringe Erweiterung erfahren, von 61 auf 73 Kranke (41 M. 32 Fr.).
Wegen zunehmender Schwierigkeit des Krankenmaterials mußte eine Erhöhung
der Zahl der Pflegepersonen in Aussicht genommen werden.-
Die Irrenheil-Anstalt zu Leipzig-Thonberg mit 66 Betten be¬
handelte 71 Kranke (32 M. 39 Fr.), von denen 64 Geisteskranke, 4 Nerven- und
3 Alkoholkranke waren. Heredität bei 7 Kranken. Abgang 26, 4 Todesfälle.
ln der Nervenheil-Anstalt zu Chemnitz (124 Betten) wurden 437 Kranke
(243 M. 194 Fr.) verpflegt.. 362 waren geisteskrank, 37 nervenkrank und 43 Al¬
koholiker.
Die Privatirren- und Nervenheil-Anstalten zu Neucoswig , Tharandt.
Möckern, Prödel und Elsterberg mit zusammen 225 Betten wurde*
von 470 Kranken (236 M. 234 Fr.) besucht, unter denen sich 226 Geisteskranke.
135 Nervenkranke und 32 Alkoholiker befanden.
In der Unfallnervenklinik Hermann-Haus zu Stötterit* l .4w
Betten) kamen insgesamt 1173 männli che Kranke zur Behandlung. Davut wa
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356 *
Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
61 geisteskrank, 978 nervenkrank und 10 Alkoholiker. 118 waren erblich belastet,
bei 128 Alkoholmiflbrauch.
Die Abteilung für Schwachsinnige der Landeserziehungs-Anstalt für Blinde
und Schwachsinnige zu Chemnitz hatte am Beginn des Jahres 1909 einen
Bestand von 616 Kindern. Zugang 127, Abgang 116. Der Schwachsinn wird zurück -
geführt auf englische Krankheit in 36 Fällen, Erblichkeit in 23 Fällen, Alkoholismus
der Aszendenz in 16, Hirnhaut- und Gehirnentzündung in 13, angeborene Syphilis
in 8 Fällen, 4 Zöglinge litten an Epilepsie, 3 an Myxidiotie, 11 an Geisteskrankheit.
In den bei der Landesheil- und Pflege-Anstalt zu Hubertusburg be¬
stehenden Abteilungen für bildungsunfähige schwachsinnige Kinder waren am
Jahresbeginn 92 (46 m. 47 w.). Zugang 32 (18 m. 14 w.), Abgang 33 (18 m.
16 w.), davon 3 gestorben (2 m. 1 w.).
In der Blödenanstalt Martinsstift zu Sohland am Rotstein sind
88 Kinder (66 m. 33 w.) untergebracht gewesen. Zugang 7, Abgang 6 (sämtlich
durch Tod).
Dösen (130): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 1136 (616 M. 621 Fr.).
Zugang 621 (422 M. 199 Fr.). Abgang 660 (381 M. 169 Fr.). Bleibt Bestand
1207 (666 M. 661 Fr.). Vom Zugang kamen 491 (361 M. 140 Fr.) aus der psy¬
chiatrischen Klinik in Leipzig, aus andern Anstalten 42 (22 M. 20 Fr.), unmittel¬
bar aufgenommen wurden 88 (49 M. 39 Fr.). Es litten an einfacher Seelen¬
störung 270 (146 M. 124 Fr.), an paralytischer Seelenstörung 113 (91 M. 22 Fr.),
an Imbezillität, Idiotie 49 (34 M. 16 Fr.), Epilepsie 74 (69 M. 16 Fr.), Hysterie
20 (9 M. 11 Fr.), Alkoholismus 84 (79 M. 6 Fr.). An den verschiedenen Formen
der Dementia praecox litten 99 (67 M. 42 Fr.), an periodischer Seelenstörung 61
(34 M. 17 Fr.), an Manie 3 (1 M. 2 Fr.), Melancholie 20 Frauen, Paranoia 17
(4 M. 13 Fr.), Dementia senilis 31 (13 M. 18 Fr.), Dementia arterioscler. 18
(17 M. 1 Fr.), an psychischer Degeneration 21 (16 M. 6 Fr.). An Paralyse
litten 113 (91 M. 22 Fr.) der Aufgenommenen, d. i. 18% des Gesamtzu¬
gangs, 21,6% der Männer und 11,6% der Frauen. Alkoholkranke waren
84 (79 M. 6 Fr.) = 13,6 %. Heredität bei 240 (172 M. 68 Fr.) = 38,6 %
aller Aufgenommenen, 40,8 % der Männer und 34,2 % der Frauen. Unter
den an einfacher Seelenstörung Leidenden waren 37,4% erblich belastet,
unter den Paralytikern 21,8 %, unter den Imbezillen und Idioten 34,7 %, unter
den Epileptischen 62,7 %, unter den Hysterischen 66 %, unter den Alkoholisten
63,6 %. Die Krankheitsdauer vor der Aufnahme betrug bis zu 3 Monaten bei 117
(71 M. 46 Fr.), 3—6 Monate bei 34 (23 M. 11 Fr.), y t — 1 Jahr bei 49 (30 M.
19 Fr.), 1—2 Jahre bei 60 (37 M. 13 Fr.), über 2 Jahre bei 337 (260 M. 87 Fr.).
Es wurden entlassen als geheilt 20 (17 M. 3 Fr.) = 3,6 %, gebessert 261 (187 M.
74 Fr.) = 47,4 %, ungeheilt 126 (87 M. 38 Fr.). Gestorben sind 144 (90 M.
54 Fr.), davon 67 (62 M. 16 Fr.) an Paralyse = 46,6 % aller Todesfälle. An
Lungentuberkulose starben 10,4 % der Verstorbenen. In Familienpflege bei
Beginn des Berichtsjahres 73 (41 M. 32 Fr.), am Ende des Berichtsjahres 66
(34 M. 31 Fr.). Neuerdings wurde der Versuch gemacht, Trinker zu Familien,
die einem Knthaltsamkeitsvereine angehören, in Pflege zu geben, indem man auch
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Grütter, Anstaltswesen und Statistik.
357 *
ie Trinker dem Verein beitreten läßt. Die Zahl des Pflegepersonals wurde um je
2 Pfleger und Pflegerinnen vermehrt Mit der Errichtung zweier neuer großer
Jebäu de für 220 Patienten wurde begonnen.
Roda, Martinshaus (182): Bestand am Anfang des Berichtsjahres
6 (51 m. 35 w.). Zugang 16 (10 m. 6 w.). Abgang 17 (8 m. 9 w.). Bleibt
Jestand 85 (53 m. 32 w.). Vom Bestände waren behaftet mit Epilepsie 24 (16 m.
w.), Chorea 8 (6 m. 3 w.), Lähmung der Himnerven 7 (3 m. 4w.). der Glied*
aßen 9 (2 m. 7 w.). Unehelich geboren waren 12 (8 m. 4 w.). Bei den Eltern,
sw. nächsten Verwandten, der 102 Idioten fanden sich Geistes* und Nervenkrank¬
sten bei 51 (30 m. 21 w.), Alkoholismus bei 13 (7 m. 6 w.), Syphilis bei 6
: m. 2 w.), Tuberkulose bei 9 (4 m. 6 w.). Entlassen 16 (7 m. 8 w.). Ver-
orben 2 (1 m. 1 w.), beide im Status epilepticus.
Roda, Genesungshaus (181): Bestand in der Heil- und Pflege-
istalt für Geisteskranke am Anfang des Berichtsjahres 393 (209 M. 184 Fr.).
\gang 189 (108 AL 81 Fr.). Abgang 140 (83 AL 67 Fr.). Bleibt Bestand 442
34 M. 208 Fr.). In Familienpflege am Schluß des Jahres 40 (18 M. 22 Fr.),
»m Zugang litten an einfacher Seelenstörung 128 (67 M. 61 Fr.), an paralytischer
elenstörung 21 (18 M. 3 Fr.), Imbezillität, Idiotie und Kretinismus 11 (6 M.
Fr.), Epilepsie 9 (6 M. 4 Fr.), Hysterie 10 (6 M. 6 Fr.), Alkoholismus 6 (6 M.
/ Fr.). Heredität bei 36 (16 M. 20 Fr.), Alkoholmißbrauch bei 19 (18 M. 1 Fr.),
tlassen als geheilt 34 (20 M. 14 Fr.), gebessert 60 (34 M. 16 Fr.), ungeheilt 18
. \ M. 5 Fr.). Gestorben 38, davon an Lungentuberkulose 2 (1 M. 1 Fr.),
" phus abdomin. 3 Frauen.
Bayreuth (117): Bestand am 1. Januar 1908: 624 (362 AL 272 Fr.).
£ ' gang 163 (86 AL 77 Fr.). Abgang 160 (80 M. 70 Fr.). Bleibt Bestand 637
- 7 >8 M. 279 Fr.). Von den Aufgenommenen litten an einfacher Seelenstörung
' 5 (50 M. 56 Fr.), an hvstero-epileptischer Seelenstörung 21 (9 M. 12 Fr.), Im-
• ' illität 16 (12 AL 4 Fr.), Delirium potator. (Alkoholismus chron.) 9 (8 M. 1 Fr.).
- inkheitsdauer vor der Aufnahme bei 41 (20 AL 21 Fr.) bis zu 1 Monat, bei 12
- M. 8 Fr.) 2—3 Monate, bei 10 (2 AL 8 Fr.) 4-6 Monate, bei 10 (3 M. 7 Fr.)
. i 12 Monate, bei 7 (4 M. 3 Fr.) im 2. Jahre, bei 42 (30 M. 12 Fr.) über 2 Jahre,
s '-lestimmt 2. Heredität bei 77 (40 M. 37 Fr.) = 49 % (48). Alkoholmißbrauch
- ti’- 16 (16 M. 1 Fr.) = 9 % der Aufnahmen. Zur Beobachtung nach § 81 6
r/t-M. 1 Fr.), davon 2 nicht geisteskrank. Entlassen wurden als genesen 19 (8 M.
Ft.) = 13,1 %, gebessert 63 (36 M. 17 Fr.) = 37,2 %, ungebessert 29 (16 M,
- yr- Fr.) = 19,2 %, 6 als nicht geisteskrank. Gestorben 44 (15 M. 29 Fr.) = 30,3%.
- starben an Paralyse 6, im Status epilepticus 3, an Lungentuberkulose 10 (5 M.
= 22,7 %, der Mortalität. Gesamtausgabe 480 328,99 M.
Bamberg (116): Der Bericht umfaßt die Jahre 1908—1910. Zu Beginn
.Jahres 1908 betrug der Krankenbestand 110 Personen (46 M. 66 Fr.). Zugang
(39 AL 20 Fr.). Abgang 68 (39 AL 19 Fr.). Bleibt Bestand 111 (46 AL
-ylä- *•)• Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 46 (29 AL 17 Fr.), an
_ g iv »lytischer Seelenstörung 1 M., an Seelenstörung mit Epilepsie, Hystero-Epi-
^ ^ e 2 M., Imbezillität, Idiotie, Kretinismus 5 (2 AL 3 Fr.), Delirium potat.
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358 * Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
5 M. Heredität war in 24 Fällen, Alkoholmißbrauch in 14 Fällen Krankheits¬
ursache. Von den 59 Aufnahmen haben 28,8 % ihre geistige Erkrankung dem
Alkoholmißbrauch zu verdanken. Von den Entlassenen waren geheilt 17 (15 M.
2 Fr.), gebessert 17 (14 M. 3 Fr.), ungeheilt 12 Fr., davon 7 in andere Anstalten.
Gestorben sind 12 (Mortalität = 7,1 %), davon 6 an Altersschwäche. Bestand bei
Beginn des Jahres 1909: 111 Kranke (45 M. 66 Fr.). Zugang 91 (62 M. 39 Fr.).
Abgang 64 (37 M. 27 Fr.). Schlußbestand 138 (60 M. 78 Fr.). Vom Zugang
litten an einfacher Seelenstörung 72 (36 M. 36 Fr.), an paralytischer Seelenstörung
1 M., an Seelenstörung mit Epilepsie, Hvstero-Epilepsie 5 (4 M. 1 Fr.), an Im¬
bezillität, Idiotie, Kretinismus 6 (4 M. 2 Fr.), Delirium potat. 7 M. Heredität
war in 25 Fällen, Alkoholmißbrauch in 17 Fällen Krankheitsursache. Entlassen
geheilt 16 (9 M. 7 Fr.), gebessert 22 (12 M. 10 Fr.), ungeheilt 14 (9 M. 6 Fr.),
davon 8 in andere Anstalten. Gestorben sind 12 (7 M. 5 Fr.). Tuberkulose war
4 mal, Paralyse 1 mal Todesursache. Am Beginn des Jahres 1910 betrug der
Krankenbestand 138 (60 M. 78 Fr.). Zugang 95 (61 M. 44 Ff.). Abgang 95
(52 M. 43 Fr.). Schlußbestand 138 (59 M. 79 Fr.). Von den Aufgenommenen
litten an einfacher Seelenstörung 80 (38 M. 42 Fr.), an paralytischer Seelenstörung
4 (3 M. 1 Fr.), an Seelenstörung mit Epilepsie, Hystero-Epilepsie 3 M., an Im¬
bezillität, Idiotie, Kretinismus 4 (3 M. 1 Fr.), an Delirium potat. 3 M., nicht
geisteskrank war 1 M. Heredität war 31 mal (16 M. 15 Fr.), Syphilis 4 mal (3 M.
1 Fr.), Alkoholmißbrauch 11 mal (10 M. 1 Fr.) Krankheitsursache. Zur Beob¬
achtung 1 M. Von den Entlassenen waren genesen 19 (12 M. 7 Fr.), gebessert 30
(16 M. 14 Fr.), ungeheilt 32 (19 M. 13 Fr.), davon 24 in andere Anstalten.
Gestorben sind 13 (4 M. 9 Fr.). Tuberkulose war 2 mal, Paralyse 1 mal Todes¬
ursache. Mortalität = 6,57 %. Im Jahre 1908 wurde der neue Doppelpavillon
für Männer vollendet, ebenso der Festsaalbau nebst dem Wäschereigebäude. 1909
wurde dann der (alte) Probsteibau gründlich renoviert. Als Oberpflegerinnen auf
jeder Geschlechtsseite wurden barmherzige Schwestern angestellt. Der frühere
Name der Anstalt „Lokal-Irrenanstalt St. Getreu in Bamberg“ wurde ersetzt,
durch die Bezeichnung „Heil- und Pflege-Anstalt St. Getreu in Bamberg“.
Eglfing (132): Bestand am 1. Januar 1910: 1226 (616 M. 611 Fr.).
Zugang 592 (345 M. 247 Fr.). Abgang 618 (306 M. 212 Fr.). Bleibt Bestand
1300 (664 M. 646 Fr.). Vom Gesamtzugang litten an einfacher Seelenstörung
349 (168 M. 191 Fr.), an paralytischer Seelenstörung 108 (72 M. 36 Fr.), an
Seelenstörung mit Epilepsie, mit Hystero-Epilepsie 31 (21 M. 10 Fr.), an Im¬
bezillität, Idiotie, Kretinismus 26 (23 M. 3 Fr.), Delirium potat. 54 (49 M. 6 Fr.),
nicht geisteskrank waren 14 (12 M. 2 Fr.). Die Krankheitsdauer betrug (die ohne
vorherige Genesung wieder Aufgenommenen sind ausgenommen) bei 69 (16 M.
44 Fr.) bis zu 1 Monat, bei 86 (31 M. 64 Fr.) 2—3 Monate, bei 60 (38 M.
22 Fr.) 4—6 Monate, bei 95 (69 M. 26 Fr.) 7—12 Monate, bei 46 (34 M.
12 Fr.) im 2. Jahre, bei 180 (112 M. 68 Fr.) über 2 Jahre. Heredität
bei 184 (96 M. 88 Fr.). Mit dem Strafgesetz in Konflikt gekommen
waren 120 (96 M. 24 Fr.) der Aufgenommenen. Zur Beobachtung 32 (25 M.
7 Fr.), davon 14 (12 M. 2 Fr.) nicht geisteskrank. Von den Entlassenen sind
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Grütter, Anstaltswesen und Statistik.
359 *
«renesen 11,6 %, gebessert 31,7%, ungeheilt 9,0%, in andere Anstalten 17,6%.
Gestorben sind 161 Kranke = 8,4 % aller Verpflegten. Auf Tuberkulose treffen
17,9 % der Sterbefälle. Im Berichtsjahre 3 kleine Typhusepidemien, als Ursache
wurden Bazillenträger festgestellt, die isoliert wurden. Ein kleines bakteriologi¬
sches Laboratorium wurde eingerichtet. Die Überfüllung in der Anstalt beträgt
12,4 %. Die neue Anstalt Haar ist im Bau und wird voraussichtlich Ende 1912
eröffnet werden.
Gabersee (140): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 770 (398 M.
372 Fr.). Zugang 260 (121 M. 129 Fr.). Abgang 211 (186 M. 105 Fr.). Bleibt
Bestand 809 (413 M. 3% Fr.). Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung
165 (= 79,7 %), an paralytischer Seelenstörung 21 (= 10,1 %), an Epilepsie mit
Seelenstörung 8 (=3,9%), an Imbezillität 6 (=2,4%), an Alkoholismus 8
(3,9 %). Im 1. Monat der Erkrankung standen 16,4 %, im 2.—3. Monat 19,3 %,
im 4.—6. 11,1 %, im 7. bis 12. 15 %, im 2. Jahre 8,2 %, über 2 Jahre waren krank
22,2 %. Heredität bei 44,4 %. Von den Entlassenen waren genesen 36 = 16,6 %,
gebessert 76 = 36,0 %, ungeheilt 36 = 16,6 %. Gestorben 66 = 8,2 % des durch¬
schnittlichen Bestandes oder 6,4 % des Gesamt bestandes. An Paralyse starben 16,
an Lungentuberkulose 12. Im Bau befindet sich ein viergliedriger Pavillon für
72 pflegebedürftige Frauen. Die Erbauung eines dritten Ärzte- und Beamten¬
wohnhauses wurde beschlossen. Die neue Licht- und Kraftanlage konnte Mitte
September in Betrieb gesetzt werden. — Gesamtausgabe 863 082,56 M.
Kaufbeuren (149): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 641 (312 M.
329 Fr.). Zugang 361 (204 M. 157 Fr.). Abgang 360 (191 M. 159 Fr.). Bleibt
Bestand 662 (326 M. 327 Fr.). Von den Aufgenommenen litten an einfacher
Seelenstörung 244 (119 M. 126 Fr.), an paralytischer Seelenstörung 28 (21 M.
7 Ft.), an Seelenstörung mit Epilepsie, mit Hystero-Epilepsie 32 (11 M. 21 Fr.),
Imbezillität 16 (11 M. 4 Fr.), Delirium potat. 32 M.; nicht geisteskrank waren
10 M. Zur Beobachtung 14 M., von denen 4 geisteskrank waren. Wegen Gemein¬
gefährlichkeit waren vom Zugang 69 = 19,1 % polizeilich in der Anstalt gewiesen.
Unter den 270 Erstaufnahmen und wiederholten Aufnahmen nach vorheriger
Genesung standen 63 = 23,3 % im 1. Monat der Erkrankung. Heredität in 45 %.
Entlassen wurden als genesen 62 (26 M. 36 Fr.) = 18,2 %, gebessert 137 (76 M.
61 Fr.) = 40,2%, ungeheilt 93 (60 M. 43 Fr.) = 27,3% des Abgangs. Ge¬
storben sind 48 (29 M. 19 Fr.) = 7.2 % des Durchschnittsbestandes. Tuberkulose
war 6 mal Todesursache = 10,4 %, 12 (10 M. 2 Fr.) waren paralytisch. Durch¬
schnittsgewicht der männlichen nicht paralytischen Gehirne 1289 g., der weiblichen
1136 g., der männlichen paralytischen Gehirne 1269,8 g. Ein Selbstmord durch
Erhängen. Beschäftigt waren bei den Männern durchschnittlich 130, bei den
Frauen 115. Gesamtausgabe 670 347,87 M.
Pflegeanstalt Irrsee: Bestand am 1. Januar 1910 : 271 (126 M.
146 Fr.). Zugang (sämtlich aus Kaufbeuren) 31 (14 M. 17 Fr.). Abgang 32
(16 M. 17 Fr.). Bleibt Bestand 270 (125 M. 145 Fr.). Heredität bei 61 % der
Aufgenommenen. Es litten an einfacher Seelenstörung 19 (8 M. 11 Fr.), an para-
ivtischer Seelenstörung 6 (4 M. 2 Fr.), an Seelenstörung mit Epilepsie 2 (1 M.
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360 *
Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
1 Fr.), Imbezillität 3 Fr., Alkoholismus chron. 1 M. Genesene sind nicht zu ver¬
zeichnen, 1 Fr. ist gebessert entlassen. Gestorben 31 (16 M. 16 Fr.) = 97 % des
Gesamtabganges. 32 % der Verstorbenen waren paralytisch, 9,6 % tuberkulös.
Die beiden neuen offenen Pavillons in Kaufbeuren wurden fertiggestellt und be¬
zogen, der Männerpavillon faßt 46, der Frauenpavillon 36 Kranke. In Irrsee wurde
die Beleuchtung, Warmwasserbereitung, Koch- und Waschküche modernisiert.
Der schwäbische Landrat hat beschlossen, von einer Erweiterung Kaufbeurens
abzusehen und dagegen sofort zur Erbauung einer neuen Anstalt für Geisteskranke
zunächst für 300 Kranke zu schreiten.
Kutzenberg (166): Bestand am 1. Januar 1910: 273 (163 m. 120 Fr.).
Zugang 139 (78 M. 61 Fr.). Abgang 110 (67 M. 43 Fr.). Bleibt Bestand 302
(164 M. 138 Fr.). Von den Aufgenommenen litten an einfacher Seelenstörung 116
(67 M. 69 Fr.), an paralytischer Seelenstörung 6 M., an Seelenstörung mit Epi¬
lepsie, Hystero-Epilepsie 2 M., an Imbezillität 6 (4 M. 2 Fr.), an Delirium potat.
10 M. Im 1. Monat der Erkrankung befanden sich 23 (10 M. 13 Fr.), im 2.—3.
Monat 13 (8 M. 6 Fr.), im 4.—6. Monat 11 (6 M. 6 Fr.), im 7.—12. Monat 11
(9 M. 2 Fr.), im 2. Jahre 10 (6 M. 4 Fr.), über 2 Jahre waren krank 46 (27 M.
19 Fr.). Von den 139 Auf genommenen waren 88 (46 M. 43 Fr.) erblich belastet.
Mit dem Strafgesetze in Konflikt geraten waren 19 (18 M. 1 Fr.). Entlassen als
gebessert 71 Kranke (43 M. 28 Fr.), ungebessert 16 (11 M. 4 Fr.). Gestorben
sind 24 (13 M. 11 Fr.). Ständig beschäftigt von den Männern 39,2 %, bei den
Frauen 33,6 %, in Bett- oder Badbehandlung ständig 2 % bei den Männern, 0 %
bei den Frauen. Eine Summe von 2160 000 M. wurde für den Ausbau auf 600
Kranke bewilligt. Gesamtausgabe 219 633,28 M.
München (168): Der Bericht über die Kgl. psychiatrische Klinik in
München umfaßt die Jahre 1908 und 1909. Zugang 1908:1882 (1189 M. 693 Fr.).
Zugang 1909: 1939 (1180 M. 769 Fr.). Das Jahr 1909 zeigt die seit Bestehen
der Klinik höchste Aufnahmeziffer. Durchschnittliche Belegzahl 1909:120 Betten.
Die alkoholischen Geistesstörungen nehmen auch in den Berichtsjahren bezüglich
ihrer Häufigkeit eine hervorragende Stellung ein, sie sind jedoch überflügelt von
den manisch-depressiven Erkrankungen. Die Zahl der Dementia praecox-Fälle
ist weiter zurückgegangen, von 223 Fällen im Jahre 1906 fiel sie auf 96 im Jahre
1909. Umgekehrt stieg die Zahl der manisch-depressiven Erkrankungen von
96 Fällen 1905 auf 262 Fälle 1909. Diese Verschiebung der Häufigkeitsziffer beider
Erkrankungen ist eine Folge der katamnestisch gewonnenen Erfahrung der Heilung
zahlreicher Fälle, denen früher ein ungünstiges Prognostikon gestellt wurde. Im
einzelnen litten in den Jahren 1908 und 1909 an Dementia praecox 98 (67 M.
41 Fr.) und 96 (61 M. 36 Fr.), an Paralyse 160 (106 M. 46 Fr.) und 164 (103 M.
61 Fr.), an Hiralues 17 (10 M. 7 Fr.) und 10 (8 M. 2 Fr.), Arteriosklerose 27
(22 M. 6 Fr.) und 27 (21 M. 6 Fr.), seniler Demenz 32 fl6 M. 17 Fr.) und 60
(25 M. 26 Fr.), manisch-depressivem Irresein 267 (82 M. 176 Fr.) und 262 (76 M.
186 f r.), Alkoholismus 248 (206 M. 42 Fr.) und 234 (206 M. 28 Fr.), Epilepsie
147 (123 M. 24 Fr.) und 116 (82 M. 33 Fr.), Hysterie 133 (49 M. 84 Fr.) und
149 (70 M. 79 Fr.), traumatischer Geistesstörung 33 (29 M. 4 Fr.) und 64 (49 M.
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Grütter, Anstaltswesen und Statistik.
361 *
6 Fr.), Psychopathie 163 (86 M. 67 Fr.) und 204 (122 M. 82 Fr.), Imbezillität
21 (17 M. 4 Fr.) und 39 (21 M. 18 Fr.), Idiotie 6 (4 M. 1 Fr.) und 11 (8 M.
3 Fr.). Die einzelnen Krankheitsformen werden im weiteren Bericht ausführlich
besprochen, den Beschluß der sehr interessanten Abhandlungen bilden die Ergeb¬
nisse der mikroskopischen Untersuchung und die Arbeiten des chemischen La¬
boratoriums.
Bestand der in staatlichen Anstalten und mit Staatsunterstützung in Privat¬
anstalten untergebrachten Geisteskranken Württembergs (211) zu Beginn
des Jahres 1909 : 3328, am Schlüsse 3390.
Winnen tal : Bestand am 1. Januar 1909: 406 (190 M. 216 Fr.). Zu¬
gang 130 (86 M. 45 Fr.). Abgang 111 (70 M. 41 Fr.).
Schussenried: Bestand am 1. Januar 1909 : 497 (271 M. 226 Fr.).
Zugang 163 (86 M. 67 Fr.). Abgang 141 (76 M. 65 Fr.).
Zwiefalten : Bestand am 1. Januar 1909: 571 (328 M. 243 Fr.). Zu¬
gang 101 (43 M. 58 Fr.). Abgang 90 (40 M. 60 Fr.).
Weißenau: Anfangsbestand 649 (276 M. 273 Fr.). Zugang 101
(66 M. 36 Fr.). Abgang 110 (66 M. 44 Fr.).
Weinsberg : Anfangsbestand 649 (276 M. 274 Fr.). Zugang 124 (62 M.
62 Fr.). Abgang 121 (61 M. 60 Fr.).
Von den 366 erstmals aufgenommenen oder nach erfolgter Genesung rück¬
fällig gewordenen Kranken standen im 1. Monat der Erkrankung 18,6 %, im 2.
und 3. Monat 16,7 %, im 4.—6. Monat 13,7 %, im 7.—12. Monat 12,3 %, die
übrigen (38,7 %) waren länger als 1 Jahr vor der Aufnahme krank. Vom Gesamt¬
zugang waren angeborene Störungen (Idiotie, Kretinismus, Imbezillität) 3,6 %,
konstitutionelles Entartungsirresein (neurasthenisches, hysterisches Irresein) 3,6 %,
depressives Irresein 9,3 %, manisches Irresein 1,8 %, periodisches und zirkuläres
Irresein 12,3 %, akute halluzinatorische Verwirrtheit und akuter halluzinatorischer
Wahnsinn 4,9 %, primäre Demenzformen (Dement, praecox, Hebephrenie, Kata¬
tonie) 27,3 %, chronische Verrücktheit 9,2 %, sekundäre Verblödungsprozesse 0,2 %,
Geistesstörungen mit anatomischem Befund 12,3 %, darunter Dementia paralytica
4,7 %, epileptische Geistesstörungen 6,4 %, Intoxikationspsychosen 4,9 %. Zur
Beobachtung kamen 6,3 %. Die primären Demenzformen stehen wie bisher mit
5 4 aller Aufnahmen an der Spitze. Hinsichtlich des Alters der Erkrankung bei
männlichen und weiblichen Kranken ergibt sich, daß die Männer vor dem 26. Lebens¬
jahre mehr gefährdet sind als die Frauen. In dem Lebensalter zwischen 30 und
60 Jahren tritt ein Ausgleich ein. Nach dem 60. Lebensjahre überwiegen die
Frauen in der Häufigkeit der Erkrankung. Mit dem Strafgesetz kamen in Kon¬
flikt 13 7 %, davon vor der Erkrankung 7,7 %, nach der Erkrankung 6,0 %. He¬
redität fand sich bei den erstmals oder nach erfolgter Genesung rückfällig ange¬
nommenen Kranken in 180 Fällen = 49,3% der Aufnahmen. Als anderweitige
Krankheitsursachen werden angegeben Alkoholismus in 7,1 %, psychische Ein¬
flüsse in 3,0 %, Lues in 2,6 %, akute Infektionskrankheiten in 0,8 %, Verletzungen
in 2,8 %, Puerperium in 0,6 %, chronische Krankheiten in 0,6 %, sonstige bekannte
Ursachen in 3,4 % der Fälle.
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362 *
Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
Entlassen 673 (318 M. 260 Fr.), davon geheilt 49 = 9,2 %, gebessert 249 =
46,9%, ungeheilt 100 = 18,4% der Entlassenen. Die meisten Heilungen ent¬
fielen auf akute halluzinatorische Verwirrtheit mit 63,9 %, akuten halluzinatorischen
Wahnsinn mit 46,7 %, manisch-depressives Irresein mit 36,4 %. Gestorben sind
144 = 26,1 % des Gesamtabganges, davon 76 M. und 69 Fr. An Lungen- und
Darmtuberkulose starben 24,3 %. — In Winnental wurde der für Verwaltungs¬
zwecke bestimmte Neubau bezogen, die neuen Krankenbauten wurden im Rohbau
fertiggestellt.
Die Gesamtzahl der in den Privat-Irrenanstalten des Landes behan¬
delten Geisteskranken betrug 1704 Kranke, von diesen Privatpfleglinge 781 =
46,8 %, Staatspfleglinge 923 = 64,2 %. Auf die Gesamtzahl der Verpflegten
beträgt der Zugang 26,6 %, der Abgang 24,7 %, in Behandlung blieben 76,3 %.
Der Staatsaufwand für die in den Privat-Irrenanstalten untergebrachten Staats¬
pfleglinge betrug 126 811,60 M.
Von den 369 Aufnahmen litten an depressivem Irresein 11,0 %, periodischem
und zirkulärem Irresein 16,8 %, primären Demenzformen 32,1 %, Geistesstörungen
mit anatomischem Befund 8,9 % (darunter Dement, paralyt. 3,9 %). Vom
Zugang mit dem Strafgesetz in Konflikt geraten 34, Heredität bei 171; Alkohol
war bei 8 %, Lues bei 2 % der Aufnahmen Krankheitsursache. Vom Gesamtabgang
(421 = 33 % des Anfangsbestandes) wurden geheilt 9 %, gebessert 46 %. ungeheilt
13 %, in eine andere Anstalt versetzt 7 %, gestorben sind 26 %. Lungen- und
Darmtuberkulose war in 20 % der Todesfälle Todesursache.
In der Heil- und Pflege-Anstalt für Schwachsinnige und Epileptiker Stetten
im Remstal (197) betrug die Zahl der 1910 verpflegten Kranken 639 (336 m.
204 w.). Der Bestand am 1. Januar 1910 betrug 473, am 31. Dezember 1910: 483.
Gesamtzugang 66 (40 m. 26 w.), Gesamtabgang 66 (40 m. 16 w.). Aus der Abteilung
für Schwachsinnige (Anfangsbestand 249, Schlufibestand 264) wurden gebessert
entlassen 16 (14 m. 2 w.), ungebessert 4 (2 m. 2 w.), in eine andere Anstalt 2
(1 m. 1 w.), gestorben 6 männliche. Von den gebessert Entlassenen leiden 14 an
angeborenem Schwachsinn, erbliche Belastung bei 9 = 60,6 %. 1 mal war Gehirn¬
entzündung, 1 mal Kopfverletzung Ursache des Schwachsinns. Von den unge¬
bessert Entlassenen litten sämtliche 4 an angeborenem Schwachsinn mittleren
Grades. Sämtliche 6 Gestorbene waren erblich belastet. Von den in der Abteilung
für Schwachsinnige Eingetretenen zeigten 20 = 62,6 % erbliche Belastung, 3 haben
Lähmungserscheinungen. Sonstige Krankheitsursache bei den aufgenommenen
Schwachsinnigen: Himcntzündung in 3 Fällen, englische Krankheit in 9, Kopf¬
verletzung in 4, Scharlach und Diphtherie in je 2 Fällen. In der Abteilung für
Epileptische war der Bestand beim Beginn des Berichtsjahres 224 (124 m. 100 w.),
beim Schlüsse des Jahres 229 (126 m. 104 w.). Aufgenommen wurden 34 (19 m.
16 w.). Heredität bei 68 %. Andere Ursachen: Himentzündung 7 mal, Zahn¬
krämpfe 13 mal, 6 mal englische Krankheit. Bei 6 der Aufgenommenen bestanden
Lähmungserscheinungen. Entlassen gebessert 7 (6 m. 2 w.), ungebessert 7 (6 m.
1 w.), in eine andere Anstalt 6 (2 ra. 4 w.). gestorben 9 (6 m. 4 w.).
Mariaberg (166) verpflegte im Berichtsjahre 176 (130 m. 46 w.) Zog-
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Grütter, Anstaltswesen und Statistik.
363 *
linge, davon neu eingetreten 13 (10 m. 3 w.). Abgang 8 (6 m. 2 w.), davon ge¬
storben 3 (3 m.), so daß am Jahresschluß ein Bestand von 167 verblieb.
Heidelberg (116): Der Bericht umfaßt, wie bei allen badischen An¬
stalten, die Jahre 1909 und 1910. Bestand Anfang 1909: 139 (78 M. 61 Fr.).
Zugang 662 (373 M. 289 Fr.), Abgang 686 (390 M. 296 Fr.). Bestand am 1. Ja¬
nuar 1910: 116 (61 M. 64 Fr.). Zugang 1910 : 701 (423 M. 278 Fr.), Abgang 711
(423 M. 288 Fr.). Bleibt Bestand am 1. Januar 1911: 105 (61 M. 44 Fr.). Von
den 1909 Aufgenommenen litten an Idiotie und Imbezillität 17, an Paralyse 64,
Arteriosklerose 11, seniler Demenz 20, Epilepsie 32, Dementia praecox 176, Al¬
koholismus und seinen Psychosen 41, manisch-depressivem Irresein 151, Hysterie
34, Psychopathie 49, Paranoia 1, nicht geisteskrank waren 11. Von den Aufnahmen
im Jahre 1910 litten an Idiotie und Imbezillität 27, Paralyse 44, Hirnlues und
Tumor cerebri je 2, Arteriosklerose 21, seniler Demenz 18, Epilepsie 27, Dementia
praecox 182, Alkoholismus und seinen Psychosen 37, manisch-depressivem Irresein
143, Hysterie 43, Psychopathie 62, nicht geisteskrank wen 18.
Zur Beobachtung gemäß § 81 Str.-Pr.-O. wurden im Jalire 1909 = 24 Per¬
sonen (18 M. 6 Fr.), im Jahre 1910 = 19 Personen (19 M.) aufgenommen.
Definitive Entlassungen 1909 = 36, 1910 = 173, versuchsweise Entlassungen
1909 = 323, 1910 = 193. Geheilt entlassen wurden 1909 = 99, 1910 = 94, ge¬
bessert 1909 = 162, 1910 = 139, ungebesscrt 96 — 126. Entlassen in Familien¬
pflege 368 •— 366, in eine andere Anstalt 290 — 309. Todesfälle 1909 = 38
(18 M. 20 Fr.), 1910 = 36 (22 M. 14 Fr.). Es starben an Paralyse 11 (9 M.
2 Fr.). Gesamtausgabe 1909 201 684,16 M., 1910 197 668,65 M.
Freiburg i. B. (115): Krankenstand am 1. Januar 1909: 151 (78 M.
73 Fr.), Zugang 540 (301 M. 239 Fr.), Abgang 647 (302 M. 246 Fr.). Bestand
Ende 1909: 144 (77 M. 67 Fr.). Vom Bestand am 31. Dezember 1909 litten an
einfacher Seelenstörung 88 (39 M. 49 Fr.), paralytischer Seelenstörung 19 (16 M.
4 Fr.), an Imbezillität, Idiotie, Kretinismus 5 (3 M. 2 Fr.), Epilepsie 8 (4 M.
4 Fr.), Hysterie 7 (3 M. 4 Fr.), Alkoholismus 7 (6 M. 2 Fr.), an anderen Krank¬
heiten des Nervensystems 10 (8 M. 2 Fr.). Zur Beobachtung kamen im Jahre
1909 27 Personen. Unter den 1908 Entlassenen waren geheilt 49, gebessert 180,
ungcbessert 67, in andere Anstalten wurden versetzt 206. Gestorben sind 48
(17 M. 31 Fr.). Paralyse war 6 mal Todesursache. Gesamtausgabe 1909:
244 831,73 M. In der Abteilung für Nervenkranke betrug der Bestand am Anfang
des Jahres 1909. 18 (8 M. 10 Fr.). Zugang 329 (197 M. 132 Fr.). Abgang 326
(193 M. 133 Fr.). Bestand am Ende des Berichtsjahres: 21 (12 M. 9 Fr.).
219 Fälle waren zur Begutachtung im Unfall- und Invaliditätsverfahren einge¬
wiesen. Krankenbestand am 1. Januar 1910: 144 (77 AL 67 Fr.). Zugang im
Jahre 1910 = 626 (280 M. 246 Fr.). Abgang 636 (286 M. 261 Fr.). Bleibt
Bestand am Ende des Jahres 1910: 134 (72 M. 62 Fr.). Zur Beobachtung kamen
1910 = 20 Personen. Vom Bestand am 31. Dezember 1910 litten an einfacher
Seelenstörung 102 (47 M. 66 Fr.), an paralytischer Seelenstörung 7 M., an Im¬
bezillität, Idiotie, Kretinismus 4 (2 M. 2 Fr.), Epilepsie 6 (4 M. 2 Fr.), Hysterie
3 Frauen, Alkoholismus 11 Männer, anderen Krankheiten des Nervensystems 1 M.
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364 *
Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
Im Jahre 1910 sind gestorben 66 (31 M. 25 Fr.), davon an Paralyse 16. Gesamt¬
ausgabe 1910 = 263 949,51 M. In der Abteilung für Nervenkranke Bestand am
Beginn des Jahres 1910: 21 (12 M. 9 Fr.), Zugang 379 (207 M. 172 Fr.). Ab¬
gang 374 (205 M. 169 Fr.). Bleibt Bestand 26 (14 M. 12 Fr.). Unter den 373
Aufnahmen waren 188 Fälle, die zur Begutachtung im Unfall- und Invaliditäts-
Verfahren eingewiesen waren.
Emmendingen (115): Bestand am Anfang des Jahres 1909: 1411
(756 M. 686 Fr.). Zugang im Jahre 1909: 293 (150 M. 143 Fr.) Abgang 314
(164 M. 160 Fr.). Bestand am Ende 1909: 1420 (741 M. 679 Fr.). Unter den
Aufnahmen waren 208 erste, 85 wiederholte Aufnahmen. Von den Kranken litten
an einfacher Seelenstörung 1342, Paralyse 100, Imbezillität, Idiotie 154, Epilepsie
mit Seelenstörung 186, Hysterie 9, Alkoholismus 30, Morphinismus 1. Mit dem
Strafgesetz in Konflikt geraten waren vom Krankenbestande am Schlüsse des
Jahres 249 M. und 55 Fr. In Entmündigungsangelegenheiten waren 26 Gut¬
achten, in Ehescheidungssachen 6 Gutachten abgegeben. Von den Entlassenen
waren gebessert 142, ungebessert 69. Gestorben sind im Jahre 1909: 85 (39 M.
46 Fr.). Tuberkulose war in 30 Fällen, Paralyse in 6 Fällen, Epilepsie in 8 Fällen
Todesursache. Es herrscht weiterhin starke Überfüllung, Normalbelegzahl 925!
Die schlimmeren nnd schwieriger zu behandelnden Patienten nehmen von Jahr
zu Jahr zu, die Ruhigeren werden der Überfüllung wegen so früh wie möglich
wieder entlassen. Regelmäßig beschäftigt waren 36,62 % der Kranken. Das
Dauerbad in der Männer-Zentralanstalt ist fertiggestellt. In Familienpflege 9
Kranke (1 M. 8 Fr.). Das neueintretende Personal wird auf Bazillenträger unter¬
sucht, die Untersuchung ergab bei 6 positiven Paratyphusbefund, bei 3
paratyphusartige Bazillen. Krankenbestand Anfang 1910: 1420 (741 M. 679 Fr.).
Zugang 330 (185 M. 146 Fr.). Abgang 380 (174 M. 206 Fr.). Bleibt Bestand
1370 (752 M. 618 Fr.). Vom Krankenbestand litten an einfacher Seelenstörung
1370, an Paralyse 6, an Imbezillität, Idiotie 164, an Epilepsie mit Seelenstörung
169, an Hysterie 14, Alkoholismus 34. Mit dem Strafgesetz in Konflikt geraten
waren vom Bestände am Schlüsse des Jahres 260 (210 M. 50 Fr.). In 2 straf¬
rechtlichen Fällen, in 16 Entmündigungssachen und 7 Ehescheidungssachen wurden
Gutachten abgegeben. Von den Entlassenen waren gebessert 144, ungebessert 167.
entlassen in Familien 132, in eine andere Anstalt 179. Gestorben 69 (33 M. 36 Fr.),
davon an Tuberkulose 27, Paralyse 1, Epilepsie 4. Gesamtausgabe 1910: im
ordentlichen Etat 1522 680,12 M., im außerordentlichen Etat 16001,85 M.
Illenau (116): Der Bestand am Anfang des Jahres 1909 betrug 654
(333 M. 321 Fr.). Zugang im Laufe des Jahres 1909: 580 (282 M. 298 Fr.).
Abgang 662 (266 M. 296 Fr.). Stand am Ende 1909 : 672 (349 M. 323 Fr.).
Von den Aufnahmen waren erblich belastet 328; es litten an einfacher Seelen¬
störung 454 (197 M. 257 Fr.), an paralytischer Seelenstörung 31 (24 M. 7 Fr.),
an Imbezillität, Idiotie, Kretinismus 13 (8 M. 6 Fr.), Epilepsie 6 M., Hysterie 28
(6 M. 22 Fr.), Alkoholismus 23 (21 M. 2 Fr.). Gemäß § 81 Str.-P.-O. wurden
aufgenommen 7 M., wegen Entmündigung 24 (18 M. 6 Fr.). In Privatpflege ent¬
lassen wurden im Jahre 1909 als genesen 48 (30 M. 18 Fr.), gebessert 321 (145 M.
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Grütter, Anstaltswesen und Statistik.
365*
176 Fr.), ungebessert 16 (5 M. 11 Fr.); die übrigen wurden in andere Anstalten
versetzt. Gestorben sind 66 (32 M. 33 Fr.), davon an Tuberkulose 7 (3 M. 4 Fr.),
an Paralyse 13 (11 M. 2 Fr.), an Suicid 1 M. Im Jahre 1910 betrug der Anfangs¬
bestand 672 (349 M. 323 Fr.). Zugang für 1910 = 606 (311 M. 294 Ir.). Ab¬
gang 622 (346 M. 276 Fr.). Bleibt Bestand 665 (314 M. 341 Fr.). Von den 1910
Aufgenommenen litten an einfacher Seelenstörung 445 (195 M. 260 Fr.), an para¬
lytischer Seelenstörung 32 (26 M. 7 Fr.), an Imbezillität, Idiotie, Kretinismus
21 (13 M. 8 Fr.), Epilepsie 6 Männer, Hysterie 32 (10 M. 22 Fr.), Alkoholismus
43 (41 M. 2 Fr.). Heredität bei 236. Zur Beobachtung gemäß § 81 St.-I'.-O. 14
Männer, wegen Entmündigung 20 (14 M. 6 Fr.). Entlassen wurden 1910 in
Privatpflege als geheilt 101 (68 M. 43 F r .), gebessert 276 (134 M. 141 Fr.), un¬
gebessert 30 (18 M. 12 Fr.). Gestorben sind 66 (38 M. 27 Fr.). Tuberkulose
war 8 mal (3 M. 6 Fr.), Paralyse 10 mal (9 M. 1 Fr.), Suicid 1 mal (1 M.) Todes¬
ursache. — Gesamtausgabe 1909 : 893 947 M., im Jahre 1910 : 880 133,46 M. Die
Überfiillung der Anstalt hält an.
Pforzheim (115): Anfangsbestand des Jahres 1909:616 (305 M. 311 Fr.).
Zugang 78 (60 M. 28 Fr.). Abgang 86 (44 M. 42 Fr.). Schlußbestand 1909:
608 (311 M. 297 Fr.). Zugang 1910 : 62 (33 M. 29 Fr.). Abgang 78 (47 M.
31 Fr.). Bleibt Bestand 692 (297 M. 295 Fr.). Erblich belastet waren vom
Zugang 1909: 30 (18 M. 12 Fr.), vom Zugang 1910: 23 (11 M. 12 Fr.). Von den
Aufnahmen 1909 waren erste Aufnahmen 76, wiederholte Aufnahmen 2, vom
Zugang 1910 waren 60 erste, 2 wiederholte Aufnahmen. Von den 1909 verpflegten
Kranken litten an einfacher Seelenstörung 606 (232 M. 274 F'r.), an paralytischer
Seelenstörung 88 (60 M. 28 Fr.), an Epilepsie mit Seelenstörung 16 (12 M. 4 Fr.),
Imbezillität, Idiotie, Kretinismus 81 (49 M. 32 Fr.), Hysterie 1 M. Von den 1910
Verpflegten litten an einfacher Seelenstörun? 482 (227 M. 266 Fr.), an paralytischer
Seelenstörung 83 (64 M. 29 Fr.), an Epile. sie 17 (12 Al. 5 Fr.), an Imbezillität
Idiotie, Kretinismus 84 (49 M. 36 Fr.), Hysterie 1 M. Begutachtet 1909 : 4 (1 M.
3 Fr.), 1910: 8 (3 M. 6 Fr.). Entlassen wurden 1909 als gebessert 13, ungebessert
6, in Familienpflege 10, in andere Anstalten 9. Im Jahre 1910: gebessert 7,
ungebessert 8, entlassen in Familienpflege 7, in andere Anstalten 8.
Gestorben sind 1909 : 67 Kranke (36 M. 32 Fr.). Todesursache war Paralyse
18 mal (10 M. 8 Fr.), Tuberkulose 10 mal (4 M. 6 Fr.). 1910 starben 63 (36 M.
27 Fr.), davon an Paralyse 14 (9 M. 6 Fr.), an Tuberkulose 12 (5 M. 7 Fr.).
Gesamtausgabe 1909 : 381166,96 M. Ausgabe 1910 : 383105,28 M. Die Ver¬
mehrung der Zahl der unreinlichen Kranken erschwert den Anstaltsdienst trotz der
Verminderung der Krankenzahl wesentlich. 3 Erkrankungen an Erysipel, 3 Er¬
krankungen an Typhus (1 Kranker, 2 Wärterinnen).
Wiesloch (115 u. 209): Bestand Anfang 1909: 629 (339 Al. 290 Fr.).
Zugang 367 (181 M. 186 Fr.). Abgang 164 (60 M. 94 Fr.). Bestand Ende 1909:
798. Von den Aufgenommenen litten an einfacher Seelenstörung 310 (133 M.
177 Fr.), an paralytischer Seelenstörang 7 M., an Imbezillität, Idiotie, Kretinis¬
mus 14 (11 M. 3 Fr.), Epilepsie 18 (16 M. 3 Fr.), Hysteiie 3 (1 M. 2 Fr.), Al¬
koholismus 14 M. Heredität bei 122 (90 Al. 32 F'r.), Alkoholmißbrauch bei 61
Zeitschrift für Psychiatrie. LXIX. Lit. Z
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366* Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
(66 M. 6 Fr.). Entlassen in Privatpflege wurden als gebessert 109 (41 M. 68 Fr. i.
ungebessert 6 M. Gestorben 31 (9 M. 22 Fr.), davon an Paralyse 2 (1 M 1 Fr i.
an Tuberkulose 17 (6 M 12 Fr), durch Verbrühen 1 M., durch Suicid 1 Fr.
Anfangsbestand 1910 : 842 (460 M. 382 Fr.). Zugang 548 (274 M. 274 Fr.).
Abgang 296 (163 M. 133 Fr.). Bleibt Bestand 1094 (671 M. 523 Fr.). Von den
Aufgenommenen litten an einfacher Seelenstörung 422 (176 M. 246 Fr.), an para¬
lytischer Seelenstörung 16 M., an Imbezillität, Idiotie, Kretinismus 29 (21 34.
8 Fr.), an Epilepsie 69 (44 M. 16 Fr.), an Hysterie 2 (1 M. 1 Fr.), an Alkoholis¬
mus 14 (13 M. 1 Fr.). Heredität bei 242 (151 M. 91 Fr.), Alkoholmißbrauch
bei 80 (73 M. 7 Fr.) der Aufgenommenen. Entlassen in Privatpflege wiirden als
gebessert 208 (104 M. 104 Fr.), ungebessert 14 M. Gestorben sind 47 (27 M.
20 Fr.). Paralyse war 6 mal (4 M. 2 Fr.), Tuberkulose 19 mal (12 M. 7 Fr.)
Todesursache. Zur Beobachtung nach § 81 St.-P.-0. kamen 7 Fälle.
6 neue Pavillons für Männer und 5 für Frauen sind fertiggestellt, ebenso 1
Ärztewohnhaus (Doppelhaus für 2 Familien) und 1 Wärterwohnhaus (für 4 Fa¬
milien). Für 1910/11 sind projektiert: Anbau eines Operationssaales an einen
Pavillon, ein neues Landhaus für 35 ruhige Männer, ein Lazarett für Infektions¬
krankheiten, ein gesichertes Haus für 46 gefährliche und verbrecherische Geistes¬
kranke, ein Landhaus für 36 ruhige Frauen, 2 Wohnhäuser für je 2 Familien des
Oberwartepersonals und 2 Wohnhäuser für je 2 Familien (Wärter und Werkmeister ,l
D ie 4 letzten sind bereits 1910 im Rohbau fertiggestellt.
Die Einrichtungen der Anstalt haben sich im ganzen bewährt. Dauerwache
(1—2 Monate) wird empfohlen. Beschäftigt waren im Jahre 1909 bei den Männern
39 %, 1910 45 %, bei den Frauen 38 % und 36 %. ln Familienpflege 12 M. Im
Jahre 1910 Typhusepidemie auf der Frauenseite, wahrscheinlich durch eine beur¬
laubte Pflegerin eingeschleppt. 7 Fälle, die sämtlich genasen.
In die Berichtszeit fällt die Bekanntgabe des neuen Irrenfürsorgegesetzcs
für Baden, das die Befugnisse der Anstalt bei der Aufnahme Geisteskranker wesent¬
lich erweitert und das Vorrecht der beiden Universitätskliniken und der Anstalt
lllenau, fast sämtliche Neuaufnahmen zu bekommen, einschränkt.
Gesamtausgabe 1909 : 837 373,27 M. Gesamtausgabe 1910 : 996 570,26 II.
Die Abteilung für Geisteskranke des Fürst-Karl-Landesspitals zu
Sigma; ingen (193) hatte einen Anfangsbestand von 147 (73 M. 74 F'-.).
Zugang 60 (25 M. 25 Fr.). Abgang 36 (16 M. 20 Fr.). Bleibt Bestand 16?
(83 M. 79 Fr.). Vom Gesamtbestande litten an einfacher Seelenstörung 138
(62 M. 76 Fr.), an paralytischer Seelenstörung 2 M., Imbezillität, Idiotie, Kreti¬
nismus 30 (16 M. 14 Fr.), Epilepsie mit Geistesstörung 18 (12 M. 6 Fr.), Hysterie
6 (3 M. 3 Fr.), Alkoholismus 3 M. Entlassen als geheilt 11 (6 M. 5 Fr.), ge¬
bessert 6 (3 M. 3 Fr.), ungeheilt 3 (2 M. 1 Fr.), gestorben 16 (4 M. 11 Fr.).
Saargemünd (186): Bestand am 1. Januar 1910: 624 (322 M. 302 Fr.).
Zugang 193 (114 M. 79 Fr.). Abgang 2ß0 (164 M. 76 Fr.). Bleibt Bestand 587
(282 M. 305 Fr.). Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 109 (49 M.
60 Fr.), an paralytischer Seelenstörung 34 (23 M. 11 Fr.), Seelenstörung mit
Epilepsie und Hysterie 20 (17 M. 3 Fr.), Idiotie und Imbezillität 16 (11 M. 4 Fr.),
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Grütter, Anstaltswesen und Statistik.
867*
alkoholischer Seelenstörung 7 ML, nicht geisteskrank waren 8 (7 M. 1 Fr.). Zur
Beobachtung nach § 81 St.-P.-O. wurden 9 (8 M. 1 Fr.) aufgenommen. Außer
diesen waren mit dem Strafgesetz in Konflikt gekommen 27 (18 M. 9 Fr.). He¬
redität bei 69 (36 M. 33 Fr.), Alkoholmißbrauch bei 26 (24 M. 2 Pr.), Trunk¬
sucht der Aszendenz außerdem bei 21 (17 M. 4 Fr.). Entlassen als genesen 23,
gebessert 53, ungeheilt 107, davon 95 in andere Anstalten. Gestorben 47. Todes¬
ursache war 2 mal Dysenterie, je 1 mal Erysipel und Typhus, 10 mal Tuberkulose
(6 M. 4 Fr.), 7 mal Dementia paralytica (6 M. 1 Fr.). Gesamtsterblichkeit
7.48% (9% Männei, 5,96% Frauen). 3 Fälle von Suicid (1 M. 2 Fr.). Es
traten 8 Fälle von Typhus auf, zum Teil von einer Bazillenträgerin herrührend,
die als nicht mehr verdächtig von der Isolierstation entlassen war, später aber
von neuem ausschied. 3 neu eingetretene Pflegerinnen wurden als Bazillenträger
erkannt und sind aus dem Dienst entlassen. Außerdem wurden 4 weibl. und 1 männl.
Kranker &ls Bazillenträger erkannt. Zahl der weiblichen Bazillenträger ist zeit¬
weise auf 13 gestiegen, auf der Männerseite ist nur einei. Alle Veisuche, die Ba¬
zillen der Typhusträger zum Schwinden zu biingen (Darminjektion von 01. Olivar.
und Chloroform 3 :1 mit nachfolgender Milchinjektion, subkutane Irjektion von
sogenanntem Typhusserum, endlich innerlich Borovertin) blieben erfolglos. Ge¬
samtausgabe 430 472,37 M.
Stephansfeld-Hördt (196): Bestand in Stephansfeld bei Beginn
des Berichtsjahres 900 (412 M. 488 Fr.). Zugang 260 (133 M. 117 Fr.). Ab¬
gang 225 (124 M. 101 Fr.). Bleibt Bestand 925 (421 M. 604 FY). Vom Zugang
litten an einfacher Seelenstörung 176 (80 M. % FY), an paralytischer Seelcn-
störung 22 (17 M. 6 Fr.), sonstigen organischen Psychosen 8 (6 M. 2 Fr.), Epi¬
lepsie und Hysterie 16 (11 M. 5 FY), Idiotie und Imbezillität 12 (6 M. 6 Fr.),
Alkoholismus (Morfinismus) 11 M., nicht geisteskrank waren 5 (2 M. 3 FY).
An Paralyse litten 16,5 % der aufgenommenen Männer, 4,3 % der F'rauen. Zur
Beobachtung kamen 4 l’ntersuchungsgefangene. Entlassen als genesen 31 (11 M.
20 Fr.), gebessert 86 (49 M. 37 Fr.), ungeheilt in die Familie 14 (8 M. 6 PT.), in
andere Anstalten 23 (16 M. 7 Fr.), nach Ablauf der Beobachtung und nicht geistes¬
krank 4 (3 M. 1 PT.). Die Zahl der Genesenen beträgt 12,4 %, der Genesenen und
Gebesserten 46,8 % aller Aufnahmen. In Familienpflege am Schluß des Jahres 6
Kranke. Gestorben 67 Kranke = 5,8 % aller Verpflegten. Karzinom war 2 mal
(1 M. 1 Fr.). Tuberkulose 10 mal (2 M. 8 PT.), organische Nervenleiden 23 mal
(18 M. 5 PT.), davon 17 mal Paralyse, Todesursache. 2 Typhusfälle. 1 Bazillen¬
trägerin wurde ermittelt. Gesamtausgaben 620 698,24 M.
Die Pflegeanstalt Hördt hatte einen Anfangsbestand von 363 (177 M.
176 Fr.). Zugang 42 (32 M. 10 Fr.). Abgang 38 (22 M. 16 Fr.). Bleibt Bestand
367 (187 M. 170 Fr.). Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 30. Seelen¬
störung mit Epilepsie und Hysterie 2, Imbezillität 6, Paralyse 1, alkoholischer Geistes¬
störung 3. An Dementia praecox litten vom Zugang 27. Vorbestraft von den Auf¬
genommenen 6 (6 M. 1 FY). Entlassen als geheilt 1 M., ungeheilt 2 (1 M. 1 Fr.).
Gestorben 35 (20 M. 15 PT.). Tuberkulose war 14 mal (8 M. 6 Fr.), Dysenterie
z*
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368*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
1 mal (1 M.) Todesursache. Das Verwahrungshaus wurde im Rohbau fertiggestellt.
Die Gesamtkosten für 1 Kranken beliefen sich auf 1,62 M. täglich.
' Am 22. September 1910 wurde die Bezirks-Pflege-Anstalt Lörchingen
eröffnet, am 14. Dezember 1910 wurde mit der Überführung von Kranken begonnen.
Es sind bis zum Schlüsse des Berichtsjahres 1910 aufgenommen aus anderen An¬
stalten (Saargemünd, Gorze) 190 Kranke (129 M. 61 Fr.). Davon schieden aus
durch Überführung 10 (6 M. 6 Fr.), durch Tod 6 (2 M. 3 Fr.). Bleibt Bestand
am 1. April 1911:176 (123 M. 63 Fr.). Davon litten an Idiotismus und Imbezillität
40 (32 M. 8 Fr.), an einfacher Seelenstörung 167 (106 M. 61 Fr.), an para¬
lytischen Formen 8 (6 M. 3 Fr.), an Epilepsie und Hysterie 21 (16 M. 6 Fr.),
an Alkoholismus 6 (4 M. 1 Fr.). Alkoholmißbrauch war nachgewiesen bei 25
(22 .M. 3 Fr.). Gestorben 6, davon an Tuberkulose 2. Gesamtsterblichkeit 3,2 %
(1,6 % M. 4,9 % Fr.). Gesamtausgabe 65 466,98 M. Die Beköstigung kostete
pro Kopf und Tag 0,696 M. *
Niedernhart (172): Bestand am Beginn des Berichtsjahres 758 (354 M.
404 Fr.). Zugang 353 (184 M. 169 Fr.). Abgang 321 (168 M. 163 Fr.). Bleibt
Bestand 790 (370 M. 420 Fr.). Vom Zugang litten an Imbezillität, Idiotie 36
(21 M. 14 Fr.), an einfacher Geistesstörung 189 (80 M. 109 Fr.), an Paralyse 49
(32 M. 17 Fr.), an epilept. 28 (19 M. 9 Fr.), an hysterischer 15 (2 M.
13 Fr.), an neurasthenischer Geistesstörung 14 (9 M. 6 fr.), an Geistesstörung
mit Herderkrankung 2 Männer, Alkoholismus 17 (15 M. 2 Fr.), nicht geisteskrank
4 (4 M.) Heredität bei 136 (64 M. 82 Fr.), Alkoholismus war 25 mal (23 M.
2 Fr.), Puerperium 2 mal, Klimakterium 11 mal Krankheitsursache. Krankheits¬
dauer vor der Aufnahme bis zu 14 Tagen bei 27 (11 M. 16 Fr.), bis 1 Monat bei
21 (8 M. 13 Fr.), bis 2 Monate bei 21 (9 M. 12 Fr.), bis 3 Monate bei 11 (3 M.
8 Fr.), bis 6 Monate bei 33 (10 M. 23 Fr.), bis zu 1 Jahr bei 27 (23 M. 4 Fr.),
bis zu 2 Jahien bei 37 (16 M. 21 Fr.), mehr als 2 Jahre bei 172 (100 M. 72 Fr.).
Geheilt 31 (16 M. 16 Fr.), in andere Anstalten 13 (5 M. 8 Fr.), sonstiger Abgang
199 (102 M. 97 Fr.). Gestorben 78 (46 M. 32 Fr.). Paralyse war 26 mal (17 M.,
9 Fr.), Tuberkulose 14 mal (8 M. 6 Fr.) Todesursache. Gesamtausgabe 528 100
Kronen21 Heller. Gesamtkosten pro Kopf und Tag.l Krone 87 Heller. Bekösti¬
gung pro Kopf und Tag 95.43 Heller.
Brünn (122): Bestand am Beginn des Berichtsjahres 699 (394 M. 306 Fr.).
Zugang 671 (320 M. 261 Fr.), Abgang 683 (339 M. 244 Fr.). Bleibt Bestand
687 (376 M. 312 Fr.). Vom Zugang litten an Idiotie und Imbezillität 36 (24 M.
11 Fr.), an Paralyse 63 (50 M. 13 Fr.), an epileptischer 49 (31 M. 18 Fr.), an
hysterischer 11 (11 Fr.), an neurasthenischer Geistesstörung 2 (2M.), an Geistes¬
störung mit Herderkrankung 3 (1 M. 2 Fr.), an Intoxikationspsychosen (exkL AI;
koholismus) 100 (90 M. 10 Fr.), nicht geisteskrank 1 (1 M.). Geheilt entlassen
29 (13 M. 16 Fr.), in andere Anstalten 182 (100 M. 82 Fr.), sonstiger Abgang
231 (144 M. 87 Fr.). Gestorben 141 (82 M. 69 Fr.) = 11,10% des Gesamt-
Bestandes, 24,18 % des Abgangs. Tuberkulose war 15 mal Todesursache.
Kremsier (163): Bestand bei Beginn des Rechnungsjahres 998 (575 M.
423 Fr.). Zugang 612 (352 M. 260 Fr.). Abgang 406 (240 M. 166 Fr.). Bleibt
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Grütter, Anstaltswesen und Statistik-
369*
Bestand 1206 (687 M. 518 Fr.). Vom Zugang litten An Paralyse 116 (94 K.
21 Fr.), epileptischer Seclenstörung 172 (103 M. 69 Fr.), hysterischer Seelen¬
störung 18 (3 M. 15 Fr.), Alkoholismus 149 (129 M- 20 Fr.). Zur Beobachtung
6 (4 M. 2 Fr.). Heredität bei 266 (182 M. 174 Fr.). Lues war 40 mal (36 M.
4 Fr.), Rhachitis 20 mal (16 M. 4 Fr.), Kopfverletzungen 23 mal (17 M. 6 Fr.),
Alkoholmißbrauch 111 mal (93 M. 18 Fr.) Krankheitsursache. Geheilt 120 (88 M.
32 Fr.) = 7,46 % des Gesamtbestandes und 19,20 % des Zuganges. Die Mehrzahl
der geheilt Entlassenen (47) wurde zwischen 1—3 Monaten in der Anstalt behandelt.
Gestorben 169 (96 M. 73 Fr.) = 41,72 % des Gesamtabganges. Lungentuber¬
kulose war 60 mal (41 M. 9 Fr.), Marasmus senilis 30 mal (16 M. 16 Fr.) Todes¬
ursache. 5 Typhusfälle, zum größten Teil von außen eingeschleppt. Es sind jetzt
sämtliche 21 Krankenpavillons mit 38 selbständigen Abteilungen (22 für Männer,
16 für Frauen) belegt.
Feldhof (136): Gesamtbestand bei Beginn des Berichtsjahres 1633
(803 M. 830 Fr.), davon in der Zentrale Feldhof 1281 (692 M. 689 Fr.), in
den Filialen Lankowitz 137 Fr., Kainbach 207 M., Hartberg 8
(4 M. 4 Fr.). Zugang 809 (409 M. 400 Fr.). Abgang 749 (391 M. 35S Fr.).
Bleibt Bestand 1693 (821 M. 872 Fr.), und zwar F e 1 d h o f 1332 (608 M.
724 Fr.), in Lankowitz 144 Fr., in K a i n b a ch 210 M., in H a r t b e r g.
7 (3 M. 4 Fr.). Geheilt 95 (39 M. 66 Fr.) = 12,68 % des Abganges. Gestorben
243 (129 M. 114 Fr.). In der Zentrale waren Tuberkulose 46 mal (19 M. 27 Fr.),
Marasmus paralyticus 20 mal (13 M. 7 Fr.), Meningitis chronica 12 mal (11 M.
1 Fr.), Atrophia cerebri 16 mal (8 M. 8 Fr.), in den Filialen Tuberkulose 18 mal
(9 M. 9 Fr.), Suicid 1 mal Todesursache. Erysipel bei 18 Kranken; Trachom¬
kranke am Ende des Berichtsjahres 12 (9 M. 3 Fr.). Gesamtausgabe: 1047 806
Kronen 30 Heller, pro Kopf und Tag 2 Kr. 19 Heller.
In der Landes-Irren-Siechenanstalt Schwanberg waren bei Beginn des
Berichtsjahres 206 Kranke (103 M. 102 Fr.). Zugang 26 (7 M. 18 Fr.), Abgang
26 (6 M. 20 Fr.). Bleibt Bestand 204 (104 M. 100 Fr.). Gestorben 22. Tuber¬
kulose war 7 mal Todesursache.
Das Irrenwesen Ungarns (204) hat im Berichtsjahre keinerlei neue Er¬
gebnisse zu verzeichnen. Weder die Zahl noch die Organisation und Verwaltung
der bestehenden Anstalten und Institutionen haben erwähnenswerte Veränderungen
erfahren. Gesamtbestand in den 4 Anstalten Budapest (Lipotmczö, Augyalföld),
Nagyszeben. Nagykällö am Anfang des Berichtsjahres 2294 (1334 M. 960 Fr.).
Zugang 1420 (907 M. 613 Fr.). Abgang 1383 (887 M. 496 Fr.). Bleibt Bestand
2331 (1354 M. 977 Fr.). Vom Zugang litten an Paralyse 395 (322 M. 73 Fr.),
an epileptischer, hysterischer Geistesstörung 132 (86 M. 46 Fr.), an alkoholischer
Geistesstörung 127 (117 M. 10 Fr.), an Imbezillität und Idiotie 126 (88 M. 38 Fr.).
Zur Beobachtung 17 (9 M. 8 Fr.). Heredität bei 490 (296 M. 194 Fr.). Sonstige
Krankheitsursachen: Entwicklungsfehler und angeborene Anlage 187 mal (121 M.
66 Fr.), Schwangerschaft und Puerperium 17 mal, Klimakterium 55, Senium 65
(9 M. 46 Fr.), Syphilis 199 mal (192 M. 7 Fr.), AJkoholismus 393 mal (360 M.
33 Fr.). Nicht geisteskrank 11 (7 M. 4 Fr.). Geheilt 157 (96 M. 61 Fr.), ge-
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
bessert 437 (296 M. 142 Fr.), ungeheilt 397 (216 M. 181 Fr.). Gestorben 375
(271 M. 104 Fr.). Paralyse war 10 mal (6 M. 4 Fr.), Erschöpfung des Nerven¬
systems 231 mal (192 M. 39 Fr.), Tuberkulose 21 mal (16 M. 6 Fr.) Todesursache.
Summe sämtlicher Ausgaben 1821616 Kr., Ausgabe, pro Kopf und Tag 2,1849 Kr.
In den übrigen größeren, zum Teil nicht staatlichen Krariken-Anstalten betrug der
Gesamtbestand an Geisteskranken im Anfang des Berichtsjahres 6863 (3212 M.
2661 Fr.). Zugang 4829 (2972 M. 1867 Fr.). Abgang 4636 (2810 M. 1726 Fr.).
Bleibt Bestand 6166 (3374 M. 2782 Fr.). Vom Zugang litten an Paralyse 849
(686 M. 164 Fr.), an Alkoholismus 819 (616 M. 204 Fr.), an Imbezillität und
Idiotie 306 (192 M. 114 Fr.), zur Beobachtung 143 (91 M. 62 Fr.). Geheilt 661
(364 M. 197 Fr.), gebessert 2019 (1182 M. 837 Fr.), ungeheilt 671 (418 M. 253
Fr.). Nicht geisteskrank 69 (44 M. 16 Fr.). Gestorben 1226 (802 M. 424 Fr.).
Der Bericht enthält außerdem noch Zusammenstellungen über die Familienpflege
einzelner Anstalten sowie von Krankenziffem einiger kleineren, zum Teil privater
Anstalten. In Familienpflege gegeben waren am Schlüsse des Berichtsjahres vom
allgemeinen Krankenhause zu Diesösceutmärtou 603 Kranke (336 M. 267 Fr.).
B u r g h ö 1 z 1 i (125): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 374 (186 M.
188 Fr.). Zugang 606 (288 M. 217 Fr.). Abgang 477 (275 M. 202 Fr.). Bleibt
Bestand 402 (199 M. 203 Fr.). Vom Zugang waren sogenannte frische Aufnahmen
413 (234 M. 179 Fr.), von ihnen litten an angeborenen Psychosen 21 (9 M. 12 Fr.),
an konstitutionellen 20 (9 M. 11 Fr.), an erworbenen idiopathischen Psychosen
182 (84 M. 98 Fr.) — darunter 16 (6 M. 9 Fr.) an manisch-depressiven Formen,
172 (77 M. 95 Fr.) an den verschiedenen Formen der Dementia praecox — an
organischen Störungen 66 (47 M. 19 Fr.), darunter 20 (17 M. 3 Fr.) an Para¬
lyse, an epileptischen Störungen 15 (6 M. 9 Fr.), und endlich an Intoxikations¬
psychosen 90 (73 M. 17 Fr.), darunter Alkoholismus chron. 46 (36 M. 11 Fr.)
und Delirium tremens 24 (24 M.). Nicht geisteskrank waren 9 (7 M. 2 Fr.),
davon 5 zur Beobachtung. Vom Abgang geheilt 32 (27 M. 5 Fr.), gebessert 191
(112 M. 79 Fr.), ungebessert 199 (99 M. 100 Fr.), gestorben 46 (30 M. 16 Fr.).
Tuberkulose, Typhus abdom. und Suicid waren je lmal Todesursache. Regel¬
mäßig oder teilweise beschäftigt vom Schlußbestand 73 % der Männer und 88,7 %
der Frauen. „Bettgurt“ bei 3 Kranken, die Maillotjacke bei 1 Manne. Zu
einer großen Kalamität werden die Verbrecher, die die besseren Elemente
verderben.
Waldau (206): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 661 (322 M.
339 Fr.). Zugang 144 (65 M. 79 Fi.). Abgang 136 (64 M. 72 Fr.). Bleibt
Bestand 669 (323 M. 346 Fr.). Vom Zugang litten an angeborenen Störungen 6
(4 M. 2 Fr.), an konstitutionellen 7 (1 M. 6 Fr.), erworbenen einfachen 89 (35 M.
64 Fr.), an paralytischen, senilen, organischen Störungen 24 (10 M. 14 Fr.), an
Epilepsie 4 (2 M. 2 Fr.), an Intoxikationspsychosen 14 (13 M. 1 Fr.). Zur Begut¬
achtung 7 Untersuchungsgefangene. Entlassen genesen 18 (7 M. 11 Fr.) = 13,24 ° 0
der Entlassungen und 2,24 % des Gesamtbestandes, gebessert 46 (21 M. 25 Fr.),
ungebessert 26 (16 M. 10 Fr.), gestorben 47 (21 M. 26 Fr.).= 34,66% der Ent¬
lassungen, 6,86% des Gesamtbestandes. Tuberkulose war 9 mal (2 M. 7 Fr.),
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Grütter, Anstaltswesen und Statistik.
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Typhus abdom. 1 mal (1 M.), Ertrinken 1 mal (1 M.), Karzinom 3 mal (3 Fr.)
Todesursache.
4 Typhuserkrankungen bei Wärterinnen, die sich zum Teil an einer Kranken
(Bazillenträgerin) infiziert hatten. 1 Kranker starb an Typhus. Große Platznot.
Münsingen (206): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 793 (376 M.
417 Fr.). Zugang 128 (74 M. 64 Fr.). Abgang 114 (61 M. 63 Fr.). Bleibt
Bestand 807 (389 M. 418 Fr.). Vom Zugang litten an angeborenen Störungen 6
(4 M. 1 Fr.), an konstitutionellen 27 (17 M. 10 Fr.), an erworbenen einfachen
68 (32 M. 36 Fr.), an organischen 10 (9 M. 1 Fr.), an epileptischen 5 (2 M. 3 Fr.),
an alkoholischen Störungen 6 (4 M. 2 Fr.). Nicht geisteskrank 7. Heredität
bei 67 (31 M. 26 Fr.) = 46 % (42 M. 48 Fr.) der Aufgenommenen. In Familien¬
pflege am Jahresschluß 37 (13 M. 24 Fr.). Entlassen genesen oder wesentlich
gebessert 47 (19 M. 28 Fr.). Gestorben 22 (19 M. 3 Fr.). Lungentuberkulose
war 3 mal (3 M.), Typhus 1 mal (1 Fr.), Paralyse 3 mal (3 Fr.) Todesursache.
Bellelay (206): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 321 (134 M.
187 Fr.). Zugang 24 (14 M. 10 Fr.). Abgang 20 (14 M. 6 Fr.). Bleibt Bestand
326 (134 M. 191 Fr.). Vom Zugang litten an angeborenen Stöningen 10 (7 M.
3 Fr.), an konstitutionellen 6 (3 M. 3 Fr.), an erworbenen 4 (1 M. 3 Fr.), an
organischen 2(1 M. 1 Fr.), an epileptischen Störungen 2 (2 M.). Entlassen geheilt
1 (1 Fr.), gebessert 1 (1 M.), ungebessert 3 (1 M. 2 Fr.), nicht geisteskrank 1
(IM.). Gestorben 14 (11 M. 3 Fr.) = 4,06 %'der Verpflegten. Tuberkulose war
6 mal (4 M. 2 Fr.) Todesursache.
Friedmatt (138): Bestand am Anfang des Berichtsjahres 284 (138 M.
146 Fr.). Zugang 227 (124 M. 103 Fr.). Abgang 196 (101 M. 96 Fr.). Ge¬
storben 30 (18 M. 12 Fr.). Bleibt Bestand 286 (143 M. 142 Fr.). Vom Zugang litten
an angeborenen Psychosen 7 (4 M. 3 Fr.), an einfachen Formen 99 (36 M. 63 Fr.),
an organischen 4 (2 M. 2 Fr.), an konstitutionellen 13 (7 M. 6 Fr.), an Epilepsie
9 (6 M. 3 Fr.), an paralytischen 17 (12 M. 6 Fr.), an alkoholischen Formen 48
(44 M. 4 Fr.). Nicht geisteskrank 6 (6 M. 1 Fr.). Heredität bei 86 (39 M.
46 Fr.). Krankheitsdauer vor der Aufnahme bei den sogenannten frischen Auf¬
nahmen bis 1 Monat bei 63 (36 M. 27 Fr.), 2—3 Monate bei 15 (7 M. 8 Fr.),
4—6 Monate bei 9 (6 M. 4 Fr.). 7—12 Monate bei 7 (2 M. 6 Fr.), 1—2 Jahre bei
12 (6 M. 6 Fr.), 3—6 Jahre bei 6 (2 M. 3 Fr.), über 6 Jahre bei 20 (9 M. 11 Fr.),
unbekannt bei 60 (32 M. 18 Fr.). Entlassen geheilt 37 (21 M. 16 Fr.), gebessert
66 (26 M. 30 Fr.), ungebessert 98 (50 M. 48 Fr.).
Rosegg (183): Bestand am Beginn des Berichtsjahres 349 (194 M. 155
Fr.). Zugang 31 (14 M. 17 Fr.). Abgang 42 (23 M. 19 Fr.). Bleibt Bestand
338 (186 M. 163 Fr.). Vom Zugang litten an angeborener Geistesstörung 4 (2 M.
2 Fr.), an erworbener einfacher 14 (4 M. 10 Fr.), an epileptischer 4 (2 M. 2 Ir.),
an paralytischer 3 (3 M.), an seniler 5 (2 M. 3 Fr.), an alkoholischer Geistes¬
störung 1 (1 M.). Zur Beobachtung 7 (4 M. 3 Fr.). Heredität bei 18 (8 M.
10 Fr.). Krankheitsdauer vor der Aufnahme bis 4 Wochen bei 2 (1 M. 1 Fr.),
2—3 Monate bei 1 (1 Fr.), 4—6 Monate bei 1 (1 Fr.), 1—2 Jahre bei 7 (2 M.
5 Fr.). 3—6 Jahre bei 3 (1 M. 2 Fr.), über 5 Jahre bei 10 (5 M. 5 Fr.). Ent-
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
lassen geheilt 7 (3 M. 4 Fr.), gebessert 10 (6 M. 5 Fr.), ungeheilt 6(2 M. 3 Fr.),
gestorben 20 (13 M. 7 Fr.). Lungentuberkulose war 3 mal (2 M. 1 Fr.), Karzi-
\ nom 1 mal (1 M.) Todesursache. Starke Uberfüllung, Neubauten, besonders für
die Aufnahmeabteilung, sind dringend erforderlich.
Sonnenhalde (194): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 46 Fr.
Zugang 112. Abgang 130. Bleibt Bestand 34. Vom Abgang litten an allgemeiner
Psychopathie 11, an manisch-depressiven Formen 61, an Dementia praecox 26,
Paranoia 6, seniler Demenz 4, epileptischen Formen 3, Intoxikations- und Infek¬
tionspsychosen je 3. Genesen 36, gebessert 63, ungebessert 26. Gestorben 6.
W il (210): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres: 783 (386 M. 397 Fr.).
Zugang 347 (186 M. 161 Fr.). Abgang 390 (219 M. 171 Fi.). Bleibt Bestand
740 (353 M. 387 Fr.). Vom Zugang litten an angeborenen Störungen 26 (16 M.
11 Fr.), an konstitutionellen 18 (9 M. 9 Fr.), einfachen erworbenen 146 (62 M.
84 Fr.), an Störungen der organischen (senilen, paralytischen) Gruppe 63 (37 M.
26 Fr.), Epilepsie 17 (9 M. 8 Fr.), Intoxikationspsychosen 24 (23 M. 1 Fr.).
Heredität bei 57 % M. und 60 % Fr. Alkoholismus war bei 39 (38 M. 1 Fr.),
Lues bei 8 (7 M. 1 Fr.), Unfall bei 6 (6 MI 1 Fr.), Kopftrauma bei 2 (2 M.),
Puerperium und Klimakterium bei je 1 Fr., Haft bei 3 (2 M. 1 Fr.) Krankheits¬
ursache. Geheilt 36 (24 M. 12 Fr.), gebessert 142 (80 M. 62 Fr.), ungebessert 74
(40 M. 34 Fr.). Gestorben 137 (74 M. 63 Fr.) = 11,8 % der Verpflegten, von
den Geisteskranken starben 95 (68 M. 37 Fr.) = 10 % des Gesamtbestandes der
Geisteskranken. 53 (36 M. 17 Fr.) der Todesfälle fallen auf die Gruppe der
organischen Erkrankungen. 10% der aufgenommenen Männer waren mit dem
Strafgesetz in Konflikt gekommen, 20 waren schon bei Begehung der Tat geistes¬
krank, 2 noch nicht. Bei den Männern regelmäßig beschäftigt 83 % des Bestandes,
durchschnittlich zu Bett 7,3 %, im Dauerbade 1,6 %, isoliert 1,5 %. Bei den
Frauen beschäftigt 64 %, durchschnittlich zu Bett 8,71 %, im Dauerbad 4,1 %,
isoliert 1,7 % des Bestandes. 1 Krankentag kostet 1 Fr. 88 Cts.
Münsterlingen (169): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 401
(166 M. 235 Fr.). Zugang 132 (63 M. 79 Fr.). Abgang 122 (49 M. 73 Fr.).
Bleibt Bestand 411 (170 M. 241 Fr.). Vom Zugang litten an angeborenen Störun¬
gen 2 (1 M. 1 Fr.), an konstitutionellen Psychosen 11 (5 M. 6 Fr.), an erworbenen
Psychosen 87 (29 M. 58 Fr.) manisch-depressivem Irresein 17 (6 M. 12 Fr.),
Dementia praecox 62 (19 M. 33 Fr.), Paranoia 1 (1 M.), Amentia 2 (2 Fr.), an
organischen Psychosen 13 (9 M. 4 Fr.), Epilepsie 5 (2 M. 3 Fr.), Intoxikations¬
psychosen 14 (7 M. 7 Fr.), nicht geisteskrank 1 (1 Fr.). Geheilt 18 (6 M. 12 Fr.),
gebessert 38 (15 M. 23 Fr.), ungebessert 38 (20 M. 18 Fr.). Gestorben 27 (8 M
19 Fr.) = 5,06 % der Gesamtzahl der Verpflegten. Lungentuberkulose war 3 mal
(3 Fr.). Paralyse 2 mal (1 M. 1 Fr.), Karzinom bei 3 Fr. Todesursache. Krank¬
heitsdauer vor der Aufnahme bis 3 Monate bei 37 (12 M. 25 Fr.), bis 6 Monate
bei 8 Fr., bis 1 Jahr bei 10 (4 M. 6 Fr.), bis 2 Jahre bei 8 (4 M. 4 Fr.), bis 3 Jahre
bei 6 (3 M. 3 Fr.), bis 4 Jahre bei 6 (2 M. 3 Fr.), bis 6 Jahre bei 2 (1 M. 1 Fr.),
über 5 Jahre bei 36 (17 M. 19 Fi.), angeboren bei 9 (6 M. 3 Fr.). Die Uber-
füllung besonders der Männerseite ist so stark, daß seit 1 Jahr frische männli che
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G riitte r, Anstaltswesen und Statistik.
373*
Aufnahmen nur ausnahmsweise Platz finden können. Bei einer operierten Kranken
kam zu ihrem eigenen Schutz für 3 Wochen die Zwangsjacke in Anwendung. Dauer¬
bäder, auch für die Nacht, haben sich bewährt.
St. Pirminsberg (198): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 239
(121 M. 118 Fr.), Zugang 89 (60 M. 39 Fr.). Abgang 74 (46 M. 29 Fr.). Bleibt
Bestand 264 (126 M. 128 Fr.). Vom Zugang litten an angeborenen Psychosen
3 (1 M. 2 Fr.), an konstitutionellen 4 (2 M. 2 Fr.), an erworbenen einfachen 68
(34 M. 34 Fr.) — davon an manisch-depressivem Irresein 19 (8 M. 11 Fr.), an
Dementia praecox 42 (23 M. 19 Fr.) — an Epilepsie 3 (3 M.), an organischen
Psychosen 6 (6 M.), darunter Paralyse 2, Intoxikationspsychosen 6 (6 M. 1 Fr.).
Heredität bei 74 % der erstmals Aufgenommenen. Krankheitsdauer vor der Auf¬
nahme bis 1 Monat bei 22 (13 M 9 Fr.), 1—3 Monate bei 21 (9 M. 12 Fr.), 3—6
Monate bei 9 (8 M. 1 Fr.), 6—12 Monate bei 4 (1 M. 3 Fr.), 1—2 Jahre bei 4
(1 M. 3 Fr.), 2—5 Jahre bei 7 (4 M. 3 Fr.), über 5 Jahre bei 8 (6 M. 2 Fr.).
Genesen 22 (9 M. 13 Fr.), gebessert 32 (21 M. 11 Fr.), ungebessert 13 (10 M.
3 Fr.). Gestorben 7 (5 M. 2 Fr.) = 9 % der Abgegangenen und 2 % der Ver¬
pflegten. Das Verhältnis der Genesenen zum Gesamtabgang ist 30 %, zur Gesamt¬
zahl der Verpflegten 6,7 %. Die durchschnittliche Behandlungsdauer der Ge¬
nesenen beläuft sich auf 6 Monate. Tuberkulose war 1 mal Todesursache. Der
durchschnittliche Anstaltsaufenthalt der Gestorbenen betrug 6 y, Jah>e. Zwangs¬
jacke vorübergehend bei 1 Patienten. Dauerbäder bewähren sich. Umbau der
alten Männerabteilung zu einer neuen Wachabteilung.
Königsfelden (150): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 776
(364 M. 422 Fr.). Zugang 271 (137 M. 134 Fr.). Abgang 230 (126 M. 104 hr.).
Bleibt Bestand 817 (365 M. 462 Fr.). Vom Zugang litten an angeborenen Störun¬
gen 9 (7 M. 2 Fr.), konstitutionellen und originären Formen 9 (3 M. 6 Fr.), ein¬
fachen erworbenen Störungen 148 (66 M. 92 Fr.), organischen Störungen 36
(19 M. 16 Fr.), epileptischen Störungen 21 (10 M. 11 Fr.), Intoxikationspsy¬
chosen 45 (40 M. 5 Fr.). Nicht geisteskrank 4 (2 M. 2 Fr.). An manisch-depres¬
sivem Irresein litten 29 (9 M. 20 Fr.), an Dementia praecox 119 (47 M. 72 Fr.).
Krankheitsdauer vor der Aufnahme bei 32 % 1—3 Monate, bei 6% 4—6 Monate,
bei 6 % 7—12 Monate, bei 27% 1—5 Jahre und bei 26 % über 6 Jahre. Ungefähr
ein Diittel sämtlicher Männeraufnahmen waren Alkoholisten. Heredität bei 64 %.
Geheilt 73, gebessert 85, unverändert 40. Gestorben 61, davon an Tuberkulose 7
(3 M. 4 Fr.), an Karzinose und Sarkomatose 6 (3 M. 2 Fr.), an Suicid 2 (2 M.).
1 Typhusbazillenträgerin starb an Lungentuberkulose. Beschäftigt bei den Männern
31, 6%, bei den Frauen 34, 7 %.
Waldhaus (206): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 299 (163 M.
136 Fr.). Zugang 129 (75 M. 64 Fr.). Abgang 120 (70 M. 60 Fr.). Bleibt
Bestand 308 (168 M. 140 Fr.). Vom Zugang litten an angeborenen Störungen 10
(7 M. 3 Fr.), an manisch-depressivem Irresein 11 (5 M. 6 Fr.), an Katatonie 7
(4 M. 3 hr.), Hebephrenie 6 (3 M. 3 Fr.), Dementia paranoides 22 (10 M. 12J< 'y*
an Paralyse 2 (2 M.), an Intoxikationspsychosen 13 (12 M. 1 Fr.). Nich^r"
krank 3 (2 M. 1 Fr.). Genesen 20 (11*M. 9 Fr.), gebessert 42 (25 ^
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
374*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
Genesen 17 % des Abganges, 4,7 % der Verpflegten. Tuberkulose war 6 mal (3 M.
3 Fr.), Karzinom 3 mal (3 Fr.) Todesursache.
Zürich (213): Anfangsbestand 234 (133 M. 101 Fr.). Zugang 117 (79 M.
38 Fr.). Abgang 111 (72 M. 39 Fr.). Bleibt Bestand 240 (140 M. 100 Fr.).
Genesen 15 (8 M. 7 Fr.), gebessert 22 (13 M. 9 Fi.), ungebessert 10 (6 M. 6 Fr.).
Gestorben 12 (1 M. 11 Fr.). Zur Beobachtung 62 (45 M. 7 Fr.). Heredität bei
48 von 6ö zum ersten Male aufgenommenen Epileptikern, bei 23 (= 36,3 %) Trunk¬
sucht der Eltern, bei 7 (= 10,7 %) Epilepsie und bei 18 (=- 27,6 %) Geistes- oder
Nervenkrankheiten. Gute Erfolge bei salzarmer Diät.
Ellikon (135): Bestand am 1. Januar 1910 34 Pfleglinge, der Zugang
betrug 60, der Abgang 59, bleibt 36. Es litten an chronischem Alkoholismus 36,
mit Delirium tremens 13, mit Psychopathie 3, mit Imbezillität 5, mit moralischem
Defekt und mit Verdacht auf Paralyse je 1, an einfacher Trunksucht 1, an Trunk¬
sucht mit Psychopathie 8, mit Tabes 1, an periodischer Trunksucht 1. Zahl der
Verpflegungstage 12 771. Von den 60, die ihre Kurzeit ganz durchgemacht haben,
sind abstinent geblieben 28, rückfällig 12, unsicher 10.
Die Livländische Landes-Heil- nnd Pflege-Anstalt
in Stackein (195) wurde am 20. Februar 1907 eröffnet. Krankenbestand am
1. Januar 1908: 119 Kranke (55 M. 64 Fr.). Bestand am 1. Januar 1910: 178
(97 M. 81 Fr.). Zugang 188 (116 M. 73 Fr.). Abgang 156 (97 M. 69 Fr.).
Bleibt Bestand 210 (115 M. 95 Fr.) Die Krankheitsdauer vom Zugang 1910
betrug bis zu 1 Monat bei 29 (18 M. 11 Fr.), bis zu 3 Monaten bei 28 (21 M. 7 Fr.),
bis zu 6 Monaten bei 21 (12 M. 9 Fr.), bis zu 1 Jahre bei 26 (16 M. 10 Fr.), bis
zu 5 Jahren bei 44 (24 M. 20 Fr.), bis zu 10 Jahren bei 12 (6 M. 6 Fr.), über 10
Jahre bei 21 (13 M. 8 Fr.), von Jugend auf bei 4 (4 M.). Es litten an einfacher
Seelenstörung 140 (76 M. 64 Fr.), organischer Seelenstörung 16 (11 M. 4 Fr.).
Seelenstörung mit Epilepsie 6 (4 M. 1 Fi.), alkoholischer Seelenstörung 9 (9 M.),
Imbezillität und Idiotie 3 (3 M.), nicht geisteskrank waren 16 (12 M. 4 Fr.).
Entlassen als genesen 25 (17 M. 8 Fr.), gebessert 61 (41 M. 20 Fr.), ungeheilt
48 (27 M. 21 Fr.). Gestorben 22 (12 M. 10 Fr.). Tuberkulose war 2 mal
(2 Fr.) Todesursache. Große Schwierigkeiten, besonders bald nach Eröffnung der
Anstalt, in der Beschaffung von Pflegepersonal, weiter durch das gehäufte Vor¬
kommen von Schwamm in den Krankenhäusern.
Asile de Cery (126): Bestand am 31. Dezember 1909: 523 (263 M.
260 Fr.), aufgenommen 343 (197 M. 146 Fr.), entlassen 363 (215 M. 138 Fr.),
und zwar als geheilt 60 (37 M. 23 Fr.), gebessert 81 (68 M. 23 Fr.), ungeheilt 139
(84 M. 66 Fr.), gestorben 74 (37 M. 37 Fr.). Gesamtzahl der verpflegten Kran¬
ken 866 (460 M. 406 Fr.). Bestand am 31. Dezember 1910: 513 (246 M. 268 Fr.).
Ganter.
Maison de S a n 16 de PrGfargier (177): Bestand am 31. De¬
zember 1909: 145 (63 M. 82 Fr.), aufgenommen 105 (53 M. 62 Fr.), entlassen
107 (62 M. 55 Fr.), und zwar als geheilt 34 (19 M. 15 Fr.), gebessert 30 (17 M.
13 Fr.), ungeheilt 32 (14 M. 18 Fr.), gestorben 11 (2 M. 9 Fr.). Gesamtzahl der
Verpflegten 250 (116 M. 134 Fr.). Bestand am 31. Dezember 1910: 143 (64 M.
79 Fr.). Ganter.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Grütter, Anstaltswesen and Statistik.
375*
Schnurmans Stskhoven (190): Krankenbewegung in den niederländischen
Irrenanstalten: Bestand am 1. Januar 1910: 11746 (5931 M. 6815 Fr.), davon
in Pflegerfamilien 148 (60 M. 88 Fr.). Aufgenommen 3630 (1889 M.
1741 Bt.), wovon aus andern Anstalten 870 (625 M. 346 B'r.). Von den Aufnahmen
kamen 123 (110 M. 13 Fr.) aus Gefangenenanstalten. Entlassen wurden als
nicht geisteskrank 16 (13 M. 3 Fr.), als geheilt 862 (395 M. 467 Fr.), als ungeheilt
293 (146 M. 147 B'r.), in andere Anstalten übergeführt 869 (526 M. 334 Fr.),
gestorben 964 (636 M. 428 Fr.). Bestand am 31. Dezember 1910:12 392 (6206 M.
6187 Fr.). Ganter.
Meerenberg (167): Bestand am 1. Januar 1910:1340 (666 M. 674 Fr.),
aufgenommen 261 (116 M. 146 Fr.), entlassen 235 (115 M. 120 Fr.), und zwar
als geheilt 68 (25 M. 43 Fr.), gebessert 30 (13 M. 17 Br.), ungeheilt 28 (11 M.
17 Fr.), gestorben 109 (66 M. 43 Fr.). Bestand am 31. Dezember 1910: 1366
(667 M. 699 Fr.). 6 Kranke, die entflohen waren, wurden wieder zurückgebracht.
Ganter.
Siena (143): Bestand am 31. Dezember 1907: 1172 (627 M. 646 Fr.),
aufgenommen 420 (259 M. 161 Fr.), entlassen 251 (162 M. 99 Fr.), gestorben
203 (129 M. 74 Fr.), Bestand am 31. Dezember 1908: 1139 (606 M. 633 Fr.).
Aufgenommen 384 (239 M. 146 Fr.), entlassen 206 (140 M. 66 Br.), gestorben
182 (103 M. 79 Fr.), Bestand am 31. Dezember 1909: 1136 (602 M. 633 Fr.).
Aufgenommen 386 (186 M. 199 Fr.), entlassen 321 (183 M. 138 B'r.), gestorben
112 (59 M. 63 Fr.), Bestand am 31. Dezember 1910: 1087 (646 M. 641 Fr.).
Verhältnis der Geheilten, Gebesserten, Versetzten zur Gesamtzahl: 1908: 16,7%,
1909: 13,6%, 1910: 21,1%. Verhältnis der Gestorbenen zur Gesamtzahl: 1908:
12,7 %, 1911:11,9 %, 1910: 7,3 %. Verhältnis der in dem Triennium Geheilten und
Gebesserten zur Aufnahmezahl: 42,3% (45,0% M. 38,4% Fr.). Die Tuberku-
losesterblichkeit ist infolge hygienischer Verbesserungen fortdauernd im Abnehmen.
Ganter.
Royal hospital, Perth (176): Bestand am 1. Januar 1910: 130
(64 M. 66 Fr.), aufgenommen 27 (10 M. 17 Fr.), Gesamtzahl der Verpflegten 167
(74 M. 83 Fr.), entlassen 38 (13 M. 26 B'r.), und zwar als geheilt 13 (5 M. 8 Fr.),
gebessert 14 (4 M. 10 Fr.), ungeheilt 2 (1 M. 1 Fr.), gestorben 9 (3 M. 6 B'r.).
Bestand am 31. Dezember 1910: 119 (61 M. 68 B'r.). Im Verhältnis zu den Auf¬
nahmen wurden 41,94 % geheilt (30 % M. 47,62 % Fr.). Im Verhältnis zur
Durchschnittszahl der Verpflegten starben 8,66 %. Ganter.
Scotland (152): Zahl der Geisteskranken am 1. Januar 1911:
Ort der Anstalt:
M.
B.
S.
M.
F.
S.
M.
F.
S.
Privatkranke
Arme Kranke
in
Kgl. Anstalten
1688
1940
3628
861
1041
1902
827
899
1726
in
Distriktsanstalten 5267
6044
10311
117
193
310
6160
4861
10001
in
Privatanstalten
36
64
90
36
54
90
—
—
—
in
Gemeindeanstalter
113
89
202
—
1
1
113
88
201
in
Armenhäusern
417
417
834
—
—
—
417
417
834
in
Privatwohnungen 1277
1717
2994
38
78
116
1239
1639
2878
Summe
8798
9261
18069
1062
1367
4219
7746
7894
15640
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
m*
Bericht über die psychiatrische LiteFä&ai !3ll-
ln djer fttjvinzial-
Irieiwuistalt zu
Perth.. 49
in den Aiist&Uea für
Seiie^etöiaiügt». 839
182
m
521 122 8,1 303 21? 2Ö3 fr
'.Summ« 91% mi> 18636 1174 1448 2822 79Ö3 78® U'35t
Im Ja bi« 1910 wurden aufgranmunm 506 (221 'Bl. 2&ö Fr./ Privat Kran*:-
Fr*) arme Kranke, zusammen 3312 (liSÖS M. 1?07 Fr.t
363- Kjanfee wurden in andere Anstalten Äbeigofttlirt. .308 Kranke traten Irvtv2%
riß. Katbt^l^'riirdfiji 8077 (490 priyatkranke, 258? arme Kcattke^rmd «rar setnik
anuc . Kranke. : un$eH«Ut •, H%. 3fti?,a*Sc&nke und 375
artri«. mm " Kirben 163 Privatkrank« und 1181 Anco Kranke.
. VariiHltiiis tter
’• . $4ijfoi#i3bjai.•*»
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Tttdrrsiriiif* zur
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in den Kgl. und Bistrikts-ilustalton . .
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S'.'ibsiniotdfatSe: ein Krankt**' Sprang sraai Fenster hinaus, ein eutwichi-yrr Krank, -•
erscholl sich. In öS Philen handelte«! sieh um Pritftiuren und Luimbnnm. f
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406286 £■ Der aride 'Krank« ^t*l tliarthsefettijetii*ch täglich 1#5. d.
Der Abgang' dey'l^tig^ersnhds belief sich ayl 3178. wovon <^?rviwijlii! ‘ik*
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( 7 'ib. M. 660 tv.;, : Ul ;^i, ft onu!»-n &08 $ää$ k v: ^ • :.
p»)l:»84 * 1071 M. FJ3 Fr.). ,iUl;v, ; : )• '• -
gekyiK!lÖ4.(&5 ; JL 49 Ff.).ge.bewert84ii6 Ai. ^Psvi, niferelreUt^O(8 AL 15* ty -.,
gv&rtrheu 199 (129 M. 70 Ke.) s '».tcht 5SL fto^Aitd ntn l..
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377*
Jtihtjt and BMI .(148);..\ Statistik. dr-t V'arM^ifefrt V*>lik.J4 nik für.
^<>rv‘«ikrajtkhmen. tu 10 »UUrw» it'vudi«’» «lut FtiUUMk. 21 290 PaüeutftD
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dvw Alateml?,, iumI twM Idüwtiin und . 701 , i.suV Xitirfjüka^l»>i»s-
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1580 (£66 5f. ^ I'VjjvFiTifyss:* agu*«*182 .$i4.>J& UriJSk..istohfer Todi-
külfis 58 (39 M, 29 Ff..), T1W138
.17? Fbi. fViptero Tftr/vVoikTatikiiftif^ö jSywi i*
fctdftn, 1072,' pmphtriöMa,*? L&tmp?»£m 1040.. .'tyujeSföir -3&> (jfti At.
196 Ff,')'. roaliipi« : 3&*e«rt: 3Ji' v j»EUrraftkongwn d*«
^«cfk-if/mark 5 . CM. tlsmm»'*- '•Täjsfcft 'Al. 47 r •.. Oaö^ rnln ?id< <0,:
T'i.-iU!- *!>•! i»ji^£w)'öi K ;t.u[,ii'-iui;,)>uün dt- S.t-rvea *>:«*•<«;.• (Janfcr.
p| ;i I " :. <i ?• ':• U |; i. i -.1 ;,' •> !»••!!.{.• i H.*?•“•:• 'bfabiijd. itff} 31. DtdEMUb'-T J9l**;
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ri.'-l )' -M, Fr.Y l>.-;i3Ȋ im 81- $t!i>.-.n}hw -1000: J671 (707, 8,1.
3*)$' fX i Öei */i); ^ «?$& So ^X) <iw .^Ufuiölitnfen war 4 m Alk oKt d
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1)77 31. gfe^vsw»)rl 61 (.34 M. 27 Fr.), .’ifi'J’ -.(83 •$7 jl.ifl?' ffy, >,'•
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^;-^t^:^)^ : v^sk<»skvÄOk ö (4 $. 5 Fr.), 4(*f 6)i)»2^Wl.'
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(67 51. 70 Fr.;. ^firwu-.K-r; ;* .U (,;tui.»tib( 84 (40 U •b l '.; '!'• v "t hält ; n.s
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378 * Bericht über die psychiatrische Literatur 1911.
\
An Unterstützungen sind im Berichtsjahr 33 233,77 M. ausgegeben, und zwar an
Anstaltspfleglinge bei der Entlassung und nach der Entlassung, sowie an Angehörige
von Kranken.
Die Zahl der Mitglieder des Hilfsvereins für Geisteskranke
in der Rheinprovinz (179) ist im Berichtsjahr auf 15 856 gestiegen.
Die Ausgaben für Unterstützungen betrugen 24 898,99 M. Beschlossen wurde auf
der Hauptversammlung die Errichtung einer Fürsorgestelle für Geisteskranke in
Essen, die erste ihrer Art, wo die Kranken die Genesenen, die Gefährdeten und auch
ihre Angehörigen sich Rat und Unterstützung holen können. Bericht über die
4. Hauptversammlung zu Köln, Mitgliederverzeichnis.
bv Google
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Alphabetisches Inhaltsverzeichnis des Literatur¬
berichtes.
(Die Zahlen mit einem Sternchen (*) bedeuten die Seiten des Literatur¬
berichtes, die Zahlen ohne Stern die Nummern der angeführten Veröffent¬
lichungen.)
Abbot 156*. '
Abraham 189*. ;
Abraham, K. 1*. j
Abramowskv, 136* 234*. i
Abramowskv, E. 1*.
Ach 1*.
Acker 1*.
Adler. A. 189*. |
Adler, 0. 189*.
Ärztekammer Branden- :
bürg 34*.
Agostini 234*.
Alexander, (i. 1*.
Alexander. W. 189*.
Allers 189*.
D’Allones 1*.
Alter 305* 316* 59. j
Alter, W. 316* 161.
Alschul 136*.
Alvarez v Gomez-Salazar
156*. '
Alvasi e Volpi-Ghirar- 1
dini 156*. '
Alzheimer 260* 305*. 1
Anderl 136*. 1
Anschütz 1*. |
Anton 260* 261*. !
Anton und v. Bramann I
261*.
Appel 234*. i
Arango y de la Luz 58*. i
Arsimoles 156*. i
Aschaffenburg 26*. !
Ascher 62* 63*. |
Assagioli 189*.
Assmann 261*.
1. Antorenregister.
Ast 305*.
Aswadurow 189*.
Aub 189*.
Auerbach 306*. j
Austregesilo 234** i
Autengruber 305*.
Babcock 234*.
Babcock und Tutting
234*. j
Babinski 189*. I
Bach 318* 194.
Bahrmann 136*.
Bailev und Jelliffe 261*. |
Bajenoff und Ossipoff 1*. :
Baller 156*.
Ballet 156*. !
Bdrany 261*. I
Barasch 157*.
Barb6 und Benoist 234*.
Barb6 und Guichard 157*.
Bardin 234*.
Barnes 234*.
Barnholt und Bentlev 1*. :
Barr 136*. * J
Barth 190*.
Bauer 190* 234*. I
Baugh 190*. I
Bausenwein 234*. l
Bayerthal 137*. I
Beaussart 137* 234*.
Beaussart, P. 157* 190*.
von Bechterew 1* 137*
190*.
Becker, E. 190*.
Becker, L. 63*.
Becker, Th. 190*.
Becker, W. 157*.
Becker, W. H. 305*.
Beelitz 318* 199.
Begreis 157*.
Behr 318* 195.
Behrend 42*.
Bell 42*.
Belletrud et Froissard
235* 306*.
Bellini 190*.
Benario 261*.
Benning 317* 180.
Benon, R. 157*. 261*.
262*.
Benon, M. R. 190*.
Bentlev 2*.
Benussi 2*.
Berger, F. 191*.
Berger, H. 262*.
Bergmann 190*.
Berkhahn 137*.
Bernardi 137* 235*.
Berndt 191*.
Bernhardt 191* 262*.
Bernheim 2* 191*.
Bertelsen und Bisgaard
262*.
Bertschinger 157*.
Berze 2*.
Beschoren 27*.
Betts 262*.
Betz 2* 157*.
Beyer 305*.
v. Bialy 191*.
Bianchi 191*.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
380*
Inhaltsverzeichnis.
Bianchini 191*. - j
Bing 262*. !
Birnbaum 2* 34* 42* '
157*.
Bischof! 63*.
Bisgaard 262*.
Bleuler 157* 191*. I
Bleuler und Freud 191*. :
Bloch 34*.
Blumenfeld 157*. !
Boas und Lind 262*.
Bobertag 2*.
’Boehnke 305*. j
Bötticher 305*. I
Boidard 158*.
Boitard et Olivier 235*.
v. Bökay 191*.
Boldt 63*.
Bolte 54* 158*.
Bolten 63* 158*.
Bonhoeffer 191* 235*
262*.
Bonhomme 158* 305*.
Booth 192*.
Borchers 262*.
Bornstein 158* 262*.
Boruttau 2*.
Bossi 158* 192*.
Bott 313* 116. I
Boulenger 2*. J
Bourilhct et Manceau
192*.
Brandt 262*.
Bratz 192*.
Brauchli 316* 169.
Bregman 192*. <
von Bremen 192*.
Bresler 235* 305*.
Briand et Brissot 158*. 1
Briggs 306*.
Bruch 63*.
Brückner und Clemenz
137*.
Brümmer 319* 207.
Brunzlow 235*.
Buch 173*.
Buchbinder 42*.
Buckley 158*.
Bührer 58*.
Büttner 137*.
Buettner 192*.
Bullard 137*.
Bumke 158* 192*.
Bunnemann 192*.
Busch 235*.
Butler 192*. ;
Buttenberg 314* 137.
Butts 168*.
Buvat 158*.
Buyse 2*.
Bychowski 192*.
Capelle u. Bayer 193*.
Capgras 158* 306*.
Carras 158*.
Cascella 159*.
Cecikas 193*.
Charogorodsky 262*.
Charpentier et Jabouille
193*.
Chartier 193* 235*.
Chaslin et d. Seglas 159*.
Chatelain 2*.
Chislett 137*.
Chinaglia 2*.
Chotzen 235*.
Clark Goodell and Wash-
bum 2*.
Clarke 2*.
Claude 193*.
Claude et Lejoune 193*.
Claude et Lövy-Valesi
159*.
Cohn, H. 263*.
Cohn und Dieffenbacher
2 *.
Cole 263*.
Colin 235*.
Collins 2* 193*.
Constantini 159*.
Cornelius 193*.
Cornu 306*.
Couchoud 193*.
Cramer 137* 315* 142.
Cramer und Vogt 235*.
Crasemann 64*.
Crawford and Washbum
3*.
Crile 193*.
Crothers 235*.
Cullere 306*.
Curschmann 235*.
von Cyon 193*.
Dabeistein 316* 170.
Damaye 159* 193* 236*
306*.
Damaye et Desruelles
159* 236*.
Dardel 317* 177.
Dauber 3*.
Dausend 263*.
Dautheville 159*.
Davidenkow 159* 193*.
Davenport and Weeks
193*.
Decroly 137*.
DGjerine 194*.
Dejerine et Gauckler 194*.
Delage 3*.
Delbrück 314* 134.
Del Greco 42*.
Delmas 160*.
Delvaux et Logre 160*.
Dembowski 263*.
Deroubaix 42* 137*.
Dessoir 3*.
van Deventer 306*.
Devine 160*.
Devoux et Logre 3*.
Dexler, Fröschl 3*.
Dide 160*.
Dieffenbach 3*.
Dittmar 317* 185.
Dluhosch 317* 173.
Dobrick 306*.
Dolair 306*.
DoUe 3*.
Donath 194* 236* 263*.
Donlev 194*.
Dornblüth 194* 236*.
Dosai-Revesz 3*.
Downey 3*.
Drapes 306*.
Drees 315* 140.
Dreher 3*.
Dreuw 194*.
Drewry 306*.
Dreyfus 160*.
Dröder 160*.
Dromard 160*.
Dromard et Senges 160*
Drozynski 3*.
Dserzinskv 194*.
Dubbers 313* 113.
Dubois 194*.
Dubuisson et Vigouroux
27*.
Ducoste 137* 194*
Dumas 160*.
Dumas et Delmas 160*.
Dunlup 3*.
Dupouy 160* 236*.
Dupr6 et Delvaux 160*.
Dupre et Favrius 161*.
Dupre et Fouqu6 160*.
Dupr6 et Gelma 160*.
Duprd et Kahn 161*.
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Inhaltsverzeichnis.
381*
Dupr6 et Logre 161.
Dupr6 et Nathan 4*.
Dupr6 et Tarrias 161*
Dopuis 4*.
Dutois 138*
Ebbinghaus 4*.
Ebstein 194*.
Edinger, Vogt 194*.
Ehmsen 236*.
Eichhorst 263*.
Eichler 138*.
Einsler 236*.
v. Eiseisberg 263*.
Ellis 4* 194*.
Ellison 4*.
Elsenhans 4*.
Emanuel 263*.
Enge 263*.
Engelen 63*.
Engelhorn 194*.
Eppelbaum 161*.
Ermakow 161* 194* 195*
Erben 63*.
van Erp Taalman Kip
54*.
Erskine 307*.
Esmonet 195*.
Ewens 196*.
Eulenburg 4* 195*.
Fackenheim 195*.
Fahr 236*.
Famenne 161* 236*.
Famenne et Hartenberg
161*.
Farnell 263*.
Farrar 161*.
Fehlinger 42* 236*.
Felicine-Gurwitsch 196*.
Felzmann 236*.
Ferenzi 161*.
Fernandez 263*.
Ferree and Collins 4*.
Feuchtwanger 4*.
Fiedler 195*.
Filassier 42* 161* 208*.
Filser 236*.
Finger 264*.
Fiore 264*.
Fischer 319* 209.
Fischer, H. 195*.
Fischer, 0. 264*.
Fischer, M. 307*.
Flinker 138*, 236*.
Flournoy 4*.
Zeitschrift für Psychintric.
Fomenko 42*.
Forbes 4*.
Forel 236*.
Förster 161*. 264*.
Fortunid 161*.
Fouqu6 161* 196* 236*.
Fraenkel 237* 264*.
Frank 196*.
Frankhauser 161* 162*.
Frankl-Hochwart 237*.
Fransen 237*.
Frati 138*.
Freidberg 264*.
Freud 4* 196*.
Freudenthal 68*.
Freymuth 58*.
Friedländer 196*.
Friedmann 4*.
! Friedrich 195*.
Fröhlich 4*237*315*150.
Fröschl 4*.
Froriep 264*.
Fuchs. A. 196*.
Fuchs, W. 162*.
Fürstenheim 34* 59*.
Füller 264*.
Fursac 4* 42*.
Gaedeken 6*.
Galasso 5*.
i Gallus 196* 307*.
' Ganser 162*.
Ganter 162*.
Gara 196*.
i Gardi 162*.
Garnett 196*.
Gaztelu 264*.
Geier 237*.
. Geiger 5*.
I Geist 138*.
Genil-Perrin 162*.
Gerlach 196*.
I Gerstenberg 315* 147.
I Geyerstam 196*.
! Ghcdini 196*.
: Ghilarducci 196*.
' Giannelli 264* 265*.
Giese 237*.
Gigon 138*.
; Giljarowskv 265*.
■ Gilmour 265*.
Glaser 196* 318* 205.
Glaser, M. H. 27*.
I Glauning 34* 307*.
! Glueck 63*.
1 Glüh 138* 307*.
LXIX. Lit.
Goanza 5*.
Goebel 6*.
Göcke 5*.
Göransson 162*.
Göring, H. 6* 34* 237*.
Gött 196*.
Goldflam 196*.
Goldscheider 196*.
! Gönnet 162*.
' Goodell 5*.
Gom 197*.
Gorrieri 237*.
, Gottlieb 197*
I Gottschalk 197*.
1 Graf 6*.
Grafe 162*.
J Graham 197*.
Grassi 6*.
Gregor 237*.
Greppin 317* 183.
Grober 307*.
Grooss 5*.
i Gruber 237*.
I von Gruber und Rüdin
; 42*.
I Gruhle 42*.
Gudden 43*.
Günther 5*.
Günther und Böttcher
i 307*.
■ Guidi 162*.
i Guillain und Laroche 237*
Guiraud 138*.
Guizzetti e Camisa 197*.
Gurewitsch 237*.
Guttmann 5*.
Gutzmann 265*.
Haardt 307*.
Hacker 5*.
Haeberlin 318* 198.
Haenlein 197*.
1 Hagemann 307*.
Hahn 313* 120.
Hahn, B. 197*.
Hahn, R. 34* 43*.
Hainiss 197*.
Halberstadt 162*.
Halberstadt et Arsimoles
265*.
Halbev 265*.
Halle '237*.
Hamburger 162*.
llamel 162* 163* 265*.
Hamei et Couehoud 163*.
Hamilton 265*.
aa
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382*
Inhaltsverzeichnis.
Hannand 163*.
Hannand et Sergeant
163*.
Harper-Smith 163*.
Hartenberg 163*.
v. Hartungen 6*.
Hauptmann 138* 266*.
Haury 43*.
Havemann 318* 200.
Haves 6*.
Haymann 34* 163*.
Hebold 319* 212.
Heck 307*.
Heilbronner 27* 163*
265*.
Heilig 197* 266*.
Heine 43*.
Heinicke 34* 43* 163*.
Heinrich 197*.
Hell 197*.
Heller, Fr. 197*.
Heller. Th. 6*.
Hellpach 6*.
Hellwig 34* 43* 314*
122 .
Henneberg 266*.
Hennon 6*.
Henry 6*.
Hermann 138* 266*.
Herz 266*.
Herzog 163*.
Hesnard 163* 197*.
Hessel 198*.
Heveroch 163*.
Heydner 237*.
Heymann 138*.
Higier 138* 237*.
Hildebrand—v. Renauld
6*.
Hiller 34*.
Hindhede 308*.
Hinrichsen 6*.
Hintzc 138*.
Hirschfeld 36*.
Hirschlaff 6*.
Hiss 318* 205.
Hitschmann 198*.
Hoche 164*.
Hochsinger 138* 266*.
Hock 313* 117.
Höfler 6*.
Hoestermann 139*.
lloffmann und Marx 35*
237*.
Holitscher 238*.
Hollaender 164*.
d’HoUander 266*.
Homburger 164*.
Hoppe 43* 238* 266*.
Horstmann 69*.
Hotter 43* 238*.
Hough 266*.
Hrase 308*.
Huber 6*.
Hudovemig 238*.
Hudovemig, C. 69*.
| Hudovemig, K. 164*.
v. Hueber 238*.
i Hübner 164*.
I Huerta 198*.
Hughes 27* 164* 198*.
Hunt 198*.
Hurd 308*.
Hussels 266*.
Hutinel 198*.
Huwald 43*.
Ibrahim 198*.
Icard 43*.
Inccarini 6*.
Ingerlans 198*.
Isserlin 6* 238*.
Itten 164*.
Jacobsohn, L. 198*.
] Jacobson, E. 7* 6*.
| Jaensch 7*.
I v. Jagemann 35*.
! Jahrmaerker 238*.
Janet 43* 164*.
Janowski 198*.
Jaquelier et Filassier 59*
Jaspers 7*.
Jassny 44*.
Jelliffe 164* 266* 267*.
i Jelliffe und Brill 267*
! 315* 148.
I Jentsch 267*.
I Jenz 316* 160.
i Jesinghaus 7*.
I Jeske 238*.
! Jödicke 198*.
Jörger 319* 206.
Joffe 198*.
Jolly 63* 164* 199*.
, Jones, Edith 308*.
I Jones. Ernest 7* 199*
i 267*.
Jorgensen 267*.
Jotevko 7*.
Jüsgen 267*.
Juliusburger 36* 63* 238*
Junod 164*.
Juquelier 166*.
Juquelier et Vinchon 166*
Jurmann 267*.
Juschtschenko 199*.
Kahl, W. 35*.
Kahl, Lilienthal. Liszt,
Goldschmidt 35*.
' Kahn 139*.
i Kahn, Pierre 165*.
| Kaiser 314* 131.
! Kalischer 165*.
Kallen 7*.
Kannabich 165*.
Kanngieüer 238*.
Käppis 199*.
Karpas und Poate 165*.
Kastschenko 139*.
Katz 7*.
Kaufmann 199*.
Keay 308*.
Keferstein 35* 54*.
Keller 7* 139*.
| Kellner 313* 114.
; Kempner 165*.
] Keniston 165*.
1 Kerner 165*.
i Kerris 308*.
Kirchhoff 317* 189.
Kiernan 63* 199*.
Kiesow 7*.
I Kilian 165*.
i Kinberg 27*.
! Kirbv 238*.
j Kirchhoff 267*.
| Klages 7*.
i Klehmet 165*.
I Kleist 166*.
Klemm 7*.
i Klepper 166*.
Klewe-Nebenius 166*.
Klieneberger 267*.
Klinke 308* 316* 162.
' Kluge 139*.
Knapp 267*.
I Knörr 318* 202.
I Knopf 199*.
Koch 166* 238*.
Köhler 238*.
. Köhler. W. 8*.
1 Köhne 59*.
; Koenigstein 139*.
Koppen 63*.
Kohl 7*.
Kohlrausch 35*.
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Inhaltsverzeichnis.
383*
Kohnstamm 199*.
Kolb 306* 316* 156.
Kolisko 27*.
Koller 139* 306*.
Koppe 238*.
Kostic 199*.
Kostyleff 200*.
Kottmann 200*.
Kozowsky 166*.
Kramer 8*.
Kraepelin 8* 316* 168.
Kraus 200*.
Krause, F. 267*
Krause, K. 200*.
Krecke 200*.
Kröber 139*.
Kroemer 314* 127.
Krone 200*.
Krön fehl 8*.
Kryzan 139*.
Kümmel! 267*.
Kümer 308*.
Kure 200*.
Kurthen 63*.
Kutschers 139*.
Labbe 267*.
du Lac 42*.
Ladame, Ch. 166* 268*'
309*.
Ladame, P. L. 8*.
Laehr, M. 316* 144.
Laeassagne 44*.
Lafora 268*.
Lafora u. Glueck 200*.
Lagriffe 69* 166*.
Laignel - Lavastine 63*
200 *.
Lambranzi 56*.
Langelaan 200*.
Lantzius-Beninga 319*
208.
Lapinsky 166*.
Laquer 44* 200*.
Laurent 166*.
Laurds 166*.
Laysmann 166* 238*.
Leale 44*.
Leclmer 309*.
LeclSre 201*.
Ledermann 27*.
Lehmann 314* 130.
Leiber 166*.
Lentz 27* 44*.
Lepin 201*.
L6pine 8*.
Leppmann 36* 63* 309*.
Leroy 166*.
Leroy et Capgras 167*.
Leroy et Trtnel 167*.
Leschke 8* 239*.
Leva 201*.
Levi 139*.
| Levison 309*.
I L4vy 201*.
j Levy-Suhl 8*.
! L6vy-Valensi 167*.
I Lewandowsky 201*.
Ley et Menzerath 9*.
! Liebermann von Sonnen¬
berg 44*.
von Liebermann u. Marx
9*.
Linke 44* 167*.
Lion 201*.
j Lipmann 9*.
' Lobedank 9*.
, Lochte, Th. 27*.
j Lochte, Wollenberg und
| Loeb, Fr. 201*.
i Loeb, S. 9*.
; Loewe 167* 201*.
I Loewenstein 268*.
, Löwy 167* 201* 239*.
| Lohmann 44*.
Logre 9*.
' Longard 318* 193.
Lorenz 167* 202*.
Louveaux et Claus 44*.
) Lucangeli 167*.
, Lüders 201*.
Lückerath 44* 168*.
I Luger 201*.
i Lugiato 309*.
Lugiato e Lavizzari 167*
168*.
i de la Luz 59*.
' Lwoff et Serieux 309*.
i
I Maas 268*.
, Mac Call 139*.
' Mac Donald 27*.
Mac Gaffin 168* 169*.
■ Mach 66*.
i Mackenzie Wallis 9*.
. Mac Phail 44*.
j Maeder 168* 202*.
( Maier 66* 202* 239*.
j Major 59* 139* 202*.
1 Makino 44*.
1 Mapother 202*.
Marchand 202*.
Marchand et Petit 202*.
Marchiafava 202*.
Machiafava, Bignami und
Nazari 239*.
Mar gar ia 202*.
Margis 9*.
Margulies 202*.
Marie, A. 202*.
Marie, A., et Delair 309*.
Marie, D. A. 9*.
Marie, P. 202.*
Markus 168*.
Marmetschke 64*.
Marshall 168*.
Martin, Rousset et Laf-
forgue 168*.
Marx 9*.
Marx, E., u. Trendelen¬
burg 9*.
Marx, H. 36*.
Marx, K. 203*.
Masuda 139*.
Matsubara 168*.
Mattauschek 203*.
Mattauschek u. Pilcz
1 268*.
i Matusch 317* 187.
j Maxwell 44*.
May 268*.
Maybardjack 168*.
i Maver 168*.
j Mayerhofer 203*.
Mayr 239*.
von Mayr, G. 44*.
' Mayr, R. 168*.
Mechan 169*.
■ Meige 203*.
: Meisl 203*.
. Mendel 203*.
i Menzerath 10*.
i Messer 10*.
Metcalfe 203*.
Meumann 10*.
Meyer 10*.
Meyer, B. 35*.
Meyer, E. 169*.
Meyer, E., u. Puppe 46*.
! Meyer, M. 203*.
1 Meyer, R. 203*.
| Meyer, S. 203*.
Middlemiss 203*.
I Mignot 239* 309*.
1 Mikulski 169*.
' Mingazzini 268*.
Minkowski 10*.
aa*
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384*
Inhaltsverzeichnis.
Minnemann 10*. 1
Minor 239*.
Mittenzwey 10*.
Mochi 169* 269*.
Moeli 36* 316* 146.
Möller 27* 239*.
Mönkemöller 45* 69*
140* 269* 309*.
Mörchen 203*.
Molde 10*.
Moleen 269*.
Moll 239*.
Monnet 10*.
Moorhead 203*.
Moravcsik 9*.
Morel-Lavallöe 239*.
Morpurgo 239*.
Moukhlis 309*.
Möller 140* 239*. I
Müller, A. 204*. 1
Möller, G. E. 10*. I
Möller, J. 204*. I
Möller-Schürch 140*204*.
Münsterberg 11* i
Münzer. A. 269*.
Münzer, G. 169*. j
Mugdan 169*. ;
Nadal 169*.
Näcke 46* 69* 240* 269* I
309*. !
Nathan 11*.
Navarre 204*.
Navrat 316* 163.
Neisser 314* 124.
Nelken 169*.
Neuberger 316* 168.
Newmark 204*.
Niessl von Mayendorf
269*.
Nieuwenhuijse 140*.
Nikitin 269*.
Nitsche 169*.
Noble 169*.
Nonne 204* 269*.
Norman 169*.
North 46*.
Noske 309*.
Oberholzer 269*.
Obersteiner 59*.
Oebbecke 140*.
Oeconomakis 136*.
Ohlemann 204*.
Olinto 169*.
Olivier et Boidard 169*
269*.
Ordahl 140*. •
Ossipoff 11*.
Overbeck 170*.
Pach 269*.
Pacheu 11*.
Pactet 204*.
Page 309*.
Pandy 310*.
Papadaki 46*.
Pappenheim 170* 204*
269*.
Paravicini 170*.
Parhon u. Urechic 170*.
Parkes Weber 204*.
Partenheimer 170*.
Pascal 170*.
Pasturel 170*.
Patschke 269*.
Paul, W. E. 204*.
Paul-Boncour 140*.
Pauli 11*.
Paulsen 11*.
Pel 240*.
Pellizzi 270*.
Pelz 170*.
Perdrau 310*.
Perrin 170*.
Perrot 240*.
Perry 240*.
Pesker 270*.
Peters 11*.
Petersen 313* 121.
Petersen-Borstel 310*.
Petit 310*.
Petro 170*.
Pettow 11*.
Pfaundler 204*.
Pfeiffer 56*.
Pfersdorff 170*.
Pförringer 170*.
Pic u. Bonnamour 204*.
Pick 11*.
Picquö 170* 171*.
Picquö et Capgras 171*.
Picz 270*.
Pi6ron 11*.
Pighini 171*.
Pighini e Alzina Y Melis
204*.
Pighini e Ravenna 240*.
Pilcz 171*.
Pilgrim 310*.
Pinero 310*.
Pitsch 27*
Placzek 27* 64* 171*.
Plaut u. Göring 140*.
Plönies 171*.
Poensgen 171*.
Pötzl 171*.
Polonskv 206*.
Ponzo 11*.
Popow 240*.
Poppelreuter 12*.
Porocz 206*.
Porot 310*.
Porter 205*.
Poulalion 206*.
Prandtl 12*.
Presslich 206*.
Prinzing 310* 315* 149.
Quensel 310*.
Rabbas 316* 171.
Radbruch 12*.
Räuber 64*.
Raecke28*55* 140* 171*.
Rakiö 12*.
Ramadier 310*.
Rank 206*.
Ranschburg 12*.
Rauschoff 318* 196.
, Rauson u. Scott 240*.
Raw 171*.
Read 171*.
Redlich 205*.
Redlich u. Bonvicini27o*.
R6gis 46* 171*.
I Rehm 140* 171* 172*.
I Rehn 205*.
Rehwoldt 12*.
j Reichel 206*.
| Rein 310*.
1 Reinhard 64*.
Reis 205*.
R£mond et Voivenel 45*
172*.
i Renauld 12*.
v. Renesse 172*.
Rennie 205*.
Reuter 172*.
Reye 140*.
Richter 45* 314* 123.
Riebeth 316* 156.
Rieffert 12*.
Rieger 206*.
Riera 240*.
Rigmano 12*.
i Rinne 172*.
1 Rittershaus 28* 172*.
Difitized
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Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Inhaltsverzeichnis.
385*
Ritti 310*.
Riva 172*.
Rixen 28*.
Roberts 240*.
Robertson 45* 172*.
Roderbirken 310*.
Rodiet 310*.
Rodiet et Masseion 172*.
Roehrich 173*.
Rönner 173* 205*.
Röper 205*.
Kogge 270*.
Rogues de Fursac 46*.
Rohde 12*59* 173*240*.
Rohlena 140*.
Rollmann 173* 240*.
Romagna—Manoia 270*.
von Roojen 206*.
Rosanoff 140*. ■
Rose 173*.
Rosenbanm 206*.
Rosenberg, J. 206*. ,
Rosenberg, M. 173* 240*. !
Rosenfeld 36*.
Rosental 173*.
Rossi 173*.
Rossolimo 12*.
Roubinowitsch 173* 311*.
Roug6 173*.
Roullier 240*.
Rubeschka 206*.
Rudnitzky 206*.
Runge 173*.
Runta 173*. J
Rupprecht 45*. I
I
Sachs 206*. !
Saenger 140* 206*.
Saforcade 311*.
Saiz 174* 206*.
Salg6 ti. Obersteiner 46*.
Salin 174*.
Salomonski 206*.
Salow 12*.
Salzer 206* 270*.
Samana 311*.
Sander 314* 128. !
Sarteschi 240*. j
Sauermann 311*. j
Saunders 241*. i
Schäfer 317* 181, 182. i
Schanoff 12*. J
Schanz 206*. I
Schauen 318* 191.
van der Scheer 174*.
Scheidemantel 270*.
Scheler 12*.
Schellong 206*.
Schenk 241*.
Schenker 140*.
Schepelmann 206*.
SchUder 206*.
SchiUer 319* 210.
Schilling 46*.
Schlesinger 12*.
Schlieps 141*.
Schloss 311*.
Schmid 174*.
Schmidt 206* 311*.
Schmidtmann 13* 241*.
Schneidemühl 13*.
Schneider 13* 317* 174
Schnitzer 60* 64* 140*
141*.
Schnitzler 270*.
Schnopfhagen 316* 172.
Schob 270* 311*.
Schölberg 270*.
Schönberg 13*.
Schönfeld 141*.
Schönhals 271*.
Scholz 141* 316* 152.
Schott 318* 197.
Schottin 206*.
Schouten 66*.
von Schrenck—Notzing
46*.
Schröder 206* 241*.
Schroeder, E. 174*.
Schröder, G. E. 271*.
Schröder, P. 46* 60*.
Schubart 141*.
Schubert 207* 315* 154.
Schubotz 13*.
Schuchardt 315* 141.
Schütze 46* 318* 203.
Schugam 207*.
Schultze 28* 36* 271*.
Schuppius 207* 271*.
Segard 311*.
Seelig 36*.
Seidel 36* 55*.
Seige 141.*
S6glas et Collin 174*.
S6glas et Logre 174*.
Sello 28*.
Selz 13*.
Senf 46*.
S£rieux et Libert 46*.
S6rieux et Lwoff 311*.
Serog 13*.
Shufeldt 141*.
Sidia 207*.
Siebert 241*.
Siebrand 13*.
Siemerling 174* 241*.
Siemerling u. Raecke
271*.
Sikorski 13*.
Sikowsky 174*.
Simmonds 207*.
Simon 36* 311* 316*
164.
Simons 28*.
Singer 207*.
Snell, 0. 316* 165.
Sokolowsky 13*.
Solbrig 241*.
Solomin 271*.
de Somer 174*.
Sommer, M. 174*.
Sommer, R. 13* 46* 311*.
Sonnenstein 311*.
Sonntag 271*.
Soukhanoff 176*.
Southard 175*.
Soutzo 207*.
Specht, G. 311*.
Specht, W. 13*.
Speyer 318* 206.
Spielmeyer 271*.
Spielrein 176*.
Stammer 46*.
Stapel 241*.
Starck 207*.
Stauffenberg 271*.
Steckei 207*.
Stefanescu-Goanga 14*.
Steiner 207*.
Stekel 14*. 46*.
Stepanoff 241*.
Stern, F. 271*.
Stern, V. 14*.
Stern, W. 14*.
Sternberg 14* 241* 311*
312*.
Stertz 272*.
Sterz 314* 136.
Steward 141*.
Steyerthal 207*.
Stheemann 207*.
Stierlin 207*.
Stoffels 14*.
Stoltenhoff 312* 315*
161.
Stooß 60*.
Storfer 46*.
Sträußler 207*.
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Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
386*
Inhaltsverzeichnis.
Stransky 36* 46* 176*.
Stransky u. LöWy 272*.
Straßmann 28* 46* 176*.
Straßner 312*.
Stroehlin et Fouquß 175*.
Stucken 272*.
Stumpf, C. 14*.
Stumpf, P. 14*.
Sturm 55*.
Stursberg 208*.
Sudeck 208*.
Swoboda 15*.
TaUlens 176*.
Talmey 175*.
Tamburini 65* 176*.
Tastevin 175*.
Teske 141*.
Tevssien 176*.
Thoma 141*.
Thomalla 66*.
Thomas 208*.
Thomsen 36*.
Thomson, Boas u. Leschlv
141*.
Thumm 312*.
Tilney 208*.
Timofejew 176*.
Tissot 176*.
Titchener 16*.
Tödter 312*.
Tomaschny 176* 272*.
Topp 312*.
van der Torren 176*.
Toulouse et Piiron 16*.
Trapet u. Wolter 272*.
Travaglino 176*.
Trendelenburg 16*.
Treupel 272*.
Treupel u. Levi 272*.
Trömner 15*.
Trömner u. Delbanco
272*.
Troschin 176*.
Truelle et Pillet 176*.
Tschikste 208*.
Türkei 47*.
Turro 16*.
Urban 15*.
Valek 176*.
Valle y Jove 272*.
Vallon 208*.
Valtorta 241*.
Varendonck 56*.
Veit 47*.
Veraguth 208*.
Victorio 60*.
Viernstein 47*.
Vigouroux, A. 47*.
Vigouroux, M. 176*.
Villiger 141*.
Viollette 47*.
Vix 272*.
Vladoff 47*.
Vocke 314* 132.
Vogt 141* 142* 208*.
Vogt u. Weygandt 142*.
Voivenel et Fontaine
241*.
Völker 316* 167.
Volpi—Ghirardini 209*.
Volland 142* 208*.
Vorbrodt u. Kafka 272*.
Vorkastner 28*.
Voß 28* 47*.
Vries Schaub 16*.
Wachsmuth 314* 133.
Wada 176*.
Wagner u. Jauregg 36*
272*.
Walion 176*.
Walion et Gautier 176*.
Wamek 209*.
Walsem, van 316* 167.
Washburn 16*.
Wassermann 47*.
Wassermeyer 209*.
Wattenberg 316* 163.
Weber, E. 16*.
Weber, H. 176*.
Weber, L. W. 60*. 312*.
Weber, R. 272*.
Weil, E., u. Kafka 273*.
Weil, S. 209*.
Weiner 209*.
Weiß 16*.
WeUer 36*.
Wells 15* 16*.
Wells, Q. E. 176*.
Wells and Forbes 15*.
Wellstein 36*.
Werelius u. Rydin 209*.
Werner 312* 317* 175.
Werther 209*.
Westphal 16* 177*.
Wetzel 177*.
Weygandt 28* 142* 273*
312* 314* 139.
Wiehl 213*.
Wiener 273*.
Wilhelm 47*.
Williams 16* 209* 273*.
Wülige 209* 273*.
Willige u. Landsbergen
273*.
Willis u. Urban 16*.
Wilmanns 60* 213*.
Wingfield 209.
Winslow 177*.
Winter 177*.
Wiszwianski 210*.
Witte 273*.
I Wittels 16*.
Wittermann 242*.
! White, E. 177*.
I White, W. A. 213*.
Wohlwill 242*.
Wolff 314* 138.
Wolffenstein 210*.
Wollenberg 36*.
Wolter 177*.
Wörmann 177*.
Woskressenski 273*.
Wundt 16*.
Wyrubow 60*.
v. Wyss 210*.
Yawger 273* 274*.
ZabbS 177*.
Zahn 274*.
Zalla 210*.
Zander 210* 317* 184.
Zappert 210*.
Ziehen 16* 142* 210*.
Ziemke 29* 36*.
Zingerle 64*.
Zipperling 274*.
Ziveri 177* 274*.
Zweig 213*.
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Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Inhaltsverzeichnis.
387*
2. Sachregister.
Ahdominal-Dmcksymptom 196* 92.
Abstammungslehre 72* 1.
Abstinenz 234* 1, 10. 241* 117.
Abwässer 312* 101.
Achillessehnenreflex 73* 4.
Ackerbaukolonie 309* 52.
Adalin 74* 29. 77* 64. 80* 106. 110.
82* 141. 83* 148. 84* 163. 85* 180.
183, 190. 87* 217. 91* 274. 93* 299.
96* 340. 98* 371. 165* 132, 136. 170*
207. 206* 234.
Adalinvergiftung 238* 66.
Adrenalin 171* 221.
Ärztekammer für Brandenburg 33* 1.
34* 2.
Ärztliche Atteste 27* 12.
Ärztliche Seelenkunde 86* 192.
Ätiologie 78* 79, 85. 97* 357.
Affektdelikt 36* 32. 46* 70.
Affekte 2* 15.
Affektepileptische Anfälle 192* 38.
Affektpsychosen 12* 163.
Agilität 84* 165.
Agoraphobie 201* 161, 162.
Agraphie 264* 47. 272* 157.
Akromegalie 169* 187. 273* 169.
Akustische Untersuchungen 8* 106.
Akute Demenz 166* 151.
Akute Paranoia 166* 142.
Albuminurie 161* 82.189* 4. b, 236* 44.
Alcoholismus chronicus 210* 288. 234*
3, 12. 236* 37. 239* 81. 240* 106.
Alkaloidpsvchosen 235* 16.
Alkohol 13* 174. 81* 130. 191* 29.
235* 19. 236* 36, 43. 238* 67, 68.
239* 86. 241* 108, 109, 110.
Alkoholische Getränke als Hypnotika
241* 116.
Alkoholismus 42* 9. 43* 22. 166* 149.
204* 201. 234* 2. 236* 23. 24, 26, 27,
28. 236* 39. 237* 53, 65. 238* 61, 62,
<13. 239* 83, 84. 240* 93, 96. 241*
113a, 118. 242* 120.
Alkoholismns und Epilepsie 207 * 248.
208* 261.
Alkoholist 65* 10.
Alkoholmißbrauch und Geisteskrank¬
heit 235* 13.
Alkoholordination 239* 80.
Alkoholpsvchosen 235* 16, 22. 236* 42.
238* 73. 239* 90.
Alkohol und Homosexualität 240* 91.
j Alkohol und Verbrechen 43* 23. 98*
1 375. 238* 64.
i Alkoholwirkung 6* 68. 237* 61.
| Alkoholwissenschaft 235* 18, 25.
j Allenberg 313* 113.
1 Alltagsleben 7* 96. 84* 171.
| Alopecia totalis neurotica 204* 202.
; Alsterdorfer Anstalten 313* 114.
j Alterserkrankungen des Zentralnerven -
I Systems 271* 145.
1 Alterspsychosen 260* 1. 265* 63, 65.
Altruismus 80* 114.
! Alzheimersche Krankheit 260* 1. 268*
1 104. 270* 132.
! Amaurotische Idiotie 138* 23, 38.
| Amentia 177* 311. 241* 113.
' Amerika 46* 67.
I Amnesie 3* 34. 35* 16. 43* 19. 160* 52.
1 165* 130, 131.
i Amnesie bei Paralyse 261* 13.
Amylenkarbonat 83* 152.
! Amvotrophische Lateralsklerose 268*
, 103.
1 Analyse der Empfindungen 9* 123.
; Anarthrie 265* 62.
i Anatomie des Basedow 207 * 246.
Anenzephalie 266* 78.
Anfallhäufungen 196* 90.
I Angst 161* 76.
, Angstzustände 84* 170. 163* 104. 207*
| 246.
Anisokoric 189* 7.
Anomale Kinder 141* 73, 74.
■ Anstaltsarzt 305* 6.
| Aastaltspsychiatrie 306* 24. 312* 105.
j Anthropologie 88* 230.
i Antipyretica 87* 215.
I Antistreptokokkensemm 93* 292. 171*
I 224.
! Antonius 14* 194.
i Anurie bei Hysterie 198* 115.
' Aortitis gummosa 268* 100.
Aphasie 139* 50. 262* 15. 265* 62. 266*
77. 269* 116. 270* 128.
Aphasieforschung 265* 69.
Appendizitis 171* 215. 191* 22 a. 23.
Appenzell 139* 46. 308* 50.
Appetit 14* 190.
Apraxie 262* 25. 265* 56. 271* 146.
272* 157.
Arbeitssoldaten 69* 9.
Argentinien 311* 88.
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Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
3.88*
Inhaltsverzeichnis.
Armee 69* 1, 2, 6, 8,10,11,12, 13,14.
70* 16. 72* 2. 80* 111. 166* 149.
Arsenhämatose 81* 128.
Arsenikvergiftung 267* 88.
Arsenozerebrin 201* 166.
Arteriosklerose 209* 278. 266* 74.
268* 101. 269* 123. 270* 128, 134.
Arteriosklerotische Geistesstörungen
171* 217. 270* 126, 134.
Artikulation 274* 176.
Arzneigemische 76* 63, 64.
Arzneimittel 73* 12. 78* 81.
Aspergillus fumigatus 240* 96.
Assoziation 16* 216. 216. 16* 217.
Assoziationen 3* 30. 4* 68. 77* 71.
86*. 189. 166* 143, 144. 168* 176,
176.
Assoziationen bei Manischen 86* 187.
166* 140.
Assoziationsexperimente 8* 116, 116.
9* 117.
Assoziationsstörung; 202* 177.
Assoziationstherapie 89* 246.
Assoziationsuntersuchungen 9* 126.
Assoziationsversuche 6* 87.
Assoziationsvorgänge 94* 307. 173*
244.
Assoziationsvorgänge bei Affektpsy¬
chosen 12* 164.
Assoziativmotorische Reflexe 1* 11.
Asthenia universalis 200* 166.
Asthenie 193* 66.
Asthenomanie 190* 21. 262* 14.
Asymmetrie des Schädels 73* 9.
Aszetismus 86* 186.
Ataxie 88* 228.
Atemzentrum 76* 42.
Athetose 206* 238.
Atmungsgymnastik 199* 141.
Atropa Belladonna 238* 72.
Atropin gegen Alkoholismus 240* 93,
96.
Atteste 27* 12.
Auffassungsapparat 77* 62.
Aufmerksamkeit 1* 7. 6* 71. 12* 163.
Aufmerksamkeitsstörungen 88* 227.
Augenbewegungen 16* 213.
Augenmuskellähmung und Basedow
191* 24.
Ausdrucksstörungen 11* 160.
Aussage vor Gericht 65* 7.
Auswertungsmethode 266* 68.
Autoerotismus 85* 185, 186.
Autointoxikationspsychose 238* 65.
Autonome Verstimmungen 163* 106.
Autopathographie 161* 77.
Autopsychische. Bewußtseinsstörung 35*
17.
Azetonitrylreaktion 196* 96.
Autotoxische Psychose 174* 268.
Babinskisches Phänomen 81* 130. 86*
193. 97* 364. 98* 373. 236* 29.
Baden 141* 79. 307*30,31. 313* 111,
116.
Bäder 80* 116.
Bakterientoxine gegen Paralyse 272*
159.
Balkenstich 261* 4.
Bamberg 313* 116.
Basedowsche Krankheit 160* 61. 190*
11. 191* 24, 27. 193* 47, 48, 56.
196* 87. 196* 96, 100. 197* 103.
199* 137. 200* 147,164. 204* 205,
206, 212. 206* 216, 220. 206* 232.
207* 243, 246, 247, 249. 208* 269,
264.
Bastille 46* 60, 61.
Bayern 68* 2. 308* 49. 311* 93.
Bayreuth 313* 117.
Begabungsunterschiede 2* 27.
Begleiterscheinungen seelischer Vor¬
gänge 8* 113, 114. 16* 212.
Beginnende Geisteskrankheit 98* 369.
Begriffe 2* 16.
Begriffsanalyse 12* 169.
Behandlung der progressiven Paralyse
261* 3. 263* 33, 37.
Behandlung Geisteskranker 93* 294.
Behandlung heilbarer Psychosen 77 * 74.
Behandlung psychopathischer Indivi¬
duen 91* 269.
Behandlung unruhiger Geisteskranker
162* 87.
Beinphänomen 192* 43.
Bekanntheitsqualität 10* 133.
Bellelay 318* 206.
Berlin 314* 123, 128. 316* 145. 319*
212 .
Bergmannswohl 310* 75.
Bern 318* 206.
Berufsvormundschaft 64* 2.
Berufswahl und Kriminalität 46* 68.
Besessene 9* 97.
Besessenheit 164* 126.
Besudelung 44* 34.
Bettbehandlung 78* 78. 306* 15.
Betzsche Zellen 86* 198.
Bewegungsstörungen bei Geisteskrank¬
heiten 83* 166.
Bewegungsvorgänge ,91* 277.
Bewußtseinsstörungen 82* 146.
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Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Inhaltsverzeichnis.
389 *
Bewußtsein von Gefühlen 6* 64.
Beziehungswahn 173* 249.
Bibliographie der Psychologie 8* 106 a.
Bibliothek 308* 44.
Blastophthorische Entartung 236* 43.
Bleivergiftung 268* 106.
Blitzschlag 86* 191. 99* 388. 200*
148. 209* 283.
Blutdruck 86* 201. 96* 346.
Blutdruck bei Delirium tremens 242*
121 .
Blutdrüsen 190* 12.
Blutkreislauf 78* 78. 167* 168, 169.
168* 170.
Blutuntersuchung 81* 126. 96* 326.
101* 126.
Blutuntersuchungen 84* 167. 92* 282,
283. 96* 329. 162* 89. 171* 216.
173* 247. 237* 63. 266* 67. 269*
111 .
Blutverschiebung 77* 63.
Bohnitz 308* 42.
Bologna 12* 162.
Borax gegen Epilepsie 198* 128.
Bourdonsche Probe 88* 227.
Bradykardie 193* 60.
Brandenburg 33* 1. 34* 2. 313* 119.
Brautmord 28* 27.
Bremen 314* 134.
Breslau 140* 68. 313* 120.
Brieg 313* 121.
Brom 210* 287.
Bromintoleranz 76* 60.
Bromismus 236* 40.
Bromkalium 198* 126, 129.
Bromnatrium 198* 129.
Bromovose 192* 37.
Bromural 93* 304. 204* 200. 206*
223.
Brünn 314* 122.
Buch 314* 123.
Bunzlau 314* 124.
Butenkoreaktion 73* 5. 166* 3.
Burghölzli 314* 125.
Cabanis 80* 115.
Cafard 78* 76. 169* 47.
Cery 314* 126.
Charakterkunde 7* 103.
Chirurgie des Gehirns 267* 96.
Chirurgische Behandlung der Basedow¬
schen Krankheit 190* 11. 206* 220.
207* 243. 208* 269.
Chlorretention 201* 158.
Cholämie 163* 102.
Cholesterin 92* 283. 171* 216.
Chorda tympani 266* 64.
Chorea 197* 106, 108, 109, 111, 114.
198* 121. 202* 172, 177, 180. 203*
189,190. 204*213. 206* 238. 207*
243 a, 264.
Chorea genitalen Ursprungs 192* 36.
Chorea minor 164* 122. 191* 32, 33.
192* 41. 199* 131.
Choreapsychosen 199* 131.
Chorea senilis 263* 34.
Christentum 87* 214.
Columbia 266* 80.
Conradstein 312* 104. 314* 127.
Crotalin 201* 169.
Dämmerzustand 200* 161. 207* 266.
Dänemark 141* 80.
Dalldorf 314* 128.
Danville 314* 129.
Darmstadt 312* 98.
Dauerbad 310* 77.
Dauerschwindel 91* 271.
Dauerwache 307* 38.
Daumenlutschen 86* 186.
Defektenanstalten 69* 16. 309* 64.
Defektpsychosen 94* 307. 139* 62.
173* 244.
Degeneration 80* 113,. 163* 100.
Degenerationslehre 79* 96.
Degenerationsproblem 167* 17.
Degenerationspsychose 44* 38.168* 171.
Degenerative 76* 40.
Degenerierte 34* 4. 88* 226. 158* 26.
Delirium acutum 166* 147, 148. 176*
302.
Delirium tremens 64* 24. 237* 67.
238* 70. 240* 97, 103. 242* 121.
Depressionszustände 78* 86. 160* 66.
Depressive Psychosen 168* 179.
Depressive Zustände 173* 242.
Dementia praecocissima 169* 41. 162*
94. 164* 113.
Dementia praecox 27* 6. 166* 1, 6.
167* 8, 9, 16, 20. 158* 22, 27, 31,
32, 34, 36. 159* 38, 39, 40. 161*
72, 73, 74. 162* 85, 86, 96. 163*
103, 109, 110. 164* 113, 114, 121,
125. 165* 136, 139. 166* 146, 149,
162, 156. 167* 167, 168, 169. 168*
170, 172, 173, 176, 176, 178. 169*
187, 193, 197. 170* 204, 205, 206,
210, 211, 171* 222. 172* 231, 233,
234, 236, 236. 173* 247, 261. 174*
268, 263, 264, 266. 175* 272, 275,
276. 176* 287, 297. 177 * 306, 310.
210* 288.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
390 *
Inhaltsverzeichnis.
Demenz 137* 18, 19.
Dercuifische Krankheit 64* 1. 168*
23.
Dermolokalimeter 11* 163.
Deszendenztheorie 14* 187. 72* 1.
Deutschland 136* 6.
Diabetes 266* 63.
Diät bei Epilepsie 197* 104.
Diätküche 312* 100.
Diagnostik der Nervenkrankheiten 192*
40. 196* 101.
Diarrhö 198* 124.
Diathesen 204* 211 a.
Diebstahl 43* 16. 44* 33.
Dienstbeschädigungsfrage bei Paralyse
271* 139.
Differentielle Psychologie 14* 188.
Differenztöne 14* 196.
DigalenVergiftung 237* 68.
Dipsomanie 236* 32.
Dimethylaraidobenzaldehyd - Reaktion
76* 67.
Diplokokkus 176* 302.
Dipsomanie 206* 241.
Dösen 314* 130.
Dresden 72* 3. 81* 127. 142* 91.
307* 36.
Dritte Dimension 10* 139.
Druckmassage 198* 130.
Drusen 262* 19.
Duraplastik 199* 143.
Durchgängigkeit der Meningen 273*
162.
Durchgangsbeobachtungen 5* 73.
Dziekanka 314* 131.
Eberswalde 313* 119.
Echolalie 159* 60. 208* 265.
Eglfing 306* 3. 314* 132.
Ehereform 56* 8. 92* 279.
Ehescheidung 46* 48. 47* 78. 65*
6, 6. 69* 9.
Ehe und Geistesstörung 94* 321.
Eichberg 314* 133.
Eifersucht 4* 64.
Eifersuchtswahn 42* 7. 157* 19.
Einfache Seelenstörungen 164* 112.
Einschlafen 16* 203.
Einseitige Halluzinationen 88* 229.
Einstellung des Auges 9* 130.
Einwanderung 81* 131.
Elektrische Anlagen 307* 40.
Elektrische Entartungsreaktion 205*
221 a.
Elektrische Vorgänge im Körper 15*
214.
Elektrischer Unfall 209* 274.
Elektrizität 75* 43.
Elektrizität bei Neurasthenie 203* 196.
Ellen 314* 134.
EUikon 314* 136.
Emanuel Quint 87* 213.
Emmendingen 307* 38.
Encephalopathie satumina 268* 106.
Endogene Depression 191* 34 a.
Enesolbehandlung 172* 158.
England 42* 1. 89* 239. 136* 1.
140* 66. 311* 84.
Entartung 42* 9. 43* 22.
Entartungsreaktion 93* 298.
Entlastung der Irrenanstalten 306* 12.
Entmündigung 64* 3. 65* 9, 15.
Entscheidungen 28* 26, 26.
Entweichungen 310* 67.
Entwickelungsstörungen des Gehirns
141* 83.
Entziehung von Morphium 238* 71.
Enuresis nocturna 98* 374.
Epilepsie 27* 6. 42* 7, 10. 47* 74.
86* 189. 87* 210. 137* 20. 142*
87. 166* 143, 144. 190* 13, 19, 20,
21. 191* 22 a, 23, 28, 29. 193* 50,
51, 62, 63, 68, 69. 194* 66 a, 68,
69, 73. 195* 78, 82. 196* 90, 91,
94,98. 197*102.104,112,113. 198*
117, 119, 120, 126, 127, 128. 199*
140, 143. 201* 169, 166, 167, 168,
169, 170. 202* 174, 178, 179, 182,
186. 203* 192 a, 198. 204*201,207,
208, 209. 206* 219. 206* 227, 228.
229. 207* 242, 248, 252. 208* 265,
268,269. 209* 273. 210* 288, 289 a.
Epilepsie der Pubertätszeit 210* 286.
Epilepsie im Kindesalter 210* 289 a.
Epilepsie und Alkoholismus 208* 261.
Epilepsie und Linkshändigkeit 207*
260.
Epilepsie und Unfall 210* 289.
Epileptische Krampfanfälle 42* 5.
Epileptischer Dämmerzustand 35* 15.
237* 60.
Epileptiker 4* 68. 76* 42.
Epileptikeranstalt 306* 16.
Epileptikerfürsorge 310* 76.
Epileptoide Erstickungsanfälle 200* 156.
Erblichkeit 74* 19, 27. 76* 59. 78*
88. 86* 204. 205. 94* 310. 96*
361. 99* 390. 166* 160. 168* 174.
Erblichkeit der Trunksucht 236* 32.
Erbsyphilis 266* 75.
Erdbeben 89* 248.
Ererbte Sechsfingerigkeit 95* 332.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Inhaltsverzeichnis.
391 *
Ergebnisse der Neurologie und Psy¬
chiatrie 99* 379.
Ergotinvergiftung 237* 52. 238* 69.
Erkenntnismöglichkeiten 96* 346.
Ermüdung 73* 6. 136* 2. 91* 267.
Ernährungssystem 306* 41.
Ernährungstherapie 312* 97.
Erschöpfungspsychosen 173* 253.
Erweichungsherd im Hinterhauptlappen
262* 27.
Erwerbsunfähigkeit 63* 3.
Erziehung 74* 19, 20, 31.
Erziehung durch Spiel und Kunst 12*
158.
Erysipelas 87* 218.
Esterase 92* 282.
Experimentalpsychologie 15* 202.
Familiäre Krankheiten 82* 146.
Familienähnlichkeit 43* 24, 25.
Familienforschung 94* 316.
Familienpflege 305* 7. 308* 49. 309*
53. 310* 72, 80. 311* 93.
Farben 7* 99.
Farbenblindheit 6* 77.
Farbenempfindung 6* 77.
Farbenerscheinung 11* 145.
Farbengedächtnis 9* 121.
Farbenkörper 6* 86.
Farbenton 9* 118.
Farbentonänderung 3* 40.
Farbenunterscheidung bei Kindern 139*
42.
Fazialis-Phänomen 83* 150. 138* 40.
Feldhof 314* 136.
Fermentative Prozesse bei Geistes¬
kranken 85* 178.
Fetischhaß 83* 147.
Feuchtersieben 86* 192.
Fiehi-Extrakt 99* 378.
Fieber 95* 328.
Fischersche Plaques 271* 137.
Fixieren 9* 130. 16* 200.
Fliegende Holländer 5* 70.
Folklore 76* 55.
Formosa 86* 196. 95* 326.
Fortlaufen der Kinder 46* 63.
Fortpflanzung 42* 13. 72* 3. 81* 127
Fortschritte des Irrenwesens 312* 106.
Fortschritte in der Psychiatrie 100* 394.
Frankreich 44* 30.
Freiburg i. Schl. 314* 137.
Freie Willensbestimmung 27* 2.
Freiluftbehandlung 306* 16.
Friedmatt 314* 138.
Friedreichsches Syndrom 264* 54.
j Friedrichsberg 314* 139.
Freudsche Neurosenlehre 10* 137.
| Freuds Theorien 8* 109.
Frontallappen 263* 29.
Frühsymptome der. Paralyse 267* 94.
Fürsorge 140* 56.
Fürsorgeamt 307* 32.
Fürsorgeerziehung 58* 2. 69* 6, 10.
13, 14. 60* 18, 19, 20. 70* 16.
I Fürsorge im Kriege 70* 17.
Fürsorgevereine 306* 25.
i Fürsorgezöglinge 139* 43 a, 140* 54.
i 141* 70, 79.
Fugues 168* 178.
Funktionen der Nervenzentra 74* 22.
Fußrückenreflex 86* 195. -
; Fußsohlenreflex 77* 66.
i
I Gabersee 316* 140.
| Gail 264* 50.
] Gattenmord 47 * 80.
Geburt 82* 134. 135.
| Gedächtnis 6* 81. 7* 95. 8* 112. 10*
; 138. 12* 169.
i Gedächtnistätigkeit 10* 140.
! Gedankenecho 97* 358.
1 Gedankenleser 13* 183.
i Gefängnispsychose 82*138,139.163* 107.
1 Gefühlsbetonung der Farben 14* 185.
! Gefühlsleben 13* 178.
; Gefühl und Erinnerung 11* 147.
Gehirnblutung nach Lumbalpunktion
96* 335.
' Gehimbrüche 139* 53.
; Gehimdruckentlastung durch Balken -
stich 261* 4.
| Gehirnentzündung 63* 7.
i Gehirngewicht 99* 382.
, Gehimnervenlähmungen bei Basedow
199* 137.
I Gehimprobleme 99* 382.
! Gehlsheim 312* 102. 316* 141.
I Gemeingefährliche Geisteskranke 36*
' 28. 60* 23.
Geminderte Zurechnungsfähigkeit 36*
31.
Genealogie 95* 331.
! Generationspsvchosen 94* 317. 173*
| -256. 257.
I Genialitätslehre Lombrosos 84* 164.
i Gonorrhöe 161* 75.
' Geisteskranke Verbrecher 60* 26.
I Geisteskrankheiten 9t»* 261.
' Geisteskrankheiten bei Kindern 138* 37.
j Geisteskrankheiten und Jahreszeiten 99*
384.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
392*
Inhaltsverzeichnis.
Geisteskrankheit nach Entziehung der
Invalidenrente 64* 22.
Geistesschwache 140* 65.
Geistige Arbeit 73* 6. 94* 319.
Geistige Epidemien 160* 60.
Geiz 4* 61.
Gelonide 89* 244.
Geopsychische Erscheinungen 6* 79.
Gerichtliche Medizin 27* 8. 43* 18.
Gerichtliche Psychiatrie 28* 26, 26, 28.
Geschichte der Hirnlehre 78* 82.
Geschichte der Paralyse 269* 112.
Geschichte der Psychiatrie 84* 161.
87* 207, 208. 86* 197. 309* 62.
Geschichte der Psychologie 3* 33. 7*
104.
Geschwisterpsychose 167* 169, 160.
Geschwisterpsychosen 80* 107. 161*
83, 84.
Geschwülste der Hypophysengegend
267* 96.
Geschwülste des vierten Ventrikels 260*
2. 261* 11.
Gesellschaftsbiologie 96* 349.
Gesichtstäuschungen 76* 68.
Gewichtsempfindung 16* 220.
Gewohnheitsverbrecher 42* 1. 43* 26.
Gewohnheitsverbrecherin 163* 107.
Gifte und Nervensystem 237* 66.
Giftmörderin 43* 21.
Gigantismus 94* 320.
Gliose des Gehirns 64* 26.
Glykosurie 176* 291.
Glykosurie bei Geisteskrankheit 98*
372.
Göttingen 316* 142.
Gonokokkeninfektion 236* 38.
Graviditätspolyneuritis 240* 104.
Graz 314* 136.
Grenzzustände 75* 34.
Grundschema der Geisteskrankheit 97*
352.
Gutachtliche Seltsamkeiten 64* 21.
Gynäkologie und Psychiatrie 75* 44,
45. 77* 67. 96* 347.
Gynäkologie und Selbstmord 158* 28.
Haftpsychosen 90* 262. 169* 194.
Halbseitige Symptome bei Idiotie 270*
124.
Halbseitige Unterentwicklung 138* 30.
Halle a. S. 312* 100.
Halleyscher Komet 158* 29.
Halluzinationen 82* 143. 98* 376.
163* 111.
Halluzinatorische Psychose 156* 6-
168* 33.
Halluzinose 160* 66, 67.
Hamburg 313* 114. 314* 139.
Hamlet 199* 134.
Handbuch der Neurologie 201* 164.
Handschrift 46* 46.
Handschrift und Charakter 13* 170.
Hannover 140* 64.
Harnkolloide 87* 210. 167* 163. 201 •
170.
Hauptmann 87* 213.
Hautreflexe 96* 344.
Hausindustrie 308* 48.
Haus Schönow 316* 144.
Hebephrenie 172* 231.
Heer 69* 1, 2, 6, 8, 10, 11, 12, 13, 14.
70* 16. 72* 2. 80* 111. 166* 149.
Heilpädagogik 59* 13.
Heilungsaussichten der Psychoneurosen
173* 241.
Helenenhof 307* 33.
Helligkeitsadaption 13* 171.
Hemianopsie 76* 58.
Hemiatrophie 269* 113.
Hemihyperhidrosis 206* 218.
Hemiplegie 137* 20.
Hessen 316* 146.
Hereditäre Belastung 46* 60.
Hereditäre Krankheiten 82* 146.
Hereditäre Lues 264* 54.
Heredität 166* 160. 168* 174.
Hermaphrodit 86* 202.
Heroinismus 234* 7.
Herpes zoster 206* 226. 263* 41. 264*
62.
Hertzka 47* 73.
Herzberge 316* 146.
Herzkrankheit und Psychose 77* 68.
Heuer 99* 389.
Hexerei 90* 264. 169* 196.
Hüdesheim 316* 147.
Hilfsschule 137* 14. 139* 42 a. 140*
60.
Hirnabszeß 264* 44.
Hirngeschwülste 262* 22. 263* 35. 3b.
266* 79. 272* 160. 273* 16L
Hirngewicht bei Geisteskrankheiten 84*
162.
Himgewicht der Tiere 80* 112.
Himmißbildungen 139* 63.
Himpunktion 262* 22. 273* 167.
Hirnrinde 97* 362.
Himschwellung 93* 297.
Himsyphilis 262* 26. 266* 60. 267*
88 .
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Inhaltsverzeichnis.
393*
Hirntuberkel 264* 46.
Hirntumoren 261* 6, 10, 11.
Himvenen 272* 149.
Hirnwindungen 267* 86.
Himzirkulation 80* 116.
Historisch-völkerpsychologische Be¬
griffsanalyse 12* 169.
Hörzentrum 74* 28.
Homosexualität 34* 12, 13. 35* 14,
26. 240* 91.
Horror sexualis parrialis 83* 147.
Hubertusburg 307* 37.
Hilfsvereine 309* 60. 313* 110. 316*
146.
Hunger 16* 204, 205.
Hungergefühl 14* 193.
Huntingtonsche Chorea 196* 80. 197*
111. 202* 172. 204* 213.
Hydrocephalus internus 141* 78. 261*
11 .
Hydrozephalie 138* 32.
Hydrozephalus 266* 77.
Hygieneausstellung 73* 3. 81* 127.
142* 90. 307* 36.
Hygiene des Denkens 6* 86.
Hyoscyamus 241* 112.
Hyoszin 81* 130.
Hyperbydrosis 190* 19.
Hyperthermie 190* 19.
Hypertismus 2* 14. 16* 222. 79* 106.
Hypnagoge Phänomene 15* 208.
Hypnose 46* 62.
Hypnotismus 196* 96. 203* 191.
Hypnoval 78* 83.
Hypochondrie 168* 26. 160* 69. 174*
266, 271. 177* 312.
Hypophyse 74* 18. 99* 386. 177*
306. 271* 140.
Hypophysengeschwulst 267 * 96. 273*
161.
Hypophysispräparate 136*. 6.
Hypopituitarismus 273* 161.
Hypothyreoidismus 202* 181.
Hysterie 163* 108. 168* 172. 189* 9.
190* 16, 17. 18. 192* 34 b, 36, 43,
46, 46. 194* 67. 196* 77, 79. 196*
88. 198* 115. 199* 139, 142. 200*
146,153. 201* 158. 202*173. 203*
193, 194, 195, 197. 204* 210. 207*
253, 266. 209* 270, 280, 281.
Hysterie des Mannes 189* 8.
Hysteriforme Symptome 164* 116.
Hysterische Hautnekrose 209* 276.
Hysterische Lähmung 63* 6.
Hysterische Ohrenerkrankungen 197 *
107.
Hysterischer Erregungszustand 70* 15.
Hysterischer Ileus 208* 187.
Hysterisches Fieber 198* 115. 199*
138
Hysteroepilepsie 202* 183, 184.
Ideenassoziation 139* 62.
Idiopathischer Hydrozephalus 262* 22.
Idiotenfürsorge 310* 76.
Idiotia thymica 142* 86.
Idiotie 137* 18, 20. 138* 29. 263* 30.
Idiotie und Syphilis 137* 13, 16. 139*
46.
Illusionen 98* 376.
Imbezillität 27* 6. 66* 9. 69* 3, 8.
Immunität 79* 102.
Indigo 96* 350.
Individualanalyse 9* 127.
Indoxyl 190* 13.
Induziertes Irresein 91* 273. 160* 65.
170* 203.
Infantilismus 94* 320.
Infektionspsychose 174* 268.
Infektionspsychosen 240* 98. 241* 113.
Influenzaneurasthenie 191* 26.
Injektionstherapie der Ischias 190* 1<*.
Intelligenzprüfung 2* 19. 8* 108. 14*
189. 89* 238.
Intelligenzstörung bei Chorea 207*
243 a.
Intelligenz und Kopfgröße 137* 8.
Intentionskrampf 192* 42.
Intonation 8* 112.
Intravenöse Ernährung mit Trauben¬
zucker 85* 181, 182.
Invalidenversicherung 63* 3.
Irland 78* 76.
Irrenärztliche Tagesfragen 309* 55.
Irrenanstalt 309* 58.
Irrenanstalten 312* 107.
Irrenanstalten und Strafrecht 58* 3.
Irrenfürsorge 311* 81, 83. 313* 110.
Irrenfürsorgegesetz 311* 85.
Irrengesetz 59* 8, 11. 60* 22. 98*
377. 310* 70. 311* 82.
Ischias 192* 39. 196* 92, 93.
Jackson-Epilepsie 199* 143.
Jahreszeiten 177* 303.
Japan 44* 40. 90* 260.
Jodbasedow 196* 100.
Jodbehandlung des Basedow 204* 206.
Juden 47 * 82.
Jugendirresein 172* 233.
Jugendkunde 142* 90.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
394*
Inhaltsverzeichnis.
Jugendliche 36* 29. 42* 14. 43* 16.
45* 46, 49, 64, 66, 66. 69* 7.
Jugendliche Angeklagte 34* 6.
Jugendliche Neuropathie 83* 160.
Jugendliche Paralysis agitans 191* 34.
Kältereize 96* 344.
Kältesinn 13* 179.
Kaffee 209* 279.
Kaisheim 47* 76.
Kalorischer Nystagmus 94* 311, 312.
Kanada 308* 43.
Karzinomkachexie 166* 146. 238* 74.
Kasan 308* 46.
Kastration 91* 265. 202* 176.
Katastrophen als Ursache von Psy¬
chosen 207* 266.
Katatonie 69* 3. 86* 189. 157* 18.
168* 30, 32. 169* 48, 49. 160* 67.
166* 141, 143, 144. 166* 166. 167*
167. 170* 199, 201, 212. 171* 218,
222, 223. 174* 261, 262, 284. 176*
301. 193* 60.
Kaufbeuren 316* 149.
Kentomanie 239* 87.
Kinder als Zeugen 65* 12, 16.
Kinderfehler 136* 3.
Kinderpsychose 168* 181.
Kinderpsychosen 82* 136. 172* 232.
Kinder von Paralytikern 140* 61.
Kindlicher Schwachsinn 46* 64.
Kinematograph 44* 31.
Kirchenemeuerung 87* 214. j
Kitzelgefühl 14* 192. I
Klassifikation der funktionellen Psy- j
chosen 167* 17.
Klassifikation der Geistesstörungen 89*
249.
Klausenburg 309* 54.
Kleinhirn 261* 8. |
Kleinhimabszeß 261* 9.
Kleinhimerkrankungen 268* 110. I
Kleinhirnfunktionen 73* 7.
Kleinhirnmißbildungen 273* 170.
Kleinhimrinde 261* 7.
Kleinhimtumoren 264* 43.
Kleist 199* 136.
Kleptomanie 43* 27. 164* 119.
Klimakterische Melancholie 171* 221.
Klimakterium 93* 300.
Kobrareaktion 85* 179. 94* 313.
Kochsalzarme Nahrung bei Epilepsie
198* 127.
Kochsalzarme Ernährung 201* 160.
Königsfelden 315* 150.
Kohlenoxydvergiftung 36* 15. 237* 50,
60.
Kokainismus 234* 7, 237* 59.
Kolloidkörper 274* 172.
Kombinationen von Arzneimitteln 82*
142.
Kompendium der Psychiatrie 88* 233.
Komplexforschung 28* 19.
Kongreß zur Fürsorge für Geisteskranke
76* 36.
Kongreß für Philosophie 12* 162.
Kongenitale Aphasie 139* 50.
Konsonanz 14* 195.
Konsonanz und Konkordanz 14* 197.
Konstantinopel 309* 63.
Kosten 315* 162.
Konstitutionell - psychopathische Per¬
sonen 42* 4.
Konträre Sexualempfindungen 79* 1U3.
81* 123.
Kopfgröße und Intelligenz 137* 8.
Kopfschmerzen und Augenmuskelstö¬
rung 206* 236.
Korsakoffsche Krankheit 168* 182. 173*
246. 235* 14, 21. '236* 35. 237*
46, 49. 239* 82. 240* 102, 104.
241* 115.
Korrelation 2* 17.
Kortau 312* 99. 315* 151.
Krämpfe im Kindesalter 196* 99.
Krampfneurose 210* 290.
Krankenanstalten 306* 28.
Krankenhaus 307* 36.
Krankenhausbau 312* 95.
Krankhafte Willensschwäche 42* 3.
Krankheitsdauer 162* 88.
Krebsleiden 78* 79.
Kremsier 315* 163.
Kretinismus 136* 4. 137* 12, 21. 22.
138* 25, 26, 27, 28. 139* 48. 142*
89.
Kreuzburg 315* 164.
Krieg 161* 74.
Kriminalätiologie 44* 42.
Kriminalistische Studien 46* 64.
Kriminalität der Epileptiker 47* 74.
Kriminalität des Kindesalters 45* 44.
49.
Kriminalität und Psychose 63* 12.
Kriminalpsychologie 46* 66.
Kriminalstatistik 44* 42.
Kriminelle Geisteskranke 168* 171.
Kritische Tage 6* 76.
Kuba 58* 1. 59* 12. 87* 216.
Küche im Krankenhaus 311* 86. 14.
312* 96, 97, 98, 100.
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Inhaltsverzeichnis.
395*
Kunst 82* 140.
Kutzenberg 316* 165.
Lastmörder 46* 69.
Lymphozytose 170* 202.
Landsberg a. W. 316* 166.
Läsion der Chorda tympani 266* 64.
Langenhagen 316* 167.
Langenhorn 316* 158.
I>ehensdauer bei Geisteskranken 162*
88 .
Lebensdauer bei Epilepsie 207* 242.
Lecithinämie 75* 41.
Lehrbuch der Psychiatrie 74* 32. 84*
160.
Leib und Seele 2* 20.
Leichlingen 310* 79.
Leipzig 314* 130.
Lektüre 47* 72.
Lemgo 316* 161.
Lenau 92* 289.
Lettres de cachet 95* 324.
Leubus 307* 39. 316* 159.
Lewenberg 316* 160.
Lichtreaktion 73* 15.
Lidbewegungen 15* 213.
Lindenhaus 305* 1. 316* 161.
Linkshändigkeit 73* 17. 97* 355.
165* 141. 207* 250.
Linkskultur 86* 206.
Linsenkernsyndrom 268* 109.
Liquor Bellostii 263* 28. 271* 147.
272* 150, 151, 162, 273* 163.
Liquor cerebrospinalis 96* 338, 339.
170* 200. 265* 68. 269* 122. 270*
133.
Lohengrinsage 93* 291. 205* 218 a.
Lohr 3<>9* 57.
Loir et Cher 310* 76.
Lokalisation im Gehirn 90* 256.
Lokalisation im Großhirn 89* 247.
Lokalisation in der Kleinhimrinde 261*
7.
Lokalisierung von Hautemptindungen
11* 153, 154.
Lombroso 84* 164.
Lubünitz 316* 162.
Ludwig II. von Bayern 81* 121.
Lübeck 316* 163.
Lüben 316* 164.
Lüneburg 316* 165.
Lues cerebri 241* 115.
Lues des Zentralnervensystems 262* 21.
Luesparalysefrage 268* 107.
Lumbalpunktion 77* 70. 94* 314. 95*
335. 96* 338, 339. 261* 6. 267*
92. 272* 148.
Lungentuberkulose 83* 151.
Magendarmneurosen 203* 192.
Magenerkrankungen 92* 285. 171*
219.
Magensymptome bei Migräne 206* 239.
Magnetisches Gesetz 3* 37.
i Maler 3* 31.
| Mandschurische Taschinen 42* 11.
Manie 169* 46. 169* 196. 170* 202.
172* 229, 231. 173* 252, 296. 176*
286.
) Mangelhafte Geschlechtsempfindung
! 189* 2.
I Manisch-depressives Irresein 166* 4.
167* 13, 21. 158* 27. 160* 56, 63.
i 161* 80. 162* 90. 163* 100, 106.
■ 164* 115, 120. 166* 142. 167* 165.
! 168* 174, 177. 169* 183, 197. 170*
201, 208. 171* 220, 227. 172* 228,
229, 236, 237, 238. 173* 252. 174*
1 263. 175* 277, 278, 279, 283, 284.
285.
Mariaberg 316* 166.
Marine 69* 3. 158* 32.
Marokko 309* 69. 311* 89.
Masochismus 79* 94.
Masochist 47* 77.
Mechanismus geistiger Vorgänge 84*
159.
Medikamentöse Behandlung der Geistes-
! krankheiten 157* 11.
Medizinisch-psychologische Arbeiten 5*
74.
! Medizin und Strafrecht 28* 24.
! Meerenberg 316* 167.
I Meiostagminreaktion 76* 49.
i Melancholie 45* 51. 78* 86. 169* 44.
160* 04. 162* 90. 163* 102. 165*
129. 170*202,208. 171*221. 172*
i 229, 237, 238, 239, 240. 173* 254.
174* 260. 175* 282. 177* 308.
236* 30.
Mendel-Bechterewscher Fußrücken-
| reflex 86* 195.
Mendels Vererbungsgesetze 76* 59.
81* 132. 94* 310.
, Meningitis 86* 199. 269* 119.
■ Menopause 165* 130, 131.
1 Menstruale Epilepsie 191* 28.
1 Menstruale Psychosen 177* 309.
I Messina 89* 248.
■ Migräne 189* 7. 206* 239, 240.
1 Mikroskopische Untersuchung des Ner¬
vensystems 96* 334.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
396*
Inhaltsverzeichnis.
Mikrosomie 139* 49.
Mikrozephale Idiotie 262* 30.
Militärdienst 190* 14.
Militärgefangene 69* 9.
Minderwertige 29* 30. 36* 24, 26.
Mißbildung der Hände 78* 89.
Mißbildungen des Ohres 79* 101.
Mitbewegungen bei Hemiplegischen 97*
369.
Mörder 28* 29.
Mongolismus 137* 16. 138* 39. 140*
63. 141* 72. 142* 89.
Monistische Ethik 14* 187.
Moral insanity 44* 39.
Moralisch-verkommene Kinder 3* 38.
Mord 46* 66. 47* 81.
Mordversuch 42* 7. 44* 37. 196* 82.
Morel 80* 113.
Morphinismus 234* 7. 236* 20. 238*
71. 239* 87, 88. 241* 111.
Morphiumentziehung 78* 84. 236* 33.
Mortalität der Dementia praecox 166*
139.
München 242* 120. 316* 168.
Münsingen 318* 206.
Münsterlingen 316* 169.
Multiple Sklerose 271* 138, 141.
Musik und Nerven 84* 166.
Muskelschwielen 274* 174.
Myasthenia gravis 203* 199. 208* 262.
Myelitis 266* 71.
Myoklonische Epilepsie 200* 162.
Myoklonusepilepsie 138* 24.
Mythomanie 42* 12. 46* 62.
Myxödem 138* 31. 140* 67. 142* 89.
193* 49.
Nachröten 206* 214.
Nährmittel 96* 323.
Nahrungsverweigerung 174* 260.
Nanismus 193* 49.
Narkotische Medikamente 87* 216.
Natrium nucleinicum 263* 33. 266* 83,
90, 93. 266* 106.
Nebenniere 177* 306.
Nebennieren 99* 386.
Negativismus 176* 292.
Neger 94* 306.
Nekrophilie 83* 163.
Neovitalismus 80* 118.
Nervenheilstätte 306* 8.
Nervenkrankheiten 194* 70. 196* 89.
Nervenmassage 210* 286.
Nervenpunktlehre 193* 54.
Nervöse Diarrhöe 198* 124.
Nervosität und Erziehung 194* 72.
209* 282.
Netzhaut 14* 196.
Neuere Arzneimittel 73* 12.
Neuralgien 206* 237.
Neurasthenie 191* 34 a. 196* 76. 201*
163. 205* 226.
Neurasthenie der Jugendlichen 202*
176.
Neurasthenischer Dämmerzustand 46*
71. 176* 280.
Neurochemismus der Hypophyse 74* 18.
Neurologie 202* 186.
Neuropathen 192* 38.
Neurorezidive 264* 42.
Neurorezidive nach Salvarsan 272* 155.
Neurorezidive nach Syphilisbehandlung
261* 12.
Neurosen 198* 118.
Neurosenlehre 196* 86.
Neurosenlehre Freuds 198* 116.
Neurotisches Temperament 84* 173.
Neurotonische Reaktion 198* 122.
Neustadt i. Holstein 316* 170.
Neustadt i. Westpreußen 316* 171.
New York 310* 71.
Niederbayern 43* 23. 238* 64.
Niederlande 318* 190.
Niederhart 316* 172.
Niereninsuffizienz 201* 158.
Noguchireaktion 79* 95.
Nordamerika 43* 16. 69* 14. 81* 131.
88* 224. 140* 68. 202* 175.
Norwegen 309* 66.
Nuklease 92* 282.
Nukleasegehalt 199* 136 a.
Nukleininjektion 164* 126.
Nukleoproteid 208* 264.
Nystagmus 94* 311, 312.
Oberhessen 238* 69.
Obrawalde 317* 173.
Obsession 167* 168.
Obsessionen 82* 143.
Obstipation 174* 260.
Odium psychiatricum 306* 23.
Ödipus 199* 134.
Österreich 46* 57. 59* 16.
Ohio 306* 16.
Ohrlabyrinth 1* 6.
Oligophasie 194* 73.
Operationsresultate bei Hirntumoren
263* 35.
Operative Behandlung der Epilepsie
198* 117. 209* 273.
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Inhaltsverzeichnis.
397*
Opium 78* 84.
Opiumsucht 236* 34.
Oppenheim-Reflex 98* 373.
Opsonischer Index 73* 10, 11.
Optische Reize 11* 145.
Osnabrück 317* 174.
Osteomalacie 166* 145.
Othämatom 76* 46.
Owinsk 317* 175.
üxycholesterin 92* 283. 171* 216.
Pachymeningitis ossificans 206* 227.
Pädagogische Pathologie 136* 3.
Pantopon 78* 84. 82* 137. 89* 243.
98* 367. 172* 230. 174* 259. 176*
289. 236* 33.
Papilla nervi optici 270* 130.
Paraldehydvergiftimg 87* 212. 88*
223.
Paralyse als Unfallsfolge 269* 121.
Paralysis agitans 190* 16. 191* 34.
203* 192 b. 208* 263. 209* 283 a.
273* 168.
Paralytischer Anfall 269* 120.
Paramyoclonus multiplex 142* 87. 197*
110. 208* 268. 272* 156.
Paranoia 81* 133. 157* 7, 10. 160*
54. 161* 78, 81. 162* 92, 98. 163*
99. 165* 134. 166* 142. 167* 164.
168* 180. 173* 250. 174* 258.
175* 281. 236* 38.
Paranoide Symptome bei einem Kinde
172* 232.
Parasyphilitische Erkrankungen im Kin¬
desalter 139* 44.
Patellarreflektometer 85* 188.
Patellarreflex 89* 237. 94* 318. 266*
59.
Pathologie des Gedächtnisses 12* 159.
Pathologisches in der Kunst 82* 140.
Pathologische Methode in der Psycho¬
logie 13* 184.
Pathologischer Rausch 35* 20. 69* 3.
Pathopsychologie 13* 184.
Paulus 196* 81.
Pellagra 234* 5, 6, 8. 236* 41. 237*
54. 239* 89. 240* 94, 95, 99. 241*
106, 119.
Pennsylvania 314* 129.
Perzeption 1* 2.
Periodische Depression 165* 133.
Periodische Geistesstörungen 90* 258.
158* 36. 166* 149.
Periodisches Irresein 167* 158.
Periodisches Schwanken der Himfunk-
tion 97* 353.
Zeitachrift für Psychiatrie. LXLX.
| Periodizität 169* T 190, 191.
i Periodizität und Psyche 93* 295.
! Perseveration 173* 248.
| Perth 317* 176.
' Pfropfhebephrenie 165* 141.
I Phänomenologie 10* 132.
Phantasie 4* 49.
Phosphorarmut 206* 240.
Phosphorstoffwechsel 87* 209.
Physiologie der Kitzelgefühlc 14* 192.
Physiologische Psychologie 16* 224, 228.
Pigmenterythrozytose 266* 70.
Plagwitz 310* 69.
Poe 236* 34.
Poesie 2* 21. 76* 47.
I Polioenzephalomeningitis 266* 83.
j Poliomyelitis 266* 80, 81. 273* 166.
Polyneuritis 236* 36. 272* 165.
Polynukleose 170* 200. 269* 122.
Polyurie 190* 19.
, Pommern 141* 70.
Poriomanie 169* 192.
Positive Schule 28* 23.
Postapoplektische Geistesstörung 157*
, 12 .
Posteklamptisch« Psychosen 166* 164.
‘238* 77.
Postepileptische Albuminurie 189* 4 b.
Postmortale Muskelerregbarkeit 269*
115.
, Postoperative Psychosen 89* 242. 97*
360.
Posttraumatische Psychose 157* 14.
Postzentrale Hirnwindungen 80* 108.
Präsenile Demenz 268* *104.
| Präsenile Manie 176* 286.
I Präurämischer Zustand 235* 29.
1 Prag 308* 42.
j Prefargier 317* 177.
Presbyophrenie 168* 24. 265* 66.
! Progressive Muskelatrophie 63* 2. 263*
39.
Progressive Paralyse 55* 14. 140* 6L
169* 42. 166* 135. 167* 166. 170*
200. 261* 3, 13. 262* 18, 21. 263*
28. 264* 46. 265* 60. 266* 73, 82.
267* 89, 90, 91, 93, 94, 97, 98. 268*
101, 102, 105, 107, 108. 269* 112,
115, 120, 121, 122. 270* 134. 271*
136, 139, 144, 147. 272* 160, 159.
273* 162, 163, 165. 274* 172, 173.
Prophylaxe 76* 52. 176* 296. 306*
13. "
Pseudoaphasie 190* 17.
Pseudodysenterie 307* 39.
Pseudo-Hermaphrodit 88* 222.
bb
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Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
398*
Inhaltsverzeichnis.
Pseudoneuritis des Sehnervenkopfes
206* 236.
Pseudotetania hysterica 192* 43.
Psychasthenie 139* 61. 209* 279.
Psychasthenische Epilepsie 201* 159.
Psychiatrie 100* 392.
Psychiatrie und Neurologie 209* 272.
Psychiatrische Abteilung des Reichs¬
gesundheitsamtes 306* 2, 4. 311* 91.
Psychiatrische Aufgaben des prakti¬
schen Arztes 100* 393.
Psychische Epidemien 90* 256.
Psychisches Trauma 63* 7. 171* 218.
Psychische Vorgänge beim Schießen
10* 133 a, 134.
Psychoanalyse 1* 1, 5. 195* 76, 84.
196* 88. 199* 132. 209* 284.
Psychoanalytische Forschung 191* 30,
31.
Psychoasthenische Krämpfe 208* 269.
Psychogalvanisches Reflexphänomen 9*
126.
Psychogene Krankheitsformen 74* 33.
Psychologie 1* 8. 2* 20. 3* 33, 36,
38. 4* 44, 46, 50. 6* 84*, 86. 16*
226. 227.
Psychologie der Aussage 161* 72.
Psychologie der Gefangenschaft 12*
157.
Psychologie des Kindes 6* 78.
Psychologie des Rechnens 12* 167.
Psychologie des Trinkers 241* 107. .
Psychologie der Verbrecherin 44* 28.
Psychologie und Pathologie 11* 141.
Psychologische Profile 12* 166.
Psychologische Untersuchungsmethoden
8* 107. 13* 182.
Psvchoneurosen 173* 241. 191* 26.
i94* 61, 66. 205* 224. 207* *244.
Psychopathische Konstitution 74* 31.
88* 226.
Psychopathische Minderwertigkeit 46*
56. 138* 36.
Psychopathologie 9* 128.
Psychophysik 13* 180.
Psychophysiologische Blutverschiebung
77* 63.
Psychophysiologische Erkenntnistheorie
11* 146.
Psychotherapie 4* 60. 6* 90. 76* 39.
79* 106. 84* 172. 165* 133. 173*
264. 194* 61. 63. 195* 76. 197*
106. 199* 135. 200* 150. 201*
167. 208* 260.
Pubertätsepilepsie 196* 94.
Pubertät und Sexualität 7* 105.
Pubertät und Schule 137* 17.
Puerilismus 161* 70, 71. 207* 266.
Puerperalpsychose 90* 260. 254. 91*
272. 170* 213. 171* 224.
Puerperalpsychosen 84* 168, 169. 88*
234. 93* 292. 164* 123, 124. 169*
186, 189. 173* 255, 256, 257.
Pupillen bei Alkoholintoxikation 241*
114.
Pupillenmessung 99* 387.
Pupillenreaktion 82* 144. 91* 270.
96* 348.
Pupillenstarre 158* 31.
Pupillenstörungen 76* 56. 162* 86.
177* 307.
Pupillenstörungen bei Alkoholpsychosen
234* 9.
Pupillenverengung 96* 343.
Pyramidenbahn 139* 41.
Pyromanie 44* 39.
Quecksilberbehandlung 261* 12.
Querulanten 164* 117.
Radialislähmung 236* 36.
Raptus melancholicus 177* 308.
Rassenbiologie 96* 349.
Rassenhygiene 42* 13. 72* 3. 81* 127.
Rassenpsychiatrie 93* 301. 94* 306.
Raucherparanoia 167* 164. 239* 79.
Raumpsychologie 12* 166.
Poncp|i 2
Realitätsurteil 11* 149. 83* 158.
Reaktionsversuche 12* 166. 16* 218.
Reaktionszeit 5* 71.
Rechnen 12* 167.
Reflexe 1* 11. 77* 66. 91* 267. 198*
125. -
Reflexepilepsie 189* 4 a.
Reflexerregbarkeit 1* 6.
Reichsgesundheitsamt 305* 2, 4. 311*
91.
Reiz und Empfindung 13* 175.
Religion 8* 110.
Religionspsychologie 4* 60.
Rheinprovinz 317* 178, 179.
Rheumatismus 161* 68.
Rheydt 307* 40.
Rentenkampfhysterie 64* 23.
Respiratorische Affektsymptome 12*
160.
Restkohlenstoff 87* 220.
Retrograde Amnesie 36* 15.
Rockwinkel 317* 180.
Roda 317* 181, 182.
Röntgenlehre 76* 43.
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Inhaltsverzeichnis.
399*
Rosegg 317* 183.
Rostock 316* 141.
Rückenmark 266* 66.
Ruhehallen 95* 333.
Ruhr 305* 9. 307* 29, 39. 310* 68.
Russische Psychiatrie 86* 197.
Russisch-japanischer Krieg 69* 4.
Rußland 5* 74. 238* 76.
Rybnick 317* 184.
Saargemünd 317* 185.
Sachsen 307 * 34. 317* 186.
Sachsenberg 317* 187.
Sachverständige 28* 22.
Sachverständigen-Erlebnisse 26* 1.
Sadismus 79* 94. 83* 154.
Salome 83* 163.
Salvarsan 191* 32. 197* 108, 109.
203* 188. 189, 190. 208* 267. 261*
5, 12. 263* 36. 264* 49. 269* 117,
119. 271* 143. 272* 153, 154, 155.
*>73* IfU
Santiago 317* 188.
Scapula scaphoidea 81* 124. 93* 302.
140* 64.
Schädelbrüche 209* 271.
Schädelkapazität 94* 309.
Schädeltrauma 86* 194.
Scheinkörperlichkeit 2* 13.
Schilddrüse 193* 57. 200* 144, 149.
Schilddrüsenkolloid 208* 264.
Schkeuditz 310* 76.
Schlaf 8* 111. 15* 203.
Schlafkrankheit 271* 144.
Schlafmittel-Kombinationen 74* 24.
Schlafstörungen 98* 374.
Schlaganfall 27* 14.
Schleswig 317* 189.
Schlundsondenernährung 98* 368.
Schmerz 2* 23.
Schottland 318* 192.
Schreibstörungen 262* 16.
Schüler-Untersuchungen 2* 27.
Schularzt 140* 68. 141* 77.
Schuld und Strafe 35* 23.
Schuljugend 136* 2.
Schulkinder 308* 60.
Schwachsinn 27* 17. 64* 25. 70* 18.
138* 36. 140* 62.
Schwachsinnigenanstalten 308* 61.
Schwachsinnigenfürsorge 136* 1, 6.
140* 65, 68. 142* 90, 91.
Schwangerschaft und Epilepsie 206*
229, 231.
Schwefelkohlenstoff-Vergiftung 239* 86.
Schweißsekretion 206* 218.
Schweiz 69* 11. 90* 265. 140* 56-
166* 149. 202* 175. 318* 191.
Schwereempfindung 73* 16, 17.
Schwere Körperverletzung 36* 35.
Schwielenkopfschmerz 273* 171.
Schwindel 83* 149. 195* 74.
Sechsfingerigkeit 95* 332.
Seekrankheit 206* 237 a.
Seele 16* 223.
i Seelenkunde 86* 192.
Segantini 1* 1. 189* 0.
j Sehnenreflexe 80* 119. 92* 290.
i Sehnenreflexe bei Chorea minor 192* 41.
1 Sehnervenkopf 206* 235.
! Sehraum 13* 176.
Sekundäre Degeneration 262* 27.
Selbstanzeigen 34* 10.
Selbstbeschuldigung 35* 22.
Sclbstbewußtsein 15* 199.
I Selbstmord 46* 68. 62* 1. 63* 11, 14.
I 64* 19. 76* 46. 95* 322, 327. 158*
28. 199* 136.
! Selbstmordversuch 86* 203. 93* 304.
I 162* 98. 163* 99.
i Selbstmordversuch mit Bromural 206*
223.
I Selbsttäuschungen 12* 168.
• Selbstverstümmelung 69* 6. 176* 288.
i Sensibilitätsstörungen 234* 7.
: Sensorische Aphasie 266* 76.
; Serbien 36* 30.
Serodiagnostik 267* 92.
Serologische Untersuchungen 138* 34.
Serumreaktion 27* 9.
Sexualität 161* 78.
Sexualpathologie 92* 289.
Sexualverbrecher 45* 65. 46* 62.
Sexualproblem 87* 211.
Sexuelle Anomalie 91* 276.
Sexuelle Delikte 27* 17. 28* 18.
Sexuelle Inversion 81* 123. 88* 222.
Sexuelle Neurasthenie 205* 215.
Sexuelle Perversion 89* 246.
Sexuelle Träume 90* 259.
Sichernde Maßnahmen 60* 21.
Siechenfürsorge 311* 87.
Siena 315* 143.
Sigmaringep 318* 193.
Simulant 47* 76.
Simulation 63* 8. 64* 20. 69* 6.
91* 276. 167* 9. 162* 97. 196* 77.
204* 210.
Skorbut 234* 4.
Somnambulismus 98* 374.
Sondenernährung 78* 90.
Sonnenhalde 318* 194.
Difitized
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400*
Inhaltsverzeichnis.
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Sonnenstein 311* 92.
Sonnenstich 62* 1.
Soziale Bedeutung der Psychiatrie 85*
177.
Sozialpolitische Gesetzgebung 177* 310.
Soziologie 87* 221.
Späte Rezidive 160* 63.
Spaltbildungen am Hirn und Schädel
139* 53.
Spanisch 69* 6.
Spannungserscheinungen am Gefä߬
system 156* 5.
Spezifische Sinnesenergie 10* 136.
Sprache der Geisteskranken 92* 286.
Sprache des Traumes 14* 186.
Sprachentwicklung beim Kinde 141*
82.
Sprachstörungen 263* 31.
Sprachstörungen beim Kinde 141* 82.
Sprachzentren 262* 24. «
Sprachzentrum 264* 50.
Springende Mydriasis 89* 240.
Stackein 318* 195.
Staphylokokkhämie 175* 274.
Starkstromverletzung 63* 4. 75* 35.
Statistik der Gebrechen 310* 74.
Stephansfeld-Hördt 318* 196.
Sterilisation 79* 100. 90* 265. 202*
176.
Sterilisierung der Untauglichen 75* 37.
Stetten 318* 197.
Störungen der Artikulation 274* 175.
Stoffwechselverlangsamnng 81* 122.
162* 93.
St. Pirminsberg 318* 198.
Strafgefangene 43* 20. 82* 139.
Strafrechtspflege 34* 3.
Strangulationspsychose 170* 200. 269*
122 .
Strichjungen 46* 53.
Struma und Geisteskrankheit 209* 276.
Strumektomie 159* 48, 49. 193* 60.
Stupor 81* 122. 162* 93. 170* 199.
177* 304.
Subkutane Ernährung mit Trauben¬
zucker 85* 181, 182.
Suggestion 1* 9. 16* 222. 79* 106.
84* 172. 203* 197.
Sulfonal 93* 305.
Sydenhamsche Chorea 198* 121.
Sylvius 267* 84.
Symbolik im Traum 168* 173.
Symbolismus 167* 157.
Symbolismus in Träumen 4* 47.
Sympathikussymptom bei Migräne 189*
| Syphilidophobie 189* 1.
i Syphilis 27* 9. 167* 165. 267* 87.
268* 100, 101, 102. 306* 51.
Syringomyelie 262* 17.
Tabak 236* 17. 237 * 46, 48. 239* 79.
240* 92.
Tabes 165* 136. 167* 165. 268* 99.
271* 144.
Tabes dorsalis 263* 41. 264* 53. 273*
164, 166.
Tätowierung 97 * 354.
Taiwan 86* 196. 95* 326.
Talentierte Schwachsinnige 137* 11.
Tannenhof 318* 199.
Tapiau 318* 200.
Tatbestandsdiagnostik 9* 119.
■ Temperament 13* 177.
I Temperamente 84* 173.
: Temperenz 234* 1.
1 Tetanie 205* 219. 206* 233.
1 Tetanieepilepsie 201* 168.
I Teupitz 318* 202.
| Therapie der Geisteskrankheiten 74*
23, 25. 92* 284.
I Thermoästhesiometer 89* 241.
| Thymus persistens 191* 27.
j Thyrektomie 193* 47.
Thyreoidea 210* 288.
Thyreoidektomie 160* 61. 174* 261,
262. 177* 306.
Thyreotoxikosen 207* 249.
Tierische Parasiten des Zentralnerven¬
systems 266* 72.
Tierpsychologie 3* 32, 35. 13* 172,
181.
i Tierseele 16* 223.
i Tiodine 269* 123.
: Todesursachen bei Gehirnkrankheiten
93* 296.
Tod im epileptischen Anfall 202* 178.
Tonempfindung 6* 67.
Totalaphasie 262* 16.
Totschlag 42* 2. 47* 79.
Tonische Krampfzustände 198* 123.
Topische Gehirn- und Räckenmarks-
. diagnostik 262* 20.
! Torus palatinus 88* 231.
Tost 318* 203.
Träumt! 4* 46, 47, 56, 57. 6* 76. 194*
71. 199* 133.
Tragische Motive 16* 221.
Traasvestie 11* 148.
Traum 5* 63. 14* 186. 168* 173.
Traumatische Epilepsie 196* 98.
Traumatische Neurose 63* 6. 209* 271
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Google
Inhaltsverzeichnis.
401*
Traumatische Psychosen 63* 10, 17.
93* 293. 95* 330.
Traumatischer Himabszeß 264* 44.
Traumatische Tabes 268* 99.
Traumbeobachtungen 5* 75.
Traumdeutung 195* 86.
Tremor 190* 16.
Trepanation 201* 165.
Triebhandlung 202* 174.
Trinker 69* 17.
Trinkeranstalt 59* 17.
Trinkeranstalten 240* 100, 101.
Tropen-Psychosen 78* 76.
Trugwahrnehmungen 7* 94. 83* 168.
Trunksucht 36* 31. 236* 32. 237* 47.
238* 71, 76.
Tuberkelbazillen 239* 78.
Tuberkulöse Meningitis 166* 156.
Tuberkulose 77* 72. 83*151. 99* 380.
159*- 43, 44. 46. 238* 75. 239* 30,
31. 309* 66.
Tuberkulose und Neurasthenie 206* 230.
Tuberöse Sklerose 140* 67.
Tumoren der Hypophyse 271* 140.
Tumoren des vierten Ventrikels 262*
22 .
Tunis 310* 73.
Typhus 91* 268. 169* 198. 235* 16.
306* 3,10. 307* 37. 312* 102,104.
Uchtspringe 309* 62.
Übertreibungen der Abstinenz 241* 117.
Überwertige Ideen 176* 290.
Umbrien 234* 2.
Unbekanntheitsqualität 10* 133.
Unfallneurosen 63* 9. 64* 26. 208*
268.
Unfallpsychosen 63* 15, 16, 17. 64*
18, 19, 24. 96* 342.
Ungarn 69* 8. 309* 54. 318* 204.
Unilaterale Reaktion 12* 166.
Unilaterales Gedankenecho 97* 358.
Unruhe 308* 47.
Unterbewußtsein 11* 114. 195* 83.
Unterhaltungsbibliothek 308* 44.
Untersuchung Nervenkranker 208* 266.
Untersuchungsmethode 74* 21.
Untersuchungsmethode, psychologische
8* 107. 13* 182.
Unzurechnungsfähigkeit 36* 31.
Urämie 99* 383.
Urologie der Paralyse 267* 97, 98.
Ursachen des Alkoholismus 236* 23.
Ursprünge der Erkenntnis 15* 204, 206.
Zeitschrift filr Psychiatrie. LXIX. Lit.
1 Vagabundentum 46* 67. 88* 225.
| 166* 129.
j Vanderbilt clinic 315* 148.
1 Var 235* 13. 309* 53.
1 Vasomotorisches Nachröten 205* 214.
, Vasomotorische Störungen 163* 109.
Vatermord 46* 69.
| Venen 272* 149.
Verbrecher 44* 36. 167* 162.
[ Verdauungsstörungen 176* 282.
i Vererbung 42* 13. 72* 3. 81* 127.
88* 224. 90* 262. 92* 280. 93* 303.
’ Vererbungslehre 81* 129. 95* 331,
j 332.
I Vererbungswissenschaft 81* 120.
1 Vergiftung mit Bromural 204* 200.
Vergiftungspsychose durch Hyoszya-
| mus 241* 112.
Vergiftungspsychosen 235* 16.
Verfolgungswahn 159* 37. 176* 293,
294.
Verhütung von Geisteskrankheiten 140*
66 .
Verletzung des Corpus callosum 265*
66, 57.
Verminderte Zurechnungsfähigkeit 35*
19 fin* 94.
Vernunft 7* 100.
Veronal 81* 126. 206* 237 a.
Veronidia 76* 48. 79* 98.
Verständigungsmittel der Tiere 13* 181.
Vertigo permanens 91* 271.
Verwahrungshaus 306* 11.
Verwahrung verbrecherischer Alkoho-
listen 98* 376.
Verwirrtheit 169* 45. 166* 153. 169*
184, 185. 174* 267, 269.
Verwimmgszustände 201* 167.
Vestibularapparat 261* 8.
' Vierter Gehirnventrikel 260* 2. 261*
11 .
Villejuif 305* 11.
Visuelle Bewegungsempfindungen 14*
196.
Vitiligo 201* 171.
, Vorentwurf des Strafgesetzbuches 27*
11. 34* 7,8,11,13. 36* 16,18,21.
36* 27, 28, 29, 30, 31, 33, 34, 36, 37.
! 58* 3, 4. 60* 24.
Vorstellungstypen 4* 52.
i Vorstellungsverlauf 8* 115, 116. 10*
140.
Wachstum des Menschen 99* 381.
Wadenphänomen 98* 373.
Wärmeempfindung 204* 204.
cc
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
402*
Inhaltsverzeichnis.
Wagner, Richard 5* 70.
Wahnideen 82* 143.
Wahrnehmung der eigenen Blindheit
270* 127.
Wahrnehmung des Raumes 7* 93.
Wahmehmungsgeschwindigkeit 10* 136.
Waldau 318* 205.
Waldhaus 819* 206.
Wandertrieb 141* 71, 75. 173* 249.
Wehnen 319* 207.
Weibliche Neurotiker 189* 3.
Weilmünster 319* 208.
Weininger 16* 198.
Wemicke 87* 207, 208.
Wesen des Seins 7* 101.
Wetterfühlen 79* 99.
Widernatürliche Unzucht 34* 5.
Widerstand 189* 4.
Wien 91* 266.
Wiesloch 319* 209.
Wil 319* 210.
Willensakt 1* 3, 4.
Willensakt und Temperament 13* 177.
Willensfreiheit 9* 120.
Willensschwäche 2* 18. 42* 3.
Washington 313* 108.
Wasserdruckmassage 194* 66.
Wassermannsche Reaktion 27* 9, 17.
90* 263. 96* 337,341. 141* 80,81,
263* 32, 36. 264* 48. 266* 61,
68. 269* 118. 270* 125, 131, 136.
271* 136, 142. 273* 164. 306* 61.
Württemberg 308* 61. 319* 211.
Wuhlgarten 319* 212.
| Zehenreflex 87* 219.
1 Zeichnungen 166* 156.
| Zerebrale Kinderlähmung 141* 84.
j Zerebrale TÄhmnng 139* 41.
Zerebrale Neurasthenie 199* 141.
Zerebraler Marasmus 90* 257.
Zerebrospinalflüssigkeit 74* 30. 79* 95.
90* 251. 97* 361. 262* 18, 23.
263* 40. 266* 70, 81. 269* 111. 270*
133.
Zerkleinerungsvorrichtungen 309* 65.
Zeugungsfähigkeit 47* 83.
Zirbeldrüse 269* 114.
Zirkuläres Irresein 27* 4. 156* 2.
157* 16. 176* 298, 299.
Zitterbewegungen 92* 278.
Zivilisation und Geisteskrankheiten 97*
363.
Zinzendorf 205* 221.
Zoophilie 161* 79.
Zuckerausscheidung 97* 365.
Züchtigungsfolge 63* 5.
Zürich 314* 125. 319* 213.
Zunahme der Anstaltsbedürftigkeit 313*
111 .
Zunahme der Schwachsinnigen 136* 7.
Zurechnungsfähigkeit 27* 3, 7. 29* 30.
36* 34 44* 29.
Zwangsmittel 311* 89.
Zwangsvorstellung 43* 16.
Zwerchfellkrampt 266* 73.
Zwergwuchs 139* 49.
Zwillingspsychose 95* 336. 162* 9L
170* 209.
Zyklothymie 164* 120. 175* 273.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
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Anzeigen zur Zeitschrift für Psychiatrie, G9. B«h II. Literaturh*
Statt Eisen! Statt Lebertran!
Haematogen Hommel
Frei von Borsäure, Salicylsäure oder irgendwelchen sonstigen antibakterielK
Zusätzen, enthält au Her dem völlig reinen Ha-tuoglohin noch sämtliche Salze dt-
frifeheri Blutes, insbesondere auch die wichtigen Phosphorsalze (Natrium, Kelim
und Lecithin), sowie die nicht minder bedeutenden Eiweißstoffe des Serums, weht*'
durch die Forschungen J’rof. Carreis neuerdings grobe Bedeutung erlangt habe?
ln konzentrierter, yereinigter und unzersetzter Form. Als blutbildendes, organelser
haltiges, diätetisches Kräftigungsmittel für Kinder und Erwachsene bei Schwac
Zuständen irgendwelcher Art von hohem Werte.
Resomlers unentbehrlich in 4terKiu4lerpraxis.
Kann als diätetisches, die tägliche Nahrung ergänzendes Mittel jahraus, jahrein oh:
Unterbrechung genommen werden. Da es ein natürliches organisches Produkt i-
treteu niemals irgendwelche Störungen auf. Insbesondere nicht der bei langer
Gebrauche von künstlichen Eisenpräparaten unvermeidliche Orgasmus.
IpQT Große Erfolge bei Rachitis, Skrofulöse, Anaemie, Frauenkrankheiten, Heut
asthenie, Herzschwäche, Malaria, Rekonvaleszenz (Pneumonie, Influenz.’
etc. etc.).
MT Vorzüglich wirksam bei Lungenerkrankungen als Kräftigungskur. Seh;
angenehmer Geschmack. Wird selbst von Kindern außerordentlich ger
genommen. Stark appetitanregend.
Haematogen Bommel gewährleistet
unbegrenzte Haltbarkeit in vieljiilirig er¬
probter Tropenlestl^keit und Frostaiclierheft*
absolute Sicherheit vor Tuberkelbazillen j
durch das mehrfach von uns veröffentlichte, bei höchst tu
lässiger Temperatur zur Anwendung kommende Verfahrcr:
Um Unterschiebung von Nachahmungen zu vermeiden, bitten wir.
stet* Htcmatogen Pr. Hommel zu ordinieren.
Tages-Itosei»: Kleine Kinder 1—2 Teelöffel mit der Milch gemischt (Triuktemp*’
ratur!), größere Kinder 1—2 Kinderlöffel’ ireinü), Erwachsene
1—2 Eßlöffel täglich vor dem Essen, wegen seiner eigentiimlkf;
stark appetitanregenden Wirkung,
———-— Verkauf in Origlnalflaschen ä 250 gr. Mk. 3.—. .
Versuchsquanta steilen wir den Herren Ärzten gern frei und kostenlos zur Verfügung
Akt-ßes. Hommel’s Haematogen, Zürich (Schwe»
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ftöteii d*;* äü^uwÄife Vöä der pW-iplWrfto -Ken*»- 21k Ityj
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Z'mh&imi* ’Ej^hai öb^r ÄW^äftkbßjfep. des $$$&£ öo.d <£* i
Ui t&uftguii&f •• »t • im- !>ufor#8*ed/ von «ji«M Wden
Uyf4wüa£k^ gegjc&git«* •-. - . - - >*' ZwdifoU&s, Wird das .2
etßr wi|Jfe»ni»eu<5 JÖiwdeMtfdnsj; des neUfRlftpR-tisu -Äff
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Zweite, an^ firbeifeft und vermeide Au Sage
XVI AliidWiujgwi rm Ttax n ii
Zeitschrift för die ge^athfe Nv»r«I«glt und Psychlatilp:
190(5 zuerst i&j» gewaltige
»Hirt 4»y WmrÄtofJiBgtOWn. OT$BWiw.' Bwrdic^wdag«»*.^
Tafeln sffchoi» »tun ? teü Körngefwafcwhmcr/i, «<uö 'Teil- f*rfö§£ H
Dsr^aiteMß durch oene öwpl^fi^cßüwisgvn des ''dwKi*s
durch *atüe/i ÄpöÄr^j; kSfarnWr ■•■[lit v
AOf
t.iMt y .|K- j|bt fH*»öÄr«eh<?tt groöen ferfahroug des Vuit»»?***’* »<
vodii^wuuie Uftch *« d&tn tnieiitbehfliehen G/Tift'dwerlc >ibe( d»«
v'i.(u>>,M <>• bcWtrDfÖü-teUvyi Nemoseu
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Oie Ansi«0cHi8f^5)fÄct»-ltfanke inOeuisch*
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Owtenktoge der ^«feiairie und ihrer
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Abbildungen in V&it nÄd <Wfi s-'S’a'ffrln :- ä Bänd« geheftet
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Kranke weiblichen
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